Die Produktion des Geldes. Ein Plädoyer wider die Macht der Banken [2. ed.] 9783868549317, 9783868543186


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German Pages 230 [221] Year 2018

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Die Produktion des Geldes. Ein Plädoyer wider die Macht der Banken [2. ed.]
 9783868549317, 9783868543186

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Ann Pettifor

Die Produktion des Geldes Ein Plädoyer wider die Macht der Banken Aus dem Englischen von Ursel Schäfer

Hamburger Edition

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2018 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-931-7 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © der deutschen Ausgabe 2018 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-318-6 © der Originalausgabe 2017 by Ann Pettifor First published by Verso 2017 Titel der Originalausgabe: »The Production of Money. How to Break the Power of Bankers« Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt Vorwort

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Die Macht des Kredits

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Wie Geld entsteht

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Der »Preis« des Geldes

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Unser Schlamassel

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Klasseninteressen und die Bildung ökonomischer Denkschulen 113

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Sollte die Gesellschaft den Banken die Macht der Geldschöpfung entziehen?

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Das Finanzsystem unterwerfen, die Demokratie wiederherstellen

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Ja, wir können uns leisten, was wir tun

Danksagung

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Literaturverzeichnis Zur Autorin

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Vorwort Im Frühjahr 2006 schrieb ich ein bescheidenes kleines Buch mit dem Titel The Coming First World Debt Crisis (Die bevorstehende erste weltweite Schuldenkrise). Es war als eine nicht eben subtile Warnung an Freund_innen gedacht, die fest an die Liberalisierung der Finanzmärkte glaubten und sich Geld liehen, als gäbe es kein Morgen. Ich befürchtete, wegen des verbreiteten Unwissens über die Aktivitäten des globalen Finanzsektors und weil die Wirtschaftswissenschaften selbst anscheinend Geld, Bankwesen und Schulden nicht verstanden, würden ganz normale Spekulant_innen schlafwandlerisch in eine Krise steuern. Mit der Entscheidung des Verlags für den Titel war ich nicht einverstanden, weil ich meinte, das Buch könnte bei seiner Veröffentlichung im September 2006 bereits überholt sein. Bis dahin wäre die Krise doch sicher gekommen? Wie unrecht ich hatte und wie recht der Verleger hatte, als er mich überstimmte. In der Zwischenzeit musste ich einige unfreundliche Kommentare zu meiner Analyse des Systems über mich ergehen lassen. In einer Kolumne im Guardian vom 29. August 2006 argumentierte ich, der Einbruch der Immobilienmärkte in Florida und Kalifornien im Sommer zuvor sei der sprichwörtliche Kanarienvogel in der großen, tiefen Kohlemine des amerikanischen Subprime-Marktes gewesen und die Schuldenkrise in den Vereinigten Staaten werde viel größere Auswirkungen für uns alle haben als die damals aktuelle Krise im Libanon. »Alles Schwarzmalerei!«, schrie das Web auf. Bobdoney – ich vermute, ein Aktienhändler aus der Londoner City – wurde poetisch:

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»Nächste Woche schreibt Ann über einen Asteroiden mit zehn Kilometern Durchmesser, der soeben im Van-Allen-Gürtel mit einem Schmetterling zusammengestoßen ist und in diesem Augenblick, während ich mein Gurkensandwich esse und meine dritte Tasse Tee für heute trinke, unausweichlich auf seinen endgültigen Bestimmungsort kurz vor der Küste von Grimsby zurast, wo er am 29. August 2016 um 14.30 Uhr einschlagen wird. Platsch!« Bobdoney lag um zehn Jahre daneben. Nach Ausbruch der Krise hörte man nichts mehr von ihm.

Die Krise ist da Ich weiß noch genau, wo ich mich an jenem sonnigen 9. August 2007 aufhielt, als die Nachricht kam, dass der Interbankenmarkt für Kredite eingefroren war. Die Banker_innen wussten, dass ihre Kolleg_innen pleite waren und man nicht mehr erwarten konnte, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllen würden. Ich glaubte damals noch ganz naiv, meine Freund_innen hätten die Botschaft verstanden. Und ich hoffte ebenfalls vergeblich, die wirtschaftswissenschaftliche Zunft werde sich dem Chor der Stimmen anschließen, die vor der Katastrophe warnten. Aber es kam nicht so. Abgesehen von Leser_innen der Financial Times und natürlich einigen Spekulant_innen aus dem Finanzsektor selbst schienen nur wenige zu registrieren, was vor sich ging. Ein ganzes Jahr später, im September 2008, als Lehman Brothers implodierte, dämmerte einer breiteren Öffentlichkeit, dass das internationale Finanzsystem kollabiert war. Aber da war es zu spät. Die Welt stand gefährlich nah am vollständigen finanziellen Zusammenbruch. Die Befürchtung, Bankkund_innen könnten demnächst an Geldautomaten kein Geld mehr bekommen, war begründet. Am Mittwoch nach dem Zusammenbruch

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von Lehman bat Mohamed El-Erian, der CEO der Investmentgesellschaft PIMCO , seine Frau, zum Geldautomaten zu gehen und so viel Bargeld abzuheben wie möglich. Als sie ihn nach dem Grund fragte, sagte er, er fürchte, die amerikanischen Banken könnten geschlossen bleiben.1 Industrielle Schwergewichte riefen das amerikanische Finanzministerium an und erklärten, sie hätten Finanzierungsprobleme. In diesen haarsträubenden Wochen erlebten wir ein erschreckendes wirtschaftliches Experiment, das beinahe schiefgegangen wäre. Vor diesem Hintergrund war es keine Überraschung, dass die Verantwortlichen in der Regierung, Politiker_innen und Kommentator_innen keine kohärente Antwort auf die Krise hatten. Viele auf dem linken Flügel des politischen Spektrums waren genauso sprachlos. Wie die meisten Ökonom_innen schienen sie einen blinden Fleck zu haben, wenn es um den Finanzsektor ging. Stattdessen konzentrierten sie sich ganz auf die Realwirtschaft: Besteuerung, Märkte, internationaler Handel, der Internationale Währungsfonds (IWF ) und die Weltbank, Arbeitsmarktpolitik, Umwelt, der öffentliche Sektor. Nur sehr wenige hatten die riesigen und immer noch weiter wachsenden, gleichzeitig ungreifbaren Aktivitäten im Blick gehabt, die zur Deregulierung des privaten Finanzsektors gehörten. In der Folge verfügten nur sehr wenige Linke (alles in allem, natürlich mit Ausnahmen), und die Rechte genauso wenig, über eine klare Analyse der Ursachen der Krise und deshalb über Vorstellungen, welche politische Strategie nötig wäre, um die Kontrolle über das wichtige öffentliche Gut wiederzuerlangen, welches das Geldsystem darstellt. Auch die Banker_innen waren zuerst wie erstarrt, hofften verzweifelt auf Rettung mit Geld der Steuerzahler_innen und schienen sogar einen Augenblick lang in Demut zu verharren. Aber das hielt nicht an. Nach den Rettungsaktionen standen die Politiker_innen vor einem großen politischen Vakuum. Die G8-Länder, 1

El-Erian, The Lehman Crisis: One Year Later.

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angeführt vom britischen Premierminister Gordon Brown, kooperierten zunächst auf internationaler Ebene, um das System zu stabilisieren. Ihre Kooperation und international abgestimmte Stimuli verflüchtigten sich rasch. Weltweit fielen verantwortliche Politiker_innen und politische Strateg_innen auf orthodoxe Stabilisierungsmethoden zurück, in erster Linie fiskalische Konsolidierungsmaßnahmen, oder wurden dazu überredet. Wie Naomi Klein gewarnt hatte, erkannten viele im weltweiten Finanzsektor in der Krise die Chance, den Zugriff des weltweiten Finanzsystems auf die gewählten Regierungen und die Märkte zu verstärken. Nach einigem Zögern ergriffen sie anders als viele Linke und die sozialdemokratischen Parteien diese Chance. An der internationalen Finanzarchitektur gab es keine grundlegenden Veränderungen. Der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht bastelte nach der Krise an Reformen herum, unterbreitete aber keine Vorschläge für strukturelle Veränderungen an der Architektur des internationalen Finanzsystems. Der Neoliberalismus – die herrschende ökonomische Lehre – dominierte allenthalben. Paul Mason schrieb 2009 ein Buch mit dem Titel Meltdown (Kernschmelze) und dem Untertitel The End of the Age of Greed (Das Ende des Zeitalters der Gier). Wie sehr er sich irrte. Zehn Jahre nach Beginn der Rezession im Jahr 2007, während die Ungleichheit Gesellschaften spaltet, wird die Welt von einem Oligopol beherrscht, das gierig Reichtum in einem obszönen Ausmaß anhäuft. Und trotz des Crashs am Anfang ist die globale Finanzkrise noch nicht zu Ende. Stattdessen hat sich das Epizentrum von den angelsächsischen Volkswirtschaften zuerst in die Eurozone verlagert und mittlerweile zu den sogenannten »Schwellenländern«. Geschäftsbanken und andere Finanzinstitute sind vollgestopft mit billigem Geld, das die Zentralbanken ihnen geliehen haben, und haben im Gegenzug eine Flut teurer Kredite an Unternehmen, Haushalte und Einzelpersonen ausgeschüttet. Die Konsequenzen mussten die Menschen in den westlichen Ländern tragen. Während ich diese Zeilen schreibe, revoltieren

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Millionen und unterstützen populistische, meistens rechtsgerichtete politische Kandidat_innen. Sie hoffen, dass diese »starken Männer und Frauen« sie vor rigoroser neoliberaler Politik zugunsten ungehemmter globaler Finanz-, Waren- und Arbeitsmärkte schützen werden.

Die Folgen der anhaltenden Finanzkrise Während eine kleine Elite im Finanz- und Technologiesektor weiterhin gewaltige finanzielle Gewinne einstreicht, schätzt die Internationale Arbeitsorganisation, dass weltweit mindestens 200 Millionen Menschen ohne Arbeit sind. In einigen europäischen Ländern ist jeder zweite junge Mensch arbeitslos. Der Nahe Osten und Nordafrika, Zentren politischer, religiöser und militärischer Unruhen, haben die höchsten Arbeitslosenquoten unter Jugendlichen weltweit. In Ländern wie Großbritannien sind die Beschäftigungszahlen zwar gestiegen, aber es handelt sich um prekäre Arbeitsverhältnisse, oft in Teilzeit, auf Abruf oder als Solo-Selbstständige mit unsicheren Einkünften. Unzählige Stimmen warnen davor, dass in Zukunft Roboter immer mehr Tätigkeiten übernehmen werden und die menschliche Arbeitskraft überflüssig wird. Diese Vision wird angepriesen, als wären die für die Roboterproduktion erforderlichen Metalle – unter anderem Zinn, Tantal, Wolfram und Koltan – unbegrenzt vorhanden und die mit ihrem Abbau verbundenen Emissionen unbegrenzt tragbar. Doch der Misserfolg, Millionen Menschen keine sinnvolle Arbeit anbieten zu können – zu einer Zeit, in der viel getan werden muss, um die Wirtschaft von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien umzustellen –, beschäftigt die meisten sozialdemokratischen Regierungen wenig. Nur vereinzelte Stimmen, wenn überhaupt, fordern Vollbeschäftigung mit qualifizierten und gut bezahlten Arbeitsplätzen. Während das weltweite Bruttoinlandsprodukt (BIP ) bei 77 Billionen Dollar liegt, sind die weltweiten Finanzanlagen nach einem

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Bericht des McKinsey Global Institute seit 2007 auf 225 Billionen Dollar angewachsen. Dank unregulierter Kreditmärkte steigt die Last der weltweiten Schulden immer weiter. 2015 summierten sich die Schulden auf 286 Prozent des weltweiten BIP gegenüber 269 Prozent im Jahr 2007.2 Millionen Arbeitnehmer_innen weltweit haben in den letzten sieben Jahren keine Lohnerhöhung erhalten. Große und kleine Firmen erleben, dass die Preise fallen, gefolgt von Gewinneinbrüchen und Bankrotten. Die Volkswirtschaften im Süden Europas ächzen unter der »Austerität«, die auch andernorts die Nachfrage und die Wirtschaftstätigkeit bremst. In den Vereinigten Staaten muss ein Drittel aller Erwachsenen, rund 76 Millionen Menschen, »kämpfen, um über die Runden zu kommen« oder »kommt gerade so zurecht«.3 Doch für all jene, die von Kapitalerträgen leben, sieht die Welt rosiger aus als üblich – für die Banken, Schattenbanken und andere Finanzinstitute, die sich halten können dank staatlicher Bürgschaften, für die wiederum die Steuerzahler_innen geradestehen, dank billigem Geld und anderer Wohltaten der Zentralbanken, die nur an den Finanzsektor fließen. Auch den neuen Oligopolisten der Welt geht es gut – großen Firmen wie Apple, Microsoft, Uber und Amazon, die mit ihren monopolistischen, auf maximale Rendite getrimmten Geschäften riesige Vermögen anhäufen. Während sie und das oberste 1 Prozent der Unternehmen angeblich Cash in Höhe von 945 Milliarden Dollar horten, haben die amerikanischen Unternehmen insgesamt nur etwa 1,84 Billionen Dollar Cash. Diese Zahlen werden durch die Kreditsummen weit in den Schatten gestellt. Während dieses Buch in den Druck geht, belaufen sich die Schulden amerikanischer Unternehmen auf 6,6 Billionen Dollar.4 2015 übertrafen die Schulden die Einkünfte vor 2 3 4

Dobbs u.a., Debt and (Not Much) Deleveraging. Leitartikel in der New York Times, The Millions Who Are Just Getting By. Miller, Risky Reprise of Debt Binge Stars US Companies Not Consumers.

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Zinsen, Steuern und Abschreibungen um das Dreifache – laut Bloomberg ein Zwölf-Jahres-Rekord. Allein im Jahr 2015 sprangen die Verbindlichkeiten der Unternehmen um 850 Milliarden Dollar in die Höhe, nach Einschätzung von Standard & Poor’s das Fünfzigfache des Zuwachses an Cash. Geschätzt ein Drittel der Unternehmen ist nicht in der Lage, ausreichend hohe Renditen zu erwirtschaften, um die Kreditkosten zu decken. Damit laufen viele kleinere Unternehmen Gefahr, Bankrott zu gehen. Ihre Gläubiger_innen machen sich vielleicht keine Sorgen, aber es ist durchaus möglich, dass irgendwann die verschuldeten Unternehmen und nicht die verschuldeten Haushalte das System sprengen könnten. In den Kohleminen des weltweit verflochtenen Finanzsystems gibt es noch mehr »Kanarienvögel« – und alle warnen vor einer weiteren Krise. Am furchteinflößendsten ist die Deflation: eine viel zu wenig verstandene Bedrohung, weil nur wenige Zeitgenossen eine deflationäre Ära erlebt haben. Politiker_innen und Ökonom_innen befassen sich nicht ernsthaft mit der Gefahr der Deflation, aber in Europa und Japan ist sie bereits Realität, und in China könnte sie Realität werden. China rettete 2009 die Weltwirtschaft, indem es 600 Milliarden Dollar in seine Wirtschaft pumpte, was den westlichen Volkswirtschaften half, flüssig zu bleiben. Westliche Politiker_innen reagierten, indem sie zur orthodoxen gegenläufigen Politik zurückkehrten und dadurch die Nachfrage nach chinesischen Waren und Dienstleistungen bremsten. Darum steht China nun mit einem Berg von Bankschulden da und mit einem Überangebot an Waren wie Reifen, Stahl, Aluminium und Diesel. Infolge dieses Überangebots fiel die Inflation der chinesischen Produzentenpreise vor 2016 vier Jahre lang unter null. Als die Überkapazitäten in die globalen Märkte gelenkt wurden, traf der deflationäre Druck die westlichen Volkswirtschaften. Westliche Politiker_innen und Finanzkommentator_innen nahmen die Nachricht von fallenden Preisen positiv auf. Als das

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Vereinigte Königreich im Mai 2015 erstmals seit über einem halben Jahrhundert in die Deflation rutschte, begrüßte Schatzkanzler George Osborne »die richtige Art von Deflation als gute Nachricht für Familien«. Er befürchtete »keinen Teufelskreis von fallenden Preisen und Löhnen«.5 Niemand aus dem politischen und ökonomischen Establishment Großbritanniens wollte zugeben, dass der Rückgang der Preise eine Folge des rückläufigen Wachstums der Weltwirtschaft war und insbesondere der schwachen Nachfrage nach Arbeitskräften, Kapital, Waren und Dienstleistungen. Stattdessen taten die meisten MainstreamÖkonom_innen die Deflation als ein Zeichen ab, dass die Konsument_innen Kaufentscheidungen hinausschoben! Das größte Problem ist, dass die Deflation den Wert von Schulden und Zinsen aufbläht. Während sich ein genereller Preisrückgang durch das globale Finanzsystem verbreitet, fallen Löhne und Gewinne, und Unternehmen gehen bankrott. Gleichzeitig steigt unweigerlich und unmerklich der Wert vorhandener Schulden im Verhältnis zu Löhnen und Preisen. Der Preis der Schulden (der Zinssatz) steigt ebenfalls, selbst wenn die Zinsen nominal niedrig, negativ oder statisch sind. Negative Realzinsen sind nur möglich, wenn die Nominalzinsen sehr weit im negativen Bereich liegen – und solche Zinssätze sind für die Zentralbanken womöglich politisch schwer durchsetzbar. Ganz direkt gesagt: Für eine überschuldete Volkswirtschaft ist Deflation ein wahrhaft bedrohliches Szenario. Aber was mir wirklich Sorge bereitet – und vielen anderen auch –, ist, dass die Zentralbanken die politischen Instrumente, die ihnen zur Verfügung stehen, um eine weitere Finanzkrise mit globalen Auswirkungen einzudämmen, ausgereizt haben. Im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten haben die Zentralbanken nach der Krise von 2007 bis 2009 die Zinssätze 5

Cadman, Osborne Welcomes Right Kind of Deflation as Good News for Families.

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von rund 5 Prozent auf beinahe null heruntergefahren. Außerdem haben sie ihre Bilanzen durch den Aufkauf oder die Ausleihung von Finanz- und Unternehmensanlagen (Wertpapieren) auf den Kapitalmärkten massiv aufgebläht und den Konten der Verkäufer_innen Kredite gutgeschrieben. Auf diese Weise hat die amerikanische Notenbank ihre Bilanzsumme um 4,5 Billionen Dollar vergrößert. Die Bilanzsumme der Bank of England ist im Verhältnis zum BIP des Vereinigten Königreichs größer als jemals in ihrer langen Geschichte. Die quantitative Lockerung (Quantitative Easing, QE ) hat vielleicht das Finanzsystem stabilisiert, auf jeden Fall hat sie den Wert von Anlagen wie Immobilien – die meist im Besitz von wohlhabenden Menschen sind – massiv in die Höhe getrieben. Dadurch hat die QE die soziale Ungleichheit vergrößert und die damit verbundene politische und soziale Instabilität verschärft. Deshalb kommt es aus politischen Gründen wohl nicht infrage, die QE noch mehr auszuweiten. Trotz der lockeren Geldpolitik stockte die wirtschaftliche Erholung oder verlangsamte sich sogar, weil die Staaten gleichzeitig die fiskalischen Zügel fester anzogen. Zu dieser »Austerität« ermutigten sie Mainstream-Vertreter_innen der ökonomischen Zunft, Zentralbanken und globale Institutionen wie der IWF und die OECD , noch angefeuert von den Medien. Der Ergebnis war vorhersehbar: Die schwer verschuldete Weltwirtschaft litt unter anhaltender ökonomischer Schwäche und sich überlappenden Rezessionen. Die Erholung war vor allem in Europa schwieriger als nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre; damals dauerte es deutlich weniger lang, bis die Länder bei Beschäftigung, Einkommen und wirtschaftlicher Aktivität wieder das Niveau vor der Krise erreicht hatten. Während ich das schreibe, hat sich die Einstellung gegenüber der »Austerität« verändert. Globale Institutionen blicken voller Panik auf die Volatilität des Finanzsystems, auf die drohende Gefahr einer Schuldendeflation, auf die Abschwächung der Weltwirtschaft und den Aufstieg populistischer Parteien und Bewe-

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gungen. Als Reaktion darauf haben sie eine Reihe außergewöhnlicher Kehrtwendungen vollzogen und ihre Empfehlungen für die fiskalische Konsolidierung radikal verändert. Der IWF stellte in einem Paper vom Mai 2016 die Frage, ob der Neoliberalismus nicht womöglich zu sehr angepriesen worden sei. Die OECD warnte die politisch Verantwortlichen 2016 mehrfach: »Jetzt handeln! Versprechen einhalten« – und riet zu mehr Staatsausgaben und höheren staatlichen Investitionen. Im Juni 2016 formulierte sie die vernünftige Aussage, »Geldpolitik allein führt nicht aus [der] Falle des niedrigen Wachstums heraus, womöglich erwartet man zu viel von ihr. Durch die niedrigen Zinsen erhöht sich der fiskalische Spielraum.« Die Staaten wurden gedrängt, »durch öffentliche Investitionen das Wachstum zu unterstützen«.6 Aber diese neuen, frisch zu einer expansiven Fiskalpolitik bekehrten Ökonom_innen rannten beim amerikanischen Kongress und bei neoliberalen Finanzministern wie Wolfgang Schäuble in Deutschland, Alexander Stubb in Finnland oder George Osborne in Großbritannien gegen Wände. Die Ideologie der »Austerität« – die den öffentlichen Sektor verkleinern und privatisieren will – ist zusammen mit dem marktwirtschaftlichen Fundamentalismus mittlerweile so fest in den Finanzministerien der westlichen Länder verankert, dass tragischerweise weder politisch Verantwortliche noch sonstige Entscheidungsträger_innen handeln können. In ihrer Verzweiflung haben einige Zentralbanken (die Europäische Zentralbank und die Zentralbanken der Schweiz, Schwedens und Japans) den Rubikon überschritten und negative Zinssätze festgesetzt. Das bedeutet, dass Kreditgeber_innen den Zentralbanken Geld für das Privileg bezahlen, Kapital (in Form von Krediten) bei der Zentralbank parken zu dürfen. Das ist ein Zeichen dafür, dass das Geldsystem nicht mehr funktioniert, und auch ein Zeichen für die Furcht, die an den Investor_innen nagt,

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OECD , Policymakers: Act Now to Keep Promises!

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weil die finanzielle Volatilität sie dazu treibt, den einzigen »Hafen« aufzusuchen, den sie noch als sicher für ihr Kapital ansehen: Staatsschulden.

Was tun? Was also können die guten – progressiven – Kräfte tun, um das Weltfinanzsystem zu stabilisieren und Beschäftigung, politische Stabilität und soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen? Erstens brauchen wir ein besseres allgemeines Verständnis dafür, wo das Geld herkommt und wie das Finanzsystem funktioniert. Bedauerlicherweise werden diese Bereiche der Ökonomie von vielen fortschrittlichen und auch von MainstreamÖkonom_innen sträflich vernachlässigt – ein praktischer blinder Fleck, der dem Finanzsektor zweifellos gelegen kommt. Dieses Buch möchte Schlüsselkonzepte hinsichtlich Geld, Finanzwesen und Wirtschaft vereinfacht darstellen und sie damit für ein breiteres Publikum verständlich machen, insbesondere für Frauen und Umweltschützer_innen. Es baut auf meinem Buch Just Money (2015) auf und bringt hoffentlich zusätzlichen Inhalt und mehr Klarheit in ein Thema, das nicht leicht abzuhandeln ist. Trotzdem bleibe ich dabei, denn ich bin überzeugt, dass nur ein breiteres allgemeines Verständnis für Geld, Kredit und die Funktionsweise des Banken- und Finanzsystems zu einer wirklichen Veränderung führen wird. Das zweite Ziel jeder progressiven Bewegung sollte es sein, den Ärger, den Banken und die Politik geweckt haben, in progressive und positive alternative Bahnen zu lenken. Leider versteht sich die Rechte besser darauf, öffentlichen Unmut zu kanalisieren und Immigrant_innen, Asylsuchenden und anderen Sündenböcken die Schuld zu geben. Genauso besorgniserregend ist, dass Teile der sogenannten Linken Ärger über Banken in neoklassische wirtschaftspolitische Vorschläge zur Lösung der Krise ummün-

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zen. Einige ihrer Vorschläge für eine »Reform« des Bankensystems werden in diesem Buch ebenfalls diskutiert. Dafür steht das Stichwort »Mindestreserve-Bankwesen«, sie wollen die Verstaatlichung der Geldversorgung, und für Staaten soll das Ziel »ausgeglichene Haushalte« gelten. Diese politischen Vorstellungen haben ihre Wurzeln bei der Chicago School sowie bei Friedrich von Hayek und Milton Friedman. Für die arbeitende Bevölkerung und für alle, die von staatlichen Unterstützungsleistungen abhängen, hätten sie verheerende Folgen. Deshalb werden in diesem Buch die zwar gut gemeinten, aber falschen Ansätze zivilgesellschaftlicher Organisationen kritisiert, die viele Linke meiner Auffassung nach in eine intellektuelle Sackgasse manövrieren.

Kritik an den Ökonom_innen Dass es so viel allgemeine Verwirrung über Geld, Bankwesen und Schulden gibt, hängt zum Teil damit zusammen, dass die Wirtschaftswissenschaften gegenüber dem Finanzsystem auf Distanz bleiben, es (überwiegend) ablehnen, diese Themen zu verstehen und zu unterrichten, und auf arrogante Weise andere (wie Politiker_innen und Konsument_innen) für Finanzkrisen verantwortlich machen. Als Beweis dieser Arroganz zitiert Professor Steve Keen in seinem Buch Debunking Economics eine Äußerung von Ben Bernanke, der zur Zeit der Krise Chef der amerikanischen Notenbank war: »Die aktuelle Finanzkrise war mehr ein Versagen von ökonomischen Techniken und des Managements als der ökonomischen Wissenschaft.«7 Die »ökonomischen Wissenschaftler_innen« (und viele Linke) haben auch die Geldtheorie und Geldpolitik des genialen John Maynard Keynes systematisch ignoriert oder heruntergespielt – theoretische Erkenntnisse und konkrete politische Vorschläge, die 7

Keen, Debunking Economics, S. xiii.

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die Krise der Jahre 2007 bis 2009 hätten abwenden können. Stattdessen wird »keynesianische« Politik als »Steuer- und Ausgabenpolitik« verspottet, während Keynes’ Hauptinteresse tatsächlich der Geldpolitik galt (dem Management von Währung, Geldmenge und Zinssätzen). Ihm ging es vor allem darum, Krisen zu verhindern, und weniger um deren Bewältigung. Sein großes Werk trägt nicht umsonst den Titel Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Doch das soll nicht heißen, dass er der Fiskalpolitik (der Besteuerung und der Ausgabenpolitik) als Mittel zur »Lösung« einer Krise keine Bedeutung beigemessen hätte. Nach seiner Vorstellung sollte die Geldpolitik einfach dazu dienen, Beschäftigung und Wohlstand zu sichern und Krisen zu verhindern. Weil Keynes’ Geldtheorie so bedeutsam ist, bezieht sich das vorliegende Buch sehr auf seine politischen Ideen – die für das ökonomische Establishment immer noch ein Tabu sind. Der britische Intellektuelle Keynes war nach meiner Einschätzung genauso bedeutend wie Charles Darwin. Beide revolutionierten die Gebiete, auf denen sie forschten und arbeiteten, und eröffneten ein neues Verständnis dafür, zum Unmut vieler Zeitgenossen und Kollegen. Beide erlebten außerordentlichen Widerstand, im Falle Darwins ablesbar daran, dass an vielen Schulen in den Vereinigten Staaten immer noch der Kreationismus gelehrt wird8, und im Falle von Keynes zeigt es die Rückkehr aller Fakultäten und sogar seiner eigenen Alma Mater, der Universität Cambridge, zur klassischen ökonomischen Lehre. Nach meiner Überzeugung pflegen die orthodoxen Ökonom_innen (und auch ein großer Teil der politischen Klasse) die Art irrationaler Verleugnung, die auch für den »Kreationismus« der Gegner Darwins typisch ist, weil sie nicht in der Lage waren, auf Keynes’ radikalem Verständnis des Geldsystems aufzubauen. Die Missachtung von Keynes, so meine Argumentation, fordert einen hohen Preis: Arbeitslosigkeit und Verarmung von Millionen 8

Carlson, Americans Weigh In on Evolution vs. Creationism in Schools.

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Menschen, wiederkehrende finanzielle und wirtschaftliche Krisen, Ungleichheit, die die Gesellschaft spaltet, soziale und politische Unruhen bis hin zu Krieg. Aber diese Missachtung sollte nicht überraschen, denn Keynes verlangte kompromisslos die Unterordnung des Finanzsektors unter die Interessen der Gesellschaft insgesamt und forderte den »sanften Tod des Rentiers«. Die Liebe zum Geld um seiner selbst willen war in seinen Augen »ein ziemlich widerliches Leiden, eine jener halbverbrecherischen, halbkrankhaften Neigungen, die man mit Schaudern an die Fachleute für geistige Erkrankungen verweist«.9 Keynes machte sich viele Feinde im Finanzsektor und bei seinen Kolleg_innen in den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, deshalb ist es kein Wunder, dass sie seine Ideen begraben haben und zuließen, dass das neoliberale Äquivalent des »Kreationismus« an unseren Universitäten und wirtschaftswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen dominieren konnte. Während sich seit Keynes’ Tod viel verändert hat, ist sein Verständnis der Grundlagen des Geldsystems immer noch relevant und kann nach wie vor vernünftige Politik leiten. Außerdem wird es meiner Meinung nach entscheidend für die Wiederherstellung von wirtschaftlicher Stabilität, ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit sein, dass wir Keynes’ Geldpolitik und seinen daraus abgeleiteten politischen Empfehlungen folgen. Was brauchen wir also neben einem besseren Verständnis des Finanzsystems, um wieder zu wirtschaftlichem Wohlstand, finanzieller Stabilität und sozialer Gerechtigkeit zu gelangen? Die Antwort lässt sich meines Erachtens in einem Satz zusammenfassen: Der Offshore-Kapitalismus muss wieder onshore, in die jeweiligen Länder, zurückgebracht werden. Damit eine regulatorische Demokratie das Finanzsystem im Interesse der gesamten Bevölkerung steuern kann, und nicht nur im Interesse der mobilen, global orientierten wenigen, muss das 9

Keynes, Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder, S. 270.

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Offshore-Kapital durch Kapitalverkehrskontrollen wieder ins Land zurückgeholt werden. Nur dann können die Zentralbanken die Zinssätze festlegen und über das gesamte Spektrum der Kreditvergabe niedrig halten – eine wesentliche Voraussetzung für die Gesundheit und das Gedeihen jeder Volkswirtschaft. Wie ich später in dem Buch erklären werde, ist das auch wesentlich für den Umgang mit toxischen Emissionen und den Schutz des Ökosystems. Nur so wird es möglich sein, die Kreditschöpfung zu steuern und die Gefahren des nicht nachhaltigen Konsums und der Verschuldung einzudämmen. Und nur so wird es gelingen, demokratisch festgelegte Regeln für die Besteuerung durchzusetzen und gegen Steuerhinterziehung vorzugehen. Demokratische politische Entscheidungen – zu Steuern, Renten, Strafjustiz, Zinssätzen und so weiter – brauchen Grenzen und den Schutz von Grenzen. Ein Land ohne Grenzen kann Steuersätze nicht durchsetzen, kann nicht festlegen, welche Bürger_innen Renten erhalten, und kann Verbrecher_innen nicht bestrafen. Aber ungebundene globale Finanziers verabscheuen Grenzen und regulatorische Demokratie. Manche unerschrockene Ökonom_innen sagen seit Jahren, dass Staaten die Macht haben sollten, Kapitalströme zu kontrollieren. Zu ihnen zählen die Professoren Dani Rodrick und Kevin P. Gallagher. Kürzlich sind noch einige orthodoxe Ökonom_innen dazugekommen, darunter die hochangesehene Professorin Hélène Rey, die gesagt hat, im Arsenal der makroprudenziellen Instrumente dürften Kapitalverkehrskontrollen nicht fehlen. Bislang wurden ihre Stimmen vom Lobbygetöse der Banker_innen an der Wall Street und in der City of London übertönt. Zugleich haben Kapitalverkehrskontrollen keine Unterstützung von linken Kräften und sozialdemokratischen Parteien erhalten. Im Gegenteil, viele sozialdemokratische Regierungen akzeptieren eine Form der Hyperglobalisierung und fördern sie noch. Das globale Kapital zurück nach Hause zu bringen, würde die weltweite monetäre Ordnung verändern. Nur so können wir hof-

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fen, dass wir in einer gespaltenen und gefährlich ungleichen Welt Stabilität, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit wiederherstellen. Nur so können wir hoffen, dass es uns gelingt, die Herausforderung des Klimawandels zu meistern.

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1 Die Macht des Kredits Das moderne Finanzwesen ist für durchschnittliche Männer und Frauen im Allgemeinen unverständlich […]. Das Niveau des Verständnisses vieler Banker_innen und Regulator_innen ist nicht wesentlich höher. Wahrscheinlich ist das Absicht. Wie der Wolf im Märchen sagt: »Damit ich dich besser schröpfen kann.« Satyajit Das, Traders, Guns and Money (2010) Das Finanzwesen muss der Diener sein, und zwar ein intelligenter Diener, für die Gemeinschaft und die produktive Industrie; es darf nicht ihr dummer Herr und Meister sein. Nationales Exekutivkomitee der britischen Labour Party (Juni 1944) über Vollbeschäftigung und Finanzpolitik

Der globale Finanzsektor hat heute außerordentliche Macht über die Gesellschaft und insbesondere über Regierungen, die Industrie und den Arbeitsmarkt. Finanzmarktakteur_innen bestimmen die Wirtschaftspolitik, unterhöhlen demokratische Entscheidungsprozesse und tragen dazu bei, nahezu alle Bereiche der Wirtschaft (vielleicht ausgenommen Glaubensorganisationen) den Gesetzen des Finanzkapitalismus zu unterwerfen. Investor_innen haben riesige Gewinne gemacht, indem sie Renten (Zinsen) aus Schulden einstrichen, haben aber auch mühelos Renten aus vorhandenen Vermögenswerten, wie Land, Immobilien, Monopole auf natürliche Ressourcen (Wasser, Elektrizität), Wälder, Kunstwerke, Rennpferde, Marken und Unternehmen, bezogen. Wie Michael Hudson schreibt: »Ziel des Finanzsektors ist es nicht, die Kosten

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von Straßen, Elektrizität, Verkehr, Wasser und Bildung zu minimieren, sondern die Beträge zu maximieren, die als Monopolrente veranschlagt werden können.«1 Banker_innen und Hedgefonds-Manager_innen an der Wall Street und in anderen Finanzzentren haben sich sehr bemüht, die demokratischen Institutionen zu schwächen. Sie haben sich für die Aufweichung von Regulierungsvorschriften, für Steuersenkungen auf Kapitalerträge und für die Rücknahme fortschrittlicher Besteuerungsregeln eingesetzt. Und der Sektor hat die Mobilität des Kapitals ausgenutzt, um es außerhalb der nationalen Grenzen zu verschieben, in Steuerparadiese wie Panama, London, Delaware in den Vereinigten Staaten, Luxemburg, die Schweiz und britische Überseegebiete. Der globale Finanzsektor hat allen Grund zu triumphieren. Es ist ihm gelungen, Staaten und ihre Steuerzahler_innen zu kapern, auszuplündern und den Interessen ungebundener und nicht rechenschaftspflichtiger Investor_innen und der Finanzmärkte zu unterwerfen. Geoffrey Ingham, Soziologe in Cambridge, hat die heutige Macht des Finanzsektors als »despotisch«2 bezeichnet. Weil der Finanzsektor so undurchsichtig ist und weil es gezielte Bemühungen gibt, seine Aktivitäten zu verschleiern, herrscht leider verbreitet Unwissen darüber, wie Geld geschaffen wird, welche Rolle Kredit und Schulden in einer Volkswirtschaft spielen, welche Aufgabe Banken haben und wie das Finanz- und Geldsystem funktioniert. Schuld daran tragen die meisten orthodoxen Ökonom_innen, denn in ihren universitären Lehrveranstaltungen und in ihren Analysen wirtschaftlicher Aktivitäten gehen sie auf Geld, Schulden und das Bankensystem nicht ein. Ein einflussreicher internationaler Ökonom, der nicht genannt werden will, hat es so ausgedrückt: Geld und Kredit seien »von drittrangiger Bedeutung«. Die meisten Ökonom_innen (sowohl die »klassi1 2

Hudson, Killing the Host. Ingham, The Nature of Money.

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schen« wie die »neoklassischen« und viele vermeintliche »Keynesianer_innen«) behandeln das Geld als »neutral« oder einfach als »Schleier«, der wirtschaftliche Transaktionen umgibt. Banken sind in ihren Augen lediglich Vermittlungsinstanzen zwischen Sparer_innen und Kreditnehmer_innen, und der Zinssatz ergibt sich »natürlich« aus der Nachfrage nach dem Geld und dem Angebot an Geld. Angesichts dieser Ignoranz gegenüber Geld und Bankwesen darf es nicht überraschen, dass die meisten MainstreamÖkonom_innen die große Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 weder vorausgesehen noch korrekt analysiert haben. Besorgniserregend ist diese Missachtung grundlegender Tatsachen im Zusammenhang mit der Finanzierung der Volkswirtschaft auch deshalb, weil dadurch Debatten über die »despotische Macht« des Finanzwesens und die Frage, in wessen Interesse das Geldsystem gesteuert wird, lange ausgeblendet wurden. Manche halten das nicht für einen Zufall. Schließlich konnte das globale Finanzkapital dank dieser Ignoranz florieren, ohne kritischen Blicken der Wissenschaft oder der Öffentlichkeit ausgesetzt zu sein. Aber das hat auch zu gravierenden Missverständnissen geführt. Ein sehr schwerwiegendes ist der häufig wiederholte Vorwurf, Zentralbanken würden »Geld drucken« und dadurch Inflation verursachen. Es stimmt zwar, dass die Zentralbanken für die Ausgabe des Geldes und die Erhaltung der Geldwertstabilität verantwortlich sind, aber sie lassen nicht das Geld »drucken«, das ein Land braucht. Wie der damalige Gouverneur der Bank of England, Mervyn King, 2013 gesagt hat, »drucken« die privaten Geschäftsbanken 95 Prozent der Geldmenge (Geld in jeder Form einschließlich Bank- und anderer Guthaben sowie Geldscheine und Münzen), während die Zentralbank höchstens 5 Prozent ausgibt.3 In 3

Sir Mervyn King im Interview mit Martin Wolf: »So außergewöhnlich daran ist, dass das Bankensystem, das normalerweise für 95 Prozent der allgemeinen Geldschöpfung verantwortlich ist, in den letzten Jahren seinen Anteil an der Geldversorgung zurückgefahren hat. Und da wir in der Bank

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einem wenig regulierten System liegt die Macht, die wirtschaftlichen Akteur_innen mit Geld zu versorgen oder ihnen Geld vorzuenthalten, bei den privaten Geschäftsbanken.4 Doch neoliberale Ökonom_innen ignorieren das »Drucken« von privatem Geld weitgehend und nehmen stattdessen die Regierungen und staatlich ernannten Zentralbanker_innen ins Visier und werfen ihnen regelmäßig vor, sie würden die Inflation schüren. Der blinde Fleck der Monetarist_innen für den Zusammenhang zwischen der Geldschöpfung durch private Banken und Inflation erklärt zum Teil, warum Margaret Thatchers Wirtschaftsberater_innen meinten, sie könnten die Inflation nicht eindämmen.5 Sie zielten nur auf die staatliche Geldversorgung – Ausgaben und Kreditaufnahme des Staates. Monetarist_innen wiesen der Deregulierung der Kreditvergabestandards bei der Kreditschöpfung durch private Geschäftsbanken den Weg. Dank dieser Deregulierung konnten die Banken in einen Kreditvergaberausch verfallen, der die Inflation befeuerte. Deshalb hatte es Margaret Thatcher im ersten Jahr ihrer Regierungszeit mit einer Inflationsrate von 21,9 Prozent zu tun. Erst im vierten Regierungsjahr lag die Inflationsrate niedriger als bei ihrem Amtsantritt, und das nur infolge strikter »Austerität«. Wie William Keegan erklärt, führte die »überholte (monetaristische) Lehre nicht nur zu einem Anstieg der Inflation, sondern auch zu einem starken Einbruch der britischen Wirtschaft und steigender Arbeitslosigkeit«.6 Der blinde Fleck gegenüber privater Kreditschöpfung ist Teil einer Ideologie, die behauptet, der private Sektor sei gut und der staatliche sei schlecht. Man könne sich darauf verlassen, so heißt es, dass »freie, kompetitive Märkte«, die unsichtbar und nicht ver-

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nur rund 5 Prozent dazu beitragen, muss unser Beitrag massiv steigen, um den Rückgang des Rests auszugleichen« (King, Lunch with the FT). Roche, Understanding Why Austrian Economics Is Flawed. Ausführlicher dazu Keegan, Mrs Thatcher’s Economic Experiment. Ebenda, S. 208.

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antwortlich sind, den weltweiten Finanzsektor und die Weltwirtschaft richtig steuerten. Diese Denkweise rührt nicht nur von einem geradezu religiösen Glauben an »freie« Märkte her, sondern auch von Verachtung gegenüber dem demokratischen, regulierenden Staat – die Anhänger_innen von Thatcher und Reagan drückten diese Verachtung in den 1980er Jahren ganz offen aus, ebenso wie gewählte Politiker_innen seither.

Das Management des Geldsystems Es ist eine faszinierende und für viele neue Entdeckung, dass Geld »aus dem Nichts« geschaffen wird. Ich werde argumentieren, dass es nicht auf das Geld per se ankommt, sondern vielmehr auf das Management oder die Kontrolle über die, wie Keynes sagte, »elastische Produktion von Geld«. Es sollte keinen Widerstand gegen ein Währungssystem geben, in dem Geschäftsbanken das für produktive Aktivitäten in der Realwirtschaft erforderliche Geld schaffen, Aktivitäten, die Menschen in Lohn und Brot bringen. Tatsächlich spielen Geschäftsbanken eine entscheidend wichtige Rolle bei der Bewertung von Risiken, sie sorgen für den Geldfluss innerhalb der Volkswirtschaft und für seinen reibungslosen Verlauf. Bankangestellte sind wichtig in den zahllosen sozialen Beziehungen zwischen Schuldner_innen und der Bank, sie schätzen die Risiken ein, die potenzielle Kreditnehmer_innen für die Bank darstellen. Ich lehne zwar die Verstaatlichung von Banken nicht ab, aber Beamte in großen bürokratischen Apparaten sind nicht am besten dafür geeignet, die Risikobewertungen bei den vielen Kreditanträgen vorzunehmen, die an jedem Arbeitstag bei Banken eingereicht werden. Ich kann mir bessere Aufgaben für unsere Staatsdiener_innen vorstellen, als dass sie Ms Jones’ Antrag auf ein Hypothekendarlehen, Mr Smiths Antrag auf einen Autokredit und den Antrag des Ladenbesitzers um die Ecke auf einen Überziehungskredit bewerten.

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Doch die Macht der privaten Geschäftsbanken, zu einem bestimmten »Preis« (dem Zinssatz), den sie selbst festsetzen, Geld zu schaffen und in Umlauf zu bringen, ist eine große Macht. Sie wird durch eine öffentliche Infrastruktur (die Zentralbank, das Rechtssystem und das Besteuerungssystem) verliehen und gestützt. Deshalb muss diese Macht durch öffentlich rechenschaftspflichtige Institutionen sorgfältig und streng reguliert werden, damit sie nicht »despotisch« wird. Die Behörden sollten sicherstellen, dass Geld und Kredit gerecht verteilt werden, zu nachhaltigen Zinssätzen, für solide, bezahlbare wirtschaftliche Aktivitäten und nicht für riskante und oft systemgefährdende Spekulation. Vor allem aber dürfen die Banken die große Macht, die die Gesellschaft ihnen übertragen hat – die Macht, Geld »aus dem Nichts« zu schöpfen –, nicht dafür nutzen, sich selbst zu bereichern. Ebenso wenig dürfen Banken Einlagen oder Kredite von Kund_innen als Sicherheit für eigene Kreditaufnahmen und eigene Spekulationsgeschäfte einsetzen. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit und sollte die regulatorische Aufsicht einer demokratischen Gesellschaft über die Banken leiten.

Der Wert eines soliden Bankensystems Während manche Kreise sich dagegen sträuben, es anzuerkennen, zählen meiner Meinung nach das Währungs- und das Finanzsystem zu den größten kulturellen und wirtschaftlichen Errungenschaften der Gesellschaft. Die Geldschöpfung durch ein gut entwickeltes Geld- und Bankensystem zuerst in Florenz, dann in Holland und schließlich in Großbritannien mit der Gründung der Bank of England 1694 kann als ein großer zivilisatorischer Fortschritt betrachtet werden. Als Ergebnis der Entwicklung solcher soliden Geldsysteme stand fortan genug Kapital für privates Unternehmertum und für das Allgemeinwohl zur Verfügung. Wagemutige mussten sich nicht länger an reiche und mächtige

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»Räuberbarone« wenden, wenn sie für ihre Unternehmungen Geld brauchten. Stattdessen gewährten Banken ihnen Darlehen entsprechend ihrer Kreditwürdigkeit. Dadurch wurde Geld für mehr private und öffentliche Unternehmer_innen verfügbar und nicht nur für ausgewählte Gruppen der Mächtigen. Die neuen und sich langsam entwickelnden Geld- und Finanzsysteme verringerten den »Preis« oder Zinssatz für Kredite. In der Folge herrschte kein Mangel an Geld für Investitionen, um wirtschaftliche Aktivitäten zu beginnen und Arbeitsplätze zu schaffen. Und deshalb gibt es heute für alle jene, die in Gesellschaften mit soliden, entwickelten Geldsystemen leben, genug Geld, um Probleme wie die Energieversorgung und den Klimawandel anzugehen. Es gibt genug Geld, um die großen Geißeln der Menschheit aus der Welt zu schaffen, Armut, Krankheit und Ungleichheit, um für Wohlstand und Wohlergehen zu sorgen, um die Künste und die Kultur allgemein zu finanzieren und sicherzustellen, dass das Ökosystem »lebenswert« bleibt. Die reale Knappheit, der wir uns gegenübersehen, betrifft in erster Linie die Fähigkeiten der Menschen: die Grenzen unserer individuellen, sozialen und kollektiven Integrität, Fantasie, Intelligenz, Organisationsfähigkeit und Muskelkraft. Zweitens sind es die physischen Grenzen des Ökosystems. Das sind reale Einschränkungen. Doch an den sozialen Beziehungen, die Geld schaffen und Vertrauen erhalten, darf in einem gut regulierten und gut gelenkten Geldsystem kein Mangel herrschen. In einem gesunden Finanzsystem können wir uns das leisten, was wir tun können. Geld ermöglicht uns, so zu agieren, wie wir mit unseren begrenzten natürlichen und menschlichen Ressourcen agieren können. Deshalb existieren Geld und Kredit nicht als Folge wirtschaftlicher Aktivität, wie viele glauben. Es ist wie mit den Ausgaben über unsere Kreditkarte: Geld schafft wirtschaftliche Aktivität.

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Sparen als Folge, nicht als Vorbedingung für Kredit Wenn junge Leute die Schule verlassen, einen Job antreten und am Monatsende Geld als Lohn bekommen, glauben sie fälschlicherweise, ihr neu entdecktes Einkommen sei das Ergebnis von Arbeit oder wirtschaftlicher Aktivität. Das führt zu der verbreiteten Annahme, Geld existiere als Konsequenz wirtschaftlicher Aktivität. Tatsächlich ist es mit wenigen Ausnahmen so, dass der Kredit, der von der Bank ausgegeben wird und als neues Geld auf dem Konto der Firma erscheint, die wirtschaftliche Aktivität in Gang setzt. Wahrscheinlich wurde der Lohn der Berufsanfängerin mithilfe eines Überziehungskredits der Firma bezahlt. Es ist zu hoffen, dass ihre Anstellung weitere wirtschaftliche Aktivitäten ausgelöst hat (weil sie zum Beispiel dazu beigetragen hat, dass bestimmte Geräte produziert und verkauft wurden), die wiederum das nötige Einkommen und die Ersparnisse generiert haben, um den Überziehungskredit zu reduzieren, die Schulden zu begleichen und ihren Lohn zu zahlen. In einem gut gelenkten Finanzsystem ist Geld der Katalysator, die treibende Kraft für Innovation, Produktion und neue Arbeitsplätze. In einer gut gelenkten Volkswirtschaft wird Geld in produktive, nicht in spekulative wirtschaftliche Aktivitäten investiert. In einem stabilen System erzeugt wirtschaftliche Aktivität (Investitionen, Beschäftigung) Gewinne, Löhne und Einkommen, das für die Rückzahlung des ursprünglichen Kredits verwendet werden kann. Natürlich muss es Beschränkungen für die »elastische Produktion« dieses sozialen Konstrukts geben, das wir Geld nennen. Das hängt damit zusammen, dass Banker_innen und ihre Kund_innen einerseits Inflation schüren können, andererseits Deflation. Wenn Banker_innen mehr Kredit/Schulden schaffen, als eine Volkswirtschaft sinnvoll verwenden kann, führt das womöglich dazu, dass »zu viel Geld zu wenigen Waren und Dienstleistungen hinterherjagt« – das heißt es führt zu Inflation. Genauso kann das

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private Bankensystem die Menge der geschaffenen Kredite reduzieren. Damit schrumpft die Geldmenge, die wirtschaftliche Aktivität und die Beschäftigung gehen zurück; man spricht von Deflation. Wenn die staatlichen Instanzen das Bankensystem angemessen regulieren und es im Interesse der Volkswirtschaft insgesamt funktioniert, steht immer genug Geld für solide produktive Aktivitäten zur Verfügung. Deshalb sind ein solides Bankensystem und ein modernes Währungssystem genau wie Kanalisation, saubere Luft und sauberes Wasser wichtige »öffentliche Güter«. Sie können dazu dienen, Stabilität und Wohlstand sicherzustellen, die Entwicklung zu fördern und ökologische Nachhaltigkeit zu finanzieren, wie ich weiter unten erläutern werde. Wenn das Bankensystem schlecht gemanagt wird, kann es soziale, politische, ökonomische und ökologische Ziele auf gefährliche Weise untergraben; das sehen wir in vielen Ländern mit niedrigem Volkseinkommen. Banker_innen und andere Kreditgeber_innen (auch Mikrokreditgeber_innen) können Wucherzinsen auf Kredite verlangen, die letztlich nicht bezahlbar sind. Wenn Banker_innen und Investor_innen ihre despotische Macht nutzen, um der Volkswirtschaft Geld vorzuenthalten, schrumpft die wirtschaftliche Aktivität, Löhne und Preise fallen, und das führt zu Arbeitslosigkeit und sozialer Not. Wenn dem Banken- und Finanzsystem keinerlei Zügel angelegt werden, kann das katastrophale Folgen für die Gesellschaft und das Ökosystem haben, was regelmäßig auch passiert. Ein schlecht gemanagtes Finanzsystem kann die demokratischen Institutionen einer Gesellschaft usurpieren und kannibalisieren. Wir leben in einer zerstörerischen Ära, in welcher sich der Finanzsektor massiv ausgedehnt hat – einer Ära, in der die meisten Investierenden praktisch keine direkte Beziehung mehr zur realwirtschaftlichen Produktion von Waren und Dienstleistungen haben. Die Deregulierung hat es möglich gemacht, dass der Finanzsektor sich selbst speist und so seine Mitglieder reich macht

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und seine Aktivitäten von der Realwirtschaft abkoppelt. Produktive Akteur_innen in der Realwirtschaft, die kreativ sind und etwas herstellen, wurden periodisch mit »leichtem, aber teurem Geld« überschwemmt, und genauso oft wurde ihnen erschwingliches Kapital vorenthalten. Diese Instabilität hat dazu geführt, dass Krisen seit der »Liberalisierung« der Finanzmärkte in den 1970er Jahren immer häufiger aufgetreten sind und das System seit der Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 nicht mehr richtig funktioniert. Viele arme Länder haben schlecht gemanagte und nur wenig regulierte Finanzsysteme, deshalb fehlt es dort an Geld für Handel und Produktion und für lebenswichtige öffentliche Dienstleistungen. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass die nötigen staatlichen Institutionen (zum Beispiel eine funktionierende Zentralbank, ein vertrauenswürdiges Strafverfolgungssystem, ein ordentliches Rechnungswesen) und politischen Maßnahmen (einschließlich der Steuerpolitik) fehlen, die Grundlagen eines angemessen funktionierenden Finanzsektors sind. Kein Geld- und Bankensystem kann ohne Zentralbank, ohne System der Regulierung und Besteuerung funktionieren, ohne solides Rechnungswesen und ohne Justizsystem, das Verträge durchsetzt und Betrug verhindert. Aber während arme Länder ermutigt wurden, ihre Märkte für Kapital und Waren zu öffnen, um privaten Wohlstand zu schaffen, hat man sie entmutigt oder entsprechende Bemühungen rundweg blockiert, solide staatliche Institutionen und politische Maßnahmen einzuführen, um ihre Geld- und Besteuerungssysteme zu lenken. Vor allem hat man sie entmutigt, die Kreditschöpfung durch den privaten Bankensektor zu erschwinglichen Zinssätzen zu regulieren (»überlasst das dem Markt«) und die Geldflüsse in ihre Volkswirtschaften hinein und aus ihren Volkswirtschaften heraus zu steuern.

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Die Rolle der Räuberbarone In Ländern mit schwachen regulatorischen Systemen und Institutionen sind Unternehmer_innen gezwungen, sich für Kredite an die Personen zu wenden, die – auf anständigen oder unanständigen Wegen – Reichtum oder Kapital angehäuft haben. Die Regierungen armer Länder wenden sich an Institutionen wie den IWF und die Weltbank oder an die internationalen Kapitalmärkte, wenn sie harte Devisen brauchen. Wegen dieser Abhängigkeit von einheimischen und internationalen »Räuberbaronen« ist das Geld teuer. Es wird von mächtigen ausländischen Geldgeber_innen ausgeliehen, die in der Lage sind, in einer stabilen Währung Kredit zu schaffen. Oder es kommt von Einzelpersonen oder Unternehmen mit Ersparnissen oder Überschüssen und wird dann unweigerlich zu hohen realen Zinssätzen vergeben – Zinssätzen, die oft das Einkommen oder die Rendite aus der Investition übersteigen. Wenn der Kredit in einer fremden Währung läuft, können Kursschwankungen die Kreditkosten sowohl erhöhen wie vermindern. Aber Schwankungen sind hinderlich für aussichtsreiche Unternehmungen. Wenn ein armes Land einen Kredit in fremder Währung aufnehmen muss, bremst das unter Umständen seine innovativen Sektoren, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bleiben hoch, Armut kann sich festsetzen. Doch es muss nicht so kommen. Die Verbindungen der Geldsysteme und Finanzmärkte zur Realwirtschaft und zu den Beziehungen, Werten und Bedürfnissen der Gesellschaft wurden gekappt. Das hängt hauptsächlich damit zusammen, dass reiche Eliten die Geldsysteme gekapert und unter Mitwirkung von Regulator_innen und gewählten Politiker_innen die demokratischen Institutionen der Gesellschaft ausgehöhlt haben. Jetzt lenken sie die Finanzsysteme nach ihren eigenen eng begrenzten, pervertierten Interessen.

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Widerstand gegen die regulatorische Demokratie Die meisten orthodoxen Ökonom_innen, die sich für den Finanzsektor interessieren, sind dagegen, ihn im Interesse der Gesellschaft insgesamt zu lenken und zu regulieren. Bewusst oder unbewusst handeln sie damit im Interesse der Kreditgeber_innen und liefern damit praktisch die Rechtfertigung für »leichten« (das heißt unregulierten), aber teuren (zu hohen realen Zinssätzen vergebenen) Kredit. Ich werde zeigen, dass das die schlimmste mögliche Kombination für die Gesellschaft und das Ökosystem ist, weil hohe und steigende reale Zinssätze hohe und steigende Renditen aus Investitionen, Arbeitsleistung und aus den endlichen Ressourcen der Erde erforderlich machen. Die meisten orthodoxen Ökonom_innen haben auch eine ungesunde Abneigung gegen den Staat, dem sie »Renditegier« vorwerfen: Er wolle Einkommen, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Gleichzeitig ignorieren sie die »Renditegier« des privaten Sektors. Noch im Oktober 2008 hat der ehemalige Chef der amerikanischen Notenbank Alan Greenspan das bei der Befragung durch einen Kongressausschuss unter dem Vorsitz von Henry Waxman ganz offen zugegeben.7 Der Vorsitzende erinnerte Mr Greenspan an seine Worte: »Ich habe eine Ideologie. Meiner Überzeugung nach sind freie, kompetitive Märkte die mit Abstand beste Art, um Volkswirtschaften zu organisieren. Wir haben es mit Regulierung probiert. Keine Form der Regulierung hat wirklich funktioniert.« Später führte Greenspan noch aus: »[Ich hatte] einen Fehler in dem Modell gefunden, das ich als die entscheidende Funktionsbeschreibung ansah, wie sozusagen die Welt funktioniert […]. Das hat mich schockiert, denn über vierzig Jahre lang ging ich davon aus, dass sie außerordentlich gut funktionierte.« Dank des alles durchdringenden Einflusses der orthodoxen ökonomischen Lehre, der Alan Greenspan und andere anhingen, 7

Ward, He Found the Flaw?.

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nutzten westliche Regierungen in dieser Zeit die Märkte als »die beste Art, Volkswirtschaften zu organisieren«. »Regulierung mit leichter Hand«, »Outsourcing«, »Globalisierung« und andere politische Veränderungen wurden als Möglichkeiten begrüßt, die Kontrolle über das öffentliche Gut, das das Geldsystem darstellt, auf die Besitzer_innen privaten Vermögens zu übertragen. Die orthodoxe Lehre gestand privaten Banker_innen und Investor_innen große Macht in zwei wichtigen Bereichen zu: erstens die Möglichkeit, Kredite ohne wirksame Kontrolle und Regulierung zu schaffen, zu bepreisen und zu vergeben, und zweitens die Möglichkeit, die globalen Geldflüsse über Grenzen hinweg zu »managen« – ohne dass regulatorische Instanzen sich darum kümmerten. Durch diesen Kurswechsel gaben demokratische, verantwortliche öffentliche Instanzen die Kontrolle über die Wirtschaft – über Beschäftigung, Wohlfahrt und Einkommen – an ferne und nicht rechenschaftspflichtige Finanzmärkte ab. Die Übertragung bedeutender finanzieller Macht fand in aller Heimlichkeit statt. Es gab praktisch keine öffentliche oder wissenschaftliche Debatte darüber, dass öffentlichen, rechenschaftspflichtigen Regulator_innen Macht weggenommen und privaten Interessen übertragen wurde. Stattdessen speiste man die Öffentlichkeit mit beruhigenden Plattitüden ab, dass die Märkte in der Lage wären, den Bereich zu »disziplinieren«, wenn die Selbstregulierung scheitern sollte. Die Konkurrenz, so sagte man uns, würde Betrug und Täuschung verhindern. Das Ergebnis war vollkommen vorhersehbar. Einzelpersonen und Unternehmen im privaten Finanzsektor strichen in historisch einmaligem Umfang Geld und kriminelle Gewinne ein. Enormes Vermögen wurde aus denen herausgepresst, die nicht zum Finanzsektor gehörten. Sinkende Produktion und Arbeitslosigkeit waren die Folge. Nachdem sich in den 1970er Jahren die Liberalisierung durchsetzte und alle Gewinne im Vergleich zu früheren Zeiträumen sanken, wuchs die Arbeitslosigkeit weltweit, und die Lohnquote ging zurück. Die Ungleichheit explodierte. Die private

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Verschuldung weltweit nahm zu und überstieg das globale Einkommen. Und wie Professor Ken Rogoff und Carmen Reinhart gezeigt haben, gab es immer mehr Finanzkrisen. Das Vertrauen in das Bankensystem und in die politischen und sonstigen öffentlichen Institutionen schwand. Der Grund liegt auf der Hand. Der Transfer wirtschaftlicher Macht weg von staatlichen Instanzen hin zu vermögenden privaten Eliten hatte Investor_innen in Schlüsselpositionen dem Zugriff des Gesetzes, der Regulator_innen und der Politiker_innen entzogen. Dieser Verlust demokratischer Macht höhlte die demokratischen Institutionen aus – Parlament und Kongresse –, während »Privatisierungen« ganze Bereiche der Wirtschaft schwächten, die bislang demokratischer Kontrolle unterstanden hatten.

Abb. 1 Finanzkrisen in Zeiten hoher Kapitalmobilität nach der Liberalisierung der Finanzmärkte Quelle: Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, Dieses Mal ist alles anders. Acht Jahrhunderte Finanzkrisen, 5. Aufl. München 2011

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Die Zunft der Ökonom_innen und die Universitäten standen abseits, als sich enorme Macht in den Händen kleiner Gruppen leichtsinniger Investor_innen sammelte. Die Wirtschaftswissenschaftler_innen konzentrierten sich meistens kurzsichtig auf mikroökonomische Themen und verloren die Makroökonomie aus dem Blick. Bis heute hält die Wirtschaftswissenschaft an den Universitäten Distanz zu der Krise und spielt bei ihrer Lösung praktisch keine Rolle. Politiker_innen und die Medien waren benommen und verwirrt von den Aktivitäten des Finanzsektors. Gillian Tett, eine von wenigen Journalist_innen, die es wagten, die Welt der internationalen Investor_innen und Kreditgeber_innen zu erkunden und herauszufordern, kritisiert ein »Muster des ›sozialen Schweigens‹ […], das sicherstellte, dass komplexe Kreditgeschäfte als zu langweilig, irrelevant oder zu technisch erschienen, um das Interesse von Außenstehenden wie Journalist_innen und Politiker_innen zu erwecken«.8 Der Finanzbereich war in der Tat zu langweilig und zu undurchsichtig, als dass sich Mainstream-Feministinnen und Umweltschützer_innen dafür interessiert hätten. Infolge des »sozialen Schweigens« waren die Bürger_innen nicht auf die Krise vorbereitet, und bis heute wissen sie insgesamt sehr wenig darüber, wie das Finanzsystem funktioniert und was es tut. Die Deregulierung des Finanzsektors hat gezeigt, dass ein von der Demokratie isolierter Kapitalismus zu Renditegier, Kriminalität und Korruption in großem Stil verkommt. Wie Karl Polanyi in seinem berühmten Buch The Great Transformation vorausgesagt hat, entwickelten die Gesellschaften Ablehnung gegen einen »selbstregulierenden Markt […], der Arbeit, Boden und Geld umfaßte«, oder anders gesagt, gegen den Marktfundamentalismus, selbst wenn blinder Widerstand irrational erscheint.9 Während 8 9

Tett, Silos and Silences. Polanyi, The Great Transformation, S. 290.

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ich das schreibe, suchen die Wähler_innen in den Vereinigten Staaten Schutz vor einem demagogischen Präsidenten, der versprochen hat, zu ihrer Verteidigung eine Mauer zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko zu errichten. In Europa haben Politiker_innen Zulauf, die eine autoritäre nationalistische Kontrolle über die Wirtschaft ihrer Länder anstreben. Genau wie in den 1920er und 1930er Jahren wenden sich die Gesellschaften autoritären Politiker_innen zu in dem Irrglauben, ihre neuen »Herren« würden Schutz vor »dem dummen Herren« bieten, wie ihn 1944 die britische Labour Party nannte: einem deregulierten, globalisierten Finanzsektor.

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2 Wie Geld entsteht Kredit ist die Kaufkraft, die so oft in wirtschaftswissenschaftlichen Werken erwähnt wird als ein Hauptmerkmal von Geld, und wie ich zu zeigen versuchen werde, Kredit und nur Kredit ist Geld. Kredit und nicht Gold oder Silber ist der einzige Besitz, nach dem alle Menschen streben, ihn zu bekommen, ist Ziel und Gegenstand allen Handels. Kredit ist ohne Frage weitaus älter als Bargeld. Mitchell Innes, »What Is Money?« The Banking Law Journal, Mai 1913 Auf Adam Smith geht die Vorstellung zurück, dass der Reichtum einer Nation nicht in Geld gemessen wird, sondern an ihrer Fähigkeit, Waren und Dienstleistungen zu produzieren. Andrea Terzi, INET-Konferenz, April 2015

Bernanke bricht ein Tabu Es geschah am 15. März 2009. Wenige Monate zuvor hatte der Bankrott einer Investmentbank, Lehman Brothers, zu finanziellem Chaos geführt. Die weltweite Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 befand sich noch in einem frühen Stadium. Aber an dem Tag passierte etwas historisch Einmaliges. Ben Bernanke gab das erste Radiointerview, das jemals ein amerikanischer Notenbankchef einem amerikanischen Journalisten gewährt hatte. Der Journalist hieß Scott Pelley, das Interview lief in der legendären CBS -Sendung 60 Minutes. Am Tag vor dem Interview hatte die US -amerikanische Fede-

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ral Reserve (Federal Reserve System, Fed) – die mächtigste Zentralbank der Welt – im Rahmen einer Routineoperation etwas ganz Außergewöhnliches getan. Der Gouverneursrat hatte einem Kredit über 85 Milliarden Dollar an AIG zugestimmt – nicht an eine Bank, sondern an eine Versicherungsgesellschaft, die gar kein Konto bei der Fed haben sollte. Unter Fed-Chef Bernanke und seinem Vorgänger Greenspan hatte AIG durch Geschäfte auf dem 62-Billionen-Dollar-Markt mit Kreditausfallversicherungen (Credit Default Swaps, CDS ) ungeheure Verbindlichkeiten angehäuft (zum Teil auf betrügerische Weise). Ben Bernanke erklärte Scott Pelley, die 85 Milliarden Dollar der Fed zur Rettung von AIG , einer von mehreren Krediten an AIG , seien eine kurzfristige Notmaßnahme, um ein Systemversagen des weltweiten Finanzsektors zu verhindern. Aber Pelley war durch das alles verwirrt und stellte folgende Frage. Woher nahm die Fed das Geld? Waren die 85 Milliarden Steuergeld? »Nein«, erwiderte Bernanke mit Nachdruck. »Das ist kein Steuergeld. Die Banken haben Konten bei der Fed, etwa so wie Sie ein Konto bei einer Geschäftsbank haben. Wenn wir einer Bank Geld leihen, setzen wir einfach im Computer ihren Kontostand herauf.« Der Betrag von 85 Milliarden Dollar, eine Zahl mit neun Nullen – 85000000000 –, wurde in einem Sekundenbruchteil an AIG übertragen, nachdem jemand alle elf Ziffern in einen Fed-Computer eingegeben hatte. Die Summe, die AIG bekam, war eine bemerkenswerte Menge Geld, aber die Aktion selbst – Ziffern in einen Computer einzutippen und das Geld auf das Bankkonto eines Schuldners zu übertragen – ist unspektakulär. Wie Bernanke sagte, tun Mitarbeiter_innen von Geschäftsbanken das jeden Tag, jeden Tag buchen sie Privat- oder Geschäftskredite auf Konten. Im Übrigen machen das private Geschäftsbanken schon immer (allerdings zu Anfang durch Einträge mit einem Füllhalter in einem Hauptbuch und nicht durch das Eintippen von Zahlen auf einer Computertastatur), seit 1694 die Bank of England gegründet wurde.

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Es bedeutet große Macht. Banker_innen können diese Macht nur dank der Unterstützung der Steuerzahler_innen einer Gesellschaft und staatlich fifinanzierter Institutionen ausüben. Deshalb sollte diese Macht im Interesse der Gesellschaft insgesamt wahrgenommen werden und nicht nur zum Eigennutz reicher Privatpersonen.

Geld: das Mittel, mit dem wir Waren und Dienstleistungen tauschen Die Vertreter_innen der orthodoxen oder neoklassischen wirtschaftswissenschaftlichen Schule schenken in ihren Modellen dem »neutralen« Geld wenig Aufmerksamkeit. Dabei stellen sie es sich oft wie eine Ware vor. Geld steht nach ihrer Auffassung stellvertretend für einen konkreten Vermögenswert oder ein knappes Gut wie Gold oder Silber. Nach der orthodoxen Sicht kann man Geld wie alle Waren, zum Beispiel Getreide, zur Seite legen und sparen, ansammeln und dann verleihen. Sparer_innen leihen ihre Überschüsse an Kreditnehmer_innen, und Banken sind nur die Vermittlungsinstanzen zwischen Sparer_innen und Kreditnehmer_innen. Es stimmt zwar, dass einige Institutionen (Sparkassen, Kreditvereine, früher britische Bausparkassen, heute Personen oder Gruppen, die Crowdfunding betreiben) Ersparnisse einsammeln und dann ausleihen, aber Geschäftsbanken haben seit Gründung der Bank of England im Jahr 1694 nie als Vermittler zwischen Kreditnehmer_innen und Sparer_innen agiert, zwischen »geduldigen« Kreditnehmer_innen und »ungeduldigen« Kreditgeber_innen. Weil die neoklassischen Ökonom_innen Geld (wie Gold und Silber) als ein knappes Gut ansehen, ist das Geld in ihren Theorien außerdem den Marktkräften unterworfen, als wäre der »Preis« des Geldes – der Zinssatz – eine Folge von Angebot und Nachfrage

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nach Geld. Viele behaupten, Geld oder Ersparnisse könnten wie Waren knapp werden. Aber Geld ist nicht wie eine Ware, wenn man es als solche definiert, macht man es zu einer »fiktiven Ware«, wie Karl Polanyi gesagt hat.1 Im Gegenteil, dank der Entwicklung solider Geldsysteme in entwickelten Volkswirtschaften ist immer genug Geld für die wichtigsten Bedürfnisse einer Gesellschaft vorhanden. Die entscheidende Frage lautet deshalb: Wer kontrolliert die Geldschöpfung? Und zu welchem Zweck wird Geld geschöpft? Die Kluft zwischen dem orthodoxen oder neoklassischen Verständnis der Natur von Geld und Zinsen und beispielsweise einem modernen keynesianischen oder minskyschen (nach dem amerikanischen Ökonomen Hyman Minsky [1919–1996]) Verständnis ist ungefähr so breit und tief wie die Kluft zwischen der ptolemäischen und der kopernikanischen Vorstellung vom Himmel im 16. Jahrhundert. Die Wissenslücke zu schließen ist beinahe unmöglich, weil an den Universitäten seit Langem und bis heute die »klassischen« Ökonom_innen dominieren. Besonders einflussreich sind sie in Finanzinstituten, wo man ihre Theorien begrüßt und unterstützt. Diese Institute haben vor langer Zeit den Geldtheorien beispielsweise des großen schottischen Ökonomen John Law (1671–1729) den Rücken gekehrt, der 1705 die Natur des Geldes prägnant dargestellt hat. Ihm folgten Henry Thornton (1760–1815) und Henry Dunning MacLeod (1821–1902). John Maynard Keynes (1883–1946) baute auf ihren Theorien auf und formulierte praktische politische Vorschläge für Beamt_innen und Politiker_innen. Doch schon damals waren seine monetären Theorien und politischen Vorschläge für die orthodoxen Mainstream-Ökonomen eine Herausforderung, wie Joseph Schumpeter in seiner Geschichte der ökonomischen Analyse vor mehr als sechzig Jahren schrieb:

1

Polanyi, The Great Transformation, S. 224.

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»Dennoch erwies es sich für die Nationalökonomen als außerordentlich schwierig, anzuerkennen, daß Bankkredite und Bankeinlagen Depositen schöpfen. […] Und noch im Jahre 1930, als die große Mehrheit bereits bekehrt war und diese Doktrin wie eine Selbstverständlichkeit akzeptierte, hielt es Keynes zu recht für erforderlich, sie nochmals darzulegen und eingehend zu verteidigen; und dennoch kann man sagen, daß einige ihrer wichtigsten Aspekte selbst heute noch nicht voll verstanden werden.«2 Eine kleine Gruppe angesehener Ökonomen verstand, dass Geld als Teil eines entwickelten Geldsystems keine Ware ist und nie die Form einer Ware angenommen hat. Stattdessen sind Geld und der Zinssatz soziale Konstrukte: soziale Beziehungen und soziale Arrangements, die hauptsächlich und letztendlich auf Vertrauen gründen. Das, was wir als Geld bezeichnen, hat seinen Ursprung in einem Glauben. Das Wort »Kredit« leitet sich vom lateinischen credo ab, ich glaube. »Ich glaube, dass du mich bezahlen oder mir heute oder irgendwann in der Zukunft mein Geld zurückzahlen wirst.« Geld und sein »Preis« – der Zinssatz – wurden zu einem Maß für dieses Vertrauen und/oder Versprechen. Oder, wenn das Vertrauen fehlt, zu einem Maß für den Mangel an Vertrauen. Wenn der Banker einer Kundin nicht ganz vertraut, dass sie das Geld zurückzahlt, wird er mehr Sicherheiten oder höhere Zinsen verlangen. In dieser Sichtweise ist Geld nicht das Ding, gegen das wir andere Waren und Dienstleistungen eintauschen, sondern mit dem wir diesen Tausch vollziehen, wie John Law in einer berühmten Formulierung 1705 gesagt hat.3 Denken Sie, um sich das klar zu machen, an Ihre Kreditkarte. Auf den meisten Kreditkartenkonten befindet sich kein Geld, bevor der Nutzer oder die Nutzerin Ausgaben tätigt. Es existiert le2 3

Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. 2, S. 1352f. Law, Money and Trade Considered with a Proposal for Supplying the Nation with Money.

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diglich ein sozialer Vertrag mit einer Bank: ein Versprechen oder eine Verpflichtung der Bank, die Schulden zu bezahlen, die entstehen, wenn Sie Ihre Karte für Ausgaben einsetzen, zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft und zu einem vereinbarten Zinssatz. Und wenn »Geld« über Ihre Kreditkarte ausgegeben wird, tauschen Sie nicht die Karte gegen die Produkte, die Sie erwerben. Denn Geld ist nicht wie Tauschhandel. Nein, die Karte bleibt in Ihrer Brieftasche. Stattdessen geben Ihnen die Kreditkarte und das Vertrauen, auf dem sie basiert, die Möglichkeit, ein Produkt oder eine Dienstleistung zu erwerben. Die Kreditkarte ist das Mittel, das Ihnen Ihre Kaufkraft verleiht. Beim Bezahlen mit Kreditkarte wird Geld für Ausgaben »aus dem Nichts« geschaffen. Der ungreifbare »Kredit« ist nichts anderes als der Glaube der Bank und des Händlers, dass der Inhaber oder die Inhaberin der Karte seiner oder ihrer Rückzahlungsverpflichtung nachkommen wird. Insofern sind Kredit und Geld immer eine soziale Vertrauensbeziehung zwischen den Beteiligten einer Transaktion: zwischen Banker_innen und Kund_innen, zwischen Käufer_innen und Verkäufer_innen, zwischen Schuldner_innen und Gläubiger_innen. Geld ist keine Ware, und war es nie, wie eine Karte oder Öl oder Gold – obwohl Münzen und Banknoten wie Kreditkarten als bequemes Maß für das Vertrauen zwischen den an einer Transaktion Beteiligten verwendet werden. Wenn ein Banker einer Kundin mehr als den meisten anderen vertraut, wird die Kundin eine Gold- oder Platinkarte bekommen. Wenn der Banker kein Vertrauen hat, dass die Kundin den Kredit zurückzahlen kann, wird er ihr keine Kreditkarte geben oder nur eine mit einem sehr niedrigen Limit. Für die Kundin bedeutet das, dass sie Kaufkraft verliert. Zutrauen, Glauben, Vertrauen – dass jemand als verlässlich und ehrlich eingeschätzt wird und dass seine oder ihre geplante Ausgabe oder Investition solide ist – steht im Zentrum aller Geldtransaktionen. Ohne Vertrauen kollabiert das Geldsystem, und die Transaktionen kommen zum Erliegen.

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Die gute Nachricht: Ersparnisse sind für Investitionen nicht nötig Das Wunder einer entwickelten Geldwirtschaft ist Folgendes: Ersparnisse sind nicht nötig, um Käufe oder Investitionen zu finanzieren. Die Unternehmer oder Einzelpersonen, die Geld für eine Investition brauchen, sind nicht auf das Geld von Einzelnen angewiesen, die ihr Einkommen zu einer Sparkasse getragen oder unter die Matratze gelegt haben. Stattdessen können sie Geld von einer privaten Geschäftsbank erhalten. Die Verfügbarkeit von Kapital in einer Geldwirtschaft steht im Kontrast zu einer armen, unterentwickelten Wirtschaft ohne Geldsystem, in der Ersparnisse die einzige Finanzierungsquelle für Investitionen sind und in der unweigerlich nicht genug Geld vorhanden ist, um die dringlichsten Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen. Der Ökonom Andrea Terzi erklärt den Unterschied zwischen einer Volkswirtschaft mit und einer ohne Geldsystem einleuchtend: »Wenn Menschen in Form einer realen Ware sparen, wie zum Beispiel Getreide, ist die Entscheidung, zu sparen, eine ganz persönliche Sache: Wenn jemand eine bestimmte Menge Korn hat, hat er das Privileg, es zu verbrauchen, es zu lagern, es zu verschwenden, wie es ihm oder ihr beliebt, ohne dass es den Getreidekonsum anderer Menschen direkt betrifft. Nur wenn er oder sie beschließt, es zu verleihen, entsteht eine Beziehung mit anderen. In einer Volkswirtschaft mit einem Geldsystem ist Erspartes keine reale Menge, die jeder unabhängig besitzen kann, wie Getreide oder Gold oder eine Sammlung seltener Briefmarken. In einer Volkswirtschaft mit einem Geldsystem ist Sparen im Gegensatz zu einer Volkswirtschaft ohne Geldsystem eine Handlung [die eine Beziehung zu anderen herstellt A. P.] […] in Form einer finanziellen Forderung. Anders als eine Ware wie Getreide erscheint finanzielles Sparen immer als finanzielle Beziehung, weil es nur als Forde-

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rung an andere existiert in Form von Banknoten, Bankguthaben oder anderen Vermögenswerten. Persönliche Ersparnisse sind Forderungen einer wirtschaftlichen Einheit an eine andere, und jede Veränderung bei den Ersparnissen zieht eine Veränderung in der Beziehung zwischen dem »Sparenden« und anderen wirtschaftlichen Einheiten nach sich. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung kommt das nicht vor, weil sie nur aggregierte Werte präsentiert. Wenn wir auf die Ersparnisse schauen, indem wir die individuelle Einheit herausgreifen und die Verbindungen zwischen Einheiten und zwischen Sektoren mit berücksichtigen, stellen wir fest, dass jedem gesparten Penny eine Schuld in gleicher Höhe gegenüberstehen muss. Eine Banknote ist eine Verbindlichkeit einer Zentralbank. Eine Einlage bei einer Bank ist die Verbindlichkeit einer Bank. Ein Wertpapier des Staates ist eine Verbindlichkeit des Staates. Eine Unternehmensanleihe ist eine Verbindlichkeit eines privaten Unternehmens, und so weiter. Das heißt, wenn wir über finanzielle Ersparnisse sprechen, sprechen wir auch über Schulden. Jeder Penny, den jemand gespart hat, ist eine Verbindlichkeit von jemand anderem […] jeder gesparte Penny bedeutet Schulden von jemand anderem. In einer Volkswirtschaft mit einem Geldsystem dienen Ersparnisse nicht der Finanzierung; vielmehr müssen sie finanziert werden.«4 Fassen wir zusammen: In einer Volkswirtschaft mit einem Geldsystem ist Sparen etwas anderes, als einen Überschuss an Getreide anzulegen und dann zu verleihen. Das Getreide kann gespart werden, ohne dass dies andere Personen betrifft. Aber beim Sparen in einer Wirtschaft, die auf Geld basiert, sind immer »andere betroffen«, weil es immer ein Akt ist, der eine finanzielle Beziehung zu anderen herstellt: eine Forderung. Forderungen können die 4

Terzi, The Eurozone Crisis. Hervorhebung der Autorin.

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Form eines Vermögenswerts oder einer Verbindlichkeit annehmen. Wenn zum Beispiel eine Zentralbank eine Dollarnote an eine private Bank ausgibt, hat sie eine Pflicht (Verbindlichkeit), den Wert der Währung an die Bank auszuzahlen, wenn die Bank das verlangt. Dann hat die Bank einen Vermögenswert (die Dollarnote), aber auch eine Schuld (eine Verbindlichkeit) gegenüber der Zentralbank. Wenn eine Geschäftsbank ein Guthaben auf das Konto eines Kunden oder einer Kundin bucht, hat sie die Pflicht, das Geld an die Person auszuzahlen, die einen Kredit beantragt hat (manchmal in Form von Bargeld). Der Kreditnehmer oder die Kreditnehmerin hat einen Vermögenswert, das Geld auf dem Konto, aber auch eine Verbindlichkeit, die Pflicht, den Kredit zurückzuzahlen, und so weiter. Diese Beziehungen – zwischen Kredit und Schulden, zwischen Besitzer_innen von Verbindlichkeiten und von Vermögenswerten – sind fundamental für eine Volkswirtschaft mit einem Geldsystem, und sie generieren das Einkommen und die Ersparnisse, die für Investitionen, Beschäftigung und alle Arten nützlicher und wichtiger Tätigkeiten gebraucht werden. Natürlich müssen diese monetären Beziehungen sorgfältig gehandhabt werden, um sicherzustellen, dass sie nicht unausgeglichen, unfair oder instabil werden. Das ausgeliehene Geld darf nicht durch hohe, unerschwingliche reale Zinssätze belastet werden. Vor allem muss die Kreditschöpfung so gesteuert werden, dass Kredite sich nicht zu Bergen von nicht tragfähigen Schulden auftürmen. Der springende Punkt dabei ist, ein Gleichgewicht zwischen den Beteiligten von Finanztransaktionen zu erhalten. Mit anderen Worten: für faire Beziehungen zwischen Schuldner_innen und Gläubiger_innen zu sorgen, nicht nur das Eigentum zu sichern, sondern die wirtschaftliche Stabilität. Wenn diese Forderungen, die sozialen Beziehungen innerhalb eines Geldsystems, gut gemanagt werden, können sie den Finanzbedarf einer Gesellschaft vollständig decken. Wenn sie gut gemanagt werden, muss in einer Gesellschaft das Geld für dringliche Projekte niemals knapp sein. Wenn sie gut gemanagt werden, wachsen Schulden nicht durch

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Wucherzinsen und häufen sich nicht so an, dass der Kreditnehmer oder die Kreditnehmerin, die Volkswirtschaft oder das Ökosystem sie nicht mehr zurückzahlen kann. Wenn in einer Volkswirtschaft die Ersparnisse wachsen, müssen notwendigerweise auch die Schulden wachsen. Schulden werden dann zu einer Last, wenn sie die Möglichkeit von Einzelnen, Firmen und der Volkswirtschaft insgesamt übersteigen, sie zurückzuzahlen. Um zu verhindern, dass Schulden auf diese Weise ausbeuterisch wirken, müssen den Geschäftsbanken zwei Bedingungen auferlegt werden. Erstens muss der Zins für Kredite immer niedrig genug sein, dass die Rückzahlung gesichert ist (mehr dazu in Kapitel 3). Zweitens sollen Kredite für Aktivitäten vergeben werden, die als produktiv angesehen werden und wahrscheinlich Arbeitsplätze und Einkommen schaffen werden. Im Idealfall sollten Kredite für spekulative Zwecke nicht attraktiv oder verboten sein. Zu den Fragen, die Banker_innen stellen, wenn jemand einen Kredit beantragt, sollte gehören: Wird das durch die Schulden geschaffene Geld dafür eingesetzt werden, Beschäftigung und andere Aktivitäten zu schaffen, die Einkommen generieren? Werden die finanziellen Forderungen für produktive und nachhaltige Tätigkeiten eingesetzt werden? Wenn diese Kriterien erfüllt sind, ist es unwahrscheinlich, dass die Schulden zu einer Last für den Kreditnehmer oder die Kreditnehmerin werden, und es wird gelingen, sie im Lauf der Zeit zurückzuzahlen. Wie schon gesagt, bedeutet weniger Kreditaufnahme, dass weniger Geld im Umlauf ist und deshalb weniger Ersparnisse vorhanden sind. Wenn auf diese Weise das verfügbare Kapital schrumpft, fallen über kurz oder lang die Preise, die Löhne und Einkommen – mit anderen Worten, die Kreditkontraktion übt einen deflationären Druck aus. Fallende Preise drücken auf die Gewinne und führen zu Bankrotten, die wiederum höchstwahrscheinlich Arbeitsplätze kosten. Die Arbeitslosen werden eher noch weniger leihen und ausgeben, was bedeutet, dass das Nationaleinkommen weiter sinkt.

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In einer wirtschaftlichen Depression wie oben geschildert muss der Staat Geld oder Ersparnisse schaffen, indem er Schuldverschreibungen ausgibt, um Investitionen in Projekte zu finanzieren, durch die neue Waren oder Dienstleistungen produziert werden. Solche Projekte schaffen dann wiederum Beschäftigung, und das bringt sowohl private Einnahmen wie auch Steuereinnahmen, aus denen die Staatsschulden zurückgezahlt werden können. Ersparnisse müssen finanziert werden, wie Andrea Terzi schreibt, und zu Zeiten, in denen der private Sektor schwach ist, werden Ersparnisse am besten durch die Ausgabe neuer Schuldverschreibungen durch den Staat oder private Banken finanziert. Fassen wir zusammen: Geld entsteht in erster Linie durch Kredit (oder Schulden). Wenn ein solides, gut gemanagtes Geldsystem existiert, steht ausreichend Geld oder Kredit für nachhaltige, Einkommen generierende Aktivitäten zur Verfügung. Wie Keynes gesagt hat: Was wir schaffen, können wir uns leisten.5 Das Kreditsystem ermöglicht uns zu tun, was wir innerhalb der physischen Grenzen tun können, die wir selbst haben und die uns durch die Ressourcen der Wirtschaft und des Ökosystems gesetzt werden. Das ist die gute Nachricht: Ein funktionierendes Geldsystem kann sehr große Projekte finanzieren, Projekte, für deren Finanzierung die gesamten Ersparnisse einer Volkswirtschaft nicht ausreichen würden, ob sie im Sparschwein stecken oder anderswo lagern. Das bedeutet, dass eine Gesellschaft mit einem funktionierenden Geldsystem sich kostenlose Bildung und ein kostenloses Gesundheitssystem »leisten« könnte, die Unterstützung der Künste genauso wie Ausgaben für die Verteidigung, für die Bekämpfung von Krankheiten genauso wie für die Rettung von Banken in einer Finanzkrise. Es mag sein, dass es uns an den materiellen und humanitären Ressourcen mangelt, die wir für den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen brauchen, aber an den finanziellen Bezie5

Keynes, National Self-Sufficiency.

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hungen – den Forderungen, die wir gegenseitig haben –, die für die dringenden und umfassenden Veränderungen nötig sind, damit unsere Umwelt lebenswert bleibt, muss kein Mangel bestehen. Wenn jedoch das Geldsystem nicht gelenkt wird und nur im Interesse einiger weniger funktioniert, kann das katastrophale wirtschaftliche, politische und ökologische Folgen haben.

2014: Die Bank of England erläutert die Geldtheorie Um die Theorien von Ökonomen wie Law, Thornton, MacLeod, Keynes, Schumacher, Galbraith und Minsky zu untermauern und Bernankes Argument zu bestätigen, veröffentlichte die Bank of England in ihrem Quarterly Bulletin vom Januar 2014 zwei Artikel.6 Ökonom_innen, die Reformen des Geldsystems befürworten, begrüßten die Artikel begeistert, ihre Mainstream-Kolleg_innen reagierten gleichgültig. Die Volkswirte der Bank of England machten klar, dass das meiste Geld in einer modernen Volkswirtschaft von privaten Geschäftsbanken »gedruckt« wird, wenn sie Kredite ausgeben – und nicht etwa von den Zentralbanken geschaffen wird. Mit anderen Worten: Der Großteil des umlaufenden Geldes stammt aus Krediten oder Schulden, die im privaten System der Geschäftsbanken entstanden sind. Banken agierten nicht als Vermittler und liehen Geld aus, das bei ihnen angelegt sei, vielmehr schaffe der Akt des Leihens Einlagen oder Bankengeld, und das seien auch Schulden, erklärten die Mitarbeiter der englischen Zentralbank. Natürlich wird dieses Bankengeld nicht wirklich von der privaten Geschäftsbank gedruckt; nur die Zentralbank ist befugt, Banknoten zu drucken und Münzen zu prägen. Das durch einen Kredit geschaffene Geld – das Bankengeld – wird einfach digital von einem privaten Bankkonto auf ein anderes transferiert. Der einzige Hinweis, dass 6

McLeay/Radia/Thomas, Money in the Modern Economy.

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es existiert, sind die Zahlen auf einem Kontoauszug. Nur ein sehr kleiner Teil des gesamten derart geschaffenen Geldes wird normalerweise in die greifbare Form von Banknoten und Münzen, das heißt Bargeld, umgewandelt. Die entscheidende Überlegung für private Banker_innen, die in einem Geldsystem agieren, ist nicht, ob ausreichend Ersparnisse zur Verfügung stehen, sondern wie zuverlässig eine Kreditnehmerin ist und wie aussichtsreich ihr Projekt, welche Sicherheiten sie hat und ob ihr Vorhaben genügend abwerfen wird, damit sie ihren Kredit/ihre Schulden zurückzahlen kann. Ja, die Bank of England bestätigte, dass in einer Geldwirtschaft der Geldschöpfungsmultiplikator (der Prozentsatz der Einlagen, die Banken zur Deckung von Krediten halten müssen) die falsche Maßzahl für den Ausleihvorgang ist. Die Kreditvergabe von Banken ist nicht durch ihre »Reserven« limitiert. Die Vorstellung, dass Banken Reserven in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des Geldes halten, das sie ausgeliehen haben – das »Mindestreservesystem« –, ist falsch. Die »Reserven« von Banken sind nicht Ersparnisse in dem Sinn, wie wir den Begriff verstehen. Es sind Ressourcen (ähnlich einer Überziehung), die nur von der Zentralbank lizenzierten Banken zur Verfügung stehen. Diese Ressourcen dienen dazu, den »Clearing«-Prozess zu vereinfachen, bei dem Einlagen und Verbindlichkeiten zwischen Banken am Ende eines Tages abgerechnet werden. Die Reserven der Zentralbank verlassen das Bankensystem nie, um in die Realwirtschaft zu fließen. Solche Reserven tragen vielleicht dazu bei, die Bilanzen von Banken und anderen verwandten Finanzinstitutionen zu entlasten, aber sie können nicht für Kredite an Firmen oder Einzelpersonen außerhalb des Bankensektors verwendet werden. Stattdessen verhält es sich so, wie Ben Bernanke erklärt hat: Private Geschäftsbanken – sowohl im regulären Bankensystem wie auch im Bereich der »Schattenbanken«, dem neuen Finanzsektor, in dem die Kreditvergabe keiner regulatorischen Aufsicht unterliegt – schaffen die Kredite, die als Geld eingesetzt werden. Sie

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tun das »aus dem Nichts«, indem sie Zahlen in einen Computer eintippen und jemand ihnen verspricht, das Geld zu einem bestimmten Termin und mit einer bestimmten Verzinsung zurückzuzahlen. Erstens bekommen sie Sicherheiten (Grundbesitz oder andere Vermögenswerte) als Garantie für die Verbindlichkeit, die sie eingehen, wenn sie das Geld schöpfen. Zweitens vereinbaren sie einen bestimmten Zinssatz und einen Rückzahlungstermin mit der Kreditnehmerin oder dem Kreditnehmer und halten das in einem Vertrag verbindlich fest. Und schließlich gibt der Banker oder die Bankerin Zahlen in einen Computer ein oder schreibt sie in ein Hauptbuch und überträgt dann den Kredit auf das Konto der Kreditnehmerin oder des Kreditnehmers bei der Bank. Das neue Geld oder der Kredit heißt »Bankengeld« (oder auch »Buchgeld« oder »Giralgeld«). Seine Qualität, Akzeptanz und sein Wert verdanken sich allein der Tatsache, dass es Transaktionen erleichtert. Es ist eine beinahe anstrengungslose Aktivität, die Keynes zu der berühmten Formulierung veranlasst hat: »Warum […] weisen denn die Banken, wenn sie Kredit schaffen können, ein vernünftiges Kreditgesuch zurück? Und warum berechnen sie eine Gebühr für das, was sie wenig oder nichts kostet?«7

Was ist mit Banknoten und Münzen? Während Banken in unregulierten Systemen nicht in ihrer Fähigkeit beschränkt sind, Kredit zu schaffen, können sie eines nicht tun: Sie dürfen keine Banknoten und Münzen als legale Zahlungsmittel ausgeben. Nur die staatlichen Zentralbanken können die legale, greifbare Währung eines Landes in Form von Banknoten und Münzen ausgeben. Wenn Frau Mustermann eine Hypothek in Höhe von 300000 Euro aufnimmt und davon 3000 Euro in bar braucht, muss die Geschäftsbank bei der Zentralbank die Bank7

Keynes, Vom Gelde, S. 473.

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noten und Münzen bestellen, die Frau Mustermann abheben will. Die verbleibenden 297000 Euro des Kredits werden als nicht fassbares Buchgeld gewährt und digital als Banktransfer auf Frau Mustermanns Konto übertragen. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Zentralbanken gegenwärtig keine Obergrenze festsetzen, wie viel Bargeld sie privaten Geschäftsbanken zur Erfüllung von Kreditwünschen zur Verfügung stellen. (Es gibt allerdings eine Tendenz zur Abschaffung von Bargeld, darauf kommen wir später noch zurück.) Tatsächlich geben die Zentralbanken den Geschäftsbanken Bargeld auf Abruf und legen keine Obergrenze fest, wie viel Bargeld, Buchgeld oder Kredite Geschäftsbanken schöpfen können. Obwohl die Nachfrage nach Bargeld mittlerweile zurückgeht, ist während des langen Aufschwungs die Nachfrage nach Krediten gestiegen – und die Zentralbanken haben sich nicht darum gekümmert. Sie haben keine Obergrenze für die Quantität der Kredite festgesetzt und den privaten Geschäftsbanken auch keine Vorschriften hinsichtlich der Qualität der Kredite gemacht, das heißt darüber, wofür private Kredite verwendet werden dürfen. Damit hatten die Banken freie Hand, nicht nur Kredite für produktive, Einkommen generierende Aktivitäten zu vergeben, sondern auch für riskante, spekulative Vorhaben, die nicht unbedingt einen stetigen Strom von Einkommen erzeugen.

Private Kreditnehmer_innen kontrollieren die Geldmenge Natürlich geht es beim Ausleihen von Geld um mehr als nur darum, einen Kredit auf ein Bankkonto zu buchen. Kreditgeber_innen (und Kreditnehmer_innen) müssen mit offenen Karten spielen. Kreditnehmer_innen müssen ausreichend Sicherheiten bieten und als Garantie ihrer Vertrauenswürdigkeit einen rechtlich bindenden, vollstreckbaren Vertrag unterzeichnen, in dem ihr Versprechen festgehalten ist, das Geld über einen bestimmten

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Zeitraum und zu einem Zinssatz – dem »Preis« des Kredits – zurückzuzahlen. Die Bank wiederum ist verpflichtet, den Kredit oder das Guthaben entweder zu einem festen oder zu einem variablen Zinssatz zur Verfügung zu stellen. Geld leihen ist ein Prozess in zwei Richtungen, das versteht sich von selbst. Der Kreditnehmer oder die Kreditnehmerin setzt den Prozess in Gang, nicht die Bank (allerdings kann sie Anreize geben). Der Kreditantrag kann von einer Privatperson, einem kleinen Laden oder von einem global agierenden Konzern kommen. Wenn der Antrag gestellt ist, nimmt die Bank oder Kreditgeberin eine Risikoeinschätzung vor und stimmt dann entweder dem Kreditantrag zu oder lehnt ihn ab. Erst wenn der Kreditnehmer oder die Kreditnehmerin Sicherheiten nachweist und eine Rückzahlungsverpflichtung unterschreibt, wird die Bank den Kredit bewilligen. (Beim Ausleihen von Geld über die Kreditkarte sind zwar keine Sicherheiten erforderlich, aber vorsichtige Banker_innen schauen sich die zu erwartenden Einkommensflüsse ihrer Kund_innen an, bevor sie eine Kreditkarte ausgeben, und alle Banker_innen kompensieren die fehlenden Sicherheiten dadurch, dass sie beim Einsatz der Kreditkarte sehr hohe Zinsen in Rechnung stellen.) Natürlich beeinflussen Banken einschließlich der Zentralbanken die Geldmenge. Sie lassen die Geldmenge schrumpfen, indem sie die Kreditvergabe verteuern und Kreditnehmer_innen abschrecken, oder weiten sie aus, indem sie die Kreditbedingungen lockern und die Kreditaufnahme fördern. Immer haben die privaten Geschäftsbanken die Macht, Kreditanträge anzunehmen oder abzulehnen. Indem sie Kredit gewähren oder verweigern, haben sie enormen Einfluss auf alle Entscheidungen, die Investitionen, die Wirtschaftstätigkeit und die Beschäftigung steigern oder bremsen. Während Banker_innen auf diese Weise die Wirtschaft beeinflussen, sind sie auf Kreditnehmer_innen in der Realwirtschaft angewiesen, damit sie die ihnen zustehende Macht ausüben können,

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Kredit- oder Buchgeld zu schaffen. Die Geldversorgung kann darum als ein Prozess beschrieben werden, der von unten nach oben verläuft. Banken sind davon abhängig, dass Kreditnehmer_innen, die über Sicherheiten verfügen, Kredite beantragen, die sie dann in Form von Buchgeld oder Guthaben vergeben können. Und die Wirtschaft ist von Kreditnehmer_innen abhängig, die die Geldmenge wachsen (oder schrumpfen) lassen. Wenn potenzielle Kreditnehmer_innen sich nicht zutrauen, das Geld wieder zurückzahlen zu können, oder zweifeln, dass es der Wirtschaft gut geht, werden sie sich zurückhalten, und die Geldmenge wird tendenziell schrumpfen. Wenn sie hingegen zuversichtlich sind, riskieren sie, einen Kredit aufzunehmen. Wenn sie euphorisch sind und glauben, dass die Preise immer weiter steigen, werden sie sich womöglich sogar leichtsinnig Geld leihen. Die aggregierte Kreditaufnahme lässt die Geldmenge wachsen. Auf diese Weise können Regierungen und andere Institutionen entweder die Nachfrage nach Krediten dämpfen oder dazu beitragen, dass ein Klima der Zuversicht, des Optimismus oder der Euphorie entsteht, das die Kreditaufnahme begünstigt und so die Geldmenge vergrößert. Doch die staatlichen Institutionen können die Geldmenge nicht direkt kontrollieren. Das können nur die Kreditnehmer_innen eines Landes.

Banken und Bankrotte Ich höre schon, wie die Leser_innen fragen: Wenn Banken aus dem Nichts Kredit schaffen können, wie können sie dann Bankrott gehen? Ganz leicht, lautet die Antwort, vor allem wenn sie sich über längere Zeit nicht um die Verbindlichkeiten in ihren Bilanzen kümmern. Wenn ein Banker einer Kundin das Versprechen abnimmt, ein Darlehen zurückzuzahlen, und dann einen Kredit für die Kundin bereitstellt, wird das in der Bilanz der Bank sofort zu einem Kredit-Vermögenswert und zu einer Einlagen-Verbindlichkeit. Der

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Kredit ist ein Vermögenswert, weil er der Bank im Lauf der Zeit Zinsen einbringt. Die Einlage ist eine Verbindlichkeit, weil die Bank der Kundin oder Kontoinhaberin das Geld schuldet, das sie unter Umständen abheben kann, um damit Zahlungen an eine andere Bank zu tätigen. (Zeitmanagement ist eine sehr wichtige Aufgabe für Bankmanager_innen.) Wie bereits erklärt, muss die Bank oder kreditgebende Instanz Vermögenswerte und Verbindlichkeiten sorgfältig steuern, um sicherzustellen, dass Geld vorhanden ist, wenn eine Kontoinhaberin ihr Guthaben abheben möchte. Die Geschäftsbank erreicht das zum Teil dadurch, dass sie jedes Mal, wenn sie ein Guthaben einrichtet, Reserven aus dem System der Zentralbanken erhält. Diese Reserven werden dafür eingesetzt, Finanztransaktionen zwischen den Banken abzurechnen und auszugleichen. Das Bankensystem insgesamt muss die Finanztransaktionen abwickeln und dafür sorgen, dass Schecks und andere Zahlungen zwischen den Banken, die Zahlungen entgegennehmen, und jenen, die Zahlungen leisten, verrechnet werden. Das ist in jeder Volkswirtschaft die kritische Rolle der Zentralbank, zum Beispiel der Bank of England, der amerikanischen Federal Reserve oder der Bank of Japan. Die Zentralbank hilft bei der Abwicklung von Zahlungen, indem sie Zentralbankgeld (Reserven) auf die Reservekonten der Geschäftsbanken verschiebt. Sie belastet die Konten der Banken, die Zahlungen tätigen, und leistet Gutschriften auf die Konten der Banken, die Zahlungen entgegennehmen. In normalen Zeiten gleichen sich diese Zahlungen gegenseitig aus, und am Ende des Tages muss nur eine kleine Summe Zentralbankgeld eingesetzt werden. Aber Banken können in Schwierigkeiten geraten, und die Zeiten sind nicht immer normal. Wenn eine Bank feststellt, dass infolge Missmanagements ihre Verbindlichkeiten ihre Vermögenswerte übersteigen, kann kein Zentralbankgeld, in welcher Höhe auch immer, helfen: Die Bank steht vor dem Bankrott. Wenn die Öffentlichkeit etwas von den Schwierig-

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keiten mitbekommt, beginnt ein »Sturm« auf die Bank, Guthaben werden abgezogen, und der Berg der Verbindlichkeiten wächst immer weiter. Erinnern wir uns: Bei den meisten lizenzierten Banken garantiert der Staat die Kundeneinlagen bis zu einer bestimmten Höhe, deshalb sind die Einlagen im großen Ganzen geschützt. Bis vor nicht allzu langer Zeit durften Geschäftsbanken in den Vereinigten Staaten ihr Kredit- und Einlagengeschäft (das kommerzielle Bankgeschäft) nicht mit ihren mehr spekulativen Investitionen vermischen. 1999 hob Präsident Clinton auf den Rat prominenter Ökonomen wie Professor Larry Summers und Finanzminister Robert Rubin den Glass-Steagall Act aus dem Jahr 1933 auf, auf dem diese Trennung der Geschäftsbereiche beruhte. Finanzminister und Zentralbanken rund um die Welt folgten Clintons Beispiel bald. Weltweit durften Geschäftsbanken daraufhin ihre eigenen Kreditgeschäfte (oft zu spekulativen Zwecken) mit den vom Staat abgesicherten Kundeneinlagen verknüpfen. Weil diese beiden Seiten des Bankgeschäfts so stark zusammenwuchsen, setzte die Kreditaufnahme zu spekulativen Zwecken alle Bankkund_innen den Risiken aus, die einzelne Händler_innen in den Investmentabteilungen eingingen. Das bedrohte die gesamte Volkswirtschaft mit großen – oder systemischen – Risiken, Kosten und Verlusten. Dieser Leichtsinn verschärfte die weltweite Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009, damals standen die meisten großen Banken vor der Insolvenz. Sie wurden von den Regierungen mit Hilfe der Steuerzahler_innen gerettet, ohne dass sie nennenswert Vorwürfe zu hören bekamen und mit nur sehr wenig »Bedingungen«. Bis heute ist nicht ein Banker oder eine Bankerin ins Gefängnis gegangen, wurde vor Gericht gestellt oder musste sich für seine oder ihre Rolle bei der Beschleunigung der finanziellen Kernschmelze verantworten. Soweit Geldbußen verhängt wurden, beliefen sie sich nur auf einen Bruchteil der Kosten, die die Gesellschaft wegen des Versagens und der Verfehlungen der Finanzbranche zu tragen hatte. Andy Haldane, der bei der Bank of England für Finanzstabi-

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lität zuständig ist, hat einmal gesagt, wenn die Banker_innen die Gesellschaft für die erlittenen Verluste entschädigen müssten, »ist klar, dass ihre Taschen nicht tief genug wären, um diese Rechnung zu begleichen«.8 Obwohl die Zentralbanken in großem Stil mit dem Geld der Steuerzahler_innen Banken gerettet haben, behaupte ich, dass heute, da ich diese Zeilen schreibe, die globalen Banken immer noch insolvent sind. Zwischen den Banken, die »zu groß zum Scheitern« (»too big to fail«) sind, und der Insolvenz stehen nur staatliche Garantien, billiges Geld und quantitative Lockerung und dazu Bilanzmanipulationen.

Das deregulierte Finanzsystem – und die Liquidität Trotz der Finanzkrise 2007 bis 2009 können die Geschäftsbanken in unserem deregulierten Finanzsystem praktisch grenzenlos und mit nur wenig regulatorischen Einschränkungen Kredit oder Liquidität schöpfen (das heißt Vermögenswerte, die sich leicht und schnell in Bargeld verwandeln lassen). Zentralbanken und Regulator_innen setzen keine Bedingungen mehr fest, wofür das Geld geschöpft wird. Ihnen ist es weitgehend gleichgültig, wenn Kredit für Spekulationen generiert wird und nicht für zweckmäßige, produktive Tätigkeiten, die Einkommen erzeugen. Und weil Spekulation kurzfristig sehr viel lukrativer sein kann (man denke nur an einen Lottogewinn), ziehen viele Investor_innen Kapitalgewinne aus Spekulation den langsam fließenden Renditen aus vernünftigen, produktiven Investments vor. Die Gleichgültigkeit oder Achtlosigkeit der Zentralbanken und das daraus resultierende deregulierte Finanzsystem haben Investor_innen in dem stetig wachsenden »System der Schattenbanken« veranlasst, immer mehr künstliche oder synthetische »Kre8

Rede von Andy Haldane, The $100 Billion Question.

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dit«- und Anlageprodukte zu schaffen und zu »verbriefen«. Das brachte (seit Mitte der 1980er Jahre) eine neue Form von Finanzgeschäft, das mit der Realwirtschaft immer weniger zu tun hat. Bekannt wurde es als »Originate-and-distribute-Geschäftsmodell«: Dabei werden Kredite vor dem Laufzeitende mittels Verbriefung ausplatziert, sodass sie in der Bilanz nicht mehr auftauchen. Diese Vermögenswerte sind »synthetisch«, weil sie, anders als Grund und Boden, Kunstwerke und andere typische Sicherheiten, künstlich geschaffen werden, zum Beispiel aus Versprechen, Geld zurückzuzahlen. Bei einer Telefongesellschaft könnten derartige Sicherheiten etwa Verträge mit Kund_innen beinhalten, in denen die Bezahlung der Telefonrechnungen für einen bestimmten zukünftigen Zeitraum geregelt ist. Oder bei einer Bank könnten zu den Sicherheiten Verträge über die künftige Rückzahlung von Darlehen gehören. Diese »Versprechen« zukünftiger Einnahmen können dann verwendet werden, um in erheblichem Umfang weitere Kredite aufzunehmen, und dadurch entsteht viel Liquidität für Aktivitäten im Bereich der Schattenbanken. Durch synthetische Finanzprodukte und die damit verbundene Kreditaufnahme sind Spekulant_innen auf diesen Kapitalmärkten ungeheuer reich geworden. Derartige Geschäfte werden oft vor den Behörden verborgen und außerhalb der Bilanzen mit »special investment vehicles« (SIV, besondere Anlageinstrumente) abgewickelt. Probleme treten auf, wenn sich diese unregulierten »Versprechungen« in Luft auflösen – und nicht erfüllt werden. Die sogenannte »Liquidität« versiegt dann schnell und mit gefährlichen Folgen. Alle stürmen zu den Ausgängen. Wie bei einem Schneeballsystem gewinnen die am meisten, die sie als Erste erreichen. Die Verlierer stehen mit leeren Händen da. Die Zentralbanken kümmern sich seit den 1990er Jahren nicht um diese Gefahr, sie verstehen solche und noch innovativere Strategien, sich zu bereichern, auch gar nicht. Der Ökonom Paul McCulley hat das System der Schattenbanken erst 2007 identifiziert und benannt, bei einer Rede auf dem jährlichen Finanzsym-

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posium der Kansas City Federal Reserve Bank in Jackson Hole im Bundesstaat Wyoming.9 Zu den »Ignorierern« gehört auch Alan Greenspan, er sagte 2004, mit einem nicht regulierten System der Kreditschöpfung »sind einzelne Finanzinstitute nicht nur weniger verwundbar durch Schocks von zugrunde liegenden Risikofaktoren, sondern das Finanzsystem insgesamt ist widerstandsfähiger«.10

Kreditschöpfung und Goethes »Zauberlehrling« Das Geldsystem einer Gesellschaft soll es ermöglichen, unterschiedliche Bedürfnisse einer Gesellschaft zu decken. Wie bereits gesagt, muss die Schaffung von Kredit (Schulden) deshalb so gelenkt werden, dass Geld zu niedrigen Realzinsen zur Verfügung steht und produktiv und nachhaltig dafür eingesetzt wird, dass Arbeitsplätze entstehen und damit Ersparnisse, Löhne und Gehälter und andere Einkommen, die zum Teil dazu verwendet werden können, die Schulden zurückzuzahlen. Damit das System stabil bleibt und der ganzen Gesellschaft nützt, müssen der Allgemeinheit verantwortliche Instanzen nicht nur die Kreditschöpfung lenken und regulieren, sondern auch den »Preis« der Kredite: den Zinssatz. Wenn die Macht der Kreditschöpfung hingegen der »unsichtbaren Hand« des Marktes überlassen bleibt, werden die Folgen so ähnlich sein wie in Goethes Ballade vom »Zauberlehrling«. Zur Erinnerung: Während der Abwesenheit des Zauberers missbraucht der Lehrling einen Zauberspruch seines Meisters und beschwört Wasser, Lappen und Eimer, die ganz allein die Werkstatt seines Meisters putzen sollen. Das Ergebnis ist Chaos, der Besen hört nicht auf zu schöpfen, und bald steht die Werkstatt unter Wasser. Genau das passiert, wenn Kredit ungelenkt und unkon9 10

Kodres, What Is Shadow Banking?. Greenspan, Remarks by Chairman Alan Greenspan.

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trolliert geschaffen wird; das Ergebnis ist unweigerlich übermäßige Kreditschöpfung, die Inflation von Vermögenswerten, Preisen oder Löhnen, die Anhäufung uneinbringlicher Schulden und schließlich der katastrophale Zusammenbruch des Finanzsystems, wenn die Schulden nicht mehr bedient werden können. Die Krise um die faulen Hypothekenkredite 2006/2007 in den Vereinigten Staaten – als verarmte Schuldner_innen hohe Kreditsummen zu hohen Zinsen nicht mehr zurückzahlen konnten – ist ein Lehrbuchbeispiel, wie ein System funktioniert, das auf der »klassischen« Geldtheorie aufgebaut ist. Ökonom_innen meinten, ein Überangebot an Geld (»die weltweite Ersparnisflut«) habe dank des Wirkens der Marktkräfte den »Preis« des Geldes (den Zinssatz) gedrückt. Sie glaubten auch, dass Banken bei Geldgeschäften wie Intermediäre bei anderen Geschäften handelten, als Vermittlungsinstanz zwischen Käufer_innen und Verkäufer_innen, und deshalb würden die Aktivitäten der Bank von der »unsichtbaren Hand« des Marktes sicher gelenkt. Die privaten Geschäftsbanken konnten ihr Glück kaum fassen. Der Zauberer – in Gestalt eines Finanzmarktaufsehers – hatte sich aus einem großen Raum im Bereich des Geldwesens zurückgezogen und sie mit dem Zauberspruch für die Kreditschöpfung allein gelassen, nicht nur in ihrem eigenen Land, sondern weltweit, nicht nur im standardisierten Privatkundengeschäft, sondern ganz den regulatorischen Blicken entzogen im System der »Schattenbanken«. Banker_innen, Kreditgeber_innen und Investor_innen verhielten sich wie der Zauberlehrling: Sie gerieten außer Rand und Band. Im Vereinigten Königreich wurden die Haushalte ermutigt, Jahr für Jahr Summen im Wert von 4 Prozent des BIP zu leihen. Dem Gouverneur der Bank of England, Mark Carney, zufolge liehen sich irische Haushalte mehr als das Doppelte. Die Verschuldung privater Haushalte erreichte im Vereinigten Königreich fast 100 Prozent des jährlichen BIP und in Irland 120 Prozent. Der Gouverneur sagte:

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»Die Kreditaufnahme diente hauptsächlich dem Konsum und dem Immobilienerwerb, nicht für Geschäfte und Projekte, die die nötigen Einnahmen generierten, um den Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. In der Folge schossen die Immobilienpreise nach oben. Derartige Exzesse waren möglich, weil sich nach einem Jahrzehnt mit kontinuierlichem Wachstum ohne Inflation wohlbegründetes Vertrauen in gefährliche Selbstzufriedenheit verwandelt hatte. Der Glaube wuchs, dass Globalisierung und Technologie dauerhaftes Wachstum antreiben und die allwissenden Zentralbanken anhaltende Stabilität garantieren würden. Weil die Überzeugung um sich griff, Finanzinnovationen hätten Risiko in Gewissheit verwandelt, ging man immer sorgloser mit Risiken um, und die Finanzierungsstrategien der Banken waren nicht mehr konservativ, sondern leichtsinnig. Die Finanzinnovationen erleichterten die Kreditaufnahme. Bonusregelungen prämierten die Gegenwart und vernachlässigten die Zukunft. Die Banken operierten in einer Blase, in der Glücksspielmentalität herrschte.«11

Inflation und Deflation Die Kreditschöpfung und die Geldmenge unterliegen zwei wichtigen Zwängen. Erstens können Kreditnehmer_innen allzu zuversichtlich werden, sogar leichtsinnig, und sich mehr Geld leihen, als die Volkswirtschaft verkraften kann. Ihre ungebremste (»liberalisierte«) finanzielle Euphorie vergrößert dann die Geldmenge, genau wie die Euphorie des Zauberlehrlings die Werkstatt mit Eimern, Lappen und einer Wasserflut füllt. »Zu viel Geld, das zu wenigen Waren und Dienstleistungen hinterherjagt«, führt zu In11

Carney, Fortune Favours the Bold.

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flation – wodurch die Preise steigen, aber Vermögenswerte an Wert verlieren, auch feste Einkommen wie Renten und Sozialleistungen. Deshalb müssen die öffentlichen Stellen die Kreditschöpfung des privaten Sektors so steuern, dass Inflation vermieden wird, und die Zentralbank kann ihre Macht und ihren Einfluss auf die privaten Banken dazu nutzen, um vor übertriebener Kreditvergabe abzuschrecken. 2014 setzte die Bank of England zum ersten Mal seit dreißig Jahren eine Obergrenze dafür fest, wie viel Kredit Banken auf Immobilien geben und Wohnungskäufer_innen im Verhältnis zu ihrem Einkommen leihen durften. Die Zentralbanken können auch versuchen, die Kreditschöpfung einzuschränken, indem sie den Banker_innen »Anleitung« bei Standards für die Kreditvergabe anbieten und indem sie die Zinsen erhöhen. Seit der Liberalisierung der Kreditvergabe in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren haben die Verantwortlichen vor allem auf letztere Methode gesetzt. Die Euphorie der Kreditnehmer_innen ist eine Gefahr für die Volkswirtschaft. Aber risikoscheue Kreditnehmer_innen – Kreditnehmer_innen, die Angst vor der Zukunft haben und sich kein Geld leihen wollen – sind ebenfalls eine große Gefahr. Wenn zu wenig Geld geliehen wird, schrumpft die Geldmenge, und das führt wiederum zu Desinflation (einem Rückgang der Inflationsrate) oder sogar zu Deflation (einem allgemeinen Rückgang des Preisniveaus, wenn die Inflationsrate unter 0 Prozent fällt). Inflation und Deflation sind beides Gefahren für die Volkswirtschaft insgesamt und für die gesellschaftliche und politische Stabilität. Eine hartnäckige Deflation ist besonders schwer zu bekämpfen (Japan steckt seit 1990 in der Deflation), weil staatliche Instanzen nur wenig Instrumente haben, um bei deflationärem Druck Abhilfe zu schaffen. Deshalb ist es entscheidend, die Kreditschöpfung nicht der »unsichtbaren Hand« – Akteur_innen auf den Finanzmärkten – zu überlassen. In einer Demokratie tragen die »Hüter_innen der Finanzen des Landes« – Zentralbanker_innen, Finanzminister_innen und Beamt_innen des Schatzamts –

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die Verantwortung, den nahezu mühelosen Prozess von Kreditschöpfung und Festsetzung der Zinssätze zu lenken – zum Wohl der gesamten Volkswirtschaft.

Der Wert des privaten Geldes hängt von der Freigiebigkeit der öffentlichen Hand ab Eine der großen Ungerechtigkeiten in einem Bankensystem, das von privatem Reichtum kontrolliert wird, ist, dass die private Geldschöpfung nicht isoliert vonstattengeht. Sie ist Teil und abhängig von der öffentlichen Infrastruktur, die das Geldsystem, die Wirtschaft, das Besteuerungssystem, das Justiz- und Vollstreckungssystem eines Landes bildet. Wie bereits erklärt, basiert alles Geld auf einer Währung, die die Zentralbank eines Landes autorisiert, ausgibt und deren Wert sie festsetzt. Abgesichert wird die Währung durch die Steuerzahler_innen über die Regierung. Manche Zentralbanken gelten als »unabhängig« von der Regierung oder dem öffentlichen Sektor, aber in Wahrheit hängen alle Zentralbanken hinsichtlich ihrer Macht und ihres Einflusses und hinsichtlich des Werts der Währung davon ab, dass die Steuerzahler_innen sie innerhalb der souveränen Grenzen unterstützen. Zentralbanken haben auch unterschiedliche Aufträge. Manche nutzen ihr Mandat, um die Interessen des privaten Bankensektors zu fördern; die Europäische Zentralbank (EZB ) ist das prominenteste Beispiel dafür. Andere, wie die Bank of England, unterstützten den privaten Bankensektor, aber auch die wirtschaftlichen Ziele der Regierung. Vor allem aber muss eine Zentralbank entschlossen sein, den Wert der Währung zu erhalten und zu verteidigen. Die Macht der Zentralbank, den Wert einer Fiat-Währung (einer »aus dem Nichts« geschaffenen Währung) festzusetzen und zu erhalten, ist eng damit verbunden, dass die Regierung in der Lage ist, Steuern

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von ihren Staatsbürger_innen zu erheben. In dieser Hinsicht ist die Fiskalpolitik ein wichtiges Sicherheitsnetz für die Geldpolitik. Zentralbanken spielen auch eine entscheidende Rolle bei der Steuerung des Bankensystems insgesamt und bei der Unterstützung von privaten Banken bei Kredit- und anderen Geschäften. Sie sind dazu da, die finanzielle Stabilität für die gesamte Volkswirtschaft zu wahren. Ein wichtiges Element ihrer Unterstützung für den privaten Sektor ist der Diskontsatz oder Basiszinssatz, der Zins, der für Banken gilt. Der Diskontsatz hat zwar großen Einfluss auf andere Kreditzinssätze in der Realwirtschaft, aber er wird nur im Verkehr von lizenzierten Geschäftsbanken verwendet und hat keine direkte Bedeutung für die Zinsen, die die Banken für Kredite erheben. (Fragen Sie einmal ein kleines Startup-Unternehmen, ob es jemals das Glück hatte, einen Kredit zu dem Zinssatz zu bekommen, den seine Bank der Zentralbank zu zahlen hatte!) Wenn über den Leitzins gesprochen wird, ist unweigerlich die Annahme im Spiel, alle Zinssätze von Geschäftsbanken seien so niedrig wie der Zins, den sie der Zentralbank bezahlen. Tatsächlich können die Zinssätze über das gesamte Spektrum der Kundenkredite sehr stark davon abweichen, je nachdem, ob Inflation oder Deflation begünstigt werden soll; ein Blick auf die Preisaushänge der Banken zeigt das. Die Stabilität des Geldes und sein Nutzen sowohl für die Wohlhabenden wie für die Wirtschaft insgesamt hängen deshalb einmal davon ab, dass der Wert der Währung erhalten wird, und dann von der öffentlichen Infrastruktur, das heißt dem Geld- und Besteuerungssystem. Außerdem sind Geschäftsbanken stark auf das von den Steuerzahler_innen getragene Rechtssystem eines Landes angewiesen, nur mit seiner Hilfe lassen sich zum Beispiel private Verträge abschließen und durchsetzen. Vollstreckbare Verträge sind wiederum eine grundlegende Voraussetzung für die private Geldproduktion und für die Ansammlung von privatem Vermögen. Einzelne Investor_innen und Institute, wie zum Beispiel AIG , die auf den internationalen Kapitalmärkten agieren, haben seit der

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großen Finanzkrise erlebt, dass ihre destabilisierenden Aktivitäten von staatlichen, mit dem Geld der Steuerzahler_innen finanzierten Institutionen massiv unterstützt wurden. Die staatliche Bank of England, die amerikanische Notenbank, aber auch die unabhängige Europäische Zentralbank – hinter allen steht letztlich das Geld der Steuerzahler_innen – haben seit August 2007 die großen Banken der Welt und die globalen privaten Finanzmärkte mit Garantien vor Verlusten geschützt, mit historisch niedrigen Zinsen auf ihre Entleihungen geholfen und mit billiger, leicht verfügbarer Liquidität aus geldpolitischen Operationen, die als quantitative Lockerung bekannt geworden sind. (QE – Quantitative Easing – bedeutet, dass Zentralbanken Staatsschulden in Form von Anleihen auf den Kapitalmärkten aufkaufen und die Anleihen in ihre Bilanzen aufnehmen. Dadurch wird die Zahl der Anleihen auf den Finanzmärkten kleiner, und wegen der Nachfrage nach »sicheren« Staatsanleihen steigt ihr »Preis«, der Kurs, zu dem sie erworben werden können, während gleichzeitig die »Rendite« – vergleichbar dem Zinssatz – fällt. Durch diese Maßnahmen sinken die Zinsen für die Staatsschulden, aber auch die Zinsen über die ganze Bandbreite der Kredite hinweg.) Derartige Maßnahmen von staatlichen Institutionen imitieren das Verhalten von kommunistischen Staaten wie China oder der ehemaligen Sowjetunion. Sie alle haben zu unterschiedlichen Zeiten Finanzinstituten geholfen, sich der Disziplin zu entziehen, die der »freie Markt« all jenen aufzwingt, die Risiken eingehen. Diese staatlichen Rettungsmaßnahmen sprachen der Theorie des freien Marktes Hohn. Viele Finanzinstitute, die weltweit als private Unternehmen agieren, sind dank solcher Akte der Großzügigkeit der staatlichen Zentralbanken de facto verstaatlichte Institute geworden. Leider nutzen die demokratischen Regierungen der westlichen Länder die vorhandene Macht nicht, um rücksichtslose internationale Investor_innen und Spekulant_innen zu bremsen. Vielmehr haben gewählte Regierungen seit den 1960er Jahren lang-

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sam und beinahe unmerklich den globalen Finanzkonzernen immer mehr Macht eingeräumt, Kapital über die Grenzen in Steueroasen zu verschieben und ohne Kontrolle, Regulierung, Besteuerung oder Einschränkung Kredit zu schöpfen. Ungelenkte weltweite Mobilität des Kapitals bedeutet, dass souveräne Staaten ihren zuständigen Institutionen die Befugnis geraubt haben, Steuern einzuziehen und Kapitalflüsse zu regulieren. Stattdessen werden die Demokratien praktisch von OffshoreKapital und Offshore-Firmen erpresst, deren Besitzer_innen und Anteilseigner_innen immer mehr Freiheiten fordern und nationale Gesetze, Werte und Institutionen missachten. Der träge Nationalstaat wird so de facto durch weltweit agierende Banker_innen und Investor_innen gekapert. Das bedeutet, dass die Steuerzahler_innen gezwungen sind, ein öffentliches Rechts- und Justizsystem zu finanzieren und zu erhalten, das im Dienst derartigen privaten Vermögens steht. Und wir tun das ohne ein Versprechen, dass das im Ausland geparkte mobile private Vermögen sich revanchieren wird, indem er seinen gerechten Anteil an Steuern beiträgt. Diese Spannungen zwischen privaten Finanzinteressen und der Gesellschaft insgesamt traten im Lauf der Geschichte immer wieder als Kämpfe um die Kontrolle des Systems zur Geldproduktion in Erscheinung. Nur vorübergehend ist es der Gesellschaft gelungen, die demokratische Kontrolle über das System zu übernehmen und die Interessen des privaten Vermögens den allgemeinen Interessen unterzuordnen. In der Ära von Bretton Woods (1945–1971) handelte der private Bank- und Finanzsektor als Diener und nicht als Herr der Wirtschaft. Es ist vorrangig den Theorien von John Maynard Keynes zu verdanken, seinen Einsichten in das Funktionieren des Geldsystems und der Umsetzung seiner geldpolitischen Empfehlungen in dieser Zeit, dass das Finanzsystem weitgehend im Interesse der gesamten Gesellschaft funktionierte. Doch seit den 1960er Jahren arbeitete privates Vermögen, an-

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geführt von privaten Banken, in Verbindung mit gewählten Politiker_innen daran, der regulatorischen Demokratie der Regierungen die Kontrolle über das Geldsystem zu entreißen. Heute wird die Weltwirtschaft praktisch von einer Handvoll Akteur_innen gelenkt, die in weltweit agierenden privaten Banken und anderen Finanzinstituten sitzen. Sie steuern das System zugunsten ihrer eigenen Interessen und zu Lasten der Gesellschaft. Weil von der Gesellschaft keine echte politische Herausforderung ausgeht, nutzen die Wohlhabenden die öffentliche Infrastruktur des Geldes und ihre Macht über die private Geldproduktion, um in atemberaubendem Umfang Vermögen anzuhäufen.

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3 Der »Preis« des Geldes Die Entwicklung des Kreditwesens vollbringt sich als Reaktion gegen den Wucher […]. Diese gewaltsame Bekämpfung des Wuchers […] [beraubt] einerseits das Wucherkapital seines Monopols, indem es alle totliegenden Geldreserven konzentriert und auf den Geldmarkt wirft, [und beschränkt] andrerseits das Monopol der edlen Metalle selbst durch Schöpfung des Kreditgelds. Karl Marx, Das Kapital, Band III , 36. Kapitel

Da es keine Grenze für die Menge an Kredit und Schulden gibt, die durch private Geschäftsbanken geschaffen werden können, ist Kredit seinem Wesen nach ein freies Gut – ein Gut, das unbegrenzt zur Verfügung steht und nicht den Marktkräften von Angebot und Nachfrage unterliegt. Daraus folgt, wie Keynes in seiner Schrift Vom Gelde argumentiert hat, aber auch in der Allgemeinen Theorie, dass »die Gebühr« oder der Zinssatz für einen Kredit real (das heißt unter Berücksichtigung der Inflation) immer niedrig sein sollte. Die Entwicklung des Geldsystems für die Schöpfung von Kreditgeld und den Umgang mit Krediten war, wie in früheren Kapiteln ausgeführt, ein revolutionärer Fortschritt für die Zivilisation, einfach weil dadurch Investitionskapital für viel mehr Menschen verfügbar wurde. Dieses Kapital generierte wiederum wirtschaftliche Aktivitäten wie Arbeitsplätze, Kreativität, Innovationen, wissenschaftliche Forschung, die Versorgung mit Waren und Dienstleistungen – alles Aktivitäten, die der Gesellschaft

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nützlich oder wichtig erschienen. (Manchmal diente es auch der Finanzierung von Kriegen, die den Gesellschaften ebenfalls wichtig erschienen.) Wirtschaftliche Tätigkeit und Beschäftigung generierten ihrerseits Einkünfte – Löhne, Gewinne und Steuereinnahmen –, die zusammengenommen die Investition der Banken, die den Prozess in Gang gesetzt hatte, weit überstiegen. Aber genauso wichtig für Gesellschaft und Wirtschaft war ein anderer Effekt der breiteren Verfügbarkeit von Kapital: Der »Preis« des Geldes oder der Zinssatz sank.1 John Law, John Maynard Keynes, Karl Marx und andere Ökonom_innen und Historiker_innen erkannten, dass eine Gesellschaft nicht länger auf die Wohlhabenden angewiesen war, um Investitionen zu finanzieren, sobald es Bankengeld gab und viele Menschen Zugang zu Kredit bekamen. Die Räuberbarone in ihren Burgen – die das Überschusskapital besaßen – waren nicht mehr die Einzigen, die der Wirtschaft Geld in Form von Krediten zur Verfügung stellten. Sie hatten nicht mehr die Macht, die Kreditnehmer_innen zu erpressen. Sie konnten nicht länger behaupten, dass ein Kreditgeber oder eine Kreditgeberin »Opportunitätskosten« zu tragen hätten, wenn er oder sie seine oder ihre Ersparnisse jemand anderem aushändigte, statt sie in eine profitable Unternehmung zu investieren. Sie konnten nicht länger sagen, dass Kreditgeber_innen ein Recht hätten, als Gegenleistung einen hohen Zins zu verlangen. Dieses Argument verfing nicht mehr, weil man für die Finanzierung neuer Geschäfte, neuer Chancen und neuer Investitionen keine Ersparnisse mehr brauchte. Die Macht, die in früheren Zeiten die Besitzer_innen des Vermögens ausübten, konnte den allgemeinen Interessen der Gesellschaft untergeordnet werden. Durch die Kreditschöpfung der Banken bekamen nun all jene Geld, die Kapital für Investitionen brauchten, und die Banken entschieden nicht willkürlich über die Vergabe des Geldes, sondern orientierten sich an der Vertrauenswürdigkeit der Kredit1

Dieses Kapitel stützt sich auf Tily, Keynes Betrayed.

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nehmer_innen und den zu erwartenden Einnahmen aus der Unternehmung. Kreative Künstler_innen und Designer_innen, risikofreudige Unternehmer_innen und innovative Köpfe mussten nicht länger Wucherzinsen bezahlen, wenn sie beispielsweise einen wissenschaftlichen Durchbruch finanzieren oder eine neue Oper auf die Bühne bringen wollten. Das war eine sehr wichtige Entwicklung. Für die Gesundheit und Stabilität einer Volkswirtschaft ist entscheidend, wie hoch der Zinssatz für einen Kredit ist, der zur Finanzierung einer wirtschaftlichen Aktivität dient, denn das Niveau von wirtschaftlicher Aktivität und Beschäftigung in einer Volkswirtschaft hängt ganz wesentlich vom Zinssatz ab. Es ist auch wichtig sicherzustellen, dass der Kredit tragfähig ist und die Schuldner_innen in der Lage sind, das Geld zurückzuzahlen, deshalb finden Zinssätze in diesem Buch so große Beachtung. Wenn sie zu hoch sind, ersticken sie Unternehmertum, Kreativität und Initiative, und das führt letztlich dazu, dass Schulden uneinbringlich werden.

Die Entwicklung des Geldsystems als Reaktion auf Wucher Bevor es Geldsysteme gab, hatten die Besitzer_innen vorhandener Vermögenswerte wie Land (die Gläubiger_innen) große Macht über all jene, die solche Vermögenswerte nicht besaßen, aber Geld oder Kredit brauchten (die Schuldner_innen). Die moralische Dimension dieser Machtbeziehung hatte im Lauf der Geschichte zur Folge, dass Religionen wie das Judentum, der Islam und das Christentum den Wucher – ausbeuterische Zinssätze – verdammten. Zum Beispiel kannten alle drei großen Religionen die periodische Streichung aller Schulden, um Stabilität und soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen (das Prinzip des Jubeljahrs). Wie Marx in der zu Beginn des Kapitels zitierten Passage bemerkt, war die Entwicklung des Banken- und des Kreditsystems eine Reaktion auf Wucher. Wohlhabende können Zinssätze,

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insbesondere Wucherzinsen, nutzen, um ohne Anstrengung eine »Rente« oder zusätzlichen Reichtum aus den Schuldner_innen herauszuziehen. Geldsysteme entstanden und entwickelten sich im 17. und 18. Jahrhundert, als die Schuldner_innen und die Gesellschaft insgesamt sich gegen derartige Ausbeutung wehrten. Durch den Zinseszinseffekt kann ein Kreditgeber oder eine Kreditgeberin besonders viel Geld an Schuldner_innen verdienen, wenn die Zahlungen an die Geldgeberin, den Gläubiger oder Rentier ausgesetzt oder eingestellt werden. Die Praxis, Geld zu ausbeuterisch hohen Zinssätzen zu verleihen, gilt weithin als parasitäres Verhalten, das die Menschheit und das Ökosystem als Geiseln nimmt und die Kluft zwischen Wohlstand und Armut weiter vertieft. Die Wohlhabenden werden ohne Anstrengung noch reicher, und die Armen und Verschuldeten versinken noch tiefer in ihren Schulden und ihrer Armut. Christliche Würdenträger verurteilten bis ins späte 16. Jahrhundert den Wucher und bestraften Banker und andere Kreditgeber mit Ächtung und Exkommunikation. Sie durften nicht in geweihtem Boden begraben werden, und ihre Söhne und Töchter durften nicht kirchlich heiraten. Cosimo de Medici, der große Bankier von Florenz, bemühte sich sehr zu verhindern, dass die Kirche gegen ihn und seine Erben den Vorwurf des Wuchers erhob. Er bezahlte unter anderem die Instandsetzung eines Klosters als Gegenleistung für eine päpstliche Bulle, die ihn von früheren Sünden freisprach. Im Laufe der Zeit veränderten Johannes Calvin (1509–1564) und andere christliche Wortführer das Wucherverbot. Zum 400. Geburtstag von Johannes Calvin schrieb die Financial Times, seine Flucht aus dem katholischen französischen Herrschaftsbereich und seine Ankunft in Genf hätten »zu einem großen Zustrom von Protestanten aus Frankreich geführt, die Calvins Spuren folgten [und] Fertigkeiten nach Genf brachten, und zugleich bereitete die Aufhebung des katholischen Banns gegen den Wu-

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cher den Weg dafür, dass die Stadt bei privaten Bankgeschäften eine herausragende Rolle spielen konnte«.2 Der Islam hat immer am Verbot des Korans festgehalten, Zinsen zu bezahlen oder zu fordern, riba, unabhängig vom Zweck des Kredits, obwohl einige Richtungen des islamischen Finanzwesens dieses Gesetz umgehen. Islamische Finanzierungen nach den Vorschriften des Korans sind immer »Finanzierung durch Projektbeteiligte«: Kreditgeber_innen und Kreditnehmer_innen tragen die Risiken gemeinsam. Das Verbot von riba gilt für jede Form von leistungslosem Gewinn und alle Einnahmen, die ohne Arbeit oder die Schaffung von Mehrwert im Handel zustande kommen. Nach den islamischen Regeln kann Geld nur verliehen und genutzt werden, um Handel und Geschäfte zu erleichtern, nicht, um Kapitalgewinne (oder Renten) einzustreichen. Islamische Gelehrte waren sich sehr genau bewusst, dass Geldverleih die ungleiche Verteilung von Vermögen verstärken, Ausbeutung verschärfen und schließlich zur Versklavung derjenigen führen kann, die keine Vermögenswerte besitzen. Weil die Araber einst die führenden Mathematiker waren – sie hatten auch das Dezimalsystem von den Hindus übernommen –, verstanden sie die »magischen« Qualitäten des Zinseszinses genau, und seine Wirkung, Schulden zu vervielfachen. In den westlichen Volkswirtschaften, deren Geldsysteme durch den parasitären Zugriff des Finanzkapitals und hohe Schuldenberge geschwächt sind, ist Wucher heute weithin akzeptiert. Das macht die Gesellschaft blind dafür, wie der Wucher die destruktive Ausbeutung der natürlichen Ressourcen verschärft. Dies geschieht auf folgende Weise, wie der englische Radiochemiker Professor Frederick Soddy (1877–1956) einmal erklärt hat: »Schulden unterliegen mehr den Gesetzen der Mathematik als den Gesetzen der Physik.

2

Geisst, Beggar thy Neighbour, S. 7.

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Während Vermögen den Gesetzen der Thermodynamik unterworfen ist, verderben Schulden nicht mit dem Alter und werden im Lauf des Lebens nicht aufgezehrt. […] Im Gegenteil, [Schulden] wachsen um soundso viele Prozent pro Jahr, durch die bekannten Gesetze des einfachen Zinses und des Zinseszinses, […] der bis unendlich führt […] einer mathematischen und nicht einer physikalischen Größe.«3 Im Gegensatz dazu sind die Erde und die natürlichen Ressourcen endlich und unterliegen Verfallsprozessen. Die Wachstumskurve der Natur ist nahezu flach, die Zinskurve verläuft linear, die Kurve des Zinseszinses jedoch exponenziell, wie Margrit Kennedy in der unten dargestellten Grafik zeigt.4

Abb. 2 Unterschiedliche Wachstumsmuster Quelle: Margrit Kennedy, Geld ohne Zinsen und Inflation. Ein Tauschmittel, das jedem dient, München 2006, S. 21

3 4

Hattersley, Committee on Monetary and Economic Reform. Ich danke Margrit Kennedy für die Erlaubnis, diese Grafik zu verwenden. Kennedy, Geld ohne Zinsen und Inflation, S. 21 (eigene Übersetzung).

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Ganz am Anfang heizen »leichte, aber teure« Kredite Spekulation und Konsum an. Die Preise für Immobilien und andere Vermögenswerte steigen stark. Einkaufszentren werden zu Tempeln in den Städten. Aber um Schulden zurückzuzahlen, braucht man Einkommen aus Löhnen, Gehältern, Gewinnen oder Steuereinnahmen. Wenn die Zinsen zu hoch sind, müssen die Schuldner_innen mehr Geld für die Rückzahlung auftreiben, indem sie ihre Gewinne steigern und mehr Wert herauspressen. Der Druck, das Einkommen exponenziell zu steigern, um Schulden zurückzahlen zu können, impliziert, dass Arbeit und Land (im weitesten Sinn) immer stärker ausgebeutet werden müssen. Die Menschen, die mit Hand oder Kopf arbeiten, müssen sich mehr anstrengen und brauchen länger, um wachsende reale Hypotheken oder Kreditkartenschulden zurückzuzahlen. Es ist kein Zufall, dass die Deregulierung des Finanzwesens die Deregulierung der Arbeitszeiten und die Abschaffung des Sonntags als Ruhetag zur Folge hatte. Stattdessen ist es akzeptierte Praxis, dass länger gearbeitet wird – »vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche« – und Geschäfte rund um die Uhr geöffnet sind, seit die Werte des Finanzsektors die Oberhand gewonnen haben. Auch der Druck auf die begrenzten Ressourcen der Erde steigt, wenn mehr Rendite daraus gezogen werden soll. Die Meere sind überfischt, Wälder werden abgeholzt, und die »Produktivität« des Bodens wird gesteigert – mit dem gleichen exponenziellen Satz wie beim Zinseszins. Besonders ertragreiche Feldfrüchte, der Einsatz von Düngern und Pestiziden und Massentierhaltung steigern die Lebensmittelproduktion für die wachsende Weltbevölkerung, aber machen sie nicht profitabler – all das ist nötig, um die Schulden zurückzuzahlen. Die Effekte sind allgemein bekannt: Die Qualität von Wasser und Boden verschlechtert sich, bewässerte Gebiete versalzen, der Grundwasserspiegel sinkt, Grundwasser wird verschmutzt, die Resistenz gegen Pestizide nimmt zu, die Biodiversität schwindet und so weiter. Mit anderen Worten: Die begrenzten Ressourcen der Erde müssen kannibalisiert wer-

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den, wenn die mathematischen Gesetze der Schuldenrückzahlung an Gläubiger_innen eingehalten werden. Nicht nur Arbeitnehmer_innen sind durch die Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und die Extraktion von Reichtum durch hohe Zinsen auf Schulden betroffen. Firmen, Unternehmer_innen, Krankenhausverwaltungen, Kanzler_innen von Universitäten, Erfinder_innen und Ingenieur_innen, innovative Köpfe und Künstler_innen jeder Richtung erleben, dass ihre Anstrengungen durch Banker_innen oder »Privatinvestor_innen « behindert werden, die höhere Renten haben wollen und für die Investitionen, Kreativität, Fähigkeiten, harte Arbeit und Innovationen höhere Renditen abwerfen müssen. Weil dieser Prozess sich nach einem Schneeballeffekt ausbreitet, steigt nicht nur die »Rente« aus Geld, sondern die Renten aus allen Arten von Aktivitäten steigen.

Die hohen Realzinsen der neoliberalen Ära Wie weiter oben gesagt, ist die Menge des Geldes oder Kredits unbegrenzt – deshalb muss sie kontrolliert werden. Wenn ein Überangebot besteht und die Geldgeber_innen dazu neigen, prozyklisch Geld zu verleihen, sollte der Preis des Geldes sinken. Doch das war nicht der Fall. Die realen Zinssätze sind stetig gestiegen, seit die Politik sich nicht mehr um die Regeln für die Kreditvergabe durch die Banken und um die Zinssätze kümmert. Hohe Zinssätze haben seit den 1970er Jahren mit schmerzlicher Regelmäßigkeit Kreditblasen zum Platzen gebracht. Die nächste Grafik, Abbildung 3, ist eine der wenigen Darstellungen, die den Anstieg der Zinsen zeigt. Wiedergegeben sind die nominalen (das heißt nicht inflationsbereinigten) offiziellen Zinssätze der Bank of England für den Zeitraum 1914 bis 2009. Da die Zinssätze der Zentralbanken generell niedriger sind als die Sätze der Geschäftsbanken, ist zu vermuten, dass die Kreditzinsen für Privatpersonen und Firmen in dem Zeitraum viel höher lagen. Be-

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sondere Beachtung verdient die Zeit zwischen 1933 und 1950, als die Politik in Großbritannien Standards für die Kreditvergabe festsetzte und Keynes’ Theorien zur Liquiditätspräferenz folgte. In dem Zeitraum hielten sich die Zinsen und die Inflation in Grenzen. Festzuhalten ist auch, dass in der Zeit, als die Liberalisierung der Finanzmärkte und die Schaffung von zu viel Kredit, der zu wenigen Gütern und Dienstleistungen nachjagte, zu Inflation führten, der Zins der Zentralbank ebenfalls stieg – im Gleichschritt mit der Inflation, aber auch als ein Symptom für die durch die Liberalisierung verursachte Volatilität. Der Zinssatz der Zentralbank trieb wiederum die realen Zinsen für das gesamte Spektrum der Kredite in der Realwirtschaft in die Höhe: für kurz- und langfristige Kredite, für sichere und risikoreiche.

Abb. 3 Der Anstieg der realen Zinsen, der zu Inflation führte. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Financial Times Quelle: Bank of England

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Thatcherismus und die Rückkehr der »Räuberbarone« Die Deregulierung der Kreditschöpfung begann im Vereinigten Königreich 1971, als die Strategie »Wettbewerb und Kreditkontrolle« (Competition and Credit Control, CCC ) ausgerufen wurde, von Ökonom_innen oft bezeichnet als »nur Wettbewerb, keine Kontrolle«. Duncan Needham vom Zentrum für Finanzgeschichte der Universität Cambridge hat sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt. Er schreibt: »CCC fegte die Einschränkungen für […] die Kreditvergabe von Banken an den privaten Sektor hinweg, die den größten Teil der 1960er Jahre über bestanden hatten. Künftig konnte die Kreditvergabe mittels der Kosten kontrolliert werden, das heißt durch die Zinssätze. Kredite wurden an die Unternehmen und Einzelpersonen vergeben, die die höchsten Zinsen bezahlen konnten, und nicht an solche, die die qualitativen Kriterien der Behörden erfüllten. CCC ersetzte Jahre der Kreditrationierung ›mittels Kontrolle‹ durch kompetitive Kreditvergabe ›auf der Grundlage der Kosten‹«.5 CCC war kein Erfolg. Erreicht werden sollte die Kontrolle »der Geldmenge«, doch der gegenteilige Effekt trat ein. Die Geldmenge wuchs um 72 Prozent, bis die Politik wieder aufgegeben wurde. Zwei Jahre später lag die Inflation bei 26,9 Prozent. Erstens gaben die britischen und andere westliche Zentralbanken die Rationierung der Kredite und die Festsetzung von Standards für die Kreditvergabe über das gesamte Spektrum der Kreditzinsen auf: kurzfristige und langfristige Zinsen, Zinsen für sichere und für riskante Kredite in ihrer realen (nicht inflationsbereinigten) Höhe. Das Finanzkapital – die Räuberbarone unserer Zeit – hatte die Macht über das Finanzsystem zurückerobert, es übte wieder die Kontrolle über die Preise für Kredite aus und entschied über die Kreditvergabe, das heißt welche Unternehmen 5

Needham, UK Monetary Policy from Devaluation to Thatcher, S. 3.

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und Einzelpersonen einen Kredit bekamen und welche nicht. Wenn sich ein Kreditnehmer oder eine Kreditnehmerin die höchsten Zinssätze nicht leisten konnte (zum Beispiel weil die Zinsen höher waren als die Gewinne eines Unternehmens), bekam er oder sie keinen Kredit. Wenn Kreditnehmer_innen jedoch bereit waren, fast das gesamte Risiko hoher Realzinsen zu tragen, dann reichten die Banken bereitwillig Kredite aus. Auf diese Weise bekamen die Banker_innen wieder die Freiheit, »leichte« (unregulierte) Kredite zu vergeben, oft zu spekulativen Zwecken. Das Unvermeidliche trat ein: Von 1971 bis 1974 kurbelte die Kreditvergabe den Konsum an und führte zu einem Anstieg der Verbraucherpreise um 35 Prozent und einem Wertverlust des britischen Pfunds. Die Preise für Importe stiegen um 79 Prozent, und die Löhne zogen an. Die Aufgabe der Kontrolle über die Kreditvergabepraxis der Banken war ein Schlüsselfaktor, der Übergang zu flexiblen Wechselkursen war ein zweiter.6 Zweitens stiegen die Zinsen stetig, wie Abbildung 3 zeigt, nachdem die privaten Banken die Zinssätze für dieses »leichte Geld« für Spekulationsgeschäfte frei festsetzen konnten. In den nächsten dreißig Jahren trieben hohe Realzinsen immer wieder viele tüchtige Einzelpersonen, Firmen, Branchen und ganze Volkswirtschaften in den Bankrott.

Der Thatcherismus kulminiert im Crash von 2007 bis 2009 Ursache der Krise, die zum Bankrott von Lehman und anderen Banken im Jahr 2008 führte, war das Platzen einer großen Blase nicht tragfähiger Kredite. Sehr wenige Ökonom_innen machen für die Krise »leichte« – das heißt wenig regulierte und teure – Kredite verantwortlich. Für 6

Ich danke Dr. Graham Gudgin von der Cambridge University, der sein Wissen über diese Zeit mit mir geteilt hat.

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viele sind »leichte« Kredite zugleich »billige« Kredite, aber leichte Kredite können teuer sein. Unregulierte Kredite (zum Beispiel für Kreditnehmer_innen mit schlechter Bonität oder sogar liar loans, Kredite ganz ohne Dokumentation der Bonität) können zu sehr hohen realen Zinssätzen vereinbart werden. Leichte Kredite können natürlich auch billig sein. Die Alternative zu leichten Krediten sind »knappe« Kredite, das heißt, die Kreditvergabe ist genau reguliert und nur für Unternehmen, Einzelpersonen und Projekte verfügbar, von denen man erwarten kann, dass sie solide potenzielle Einkommensflüsse generieren. Keynes zufolge ist die beste Art der Kreditvergabe »knapper, aber billiger« Kredit.

Abb. 4 Grafik aus der Präsentation von Richard Koo, Chefvolkswirt am Nomura Research Institute in Tokio, bei der INET-Konferenz am 14. April 2012 in Berlin Quelle: BOJ , FRB , BOE und australische RMB , 23. März 2012

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Wenige Ökonom_innen schlagen eine stärkere Regulierung der Kreditvergabe und der Zinssätze vor. Die meisten konzentrieren sich auf niedrige Zinsen, wie sie seit dem Platzen der DotcomBlase im Jahr 2001 dominierten, und sagen, die niedrigen Zinsen seien die Ursache der Krise. Tatsächlich wurden die Zinssätze als Reaktion auf das Platzen der Blase bei den Vermögenspreisen so weit herabgesetzt. Zwar ist es richtig, dass die niedrigen Zinsen nach 2001 die Grundlage für die nächste Krise legten, aber sie waren nicht die unmittelbare Ursache. Große Mengen leichten, teuren Geldes, die ohne Verbindung zur Realwirtschaft zirkulierten, lösten die Krise aus. Die leichten Kredite, darunter verschiedene Formen von liar loans und »Hypotheken ohne Dokumentation«, zusammengefasste, in Scheiben geschnittene und dann von Banken wie Goldman Sachs verbriefte Hypotheken, brachten die Kreditblase zum Platzen. Die Risiken wurden dann verkauft und ganz zynisch nicht nur großen institutionellen Investoren, sondern auch »kleinen Leuten« angedreht – Kreditnehmer_innen und Anteilseigner_innen. Die Mainstream-Ökonom_innen beachten auch den stetigen Anstieg der Zinssätze nach 2003/04 nicht genügend sowie die Wirkung steigender Zinsen auf bereits überschuldete Unternehmen, Haushalte und Einzelpersonen. Abbildung 4, eine vom Ökonomen Richard Koo übernommene Grafik, zeigt, wie massiv die Zinsen im Vorfeld der Krise anstiegen. Die hohen Zinsen brachten wie eine Dolchspitze, die gegen einen Luftballon gerichtet wird, die Blase bei Krediten und Vermögenspreisen zum Platzen und lösten damit den Crash von 2007 bis 2009 aus. Auf dem Höhepunkt des Kreditvergabebooms, noch in den Jahren 2005 bis 2007, bekamen Einzelpersonen, Haushalte und Firmen weiterhin Kredite, ohne dass die Banken sich ein realistisches Bild davon machten, ob sie in der Lage sein würden, das Geld zurückzuzahlen. Einige Kreditnehmer_innen waren Hochrisikoschuldner_innen (das heißt solche mit geringer Bonität) und

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konnten deshalb mit Wucherzinsen geschröpft werden. Die Renditen aus solchen Krediten waren skandalös hoch, deswegen wiesen Banken wie Goldman Sachs ihre Mitarbeiter_innen im Kreditgeschäft an, immer mehr davon zu vergeben. Diese Subprime-Hypotheken bündelten sie und schufen künstlich eine neue Anlageklasse – ein gemischtes Paket aus Hypotheken und Krediten –, das sie Collateralized Debt Obligations (CDOs ) nannten, eine Form forderungsbesicherter Wertpapiere. Diese neuen Finanzprodukte oder Wertpapiere konnten verkauft werden, oder man konnte Wetten darauf abschließen, die hohe Kapitalgewinne versprachen. Die Banker_innen konnten sie auch in neue Vermögenswerte verwandeln, um mit ihnen als Sicherheiten noch mehr Kredit aufzunehmen (zu hebeln). Das funktionierte so lange, bis Einzelpersonen, Haushalte und Firmen, die im Mittelpunkt der CDOs standen, zahlungsunfähig wurden. Dann platzte die Blase, und die »Subprime-Krise« brach aus. Um einen Eindruck zu bekommen, welche Rolle die Subprime-Kredite bei der Krise spielten, hilft es, wenn man sich diese Schuldner_innen als Basis einer großen, umgedrehten Schuldenpyramide vorstellt. Ihre Schulden waren zwar im Gesamtbild nicht wesentlich, aber sie waren die ärmsten, am meisten verwundbaren Kreditnehmer_innen auf dem Markt – und weil sie die höchsten Zinssätze bezahlen mussten, war bei ihnen auch die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass sie untergehen würden. Über den Subprime-Schulden schwebten mühsam ausbalanciert enorme Summen »strukturierter« und oft »synthetischer« Schulden, die aus verbrieften Wertpapieren, Kreditausfall-Swaps und anderen komplexen Finanzprodukten bestanden. Diese finanztechnischen Produkte, die im Vorfeld der Krise im Schattenbankensystem künstlich geschaffen wurden, waren eben deshalb explosiv, weil sie keine Verbindung zur realen Welt der produktiven Wirtschaftstätigkeit hatten. Aber sie waren schwach mit den Immobilien und Hypotheken – den Vermögenswerten – der armen Arbeitnehmer_innen verkoppelt.

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Es mussten nur einige der ärmsten Kreditnehmer_innen an der Basis der umgedrehten Schuldenpyramide Bankrott gehen, und das gesamte Weltfinanzsystem brach zusammen. Das war eine außergewöhnliche Entwicklung: Die Schulden der Ärmsten einer Gesellschaft verursachten eine systemische Krise für die Reichsten. Costas Lapavistas schreibt, »unter den Bedingungen des klassischen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts wäre ein globaler Zusammenbruch der Akkumulation infolge der Schulden armer Menschen und sogar der allerärmsten undenkbar gewesen«.7 Seit der Krise der Jahre 2007 bis 2009 ist wenig passiert, um den Geschäftsbanken die Kontrolle über die Zinssätze zu entziehen. Zwar sind die Sätze der Zentralbanken seither gefallen, aber die Geschäftsbanken verlangen immer noch hohe reale Zinsen für Kredite und Überziehungen von Privatpersonen, Haushalten und Firmen in der Realwirtschaft. Journalist_innen und andere Kommentator_innen verbinden fälschlicherweise weiterhin die Zentralbanksätze mit den Zinssätzen der Geschäftsbanken, als würden die niedrigen Zinsen der Zentralbanken über das ganze Spektrum hinweg gelten. Aber die Zinssätze entsprechen sich nicht. Nur sehr wenige Unternehmer_innen können sich frisches Geld zum (aktuellen) Interbankenzinssatz der Bank of England oder zum Referenzsatz der EZB leihen, der zu der Zeit, da dies geschrieben wurde (April 2016), bei 0,5 Prozent bzw. 0,0 Prozent lag. Nur Banken oder bei der Zentralbank registrierte Finanzinstitute kommen in den Genuss dieser Zinssätze. Die Zinsen auf Kredite an Firmen und Privatpersonen werden von denen festgelegt – sozial konstruiert –, die mit der Kreditschöpfung befasst sind: den Geschäftsbanken. Banker_innen entscheiden über den Zinssatz für einen Kredit anhand ihrer Einschätzung, welches Risiko der Schuldner oder die Schuldnerin darstellt, und ausgehend von ihrer Renditeerwartung, aber auch danach, was andere 7

Siehe Lapavistas, Profiting Without Producing.

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Kreditgeber_innen an einem Kredit interessierten Personen auf dem Markt anbieten. Da der Bankensektor oligopolistisch strukturiert ist, gibt es in der Realität wenig Wettbewerb und stattdessen viel Einvernehmen bei den Entscheidungen über Zinssätze.

Wie die Zinssätze von privaten Geschäftsbanken »festgesetzt« werden Der LIBOR – London Interbank Offered Rate – spielt eine entscheidende Rolle bei der Festsetzung der Zinsen für globale Finanzierungsinstrumente im Wert von 800 Billionen Dollar, darunter Millionen von Hypotheken. 2008 berichtete das Wall Street Journal erstmals über Manipulationen beim LIBOR . 2012 explodierte der Skandal und lenkte die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit, aber auch von Ökonom_innen und Regulierungsbehörden, auf den Einfluss der British Bankers Association (ein Kartell) und der Mitarbeiter_innen im Backoffice der Banken – der »Submitter« – beim »Fixing« der Preise für Interbankenkredite. Die Aufdeckung des Betrugs machte schlagartig klar, dass diese Zinssätze nicht durch das Wirken der »unsichtbaren Hand« zustande kamen, das Spiel von Angebot und Nachfrage nach Geld. Stattdessen entschieden Beschäftigte in den Backoffices, die Geld für ihre Banken verdienen wollten, damit ihr Jahresbonus höher ausfiel als im Jahr zuvor. The Economist sprach vom »verdorbenen Herz der Finanzbranche«: »Die denkwürdigsten Vorgänge bei weltverändernden Ereignissen sind manchmal ganz banal. In dem sich rasch ausweitenden Skandal um den LIBOR (London Bank Offered Rate) ist es die Selbstverständlichkeit, mit der die Händler_innen bei den Banken die wichtigste Zahl des Finanzwesens manipuliert haben. Sie haben Scherze gemacht oder kleine Vergünstigungen angeboten, »Der Kaffee kommt«, versprach ein Händ-

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ler als Gegenleistung für eine manipulierte Zahl. »Junge, ich verdanke dir eine großartige Zeit! […] Ich mache eine Flasche Schampus auf«, schrieb ein anderer. Ein Händler postete Notizen für sich selbst, um nicht zu vergessen, dass er in der nächsten Woche wieder an den Zahlen drehen wollte. ›Ask for High 6M Fix‹, trug er in seinen Kalender ein, genauso hätte dort ›Milch kaufen‹ stehen können. Was manchen vielleicht immer noch als eine begrenzte Affäre erscheint, die hauptsächlich Barclays betrifft, eine dreihundert Jahre alte britische Bank, die eine obskure Zahl manipuliert hat, nimmt langsam weltweite Bedeutung an. Die Zahl, mit der die Händler_innen herumgespielt haben, entscheidet, wie viel Menschen und Unternehmen weltweit für Kredite bezahlen müssen oder für ihre Ersparnisse bekommen. Sie ist der Referenzwert, wie viel Finanzierungsinstrumente im Wert von 800 Billionen Dollar kosten, von komplexen Zinsderivaten bis zu einfachen Hypotheken. Die Zahl bestimmt über die weltweiten Flüsse von Milliarden Dollar jährlich. Und wie sich nun herausstellt, war sie manipuliert.«8

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The LIBOR Scandal: The Rotten Heart of Finance, The Economist, 7. Juli 2012.

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Wie staatliche Stellen Zinssätze beeinflussen können Denn es [ausleihbares Kapital A. P.] ist durch Veränderungen in der Nachfrage nach Bankkrediten betroffen, während ich durch Veränderungen in der Nachfrage nach Geld betroffen bin; und jene, die Geld haben wollen, überlappen sich nur teilweise und zeitweise mit jenen, die gegenüber den Banken Schulden haben wollen. John Maynard Keynes, »Alternative Theories of the Rate of Interest«

Keynes’ Theorie der »Liquiditätspräferenz«, die er in der Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes darlegt, vermittelte Zentralbanken und Regierungen nicht nur Verständnis dafür, wie Zinssätze festgelegt werden, sondern schlug auch politische Entscheidungen vor, um die Zinsen während des Zweiten Weltkriegs und darüber hinaus über das gesamte Spektrum der Kreditvergabe niedrig zu halten.9 Damals lieh sich der britische Staat mehr Geld denn je, und die Staatsverschuldung erreichte 250 Prozent des BIP – doch die Zinsen blieben insgesamt relativ niedrig. Geoff Tily schreibt in Keynes Betrayed: Die Theorie der Liquiditätspräferenz führte [Keynes A. P.] zu Schlussfolgerungen von allerhöchster Bedeutung. Letztlich stellte die Theorie die klassische Analyse auf den Kopf. Der Zinssatz sei die Ursache, so Keynes, nicht die passive Folge des Niveaus der wirtschaftlichen Aktivität und insbesondere des Beschäftigungsniveaus.10 Doch diese revolutionäre Geldtheorie und die damit verbundenen politischen Konsequenzen werden von der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft weitgehend ignoriert, und bei Regulierungsinstanzen und Politiker_innen sind sie in Vergessenheit geraten. Zentral für Keynes’ Theorie ist die Einsicht, dass Bankengeld nicht einfach ein Mittel ist, um Kaufkraft für den Austausch zu 9 10

Tily, Keynes’s Monetary Theory of Interest. Ders., Keynes Betrayed, S. 183.

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schaffen, sondern auch Mittel zur Wertspeicherung. Wenn die Besitzerin des geliehenen Geldes nach dem Leihen und Investieren Gewinn macht oder Kapitalerträge verzeichnet, steht sie vor der Entscheidung, was sie mit ihrem Überschuss anfangen will. Keynes argumentierte, ihre Entscheidung, wo und wie lange sie ihr Geld anlegen wolle, werde wie bei anderen Kapitalbesitzer_innen in erster Linie durch den Bedarf an Bargeld für den sofortigen oder nahezu sofortigen Erwerb von Waren und Dienstleistungen (der kurzfristigen »Liquidität«) bestimmt; zweitens von etwas, das er Vorsichtsmotiv nannte, dem Wunsch nach Sicherheit als dem Äquivalent von Bargeld in der Zukunft; und drittens durch das spekulative Motiv: dem Wunsch, Gewinne zu machen, indem sie das Geld in Projekte investiert und indem sie besser weiß als der Markt, was die Zukunft bringen wird. Wie in den vorangehenden Kapiteln erläutert, bedeutet die Schöpfung von Bankengeld in einem entwickelten Geldsystem, dass diejenigen, die wohlhabend genug sind, um einen Überschuss an Kapital anzusammeln, nicht allein die Kredite für die übrige Wirtschaft zur Verfügung stellen, und sie setzen auch die Zinssätze nicht fest. Diese Kapitalbesitzer_innen müssen ihr Vermögen nicht teilen, indem sie anderen wirtschaftlichen Akteur_innen Geld leihen, und unter diesen Umständen haben sie auch keine Kontrolle über die Zinssätze. Das Geschäft, Geld zu verleihen, kann darum einem sorgfältig regulierten Bankensektor übertragen werden. In der Folge können die Besitzer_innen von Überschusskapital gezwungen werden, eine passive Rolle zu spielen und ihr Geld in wirtschaftlich nützlichere Aktivitäten zu investieren. Wenn die Kapitalbesitzer_innen auf diese Weise von der Gesellschaft auf Distanz gehalten werden, müssen sie sich andere Anlagemöglichkeiten für ihre Überschüsse suchen. Keynes folgerte daraus, dass der Zinssatz nicht durch die Nachfrage nach Ersparnissen beeinflusst wird (wie die Monetarist_innen argumentieren), sondern durch eine Nachfrage nach sicheren oder riskanten Anlagen; dabei investieren die Sparer_innen ihr Geld aus

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unterschiedlichen Motiven und zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf die eine oder die andere Weise. In Zusammenarbeit mit den Zentralbanken konzipieren und verwalten die staatlichen Schatzämter eine breite Auswahl solcher Anlagemöglichkeiten (insbesondere sichere und einträgliche Staatsanleihen) und können dadurch den Investor_innen alles bieten, um deren Wünsche nach Bargeld, Sicherheit und (spekulativen) Kapitalgewinnen zu erfüllen. Weil die Zentralbanken und Schatzämter den Markt für die Anlageprodukte dominieren, beeinflussen und kontrollieren sie das Spektrum der Zinssätze, die in der gesamten Wirtschaft auf Kredite mit unterschiedlichen Laufzeiten und unterschiedlichem Risiko erhoben werden. Es ist nicht überraschend, dass diese Politik den Räuberbaronen der damaligen Zeit nicht gefiel. Eine solche Geldpolitik höhlte ihre Macht über die Wirtschaft aus und drängte sie bei der Entscheidung über die Zinssätze an den Rand. Deshalb rekrutierte der Finanzsektor fast unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg (direkt und indirekt) Ökonom_innen, Journalist_innen und Politiker_innen, die Keynes’ Geldtheorien widerlegen und ihn als jemanden brandmarken sollten, dem es angeblich nur um »Steuern und Ausgaben« ging. Sie ließen die Tatsache außer Acht, dass Keynes sich für die Geldpolitik hauptsächlich unter dem Aspekt interessierte, was sie zu Beschäftigung und wirtschaftlicher Aktivität beitragen kann. Er war der Meinung, wenn in einer Krise Fiskalpolitik nötig wurde, war das unweigerlich ein Zeichen, dass die Geldpolitik gescheitert war. Der Angriff auf Keynes’ Ideen und politische Empfehlungen fand hauptsächlich an der London School of Economics statt, mit Beteiligung einiger seiner sogenannten Schüler. Das Ergebnis war letztlich ein Sieg der Räuberbarone. Als langfristige Konsequenz dieses Angriffs wie auch der Rückkehr zur orthodoxen Wirtschaftswissenschaft werden die Interessen der Menschen weltweit, aber auch die Interessen der Umwelt, wieder den Interessen des globalen Finanzsystems untergeordnet. Zentralbanken und

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Schatzämter versuchen nicht einmal mehr, das ganze Spektrum der Zinssätze zu kontrollieren, und sie bieten auch keine ausreichende Auswahl mehr an sicheren Anlagemöglichkeiten als Alternativen zu den Angeboten des privaten Sektors. Besitzer_innen von Ersparnissen, die ihr Geld sicher investieren möchten (zum Beispiel Pensionsfonds), suchen zurzeit vergeblich nach langfristigen Anlagemöglichkeiten. Zu den sichersten Anlagen zählen amerikanische Staatsanleihen (US -Treasuries) und britische Staatsanleihen (Gilts). Leider sind durch die Krise von 2007 bis 2009 und ihre Nachwirkungen die Steuereinnahmen drastisch eingebrochen, weil Unternehmen Bankrott gingen, Menschen ihre Arbeitsplätze verloren und die Löhne real sanken. Statt dem schwer verschuldeten privaten Sektor durch staatliche Investitionen unter die Arme zu greifen, die Beschäftigung zu erhöhen und die Löhne nach der Krise zu stützen, reagierten die westlichen Länder damit, dass sie die Ausgaben noch weiter kürzten. Das bedeutete, dass die Regierung die Kreditaufnahme stoppte und die Ausgabe von Staatsanleihen zurückfuhr. Ungefähr zur selben Zeit begannen die Zentralbanken mit der quantitativen Lockerung. Sie kauften Staatsanleihen auf und nahmen sie in ihre Bilanzen, was zu einer Verknappung dieser sicheren Anlagen führte. In der Folge sind die Preise aller Wertpapiere gestiegen, auch der Staatsanleihen, und die Renditen (die Erträge, die ein Investor oder eine Investorin aus einer Anleihe bekommt) sind gefallen – teils bis auf negative Werte! Wegen der niedrigen Renditen (Erträge) und der Knappheit bei den Anleihen müssen Kapitalbesitzer_innen für ihr Geld andere Anlagen finden. Besonders attraktiv sind Immobilien: wertvolle und knappe Gebäude zum Beispiel in der Innenstadt von London, in New York City oder Hongkong. Die Folge der niedrigen Renditen von Staatsanleihen ist eine massive Inflation bei den Immobilienpreisen – die wiederum zu »sozialen Säuberungen« geführt hat, weil sich beispielsweise durchschnittliche Einwohner_innen von London angesichts der gigantischen Preise

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den Erwerb einer Wohnung oder hohe Mieten nicht mehr leisten können. Rentner_innen, die von ihren Ersparnissen leben müssen, gehen ebenfalls auf die Suche nach Anlagen, die ihnen genügend Einkommen sichern, um mit der Inflation Schritt halten zu können. In der Folge fließen Ersparnisse und Überschüsse in eine kleine Gruppe von Anlagen, die Investor_innen als sicher ansehen, darunter Gold, Juwelen, Aktien und andere Anteile sowie Staatsanleihen. Das hat erwartungsgemäß auch bei diesen Anlagen zu einer Preisinflation geführt. Weil hauptsächlich die Reichen solche Anlagen besitzen (Aktien und sonstige Anteile, aber auch Fußballklubs, die Fuhrparks von Krankenhäusern, Grund und Boden, Marken, Rennpferde, Kunstwerke, Jachten und so weiter), sind die Reichen immer noch reicher geworden. Und weil der Wert ihrer Anlagen gestiegen ist, sind auch die Renten gestiegen, die sie auf diese Anlagen fordern. Nichts erklärt die gestiegene Ungleichheit besser als diese Entwicklung. Die Zentralbanken wirken hilflos angesichts der Inflation der Vermögenspreise – nur weil sie Keynes’ Empfehlungen in den Wind geschlagen haben, wie Zentralbanken und Regierungen zusammenarbeiten und gemeinsam intervenieren können, um die Produktion der ganzen Bandbreite von Anlagen zu steuern, die Investoren brauchen, und die Zinssätze für diese Anlagen festzulegen. Stattdessen bleibt die Festsetzung von Zinsen für die gesamte Volkswirtschaft weiterhin in der »unsichtbaren Hand« des privaten Sektors – beim weltweiten Finanzkapital.

Der Zinssatz als Waffe Weil das Finanzkapital die Waffe des Zinssatzes besitzt, hält es ganze Gesellschaften, Staaten und Industriezweige, aber auch das gesamte Ökosystem – alle, die Kredite zurückzahlen müssen – als

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Geiseln. Diese Notlage ist besonders tragisch, weil in der Theorie die Entwicklung des Bankensystems und eines soliden Geldsystems die Macht einer Elite gebrochen haben sollte, Kreditnehmer_innen übermäßige Renditen abzupressen. Heute sind die realen Zinssätze wie in den früheren Zeiten vor der Bankenära hoch, auch in den reichen Ländern. Aber sie sind nur hoch, weil die Gesellschaften, die gewählten Regierungen und die Wirtschaft dem Finanzkapital eine derart despotische Macht zugebilligt haben.

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4 Unser Schlamassel Wir leben in turbulenten politischen und wirtschaftlichen Zeiten und in einer ständig gefährdeten Weltwirtschaft. Unsere Existenz ist prekär auf einem Planeten, den vom Menschen verursachte Emissionen von Treibhausgasen erwärmen und der durch das menschengemachte massenhafte Artensterben aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Das Finanzsystem ist heute volatil, korrupt und weithin diskreditiert. Immer neue Skandale um Verkäufe unter irreführenden Angaben, um Diebstahl, Manipulation und Betrügereien tauchen auf. Und gleichzeitig hören wir dauernd den Aufschrei »dafür ist kein Geld da«, wenn es um Projekte geht, die für die Gesellschaft insgesamt wichtig sind. Man versichert uns, es sei »kein Geld da« für die Pflege von alten Menschen oder psychisch Kranken oder für sozialen Wohnungsbau. Es gibt kein Geld für Opern, Theaterstücke und andere Formen künstlerischer Kreativität. Es gibt kein Geld für staatliche Investitionen in den Trinkwasserschutz und in erneuerbare Energien, für Hochwasserschutz, die energetische Sanierung alter Gebäude und andere Investitionen, um die Gesellschaft vor dem Klimawandel zu schützen. Einer der Gründe für diesen Chor defätistischer Stimmen ist die weltweite Überschuldung. Überdies setzen viele Ökonom_innen (und auch die Öffentlichkeit) öffentliche und private Schulden gleich. In diesem Kapitel befasse ich mich mit der Formel »Es ist kein Geld da« sowie mit den Unterschieden zwischen öffentlichen und privaten Schulden und erläutere, warum in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche staatliche Schulden kein Hemmnis für staatliche Investitionen sein müssen.

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»Der Staat besitzt keine Geldquelle« Im Zentrum der politisch untauglichen Antworten auf die Finanzkrise steht eine ideologisch fundierte, verlogene Überzeugung: Während eine Gesellschaft es sich leisten kann, ein strukturell kaputtes Bankensystem zu retten, kann sie es sich nicht leisten, sich um wirtschaftliche Misserfolge zu kümmern und Geld dafür aufzuwenden, ebenso wenig für Jugendarbeitslosigkeit, Probleme der Energieversorgung, den Klimawandel, Armut und Krankheit. Es heißt, die Gesellschaft »hat kein Geld«, um diese Herausforderungen anzugehen, um die wirtschaftliche Erholung zu stimulieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Margaret Thatcher, deren wirtschaftspolitische Ansichten immer noch die Politik vieler konservativer und sozialdemokratischer Regierungen beeinflussen, hat die Position »Es ist kein Geld da« besonders nachdrücklich in einer Rede im Jahr 1983 vertreten: Der Staat besitzt keine Geldquelle außer dem Geld, das die Menschen verdienen. Wenn der Staat mehr Geld ausgeben möchte, kann er das nur tun, indem er sich Ihre Ersparnisse leiht oder höhere Steuern von Ihnen verlangt. Und es ist keine gute Vorstellung, dass jemand anderer bezahlen wird. Denn dieser Jemand sind Sie. Es gibt kein staatliches Geld. Es gibt nur das Geld der Steuerzahler_innen.1 Diese Aussage klingt heute merkwürdig vor dem Hintergrund der jüngsten Rettungsaktionen für das globale Bankensystem. Während Politiker_innen ihren Wähler_innen einzureden versuchen, es sei »kein Geld da«, passierte unter dem Deckmantel der quantitativen Lockerung etwas ganz anderes. Die Zentralbanken schufen Billionen von Dollar »aus dem Nichts« und praktisch über Nacht, um die Banken zu retten.

1

Thatcher, Rede vor der Konservativen Partei, Oktober 1983.

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Und ich meine tatsächlich Billionen. Der amerikanische Senator Bernie Sanders forderte den Rechnungshof der Vereinigten Staaten auf, nachzuprüfen, wie viel »staatliches Geld« die amerikanische Notenbank mit Unterstützung der Regierung während der Krise geschaffen hatte. Das Ergebnis lautete, 16 Billionen Dollar seien »als gesamte Finanzhilfe« mobilisiert worden für »einige der größten Finanzinstitute und Unternehmen der Vereinigten Staaten und weltweit«.2 Man beachte, dass nicht ein Cent dieser Billionen aus der Besteuerung amerikanischer Bürger_innen stammte, auch wenn die von der Notenbank geschaffene Liquidität tatsächlich durch das Geld der Steuerzahler_innen gedeckt ist. Zweitens ist festzuhalten, dass zu den Nutznießer_innen dieser von amerikanischen Steuerzahler_innen gedeckten Wohltaten auch deutsche, britische und französische Banken gehörten. Der Gouverneur der Bank of England erklärte bei einer Konferenz in Schottland im Oktober 2009, »eine Billion [das heißt 1000 Milliarden, A. P.] Pfund, fast zwei Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung [Großbritanniens, A. P.]« seien mobilisiert worden (ebenfalls praktisch über Nacht), um das britische Bankensystem zu retten.3 »Nie zuvor […] schuldeten so wenige so vielen so viel Geld.«4 Obwohl offensichtlich ist, dass der Staat über »andere Geldquellen« verfügt – andere als die Steuern –, haben viele die Argumentation von Margaret Thatcher übernommen, auch Vertreter_innen des progressiven Flügels im politischen Spektrum. So schrieb Liam Byrne, britischer Finanzminister der Labour Party, in einem Brief an seinen Vorgänger, der am 17. Mai 2010 2 3 4

Sanders, Federal Reserve System. Rede von Mervyn King, zitiert in: BoE Governor Signals Fragile UK Recovery. Rede von Mervyn King vor schottischen Wirtschaftsvertretern, Edinburgh, 20. Oktober 2009.

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im Guardian veröffentlicht wurde: »Sehr geehrter Herr Minister, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass kein Geld mehr da ist.«5 Und der britische Schatzkanzler George Osborne sagte am 27. Februar auf Sky News: »Die britische Regierung hat kein Geld mehr, weil in den guten Jahren alles ausgegeben wurde.«6 Und Ed Balls, Finanzminister im Schattenkabinett der Labour-Opposition, sagte in einer Rede, die die Nachrichtenagentur Thomson Reuters am 3. Juni 2013 brachte: »Wir werden mit viel weniger Geld regieren müssen.«7

Austerität – denn »es ist kein Geld da« Das politische Mantra »Es ist kein Geld da« soll erklären, warum Austerität und andere unangenehme politische Maßnahmen nötig sind. Austerität wiederum nutzen Politiker_innen als eine Chance, die die Krise ihnen geschenkt hat, um öffentliche Ausgaben zurückzufahren und den Staat zu verschlanken. Das bestätigte der Ökonom Jeremy Warner, stellvertretender Herausgeber des britischen Daily Telegraph. Er schrieb: »Letzten Endes gibt es Befürworter eines big-state und Befürworter eines small-state, und Befürwortern eines big-state missfällt an der Austerität, dass dadurch in erster Linie die Staatsausgaben reduziert werden sollen […]. Im Grunde ist es so, dass ernsthafte Einschnitte, die zum Rückbau des Staates führen, nur während einer wirtschaftlichen Krise möglich sind. Das mag prozyklisch sein, aber

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Liam Byrne, zitiert bei Owen, Ex-Treasury Secretary Liam Byrne’s Note to His Successor. Mason/Osborne: UK Has Run Out of Money. Rede von Ed Balls, Striking the Right Balance for the British Economy.

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in guten Zeiten will es niemand; es kann nur in schlechten Zeiten passieren.«8 Mit der Entscheidung für Austeritätspolitik kehrten die Politiker_innen praktisch zu der schon lange veralteten Politik des »Goldstandards« aus den 1920er und 1930er Jahren zurück. Genau wie damals verordneten oder zumindest duldeten sie, dass ganzen Bevölkerungen in Europa, Japan und den Vereinigten Staaten eine kontraktive und deflationäre Politik aufgezwungen wurde. Eine kontraktive Politik senkt die Geldmenge und damit zugleich Gewinne, Löhne, Einkommen und Preise. Gleichzeitig hat die Deflation infolge der ökonomischen Kontraktion zu einem Anstieg und nicht etwa zu einem Rückgang der Schulden geführt. Während die Inflation den Wert von Schulden schmelzen lässt, erhöht deflationärer Druck die Kosten und den Wert von Schulden. Schulden werden von ihren Besitzer_innen als Anlage definiert: Gläubiger_innen und internationalen Investor_innen einschließlich Kapitalbeteiligungsgesellschaften. Anlagen sind für sich genommen wertvoll – man denke nur an die Rente aus einer Immobilie, an die Einkommensströme aus einem Fußballklub, aus Unternehmen in Form von Dividenden und so weiter. Auch Schulden (oder ein Kredit) sind eine Anlage und haben einen Wert als Quelle einer »Rente« in Form von Zinszahlungen im Lauf der Zeit. Schließlich sind Schulden (beispielsweise die Hypothek einer Bank) nützlich als Sicherheit, die Einkommen generiert und dazu eingesetzt werden kann, noch mehr Geld zu leihen. Ein Beispiel dafür sind die Telefongesellschaften, die Hunderttausende Verträge mit Kunden haben. Diese Verträge repräsentieren Ströme von zukünftigen Einnahmen, und dank dieser Verträge haben die Telefongesellschaften Sicherheiten für weitere Kredite. Deflationäre Politik und deflationärer Druck sind bei Besitzer_innen von Vermögenswerten, bei Banker_innen und Gläu8

Warner, Oh God – I Cannot Take Any More of the Austerity Debate.

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biger_innen beliebt, denn sie sorgen dafür, dass der Wert von Schulden und anderen Anlagen im Verhältnis zu Preisen und Einkommen steigt. (Natürlich ignorieren sie oft geflissentlich die Tatsache, dass eine Politik, die Schulden teurer macht und gleichzeitig die Einkommen der Schuldner_innen verringert, bedeutet, dass die Schuldner_innen womöglich irgendwann ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen.) Zugleich steigert der deflationäre Druck den Wert von Bargeld, weil der reale Wert des Geldes steigt. In einer kreditbasierten Volkswirtschaft mit einem Überhang an Schulden reduziert ein Rückgang bei der Kreditvergabe und der Kreditaufnahme die Geldmenge. Wenn Geld insgesamt oder Bargeld knapp ist, steigt der reale Wert des Bargelds. Zweitens ist in einer durch Schuldendeflation geprägten Situation, in der die Inhaber von Schulden ihre Verbindlichkeiten nicht zu Geld machen können, Bargeld der König. Als die Deflation in den 1930er Jahren in New York dazu führte, dass die Kosten von Schulden und die Zinssätze stiegen, konnten die bis zur Halskrause mit Hypotheken belasteten Menschen ihre Häuser nicht verkaufen, weil es keine Käufer_innen gab. Die Hauspreise stürzten ab, und all jene, die Bargeld und wenig Schulden hatten, konnten zu Spottpreisen kaufen. Eine kontraktive Austeritätspolitik lässt öffentliche Investitionen genau dann schrumpfen, wenn der private Sektor überschuldet und schwach ist, das Vertrauen in die Zukunft verloren und seine Investitionen zusammengestrichen hat. Wenn Regierungen die staatlichen Investitionen in einer Schwächephase des privaten Sektors kürzen, schränken sie nicht nur die Aktivitäten des öffentlichen Sektors ein, sondern auch die Aktivitäten, Gewinne, Löhne, Einkommen und das Steueraufkommen des privaten Sektors. Die Austerität verschärft die Verschuldung, den »Überhang privater Schulden« von Firmen, Haushalten und Einzelpersonen wie auch von Staaten. Sie bestraft de facto jene, die schuldlos an der Krise sind – die Menschen, die von staatlichen Fürsorgeleistungen abhängen –, während der deflationäre Druck den Wert von Anlagen

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im Besitz derjenigen erhöht, die für die Krise verantwortlich sind. Einige wenige Jahre nach dem Bankrott von Lehman Brothers waren immer höhere Verschuldungsniveaus auf einmal tragbar, weil die Zinsen als Reaktion auf die Krise von 2007 bis 2009 niedrig waren. Doch wie bereits gesagt, können die Zentralbanken nur den Diskontsatz oder Leitzins wirklich beeinflussen, und nur Geschäftsbanken und Finanzinstitute können Kredite zu diesem Zinssatz bekommen. Die Zinsen der Geschäftsbanken für ihre Kunden blieben real hoch, das heißt im Verhältnis zu den sinkenden Preisen und Löhnen. Wenn und sobald jedoch die Zinssätze der Zentralbank steigen, ist zu erwarten, dass die Zinsen der Geschäftsbanken noch viel stärker steigen. Steigende Zinsen auf langfristige Anlagen (Anleihen und Hypotheken) bestrafen hoch verschuldete Firmen und Haushalte, von Staaten ganz zu schweigen. Das erklärt, warum 2016 die Zentralbanken so zögerten, ihre »Referenz«-Sätze zu erhöhen: Sie fürchteten, die Ausbreitung auf andere Zinssätze könnte die Wirtschaft abstürzen lassen. Tatsächlich wurde jedes Mal, wenn die amerikanische oder die britische Wirtschaft Zeichen einer Besserung zeigte, die Erholung durch einen drohenden oder tatsächlich Anstieg bei den Anleiherenditen (Zinsen) auf den weltweiten Kapitalmärkten abgewürgt.

Finanzkrisen, Austerität und Enttäuschung über die Demokratie Die Politiker_innen, die für die Austeritätspolitik verantwortlich sind, haben nicht nur Millionen Menschen, ihren Kommunen und Ländern unnötiges Leid und Verwerfungen zugefügt. Sie haben nicht nur die Staatsverschuldung in die Höhe getrieben. Darüber hinaus haben sie dafür gesorgt, dass sich bei den arbeitslosen und verarmten Menschen in Europa und den Vereinigten Staaten Enttäuschung über die Demokratie ausbreitete. Austerität und die Kungelei von Politiker_innen und dem Finanzsektor öffneten

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einen politischen Raum für rechtspopulistische Politiker_innen und Parteien wie Donald Trump und die Tea Party in den Vereinigten Staaten, den Front National in Frankreich und die Goldene Morgenröte in Griechenland. Das sind die sozialen und politischen Konsequenzen, wenn demokratische Politiker_innen einen politischen Kurs verfolgen, der ein paar wenige noch reicher macht und die Mehrheit verarmen lässt, einen Kurs, der auf den Interessen der Räuberbarone basiert und auf den falschen Theorien »irgendeines verblichenen Ökonomen«9. Wenn dieses Buch in den Druck geht, sind seit der »Kreditkrise« vom August 2007 zehn Jahre vergangen. Die Weltwirtschaft hat sich aus der Krise herausgekämpft, und steigende Realzinsen haben die durch leichte (unregulierte) Kreditvergabe entstandenen Blasen zum Platzen gebracht. Doch es kam keine Erholung, sondern die Krise wanderte einfach durch die Weltwirtschaft. Am schlimmsten wütete sie im Zentrum – den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich –, aber nach und nach erfasste sie ganz Europa und insbesondere die Eurozone. Dann zog die Krise weiter zu den Schwellenländern und traf vor allem China. Die westlichen Volkswirtschaften erlebten den längsten wirtschaftlichen Abschwung in Friedenszeiten. Zuvor hatte nur in Kriegszeiten eine wirtschaftliche Schwäche so lange angehalten. Doch statt zu versuchen, die Ungleichgewichte dadurch zu überwinden, dass man wieder zur Regulierung des Finanzsystems zurückkehrte, sahen die Regierungen tatenlos zu, als die weltweite Kreditblase – die seit 2008 nie ganz die Luft verloren hatte – durch Operationen der Zentralbanken, wie die quantitative Lockerung, wieder neu aufgepumpt wurde. Die Zentralbanken taten wenig, um den weltweiten Finanzsektor neu zu strukturieren oder zu regulieren, sondern setzten stattdessen eine Reihe monetärer Instrumente aus ihrem Arsenal ein, um den Banken bei der Bereinigung ihrer Bilanzen zu helfen. Die Geschäftsban9

Keynes, Allgemeine Theorie, S. 323.

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ken nutzten die quantitative Lockerung und andere Formen des billigen Geldes, und weil sie freie Hand hatten, spekulierten sie mit diesem Geld – das heißt, sie spielten oder wetteten: »Viele zentrale Ideen der Finanzmathematik haben ihren Ursprung bei Wetten. […] Die Wissenschaftler, die in den 1960er und 1970er Jahren Blackjack und Roulette knackten, gingen schließlich in den Finanzsektor, weil sie genug davon hatten, immer die Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte in den Kasinos zu erregen. Aus ihrer Sicht machte das keinen großen Unterschied. Wie die modernen Teams, die sich mit Sportwetten befassen, sahen sie darin nur einen anderen Markt, ein anderes Set von Ineffizienzen und ein anderes Spiel, das es zu besiegen galt.«10 Spekulation, insbesondere solche, die »die Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte in den Kasinos« auf sich zieht, bringt Banker_innen und anderen Investor_innen schnelle und manchmal gewaltige Gewinne. Diese Gewinne flossen in den stetig steigenden Wert von Anlagen im Besitz der vermögenden Finanzelite. Insgesamt sorgten die Geschäftsbanken nicht dafür, dass diese öffentlich finanzierten Ressourcen zu erschwinglichen Zinssätzen in die Realwirtschaft gelangten. In der Folge schrumpfte in den westlichen Volkswirtschaften und zunehmend auch in Schwellenländern die Geldmenge, die Investitionen und die Beschäftigung, Löhne und Gehälter sanken, und die Armen und Arbeitslosen wurden noch ärmer. Der englische Premierminister David Cameron erklärte in einer Rede in Davos 2012, als die Krise noch nicht abgeklungen war, seine Regierung sei »vielleicht fiskalisch konservativ, aber geldpolitisch sind wir radikal und pumpen Geld in das Bankensystem«. Die ausschließliche Konzentration auf die begrenzten Hebel der Geldpolitik war für den Finanzsektor außerordentlich bequem und bescherte ihm großen Reichtum, aber schaffte es nicht, 10

Kucharski, Betting and Investment Both Require Skill and Luck.

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eine generelle Erholung herbeizuführen. Weil der Finanzsektor praktisch insolvent war und der Industrie das Vertrauen fehlte, sie außerdem zu hoch verschuldet war, um Risiken bei Investitionen einzugehen, musste die Geldpolitik mit der Fiskalpolitik zusammenarbeiten, um eine Erholung zu erreichen. Die OECD äußerte sich dazu 2016: »Eine intensivere politische Reaktion ist nötig, um die Nachfrage zu stärken. Die Geldpolitik kann nicht allein wirken. In vielen großen Volkswirtschaften ist die Fiskalpolitik derzeit kontraktiv. Die Dynamik der strukturellen Reformen hat sich verlangsamt. Alle drei politischen Hebel müssen eingesetzt werden, um aktiv ein stärkeres und nachhaltiges Wachstum zu erzeugen.«11 Leider stieß diese Botschaft – der sich andere globale Finanzinstitutionen anschlossen, darunter auch Zentralbanken und der IWF – auf taube Ohren. Die wirtschaftliche Erholung und die Kreditvergabe der Banken ließen sich mit konservativer Fiskalpolitik und radikaler Geldpolitik nicht wieder in Gang bringen. Es gab keine Erholung, weil es wegen der anhaltenden Finanzkrise an privaten Kreditnehmer_innen aus der Realwirtschaft fehlte. Potenzielle Kreditnehmer_innen mit guter Bonität waren – und sind – eine seltene Spezies in Volkswirtschaften mit hoher Arbeitslosigkeit oder viel Teilzeitbeschäftigung, mit sinkenden Löhnen und steigender Unsicherheit. Orthodoxe Ökonom_innen, darunter auch einige bei geretteten Geschäftsbanken, verschärften die durch das Versiegen der privaten Nachfrage nach Krediten und die schrumpfende Geldmenge verursachte Krise noch, indem sie den einzigen verbliebenen, infrage kommenden Interessenten für Kredite abschreckten – den Staat. Sie taten das aus der falschen und intellektuell unredlichen Idee heraus, öffentliche Kreditaufnahme werde private Kreditnehmer_innen »verdrängen«.

11

OECD , Stronger Growth Remains Elusive.

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Richard Koo, ein Ökonom, der vor allem durch seine Beschäftigung mit Japans langer deflationärer Ära bekannt geworden ist, hat geschrieben, dass die quantitative Lockerung in Japan nicht funktionierte, weil sowohl die privaten wie die öffentlichen Kreditnehmer_innen fehlten: »Wenn es viele gibt, die Kredit wollen, und nur wenige mögliche Geldgeber_innen, hätte die Bank of Japan als Kreditgeberin der letzten Instanz handeln müssen. Aber wenn es keine Interessent_innen für Kredite gibt, ist die Bank machtlos.«12

Der öffentliche Sektor: Der Kreditnehmer der letzten Instanz Wie kann man das Interesse an Krediten wecken, die Geldmenge vergrößern und damit die wirtschaftliche Belebung in Gang setzen? Der Kreditnehmer der letzten Instanz – der Staat – muss intervenieren. Er kann das tun, indem er Staatsanleihen emittiert und das Geld, das dadurch hereinkommt, für Investitionen in produktive, nachhaltige wirtschaftliche Aktivitäten verwendet, die Arbeitsplätze schaffen. Arbeitsplätze generieren Einkommen, wie wir alle aus eigener Erfahrung wissen. Wenn es reguläre Arbeitsplätze sind, generieren sie auch Steuereinnahmen – mit denen der Staat die Schulden zurückzahlen kann. Staatliche Investitionen werden in einer Rezession oder Zeiten einer wirtschaftlichen Schwäche das Vertrauen steigern, Chancen für den privaten Sektor schaffen, und durch den »Multiplikator« – der im nächsten Absatz erklärt wird – erzeugen sie gleichzeitig Einnahmen für den Staat in Form eines höheren Steueraufkommens und reduzieren die Sozialausgaben. Wenn die Steuereinnahmen durch mehr gut bezahlte und qualifizierte Arbeitsplätze steigen, geht die Staatsverschuldung zurück, so sicher wie die Nacht dem Tag folgt. 12

Koo, zitiert in: Quantitative Easing, the Greatest Monetary Non-Event. Hervorhebung der Autorin.

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Die magische Wirkung des Multiplikators Der Multiplikator ist ein volkswirtschaftliches Konzept, das orthodoxe Ökonom_innen nicht mehr generell für gültig halten.13 Sehr viel spricht dafür, diese Vernachlässigung darauf zurückzuführen, dass der Multiplikator eine direkte Folge staatlicher Kreditaufnahme und staatlicher Investitionen ist, und orthodoxe Ökonom_innen lehnen aus ideologischen Gründen staatliche Kreditaufnahme und staatliche Investitionen ab. Doch in einer begrüßenswerten Intervention hat der Chefökonom des IWF kürzlich die Zunft verblüfft, indem er die Debatte über die Rolle des Multiplikators wiederaufleben ließ – allerdings richtete sich der Fokus des IWF auf die negative Wirkung oder den negativen Multiplikator.14 Es ist nicht zu bestreiten: Der Multiplikator hat entscheidenden Einfluss auf die Volkswirtschaft. Neue Ausgaben, die durch staatliche Kreditaufnahme finanziert werden, haben vielfältige Effekte, die sich durch die gesamte Volkswirtschaft ausbreiten. Dank des Multiplikators kann die aggregierte Wirkung staatlicher Ausgaben sehr viel größer sein als der Katalysatoreffekt der ursprünglichen Kreditaufnahme und Investitionen. Die Kreditaufnahme für die Investition in einen Windpark beispielsweise kommt zuerst den Unternehmen zugute, die die Anlagen produzieren, ihren Mitarbeiter_innen und all jenen, die davon profitieren, dass durch die Investition in diese Branche neue Arbeitsplätze entstehen. Aber damit endet das Beschäftigungswachstum nicht, es gibt noch zahlreiche Sekundäreffekte. Die zusätzlichen Löhne und sonstigen Einkommen werden unweigerlich für zusätzliche Käufe ausgegeben, und das schafft ebenfalls neue Arbeitsplätze. Die Be13

14

Die folgenden Absätze stammen aus dem zweiten Bericht zum Green New Deal unter Mitarbeit von Ann Pettifor. The Green New Deal Group, The Cuts Won’t Work. Blanchard/Leigh, Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers.

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schäftigten des Windparks werden für Wohnen, Essen, Mobilität, Kinobesuche, Kleidung und so weiter bezahlen. »Wenn die nationalen Ressourcen bereits vollständig ausgelastet wären, würden sich diese zusätzlichen Käufe hauptsächlich in höheren Preisen und steigenden Importen niederschlagen«, schrieb Keynes. Aber in einer Schwächephase ist das nur für einen kleinen Teil des zusätzlichen Konsums richtig, weil der größere Teil in bereits vorhandene »heimische« Ressourcen fließen kann, die gerade nicht ausgelastet sind.15 Die kumulativen Auswirkungen, die durch den Multiplikator verursacht werden, sind eine teuflische Umkehrung der Abwärtsspirale – des negativen Multiplikators –, die durch finanzielles Versagen und die Kontraktion der ökonomischen Aktivität infolge von Austerität verursacht wird.

Steuerzahler_innen stehen für das private Bankensystem gerade Der Grund, warum Regierungen sich Geld leihen können, selbst wenn die Staatsverschuldung hoch ist und die Wirtschaft in einer Rezession steckt, liegt in der Beziehung zwischen einem Staat und seiner Zentralbank. Zentralbanken können in Krisenzeiten große Mengen Liquidität für den Staat und das Bankensystem schöpfen, eben weil sie staatliche Institutionen sind, für die die Steuerzahler_innen geradestehen. Anders als Geschäftsbanken oder Firmen oder Haushalte kennen Zentralbanken keine Solvenzprobleme. Sie sind Teil der staatlichen Institutionen eines Landes, und Länder und ihre Regierungen können nicht »liquidiert« werden wie eine bankrotte Firma. (Manche würden sagen, Deutschland sei nach dem Zweiten Weltkrieg »liquidiert« worden in dem Sinn, dass die Finanzeinrichtungen und Banken zerschlagen wurden. Doch wie wir alle wissen, ist Deutschland nach wie vor ein mäch15

Keynes, Wege zur Wiedererlangung der Prosperität, S. 146.

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tiges Land und konnte seine monetären und staatlichen Institutionen wieder aufbauen. In Simbabwe liegt die Wirtschaft am Boden, aber das Land Simbabwe und seine Regierung existieren und funktionieren weiter. In diesem Sinn unterscheiden sich Länder und Regierungen von Gebilden wie Unternehmen.) Natürlich kann es sein, dass ein Staat mit der Begleichung seiner Schulden in Rückstand gerät, oder er kann Schulden weginflationieren, indem er im Verhältnis zur wirtschaftlichen Aktivität zu viel Geld druckt – aber das ist nicht das Gleiche wie eine »Liquidierung« oder ein Bankrott. In einer Krise oder Rezession kann ein souveräner Staat sich immer an seine Zentralbank – die die Währung ausgibt – und an private oder verstaatliche Banken (wie die RBS im Vereinigten Königreich) wenden und verlangen, dass sie Geld oder Kredit in der nationalen Währung schöpfen. Dieses Geld kann dazu eingesetzt werden, um zum Beispiel die Rettung privater Banken oder Staatsausgaben zu finanzieren. Zentralbanken können jedoch kein Geld in fremden Währungen schöpfen, deshalb ist die Rückzahlung von Schulden in ausländischer Währung eine deutlich größere Herausforderung als die Rückzahlung heimischer Schulden. Dass der Staat in der Lage ist, auf diese Weise zu niedrigen Zinssätzen Geld zu beschaffen, macht den Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Finanzen aus. Der Staat kann zwar das Vertrauen der Investor_innen verlieren, auch ausländischer Investor_innen, aber das ist meistens eine Folge wirtschaftlicher Schwäche. Investor_innen werden Regierungen Geld geben, die willens sind, in die wirtschaftliche Gesundheit des Landes zu investieren, sie zu erhalten und zu stärken. Es war immer wieder zu beobachten, etwa in Russland nach der Wirtschaftskrise 1998 oder in Argentinien 2016, dass sofort ausländisches Geld in die Länder strömte. Das geschah aus dem einfachen Grund, dass die Investor_innen der Regierung zutrauten, die Wirtschaft zu stärken, und damit rechneten, dass sie von den Steuereinnahmen profitieren würden, die die Erholung generierte.

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Staaten mit soliden Steuersystemen können sich zu niedrigen Zinsen Geld beschaffen, weil sie gegenüber Unternehmen einen großen Vorteil besitzen: Eine endlose Schlange wirtschaftlich aktiver Steuerzahler_innen steht bereit, eine Schlange, die mehrere Generationen in die Zukunft reicht. Deswegen sollte das Geld, das sich ein Staat leiht, hauptsächlich dem langfristigen Nutzen der Gesellschaft dienen. Private Unternehmen hingegen können nicht mit einem endlosen Strom von zukünftigen Kund_innen rechnen; Firmen oder Banken erwarten vielleicht künftige Einnahmen von Kreditnehmer_innen oder Mieter_innen, aber diese Geldflüsse sind nicht so sicher wie »der Tod und die Steuern«. Wenn funktionierende Besteuerungssysteme existieren, können die Regierungen die Einnahmen generieren, die nötig sind, um Schulden über die künftigen Generationen hinweg zurückzuzahlen – und das ist der Grund, warum Investor_innen soliden Staaten gern Geld leihen und warum Investor_innen auch in einer Rezession Staatsschulden favorisieren und als weitgehend sicheres Investment betrachten. Während dieses Buch in den Druck geht und deflationärer Druck auf der Wirtschaft lastet, haben amerikanische Investor_innen seit Anfang 2016 bereits 60 Milliarden Dollar aus den Aktienmärkten abgezogen und der Financial Times zufolge »in die sicheren Häfen Bargeld, Schuldtitel des Staates und Gold gesteckt, während die Stimmung zunehmend schlechter wurde«.16

Geschäftsbanken leihen kein Geld Obwohl die Zentralbanken die Reserven und andere finanzielle Ressourcen der Geschäftsbanken massiv erhöht und ihre Bilanzen gestärkt haben, erfüllen die Geschäftsbanken aus den oben genannten Gründen ihre Rolle als wichtige Mitschöpferinnen von 16

Platt/ Rennison, US Stock Funds Suffer $11bn Outflows.

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Geld immer noch nicht richtig. Das weltweite Bankensystem wurde nach der Krise der Jahre 2007 bis 2009 nicht repariert, restrukturiert und neu reguliert. Die privaten Schulden in den angelsächsischen Ländern wurden insgesamt nicht zurückgeführt, abgebaut oder umgeschuldet (das heißt verlängert oder abgeschrieben). Der gewaltige weltweite Überhang privater Schulden behindert nach wie vor die wirtschaftliche Erholung. Ein großer Teil dieser weltweiten Schulden befindet sich im Besitz privater Banken oder sind Schulden von Banken und »notleidend«. Der amerikanische Analyst Hoisington weist darauf hin, dass 2015 die Verschuldung amerikanischer Unternehmen um 793 Milliarden Dollar abgenommen hat, während die gesamten privaten Bruttoinvestitionen im Land (die Anlageinvestitionen und Lagerinvestitionen umfassen) insgesamt nur um 93 Milliarden Dollar gestiegen sind.17 Das lässt vermuten, dass die Differenz von 700 Milliarden für unproduktive, spekulative Aktivitäten genutzt wurde. Gleichzeitig ging der Cashflow der Unternehmen um 224 Milliarden Dollar zurück, und die Gewinne sanken um 15 Prozent auf 242,8 Milliarden Dollar, den niedrigsten Stand seit dem ersten Quartal 2011.

Verantwortliche der Zentralbanken, Politiker_innen und der Finanzsektor Als Folge der Sparpolitik und der unzulänglichen Kreditvergabe der Banken litten die Bürger_innen in den Vereinigten Staaten und Europa über Jahre unter steigender Arbeitslosigkeit, steigenden Mieten und Steuern bei gleichzeitig sinkenden Einkommen. Die Arbeitslosigkeit war beispielsweise in Spanien höher als während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. In den Vereinigten Staa17

Hoisington Investment Management Company, Quarterly Review and Outlook.

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ten verfielen zahlreiche Arbeitnehmer_innen in Verzweiflung und gaben die Arbeitssuche auf, sodass sie nicht mehr in den Arbeitslosenstatistiken auftauchen. Zugleich nutzten die Regierungen aus ideologischen Gründen die Krise als Chance, um Sozialprogramme zurückzufahren und öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren. Den Finanzinstituten erging es besser: Sie hatten privilegierten Zugang zu Krediten der Zentralbanken zu sehr niedrigen oder sogar negativen Zinssätzen. Wie bereits angemerkt, setzten die Banken diese »leichte« und billige Liquidität ein, um ihre Verluste zu decken, um für spekulative Geschäfte Kredite aufzunehmen und um neue Blasen in etlichen Vermögensklassen entstehen zu lassen (Immobilien, Anleihen, Aktien, Rohstoffe usw.). Die privaten Banken liehen sich billig Geld von der Zentralbank und verliehen es teuer an die Realwirtschaft; auf diese Weise konnten sie mit der Hilfe der öffentlich Bediensteten in den Zentralbanken ihre Institute rekapitalisieren und ihre Bilanzen bereinigen. Für diese Reparaturen an den Finanzen des Finanzsektors mussten die Gesellschaft und die produktive Wirtschaft insgesamt einen hohen Preis bezahlen. Weil Regulator_innen und politisch Verantwortliche sich aus dem privaten Bankensystem heraushielten, konnten die öffentlichen Institutionen (politische Stellen und Behörden) nicht dafür sorgen, dass das Geld den Rest der Wirtschaft erreichte, und sie taten es auch nicht. Zentralbanken, Politiker_innen und Regulator_innen scheuten davor zurück, die Banken stärker zu regulieren oder zu verstaatlichen. Und selbst wenn Banken verstaatlicht wurden, nutzten die Regulator_innen die von den Steuerzahler_innen finanzierten Rettungsaktionen nicht, um den Banken Bedingungen zu diktieren, die eine bessere Handhabung der Kreditvergabe und ein effizienteres finanzielles Transmissionssystem sicherten. Sie schienen unfähig, aus den 1930er Jahren zu lernen, als die Regierungen den Geschäftsbanken Bedingungen vorgegeben und damit die Kontrolle über das Finanzsystem wiedererlangt

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hatten. Damals hatten die Zentralbanken darauf beharrt, dass die Geschäftsbanken sich an ihre »Leitlinien« für die Kreditvergabe zu halten hätten. Und den Politiker_innen weltweit fehlte der politische Wille, die freien und ungebundenen Offshore-Kapitalflüsse zu regulieren und zu stabilisieren, die durch das private und oft korrupte Bankensystem kontrolliert wurden. Teils weil es an regulatorischem Rückgrat fehlte, und obwohl das Transmissionssystem nicht funktionierte, gingen die Geschäfte des Finanzsektors besser als üblich. Banker_innen und Investor_innen standen vielleicht vor Solvenzproblemen, aber man hatte ihnen gesagt, dass ihre Institute zu groß zum Scheitern seien (»too big to fail«) und sie selbst »zu groß, um ins Gefängnis zu gehen« (»too big to jail«), wie es der amerikanische Generalstaatsanwalt Eric Holder am 6. März 2013 in einer Aussage vor einem Kongressausschuss formulierte: »Ich mache mir Sorgen, dass einige dieser Institute so groß werden könnten, dass es für uns schwierig wird, gegen sie vorzugehen, wenn wir Hinweise haben, dass ein Vorgehen gegen sie – Anklage gegen sie erheben – negative Folgen für die Volkswirtschaft haben könnte, womöglich sogar negative Folgen für die Weltwirtschaft. Ich denke, das ist eine Folge der Tatsache, dass einige dieser Institute zu groß geworden sind.«18 Solange die Banken auf hochkomplexe Weise unterschiedliche Geschäftsfelder bündeln, stehen die Manager_innen, die sie leiten, über dem Gesetz. Kein Wunder, dass sie sehr dafür gekämpft haben, echte Umstrukturierungen zu verhindern! Zwar sind sie angeblich der Ideologie des »freien Marktes« verbunden, doch die Marktkräfte üben keinen echten Druck mehr auf die Risiken aus, die eine Handvoll sehr großer Banken eingegangen sind. Stattdessen genossen private Finanzinstitute den Schutz der Steuer18

Transkript der Aussage von Eric Holder vor dem Justizausschuss des Senats, Attorney General Eric Holder on »Too Big to Jail«.

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zahler_innen – das genaue Gegenteil der heute vorherrschenden orthodoxen Lehre vom freien Markt. Dadurch wurden die Banker_innen zugleich zu Parasiten des Staates und zu einer Gefahr für die Steuerzahler_innen, denn viele zweifelten weiter an der Solvenz der größten Geschäftsbanken der Welt. Wolfgang Münchau, Kolumnist bei der Financial Times, berechnete überschlägig, wie pleite die Banken sind: »Die gesamte [konsolidierte] Bilanzsumme des Geld- und Finanzsektors in der Eurozone belief sich im April dieses Jahres [2013] auf 26,7 Billionen Euro. Wie viel davon ist ausfallgefährdet? In Irland standen die zehn größten Banken für Verluste in Höhe von 10 Prozent der Bilanzsumme aller Banken im Land. Der Gesamtverlust wird höher sein. In Griechenland beliefen sich die Verluste auf 24 Prozent der Bilanzsumme. Die Zentralbank von Slowenien schätzte die Verluste in ihrem Land kürzlich auf 18,3 Prozent. In Spanien und Portugal liegen die anerkannten Verluste bereits bei mehr als 10 Prozent, aber es wird ziemlich sicher noch mehr sein. Auch in Italien steigt die Zahl der notleidenden Kredite rapide an. Deutschland ist ein interessanter Fall. Auf den ersten Blick macht das deutsche Bankensystem einen gesunden Eindruck. Es erfüllt seine Funktion, den privaten Sektor zu niedrigen Zinssätzen mit Krediten zu versorgen. Aber trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass das deutsche Bankensystem insgesamt solvent ist.«19 Die Regulator_innen, so Münchau weiter, »tun so, als würden sie die Verluste nicht sehen, und vergrößern damit die Krise noch«. In der Folge konnte der private Finanzsektor wieder ungehindert spekulieren, und neue Vermögensblasen entstanden – die Preise von Aktien und Beteiligungen, Anleihen, Immobilien, Kunstwerken und Ähnlichem schossen in die Höhe. Die Vermögenspreisinflation seit 2009 hat die Reichen sehr viel reicher ge19

Münchau, Europe Is Ignoring the Scale of Bank Losses.

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macht, während die Menschen ohne Vermögen noch ärmer wurden. Die Schere hat sich vorhersehbar weiter geöffnet. Wenn die Vermögensblasen platzen, werden sie zusätzliches Chaos verursachen. Diese Tatsachen sind allgemein bekannt und akzeptiert, aber man handelt nicht entsprechend.

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5 Klasseninteressen und die Bildung ökonomischer Denkschulen Die wirtschaftlichen Fundamentaldaten sind alle in Ordnung, es ist eine gute Zeit für strengere Kreditbedingungen, […] der jüngste Ausverkauf an den Finanzmärkten ist eine gute Nachricht. […] Die Weltwirtschaft ist stark genug, um mit den Folgen fertig zu werden. The Economist, 4.– 10. August 2007

Die Herausgeber_innen und Journalist_innen des Economist waren nicht die einzigen Vertreter_innen der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft, die in der Woche, als der Markt für Interbankenkredite kollabierte und die globale Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 richtig begann, die falsche Parole ausgaben.1 Die meisten Hochschul-Ökonom_innen hatten den gleichen blinden Fleck und verkannten die wahrscheinlichen Folgen der finanziellen Deregulierung für das Finanzsystem, die Weltwirtschaft und Länder weltweit.

1

Dieses Kapitel basiert auf dem Paper What Are the Economic Possibilities for Our Grandchildren? (Wie sehen die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder wirklich aus?), das in Zusammenarbeit mit Dr. Geoff Tily entstanden ist. Es wurde von der Autorin am 16. November 2015 in Cambridge vorgetragen, im Rahmen der Veranstaltungen der King’s College’s Politics Society zur Fünfhundertjahrfeier anlässlich des Baus der King’s College Chapel.

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Investor_innen verdanken einen großen Teil der Macht, die sie auf Finanzmärkten ausüben können, dem Umstand, dass die orthodoxen Wirtschaftswissenschaftler_innen gegenüber der Geldschöpfung und dem sozialen Konstrukt des Zinssatzes demonstrative Gleichgültigkeit an den Tag legen. Menschen außerhalb der akademischen Welt mag das verblüffend erscheinen, aber die überwältigende Mehrheit der Mainstream-Ökonom_innen versteht das Wesen von Kredit und Geld, tatsächlich sogar das umfassendere Finanz- und Geldsystem nicht, und damit befassen sie sich auch nicht. Wie der damalige Gouverneur der Bank of England, Mervyn King, 2012 erklärte: »Der herrschenden Lehre der modernen geldpolitischen Theorie – den sogenannten Neukeynesianern – fehlt ein Verständnis für Finanzintermediation, deshalb spielen Geld, Kredit und Bankwesen bei ihnen keine große Rolle.«2 Aber in allen westlichen Finanzministerien und in den großen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten wird immer noch eine Politik gemacht und gelehrt, die auf dieser Leerstelle in der ökonomischen Theorie gründet. Es ist unvorstellbar, aber sie halten sich an Paul Samuelsons Theorie von Geld und Kredit, die auf Tausch aufbaut: »Wenn wir die Tauschvorgänge auf ihre wichtigsten Einzelheiten reduzieren und den darüberliegenden Schleier des Geldes lüften, finden wir selbst in den am meisten fortgeschrittenen Industriegesellschaften, daß der Handel zwischen Personen und Nationen im Wesentlichen aus Tauschvorgängen besteht.«3 Da die Wirtschaftswissenschaftler_innen hilfreich einen Schleier über die Geldschöpfung breiten und die Regulator_innen nur auf bedeutungslose Ziele der adäquaten Kapitalausstattung trainiert werden, sieht die Welt für kreditschöpfende Geschäftsbanken rosig aus, selbst wenn ihre Bilanzen in Wahrheit ein kata2 3

King, Twenty Years of Inflation Targeting, Stamp Memorial Lecture. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, S. 83. Hervorhebung der Autorin.

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strophales Bild abgeben. Die Zentralbanken generieren weiterhin Liquidität für Spekulation. Die Steuerzahler_innen bürgen weiter für die Risiken, die Investor_innen und Spekulant_innen eingehen. Und in einer seltsamen Umkehrung dessen, wozu Banken eigentlich da sind, haben sie aufgehört, in der Krise Kredite zu vergeben, zum Beispiel in der englischen Volkswirtschaft. Stattdessen liehen die Inhaber_innen von Depositen- und Sparkonten ihre Überschüsse den Banken und erwarteten nur eine geringe Rendite. Der deutsche Historiker Professor Joseph Vogl merkte an, allem Anschein zum Trotz »erwies sich die Krise als ein Weg, die bestehende Ordnung zu stabilisieren«.4 So blieben die professionellen Ökonom_innen überwiegend bei ihrer Haltung, mit rühmlichen »heterodoxen« Ausnahmen an wenigen Universitäten, und in der Finanzwirtschaft änderte sich nichts, während die Krisen unterdessen weltweit unermessliche Zerstörung anrichteten. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation wurden 2015 rund 200 Millionen Menschen arbeitslos. Der Nahe Osten und Nordamerika, die im Zentrum politischer, religiöser und militärischer Auseinandersetzungen stehen, haben die höchsten Arbeitslosenquoten bei Jugendlichen weltweit. Schon vor der Wirtschaftskrise der Jahre 2007 bis 2009 hatten dort 170 Millionen Menschen keine Arbeit. Als die Finanzkrise immer weiter um sich griff, verschlechterten sich die wirtschaftlichen Bedingungen weltweit massiv. Europa mit seinen hartnäckig hohen Arbeitslosenquoten erlebte erschreckende politische Spannungen und Spaltungen sowie den Aufstieg rechter und sogar faschistischer Parteien. Die mächtige amerikanische Volkswirtschaft kämpfte gegen die Krise und erwies sich als nicht immun gegen den Vormarsch des politischen Populismus und die Gefahr des »Konzern-Faschismus« – der Verschmelzung der Macht von Staat und Konzernen.

4

Vogl, Sovereignty Effects.

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Doch die Ökonom_innen (mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen) hielten gegenüber diesen Krisen, die sie zu einem guten Teil mitverursacht hatten, Distanz. Und wenn sie sich doch herabließen, darauf einzugehen, nahmen sie eine fatalistische Haltung ein. Oft wurden die Opfer der finanziellen Deregulierung – wie die Subprime-Darlehensnehmer_innen im amerikanischen Rostgürtel – beschuldigt, sie hätten sich zu viel Geld geliehen und damit die Krise verursacht. Wie einer der mächtigsten Mainstream-Ökonom_innen und erklärter »Keynesianer«, Larry Summers, sagte, erlebten die Gesellschaften »das Zeitalter der säkularen Stagnation«, das dadurch entstanden sei, dass der »natürliche« Zinssatz zu niedrig gewesen sei! Die Öffentlichkeit wurde darauf verpflichtet, sinkende Einkommen, Kürzungen bei staatlichen Investitionen, finanzielle Zusammenbrüche, Bankrotte und Arbeitslosigkeit als schicksalhafte Tatsachen zu akzeptieren, und die Ökonom_innen beteuerten immer wieder: »Man kann nichts tun.« Aber das war und ist eine Lüge. Es hätte viel getan werden können, um das Leiden von Millionen Menschen, besonders jungen Menschen, zu lindern, und die Zerstörung von Werten nach der Krise zu stoppen. Dafür hätte man nur die orthodoxen ökonomischen Scheuklappen ablegen müssen. Überdies können wir auf den Vorläufer zurückblicken, die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre, als Keynes und Roosevelt den Finanzeliten die Stirn boten, statt vor ihnen zu kapitulieren. Roosevelt attackierte den Finanzsektor direkt in seiner berühmten Rede zur Amtseinführung, die es wert ist, immer wieder zitiert zu werden: »Ein Heer von arbeitslosen Bürgern sieht sich vor die grimmigen Probleme des Existenzkampfs gestellt, und eine ebenso große Zahl schuftet für Hungerlöhne. Nur ein törichter Optimist kann diese harten Realitäten leugnen. Unsere Notlage entspringt jedoch keinem Mangel an Substanz. Wir sind nicht mit einer Heuschreckenplage geschlagen […] Vor unseren Türschwellen wohnt die Fülle, doch im

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unmittelbaren Anblick der Vorräte schaffen wir es nicht, sie uns nutzbar zu machen. Das liegt in erster Linie an der Verbohrtheit und Unfähigkeit derjenigen, die den Austausch der Menschheitsgüter zu regeln hatten. Sie haben versagt, haben ihr Versagen zugegeben und abgedankt. Die Machenschaften der gewissenlosen Geldwechsler stehen am Pranger der öffentlichen Meinung und werden vom Herzen und Verstand des Volkes verworfen […] Angesichts des Mangels an Krediten fiel ihnen kein anderer Ausweg ein als der Vorschlag, weiteres Geld zu verleihen. Der Lockspeise des Profits beraubt, mit der sie unser Volk veranlasst hatten, ihrer trügerischen Führung zu folgen, haben sie ihre Zuflucht zu Ermahnungen genommen und weinerlich um erneutes Vertrauen gebeten. Sie kennen nur die Gesetze einer Generation von Egoisten. Sie besitzen keine visionäre Kraft, und wo diese fehlt, gehen die Menschen zugrunde.«5 Roosevelt wie Keynes nahmen den Kampf gegen eine durch Schuldendeflation getriebene Krise auf, die auf unheimliche Weise jener gleicht, vor der wir heute stehen. Sie halfen, in England wie in Amerika eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung in Gang zu setzen. Vor allem aber stellten sie das Vertrauen in den demokratischen Prozess wieder her.

Die Enthüllungen der Bank of England Die Bank of England befasste sich 2014 in zwei Artikeln in ihrem Quarterly Bulletin mit der Natur des Geldes: »Money Creation in the Modern Economy«(»Geldschöpfung in der modernen Volkswirtschaft«) und »Money in the Modern Economy: An Introduction« 5

http://das-blaettchen.de/2011/11/aus-der-antrittsrede-von-praesident-frank lin-d-roosevelt-8451.html (25. 8. 2017).

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(»Geld in der modernen Volkswirtschaft: Eine Einführung«). Die beiden Artikel waren für viele Mainstream-Ökonom_innen eine Offenbarung.6 Die Volkswirte der Bank bestätigten, dass in einer modernen Volkswirtschaft der Großteil des Geldes durch die Kreditvergabe von Geschäftsbanken geschaffen wird. Darüber hinaus betonte die Bank, dies sei »die umgekehrte Abfolge wie üblicherweise in Lehrbüchern beschrieben«. Sagen wir es ganz klar: Nicht einige Lehrbücher stellen den Vorgang falsch dar, sondern praktisch alle. In der Folge wurde und wird Studierenden der Wirtschaftswissenschaften eine trügerische Geldtheorie gelehrt. Und diese irrige Lehre war und ist symptomatisch für ein noch größeres Versagen: das Versagen der ökonomischen Profession, ihrer wissenschaftlichen Diskussionen, Konferenzen, veröffentlichten Paper und Ratschläge an die Politik. Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Der liberale englische Ökonom und Sozialwissenschaftler John Hobson (1858–1940) hat bereits vor hundert Jahren festgestellt: »Niemand […] kann verkennen, daß die Auslese und Ablehnung von Ideen, Hypothesen und Formeln, ihre Ausformung in Schulen oder Richtungen und ihre Verbreitung in der Geisteswelt eindeutig vom Druck der Klasseninteressen bestimmt worden sind. In der politischen Ökonomie finden wir, wie wir auf Grund ihrer engen Beziehung zu Geschäft und Politik gleich vermuten konnten, das unwiderleglichste Beispiel.«7 Die »Schulen und Richtungen«, die heute sowohl in den Wirtschaftswissenschaften wie in der Gesellschaft insgesamt dominieren, haben den Finanzeliten enorme Kapitalgewinne eingebracht, die Weltwirtschaft in eine lang anhaltende Krise gestürzt 6 7

McLeay/Radia/Thomas, Money in the Modern Economy, und dies., Money Creation in the Modern Economy. Hobson, Der Imperialismus, S. 195. Hervorhebung der Autorin.

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und weltweit die Ungleichheit vergrößert. Aber glücklicherweise triumphieren die Klasseninteressen nicht überall. Die Bank of England würdigt zu Recht die Handvoll Wissenschaftler_innen, die gegen die Vorstellung der Mainstream-Ökonom_innen von Geld aufbegehren. Diese wenigen, mutigen Wissenschaftler_innen haben ihre Positionen vertreten, obwohl es sie in ihrer akademischen Laufbahn teuer zu stehen kam. Sie wurden von Fachdiskussionen ausgeschlossen, ihre Aufsätze wurden in angesehenen Fachzeitschriften nicht abgedruckt, die Regierung konsultierte sie nicht als Berater. Professor Charles Goodhart schreibt, wie »die Andeutung, Prof. X vertrete einen institutionellen Ansatz bei der Geldanalyse, ausreichte, um seinen/ihren Ruf in finsterste Tiefen zu stürzen. Nur eine kleine Gruppe hauptsächlich heterodoxer Ökonom_innen (unterschiedlicher postkeynesianischer Prägung) machte sich die Mühe, die Theorie mit der Realität zu verbinden. Ich weiß nicht, warum das so war, […] [es] ist keine gute Werbung für diese Unterkategorie unserer Profession.«8 Ein unparteilicher Beobachter der ökonomischen Profession vermag das kaum zu glauben. Wie kann es sein, dass Ökonom_innen sich nicht darum kümmern, »die Theorie mit der Realität zu verbinden«? Wie können Ökonom_innen die Wirtschaft analysieren, ohne das Geld zu verstehen – den Angelpunkt und raison d’être aller ökonomischen Aktivität? Und wie ist es möglich, dass all jene, die diese Vorgänge tatsächlich erfassen, in »finsterste Tiefen« geworfen werden?

8

Goodhart, The Continuing Muddles of Monetary Theory.

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Keynes und die Unterlassungssünde Obwohl die Bank of England ein wenig Licht in diese akademische Dunkelheit brachte, erkannten einige renommierte Ökonom_innen die Zusammenhänge immer noch nicht. Die eklatanteste Lücke in den Artikeln der Bank aus dem Jahr 2014 war, dass eine positive Erwähnung des Namens John Maynard Keynes fehlte. Die Diskussion über Geldtheorie und die richtige Geldpolitik bestimmte einen Großteil von Keynes’ Karriere. Seine Berufung in das Direktorium der Bank of England 1941 erfolgte in Anerkennung der bemerkenswerten Beiträge, die er zu diesen Diskussionen geleistet hatte. Keynes’ Ideen gingen aus einem profunden Verständnis der Natur des Geldes hervor. Die einleitenden Kapitel seiner Schrift Vom Gelde (1930) galten zur damaligen Zeit als die umfassendste Darstellung der Materie und wurden als solche unter anderem von Joseph Schumpeter empfohlen.9 Nach den Veröffentlichungen der Bank of England in ihrem Quarterly Bulletin 2014 benannte Mark Carney, der Gouverneur der Bank, als Motiv für die Errichtung der Bank of England im Jahr 1694, England habe Geld »für die Fortsetzung des Krieges« gegen Frankreich auftreiben wollen.10 Das stimmt nicht. Die Finanzierung des Krieges war zwar wichtig, aber den Verantwortlichen der damaligen Zeit ging es mehr darum, ein Bankengeld-System zu schaffen wie das, was bereits in den prosperierenden Niederlanden existierte, und zwar entlang der Linien, die die Mitarbeiter_innen der Bank of England heute skizziert haben. 1694 sollte die Bank of England den Niederlanden darin nacheifern, die Zinsen auf das niedrige Niveau zu bringen, das niederländische Unternehmen bezahlen mussten, und die englischen Zinssätze denen in den Niederlanden anzugleichen. 9 10

Keynes, Vom Gelde. Carney, One Mission. One Bank.

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Aber die Auffassung, dass Bankengeld für fallende Zinssätze sorgen kann, ging in der klassischen ökonomischen Lehre eines David Ricardo (eines Investors) unter. In der Folge lebten die Theorien über Kredit und die damit verbundene Bankengeld-Politik nur in, wie Keynes es nannte, »einer Unterwelt« von Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen fort. Dazu gehörten Henry Thornton, Thomas Malthus und Henry Dunning McLeod sowie die Soziologen Peter Knapp und Georg Simmel, die die Frage nach dem Wesen des Geldes nicht den Ökonom_innen überlassen wollten. Keynes’ große Leistung bestand darin, die Geldtheorie aus der Schublade herausgeholt zu haben, in der die akademischen Ökonomen sie begraben hatten. Er begriff, dass eine Wirtschaftstheorie, die auf einer falschen Geldtheorie basierte, zu schwerwiegenden wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen und zu finanziellen und wirtschaftlichen Krisen führen würde. In seiner Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes setzte er sich selbst die Aufgabe, eine Theorie der Wirtschaft zu entwickeln, die auf einem korrekten Verständnis des Geldes beruhte.11 Keynes’ Schlussfolgerungen in dieser Schrift für die praktische Politik unterschieden sich sehr von denen seiner Zeitgenossen und denen ihrer Nachfolger_innen im heutigen wirtschaftswissenschaftlichen Establishment. Keynes erkannte, dass das Geldsystem nicht bestimmten Partikular- oder Klasseninteressen dienen darf und so ausgelegt sein muss, dass es den Bedürfnissen der Gesellschaft insgesamt nützt. Dieses Verständnis führte dazu, dass die Politik während des Zweiten Weltkriegs konstant auf niedrige Zinsen ausgerichtet war, auf nahezu Vollbeschäftigung nach dem Krieg und einen florierenden privaten und öffentlichen Sektor sowie finanzielle Stabilität in der Nachkriegszeit mit so geringen Unterschieden in der Einkommensverteilung, wie es sie bis dahin nicht gegeben hatte. 11

Keynes, Allgemeine Theorie.

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Wie vielleicht nicht anders zu erwarten, hatte die von Keynes angeregte Politik keinen Bestand. Und mit seiner Politik verschwanden auch seine Theorie und wieder einmal das Verständnis dafür, was Geld ist. Die klassische ökonomische Lehre und ihre falsche Geldtheorie wurden wiederbelebt. Das Verständnis von Bankengeld und Kredit, das all jene in der »Unterwelt« besaßen, lebte nur in Keynes’ engsten Mitarbeitern in Cambridge weiter, die nach und nach aus den Wirtschaftswissenschaften herausgedrängt wurden. Eine Wiederauferstehung erlebte seine Theorie als postkeynesianische Lehre in den Vereinigten Staaten mit Sidney Weintraub, Hyman Minsky und Paul Davidson und im Vereinigten Königreich unter anderem mit Victoria Chick. Geoffrey Ingham führte im Vereinigten Königreich die Tradition in der Soziologie fort. Ihren Niederschlag fand diese Entwicklung in der gut verständlichen, populärwissenschaftlichen Abhandlung der New Economics Foundation mit dem Titel Where Does Money Come From? (Woher kommt das Geld?)12 Angesichts des Drucks der Klasseninteressen, der heute ökonomische Vorstellungen prägt, ist es nicht überraschend, dass Keynes’ Theorie und Politik seit Langem vernachlässigt werden, ganz besonders an seiner Alma Mater Cambridge. Der »Schleier«, den orthodoxe Ökonom_innen heute über die Natur des Geldes breiten, bedeutet, dass Keynes’ theoretische Schlussfolgerungen verloren sind. Die klassische ökonomische Theorie und Politik schützt wieder die gleichen Partikular- und Klasseninteressen, die von Keynes’ Politik negativ betroffen waren. Die klaren Worte der Bank of England in dieser Frage sind zwar willkommen, reichen aber nicht aus. Das ganze fragile intellektuelle Fundament, auf dem die falsche klassische Theorie ruht, sollte abgetragen werden. Ein tieferes Verständnis für Keynes’ theoretische und politische

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Ryan-Collins u.a., Where Does Money Come From?

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Schlussfolgerungen wird den Ökonom_innen und der Gesellschaft insgesamt die nötigen Werkzeuge an die Hand geben, um zu einer Volkswirtschaft zurückzukehren, die Gleichgewicht und Stabilität wiederherstellt, einer Volkswirtschaft, die den Interessen der Gesellschaft als Ganzes dient. Von dem Zeitpunkt an, als Keynes seine Ablehnung des Goldstandards formulierte (in seinem Buch Ein Traktat über Währungsreform aus dem Jahr 1923), beschäftigte ihn die Frage, wie sich Wirtschaftskrisen verhindern lassen. Im Umfeld der Weltwirtschaftskrise wollte er die Bedingungen schaffen, dass sich wieder Wohlstand entwickeln kann und Krisen sich nicht wiederholen. Damit ist Keynes ganz klar gescheitert. Aber daran trug er eindeutig keine Schuld. Denn der Keynes, der im allgemeinen Verständnis überlebt hat, und vor allem der Keynes, der heute in den Hörsälen gelehrt wird, ist eine sehr verzerrte und reduzierte Figur. Heute wird der Name Keynes hauptsächlich mit fiskalischen Maßnahmen zur Bekämpfung einer Krise assoziiert, während er in erster Linie durch geldpolitische Maßnahmen Krisen vorbeugen wollte. Seine Ziele waren eine Reform der internationalen Finanzarchitektur auf der einen Seite und niedrige Zinsen auf der anderen Seite. Ihm ging es vor allem um die Steuerung des Finanzsystems und um – dauerhaft – billiges Geld. In beiden Fällen ist es Zeit, dass die wirtschaftswissenschaftliche Profession erkennt, wie gefährlich ihre Kompromisslosigkeit gegenüber und ihre Missachtung von Keynes sind. Die Welt muss dringend Keynes wiederentdecken.

Keynes’ Geldtheorie In theoretischer Hinsicht war Keynes Monetarist, er hatte verstanden, dass die konventionelle oder klassische Ökonomie für eine auf Kredit basierende Wirtschaft irrelevant war. Ihm ging es in

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erster Linie darum, eine »monetäre Theorie der Produktion« zu entwickeln. In der Allgemeinen Theorie erkannte er schließlich, dass der entscheidende Unterschied zwischen einer solchen Theorie und der klassischen Theorie der langfristige Zinssatz war: der Zinssatz, der allen privatwirtschaftlichen Aktivitäten zugrunde liegt, insbesondere den Investitionen. Wie es auch formuliert wird, in der klassischen Theorie ist der Zinssatz eine passive Folge realer Ereignisse, von denen man annimmt, dass sie die Ergebnisse bestimmen. Heute werden als wichtigste derartige Ereignisse die »globale Sparwut«, Veränderungen beim Bevölkerungswachstum und mangelnde Produktivität bezeichnet. In Keynes’ Theorie diktiert der Zinssatz die Ereignisse, und wenn er nicht kontrolliert wird, ist er »der Schurke in dem ökonomischen Stück«. Unkontrolliert hohe Zinsen waren der Grund, warum Philosophie und Religion zwei Jahrtausende lang den Wucher verurteilten. Letztlich verstand Keynes den Zinssatz als ein soziales Konstrukt, das widerstreitende wirtschaftliche Interessen ausgleichen soll. Keynes sprach nicht von Klassen, aber seine Theorie setzte den Klassenkampf als eine Realität voraus. Doch in einer Hinsicht unterschied er sich von Marx: Für ihn hatten die produktive Industrie und die Arbeitnehmerschaft gemeinsame Interessen, und die standen im Gegensatz zu den Interessen der Finanzwelt – zu dem, was Keynes als das »Partikularinteresse« der Rentierklasse bezeichnete. Niedrige Zinsen und billiges Geld kamen Industrie und Arbeitnehmerschaft zugute. Knappes und teures Geld zu hohen Zinsen nützte der Finanzwelt. Der allmähliche »sanfte Tod des Rentiers« war für Keynes der Preis, den eine Gesellschaft für Vollbeschäftigung, eine anständige Versorgung mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen sowie für wirtschaftliche Stabilität zahlen muss. Da der Rentier kaum sein eigenes Ende herbeiführen wird, ist es unerlässlich, dass staatliche Stellen das Finanzsystem kontrollieren.

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Bis zu Keynes stand das Finanzsystem unter eifersüchtiger Privataufsicht. Heute lehnen die Mainstream-Ökonom_innen eine staatliche Aufsicht, wie sie Keynes befürwortete, ab. Sogar viele progressive Ökonom_innen stimmen darin mit ihnen überein und verwenden den unpräzisen und abwertenden Begriff »finanzielle Repression«, um die demokratische Kontrolle des Finanzsektors zu kritisieren. Von finanzieller »Repression« zu sprechen, ist so, als würde man die Emanzipation der Sklaven als Repression der Rechte der Sklavenhalter betrachten! Auf einer eher nüchternen theoretischen und praktischen Ebene führte die Theorie der Liquiditätspräferenz dazu, dass angemessene Arrangements für den Umgang mit Geld und Schulden entwickelt wurden, um es zu ermöglichen, dass eine Kontrollinstanz den Zinssatz über das gesamte Spektrum der Kreditvergabe hinweg festsetzen konnte. Dass staatliche Stellen in der Lage sind, niedrige Zinsen in der gesamten Wirtschaft zu erreichen, ist ein Faktum. Ein Faktum waren auch Keynes’ praktische Erfolge bei der Senkung von Zinssätzen im Vorfeld sowie während des Zweiten Weltkriegs.

Wirtschaftswissenschaftliche Orthodoxie, Keynes und die Weltwirtschaftskrise Bei der Konferenz von Versailles 1919 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs diktierten Finanzinteressen die wirtschaftlichen Bedingungen des Friedens. Ein Unterschied zum Goldstandard war kaum erkennbar, und die damaligen »wirtschaftlichen Bedingungen« der Finanzwelt ähnelten sehr stark den heute geläufigen orthodoxen Vorstellungen. Dazu gehörte die Forderung, dass die Zentralbanken unabhängig zu sein hatten, dass die Staatsausgaben beschränkt werden sollten, dass die Mobilität des Kapitals nicht behindert werden dürfe und dass hohe Realzinssätze wünschenswert seien.

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Bereits 1923 kollabierten die wirtschaftlichen Arrangements in der Hyperinflation der Weimarer Republik mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Heftigkeit. Die Wirtschaftskrise begann in Deutschland, wanderte dann weiter und erfasste mit dem Börsenkrach von 1929 die Vereinigten Staaten. Die Erholung und eine weltweite Reform der Währungssysteme nahmen im Vereinigten Königreich ihren Anfang, als dort am 21. September 1931 der Goldstandard ausgesetzt wurde. In den nächsten fünf Jahren führten Keynes’ Ideen und politische Maßnahmen zu einer erheblichen Neuordnung der Klassenbeziehungen in den Vereinigten Staaten und in Europa. Dazu trug ein deutlicher politischer Linksruck bei, erkennbar unter anderem an der Wahl von Franklin Roosevelt zum amerikanischen Präsidenten 1933 und der Wahl von Léon Blum zum Regierungschef der Volksfront in Frankreich 1936. Der Goldstandard sollte durch Keynes’ Plan für ein Währungsmanagement ersetzt werden, den er erstmals im Zusammenhang mit seinem Ein Traktat über Währungsreform aus dem Jahr 1923 entwickelte. Die Wechselkurse sollten durch Interventionen der Zentralbank auf Devisenmärkten gesteuert werden, bei denen große Mengen von den Regierungen zur Verfügung gestellten Geldes zum Einsatz kommen würden, und nicht durch die Manipulation der Diskontsätze der Zentralbank. Diese Interventionen sollten durch Kapitalverkehrskontrollen in gewissem Umfang unterstützt werden. Sie würden eine deutliche Senkung der Zinssätze (der kurzfristigen und langfristigen, der Zinsen für sichere und riskante Kredite und der Realzinsen) überall auf der Welt ermöglichen. Nach Großbritanniens Abkehr vom Goldstandard 1931 lief das Währungsmanagement dort über den Devisenausgleichsfonds (Exchange Equalisation Account). Unmittelbare Priorität war es, weltweit eine Reduktion der kurz- und langfristigen Zinsen zu erreichen, etwas, das die einzelnen Volkswirtschaften dringend brauchten.

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Als sich Roosevelt auf der Weltwährungskonferenz 1934 in einer berühmten Äußerung gegen Gold, den »Fetisch der sogenannten internationalen Bankiers«, aussprach, lud er den Rest der Welt – nicht zuletzt den Goldblock der europäischen Länder – dazu ein, Großbritanniens Beispiel zu folgen. Das war ein wichtiger Anstoß für Keynes, die Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes zu schreiben. Keynes verstand seine Theorie als einen Rahmen, der sicherstellen sollte, dass Marktversagen nur vorkommen würde, wenn man die Theorie falsch auffasste und falsch anwendete. Es ist absolut verkehrt, Keynes als einen Feind von Märkten und Freiheit darzustellen. Sein Ziel war es, »Adam Smith nicht zu besiegen, sondern seine Weisheit anzuwenden«.13 Er setzte sich mit gegenteiligen Argumenten (auch innerhalb des Vereinigten Königreichs) auseinander, die behaupteten, die Wirtschaftskrise sei dem Versagen des Laisser-faire geschuldet und deshalb müsse man zu autoritären Lenkungsformen aller Art zurückkehren. Die offensichtlichste Form war der Aufstieg Adolf Hitlers, der fast zur gleichen Zeit an die Macht kam wie Roosevelt. In den Vereinigten Staaten, in Frankreich und dem Vereinigten Königreich übten die jeweiligen Zentralbanken de facto, wenn auch nicht de jure, die demokratische, öffentliche Kontrolle über den Finanzsektor aus: die Federal Reserve, die Banque de France und die Bank of England. Ein Jahrzehnt später verstaatlichte die britische Labour-Regierung in einer ihrer ersten Amtshandlungen die Bank of England. In Deutschland unter Hitler dominierte die private Kontrolle über den Finanzsektor. Hitler wollte anfangs womöglich das Problem der Arbeitslosigkeit anpacken, aber entgegen der allgemeinen Überzeugung verzichteten sowohl er wie Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht gezielt und explizit auf eine Währungsreform und stellten sich fest an 13

Keynes, Activities 1944–1946, S. 621.

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die Seite der Finanzwelt. Demokratische Staaten hingegen wurden von den Zwängen der finanziellen Orthodoxie befreit, allen voran die Vereinigten Staaten durch Präsident Roosevelts New Deal. Im Februar 1936, als Keynes’ Allgemeine Theorie erschien, hatte die endgültige Auflösung des Goldstandards bereits begonnen. Die Worte, die Keynes im März 1935 in München sagte, als Belgien sich vom Gold abwandte, hallen durch die Geschichte: »Dumme und verbohrte alte Männer in den Banken der Niederlande und Frankreichs kreuzigen ihre Länder in einem Kampf, der sich mit Gewissheit als vergebens erweisen wird.«14 Das »Kreuz aus Gold« wurde endlich beseitigt, als Frankreich nach der Wahl von Léon Blum im September 1936 das Währungsmanagement übernahm und der Goldstandard kollabierte. Im Tripartite-Abkommen vereinbarten die Regierungen von Großbritannien und den Vereinigten Staaten, Frankreichs Wechselkurs zu stützen, sodass die Währungsreform global und kooperativ war. Im größten Teil der Welt wurde der Finanzsektor staatlich kontrolliert und das Geld war billig.

Die moderne Zeit Von der fünfjährigen Regierungszeit von Labour ab 1945 abgesehen, wurde in Großbritannien die entscheidende Neuordnung der Klasseninteressen in der Nachkriegszeit unterbrochen. Am deutlichsten bezogen die Vereinigten Staaten Position, die 1944 bei der Konferenz von Bretton Woods den Vorschlag der britischen Regierung für eine internationale Clearing Union (ICU ) im Sinne von Keynes ablehnten. Die ICU sollte eine globale, unabhängige Bank sein, die alle internationalen Reserven halten und alle Zahlungen zwischen Ländern abwickeln und »bereinigen« (»clear«) 14

Keynes, Activites 1931–1939, S. 356.

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würde. Auf diese Weise würde sie über Veränderungen bei den Wechselkursen entscheiden. Stattdessen bekam der US -Dollar in der Nachkriegszeit eine herausgehobene Rolle, die die hegemoniale Position der Vereinigten Staaten in der vom Krieg zerstörten Welt widerspiegeln sollte. Aber obwohl man sich weltweit von Keynes und der Reform des Währungssystems abwandte, führten Kompromisse in Richtung einer expansiven Fiskalpolitik, Beschränkungen bei der Mobilität des Kapitals, beim Umgang mit Handelsungleichgewichten, relativ niedrige Zinssätze und eine Stärkung der Regierungen in der Nachkriegszeit zu großen Fortschritten und Wohlstand. Das Goldene Zeitalter (1947–1971) war wirklich golden. Inflation und Arbeitslosigkeit, die später »mit großer Heftigkeit« in Großbritannien »explodierten«, wie David Smith schreibt, lagen weltweit niedrig, sogar in Afrika.15 Die Wirtschaftstätigkeit, Theater, Sport und Musik florierten, die Ungleichheit nahm ab. Sogar die Staatsfinanzen stabilisierten sich. Sir Peter Middleton, von 1983 bis 1991 ständiger Sekretär des Schatzamts, beschreibt die Stimmung bei seinem Eintritt ins Schatzamt 1960: »Im Schatzamt herrschten Vertrauen und Konsens. Man hatte eine Deflation in der Nachkriegszeit verhindert. Die Verpflichtung im Weißbuch aus der Kriegszeit, dass die Arbeitsmarktpolitik ein hohes und stabiles Beschäftigungsniveau erhalten sollte, war in einem höheren Umfang erreicht worden, als alle erwartet hatten – und wurde im Weißbuch von 1956 über die wirtschaftlichen Implikationen der Vollbeschäftigung und im Radcliffe Report von 1959 bestätigt. Wir lebten im Rahmen der Vereinbarungen von Bretton Woods – zeitweise ein bisschen unsicher, aber erfolgreich.«16

15 16

Smith, From Boom to Bust, S. 5. Ebenda, S. 6.

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Doch die Ökonom_innen wie auch die politisch Verantwortlichen der damaligen Zeit schätzten Vollbeschäftigung genau wie heute gering: Sie kümmerten sich nicht darum. Stattdessen propagierten sie eine Agenda, die auf »Wachstum« und finanzieller Liberalisierung basierte. Von Anfang der 1960er Jahre an, als die Arbeitslosigkeit bei 2 Prozent lag, wiederholten die britischen Politiker_innen die Parole der OECD , die ein jährliches »Wachstums«-Ziel von 4 Prozent verkündete. Dieses unrealistische Ziel führte in Verbindung mit der Deregulierung der Finanzmärkte unweigerlich zur Inflation der 1960er und 1970er Jahre. Die Inflation war eine Folge der Liberalisierung des Finanzsektors, von politischen Entscheidungen, die weit von dem entfernt lagen, was Keynes empfohlen hatte, aber trotzdem wurde sie Keynes angelastet.17 Der Finanzsektor wurde von der sogenannten »Repression« der 1960er Jahre befreit, und an die Stelle niedriger Zinssätze traten weltweit hohe Zinsen. Für diese Politik wird Keynes bis heute verantwortlich gemacht – zu Unrecht. Während die Ökonom_innen es so darstellen, als zeige sie das Versagen von Keynes, diente sie in Wahrheit dazu, die verstärkte Liberalisierung und Globalisierung zu rechtfertigen. Aus der Sicht von Keynes’ Theorie war die deutlichste und gefährlichste Veränderung die Rückkehr zum teuren Geld 1980. Seit damals haben entwickelte Volkswirtschaften fünfunddreißig Jahre allgemein hohe Arbeitslosigkeit, periodisch wiederkehrende Finanzkrisen und massive Instabilität erlebt. Der Höhepunkt kam mit der Finanzkrise von 2007 bis 2009, als nach dem größten Anstieg der privaten Verschuldung die Schulden nicht länger tragfähig waren.

17

Mehr Informationen über die »Wachstums«-Politik der 1960er Jahre liefert Tily, The National Accounts, GDP and the »Growthmen«.

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Abb. 5 Die Realzinsen in den Vereinigten Staaten von 1923 bis 2013 Quelle: Geoff Tily, The Long-Term Rate of Interest. Contrasting the Council of Economic Advisers and Keynes, Policy Research in Macroeconomics, 3. November 2015

Wie in den 1930er Jahren waren diese Schulden das Ergebnis von leichtem und teurem Geld. Nicht tragfähige Schulden entstehen, wenn die Kreditvergabe nicht staatlich reguliert wird und Kredite nicht zurückgezahlt werden können. Dass Kredite nicht zurückgezahlt werden können, ist wahrscheinlicher, wenn Geld teuer ist, als wenn es billig ist. Die Ökonom_innen sehen den anschließenden Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität als den neuen Regelfall an – »säkulare Stagnation«. Die Zinsen spiegeln angeblich nur passiv diese düstere Lage wider, die sich scheinbar unendlich weit in die Zukunft erstreckt. Die Staaten sollen sparen, mit niedrigen Investitionen, Arbeitslosigkeit und politischer Instabilität angesichts massiver Zwänge und erheblich reduzierter Mittel zurechtkommen. Und Keynes wird immer nur mit denen in Verbindung gebracht, die

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sich dagegen aussprechen, die fiskalische Konsolidierung zu weit zu treiben. Wenn Politiker_innen behaupten, »Wir gleichen den Haushalt aus«, »Wir leben nicht über unsere Verhältnisse«, wollen sie lediglich politisches Kapital aus der Behauptung von Ökonom_innen schlagen, in einer wirtschaftlichen Rezession müsse die Wirtschaftstätigkeit zurückgefahren werden. Doch Sparen ist natürlich keine Lösung – weder in Europa noch in Japan, noch in den Vereinigten Staaten. Die privaten und die staatlichen Schulden wachsen, und deflationäre Kräfte belasten die entwickelten Volkswirtschaften. Vor diesem aktuellen Hintergrund sagen viele, die aufkommenden autoritären Strömungen würden die Schwäche und das Versagen der westlichen Demokratie angesichts der schrecklichen Krise widerspiegeln. Nur der amerikanische Senator Bernie Sanders hat in seinem Präsidentschaftswahlkampf 2016 die gewaltige Macht des Finanzsektors – der Wall Street und der City of London – angeprangert, ansonsten haben weder die Linken noch sozialdemokratische Parteien, auch nicht die reaktionären Kräfte in der Gesellschaft, etwas dagegen gesagt.

Keynes heute Keynes’ Ideen besitzen eine einmalige Kraft. Es liegt auf der Hand, dass sie eine entsprechend große Bedrohung für finanzielle Partikularinteressen darstellen. Um die Allgemeine Theorie richtig zu verstehen, ist es wichtig anzuerkennen, dass eine deutlich bessere Welt wirklich möglich ist – für unsere Generation, aber auch für unsere Enkelkinder. Die Tatsache, dass die Allgemeine Theorie missachtet wird – und in Cambridge nicht einmal gelehrt wird –, sagt mehr über die heutigen Ökonom_innen aus als über Keynes’ Rang als einer der größten Denker Großbritanniens, auf einer Stufe mit Charles Darwin. Wie Austin Robinson 1972 im Economic Journal

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schrieb: »Wenn Keynes im Zuge der Neubewertung nicht wirklich als ein großer Mann eingeschätzt wird, ist, lassen Sie mich das wiederholen, bei den Kriterien für die Bewertung von Größe etwas gründlich schiefgegangen.«

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6 Sollte die Gesellschaft den Banken die Macht der Geldschöpfung entziehen? Die Bewegung für Vollgeld Zu dem Zeitpunkt, da dieses Buch in den Druck geht, ist die große Finanzkrise noch längst nicht vorbei. Ihr Gravitationszentrum lag 2007 bis 2009 an der Wall Street und in der City of London, wanderte von dort 2010 weiter in die Eurozone und 2015 in die Schwellenländer einschließlich China. Die anhaltende Krise hat dazu geführt, dass sich über alle Kontinente hinweg große öffentliche Wut entlud, hauptsächlich auf Banker_innen bei privaten Instituten. Aber der öffentliche Ärger richtet sich zunehmend auch auf das politische und technokratische Establishment, das aktiv die Interessen der Finanzleute schützt: Politiker_innen und Technokrat_innen, die ihre Theorie vom »freien Markt« über den Haufen geworfen und Privatpersonen, die Finanzrisiken eingegangen sind, vor der Disziplin der Marktkräfte und der Herrschaft des Gesetzes geschützt haben. Die Menschen empören sich, in welchem Ausmaß private Verluste verstaatlicht und private und öffentliche Gelder und Garantien verteilt wurden, um Banker_innen und das Finanzsystem insgesamt zu retten. In Großbritannien ist aus dem Ärger über die Verursacher_innen dieser schweren Krise die Bewegung für »Vollgeld« entstanden und hat eine bemerkenswerte Koalition von Bankgegner_innen unter ihrer Flagge versammelt. Die Koalition besteht aus Marxist_innen, linken und »grünen« Aktivist_innen auf der einen

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Seite; ihnen gegenüber Seite stehen Anti-Keynesianer_innen, Monetarist_innen, orthodoxe Wissenschaftler_innen und Mitarbeiter_innen der Zentralbank. Die zentrale Forderung der Bewegung lautet, dass die Geldversorgung eines Landes verstaatlicht werden sollte und die Banken die Macht zur Kreditschöpfung verlieren sollten. Diese Macht sollte stattdessen einem Gremium von Technokrat_innen bei der Zentralbank übertragen werden. Nach umfassenden Konsultationen würde dieses Gremium den Finanzbedarf einer Volkswirtschaft festlegen – Mary Mellor, Verfasserin des Buchs Debt or Democracy (Schulden oder Demokratie), bezeichnet das als »demokratisch beschlossene Versorgung«.1 Das Gremium würde dann schuldenfrei die Geldmenge schöpfen – und gelegentlich anpassen –, die nötig ist, um den Finanzbedarf des Landes zu decken. Banker_innen wären Vermittler_innen zwischen Sparer_innen und Geldgeber_innen. Hohe Zinsen machen der Bewegung keine Sorgen, sie erscheinen ihr eher als nützlich, weil sie als Bremse für die Kreditvergabe wirken. Sie interessiert sich auch wenig für Finanzflüsse über Grenzen hinweg und die Auswirkungen solcher Flüsse auf die heimische Wirtschaftspolitik. Die Bewegung für Vollgeld bekommt auch durch Vertreter des Establishments Unterstützung, wie Lord Adair Turner vom Institute of New Economic Thinking (INET ) und Martin Wolf von der Financial Times. Wolf hat gesagt, »Vorschläge, privates, durch Schulden geschaffenes Geld durch staatlich geschaffenes zu ersetzen, sind absolut praktikabel und würden erhebliche Vorteile bringen«.2 Obwohl ich gleich Einwände gegen ihre Vorschläge im Einzelnen vorbringen werde, stelle ich doch ganz klar fest, dass wir den heutigen Geldreformer_innen danken müssen. Sie nehmen skrupellose, gierige Banker_innen ins Visier. Sie initiieren eine öffent1 2

Mellor, Debt or Democracy. Wolf, The Shifts and the Shocks.

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liche Debatte über einen zentral wichtigen Bereich der Politik. Und sie graben Wissen über die Geldschöpfung und das Geldsystem aus, das lange unentdeckt auf dem Feld der »Agnotologie« schlummerte: der Beschäftigung damit, wie Unwissenheit produziert wird, dem Studium des Vergessenen und Verlorenen.3 Dabei versteht man, wie bereits erklärt, die Geldschöpfung schon seit Langem. John Law, der schottische Genius, wusste schon im 18. Jahrhundert, wie Kredit- oder Bankengeld funktionierte. Berühmt (und berüchtigt) ist er für sein bewegtes Privatleben und für Ereignisse in den 1720er Jahren in Frankreich, die sich seiner Kontrolle entzogen. Aber er besaß ein viel besseres Verständnis für Geld als sein gefeierter Landsmann Adam Smith. Laws Bücher Money and Trade: With a Proposal for Supplying the Nation with Money (1705) und Essay on a Land Bank (1720) bereiteten den Weg für die entwickelten Geldsysteme der heutigen Zeit.4 Auch die Präsidenten Thomas Jefferson (1743–1826) und Abraham Lincoln (1809–1861) verstanden, was es mit Geld auf sich hat, und hegten eine gesunde Furcht vor der Wall Street oder »der Geldmacht«, wie Lincoln es nannte. Doch wie Keynes, Schumpeter, Minsky und Galbraith hatten sie es schwer, ihren Kollegen in der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft ihr Verständnis von Geld und Kredit zu vermitteln. Angesichts der außerordentlichen Schwierigkeiten vieler Mainstream- und orthodoxer Ökonom_innen, anzuerkennen, dass Bankkredite Guthaben schaffen, stellen jene, die heute die Geldschöpfung reformieren wollen, wieder die richtigen Fragen: Warum weiß die Allgemeinheit so wenig über Geldschöpfung und das Geldsystem? Wer hat dafür gesorgt, dass sie unwissend ist? Und warum haben Wirtschaftswissenschaftler_innen des Mainstreams einen blinden Fleck, wenn es um das Verständnis von Kredit, Geld, Banken und Schulden geht? Vor allem aber fra3 4

Siehe dazu Proctor/Schievinger, Agnotology. Murphy, John Law, S. 108.

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gen die Geldreformer_innen: Warum hat das Bankensystem der Gesellschaft so gewaltige, drückende Schulden aufgeladen, einen Schuldenberg, der immer wieder zu »Krisen in der Finanzwelt und realen Krisen« führt? Das sind grundlegende Fragen, die auf die Arroganz und Inkompetenz der Wirtschaftswissenschaftler_innen zielen und das Establishment im Finanzsektor und in der Politik herausfordern, das für die dauernden Krisen verantwortlich ist. Ich teile viele Sorgen der Bewegung über Banken, die keinerlei Kontrolle unterliegen, und hohe, nicht tragfähige Niveaus privater Schulden. Aber ich widerspreche ganz entschieden ihren Vorschlägen, wie man diese Probleme angehen soll. Ich fürchte, sie drehen die Uhr zurück und führen viele in eine intellektuelle Sackgasse. Das wird nur den allgemeinen Ärger und die Frustration erhöhen, während gleichzeitig die Schuldigen an den Finanzkrisen – und ihre Freund_innen in der ökonomischen Zunft – ungeschoren davonkommen. All jene, die für eine Reform der Geldschöpfung kämpfen, befürworten eine bestimmte Art »neoklassischer ökonomischer Lehre«, die in den 1930er Jahren rückwärtsgewandt erschien und in den 1970er und 1980er Jahren verhängnisvoll. Diese Ideen waren lange diskreditiert, auch wenn sie heute immer noch von führenden Ökonom_innen vertreten werden. Wenn die Reformer_innen also im Dickicht der ökonomischen Politik und Theorie ihren Weg verlieren, liegt das (nach meinem Dafürhalten) in erster Linie an der wirtschaftswissenschaftlichen Profession. In diesem Buch habe ich zu erklären versucht, wie ein solides und gerechtes Geldsystem funktionieren könnte, das den Interessen der Gesellschaft insgesamt dient. In diesem Kapitel werde ich auf spezielle Themen und Probleme eingehen, die die Bewegung für eine Geldreform aufgeworfen hat.

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Die Ziele der Initiative Oberstes Ziel der Geldreformer_innen ist es, den Banken die Macht der Geldschöpfung zu entziehen und stattdessen, wie die Soziologin Mary Mellor schreibt, »öffentliche Kontrolle über eine schuldenfreie Geldversorgung« herzustellen. Die Krise, so Mellor, »zeigt, dass die souveräne Macht der Geldschöpfung in den Dienst des Bankensystems gestellt wurde statt in den Dienst des Volkes. Die Zeit ist reif, dass das Volk dieses souveräne Recht zurückfordert und Schulden durch Demokratie ersetzt.«5 Die Nichtregierungsorganisation Positive Money geht in ihrer Veröffentlichung Creating a Sovereign Monetary System noch weiter: »Die Zentralbank wäre ausschließlich dafür verantwortlich, so viel neues Geld zu schöpfen, wie nötig ist, um inflationsfreies Wachstum zu unterstützen. Sie würde die Geldschöpfung direkt kontrollieren, statt über die Zinssätze die Kreditaufnahme und die Geldschöpfung der Geschäftsbanken zu beeinflussen (wie es gegenwärtig der Fall ist). Entscheidungen hinsichtlich der Geldschöpfung würden [in Großbritannien A. P.] unabhängig von der Regierung durch einen neu zu gründenden Geldschöpfungsausschuss getroffen (oder durch den bestehenden geldpolitischen Ausschuss). Dieses Gremium wäre dem Finanzausschuss des Unterhauses rechenschaftspflichtig, einem parteiübergreifenden Ausschuss von Parlamentsangehörigen, die die Handlungen der Bank of England und des Schatzamts überwachen. Der Ausschuss würde nicht länger Zinssätze festlegen, sie würden sich künftig auf dem Markt bilden.«6 Mary Mellor, die mit den Anhänger_innen von Positive Money übereinstimmt, schreibt: 5 6

Mellor, Debt or Democracy, S. 13. Positive Money, Creating a Sovereign Monetary System, S. 8. Hervorhebung der Autorin.

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»Der einfachste Weg, von den Banken geschaffene Schulden und ihre Wachstumsdynamik zu überwinden, besteht darin, dem Bankensystem das Recht zu entziehen oder stark zu begrenzen, dass es neues Geld in der nationalen Währung ausgibt. Die Banken würden wieder auf das beschränkt, was sie nach der Einschätzung der meisten Menschen tun: das Geld von Sparer_innen an Kreditnehmer_innen auszuleihen. Statt durch von der Bank ausgegebene Schulden Geld zu schaffen, sollte neues Geld durch staatliche Geldbehörden ausgegeben werden, ohne Schulden und direkt an die Wirtschaft zur Befriedigung öffentlicher Bedürfnisse.«7 Doch anders als die Initiative Positive Money plädiert Mary Mellor für eine stärker »partizipatorische und deliberative Demokratie«: »Die ausschließliche Kontrolle über das öffentliche Geld darf nicht in den Händen der amtierenden Regierung oder des Staatsapparats liegen. Weder der öffentliche noch der private Finanzbereich ist vor Unterschlagung und Korruption gefeit. Die Schöpfung von staatlichem wie von kommerziellem Geld muss transparent und nachprüfbar sein. Die Wirtschaftsdemokratie muss mehr umfassen als die amtierende Regierung […]. Die Beteiligung der Öffentlichkeit an Entscheidungen über die Allokation von Geld wäre eine Zeitenwende im Hinblick darauf, was Demokratie bedeutet.«8 In Anbetracht der Bedeutung ihrer Mission ist es bedauerlich, dass die Lösungen, die die Befürworter von Vollgeld anbieten, auf die überholte »Quantitätstheorie des Geldes« zurückgreifen, die Jean Bodin 1560 entwickelt hat und die von David Hume, John Stuart Mill und anderen weiter ausgearbeitet wurde. Joseph Huber, der die Reformvorstellungen der NRO Positive Money unterstützt, schreibt auf seiner Website:

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Mellor, Debt and Democracy, S. 69. Ebenda.

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»Die Quantitätstheorie des Geldes, eines der ältesten und am besten belegten Elemente der Ökonomie, ist so wichtig wie eh und je. Ihr zufolge ist die Kontrolle der Geldschöpfung der Schlüssel zu einem soliden Geldsystem und stabilen Finanzen […] Die Aufgabe des Vollgelds ist die vollständige Kontrolle über die Geldschöpfung, um dafür zu sorgen, dass sich eine dem Wachstum angemessene Menge Geldes im Umlauf befindet, und die Klippen einer Inflation durch lockeres Geld/ Vermögenspreisinflation auf der linken Seite des politischen Spektrums ebenso zu vermeiden wie die Untiefen einer Deflation infolge knappen Geldes auf der rechten Seite.«9

The Chicago Plan Revisited »Vollständige Kontrolle der Geldmenge« ist eine Herkulesaufgabe. Geleistet werden soll sie von einer kleinen Gruppe von Technokrat_innen an der Spitze der Zentralbank, die eine Volkswirtschaft beaufsichtigen, in der jeden Tag Millionen von Transaktionen stattfinden. Dieses anspruchsvolle Ziel verfolgte auch der Chicago Plan, eine Ausformung der Quantitätstheorie für »solides Geld und stabile Finanzen«, den Henry Simons und Irving Fisher 1933 formulierten. Die damalige amerikanische Regierung ignorierte ihn, hauptsächlich auf Empfehlung von John Maynard Keynes. In seinem »Offenen Brief an Präsident Roosevelt« griff Keynes im Dezember 1933 die Quantitätstheorie scharf an: Die andere Gruppe von Irrtümern, deren Einfluss ich fürchte, entspringt einer primitiven Wirtschaftsdoktrin, die gemeinhin als die Quantitätstheorie des Geldes bekannt ist. Steigende Produktion und zunehmende Einkommen werden früher oder später einen Rückschlag erleiden, wenn die Geldmenge 9

Huber, Sovereign Money in Critical Context.

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starr fixiert ist. Manche Menschen scheinen daraus abzuleiten, dass Produktion und Einkommen dadurch erhöht werden können, dass man die Geldmenge ausweitet. Doch dies ist wie wenn man versucht, dick zu werden, indem man einen weiteren Gürtel kauft. In den Vereinigten Staaten ist ihr Gürtel heute reichlich weit genug für Ihren Bauch. Es ist äußerst irreführend, wenn man die Geldmenge betont, die nur ein begrenzender Faktor ist, anstelle der realen Ausgaben, die den Handlungsparameter darstellen.10 Wie es aussieht, war das nur ein vorübergehender Rückschlag, denn der Chicago Plan aus dem Jahr 1933 hat erstaunlicherweise überlebt. 2012 holten zwei Volkswirte des IWF ihn wieder aus der Schublade, Michael Kumhof (der inzwischen bei der Bank of England arbeitet) und Jaromir Beneˇs. Sie belebten die Diskussion neu in einer Veröffentlichung mit dem Titel The Chicago Plan Revisited.11 Weil Kumhof und Beneˇs anerkannten, dass Banken »durch zusätzliche Bankkredite geschaffene Guthaben« zur Verfügung stellen, begrüßten Anhänger des Vollgelds die Veröffentlichung begeistert, als wäre sie ein radikal neuer Vorschlag. Sehr bald wurden die Ideen von Simons und Fisher in die zivilgesellschaftliche Bewegung für Positive Money in Großbritannien integriert und von etlichen Aktivist_innen der Zivilgesellschaft, Wirtschaftsprofessor_innen, Journalist_innen und Thinktanks übernommen. Der ursprüngliche Chicago Plan entstand aus berechtigtem Ärger nach dem Börsenkrach 1929 und der anschließenden Weltwirtschaftskrise. Simons und Fisher hatten unmittelbar Erfahrungen mit dem billigen Geld der 1920er Jahre gesammelt und wussten, welche Rolle die skrupellose Kreditvergabe von Banken dabei gespielt hatte, die Vermögenspreisinflation, die Euphorie am Aktienmarkt und die allgemeine Manie anzufachen. Sie schlugen vor, 10 11

Keynes, Offener Brief an Präsident Roosevelt. Kumhof/Beneˇs, The Chicago Plan Revisited.

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private Banken sollten kein Geld mehr schöpfen können. Aber ihre Theorie und ihr Plan ruhten auf wackeligen theoretischen Fundamenten.12 Erstens glaubten Simons und Fisher (und viele glauben es bis heute), dass Geld für sich genommen keinen Wert hat. In ihren Augen ist es nur ein Mechanismus, um Transaktionen abzuwickeln, ein »Schleier«, der über die wirklich wichtigen wirtschaftlichen Aktivitäten gebreitet wird: die Transaktionen zwischen Händler_innen und Unternehmer_innen. Sie unterschieden zwischen der Geldfunktion (Banknoten und Münzen, die von der Regierung ausgegeben werden), den »Reservebeständen« des Staates, die sie als »Geld« definierten, und der (privaten) Kreditfunktion. Sie schienen anzunehmen, dass Letztere von den beiden Ersteren getrennt werden könnte.13 Auf der einen Seite erkannten Simons und Fisher an, dass Banken während eines Kreditbooms »ihr eigenes Geld« schöpfen. Auf der anderen Seite widersprachen sie dieser Feststellung mit der Aussage, dass alles Geld letztlich »vom Staat ausgegebenes Geld« ist.14 Nach diesem Verständnis wird die Geldmenge von der Zentralbank festgesetzt, sodass zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Geldmenge zur Verfügung steht. Veränderungen der Geldmenge in der Wirtschaft führen zu anderen wirtschaftlichen Veränderungen, insbesondere Veränderungen beim Nationaleinkommen in Form von höheren Preisen. Wie frühere Anhänger der Quantitätstheorie rangen auch Simons und Fisher darum zu verstehen, wie Kredit in ihre Theorie des »von der Regierung ausgegebenen« Geldes passte beziehungsweise in ihre Theorie einzufügen war. Seine Existenz erkannten sie jedoch an. Wohler fühlten sie sich mit greifbarem Geld – vom Staat gedruckten Banknoten und geprägten Münzen – und mit der Vorstellung von Geld als »Reserve«, die vom Staat emittiert 12 13 14

Ebenda. Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 6.

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wird. Geld in Form von Bankguthaben, die als Ergebnis einer Kreditvergabe entstanden waren, besaß aus ihrer Sicht keine staatliche »Reservedeckung«. Beneˇs und Kumhof, die diese Ideen aufgriffen, konnten darum argumentieren, dass nach ihrer neuen Version des Chicago Plan »die Geldmenge und die Kreditmenge vollkommen unabhängig voneinander sein« würden.15 Zweitens nahmen Simons und Fisher an, dass Banken eigenständig ihre eigenen Mittel schöpfen. In dieser Sichtweise gibt es im Prozess der Kreditschöpfung keinen Raum für Kreditnehmer_innen und ihr Handeln. Impulse von Firmen oder Konsument_innen für Investitionen oder Ausgaben spielen keine Rolle, ebenso wenig die allgemeine Wirtschaftspolitik, die die Rahmenbedingungen für das wirtschaftliche Handeln festlegt. Eine Nation euphorischer Kreditnehmer_innen hat ebenso wenig Platz wie eine Nation verunsicherter Kreditnehmer_innen, denen das Vertrauen fehlt. Und es ist kein Platz für hohe Zinssätze auf sichere oder riskante Kredite oder für produktive oder spekulative Aktivitäten, die Krisen fördern. Und schließlich ist kein Platz für die Einkommen und Beschäftigung schaffenden Aktivitäten, die durch Bankkredite generiert werden. Stattdessen gibt es nur die Annahme, dass ausschließlich die Banken für die Expansion der Geldmenge in Boomzeiten verantwortlich sind und dass sie dieses Geld gezielt wieder zerstören, wenn sie in Zeiten eines Abschwungs die Geldmenge verkleinern. Drittens lehnen klassische Ökonom_innen zwar die »primitive Auffassung von Geld als Ware« ab, trotzdem stellen sie sich die Geldmenge als potenziell knapp oder übergroß vor, genau wie es bei Waren Überfluss und Knappheit geben kann.16 Beneˇs und Kumhof sagen, das Verhalten der Banker_innen könne zu »Überfluss oder Knappheit« der Geldmenge führen und das wiederum je nachdem zu Inflation oder Deflation. Sie konzentrieren sich ganz 15 16

Ebenda, S. 5. Ebenda, S. 13.

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auf das Verhalten der Banker_innen und ignorieren dabei den regulatorischen Kontext: die »Regulierung mit leichter Hand«, die staatliche Stellen bei der Kreditvergabe von Banken praktizieren. Sie ignorieren auch, inwieweit Firmen oder Einzelpersonen willens sind oder nicht, sich Geld zu leihen, und welche Rolle sie für die Expansion oder Kontraktion der Geldmenge spielen. Und sie diskutieren und analysieren ebenfalls nicht die allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen Banken Kredite vergeben. Bei diesem Ansatz, der sich ausschließlich auf die Geldmenge konzentriert, spielt es keine Rolle, wofür ein Kredit gewährt wird. Stattdessen wird angenommen, dass die Ausweitung oder Kontraktion der Kreditmenge eine Willkürentscheidung der Banken ist. Würde man die Geldversorgung verstaatlichen, so heißt es, wären die Regierungen in der Lage, das Bankensystem zu umgehen und könnten auf diese Weise Engpässe verhindern und die Geldmenge vergrößern. Nebenbei sei angemerkt, dass Milton Friedman Simons’ Ideen übernommen und in sein Plädoyer für eine straffe Fiskalpolitik in Zeiten einer wirtschaftlichen Schwäche integriert hat. Friedman sprach sich für »fiskalische Regeln« aus, die wie das Vollreservesystem von Simons und Fisher heute wieder überraschend in Mode sind. David Smith erklärt in seinem Buch The Rise and Fall of Monetarism, dass Friedman 1948 in einem Paper für das Vollreservesystem plädiert habe, bedeute »zu fordern, dass in den hoch entwickelten Volkswirtschaften die Uhr wieder auf die Zeit zurückgestellt werden soll, als die Banken nur dann Geldscheine ausgeben konnten, wenn sie durch eine genau entsprechende Menge Gold in den Tresoren gedeckt waren. Das zweite Element war, dass [Friedman A. P.] der Fiskalpolitik eine gleichrangige Rolle bei der Steuerung der Wirtschaft zuschrieb […], allerdings eine Rolle, die mehr auf strengen Regeln basierte als auf Ermessen.«17 17

Smith, The Rise and Fall of Monetarism, S. 13.

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Friedman sagte später, weder Ausgabenprogramme noch Strukturen des Steuersystems sollten als Reaktion auf zyklische Veränderungen der wirtschaftlichen Aktivitäten verändert werden.

Überfluss und knappes Geld Bei der Geldtheorie von Simons und Fisher ging es vorrangig um den Einsatz von Geld bei Transaktionen. Sie waren blind für eine wichtige Erkenntnis von Keynes, mit der er die Geldtheorie revolutioniert hatte: dass Geld auch dazu verwendet werden kann, um damit zu spekulieren. Das ist eine deutlich andere Rolle als der Einsatz von Geld beim Kaufen und Verkaufen. So kann es zwar sein, dass Bankkredite (Geld) zu erschwinglichen Zinssätzen für den Kauf von Solarpaneelen »knapp« sind, aber gleichzeitig eine »Geldflut« zu hohen Zinssätzen für Spekulationen zum Beispiel auf dem Londoner Immobilienmarkt zur Verfügung steht. Die Debatte über die Geldmenge, über Inflation und die Rolle von Banken würde sehr anders verlaufen, wenn die regulatorischen Vorschriften auf der einen Seite die Kreditvergabe für Immobilienspekulationen verbieten und auf der anderen Seite die Kreditvergabe für den Kauf von Solarpaneelen fördern würden – wie Lord Adair Turner vom Institute of New Economics argumentiert hat. Weil man sich ganz auf die Ursprünge des Geldes als Mittel konzentrierte, um Waren und Dienstleistungen zu erwerben, erhielt Geld in der Rolle als Wertspeicher von den Monetaristen der 1930er Jahre nicht die gleiche Aufmerksamkeit. Und auch die heutigen »Geldreformer_innen« schenken diesem Aspekt nicht sehr viel Aufmerksamkeit. Es gab und gibt wenig Diskussion darüber, was man von geliehenem Bankengeld halten soll, das in Investitionen fließt, die einen Mehrwert generieren: Kapital. Kapital kann zuerst in Form von Bargeld gehalten werden, dann zur Absicherung in sichere Anlagen investiert oder drittens zu

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spekulativen Zwecken eingesetzt werden. Für die meisten klassischen Ökonom_innen und für ihre heutigen Anhänger_innen ist die Frage, wie man Kapital und die grenzüberschreitenden Kapitalflüsse kontrolliert, ein Thema von drittrangiger Bedeutung. Die Verfechter_innen von Vollgeld machen sich keine großen Gedanken über Offshore-Kapital und Kapitalmobilität, obwohl sie natürlich gegen Steueroasen und Steuerflucht sind. Erratische, spekulative Geldflüsse über Grenzen hinweg gefallen zwar internationalen Investor_innen und Gläubiger_innen, berauben aber die politisch Verantwortlichen im Land ihrer Autonomie und verhindern, dass sie politische Entscheidungen treffen können, die den Interessen und dem Wohlergehen der jeweiligen Bevölkerung insgesamt nützen. Solche Offshore-Geldflüsse führen natürlich zu Steuervermeidung, darüber hinaus auch zu schädlichen Schwankungen der Wechselkurse (»Währungskriege«), die insbesondere für arme Länder gefährlich sind. Vor allem aber verhindert die Mobilität des Kapitals, dass die politischen Instanzen eines Landes durch die Festsetzung angemessener Zinssätze (für produktive Kreditvergabe über das ganze Spektrum kurz- und langfristiger Kredite unter Berücksichtigung der Inflation) Einfluss auf die Wohlstandsentwicklung nehmen können. Es ist bedauerlich, dass dieser Schlüsselaspekt eines Finanzsystems, den Keynes als fundamental erachtete, von den heutigen Geldreformer_innen ignoriert wird. Dass es auf Geldmenge ankommt, wird wiederholt, wenn Fisher und seine heutigen Anhänger_innen ein weiteres Missverständnis wiedergeben, das im Zentrum der monetaristischen und österreichischen Schule (die orthodoxen Ökonom_innen der österreichischen Schule, die die Makroökonomie ablehnen) steht. Es ist die Annahme, dass die aggregierte wirtschaftliche Aktivität entweder zu Stabilität neigt oder auf ein Gleichgewicht zwischen Angebot der Nachfrage zusteuert und in der Folge Vollbeschäftigung herrscht. Nach dieser Sichtweise können staatliche Stellen

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nur wenig tun, um das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität zu verändern oder zu verbessern. Es bleibt stattdessen der »unsichtbaren Hand« überlassen, die Wirtschaft zu Vollbeschäftigung zu führen. Nach dieser Auffassung sind höhere Preise und Inflation die Folge, wenn die für ein bestimmtes Niveau der wirtschaftlichen Aktivität veranschlagte Geldmenge zu groß ist. Die Lösung besteht nach Überzeugung der Monetarist_innen darin, die Geldmenge zu verkleinern. Doch die aggregierte wirtschaftliche Aktivität (und ganz besonders die Beschäftigung) ist niemals fest und stabil. Sie wächst und geht zurück, nicht nur in Abhängigkeit von der Geldmenge, sondern abhängig von allgemeinen wirtschaftlichen Bedingungen, die von der Regulierung durch den Staat und die Zentralbank sowie durch die Fiskal- und Geldpolitik beeinflusst werden. Während Keynes dafür plädierte, regulatorische, geldpolitische und allgemein wirtschaftspolitische Bedingungen festzulegen, mit dem Ziel, optimale Niveaus von Beschäftigung und Wohlstand zu erreichen, wollten seine Gegner_innen inklusive Milton Friedman die aggregierte wirtschaftliche Aktivität und das Problem der Arbeitslosigkeit lieber der »unsichtbaren Hand« des Marktes überlassen. Sie konzentrierten sich stattdessen ganz auf die Geldmenge, die der Staat ausgeben sollte. Diese Fixierung und dieser Ansatz erlaubten den Monetarist_innen in den 1980er Jahren, das Handeln privater Banken zu vernachlässigen und zu deregulieren. Sie richteten ihren Fokus vielmehr auf die staatliche Geldmenge, verkörpert durch die Staatsausgaben. Beneˇs und Kumhof erinnern uns, dass einer der wichtigsten Berater von Margaret Thatcher, der Ökonom Milton Friedman von der Chicagoer Schule, in seinen späteren Werken eine diametral entgegengesetzte Position zu Simons und Fisher einnahm: »Sie befürworteten mehr staatliche Kontrolle über die Geldschöpfung durch mehr Kontrolle über die Kreditvergabe der Banken. Friedman lag genau das Gegenteil am Herzen, ihm ging es darum, den Staat auf feste Regeln zu ver-

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pflichten, um ihn daran zu hindern, dass er sich in (private) Kreditbeziehungen einmischte.«18 Die Regierung Thatcher folgte der Neigung der FriedmanAnhänger_innen zu »festen Regeln« und der entsprechenden Geldpolitik und scheiterte katastrophal dabei, die Inflation unter Kontrolle zu halten. Es gab einen dramatischen Anstieg bei der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Zahl der Bankrotte.

Wucherzinsen Hohe Zinssätze, Wucherzinsen, sind in The Chicago Plan Revisited von historischem Interesse, scheinen aber für die Vorschläge der beiden Autoren wenig Bedeutung zu haben. Kumhof und Beneˇs sagen, die Zentralbanken hätten »nur ein einziges politisches Instrument, um Geld und Kredit zu beeinflussen, nämlich den Nominalzins auf kurz laufende Staatsanleihen«.19 Das muss nicht so sein, aber indem die Monetaristen und die heutigen Zentralbanken zugeben, dass sie nicht mehr tun können, setzen sie nur auf den Basiszins oder Leitzins, um die wirtschaftliche Aktivität zu beeinflussen. Kumhof und Beneˇs schreiben, dass in dieser Konstellation der Staat »als der einzige Emittent von Geld den Nominalzins auf die Reserven direkt kontrollieren kann […], und dieser Zins [wird] eins zu eins an die Besitzer von Guthaben weitergegeben«. Wieder ist es ein unbedachter blinder Fleck, dass ein Zinssatz im Vordergrund steht, der Besitzer_innen von Guthaben und Sparer_innen passt und nicht den vielen Millionen Kreditnehmer_innen – manche risikoreich, andere nicht –, die wirtschaftliche Aktivitäten finanzieren müssen. Wie die orthodoxen Ökonom_innen vernachlässigen auch die Geldreformer_innen die Festsetzung von Zinsen für Kredite 18 19

Kumhof und Beneˇs, The Chicago Plan Revisited, S. 19. Ebenda, S. 37.

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über das ganze Spektrum der Kreditvergabe hinweg. Und das in einer Zeit mit extrem niedrigen Zentralbanksätzen (0,5 Prozent im Vereinigten Königreich, 0,5 Prozent in den Vereinigten Staaten, 0,0 Prozent in der Eurozone, 1,75 Prozent in Australien, 0,0 Prozent in Japan). Die realen Zinsen hingegen auf Überziehungen und Kredite von Firmen, Arbeitnehmer_innen, Unternehmer_innen und Studierenden, die in der Realwirtschaft der jeweiligen Länder agieren, sind sehr hoch, was zu deflationärem Druck führen kann. (22 Prozent auf geduldete Überziehungen im Vereinigten Königreich, 4 Prozent auf Hypotheken mit fünfundzwanzigjähriger Laufzeit. Der durchschnittliche Aufschlag für Unternehmen gegenüber den Renditen von Benchmark-Staatsanleihen liegt bei guter Bonität bei 1,84 Prozent – real sehr hoch.) Diese Zinssätze schrecken von der Kreditaufnahme ab, wodurch die Investitionen und die Kaufkraft in einer Volkswirtschaft schrumpfen. Zu denen, die keine Wahl haben und sich zu solchen hohen Zinsen Geld leihen müssen, gehören kleine und große Firmen, Studierende mit wenig Geld und verzweifelte Immobilienkäufer_innen. In einem deflationären Umfeld steigen die realen Zinsen, während Einkommen, Erlöse und Cashflow real sinken. Enttäuschend ist auch, dass die »radikale« Bewegung der Geldreformer_innen so wenig Interesse daran zeigt, welche Rolle die Zinssätze bei der Entstehung von Schuldenbergen spielen. Wenn es keinerlei Steuerung gibt, führt Geld, das zu hohen Zinssätzen verliehen und hauptsächlich für spekulative Aktivitäten eingesetzt wird, zu Bergen uneinbringlicher Schulden und einem großen Überhang privater Schulden. Das gilt ganz besonders unter den Bedingungen von »Austerität«. Die Geldreformer_innen argumentieren zu Recht, dass ein solcher Überhang privater Schulden schlecht ist – gesellschaftlich, politisch, moralisch und ökonomisch. Deshalb sind hohe Realzinsen selbst bei niedrigen Leitzinsen kritikwürdig, und das System sollte reformiert und so gesteuert werden, dass die Zinsen über das gesamte Spektrum der Kreditvergabe hinweg niedrig sind.

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Bei klassischen und neoklassischen Ökonom_innen kann man erwarten, dass sie diesen wichtigen Aspekt der Geldtheorie und Geldpolitik vernachlässigen, weil sie den Interessen der Wohlhabenden zuneigen. Aber es ist enttäuschend bei einer zivilgesellschaftlichen Bewegung von Geldreformer_innen, die eine Kultur der Rücksichtslosigkeit und Korruption bekämpfen will.

Kreditnehmer_innen, nicht Banken, bestimmen über die Geldmenge Nach dem heute dominierenden Wirtschaftsmodell des »liberalen Finanzwesens« können Banken Kredit und Giralgeld aus dem Nichts schaffen. Doch eine (lizenzierte) Bank kann einen Kredit nur ausreichen, wenn ihr eine Bitte oder ein Antrag eines Kunden oder einer Kundin vorliegt. Mit anderen Worten: Jedes Mal, wenn eine Bankerin oder ein Schattenbanker Geldschöpfung betreibt, tut er oder sie das in Reaktion auf einen entsprechenden Kund_innenwunsch. Und an jedem Werktag gehen bei jeder Bank Hunderte oder gar Tausende solcher Bitten um Darlehen oder Überziehungskredite ein. So gesehen passiert die Geldschöpfung nicht von oben nach unten, ganz im Gegenteil. Alles Geld wird geschaffen (oder nicht geschaffen) in Reaktion auf eine Nachfrage von unten (oder das Fehlen von Nachfrage) – von Tausenden oder Millionen Kreditnehmer_innen, die in der Wirtschaft aktiv sind. Diese Kreditnehmer_innen haben die Macht, die Geldmenge zu beeinflussen. Natürlich können Geschäftsbanken einen Kreditantrag ablehnen oder einen solchen Zinssatz und solche Kreditbedingungen festlegen, dass der Kredit unwirtschaftlich wird. Ebenso können sie in unserem deregulierten System Kredite für skrupellose Spekulation vergeben. Dennoch und trotz der großen Macht der Geschäftsbanken ist das Geldsystem in gewisser Weise demokratisch. Die Geldschöpfung ist ein Prozess von unten nach oben, und damit er funktio-

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niert, »gehören immer zwei dazu«. Die Gesundheit und Profitabilität des Systems hängt davon ab, dass Einzelpersonen und Firmen bereit und in der Lage sind, das Risiko einzugehen und sich Geld von einer Bank oder einem Kreditgeber/einer Kreditgeberin zu leihen, um es für wirtschaftliche Aktivitäten einzusetzen. Wenn Einzelne und Unternehmen zögern, sich Geld zu leihen, insbesondere zu hohen Zinssätzen, wie es nach der Krise 2007 bis 2009 der Fall war, geht die Kreditmenge für wirtschaftliche Aktivitäten zurück. Die Folgen sind schwerwiegend: Investitionen und Beschäftigung brechen ein. Als Reaktion auf weniger Anträge auf Kredit und Geld üben die Banken und ihre Kund_innen einen deflationären Druck auf die Wirtschaft aus. Und wenn in einem Aufschwung die Nachfrage nach Krediten stärker steigt als die Kapazitäten der Wirtschaft – mit anderen Worten, wenn die Kund_innen zu viel Kredit beantragen und die Banken zu viel Kredit gewähren, Geld, mit dem zu wenigen Waren, Dienstleistungen und spekulativen Vermögenswerten hinterhergejagt wird –, wächst die Geldmenge. In dem Fall ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass exzessive Kreditaufnahme und Kreditschöpfung eine inflationstreibende Wirkung haben. Wenn Geld zu hohen realen Zinssätzen geliehen und verliehen wird, werden daraus sehr schnell uneinbringliche Schulden. Die Geldreformer_innen argumentieren ganz richtig: Ohne adäquate Regulierung kann geborgtes Geld für skrupellose Spekulation verwendet werden – die Art von Spekulation, die letzten Endes weltweite Finanzkrisen verursacht. (Seit der großen Finanzkrise wurde wenig getan, um solche leichtsinnige Kreditvergabe einzuschränken. Der weltweite private Finanzsektor ist seitdem vielmehr massiv gewachsen.) In Anbetracht der Verflochtenheit des weltweiten Finanzsystems können Krisen großen Schaden anrichten, schwere Verluste verursachen und Kreditnehmer_innen wie Kreditgeber_innen weltweit, aber auch vielen unschuldigen Menschen in der gesamten Volkswirtschaft und Gesellschaft, Kummer bereiten.

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Da die Geldschöpfung für leichtsinnige und manchmal katastrophale Spekulation genutzt werden kann und genutzt wird – ist es dann richtig, die Abschaffung aller privaten Geldschöpfung zu fordern? Zu verlangen, dass alle Entscheidungen über die Geldmenge zentral getroffen und Banken bei der Kreditvergabe und Unternehmen sowie Privatleute bei der Kreditaufnahme eingeschränkt werden? Meine Antwort lautet Nein, und zwar aus folgendem Grund: Wenn Einzelpersonen bei Banken Kredit beantragen, findet eine »Beteiligung der Allgemeinheit an Entscheidungen über die Allokation von Geld statt«, um Mary Mellor zu zitieren; wenn der Kredit bewilligt wird, wächst dadurch die Geldmenge. Die Beteiligung der Allgemeinheit auf der Mikroebene an der Geldschöpfung eines Landes aufzuheben und die Macht stattdessen auf ein kleines Gremium von Personen an der Spitze einer Zentralbank zu übertragen, wäre nach meinem Dafürhalten ein Schritt auf dem Weg in eine Autokratie. Außerdem würde man große finanzielle und wirtschaftliche Macht in die Hände einiger weniger Technokrat_innen legen, die mehrheitlich von der orthodoxen ökonomischen Lehre durchdrungen sind, würde man die Kontrolle über die Geldmenge mit der einzigen Einschränkung durch das »Inflationsziel« bei einem solchen Gremium konzentrieren. Die orthodoxe Lehre war schuld daran, dass diese Technokrat_innen vor und während der Krise von 2007 bis 2009 allesamt in ihrer Rolle als »Hüter_innen der Finanzen des Landes« versagten. Fast alle Technokrat_innen, die heute in den Zentralbanken tätig sind, haben inadäquat auf die Krise reagiert. Sie haben bei der Aufgabe versagt, das weltweite Finanzsystem umzustrukturieren, angemessen neu zu regulieren und damit zu stabilisieren, und haben nach ihrem eigenen Eingeständnis die wachsende weltweite Ungleichheit noch verschärft. Das wiederum hat dazu geführt, dass Populismus und Extremismus auf dem Vormarsch sind – die sehr reale, schwere Bedrohungen für Gesellschaften und Volkswirtschaften darstellen. Viele solcher nicht rechenschaftspflichtiger Technokrat_innen werden

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dazu eingesetzt, heimlich, unter nicht durchschaubaren Bedingungen, geldpolitische Maßnahmen durchzuführen. Ihnen noch mehr Macht zu geben, würde zur Folge haben, dass man die gewählten Gesetzgeber noch weniger zur Verantwortung ziehen könnte, und damit das Demokratiedefizit noch vergrößern. Tatsächlich sollten ein demokratischer Staat und seine Zentralbank die despotische Macht lieber beseitigen, die Banker_innen durch die Deregulierung gewonnen haben und dadurch, dass die Ökonom_innen passenderweise ihren Aktivitäten wenig Beachtung schenkten. Stattdessen sollten die Staaten die Macht derjenigen stärken, die in der Realwirtschaft aktiv sind, das heißt, »die Macher_innen« gegenüber den Geschäftsbanken stärken, die Unternehmer_innen und Arbeitnehmer_innen, die Arbeitsplätze schaffen, Dienstleistungen anbieten und riskante Innovationen in Angriff nehmen. Ein demokratischer Staat sollte betonen, dass sich die Macht von Banken und Kapitalmärkten nahezu vollständig von den öffentlichen Gütern und Dienstleistungen ableitet, die Regierungen und ihre Zentralbanken erbringen. Und weil die Geldschöpfung sich von jeder anderen wirtschaftlichen Aktivität und jedem Unternehmen unterscheidet, müssen demokratische Regierungen und ihre Staatsdiener_innen als »Hüter_innen der Finanzen eines Landes« das von den Steuerzahler_innen gedeckte private Bankensystem im Interesse der gesamten Gesellschaft steuern und regulieren. Das Ziel muss sein, Kreditvergabe zu spekulativen Zwecken weitgehend zu verhindern und Entscheidungen über die Verfügbarkeit von Investitionskapital und die Höhe von Zinssätzen so zu regulieren, dass »die Macher_innen« nicht diskriminiert werden. Geld und Zinsen sollen vielmehr den Interessen der Gesellschaft, der Wirtschaft und des Ökosystems insgesamt dienen.

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Private Defizite können wirtschaftliche Aktivitäten nicht finanzieren Das Mindestreservesystem, das die Geldreformer_innen favorisieren, impliziert, dass Banken nur die Ersparnisse oder Einlagen für Kredite verwenden können, die in ihren Tresoren lagern. Aus der jüngsten Erfahrung wissen wir, dass der private Sektor ins Defizit rutschen kann: dass die Ausgaben des privaten Sektors die Einkommen übersteigen können, was zu einem Einbruch bei den Ersparnissen führt. 2003 erklärte Professor Wynne Godley, wie die finanzielle Balance des privaten Sektors in den Vereinigten Staaten von »seiner historisch normalen Spanne von 3 bis 4 Prozent des BIP auf ganz ungewöhnliche minus 5,5 Prozent des BIP im dritten Quartal des Jahres 2000 [fiel] und im vierten Quartal des Jahres 2002 immer noch bei minus 1,1 Prozent lag, was bedeutete, dass die privaten Ausgaben weiterhin höher waren als die privaten Einkommen«.20 Unter diesen Umständen und mit den von Befürworter_innen von Vollgeld vorgeschlagenen Reformen bedeuten negative Sparquoten, dass die Kreditvergabe in entsprechendem Umfang schrumpfen muss. Einige Reformer_innen empfehlen, dass die Banken dann einfach ihre Zinsen erhöhen sollten, um Geld der Sparer_innen anzulocken. Das impliziert ohne Zweifel, dass die Zinsen auf neue Kredite ebenfalls höher sein müssten, um die höheren Finanzierungskosten zu kompensieren. Alternativ könnte der vorgeschlagene Geldschöpfungsausschuss »übereinkommen, neues Geld zu schöpfen und den Banken zu leihen mit der Vorgabe, dass dieses Geld an Unternehmen weiterverliehen wird, die zum BIP beitragen (und nicht für Hypotheken und Finanzspekulation)«.21 Doch insgesamt würde das Prinzip des Vollreservesystems vorherrschen, und man könnte sich nicht darauf 20 21

Professor Wynne Godley in Kap. 19 von Pettifor (Hg.), Real World Economic Outlook, S. 178. Hervorhebung der Autorin. Dyson/Jackson/Hodgson, Creating A Sovereign Monetary System.

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verlassen, dass die Mitglieder des Geldschöpfungsausschusses willens wären, »neues Geld« für das Bankensystem »zu schöpfen«. Die mit der Untersuchung der jüngsten Finanzkrise beauftragte Unabhängige Bankenkommission im Vereinigten Königreich hat argumentiert, dadurch würden unweigerlich die Kreditzinsen steigen, aber es würde auch die Kreditvergabe im Bankensystem einschränken. Die Folge wäre eine beispiellose Kontraktion der wirtschaftlichen Aktivität – Beschäftigung, Investitionen und Ausgaben – auf das Niveau der vorhandenen, unweigerlich knappen Ersparnisse (und in manchen Ländern steht noch sehr viel weniger Erspartes zur Verfügung). Diese Haltung hatte man in der Zeit des Goldstandards vertreten, der zur Weltwirtschaftskrise führte: Die wirtschaftliche Aktivität, Beschäftigung und die Staatsausgaben wurden zurückgefahren, bis sie dem Wert einer begrenzten und manchmal noch schrumpfenden Menge von Goldbarren entsprachen, die bei der Zentralbank lagerten. In dem vorgeschlagenen Vollgeldsystem würde Geld oder Investitionskapital wieder knapp sein. Die Knappheit würde die Zinsen auf vorhandene Ersparnisse auf Rekordniveaus treiben, wie die Positive-Money-Anhänger Andrew Jackson und Ben Dyson in ihrem Buch Modernising Money schreiben. Sie würde auch all jenen mehr Macht und mehr Reichtum bringen, die das Glück hatten, Ersparnisse ansammeln zu können. Steigende Arbeitslosigkeit, Krisenerscheinungen und wirtschaftliche Zusammenbrüche würden die Menge der Ersparnisse in der Volkswirtschaft weiter schrumpfen lassen. Das kann man nicht als eine radikale, fortschrittliche Theorie oder Politik bezeichnen. In einer Demokratie sind die Regeln, nach denen Geld geschöpft wird, unglaublich wichtig für den Wohlstand und für die soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Und ja, es ist richtig zu sagen, dass zu viel Kredit, der beispielsweise in Spekulationen auf dem Londoner Immobilienmarkt fließt, inflationstreibend wirken kann und zu wenig Kredit deflationär. Aber das liegt nicht an der

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Quantität des Geldes, sondern vielmehr an der Qualität der Kreditvergabe: an den Bedingungen und Vereinbarungen, die die »Hüter_innen der Finanzen des Landes« für das Funktionieren des Geldsystems festsetzen, damit es Wohlstand für alle bringen kann, die in der Volkswirtschaft aktiv sind – und nicht nur für ein paar wenige, die Ersparnisse besitzen.

Kann und sollte das Geld schuldenfrei sein? Schulden können belastend und ausbeuterisch für die Schuldner_innen werden, aber sie sind auch eine wichtige Quelle für Investitionskapital in der Volkswirtschaft – deshalb muss das Generieren von Schulden durch den privaten Sektor sorgfältig und streng von den Behörden eines demokratischen Landes überwacht werden. Für die Geldreformer_innen sind jedoch alle Schulden schlecht, und sie preisen eine »schuldenfreie Geldversorgung« an, um Mary Mellor zu zitieren. Aber schuldenfreies Geld ist ein Oxymoron. Schuldenfreies Geld gibt es nicht, und wenn es das gibt, ist es sehr wahrscheinlich etwas anderes – ein Zuschuss oder ein Geschenk. Eine Gesellschaft könnte durchaus eine auf Geschenken basierende Volkswirtschaft anstreben – eine, in der sich alle Individuen darauf verlassen, dass andere sie »versorgen« –, zum Beispiel bei sauberer Luft und einer sicheren Umwelt, bei Essen, Gesundheit, Wohnen, Kunstwerken, bei Dampfmaschinen und Smartphones. Bis heute erfreuen wir uns an Relikten einer Kultur, die uns Geschenke bringt, aber eine ganz auf Geschenken basierende Wirtschaft haben wir noch nicht entwickelt. Am nächsten kommen wir dieser Vorstellung in den Volkswirtschaften, in denen wir uns gegenseitig gemeinsame Ressourcen schenken, zum Beispiel in Form von kostenloser Bildung, einem kostenlosen Gesundheitswesen, Wohngeld und so weiter. Eine solche Gesellschaft wird als sozialistisch oder sozialdemokratisch definiert.

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Aber selbst in einer sozialistischen Volkswirtschaft sind sozialisierte »Geschenke« letztlich ein Anspruch an uns alle – und diese Ansprüche werden über das Steuersystem geregelt. Wie im letzten Kapitel erklärt, basiert in einem Währungssystem alles Geld auf einem System von Ansprüchen: Forderungen und Verbindlichkeiten, die durch Sicherheiten gedeckt sind, und auf deren Austausch in sozialen Beziehungen, die entscheidend für die wirtschaftliche Nachhaltigkeit von Haushalten und Gemeinden sind. Alles Geld ist eine Forderung an jemand anderen – eine Verpflichtung, die erwidert werden soll – oder eine Schuld. Und Schulden, nicht Tausch, gehören seit den frühesten Anfängen zum Leben in Gemeinschaft, wie David Graeber in seinem Buch Schulden: Die ersten 5000 Jahre22 erklärt hat. Adam Smith sah »die Ursprünge der Sprache – und damit des menschlichen Denkens – in unserer Neigung, ›Dinge gegeneinander auszutauschen‹; das war für ihn zugleich der Ursprung des Marktes. Der Drang zu handeln, Werte zu vergleichen, macht uns zu intelligenten Wesen und unterscheidet uns von anderen Tieren«, so Graeber.23 Deshalb geht es nicht um eine schuldenfreie Volkswirtschaft, sondern um eine solche, in der wirtschaftliche und andere Verpflichtungen leicht und frei erwidert werden können, um das gemeinsame Ziel von Stabilität, Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Wohlstand zu erreichen. Das ist nur möglich, wenn die Verpflichtungen und die Reziprozität des Geldsystems nicht ausbeuterisch sind, wenn die Machtverhältnisse zwischen Gläubiger_innen (Banken) und Schuldner_innen – beide wichtig für das Funktionieren der Volkswirtschaft – ausgeglichen sind. Es funktioniert nicht, wenn das Finanzsystem den Entscheidungen einer kleinen Zahl von Technokrat_innen unterworfen wird, den Partikularinteressen von privaten Banker_innen, den anarchischen Marktkräften 22 23

Graeber, Schulden. Ebenda, S. 83.

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oder der despotischen Macht der wenigen, die auf den globalen Finanzmärkten agieren. Und soziale Gerechtigkeit und Wohlstand gibt es auch nicht, wenn das Geldsystem nur denen Zugang zu Kapital gewährt, die Vermögenswerte besitzen und bereits vermögend sind. Ein sozial gerechtes Geldsystem – eines, das breiten Wohlstand fördert, indem es als Diener von Wirtschaft und Gesellschaft handelt, nicht als ihr Herr; ein Geldsystem, das uns alle, auch den öffentlichen Sektor, in die Lage versetzt, zu tun, was wir tun können, und zu sein, was wir sein können: Das sollte das Ziel jeder progressiven Bewegung sein.

Zirkuliert Geld einfach nur? Ist es falsch, wie manche Geldreformer_innen zu sagen, dass Geld durch Kreditaufnahme geschöpft wird, in der Wirtschaft zirkuliert und dann wieder (komplett) mit Zinsen zu der Bank zurückkommt, die es geschöpft hat? Durch Kreditaufnahme entstandenes Geld »zirkuliert« nie einfach nur. Es schafft Kaufkraft, die für Investitionen verwendet wird und in die Schaffung von Beschäftigung, in wirtschaftliche Aktivitäten und Einkommen fließt. Vor allem liefert es die Kaufkraft, die, wenn sie gut eingesetzt wird, zusätzliches Einkommen generieren kann. Bankengeld kann zum Beispiel Mittel gegen Seuchen und Krankheiten finanzieren, etwa in armen Ländern wie Sierra Leone und Liberia. Dabei »zirkuliert« Geld nicht einfach, sondern es hilft, Dinge von unschätzbarem Wert zu erreichen: gesunde Gemeinschaften und letztlich eine gesunde Gesellschaft. Geld trägt dazu bei, Arbeitsplätze zu schaffen. Es »zirkuliert« nicht einfach nur, sondern ermöglicht kreative Betätigungen – auf künstlerischem, wissenschaftlichem, praktischem oder therapeutischem Gebiet.

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Der Bitcoin-Hype Bitcoins habe Millionen Menschen mit einer »Kryptowährung« bekannt gemacht, die aus dem Nirgendwo auftauchte. Während private Banken Geld durch eine Eingabe auf einer Computertastatur schaffen können, fordert die Produktion von Bitcoins viel Rechnerleistung. Die Rechner wenden einen komplizierten Algorithmus an, um Bitcoins zu »schürfen«.24 Die so entstandenen Bitcoins sind das neue Gold und Bitcoiner die neuen »Goldkäfer«. Die neue Währung (die behauptet, eine Ware zu sein) ist eine Form des Peer-to-Peer-Austausches. Ihre Existenz begann in der trüben Welt der Silk Road, einem virtuellen Schwarzmarkt in den Tiefen des Internets, und löste viel Wirbel aus. Bitcoin wurde durch einen unbekannten Computerwissenschaftler geschaffen – der erste Bitcoin-Schürfer. Bitcoins werden heute für internationale Zahlungen verwendet, und es wird damit auch spekuliert. Wie andere virtuelle Währungen hat auch Bitcoin seine theoretischen Wurzeln in der österreichischen Schule der Wirtschaftswissenschaften. Die Anhänger_innen dieses Zahlungssystems sind eifrige Gefolgsleute von Friedrich von Hayek und nennen als Inspirationsquelle sein Buch Entnationalisierung des Geldes, in dem er dafür plädiert, die Produktion, Distribution und das Management von Geld der »unsichtbaren Hand« zu überlassen und die Kontrolle der regulatorischen Demokratie zu beseitigen.25 An dieser neuen Währung sind zwei Dinge erstaunlich. Erstens haben ihre Schöpfer (Computerprogrammierer) anscheinend dafür gesorgt, dass nie mehr als 21 Millionen Bitcoins existieren können. (Allerdings können Bitcoins in kleinere Einheiten unterteilt werden: Millibitcoin, Mikrobitcoin und Satoshi. Satoshi ist 24 25

Kaminska, When Memory Becomes Money: The Story of Bitcoin so far. Hayek, Entnationalisierung des Geldes.

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die kleinste Einheit, 0,00000001 Bitcoin oder ein Hundertmillionstel Bitcoin.) Bitcoins sind insofern wie Gold: Ihre Knappheit macht den Wert aus. Die potenzielle Knappheit von Bitcoins hat Spekulant_innen angelockt und zu einem Wertanstieg geführt. Doch wegen der starken Wertschwankungen sind Bitcoins als Tauschmittel ungeeignet. Händler_innen müssen bei Geschäften mit Waren und Dienstleistungen ihre Preise dauernd nach oben oder unten anpassen, und das ist aufwendig. Zweitens wird dieses Geld oder diese Währung durch keine der oben genannten Institutionen gestützt. Der große Reiz für Nutzer_innen liegt gerade darin, dass damit alle regulatorischen Instanzen umgangen werden. Der Einsatz von Bitcoins scheint auf Misstrauen zu basieren. Ein Kommentator merkte an: »Bitcoin wurde als Währung konzipiert, die keinerlei Vertrauen zwischen den Nutzern verlangt.«26 Während durch Kredit unendlich viele soziale und wirtschaftliche Beziehungen entstehen können, bedeutet die Knappheit der Bitcoins auch, dass sie nur begrenzt (maximal 21 Millionen) wirtschaftliche Aktivität generieren können. Die Architekten dieser Währung legten absichtlich eine Obergrenze fest, angeblich um Inflation zu verhindern. Tatsächlich wollten sie damit den Wert der Bitcoins steigern, die sich überwiegend noch in den Händen der Urheber dieses Zahlungssystems befinden. Insofern unterscheiden sich Bitcoin-Schürfer_innen nicht von den alten »Goldkäfern«, die den Wert einer begrenzten Menge Gold nach oben treiben, von den Besitzer_innen von Tulpenzwiebeln, die im 17. Jahrhundert den Preis seltener Tulpenzwiebeln nach oben trieben, oder von Bernard Madoff, der das mit seinem betrügerischen Ponzi-System tat. Doch einige machen viel Wirbel um die Technologie, die bei Bitcoin zum Einsatz kommt – Blockchain, ein verteiltes Daten26

Levin, Governments will Struggle to Put Bitcoin under Lock and Key.

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banksystem oder ein Journal –, und sagen, sie könnte die Verteilung von Reichtum revolutionieren und transparente Transaktionskonten zur Verfügung stellen. In einem aktuellen Blogeintrag schreibt die Journalistin Izabella Kaminska von der Financial Times, Moden in der Finanzwelt würden einem ähnlichen Muster folgen wie Moden in der Musik: Etwas ist zuerst »hip« oder »cool«, dann verblasst es und wird »gestrig«. Aus ihrer Sicht als investigativer Journalistin zieht sie folgenden Vergleich: »Aus der Liebe zu Blur (Bitcoin) wurde die Liebe zu Radiohead (Blockchain). Aber Radiohead (Blockchain) wurde zu schnell von Personen übernommen, die dann die Faszination des ganzen Indie-Genres (Krypotwährung) zunichtemachten. Da war es Zeit, sich wieder auf Drum and Bass zu besinnen (private Blockchains). Aber Drum and Bass wurde von Indierock-Enthusiasten (Kryptowährungsenthusiasten) kontaminiert, und so war es Zeit, etwas radikal Neues und anderes zu starten, das heißt, zu einem ironischen Verständnis von Barry Manilow zurückzukehren und alle Bezüge zu modernen Musikphänomenen aufzugeben (Distributed Ledger Technology). Das bringt uns ungefähr an den Punkt, an dem aus einer sentimentalen Wiederbelebung eine generelle Liebe zu überzeitlichen Großtaten werden sollte (zentralisierte LedgerTechnologie der alten Zeit, aber, Sie wissen schon, digital remastert). Die Feststellung soll genügen, dass erste Stimmen laut werden, die sagen, wir befänden uns tatsächlich in einer Übergangsphase und nicht mehr die Blockchain sei cool, sondern eher die trotzige Anerkennung, dass das gute alte Betriebssystem – trotz all seiner Fehler – auf den richtigen regulatorischen, rechtlichen und vertrauenswürdigen Grundlagen beruht und nur ein bisschen Optimierung braucht.«27 27

Kaminska, How I learned to Stop Blockchain Obsessing and Love the Barry Manilow.

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2016 wurden von Kund_innenkonten bei Bitfinex Bitcoins im Wert von 70 Milliarden Dollar gestohlen. Wie Kaminska schreibt, »sollte [das] der Bankenindustrie eine Pause bringen, um darüber nachzudenken, ob sie Blockchain und auf Bitcoin basierende Finanztechnologien einführen will«.28 Spekulant_innen haben den Wert von Bitcoin regelmäßig in schwindelerregende Höhen getrieben. Wie immer in solchen Fällen gewinnen die, die kurz vor dem Platzen der Blase verkaufen. Ohne demokratische Regulierung und Kontrolle werden die Verlierer_innen immer ausgeplündert.

Kredit, Konsum und das Ökosystem Umweltschützer_innen wollen zu Recht bestimmte Formen der wirtschaftlichen Aktivität beschränken, insbesondere den scheinbar grenzenlosen Konsum – und diesem Ziel schließe ich mich von ganzem Herzen an. Nach meiner Überzeugung treibt »leichtes« Geld »leichten« Konsum an: »Turbokonsum« mit toxischen Emissionen. Darum ist die Steuerung der Kreditschöpfung entscheidend wichtig, wenn eine Gesellschaft versucht, den Konsum und die toxischen Emissionen einzudämmen. Umweltschützer_innen, die den Konsum begrenzen wollen, aber die Zusammenhänge zwischen Konsum und leichtem Geld übersehen, sind nach meiner Einschätzung zum Scheitern verurteilt. Seit der Liberalisierung des Finanzsektors in den 1960er und 1970er Jahren gaben Banken hauptsächlich Kredit für vorhandene Vermögenswerte (wie Grund und Boden und Immobilien) und für den Konsum, wobei sie hohe Zinsen verlangen können (denken Sie nur an die Zinsen, die beim Einsatz Ihrer Kreditkarte gelten). Man muss sich unbedingt vor Augen halten, dass sowohl die amerikanische wie die europäische Wirtschaft heute wesentlich 28

Kaminska, Day Three post Bitfinex Hack.

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vom Konsum der privaten Haushalte abhängen. Bevor Kreditkarten allgemein üblich wurden und bevor die politisch Verantwortlichen und die Zentralbanken den Geschäftsbanken freie Hand gaben, Kredit für beliebige Einkäufe zu gewähren, war der Konsum beschränkt. Die Gesellschaft muss sich von ihrer Fixierung auf leichtes Geld, allgegenwärtige Kreditkarten (oder vielmehr »Schuldenkarten«) und exzessiven, unnötigen Konsum lösen. Und die Banken müssen in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, Geld zu hohen Zinsen zu verleihen für Aktivitäten, die für die Kreditnehmer_innen kein Einkommen erzeugen – das heißt Konsum –, oder für Aktivitäten, die Einkommen abziehen, wie Nasenoperationen und andere kosmetische Eingriffe ohne medizinische Notwendigkeit.29 Gleichzeitig stellt der vom Menschen verursachte Klimawandel eine große Bedrohung unserer Zukunft dar. Die Wirtschaft von fossilen Brennstoffen wegzuführen, wird viel Weisheit, Intelligenz und Muskelkraft verlangen. Vor allem aber wird es viel Geld kosten, zum Beispiel um das Verkehrssystem umzugestalten, den Hochwasserschutz zu verbessern, in die Jahre gekommene Häuser und Wohnungen zu sanieren und Immobilien energieeffizient umzubauen. Solche Investitionen werden jedoch Arbeitsplätze und andere wirtschaftliche Aktivitäten generieren. Die Arbeitsplätze wiederum werden Einkommen generieren, aus dem Kredite oder Schulden zurückgezahlt werden können. Sorgfältig gelenkte und regulierte staatliche und private Kredite werden dazu beitragen, die lebenswichtigen Investitionen der Energiewende zu finanzieren. Kleine, individuelle Guthaben auf Sparkonten, von Kreditvereinen und aus Crowdfunding werden leider nicht ausreichen für die Herkulesaufgabe, 29

Eine kurze Google-Suche ergibt, dass ein Unternehmen, das kosmetische Operationen durchführt, Kredite zu einem Zinssatz von 16,9 Prozent anbietet, damit Kund_innen das eigene Aussehen nach Wunsch verändern lassen können; transforminglives.co.uk [06. 06. 2016].

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die Wirtschaft aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu lösen.

»Quantitative Lockerung für die Menschen« und »Helikoptergeld« Mit der Entdeckung, dass private Geschäftsbanken Geld ex nihilo schaffen können – aus dem Nichts –, ging noch eine zweite Entdeckung einher: dass Zentralbanken das auch können. Die quantitative Lockerung erschien als etwas ganz Neues und Außergewöhnliches, als die amerikanische Notenbank im November 2008 das Programm ankündigte: Sie würde ihre Reserven gegen Wertpapiere von Banken tauschen und auf diese Weise Liquidität in das Bankensystem pumpen. Wie bereits erklärt, sind die »Reserven« der Zentralbank keine Ersparnisse, sondern eher so etwas wie »Überziehungskredite«, die nur für Banken gelten; sie dürfen zum Beispiel nicht mit den saudischen Ölreserven verwechselt werden. Anders als die monetaristische Theorie besagt, werden Reserven der Zentralbank nur von Banken verwendet, hauptsächlich zu Verrechnungszwecken, sie können das Bankensystem nicht verlassen und in die Realwirtschaft gelangen. Als die Federal Reserve in Aussicht stellte, den Banken große Mengen von Wertpapieren abzukaufen, hypothekenbesicherte Papiere und Staatsanleihen, tauschten die Banken diese Papiere – von denen einige wahrscheinlich notleidend waren und Verluste einbrachten – gegen das Äquivalent eines höheren »Überziehungskredits« ein. Diese Aktion hätte die Bilanzen der Banken bereinigen und sie ermutigen sollen, mehr Kredite an die Realwirtschaft zu vergeben. Aber die quantitative Lockerung (QE ) brachte nicht den gewünschten Effekt. Im Vereinigten Königreich ging die Kreditvergabe sogar zurück. Stattdessen versorgten die Federal Reserve und die Bank of England (BoE) den privaten Finanzsektor mit zusätzlicher Kaufkraft, mit der Investor_innen spekulative Anlagen aus dem FIRE -Sektor erwerben konnten:

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Finanzprodukte (finance), Versicherungen (insurance) und Immobilien (real estate). Die Vergabe von Krediten an eine geschwächte Realwirtschaft, der die Austerität noch zusätzlich zu schaffen machte, erschien Investor_innen sehr viel weniger profitabel und weit riskanter. Quantitative Lockerung, das muss betont werden, ist für Zentralbanken nichts Besonderes und Unübliches, aber die Größenordnung ihrer Finanzoperationen seit der schweren Finanzkrise ist tatsächlich einmalig. QE ist nur eine Variante der üblichen, routinemäßigen »Offenmarktpolitik« (Open Market Operations, OMOs ) einer Zentralbank. In deren Rahmen kauft die Zentralbank staatliche Wertpapiere (Staatsanleihen) von Banken und anderen verwandten Finanzinstituten auf dem offenen Markt. Über die jüngsten Offenmarktgeschäfte der Bank of England ist zwar nicht viel bekannt, aber man weiß, dass sie bereits seit fast zweihundert Jahren derartige Geschäfte tätigt. Einige Historiker_innen sind der Ansicht, dass die ersten OMOs in den 1830er Jahren stattfanden, um den Leitzins durchzusetzen. Andere haben mir gegenüber die Ansicht geäußert, OMOs gebe es seit der Gründung der Bank of England im Jahr 1694. Wieder andere sind sich nicht so sicher.30 Nach Auskunft der Fed von Minneapolis praktiziert die amerikanische Notenbank OMOs noch nicht so lange: »Offenmarktgeschäfte, das wichtigste Instrument der amerikanischen Geldpolitik, wurden zufällig entdeckt (im Jahr 1922) und waren der größte Schritt in der Entwicklung der Fed von einer passiven zu einer aktiven Institution […]. Vertreter_innen der Fed erkannten, dass die Zentralbanken durch den Kauf von Wertpapieren auf dem offenen Markt die allgemeinen Kreditbedingungen im ganzen Land beeinflussen konnten. Anders ausgedrückt: Wenn die Fed Wertpapiere kaufte, erhöhte sie die Reserven der Geschäftsbanken und er-

30

Bindseil, Monetary Policy Operations and the Financial System, S. 84.

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leichterte die Kreditvergabe; das Umgekehrte galt, wenn die Fed Wertpapiere verkaufte.«31 Doch unbestreitbar ist der Umfang der aktuellen Offenmarktgeschäfte historisch einmalig. Von 2008 bis 2015 kaufte die amerikanische Fed Staatsanleihen und hypothekenbesicherte Wertpapiere im Wert von über 4,5 Billionen Dollar vom privaten Finanzsektor. Von März bis November 2009 erwarb der geldpolitische Ausschuss der Bank of England Wertpapiere im Wert von 375 Milliarden Pfund vom Bankensektor – überwiegend britische Staatsschulden oder gilts. Als nach der Krise die Verärgerung wuchs und Aktivist_innen begriffen, dass die Zentralbanken ihre Macht genutzt hatten, um den privaten Finanzsektor zu retten, zu finanzieren, abzusichern und reicher zu machen, aber nicht die übrige Volkswirtschaft, die stattdessen ausgequetscht wurde, erhoben sich Forderungen, die quantitative Lockerung zum allgemeinen Wohl einzusetzen. Die Schlagworte lauteten »QE für die Menschen«, »Souveräne Geldschöpfung«, »Offene monetäre Finanzierung«, »Helikoptergeld« und »Grüne QE «. Wieder sind die Motive dieser Bewegungen gerechtfertigt, und das Ziel ist wirklich ehrenwert – dafür zu sorgen, dass eine staatlich finanzierte Zentralbank der gesamten Gesellschaft dient und nicht nur den Banken. Aber schauen wir uns die verschiedenen Vorschläge für »Helikoptergeld« genauer an. Ebenso wie die Rufe nach einer Verstaatlichung der Geldversorgung kommen Appelle, die Zentralbanken sollten ihre Macht für breitere Ziele nutzen, aus dem gesamten politischen Spektrum. Der Ökonom Frank van Lerven, Anhänger von Positive Money, hat eine hilfreiche Liste der wichtigsten Protagonist_innen und ihrer Positionen zusammengestellt:32 31 32

The Federal Reserve Bank of Minneapolis, Discovering Open Market Operations. Lerven, A Guide to Public Money Creation.

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Strategische QE – vorgeschlagen von der New Economics Foundation • Grüne QE – vorgeschlagen von Victor Anderson, unterstützt von Molly Scott Cato (MEP ) • Helikoptergeld – vorgeschlagen von Ben Bernanke (und einigen anderen), basierend auf Milton Friedmans Paper »Helicopter Drops« aus dem Jahr 1948 • QE für die Menschen (basierend auf QE für grüne Infrastruktur) – vorgeschlagen von Richard Murphy und Colin Hines • Offene monetäre Finanzierung und Vollgeldschöpfung – vorgeschlagen von Adair Turner und von Positive Money, hinreichend ähnlich, dass man sie als einen Vorschlag behandeln kann Van Lerven schreibt: »Diesen unkonventionellen geldpolitischen Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie alle die proaktive Schöpfung von Zentralbankgeld befürworten, um damit das Wachstum in der Realwirtschaft anzukurbeln.« Die strategische QE »beinhaltet, dass die Bank of England (über die Asset Purchase Facility, das Kaufprogramm für Wertpapiere) Geld schöpft und es dafür ausgibt, um Anleihen von Intermediären in staatlichem Besitz zu kaufen, wie einer staatlichen Investitionsbank, einer grünen Investitionsbank oder einer ImmobilienInvestitionsbank«.33 Grüne QE »bedeutet, dass die EZB und andere nationale Zentralbanken innerhalb der EU ihre Geldschöpfungsbefugnis dazu nutzen, dem privaten Sektor Geld für grüne Infrastrukturprojekte und grüne Unternehmungen zu leihen.«34 Ben Bernankes Idee für Helikoptergeld ist »inspiriert von Milton Friedmans (1948) Gedankenexperiment zu »Helicopter Drops« (in dem es darum geht, was passieren könnte, wenn frisch gedrucktes Bargeld aus einem Hubschrauber über einer Volkswirtschaft abgeworfen würde, 33 34

Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 22. Hervorhebung der Autorin.

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um Ausgaben zu stimulieren). Helikoptergeld könnte dazu dienen, durch eine »Bürger_innendividende« Bargeldtransfers vom Staat zu jedem einzelnen Bürger und jeder Bürgerin (oder jedem Erwachsenen) zu finanzieren (ein Zuschuss für jeden und jede, der nicht zurückgezahlt werden muss), solange die Zahlungsinfrastruktur besteht, um allen Bürger_innen eine Zahlung zukommen zu lassen. Als Alternative reduziert in Bernankes ursprünglichem Vorschlag der Staat die Steuern, sodass den Bürger_innen mehr verfügbares Einkommen und damit mehr Geld zum Ausgeben bleibt. Bei der Ausgabe von Helikoptergeld müssten das Finanzamt und die Bank of England zusammenarbeiten. Mit Rücksicht auf die Unabhängigkeit der BoE würde der Prozess damit beginnen, dass die BoE Umfang und Zeitpunkt der Geldverteilung festlegt.«35 Der Vorschlag QE für die Menschen ist »ein Programm, bei dem die Bank of England »Geld in die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs pumpen und damit die wirtschaftliche Aktivität im Land ankurbeln, den Staat insgesamt, lokale Regierungen, den privaten Sektor und Haushalte stärken« würde […]. Das Zentralbankgeld würde dafür eingesetzt, Investitionen und Kredite zu finanzieren. In erster Linie würde es dazu dienen, von Institutionen des öffentlichen Sektors ausgegebene Anleihen zu kaufen, um direkt die Staatsausgaben für Infrastrukturprojekte zu finanzieren. Oder es würde frisches Geld geschöpft, das dann als Kredit an eine grüne oder staatliche Investitionsbank fließen könnte (wie bei der Strategischen QE und der Grünen QE ).«36 Adair Turners Offene monetäre Finanzierung (OMF ) und die Vollgeldschöpfung (Sovereign Money Creation, SMC ) der Bewegung Positive Money bieten beide die Option, das zusätzlich geschöpfte 35 36

Ebenda, S. 23. Hervorhebung der Autorin. Ebenda, S. 27.

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Geld direkt an die Bürger_innen zu verteilen oder mit frischem Zentralbankgeld öffentliche Investitionen zu finanzieren.

Die Vorschläge einer »QE für die Menschen« schwächen die demokratischen Institutionen Die Befürworter_innen der staatlichen Geldschöpfung haben eindrucksvolle öffentliche und professionelle Unterstützung für ihre Vorschläge mobilisiert. Das Thema wird auf den höchsten politischen Ebenen wohlwollend diskutiert. Unterdessen haben seine Verfechter_innen vielen Menschen erhellende Erkenntnisse gebracht, auch mir, und Wissen über komplexe finanzielle Prozesse verbreitet. Nur sehr wenige Stimmen kritisieren diese Ideen aus finanziellen oder ökonomischen Gründen, allerdings gibt es Befürchtungen, der Prozess des »Gelddruckens« könnte missbraucht werden. Meine Sorgen sind grundsätzlicher und vorwiegend ökonomischer und politischer Natur. Es fordert mir einigen Mut ab, Verfechter_innen dieser Position zu widersprechen, denn viele sind geachtete Freund_innen und Kolleg_innen. Mit einiger Beklemmung bitte ich sie vorab um Nachsicht. Meine Hauptsorge ist folgende: Auch bei diesen Vorschlägen spielen technokratische Entscheidungsprozesse und Macht eine große Rolle. Technokrat_innen in den Zentralbanken müssen sich nicht regelmäßig zur Wahl stellen. In der Regel sind es gesichtslose Bürokrat_innen oder Wissenschaftler_innen, die für ihre Theorien und ihr Handeln nie wirklich zur Verantwortung gezogen werden. Auch gewählte Regierungen und Finanzminister_innen gehen in die Irre und machen Fehler, aber viele müssen sich dafür verantworten und bezahlen einen Preis. Heute besteht für viele Politiker_innen der Preis darin, dass sie sich mit Rechtspopulist_innen auseinandersetzen müssen. Doch vier dieser sechs Vorschläge für »staatliche Geldschöpfung« werden die Enttäuschung über die demokratische Regie-

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rungsweise weiter verstärken, einfach weil sie die gewählten Repräsentant_innen umgehen. Das gilt für die Strategische QE , für die Grüne QE , die Offene monetäre Finanzierung und die Vollgeldschöpfung. Bei QE für die Menschen und Bernankes Helikoptergeld hingegen ist der Staat auf unterschiedlichen Ebenen direkt beteiligt. Adair Turner mit seiner Offenen monetären Finanzierung und die Anhänger von Positive Money mit ihrer Vollgeldschöpfung wollen, dass die Zentralbanken Geld direkt an die Bürger_innen verteilen, aber es gibt auch eine Option, Staatsausgaben damit zu finanzieren. Alle sechs Modelle überlassen jedoch die Entscheidung, wie viel »Geld« geschaffen werden soll, Technokrat_innen in den Zentralbanken. Mit anderen Worten: Die Regierungen können zwar das Rückgrat für staatliches Geld abgeben und Nutznießer von »QE für die Menschen« sein, aber nicht sie sitzen am Steuer, sondern die Zentralbanker_innen. Diese Vorschläge legen große Macht in die Hände der Technokrat_innen, während nach meinem Dafürhalten gewählte Repräsentant_innen das Verfahren bestimmen und die Zentralbanken dienende Rollen spielen sollten – allerdings als unabhängige, offene und gut qualifizierte Dienerinnen.

Donald Trump und das »Helikoptergeld«: Wirtschaftliche, soziale und politische Konsequenzen Nach meiner Ansicht ist es nicht akzeptabel, wenn Zentralbanker_innen oder Regierungsvertreter_innen ohne klare, transparente »Checks and Balances« die Macht zum Gelddrucken bekommen. Wie die Macht, die private Banker_innen ausüben, ist auch die mit »Helikoptergeld« ausgeübte Macht gewaltig. Sie hat Umverteilungseffekte, die schwer vorherzusagen sind. Und es gibt noch andere Konsequenzen. Geld direkt an die Bürger_innen zu geben, könnte sie zum Beispiel auf die Idee bringen, Waren im Ausland einzukaufen, was Handelsbilanzdefizite verschärfen

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könnte. Daraus könnten wieder andere Ungleichgewichte erwachsen. All dies hat wirtschaftliche, soziale und politische Auswirkungen. Da wir hier über eine Institution diskutieren, hinter der der Staat steht (die Zentralbank, im Vereinigten Königreich befindet sie sich in Staatsbesitz), sollten gewählte Regierungen am Steuer sitzen. Gleichzeitig muss aus Gründen der öffentlichen Rechenschaftspflicht die relative Unabhängigkeit der Zentralbank gewahrt sein. Warum es die relative Unabhängigkeit, Verantwortlichkeit und Transparenz geben muss, hat einen ganz einfachen Grund: Helikoptergeld kann sehr leicht missbraucht werden. Ich habe in afrikanischen Ländern gearbeitet, wo Politiker_innen sich bekanntlich immer wieder illegal an staatlichem Geld bereichern. Deshalb erachte ich transparente »Checks and Balances« bei Politiker_innen, Regierungsbeamt_innen und Zentralbanker_innen als lebenswichtig. Lord Adair Turner hat in einer Kolumne in Project Syndicate mit dem Titel »Helicopters on a Leash« (Helikopter an der Leine) die Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt: die Gefahr, dass jegliche monetäre Finanzierung zu exzessiver Anwendung einlädt.37 Aber im selben Atemzug gesteht er den Zentralbanken noch mehr Macht zu, indem er vorschlägt, sie sollten »die Zuständigkeit erhalten, ein Maximum an monetärer Finanzierung zu betreiben, wenn sie es für nötig erachten, um ihr klar definiertes Inflationsziel zu erreichen«.38 Bei diesem Versuch, die Geldschöpfung zu regulieren, gibt es zwei Probleme: erstens das oben skizzierte, dass Technokrat_innen darüber entscheiden, wie viel Geld allen oder einigen Bereichen der Wirtschaft zur Verfügung steht. Zweitens ist die Vorstellung, dass die Zentralbanken ihre Entscheidungen wieder an einem »Inflationsziel« ausrichten sollten, ein klarer 37 38

Turner, Helicopters on a Leash. Ebenda, S. 2–4.

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Rückschritt. Die Festsetzung von Inflationszielen ist seit Langem diskreditiert, weil die Zentralbanken sich vor der Krise kurzsichtig auf Inflationsziele konzentriert haben, zu Lasten anderer Indikatoren, insbesondere der Beschäftigung. Das nützt nur Gläubiger_innen, deren Vermögenswerte (Schulden) durch Inflationsziele geschützt werden. Ich verteidige den privaten Finanzsektor nicht, wie jeder weiß, der mein Werk kennt, und ich befürworte nachdrücklich Kapitalverkehrskontrollen. Aber in dem ganz und gar nicht perfekten bestehenden Geldsystem agieren die heimischen Anleihemärkte sehr effektiv als Vermittlungsinstanzen zwischen dem Staat und seiner Zentralbank. Wenn eine Regierung Staatsanleihen auflegt und im Auktionsverfahren auf öffentlichen und privaten Märkten anbietet, finden transparente und öffentlich nachvollziehbare Transaktionen zwischen dem Staat und seiner Zentralbank statt. Der Anleihemarkt sorgt dafür, dass eine Regierung ehrlich bleibt. Natürlich können Investor_innen davon profitieren und Gewinne abschöpfen, und das tun sie auch, aber Verluste sind genauso möglich. Und wie die quantitative Lockerung bewiesen hat, können Zentralbanken, die mit willigen Regierungen zusammenarbeiten, großen Einfluss auf den Anleihemarkt und auf die Preise und Renditen von Staatsanleihen ausüben. Dass in der jüngsten Vergangenheit die weltweiten Anleihemärkte die Rolle des »Herrn« gegenüber unterwürfigen Regierungen und Zentralbanken spielen konnten, hängt damit zusammen, dass Regierungen wie Zentralbanken auf ihr Recht verzichtet haben, die Mobilität des Kapitals einzuschränken und den Kapitalmarkt zu lenken. Sie kümmern sich nicht um das allgemeine öffentliche Interesse und haben die Lenkung der Anleihemärkte und des Geldsystems einem Prozess namens »Globalisierung« sowie der anarchistischen »unsichtbaren Hand« überlassen. Aber wir wissen, dass Anleihemärkte gebändigt werden und eine passivere Rolle als in der jüngsten Vergangenheit spielen können. Wie weit das gehen kann, wurde 2015 und 2016 deutlich, als

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Investor_innen den deutschen Staat für das Privileg bezahlten, ihm Geld leihen zu dürfen – hauptsächlich weil die wirtschaftliche Lage im übrigen Europa schwächer und risikoreicher war, als Folge inkompetenter Wirtschaftspolitik und ideologiegetriebener politischer Entscheidungen. Die monetären Operationen der Europäischen Zentralbank (EZB ) spielten ebenfalls eine Rolle. Die Investor_innen waren bereit, dafür zu bezahlen, dass sie Deutschland Geld zur Verfügung stellen konnten, weil die wirtschaftlichen Bedingungen und Kapitalrenditen in Europa, ja der ganzen Welt, so ungewiss waren und sie glaubten, dass ihr Geld in deutschen Bundesanleihen sicher sein würde.

Das Problem ist nicht der Gürtel der QE , sondern die ausgezehrte Wirtschaft Aber meine wichtigste ökonomische Differenz mit vielen geachteten Freund_innen in der Vollgeldbewegung bringt uns zurück zu Keynes’ eindrücklichem Vergleich: »[D]ies ist wie wenn man versucht, dick zu werden, indem man einen weiteren Gürtel kauft. In den Vereinigten Staaten ist ihr Gürtel heute reichlich weit genug für Ihren Bauch. Es ist äußerst irreführend, wenn man die Geldmenge betont, die nur ein begrenzender Faktor ist, anstelle der realen Ausgaben, die den Handlungsparameter darstellen.«39 Lord Turner sagt, Offene monetäre Finanzierung »ist die einzige Politik, die immer die nominale Nachfrage stimulieren wird, auch wenn andere politische Strategien – wie schuldenfinanzierte Haushaltsdefizite oder negative Zinssätze – nicht mehr wirken«.40 Er spannt den Wagen vor das Pferd oder den weiteren »Gürtel« (das staatlich geschaffene Geld) vor eine dünne, ausgezehrte Weltwirtschaft, in der es an Nachfrage fehlt. 39 40

Keynes, Offener Brief an Roosevelt. Hervorhebung der Autorin. Turner, Helicopters on a Leash.

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Zu der Zeit, als ich das schreibe, droht die Weltwirtschaft erneut in eine Rezession abzurutschen. Weltweit gibt es massiven deflationären Druck, teils weil die Banken weniger Geld an die Realwirtschaft ausleihen. Die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen ist schwach, und der Überfluss an Waren (und sogar Dienstleistungen) wächst immer weiter. Die schwache Nachfrage kann teilweise auf die anhaltende Finanzkrise zurückgeführt werden. Nachfrage können wir definieren als die Gesamtmenge an Geld, Arbeit, Waren und Dienstleistungen, die Konsument_innen und Produzent_innen zu einem bestimmten Preisniveau und über einen bestimmten Zeitraum hinweg haben wollen. Die finanzielle Instabilität macht die bereits überschuldeten privaten Unternehmen ängstlich und nervös, sie wollen keine Risiken eingehen. Hinzu kommt noch, dass der hoch verschuldete und verängstigte private Bankensektor lieber Spekulation betreibt und dabei schnelle Kapitalgewinne sucht, als solide Investitionen in Beschäftigung und wirtschaftliche Aktivitäten zu tätigen. Die Banken brauchen ein florierendes wirtschaftliches Umfeld, in dem Kreditnehmer_innen mit guten Sicherheiten und zu erwartendem Einkommen bereit sind, sich Geld zu leihen, in dem Vertrauen, dass sie es investieren können und daraus Gewinne und Einkommen erzielen, um der Bank den Kredit zum geforderten Zinssatz zurückzuzahlen. Stattdessen betreiben Politiker_innen und politisch Verantwortliche, die Milton Friedmans rückwärtsgewandten »fiskalischen Regeln« mit ihrer ideologischen Verpflichtung auf »solides Geld und stabile Finanzen« folgen, Austeritätspolitik. Einschnitte bei öffentlichen Ausgaben, damit Gesellschaften »nicht über ihre Verhältnisse leben« und der Haushalt eine »schwarze Null« erreicht, haben genau das Gegenteil bewirkt. Wegen der Einschnitte bei öffentlichen Investitionen, Staatsausgaben und staatlicher Beschäftigung sind Einkommen und Steuereinnahmen gesunken, hat sich die Staatsverschuldung verschärft und sind die öffentlichen Defizite gewachsen. In Großbritannien beklagte der Finanzminister bei der Vorlage des Haus-

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halts 2016, »die Wirtschaftsleistung ist geringer, als wir dachten«.41 Ihm schien nicht bewusst zu sein, dass seine Austeritätspolitik daran schuld war. Die Folgen einer Nachfrageschwäche zeigt ein konkretes Beispiel: die Berge von Autoreifen in China 2015. Wegen einer schwachen Nachfrage vor allem aus Europa und Amerika wurden weniger Reifen benötigt. Die schwache Nachfrage und das Überangebot führten zu einem Preisverfall bei Kautschuk und bei Reifen. Der Verfall der Preise und Gewinne in beiden Bereichen hatte wiederum Arbeitslosigkeit zur Folge. Durch die steigende Arbeitslosigkeit schrumpften die Löhne und Einkommen, und das beeinträchtigte die Nachfrage nach anderen Waren und Dienstleistungen. Dadurch gingen die Preise weiter zurück, es gab mehr Bankrotte und noch mehr Arbeitslose – eine fast nicht aufzuhaltende Abwärtsspirale. In einer Phase der wirtschaftlichen Schwäche, wie soeben beschrieben, den »Gürtel« der staatlichen Geldschöpfung zu lockern, wird Investitionen und Beschäftigung nicht ankurbeln und auch keine neuen Einnahmen generieren. Tatsächlich ist bereits zu viel Geld in der Welt unterwegs – in Form von Schulden –, woran die Währungsreformer_innen uns wiederholt erinnern. Ein Grund, warum private Banken der Wirtschaft nicht mehr Geld leihen, ist, dass die potenziellen Kund_innen bereits hoch verschuldet sind. Ein weiterer Grund ist, dass die potenziellen Kund_innen sich nicht mehr Geld leihen wollen, eben weil sie hoch verschuldet sind und sorgenvoll in die wirtschaftliche Zukunft blicken: Die Banken haben einfach zu wenig Kund_innen. Nötig ist, dass die wirtschaftlichen Akteur_innen Geld für Beschäftigung und für Waren und Dienstleistungen ausgeben (in Anbetracht des Klimawandels vielleicht mehr für Dienstleistungen als für Waren). Das Ziel muss sein, mehr Menschen in Be41

Zitiert bei Wolf, George Osborne’s Desire to Cut Spending Makes Little Sense.

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schäftigung mit nachhaltigen Einkommen zu bringen, mehr unternehmerisch tätig zu sein, um die Waren und Dienstleistungen zu konzipieren, zu produzieren, weiterzuentwickeln und zu verbreiten, die eine Gesellschaft unbedingt braucht. Auf diese Weise wird zusätzliches Einkommen generiert, auch Steuereinnahmen für die Finanzierung staatlicher Defizite. Um ein nachhaltiges Niveau wirtschaftlicher Aktivität zu erreichen, müssen die Staaten weltweit in gut bezahlte, hoch qualifizierte Arbeitsplätze investieren – vor allem für die 73,3 Millionen jungen Menschen, die zum Stichtag der Arbeitskräfteerhebung 2015 der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Office, ILO ) arbeitslos waren. Der ILO zufolge sind weltweit mindestens 197 Millionen Menschen ohne Arbeit, und sie nimmt an, dass diese Zahl 2016 um weitere 2,3 Millionen und 2017 noch einmal um eine Million steigen wird.42 Der Marktfundamentalismus – die Globalisierung – ist katastrophal daran gescheitert, fast 200 Millionen Menschen im Nahen Osten, in Afrika, Lateinamerika, Teilen Asiens und Europas sinnvolle Arbeit, Einkommen, Würde und Respekt zu verschaffen. In den Vereinigten Staaten hat die Globalisierung den Lebensstandard von Millionen Arbeitnehmer_innen ausgehöhlt. Der Marktfundamentalismus ist auch daran gescheitert, Vorkehrungen für die schwerwiegenden Bedrohungen zu treffen oder darauf zu reagieren, vor denen heute viele Gesellschaften weltweit stehen. Wie Karl Polanyi in seinem Buch The Great Transformation völlig richtig geschrieben hat, ist es kein Wunder, dass populistische Bewegungen überall stärker geworden sind. Starke politische Anführer_innen sind aufgerufen, ganze Gesellschaften vor den utopischen, aber destruktiven Verheerungen des Marktfundamentalismus zu schützen.

42

International Labour Office, World Employment and Social Outlook: Trends 2016.

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In Anbetracht dieser Angst erregenden wirtschaftlichen und politischen Zustände ist es dringlich, dass der öffentliche Sektor einspringt und Geld ausgibt: zum Beispiel für sinnvolle, sichere Arbeit; für die Energiewende weg von fossilen Brennstoffen; für die Herausforderungen sehr junger, aber auch alternder Gesellschaften; für Umschulung und Weiterbildung von Arbeitnehmer_innen; für höhere Löhne von Beschäftigten im öffentlichen Dienst; für die Sanierung der Infrastruktur, wie etwa die Reparatur der mit Schlaglöchern übersäten amerikanischen Autobahnen, und für energieeffiziente Gebäude – all das, was John Kenneth Galbraith als Nebeneinander von »öffentlicher Armut und privatem Reichtum« bezeichnet hat. Der Schlüssel, um das Problem anzupacken, das Adair Turner benannt hat – die Schwäche der weltweiten nominalen Nachfrage –, sind deshalb Ausgaben, vor allem öffentliche Ausgaben, die kurzfristig getätigt werden können: für den Unterhalt von Straßen und Schienenwegen, für Hochwasserschutz, für Gewässerschutz, Gartenbau und so weiter. Natürlich müssen öffentliche Ausgaben finanziert werden. Die vorsichtigste Form der Finanzierung ist die Emission von Anleihen und nicht »Defizitfinanzierung«, was dauerhafte Überziehungen des Staates bedeutet. Mit Anleihen, die durch die staatliche Schuldenverwaltung eines Landes in Zusammenarbeit mit der Zentralbank zu niedrigen Zinsen vergeben werden, lassen sich die laufenden Staatsausgaben finanzieren. Dank des Multiplikatoreffekts werden solche Ausgaben für Beschäftigung schnell Einnahmen für die Staatskasse generieren in Form von Steuereinnahmen für die Rückzahlung der Anleihen. Außerdem wird die verstärkte Ausgabe von Staatsanleihen durch die Zentralbank auf der Grundlage der Liquiditätspräferenz (erläutert in Kapitel 3) den privaten Sektor (zum Beispiel Pensionsfonds) mit sicheren kurz-, mittel- und langfristigen Anlageformen versorgen, in denen Kapital als Reserve, zur Absicherung oder auch aus etwas riskanteren Motiven, Kapitalgewinne zu erzielen,

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angelegt werden kann. Das wird es wiederum der Zentralbank ermöglichen, Einfluss auf die Zinsen zu nehmen, die Mitarbeiter_innen von Geschäftsbanken über das gesamte Spektrum der Kreditvergabe an den privaten Sektor festsetzen. Staatsausgaben, die durch den Verkauf wertvoller und mittlerweile sehr knapper staatlicher Wertpapiere – Staatsanleihen – finanziert werden, sind eine demokratische, transparente und nachvollziehbare Form der Finanzierung. Die Verantwortung liegt bei den Regierungen und nicht bei Technokrat_innen. Es versteht sich von selbst, dass die Technokrat_innen der unabhängigen Zentralbanken uns allen gegenüber die Pflicht haben, die Preise und Zinsen, zu denen sich der private und der öffentliche Sektor Geld leihen, zu regulieren und zu steuern. Aus den oben erläuterten Gründen bin ich der Meinung, dass die Finanzierung öffentlicher Ausgaben mit Staatsanleihen sehr viel demokratischer und nachvollziehbarer ist als Offene monetäre Finanzierung. Und nur öffentliche Ausgaben werden die Nachfrage in der Volkswirtschaft insgesamt stimulieren. Das wird dann auch dem privaten Sektor zugutekommen.

Die Macht von den Finanzmärkten zurückholen Weil Kredite (abgesichert durch das Vertragsrecht, das Justizsystem, die Zentralbank, Besteuerung und Rechnungslegungsvorschriften) so leicht geschaffen werden können, ist damit enorme kollektive, öffentliche Macht verbunden. Eine kleine Elite, die auf den Finanzmärkten aktiv ist, kann diese Macht an sich reißen, und das ist auch schon passiert. Die Macht dieser Elite wiederum wird durch die politische Macht gestützt, die sich dieser Sektor durch gezielte und beharrliche Lobbyarbeit bei demokratischen Politiker_innen und den politischen Systemen verschafft hat. Den Klammergriff des Finanzsektors auf unser Geldsystem können wir nur richtig erfassen, wenn wir ihn mit dem Zugriff auf

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die öffentliche Abwasserentsorgung vergleichen. Könnte die Kanalisation in derselben Weise gekapert werden, würden wir in einer Welt leben, in der eine kleine Elite ein großes öffentliches Gut missbraucht. Diese Elite wäre fit und gesund, weil sie vor dreckigem Wasser und Krankheiten geschützt wäre. Der Rest der Gesellschaft hingegen wäre geschwächt, weil er nur unregelmäßig Zugang zu sauberem Wasser und hygienischer Abwasserbeseitigung hätte. In ökonomischer Hinsicht ist genau das passiert, seit der Finanzsektor sich Ende der 1960er und in den 1970er Jahren Zugriff auf das Geldsystem verschafft hat. Die Finanzeliten sind unvorstellbar reich geworden, die Mittelschichten und die Armen wurden ärmer, während die Ungleichheit explodierte und die Arbeiterbewegung entmachtet wurde. Die Folgen waren wirtschaftliche Krisenerscheinungen, gesellschaftliche und politische Unruhe. Deshalb ist es keine Frage: Die Macht der Geldschöpfung muss der Kontrolle dieser relativ kleinen Gruppe von wirtschaftlichen Akteur_innen entrissen werden, die sich auf den Finanzmärkten der Wall Street, der City of London und der Frankfurter Bankentürme konzentrieren. Diese Märkte müssen wieder den Interessen der Gesellschaft als Ganzes unterworfen werden. Wenn die Kreditschöpfung nicht im Interesse der Gesellschaft gesteuert und reguliert wird, wie es jetzt der Fall ist, dann wird der Einfluss des Finanzsektors auf die Gesellschaft dominierend, destruktiv und despotisch sein. Die wiederkehrenden Finanzkrisen der letzten vier Jahrzehnte werden sich wiederholen und unweigerlich zu immer schwerwiegenderen sozialen und politischen Unruhen und womöglich sogar zu Krieg führen. Aber die Kontrolle über das Finanzsystem wiederzugewinnen ist nicht ganz das Gleiche, wie zu einem System zurückzukehren, das auf einem falschen Verständnis von Geld und Kredit beruht. Wenn die Banker_innen ihre Macht verlieren sollen, Kredite zu schaffen, und die Kredit- oder Geldschöpfung nur in dem Umfang möglich sein soll, wie Ersparnisse des Volks zur Verfügung stehen,

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dann wären wir rasch wieder bei einer Art Tauschwirtschaft, mit der wir große Herausforderungen nicht finanzieren könnten. Entscheidend bei jedem Versuch, den Finanzmärkten die Macht zu entreißen, muss ein besseres allgemeines Verständnis für das Wesen von Kredit und die Geldschöpfung sein – und für das Geldsystem insgesamt. Ohne ein solches Verständnis wird es nicht gelingen, das bestehende System zu überwinden. Die Währungsreformer_innen haben viel dazu beigetragen, die Zusammenhänge zu erhellen und zu erklären, aber sie können die Öffentlichkeit auch verwirren, wenn sie wieder die Quantitätstheorie des Geldes hervorholen, die The Chicago Plan Revisited zugrunde liegt. Allgemeine Verwirrung, Missverständnisse und eine falsche Analyse würden jegliches politisches Handeln zur Veränderung des Systems verzögern. Schlimmer noch: Sie würden dafür sorgen, dass sich an der Gefahr, die der gegenwärtige anarchische Zustand des weltweiten Finanz- und privaten Bankensystems darstellt, nichts ändert.

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7 Das Finanzsystem unterwerfen, die Demokratie wiederherstellen Sozialismus ist dem Wesen nach die einer industriellen Zivilisation innewohnende Tendenz, über den selbstregulierenden Markt hinauszugehen, indem man ihn bewusst einer demokratischen Gesellschaft unterordnet. Karl Polanyi, The Great Transformation

Die »despotische« Macht des Finanzkapitals über die Länder der Welt hat seit den 1970er Jahren zu einer Reihe langwieriger Finanzkrisen geführt und zur Ansammlung von Bergen uneinbringlicher Schulden in privaten Händen. Diese Krisen haben den Gesellschaften hohe humanitäre, ökologische und ökonomische Kosten aufgebürdet. Nach Schätzungen des amerikanischen Finanzministeriums sind in der Krise der Jahre 2007 bis 2009 allein in den Vereinigten Staaten 8,8 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, und Vermögen der privaten Haushalte im Wert von 19 Billionen Dollar wurden vernichtet. Aber die Macht des Finanzkapitals hat noch mehr bewirkt: Sie hat unsere demokratischen Institutionen ausgehöhlt, weil die politische Macht, Ressourcen zu verteilen, privatisiert wurde. Der Finanzkapitalismus hat den politischen Institutionen die Macht geraubt, die Interessen ihrer heimischen Wähler_innen zu vertreten. Das ist Teil der Erklärung, warum der Finanzsektor insgesamt nicht die Kosten der Krise tragen musste. Die meisten Investor_in-

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nen wurden nach der Krise von 2007 bis 2009 gerettet. Bezahlen mussten direkt oder indirekt die Steuerzahler_innen, die Arbeitslosen, Bankrott gegangene kleine und große Firmen und die Obdachlosen. Die westlichen sozialdemokratischen und konservativen Parteien bezahlten ebenfalls einen hohen Preis dafür, dass sie sich auf die neoliberale Politik eingelassen hatten; dass sie versucht hatten, Wirtschaft und Politik voneinander zu trennen und mit dem Finanzkapital gemeinsame Sache gegen die Interessen ihrer Bevölkerungen gemacht hatten. All diese Kosten wurden durch das ungesteuerte und nicht rechenschaftspflichtige Agieren des Finanzkapitals verursacht. Doch wie die italienischen Ökonomen Massimo Amato und Luca Fantacci schreiben, kann eine so kleine Finanzelite diese despotische Macht nur ausüben, weil die westlichen Gesellschaften sich »dem Joch der Ideologie« unterworfen haben.1 Mit anderen Worten: Wir haben es mit einer Krise aus Ignoranz und politischer Ohnmacht angesichts bestimmter Ideen zu tun, die den Interessen einiger weniger nützen. Um die politische Kontrolle über den Finanzbereich wiederzuerlangen, ist in erster Linie ein besseres Verständnis der Geldschöpfung und des von Illusionen und ideologischen Vorstellungen getriebenen Handelns der globalen Finanzakteur_innen erforderlich. Das zu erreichen ist nicht leicht, weil ein Großteil ihrer Aktivitäten im Geheimen stattfindet, absichtlich den Blicken von Ökonom_innen und Politiker_innen entzogen, von der Gesellschaft insgesamt ganz zu schweigen. Weil die Aktivitäten von öffentlicher Kontrolle und wissenschaftlicher Überprüfung abgeschirmt wurden, konnte der Finanzsektor aus einem sozialen Konstrukt der Gesellschaft – Kredit und den sozialen Beziehungen zwischen Schuldner_innen und Gläubiger_innen – eine fiktive Ware machen und einen künstlichen Markt dafür herstellen, der unabhängig von staatlicher Aufsicht funktioniert. Zu dem utopischen Plan des Finanzkapitals, 1

Amato/Fantacci, The End of Finance.

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einen einzigen, nicht regulierten weltweiten »Schattenbanken«Markt für Kredit, mobiles Geld, Handel und Arbeit entstehen zu lassen, gehörte die Hoffnung, einen parallelen, sich selbst regulierenden Planeten unter privater Aufsicht zu schaffen. Dieser Planet sollte nicht durch menschliche Werte, Regulierungen, Verantwortlichkeiten und Standards eingeschränkt sein. Diese Werte, Standards und demokratischen Institutionen haben die Gesellschaften in Jahrhunderten einer fortschreitenden Zivilisierung hervorgebracht. Das utopische Ideal – eine autonome Parallelwelt für Finanztransaktionen – hatte man zuvor schon ausprobiert, vor dem Ersten Weltkrieg, als die »Globalisierung« in einem Desaster endete, und auch danach. Die Wiedereinführung des Goldstandards in den 1920er Jahren bedeutete: »Staaten und Völker waren nunmehr Figuren auf einem Schachbrett, das völlig ihrer Kontrolle entzogen war. Sie schützten sich vor Arbeitslosigkeit und Instabilität mit Hilfe von Zentralbankern […]. Welthandel bedeutete nun die Organisierung des Lebens auf diesem Planeten im Rahmen eines selbstregulierenden Marktes, der Arbeit, Boden und Geld umfaßte, wobei der Goldstandard als Wächter dieses unersättlichen Automaten fungierte.«2 Doch die Organisation eines solchen parallelen, autonomen und »automatischen« Planeten war und ist eine Illusion. Eine Gesellschaft kann nicht zulassen, dass sie durch ferne, nicht rechenschaftspflichtige Kräfte gesteuert wird. Die Gesellschaften werden die idealisierte, neoliberale Vorstellung eines einheitlichen, globalisierten Marktes für Finanzprodukte, Handel und Arbeit unweigerlich ablehnen. Die Menschen werden eine Welt nicht tolerieren, in der überall die Löhne auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner gesenkt werden. Eine Welt, in der eine kleine Gruppe von Investor_innen die Macht hat, über die Allokation und den Preis von Investitionskapital zu entscheiden. Eine Welt, in der Technokrat_innen und nicht rechenschaftspflichtige Politiker_innen die 2

Polanyi, The Great Transformation, S. 290f.

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Märkte für Geld, Arbeit und Waren »restrukturieren«, »reformieren« und anpassen sollen. Eine Welt, in der die »kleinen Fische« der Weltwirtschaft mit den »Haien« schwimmen und mit den sozialen, ökonomischen und politischen Folgen leben müssen, die es mit sich bringt, wenn die kleinen von den größeren Fischen gefressen werden. Aus der Krise der Jahre 2007 bis 2009 haben wir gelernt, dass ohne angemessene Regulierung und Kontrolle die Märkte das Vertrauen (oder Misstrauen) zwischen Schuldner_innen und Gläubiger_innen nicht kaufen und verkaufen können. Es trotzdem zu versuchen, bedeutet, das bestehende Vertrauen – in Geld, in die Finanz- und die politischen Institutionen – zu zerstören. Die Krise hat wieder einmal bewiesen, dass die sozialen Beziehungen einer Gesellschaft, ihre Werte und Standards sich nicht wie Rohstoffe, Fertigwaren und Dienstleistungen kaufen und verkaufen lassen. Man kann sie nur durch die Festsetzung demokratisch vereinbarter Standards sowie durch Kontrolle und Regulierung erhalten. Wie können wir nun die demokratische Kontrolle und Regulierung über das große Gut, das unser Geldsystem darstellt, zurückgewinnen? Die Antwort lautet natürlich, durch politische Mittel (das heißt mit dem nötigen politischen Willen und durch entsprechende Gesetze und Vorschriften) den Finanzsektor wieder auf seine eigentliche, untergeordnete Rolle zurückzuverweisen, die darin besteht, realen Märkten zu dienen, auf denen Waren und Dienstleistungen gehandelt werden. Das Problem, wie sich der politische Wille mobilisieren lässt, kann in diesem Buch nicht untersucht werden; das bleibt anderen überlassen, die dafür qualifizierter sind. Aber wenn Gesellschaften in der Lage sind, zu verlangen, dass der Finanzsektor rechenschaftspflichtig sein muss, welche Politik sollte dann gewählt werden, um ihn zu bändigen? Im Folgenden werden einige leicht erklärbare, aber entscheidende politische Vorschläge dargelegt – nichts Neues und Originelles. Doch sie sind erprobt und getestet

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und haben bewiesen, dass sie die Macht des Finanzsektors in Schranken halten können. Das erklärt vielleicht, warum sie so wenig diskutiert und erforscht werden.

Die Produktion von Geld steuern: Makroprudenzielle Instrumente Wir haben nur ein eingeschränktes Verständnis für die »Magie« der Geldproduktion durch Banken und andere Finanzinstitute, und private Banker_innen folgen bei der Produktion und Reproduktion von Geld dem »Herdentrieb«. Darum ist es wichtig, dass öffentliche Stellen (die Zentralbank und das Finanzministerium oder Schatzamt) die Produktion und Distribution von Geld steuern. Damit die Geldproduktion effektiv ist, muss sie im Bereich der Geschäftsbanken wie auch der Schattenbanken gesteuert und reguliert werden, und zwar sowohl in den einzelnen Ländern wie auch international. Ziel muss es sein, Höhenflüge und Abstürze zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass Investitionskapital all jenen zur Verfügung steht, die es für produktive Zwecke brauchen. Regierungen und Steuerzahler_innen müssen erkennen, welche Macht sie über die Banken ausüben können. Denn ohne die Garantien der Steuerzahler_innen und die Großzügigkeit der Zentralbank wären die meisten Banken insolvent (und einige sind es immer noch). Als Gegenleistung für ihre Unterstützung müssen die Zentralbanken und die demokratischen Regierungen das Recht haben, sich beim Management eines öffentlichen Guts einzuschalten: der Kreditschöpfung eines Landes. Ein Leitprinzip bei der Steuerung der öffentlichen Kreditschöpfung ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit: Die private Produktion von Investitionskapital für produktive Aktivitäten sollte mit niedrigen Zinsen gefördert werden. Hingegen sollte die Geldproduktion für spekulative Zwecke von den Behörden unattraktiv gemacht und mit hohen Zinssätzen belegt werden.

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Es gibt das Arsenal der sogenannten »makroprudenziellen Instrumente«, die Regierungen und Zentralbanken für die Steuerung der Geldschöpfung und Kreditproduktion zur Verfügung stehen. Regierungen können sie nutzen, um zu verfolgen und zu ermitteln, wie sich die Kreditschöpfung von privaten Banken im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung eines Landes entwickelt. Ein anderer Weg, die Kreditproduktion zu steuern, besteht darin, bestimmte Grenzen für das Kreditrisiko festzusetzen. In Deutschland werden Hypotheken nicht nach dem Marktwert einer Immobilie vergeben, wie es in den angelsächsischen Ländern der Fall ist. In Paragraf 16 des Pfandbrief-Gesetzes heißt es vielmehr, der Beleihungswert dürfe den Wert nicht überschreiten, der sich »unter Berücksichtigung der langfristigen, nachhaltigen Merkmale des Objektes, der normalen regionalen Marktgegebenheiten sowie der derzeitigen und möglichen anderweitigen Nutzungen ergibt«.3 Das bedeutet, dass der Kredit nicht bei jedem Immobilienverkauf den Wert des Objekts in die Höhe treiben darf, sodass jeder neue Käufer oder jede Käuferin für ein und dieselbe Immobilie mehr Kredit aufnehmen muss als der Vorgänger oder die Vorgängerin, was den Wert bei jedem neuen kreditfinanzierten Kauf steigen lässt. Durch die stetig steigende Kreditschöpfung werden die Immobilienpreise immer höher, mit der Folge, dass gerade die, die eine Wohnung am dringendsten brauchen, sie sich nicht mehr leisten können. Der deutsche Beleihungsauslauf berücksichtigt hingegen die langfristige Wertentwicklung eines Objekts. Folgen sind ein geringerer Beleihungswert, niedrigere Hürden bei der Kreditvergabe und stabilere Immobilienpreise. In Großbritannien haben die konservativen Regierungen das Instrument des leichten Kredits gezielt dafür eingesetzt, um die Immobilienpreise in die Höhe zu treiben und den sogenannten »Wohlfühlfaktor« zu stei3

https://www.gesetze-im-internet.de/pfandbg/BJNR 137310005.html [25. 8. 2017]; zur Situation in anderen europäischen Ländern siehe Trott, 2009 EMF Study on the Valuation of Property for Lending Purposes.

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gern. Doch dadurch standen immer weniger erschwingliche Immobilien für Erstkäufer_innen und Käufer_innen mit niedrigen Einkommen zur Verfügung. Wenn der Beleihungsauslauf im Vereinigten Königreich genauso vorsichtig und abgewogen kalkuliert würde wie in Deutschland, würde es meines Erachtens eine solche Knappheit, wie sie für den Immobilienmarkt in London typisch ist, nicht geben. Der Verschuldungsgrad im Verhältnis zum Einkommen und eine »Schuldenobergrenze« sind standardisierte Instrumente. Zentralbanken können von Geschäftsbanken verlangen, sie anzuwenden – und ihnen damit drohen, dass sie andernfalls ihre Lizenz für die Kreditvergabe oder die staatlichen Garantien für Kundeneinlagen verlieren.

Den Preis des Geldes steuern: Geldpolitik Kein Teil unseres Wirtschaftssystems arbeitet heute so schlecht wie unsere Geld- und Kreditregelungen; nirgendwo sonst sind die Ergebnisse des schlechten Funktionierens gesellschaftlich so katastrophal; und nirgendwo sonst ist es einfacher, eine wissenschaftliche Lösung vorzuschlagen. Keynes, Dezember 1923

Keynes’ großer Beitrag zur Geldtheorie und zur Politik seiner Zeit beruhte darauf, dass er einen wichtigen Punkt der klassischen ökonomischen Theorie widerlegte. Er sagte, der Zinssatz sei die Ursache und nicht, wie orthodoxe Ökonom_innen behaupteten, die passive Folge eines bestimmten Niveaus von ökonomischer Aktivität. Mit anderen Worten: Auf welchem Niveau Investitionen, Beschäftigung und Handel liegen, wird durch den Zinssatz bestimmt. Wenn der Zins zu hoch ist, sinkt das Niveau von Investitionen, Beschäftigung und Handel. Wenn er niedrig ist, steigt es.

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Die heutige Situation mit niedrigen Leitzinsen bestätigt Keynes’ Standpunkt. Die Zinsen erscheinen niedrig, aber das hat den Investitionen keinen Auftrieb gegeben. Es droht Deflation. Trotz niedriger Leitzinsen ist die Arbeitslosigkeit in weiten Teilen der Welt hoch (und wo die Arbeitslosenrate niedriger ist, sind die Beschäftigungsverhältnisse unsicher und schlecht bezahlt). Der internationale Handel ist gedämpft. Der Leitzins mag zwar niedrig sein, aber das betrifft nur jene, die Konten bei Zentralbanken haben: Geschäftsbanken. Die Akteure der Realwirtschaft – Haushalte, Unternehmer_innen, kleine und mittlere Firmen – haben mit höheren und steigenden Zinsen zu tun, die von den Risikomanager_innen in den Geschäftsbanken von Fall zu Fall festgesetzt werden, ohne dass sie einer effizienten Regulierung unterliegen. Die Bank of England veröffentlicht regelmäßig Berichte über »Trends in der Kreditvergabe« und bei der Preisfestsetzung für Kredite; 2015 registrierte sie, dass die Banken von kleinen und großen Firmen Zinsen um 4 Prozent verlangten, was deutlich über dem Leitzins von 0,5 Prozent lag.4 Während die Einlagenzinsen für Kundenkonten bei Geschäftsbanken zu vernachlässigen sind, bewegten sich die Überziehungszinsen um 10 Prozent. Kleine Unternehmen bezahlten für Überziehungen sogar noch sehr viel mehr: um 22 Prozent. Die Zinsen für Kredite mit einer Laufzeit von einem bis fünf Jahren lagen bei 8 Prozent und die Zinsen auf Kreditkartendarlehen im Bereich von 17 Prozent.5 Diese hohen realen Zinsen erklären zu einem großen Teil, warum die wirtschaftliche Aktivität nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern weltweit lahmt. Zu der Zeit, als dies geschrieben wird, haben die Zentralbanken ihre Zinssätze weiter gesenkt, in manchen Ländern sind die 4 5

Bank of England, Trends in Lending: April 2015. Bank of England, Bankstats (Monetary and Financial Statistics), Diagramm G1.1

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Zinsen auf Staatsanleihen mittlerweile sogar negativ. Das ist eine seltsame Entwicklung: Investor_innen oder Kreditgeber_innen bezahlen staatliche Kreditnehmer_innen (die Regierungen) dafür, dass sie sich von ihnen Geld leihen. Während Inflation die realen Zinssätze senkt, ließ der Rückgang der Inflation die Realzinsen steigen. Steigende Realzinsen, stillschweigend durch deflationären Druck herbeigeführt, werden die wirtschaftliche Aktivität (Produktion und Beschäftigung) weiter bremsen. Regierungen und Zentralbanken kannten sich mit den Wirkungen von Deflationsdruck nicht aus und waren unsicher, wie sie reagieren sollten. Viele begrüßten naiverweise die fallenden Preise, weil sie vermeintlich den Konsum ankurbeln würden. Tatsächlich sind fallende Preise ein Hinweis auf einen Rückgang der Nachfrage – der Nachfrage nach Geld, Arbeitskraft, Waren und Dienstleistungen. Viele Regierungen klammerten sich an ihre Sparpolitik, weil sie einer orthodoxen Wirtschaftspolitik verhaftet blieben (Kontrolle des Marktes durch die »unsichtbare Hand« und ein »schlanker Staat«), mit der sie die Nachfrage nicht ankurbeln und das Vertrauen in die Wirtschaft nicht zurückbringen konnten. Die Sparpolitik schwächte vielmehr die Weltwirtschaft, dämpfte die Nachfrage und verstärkte den Deflationsdruck, weil Länder wie China riesige Berge unverkaufter Waren ansammelten. Wie ich in Kapitel 2 ausgeführt habe, erklärt Keynes’ Theorie der Liquiditätspräferenz, dass die Zentralbanken die Zinsen und damit das Niveau von Produktion und Beschäftigung festlegen können, indem sie die Versorgung mit und die Nachfrage nach staatlichen Wertpapieren steuern (das heißt Staatsanleihen, Treasuries oder Gilts). Über die Höhe der Zinsen entscheidet nicht, wie viele neoklassische Ökonom_innen behaupten, die Nachfrage nach Ersparnissen.6 6

Detailliert erläutert wird Keynes’ Theorie der Liquiditätspräferenz bei Tily, Keynes Betrayed, Kapitel 7.

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Keynes hatte verstanden, dass in einem Wirtschaftssystem mit Bankengeld, in dem die Gesellschaft nicht länger auf die Überschüsse angewiesen ist, die Kapitalbesitzer_innen für Kredite oder Ersparnisse angesammelt haben, die Kapitalbesitzer_innen trotzdem einen Weg finden müssen, ihre Überschüsse anzulegen. Sie haben keine Kontrolle darüber, ob sie ihre Überschüsse tatsächlich investieren werden (irgendetwas müssen sie schließlich mit ihren Ersparnissen/ihrem Kapital tun!), aber sie können entscheiden, wie lange sie ihr Kapital investieren wollen, das heißt, für wie lange sie darauf verzichten, ihren Reichtum rasch zu Bargeld machen zu können. Geoff Tily erklärt: »Zinsen werden nicht als Belohnung für das Nichtausgeben (Sparen) bezahlt, sondern als Belohnung dafür, auf die Liquidität von Reichtum zu verzichten. Unternehmen und Staaten müssen die Haushalte nicht zum Sparen ermutigen, damit sie Zugang zu ihren brachliegenden Ressourcen bekommen. Wenn Unternehmen und der Staat sich Liquidität leihen wollen, müssen sie keinerlei Belohnung für den Zugang zu diesen Ressourcen bezahlen. […] Die Politik des Schuldenmanagements sollte einen vernünftigen und kohärenten Rahmen abgeben, um die unterschiedlichen Präferenzen von Unternehmen, Staaten und Haushalten für das Festhalten oder Ausleihen von Reichtum mit unterschiedlichen Graden von Liquidität oder Illiquidität auszugleichen.«7 Keynes sagte, wenn der Staat Einfluss auf den Zinssatz nehmen und ihn für eine bestimmte Zeit niedrig halten möchte, dann kann er seine eigene Kreditaufnahme, das heißt die Ausgabe eigener Wertpapiere (Schuldtitel oder Anleihen), so arrangieren, dass sie zu den Liquiditätspräferenzen der Kapitalbesitzer_innen passen. Manche möchten ihr Kapital vielleicht nur für einen Tag zur Verfügung stellen (um immer Bargeld zu haben), andere für dreißig Jahre (um Sicherheit beispielweise im Ruhestand zu haben), wie7

Ebenda, S. 199f.

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der andere für einige Monate (in der Hoffnung auf schnelle, spekulative Gewinne). Entscheidend für die Beeinflussung des Zinssatzes ist Keynes zufolge, dass eine ganze Bandbreite sicherer staatlicher Wertpapiere angeboten wird, die diese unterschiedlichen, vielfältigen zeitlichen Präferenzen abdecken. Weil der Staat der maßgebliche Emittent von Anleihen ist, kann er die Belohnung dafür, dass jemand sich über einen bestimmten Zeitraum von Liquidität trennt, durch die Schuldenverwaltung des Finanzministeriums oder Schatzamtes steuern. Indem der Staat eine Reihe von Wertpapieren schafft, anbietet und verwaltet, die die Wünsche der Investor_innen nach Liquidität über unterschiedliche Zeiträume berücksichtigen, hat er sowohl mehr Kontrolle über seine eigenen Finanzierungskosten und kann zugleich den Zinssatz über die entsprechenden Zeiträume in einer Weise festsetzen, die die Finanzierungskosten für den privaten Sektor reduziert. Von einem solchen soliden geldpolitischen Management profitieren sowohl der staatliche wie der private Sektor. Doch während die Geldpolitik zwar wichtig ist als Rahmen für wirtschaftlichen Wohlstand, ist sie im Allgemeinen doch nicht die ganze Antwort. In manchen Zeiten, etwa in unseren, reichen niedrige Zinsen und andere geldpolitische Instrumente nicht aus, um die Art von Investitionen zu stimulieren, die nötig sind, um die Beschäftigung zu steigern, die Produktivität zu verbessern und Einkommen zu generieren. Deshalb ist es wichtig, dass die Geldpolitik Hand in Hand mit der Fiskalpolitik arbeitet. Mit anderen Worten: Wenn die Geldpolitik einen Hebel bewegt, aber der private Sektor nicht investieren und Geld ausgeben will, dann ist es an der Zeit, dass die Regierungen investieren und Geld ausgeben – um Arbeitsplätze zu schaffen, die wirtschaftliche Aktivität und die Einkommen zu steigern und eine wirtschaftliche Erholung in Gang zu setzen.

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Austerität führt zur Verknappung sicherer Geldanlagen Keynes verstand, dass der Zinssatz eine soziale Variable ist, eine, die staatliche Stellen gezielt beeinflussen können und die zugleich das Finanzkapital auf Distanz hält. Tily erläutert, wie Keynes während des Zweiten Weltkriegs die Staatsverschuldung managte und half, den Zinssatz zu beeinflussen: »Im Zweiten Weltkrieg wandten die britischen Behörden ein Verfahren an, das als tap emission, Daueremission, bekannt ist. Nach diesem Verfahren emittierte der Staat Anleihen mit unterschiedlichen Laufzeiten (fünf Jahre, zehn Jahre und unbegrenzt) zu bestimmten Preisen, aber ohne finanzielle Obergrenze für jede Emission. Die taps bei jeder Anleihe blieben offen, damit Einzelpersonen und Institutionen die Laufzeit ihrer Wahl erwerben konnten, wann sie wollten und in welcher Menge sie wollten. Das System ermöglichte damit der Allgemeinheit, zu wählen, welche Menge an Schulden mit welchem Grad an Liquidität sie zu dem vom Staat festgesetzten Preis haben wollte.«8 Die politischen Schritte, die sich aus der Theorie ergaben, führten zu einem langfristigen Zins von 3 Prozent auf Anleihen gegenüber kurzfristigen Zinsen auf Schatzwechsel von 1 Prozent ab 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Das war eine außerordentliche Leistung und trug sehr viel dazu bei, dass Großbritannien die Kriegsanstrengungen finanzieren konnte. Doch wie bereits gesagt, ist Keynes’ revolutionäre Geldtheorie, sein Verständnis für die Natur von Bankengeld, für das Bankensystem und für das Zustandekommen von Zinssätzen bei den Verantwortlichen des Staates, im Finanzsektor und bei den Mainstream-Ökonom_innen seither aus der Mode und in Vergessen8

Ebenda, S. 202.

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heit geraten. In der Folge bringen hohe Realzinsen von Geschäftsbanken regelmäßig Kreditblasen zum Platzen und verursachen eine »Kreditklemme«.

Zinsen in der heutigen grotesken Weltwirtschaft Im Jahr 2016 setzten die westlichen Regierungen massiv darauf, durch die Geldpolitik die Zinsen zu senken und so die Wirtschaft anzukurbeln. Die Zentralbanken in den hoch entwickelten Volkswirtschaften übernahmen die Aufgabe, die Wirtschaft wiederzubeleben, während die Regierungen (mit der bemerkenswerten Ausnahme von China) buchstäblich auf ihren Händen saßen und nichts taten. In einem Verfahren, das als Quantitative Lockerung bekannt wurde, kauften die Zentralbanken Wertpapiere – Staatsschulden – auf den Anleihemärkten. Der Vorgang, Staatsschulden (Wertpapiere) zu kaufen und dann in die Bilanzen der Zentralbanken zu übernehmen, in Verbindung mit Kürzungen bei den Staatsausgaben und damit der staatlichen Kreditaufnahme, führte zu einer Verknappung der am meisten geschätzten Sicherheiten: Staatsanleihen oder Staatsschulden entwickelter Länder. Die Verknappung ließ die Preise für Staatsanleihen steigen und gleichzeitig die Renditen sinken (der Ertrag oder »Zins«). Die Zentralbanken glaubten, sie hätten ihr Ziel erreicht, die Zinsen für langlaufende Anleihen zu senken, und wandten daraufhin ihr Augenmerk mittelfristigen und kurzlaufenden Anleihen zu. Aber durch diesen rein geldpolitischen Versuch, die Wirtschaft anzukurbeln, hatten die Zentralbanken einen Engpass auf den Märkten für Staatsanleihen oder Sicherheiten erzeugt. Sicherheiten spielen wie Geld und Schulden eine zentrale Rolle dabei, dass das Finanzsystem »läuft«; sie kommen bei alltäglichen Transaktionen in Finanzzentren und bei der Geldschöpfung zum Einsatz. Hedgefonds, Investmentbanken und

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andere Investor_innen nutzen Sicherheiten, um kurzfristig Geld zu leihen und zu verleihen, oft über Nacht. Die Verknappung brachte 2015 die Flüsse im Finanzsystem zum Erliegen. Und das bewirkte, dass nach den Worten des Wall-Street-Kolumnisten David Stockman »einige Akteure bereit [waren], kurzfristig Kredit zu negativen Zinsen zu vergeben, um an Schuldpapiere von Uncle Sam heranzukommen«.9 Mit anderen Worten: Manche Akteure waren bereit, andere dafür zu bezahlen, dass sie ihr flüssiges Geld bei ihnen investieren konnten, um im Gegenzug sichere Wertpapiere zu erhalten – amerikanische Staatsschulden oder Treasuries. In der Tat eine groteske Entwicklung. Die Verfechter_innen einer radikalen Geldpolitik und konservativen Fiskalpolitik hatten Gläubiger_innen und Investor_innen gezwungen, entweder negative Zinsen auf ihre Investments hinzunehmen oder sich für Schaffung neuer Schulden riskanteren Anlageformen zuzuwenden. Bald wurde ein Großteil der Kreditschöpfung und der spekulativen Aktivitäten der Geschäftsbanken sowie des Schattenbanken-Sektors sowohl mit soliden wie mit riskanten Sicherheiten gehebelt. Es gab Befürchtungen, bei der nächsten »Klemme« würde ein »Sturm auf die Ausgangstüren« einsetzen, wenn die Gläubiger_innen /Investor_innen so schnell wie möglich ihre Positionen abbauen wollten (ihre Hebelgeschäfte oder Kreditaufnahme gegen Vermögenswerte) und nicht bereit wären, Bargeld zu akzeptieren, sondern stattdessen die Bezahlung oder Rückzahlung in Form von soliden Sicherheiten verlangen würden (die immer weniger zur Verfügung standen). Wie hätte Keynes auf diese potenzielle Krise regiert? Erstens hätte er die staatlich Verantwortlichen angewiesen, die riskante Kreditaufnahme des privaten Sektors gegen knappe Sicherheiten zu beschränken – mit anderen Worten, er hätte sich für Regulie9

Stockman, How The Fed Turned a Flood of Treasury Debt into a Scarcity of Repo Collateral.

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rung riskanter Kredite im Finanzsektor ausgesprochen. Zweitens sollten die Zentralbanken anerkennen, dass manche Schulden niemals zurückgezahlt werden, und zusammen mit dem privaten Sektor Verfahren ausarbeiten, um sie abzuschreiben. Drittens sollten die Regierungen entwickelter Volkswirtschaften damit beginnen, sich Geld zu leihen und auszugeben. Auf diese Weise würde das Angebot an soliden Sicherheiten – Schuldpapieren des Staates – wachsen. Und angesichts der Überschuldung des privaten Sektors und seines mangelnden Muts, zu investieren, würde Keynes sagen, dass die Zentralbanken mit den staatlichen Schuldenverwaltungen zusammenarbeiten müssten, um Schuldpapiere mit unterschiedlichen Laufzeiten zu emittieren. Diese neuen Schuldenemissionen würden dazu beitragen, den Wunsch des Finanzsektors nach sicheren Anlagen zu befriedigen. Mit anderen Worten: Die Zentralbanken sollten mit den Regierungen zusammenarbeiten, um das Leitungssystem des Finanzsektors in Ordnung zu halten und gleichzeitig die staatliche Kreditaufnahme und staatliche Investitionen zu nachhaltigen niedrigen Zinssätzen zu unterstützen. Eine solche Finanzierung durch die Ausgabe von Anleihen ermöglicht es den Staaten, zu investieren und Geld auszugeben, um Beschäftigung zu schaffen und wirtschaftliche Aktivität zu generieren. Gut bezahlte, qualifizierte Arbeitsplätze wiederum generieren das Einkommen und die Steuereinnahmen, die nötig sind, um die Wirtschaft anzukurbeln und staatliche und private Schulden zurückzahlen zu können. Doch heute werden Keynes’ Ratschläge ignoriert. Das Ergebnis sind groteske geldpolitische Entscheidungen und zunehmend riskante Entwicklungen auf den Finanzmärkten – die die Gefahr einer weiteren Krise heraufbeschwören.

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Der Umgang mit mobilem Kapital: Die internationale Dimension Von 1980 bis 2007 sind die grenzüberschreitenden Investitionen von 68 Prozent des BIP auf 438 Prozent angeschwollen, wie die Expertin für mobiles Kapital, Professor Hélène Rey, in einem viel beachteten Paper für das National Bureau of Economic Research feststellt.10 In den Schwellenländern haben die grenzüberschreitenden Geldflüsse von 35 auf 73 Prozent des BIP zugenommen. Professor Rey merkt an, wenn Kapitalflüsse »Gewinne bringen, sollten wir infolge der schieren Größenordnung der finanziellen Globalisierung seit den 1990er Jahren große Effekte in den Daten beobachten. Zahlreiche Studien haben versucht, die Wirkungen internationaler Kapitalflüsse auf das Wachstum oder die Volatilität des Konsums zu identifizieren. Erstaunlicherweise sind diese Wirkungen in den makroökonomischen Daten schwer nachzuweisen. Wie die jüngsten Analysen einer langen Liste empirischer Paper belegen, gibt es kaum robuste Belege, dass finanzielle Offenheit eine positive Wirkung auf das Wachstum oder eine bessere Risikostreuung hat […], sowohl in der Empirie wie in der Kalibrierung ist es bisher schwierig, solide Belege zu finden, dass die weltweite finanzielle Integration große quantifizierbare Vorteile hat.«11 Das ist ein außergewöhnliches Eingeständnis einer renommierten Ökonomin. Jahrzehntelang haben orthodoxe Ökonom_innen und ihre Freund_innen in Banken- und Medienkreisen stets das Loblied auf die Vorzüge von mobilem Kapital und internationaler Finanzintegration gesungen. Doch entgegen ihren Analysen haben rücksichtslose, leichtsinnige Kapitalflüsse über Grenzen hinweg nicht nur keine Vorteile gebracht, sondern waren wesentlich 10 11

Rey, Dilemma Not Trilemma, S. 311. Ebenda.

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für weltweite finanzielle Unsicherheit und wiederkehrende Finanzkrisen verantwortlich. Professor Rey hat nicht als Erste darauf hingewiesen, dass Daten fehlen, die wirtschaftliche Vorteile von Kapitalmobilität belegen. Bereits 1998 hat ein ebenfalls renommierter orthodoxer Ökonom, Professor Jagdish Bhagwati, überzeugend argumentiert (in einem Paper, das ebenfalls bekannt wurde), man habe uns »beschwatzt« zu glauben, die zentrale Säule der Globalisierung – die Kapitalmobilität – sei etwas Gutes. China und Japan, »unterschiedlich in ihrer Politik, in ihrer Soziologie und in ihren historischen Erfahrungen, haben bemerkenswerte Wachstumsraten ohne volle Konvertibilität ihrer Währungen verzeichnet. Westeuropas Rückkehr zu Wohlstand wurde ebenfalls ohne volle Konvertibilität erreicht. Kurzum, wenn wir den Nebel unplausibler Behauptungen durchdringen, der das Plädoyer für freien Kapitalverkehr umgibt, erkennen wir, dass Idee und Ideologie des Freihandels und seiner Vorteile […] dazu benutzt wurden, um uns zu beschwatzen, dass wir die neue Welt feiern, in der Billionen Dollar täglich ohne Rücksicht auf Grenzen herumschwirren.«12 So wie ein gut gelenktes Bankensystem die Abhängigkeit der Gesellschaft von heimischen Räuberbaronen beendet, sollte ein gut entwickeltes, solides Bankensystem auch die Abhängigkeit einer Gesellschaft und einer Volkswirtschaft von internationalem, mobilem Kapital beenden. Wenn das heimische Bankensystem im Interesse der Industrie und der Arbeitnehmer_innen gesteuert wird, sind Regierung, Industrie und Arbeitnehmer_innen nicht von Bond Vigilantes, die Anleiherenditen in die Höhe treiben, oder den »weltweiten Kapitalmärkten« abhängig und müssen sie nicht fürchten. Dass unsere Gesellschaft überhaupt den Verheerungen dieser Märkte zum Opfer gefallen ist, ist eine selbstverschuldete Tragö12

Bhagwati, The Capital Myth.

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die. Wir, oder zumindest unsere gewählten Repräsentant_innen und öffentlichen Institutionen einschließlich der Zentralbanken, haben zugelassen, dass der Geist der Kapitalmobilität aus der Flasche der heimischen Regulierung entweichen konnte. Und dann wurden wir – oder sie – »beschwatzt«, einer kleinen Finanzelite zu erlauben, dass sie enorme Mengen von privatem Vermögen schaffen und gleichzeitig den Rest der Welt mit Schulden, Volatilität, Krisen und wachsender Ungleichheit belasten konnte. Etwas verspätet wiederholte der IWF 2016 die oben skizzierten Auffassungen von Hélène Rey und Jagdish Bhagwati und formulierte in einem Paper mit dem Titel »Neoliberalism: Oversold?« (Wurde der Neoliberalismus überbewertet?) eine teilweise Entschuldigung. Darin hieß es: »Die neoliberale Agenda – ein Etikett, das eher von Kritiker_innen als von Architekt_innen der entsprechenden Politik benutzt wird – ruht hauptsächlich auf zwei Säulen. Die erste ist gesteigerter Wettbewerb – das wird erreicht durch Deregulierung und die Öffnung der heimischen Märkte einschließlich der Finanzmärkte für ausländische Konkurrenz. Die zweite Säule ist ein schlanker Staat, und das wird erreicht durch Privatisierungen und die Festlegung von Obergrenzen für Haushaltsdefizite und die Staatsverschuldung.«13 Ob eine solche Politik tatsächlich zu mehr Wachstum führe, lasse sich mit Blick auf zahlreiche Länder schwer entscheiden: »Auffallend sind die Kosten in Form von höherer Ungleichheit. Diese Kosten illustrieren, dass bei manchen Aspekten der neoliberalen Agenda das Wachstum zulasten der Gleichheit geht. Mehr Ungleichheit schadet wiederum dem Niveau und der Nachhaltigkeit des Wachstums. Selbst wenn Wachstum der einzige oder der wichtigste Punkt auf der neoliberalen

13

Ostry/Loungani/Furceri, Neoliberalism: Oversold?

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Agenda ist, müssen die Verfechter_innen dieser Agenda auf die Umverteilungseffekte achten.« Nichts davon ist neu für die Opfer der neoliberalen Wirtschaftspolitik in vielen armen, hoch verschuldeten Ländern. Aber das Schuldbekenntnis des IWF rüttelte an den Käfigstäben vieler neoliberaler wissenschaftlicher und medialer Institutionen. Dazu gehörte auch die ehrwürdige Financial Times, deren Wirtschaftsredaktion den IWF und seine »deplatzierte Entschuldigung für den Neoliberalismus« attackierte und erklärte, das mit Abstand wichtigste »weltweite ökonomische Thema ist der anhaltende Rückgang des Produktivitätswachstums«.14 Die Aussage hat eine gewisse Ironie, da viele Ökonom_innen das rückläufige Produktivitätswachstum als direkte Folge der Tatsache ansahen, dass das mobile Kapital die Investition in produktive Aktivitäten scheut und stattdessen spekulative Investments in volatile Finanzprodukte vorzieht. Genau das wurde durch die neoliberale Wirtschaftspolitik ermöglicht.

Dem leichtsinnigen, spekulativen, mobilen Kapital einen Riegel vorschieben Keynes hatte verstanden, dass in einem System mit Bankengeld nicht nur die Abhängigkeit von ausländischem Kapital ein Ende hatte, sondern die Länder sogar ihre Grenzen für leichtsinniges, mobiles internationales Kapital schließen sollten, um die Wirtschaft steuern zu können. Um das zu erreichen, befürwortete er Kapitalverkehrskontrollen: die Besteuerung grenzüberschreitender Kapitalflüsse. Kapitalverkehrskontrollen sind Steuern und etwas anderes als Devisenkontrollen. Letztere setzen eine Obergrenze fest, wie viel von der Währung eines Landes ins Ausland gebracht 14

Leitartikel in der Financial Times, A Misplaced Mea Culpa for Neoliberalism.

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werden kann. Hingegen ist die Finanztransaktionssteuer oder Tobin-Steuer eine Form der Kapitalverkehrskontrolle, eine Steuer und damit »Sand ins Getriebe« der Kapitalströme. Das übermäßig komplexe weltweite Finanzsystem heute unterscheidet sich sehr von dem Zustand zu Keynes’ Zeit. Doch angesichts der Komplexität und der Neigung von Risikoanalyst_innen, CEOs und den Teilzeitmitgliedern der Verwaltungsräte globaler Unternehmen, sich katastrophale Fehlurteile zu leisten, ist ein solides Regulationssystem heute nötiger denn je. Kapitalverkehrskontrollen werden oft abgelehnt mit der Begründung, man könne sie umgehen. Aber Steuern kann man auch umgehen – trotzdem spricht sich niemand für ihre Abschaffung aus. Die Staaten und Institutionen, die Kapitalverkehrskontrollen ablehnen, haben in der Vergangenheit oft Kontrollen für »heißes Geld« verfügt, wenn sie ihre eigenen ökonomischen Ziele verfolgten. Jetzt, da sie ihre Länder für stark genug halten, um dem Gegenwind des mobilen Kapitals widerstehen zu können, versagen sie dies den kleinen Fischen der Weltwirtschaft, den Schwellenländern und den armen Ländern.

Autonome demokratische Politik Dem Plädoyer für die Steuerung von Kapitalflüssen liegt die Voraussetzung zugrunde, dass gewählte, demokratische Regierungen die Pflicht haben, die heimische Wirtschaft im Interesse der Menschen zu lenken, die sie ins Amt gewählt haben – und nicht im Interesse von nicht rechenschaftspflichtigen, abwesenden Investor_innen, die auf weltweiten Kapitalmärkten agieren. Die Steuerung des heimischen Finanzsystems und insbesondere der heimischen Zinsen wird untergraben, wenn das Kapital uneingeschränkt mobil ist und Geldgeber_innen auf den internationalen Finanzmärkten jenseits der Grenzen eines Landes höhere oder niedrigere Zinsen anbieten, Zinsen, die möglicherweise den wirt-

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schaftlichen Bedingungen in dem betreffenden Land nicht angemessen sind. Keynes befürwortete Kontrollen der Kapitalmobilität, weil »die gesamte Steuerung der heimischen Wirtschaft davon abhängt, dass sie den für sie richtigen Zinssatz hat, unabhängig davon, welche Zinssätze anderswo in der Welt gelten. Kapitalverkehrskontrollen sind eine Begleiterscheinung davon«, schrieb er 1942 in einem Brief an R. F. Harrod. Und weiter führte er aus: »Die Bewegungsfreiheit des Kapitals ist ein wesentlicher Teil des alten Laisser-faire-Systems und geht davon aus, dass es richtig und wünschenswert ist, weltweit die gleichen Zinssätze zu haben. Das bedeutet gewissermaßen, wenn man annimmt, dass der Zinssatz, der Vollbeschäftigung in Großbritannien fördert, niedriger ist als der angemessene Zinssatz in Australien, dann gibt es keinen Grund, warum das nicht dazu führen sollte, dass alle britischen Ersparnisse in Australien investiert werden, in Abhängigkeit lediglich von unterschiedlichen Einschätzungen des Risikos, bis der Gleichgewichtszinssatz in Australien auf den Wert des britischen Zinssatzes gesunken ist.«15

Die Währung von der Kontrolle des Finanzsektors befreien Keynes verstand auch, dass die moderne Praxis, über den Zinssatz den Wechselkurs einer Währung zu steuern, der heimischen Wirtschaft schadet, weil die Zentralbanken gezwungen sind, sich auf die Interessen der Räuberbarone – der internationalen Kapitalmärkte – zu konzentrieren statt auf die Interessen der Akteur_innen in der heimischen Volkswirtschaft, die etwas herstellen und exportieren. Er argumentierte, die Zentralbanken sollten die Wechselkurse durch Käufe und Verkäufe der Währung in einer be15

Keynes, Letter to R. F. Harrod, 19. April 1942, S. 148f.

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stimmten Bandbreite steuern, statt die Zinsen zu manipulieren und anzuheben, um ausländisches Kapital anzuziehen. Dann könnte sich die Zinspolitik ganz auf die heimischen Interessen konzentrieren, und zugleich wäre für Stabilität und Transparenz bei der Festlegung der Wechselkurse gesorgt. Natürlich würde das internationale Kooperation der Länder erfordern, mit dem gemeinsamen Ziel, ihre Volkswirtschaften zu stabilisieren. Während dies geschrieben wird, scheinen die G8-Staaten entschlossen, ihren Weg allein zu gehen und sich jedem Versuch der internationalen Koordinierung und Kooperation zu widersetzen.

Der Brexit und die Notwendigkeit internationaler Kooperation und Koordinierung Internationale Kooperation ist entscheidend, damit Kapitalverkehrskontrollen nicht nur die heimischen Volkswirtschaften stabilisieren, sondern die gesamte Weltwirtschaft. Doch Politiker_innen, die mit den Lehren des Marktfundamentalismus groß geworden sind, lehnen derartige Kooperation ab. Die Herrscher_innen der sogenannten »freien Welt« wollten die internationale Koordination der Märkte für Geld, Handel und Arbeitskräfte lieber der »unsichtbaren Hand« überlassen. Insofern gleichen sie den schwachen Politiker_innen der 1930er Jahre, die die Verantwortung für die Weltwirtschaft dem automatischen, fantastischen Wirken des Goldstandards überlassen haben. Die geopolitische und ökonomische Verantwortungslosigkeit der heutige Politiker_innen hat zu den absehbaren Ergebnissen geführt: große wirtschaftliche Ungleichgewichte; wachsende Ungleichheit und politische Spannungen; gegenseitige Kriegsdrohungen der großen Mächte; Rückkehr des Nationalismus und sogar Faschismus in manchen Teilen der Welt. Großbritanniens Votum für den Brexit im Juni 2016 hat gezeigt, wie verbreitet – mit

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steigender Tendenz – nationalistische Einstellungen insbesondere bei älteren Angehörigen der englischen und walisischen Arbeiterklasse sind, die sich durch die Globalisierung »abgehängt« fühlen.16 Meines Erachtens kam in dem Abstimmungsergebnis über den EU -Austritt zum Ausdruck, dass sie sich dringlich Schutz vor den Verheerungen wünschten, die der Marktfundamentalismus angerichtet hatte. Immigrant_innen sind oftmals Opfer der Globalisierung und zugleich die deutlichste Illustration ungezügelter Märkte für Geld, Waren und Arbeitskräfte. Die Feindseligkeit gegenüber Immigrant_innen ist gewachsen, nicht nur in Europa, sondern auch in Nordamerika und Afrika. Diese Spannungen belegen nach meiner Einschätzung klar, welche gefährlichen Ungleichgewichte durch das ungehemmte Wirken der Marktkräfte und das Versagen des Internationalismus entstanden sind. Der Niedergang von Geist und Zweck des Internationalismus spiegelt sich vor allem in den Meinungsverschiedenheiten und Spannungen zwischen zwei Partnern des ehrgeizigen Projekts eines friedlichen, vereinten Europas wider: Deutschland und Griechenland. Doch weltweit haben die Spannungen zugenommen, hauptsächlich zwischen reicheren und ärmeren Ländern und zwischen Schuldner- und Gläubigerländern, aber auch innerhalb einzelner Länder. Wie können demokratische Gesellschaften diesen verheerenden Lauf der Dinge ändern, während die Welt auf eine Ära des chaotischen Protektionismus und der Kriegsdrohungen zuzurasen scheint? Ich meine, erstens und vor allem müssen wir eine Transformation unserer Finanzsysteme fordern. Der Finanzsektor muss wieder Diener sein, nicht Herr, sowohl gegenüber den heimischen Volkswirtschaften wie gegenüber der Weltwirtschaft. Die Steuerung der Finanzströme wird der Asymmetrie nach und nach ein Ende machen, die dadurch entstanden ist, dass Kapital 16

Mehr dazu bei Lord Ashcroft Polls, How the United Kingdom Voted on Thursday, and Why.

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gegenüber den komparativen Kostenvorteilen von Waren und Arbeitskräften einen absoluten Kostenvorteil besaß. (Die Mobilität von Waren und Arbeitskräften ist in unserer globalisierten Wirtschaft unweigerlich durch Hindernisse – physische, wirtschaftliche und politische – eingeschränkt, während es für die Mobilität von Kapital praktisch keine Hindernisse gibt. Das Kapital hat damit einen absoluten Vorteil gegenüber Waren und Arbeitskräften.) Die Frage ist, wie sich Kapitalströme lenken lassen. Kapitalverkehrskontrollen wie oben skizziert müssen ein Teil der Lösung sein. Aber für die Steuerung des internationalen Finanzsystems insgesamt müssen wir erneut zu Keynes zurückkehren, der in den 1930er Jahren direkt Erfahrung damit gesammelt hat. Sein Lebenswerk war darauf ausgerichtet zu verhindern, dass sich der wirtschaftliche Niedergang jener Ära und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs jemals wiederholten. Keynes legte bei der Konferenz von Bretton Woods 1944 einen Plan vor, wie reiche und arme Länder gleichermaßen einen Anreiz haben könnten, ausgeglichene Ströme von Geld, Waren und Arbeitskräften anzustreben. Er schlug eine International Clearing Union (ICU ) vor. Sie sollte so ähnlich funktionieren wie das heimische Bankensystem. Genau wie bei einem Bankensystem war das Herzstück des ICU -Vorschlags das Äquivalent einer Zentralbank: in dem Fall die Herrin aller Zentralbanken. Die Hauptaufgabe dieser neuen internationalen Zentralbank – der ICU – sollte es sein, die Geldflüsse zwischen Staaten zu steuern; dabei würde sie eine neue Währung, den Bancor, als maßgebliches Zahlungsmittel einsetzen. (Mit anderen Worten eine neutrale Währung, nicht die Währung einer Großmacht.) Wie jede andere Zentralbank (oder überhaupt jede gewöhnliche Bank) würde die ICU Einlagen und Abhebungen von Handel treibenden Staaten gegeneinander aufrechnen (»clear«). Und wie jede andere Bank würde die ICU Schuldnerländern einen »Überziehungskredit« einräumen, um ihnen die Fortführung ihres Handels zu er-

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möglichen. Doch Länder, die ins Defizit rutschten, sollte sie mit hohen Zinsen auf ihre »Überziehung« bestrafen. Aber die vorgeschlagene ICU unterschied sich von anderen Zentralbanken in einem wesentlichen Punkt: Sie sollte auch Länder bestrafen, die Überschüsse anhäuften. Mit anderen Worten: Länder, die Gewinne aus dem Handel ansammelten und bei der ICU deponierten, sollten Strafzinsen auf die Überschüsse bezahlen. Keynes argumentierte, dies sei nötig, weil Ungleichgewichte – wie heute zwischen dem verschuldeten Griechenland und dem florierenden Deutschland – gefährlich seien. Sie führen zu wirtschaftlichem Scheitern des Schuldners und, damit verbunden, zu politischer Feindseligkeit. Darum sind Anpassungen nötig, um das Gleichgewicht zwischen Handel treibenden Ländern wiederherzustellen, wenn wir Handels- oder Währungskriege, aber auch bewaffnete Kriege verhindern wollen. Doch im bestehenden System (und innerhalb der Eurozone) ist die Anpassung an derartige Ungleichgewichte nur für das Schuldnerland verpflichtend (zum Beispiel Griechenland oder Mosambik), aber für das Gläubigerland (wie Deutschland oder die Vereinigten Staaten) freiwillig. Wenn der Handel zwischen Ländern fair sein und nicht immer mehr Spannungen verursachen soll, dann müssen Schuldnerländer wie Griechenland und Gläubigerländer wie Deutschland gleichermaßen ihren Handel im Interesse von Gleichgewicht und Stabilität steuern. Dieser Plan würde Schuldner- wie Gläubigerländer zwingen, weniger zu importieren und zu exportieren. Stattdessen würden sie sich auf die Expansion ihrer heimischen Volkswirtschaften konzentrieren, darauf, unabhängiger zu werden – und das würde wiederum toxische Emissionen als Folge weltweiter Transporte reduzieren und so auch dazu beitragen, die Balance des Ökosystems wiederherzustellen. Wir können mit Sicherheit annehmen, dass dem Finanzsektor dieser Plan nicht gefiel. Warum? Weil die absolute Macht des glo-

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balen, mobilen Kapitals daher rührt, dass es mühelos Grenzen überwinden kann und dort an Institutionen und Einzelpersonen ausgeliehen wird, die Geld brauchen, wo die Zinsen am höchsten sind. Vor allem aber hängt seine Macht davon ab, dass das Geld in harter Währung zurückgezahlt wird. So ist das Finanzkapital zwar sehr darauf aus, armen Ländern Kredit zu geben (weil SubprimeKredite sehr viel profitabler sind), aber es steht vor dem Problem, wie sich die Rückzahlung sicherstellen lässt. Zum Glück für den Finanzsektor bietet der IWF Schutz an. Er tut das, indem er als Vermittler für die internationalen Gläubigerländer agiert und als Torwächter gegenüber Ländern, die Zugang zu den Kapitalmärkten suchen. Vor allem erzwingt der IWF Zahlungen, indem er dafür sorgt, dass Schuldnerländer ihre Wirtschaft umbauen, um mehr exportieren zu können und durch die Exporte harte Devisen zu erlösen. (Internationale Geldgeber_innen lehnen es ab, ihr Geld in der Währung armer Länder zurückzubekommen, wie nigerianische Naira, brasilianische Real oder mosambikanische Metical). Keynes’ Internationale Clearing-Union sollte einem ökonomisch und sozial ungerechten System des internationalen Handels und Kapitalverkehrs ein Ende machen, einem System, das Profit aus Ungleichgewichten im Handel zieht. Die ICU ist ein großes Vermächtnis von Keynes. Wie Edward Harrison gesagt hat, »nutzt [sie] Marktkräfte, um mehr Symmetrie bei den Anreizen für Schuldner- und Gläubigerländer zu schaffen, Ungleichgewichte zu überwinden«.17 Leider lehnte die aufstrebende Macht der damaligen Zeit, die Vereinigten Staaten, die Idee ab, bevor sie erprobt werden konnte. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Idee der ICU wieder hervorzuholen, damit die Gesellschaften die Ideologie des Marktfundamentalismus hinter sich lassen und Gleichgewicht, Stabilität und vor allem Frieden weltweit wiederherstellen. 17

Harrison, The German Current Account Surplus Requires Deficits Elsewhere.

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Politische Schritte, um den Finanzsektor der Realwirtschaft zu unterwerfen Ein Großteil der oben skizzierten politischen Maßnahmen führte in der Zeit von 1945 bis 1971 zu erkennbaren Erfolgen. In diesem Zeitraum steuerten die Regierungen im Interesse ihrer jeweiligen Bevölkerung die Kreditschöpfung und die Zinsen über das gesamte Spektrum der Kreditvergabe, kontrollierten die Mobilität des Kapitals und die Wechselkurse. Diese Abkehr von der finanziellen Anarchie der 1920er Jahre und Hinwendung zu einer Steuerung des Finanzsektors befreiten allmählich das Finanzsystem und die Wirtschaft aus dem Griff der vermögenden Eliten. Die Steuerung des Finanzsektors war das zugrundeliegende Prinzip der Finanzarchitektur von Bretton Woods, solange das System Bestand hatte (1945–1970). Diese Phase galt und gilt immer noch als das Goldene Zeitalter der Ökonomie. Die politischen Maßnahmen lockerten die Kontrolle des Finanzkapitals über die Gesellschaft und die demokratischen Institutionen. Macht, Status und Prestige von Banker_innen änderten sich in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten beträchtlich. Die bekannten Historiker Barry Eichengreen und Peter Lindert beschrieben diese Phase als »goldenes Zeitalter der Ruhe auf den internationalen Kapitalmärkten, eine Erfüllung des Segenswunsches ›Mögest du in langweiligen Zeiten leben‹«.18 Keynesianische Geldpolitik steuerte das Bankensystem so, dass es die Fiskalpolitik der Regierung unterstützte, im Interesse der Gesellschaft insgesamt, sodass alle maßgeblichen Akteur_innen in einer Volkswirtschaft ein Stück von einem größeren Kuchen abbekamen. Doch schon bald nach Keynes’ Tod wurden seine Theorie und ihre praktische Anwendung abgelehnt und kritisiert – wenig 18

Eichengreen/Lindert, The International Debt Crisis in Historical Perspective, S. 1.

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überraschend: vom Finanzsektor und seinen Freund_innen in der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft. Stattdessen kehrten die hayeksche (neoliberale) und die sogenannte keynesianische Schule zur alten klassischen Theorie zurück. Die behauptet wieder, für Investitionen brauche man Ersparnisse, Banken seien reine Vermittlungsinstanzen zwischen Sparer_innen und Kreditnehmer_innen, und so weiter. Vor allem aber vergrößert die klassische Theorie die Rolle von Finanzkapital und Kapitalmärkten bei der Kreditvergabe und spricht dem privaten Vermögen wieder die Macht zu, Zinssätze festzulegen. Es ist eine Sammlung einleuchtender Fantasien – eine Ideologie –, die die Reichen noch reicher gemacht und demokratische politische Entscheidungen und Finanzkontrolle systematisch beseitigt hat. Mit anderen Worten: Indem die orthodoxen Ökonom_innen die Politik und die Regulierungen beseitigten, die den Staaten erlaubten, die Wirtschaft zu steuern, gaben sie dem Finanzkapital die Macht zurück, die es vor dem Börsenkrach 1929 ausgeübt hatte. Damals wie heute lag die Macht nicht nur bei denen, die großen Wohlstand angehäuft hatten, sondern auch bei jenen, die durch Kreditvergabe neue Gewinne einfahren konnten. Die Banken haben die wahre Natur ihres Geschäfts verschleiert und damit eine neue Form von Despotie errichtet. Heute haben die Zentralbanken festen Zugriff auf die Leitzinsen, die für Banken gelten (jedoch nicht für andere Kreditnehmer_innen), aber keinen Einfluss und keine Kontrolle über die gesamte Bandbreite der Zinssätze. Über die Höhe der Zinsen entscheidet »der Markt«. In der Folge werden sie über das gesamte Spektrum der Kreditvergabe hinweg von den Handlanger_innen des Finanzkapitals sozial konstruiert – festgesetzt oder manipuliert –, von den »Submittern«, die in den Backoffices von Banken wie Barclays Zinssätze festlegen, und von Bankenkartellen wie der British Banking Association. Die Zinssätze werden nicht danach festgelegt, dass sie breiteren Interessen von Industrie und Arbeit entsprechen.

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Neoliberale Theoretiker_innen und Praktiker_innen (wie Jens Weidmann und Otmar Issing, der aktuelle Präsident und der ehemalige Chefvolkswirt der Bundesbank) sind sich der Natur der Kreditschöpfung vollkommen bewusst, wissen aber offenbar wenig über Bankengeld und ignorieren geflissentlich die Rolle, die Geschäftsbanken dabei spielen.19 Die Folgen dieses blinden Flecks stärken die Macht des Finanzkapitals. Das wiederum ist Teil der Erklärung, warum neoliberale Entscheidungen der Deutschen Bundesbank und der Europäischen Zentralbank die Volkswirtschaften in der Eurozone der hemmungslosen Spekulation der Kapitalmärkte ausgeliefert haben, ihrer riskanten Kreditvergabe (beispielsweise an Griechenland) und ihren Wucherzinsen. Aber es gibt auch Unterschiede. Die heutigen Räuberbarone besitzen einen solchen atemberaubenden Reichtum wie nie zuvor in der Geschichte. Und die Zinsen, die sie verlangen, um sich von ihrem Geld zu trennen, lassen den Wucher früherer Geldverleiher_innen geradezu bescheiden erscheinen. Keynes’ fiskalpolitische Vorschläge für Vollbeschäftigung und die Überwindung wirtschaftlicher Krisen wurden bislang als sein einziges herausragendes Vermächtnis dargestellt – isoliert von der Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Das war Teil grundsätzlicher Bemühungen des Finanzkapitals, unsere Demokratie auszuhöhlen. Eine Neubewertung des Erbes von Keynes wird nicht ausreichen, um die Macht des Finanzsektors zu brechen, aber sie ist auf jeden Fall nötig.

19

Häring, The Veil of Deception over Money.

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8 Ja, wir können uns leisten, was wir tun Wie können wir unserer Demokratie das öffentliche Gut, das ein modernes Bankensystem darstellt, wieder zurückgeben? Und wie können wir verhindern, dass dieses öffentliche Gut in der Zukunft gekapert wird, wenn wir uns um die Probleme des Klimawandels und der Energieversorgung kümmern? Ich schlage folgende Antworten vor. Erstens muss die Allgemeinheit mehr Verständnis entwickeln, wie ein Bankengeld-System funktioniert. Wissen ist mächtig und kann Macht verleihen. Die fehlerhafte ökonomische Ideologie, die heute dominiert, wird an Einfluss verlieren, wenn die Allgemeinheit mehr über das Finanzsystem weiß. Leider haben wir von unseren Universitäten in dieser Hinsicht nicht viel zu erwarten. Die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten sind überwiegend von »klassischen« und »neoklassischen« Ökonom_innen bevölkert. Sie haben keine hinreichend solide Grundlage in Geldtheorie, um darauf die adäquate Politik zu entwickeln. Überdies sitzen in den Fakultäten viele Mikroökonom_innen, die wirtschaftliche Prozesse in allen Einzelheiten und oft isoliert untersuchen und dann fälschlicherweise makroökonomische Schlüsse daraus ziehen. Stephen Ceccetti wies bei einem Workshop der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich im Mai 2012 auf einen zentralen Fehler der makroökonomischen Modellbildung hin: »Nehmen wir an, wir wollen den Tidenhub am Strand messen. Wir wissen, dass das Meer voller Fische ist, deshalb studieren

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wir ausgiebig das Verhalten von Fischen und entwickeln komplexe Modelle für ihre Bewegungen und Interaktionen. […] Das Modell ist großartig. Und das Modell ist nutzlos. Das Verhalten der Fische ist irrelevant für die Frage, die uns interessiert: Wie weit wird das Meer den Strand überspülen? […] Indem wir mikroökonomische Grundlagen legen, konzentrieren wir uns auf die Fische, während wir uns lieber mit dem Mond befassen sollten.«1 Mikroökonomische Modelle sind großartig, aber für unsere Zwecke sind sie nutzlos. Es ist nicht verwunderlich, dass die meisten Mainstream-Ökonom_innen an den Universitäten die berühmte Frage der englischen Königin nicht beantworten konnten: »Warum hat niemand die Krise vorhergesagt?« Ihre Modelle hatten die Flutwelle übersehen, die 2007 bis 2009 viele Banken und andere Finanzinstitute überrollte. Während die Finanzkrise immer weiter um die Welt wandert und die wirtschaftlichen Probleme zunehmen, halten viele Ökonom_innen nach wie vor Distanz zu den politischen Debatten, wie man die Weltwirtschaft stabilisieren und menschliches Leiden lindern könnte. Und viele verstehen immer noch nicht, wie der private Bankensektor Schuldenberge geschaffen hat, die so riesig sind wie das Universum und die Wirtschaft zertrümmern können. Die Zentralbanken – die »Hüterinnen der Finanzen eines Landes« – sind ebenfalls in Defätismus verfallen und haben alle Versuche aufgegeben, das globale Bankensystem umzustrukturieren. Robin Harding von der Financial Times verfasste nach dem Jahrestreffen der Zentralbanker_innen der Welt 2013 in Jackson Hole in Wyoming den folgenden deprimierenden Bericht: »Die Welt ist zu einem endlosen Kreislauf von Blase, Finanzkrise und Währungskollaps verdammt. Gewöhnt euch daran. Zumindest scheinen das die Zentralbanker_innen der Welt – die sich letzte Woche in all ihrer fragilen Großartigkeit zur 1

Cecchetti, Comment.

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jährlichen Konferenz der Federal Reserve Bank von Kansas City in Jackson Hole in Wyoming versammelt haben – zu erwarten. Kennzeichnend für ihre Diskussionen über das internationale Finanzsystem war eine fatalistische Hinnahme des Status quo. Trotz der Erfolge unkonventioneller Geldpolitik und einer Verschärfung der Finanzmarktregulierung in jüngster Zeit haben wir immer noch keine Möglichkeit, die Ungleichgewichte der Weltwirtschaft anzugehen, und das bedeutet neue Krisen in der Zukunft.«2

Wenn das Volk vorangeht, werden die Politiker_innen folgen In Anbetracht der defätistischen Haltung unserer Politiker_innen muss das Volk vorangehen. Ganz besonders wichtig ist das Engagement zweier sich überlappender Gruppen in der Gesellschaft. Wenn sie in den Diskussionen über das Geldsystem, über die Notwendigkeit, den Offshore-Kapitalismus wieder »onshore« zurückzubringen, über die Kreditschöpfung und die Steuerung und Bepreisung von Krediten die Führung übernehmen, ist die Chance viel größer, dass sie ihre Ziele durchsetzen. Die erste Gruppe sind die Frauen und die zweite Gruppe die Umweltschützer_innen. Für die Frauen ist das Thema zentral, denn erstens sind zwar meistens die Frauen für die Haushaltskasse zuständig, aber sie hatten lange kaum Einfluss auf das Finanzsystem eines Landes und dessen Haushalt. Zum Glück ändert sich das allmählich in dem Maße, wie Frauen an wichtige Schaltstellen in der Volkswirtschaft gelangen. Doch ob Studentinnen, berufstätige Frauen, Angehörige von Mütternetzwerken, Unternehmerinnen – an den Diskussionen über Geldtheorie und Geldpolitik sind sie oft nicht betei2

Harding, Central Bankers Have Given Up on Fixing Global Finance.

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ligt. Die Netzwerke, die heute die Debatten über Finanzfragen dominieren, sind überwältigend männlich und oftmals schockierend sexistisch. Ihre herablassende Einstellung gegenüber der Hälfte der Gesellschaft und ihre Freude über die ungleiche Verteilung des Wissens sind kein Zufall. Sie sind Teil der Despotie, die der großen Mehrheit schadet, Männern wie Frauen, und der Feminismus ist in einer hervorragenden Position, den Kampf dagegen aufzunehmen. Feministinnen sollten vor allem die Freunde der Finanzbranche jedes Mal zur Rede stellen, wenn sie den Satz formulieren: »Jede Hausfrau wird Ihnen sagen, dass man nicht mehr Geld ausgeben kann, als man hat«. Ich hoffe, es ist mir gelungen zu zeigen, dass das nur ein Trick ist, um die Realitäten der Kreditschöpfung zu verschleiern und vorsichtige Frauen mit bescheidenen finanziellen Mitteln dazu zu bringen, dass sie eine Politik unterstützen, die den Interessen leichtsinniger wohlhabender Männer dient. Zweitens ist der Refrain »Dafür ist kein Geld da« besonders oft zu hören, wenn es um die Interessen und Anliegen von Frauen geht. Es ist genug Geld da, um Banken zu retten, aber das Geld reicht nie, um die Dienste zu finanzieren, die Frauen für die Gesellschaft leisten. Es ist nie genug Geld da, um die hohe Sterblichkeit von Müttern und Neugeborenen weltweit zu senken; um Frauen anständige und gerechte Löhne und Gehälter zu bezahlen und berufstätigen Frauen eine adäquate, hochqualifizierte Kinderbetreuung zur Verfügung zu stellen. Die Schöpfung und Verwaltung des Geldes einer Gesellschaft spielen in den aktuellen feministischen Diskussionen keine große Rolle. Aber es ist ein feministisches Thema, ein entscheidendes Thema, wenn es um die Befreiung der Frauen vom Joch unbezahlter Arbeit geht. Die zweite Gruppe, die vom Engagement bei Fragen in Zusammenhang mit dem Geldsystem profitieren dürfte, sind die Umweltschützer_innen. Ich behaupte, dass zwischen der deregulierten, uneingeschränkten Kreditschöpfung, dem stetig steigenden Konsum und zunehmenden Treibhausgasemissionen eine direkte Be-

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ziehung besteht. Wenn die Umweltschützer_innen Konsum und Kreditschöpfung trennen, kämpfen sie auf verlorenem Posten. Wenn sie nicht verstehen, wie »leichtes Geld« den »leichten Konsum« und damit immer mehr toxische Emissionen finanziert, erkennen sie eine Falle nicht. Wenn sie nicht verstehen, dass die Rückzahlung teurer Schulden eine immer stärkere Ausbeutung der knappen natürlichen Ressourcen der Erde verlangt und bewirkt, werden sie den Kampf gegen den Anstieg der Treibhausgasemissionen und das Artensterben verlieren. Zwischen einem liberalen Finanzwesen und verschärfter Ausbeutung des Ökosystems besteht ein deutlicher Zusammenhang: Um das Ökosystem zu schützen, muss unbedingt zuerst der Finanzsektor reguliert werden. Doch es reicht nicht aus, sich mit Wissen und Einsicht zu wappnen. Wir müssen noch weiter gehen. Wir müssen unsere demokratischen politischen Institutionen wieder stärken, denn durch sie stimmt die Gesellschaft kollektiv und demokratisch legislatorischen und regulatorischen Veränderungen zu. Wir müssen verstehen, dass es kein Zufall ist, wenn unsere demokratischen Institutionen durch Deregulierung und Privatisierungen ausgehöhlt wurden, wenn unsere Politiker_innen kooptiert oder gekapert, ihrer politischen Entscheidungsgewalt und der Macht über die Verteilung von Ressourcen beraubt wurden. Das ist kein Zufall, sondern genau das, was das Finanzkapital mit seinem Handeln, seiner Lobbyarbeit und der Macht, die es über uns errungen hat, erreichen wollte. Um dem Finanzkapital die Stirn zu bieten, müssen wir uns in demokratischen politischen Parteien und Institutionen engagieren, sie neu aufbauen und stärken, müssen wir uns an politischen Debatten beteiligen und wählen gehen, und müssen wir laute, offene Diskussionen über Themen führen, die unser Leben massiv beeinflussen. Mit anderen Worten: Wir, das Volk, müssen uns organisieren; wir müssen ganz klar sagen, welche finanziellen und ökonomischen Veränderungen wir wollen, um zu einer ökologisch nachhaltigeren Welt zu gelangen.

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Ich habe lange geglaubt, ein Bündnis von Arbeitnehmer_innen und Industrie sei wichtig, um dem Finanzsektor wirksam die Stirn zu bieten. Dass den Interessen von Arbeitnehmer_innen und Industrie am besten gedient wäre, wenn man den Finanzsektor wieder auf seine eigentliche Rolle verweist, Diener und nicht Herr der realen, produktiven Wirtschaft zu sein. Manche sagen, der Zugriff des Finanzkapitalismus auf die Industrie mache ein solches Bündnis unmöglich. Ich bin nicht sicher. Es gibt Unternehmer_innen, die den Druck der Finanzleute und die Kosten des Rentierkapitalismus genauso ablehnen wie Gewerkschafter_innen und linke Aktivist_innen. Welche politischen Maßnahmen nötig sind, um das Finanzkapital einzuhegen, ist bekannt; in den vorangehenden Kapiteln habe ich sie skizziert. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Wir brauchen keine gesellschaftliche Revolution. Wir müssen nur das Wissen über und die Einsicht in Geld und Finanzwesen zurückerobern – Wissen, das der Gesellschaft seit vielen Jahrhunderten zur Verfügung steht. Wir müssen die Geldpolitik reformieren und neu justieren. Wir müssen Offshore-Kapital wieder ins Land zurückholen. Wir können die Uhr zurückdrehen und gleichzeitig vorwärtsgehen. Natürlich werden der Finanzsektor und seine Freund_innen in den Medien, an den Universitäten und im Establishment Widerstand leisten, weil eine Reform des Geldsystems das ist, was sie am meisten fürchten – sehr viel mehr, als dass ganz normale Bürger_innen aufbegehren und öffentliche Plätze in großen Städten besetzen. Protest ohne konkrete Vorschläge für politische Veränderungen, tatsächlich für einen grundlegenden Wandel, ist keine Bedrohung für das unsichtbare, ungreifbare weltweite Finanzsystem. Wenn wir die große Macht des Finanzkapitals nicht durch eine vernünftige Reform des Geldsystems brechen, befürchte ich, dass die Gesellschaft auf die Verelendung durch uneinbringliche Schulden, steigende Arbeitslosigkeit und sinkende Einkommen auf hässliche, chaotische, destruktive Weise reagieren wird.

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Aber es muss nicht so kommen. In diesem kurzen Buch habe ich versucht, den Menschen, die das Glück haben, in Gesellschaften mit einem entwickelten Bankensystem zu leben und mit den geeigneten staatlichen Institutionen, um die Funktionsfähigkeit der Banken zu erhalten, zu erklären, dass Geld für Investitionen niemals knapp sein wird. Mit der richtigen Geldpolitik können wir sicherstellen, dass die Gesellschaft das Geld hat, das sie braucht, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu überwinden und nachhaltige Energiequellen zu fördern. Weil Investitionskapital nie knapp sein wird, können wir uns die Energiewende leisten und haben auch noch genug für eine anständige Versorgung der alternden Bevölkerung, der jungen und der besonders verwundbaren Menschen. Natürlich können wir uns Kunst und Musik leisten. Kurz gesagt, wir können uns alles leisten, was wir innerhalb der Grenzen tun können, die unsere Natur und die Umwelt uns setzen. Aber die große Wende ist nur möglich, wenn wir uns mit einem umfassenden, angemessenen Verständnis für die Kapitalmobilität, für Geldschöpfung, Bankengeld und Zinsen wappnen – und dann Reformen fordern sowie die Wiederherstellung eines gerechten Geldsystems, das den Finanzsektor nicht länger Herr der Wirtschaft sein lässt, sondern wieder in die Rolle des Dieners verweist. Mit der Einsicht, was gerechtes Geld bedeutet, wie ein Geldsystem aussieht, das alle Bedürfnisse einer Gesellschaft abdeckt, können wir – als Frauen, Umweltschützer_innen, Gewerkschafter_innen, Produzent_innen, kreativ Tätige, als Unternehmer_innen, Designer_innen, Aktivist_innen und als landwirtschaftlich Tätige – unsere Politiker_innen dazu bringen, dass sie wieder das Richtige tun. Vor allem müssen sie klare, durchdachte Reformen des Geldsystems auf den Weg bringen, um das in Steueroasen geparkte Kapital zurückzuholen und die despotische Macht zu brechen, die das Finanzkapital über uns alle ausübt.

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Danksagung Zu großem Dank verpflichtet bin ich Dr. Geoff Tily, Chefvolkswirt des britischen Gewerkschaftsdachverbands TUC und Verfasser von Keynes’s General Theory, the Rate of Interest and »Keynesian« Economics (London 2007) und des wiederaufgelegten Buchs Keynes Betrayed (London 2010). Geoff hat mich großzügig an seiner umfassenden Kenntnis von Keynes und von Geldtheorie und Geldpolitik teilhaben lassen. Er hat mich auf Expert_innen und Fachwissen hingewiesen, und das immer mit Geduld, Esprit und Charme. Trotzdem kann er für die Aussagen dieses Buches nicht haftbar gemacht werden. Viele andere haben dunkle Ecken der Geldtheorie und Geldpolitik für mich erhellt, darunter Professor Victoria Chick, Professor Steve Keen und meine Kollegen bei der New Economics Foundation Tony Greenham und Josh Ryan-Collins. Mary Mellor, Margrit Kennedy, Susan Strange und Yves Smith haben mir geholfen, meine Gedanken zu ordnen und zu formulieren, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Gegenüber Geoffrey Ingham, Verfasser von The Nature of Money (Cambridge 2004), einem Buch, das wegen seiner klaren, forensischen Analyse des Geldes und des Geldsystems sehr wichtig für mich war, stehe ich in einer besonderen Schuld. Meinem Ehemann und besten Freund Jeremy Smith verdanke ich mehr, als ich ausdrücken kann. Er ist und bleibt der Wind unter meinen zunehmend zerzausten Flügeln. Und schließlich danke ich noch meiner Agentin Rachel Calder, meinem geduldigen Lektor Dan Hind und Leo Hollis, meinem Verleger bei Verso. Sie haben an mich und das Buch geglaubt, und solches Vertrauen ist ein Geschenk für jeden Autor und jede Autorin.

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Zur Autorin Ann Pettifor ist Ökonomin und Direktorin von Policy Research in Macroeconomics (PRIME ) sowie Mitglied der Organisation New Economics Foundation in London. Sie lehrt am Political Economy Research Centre der City University, London, und ist geschäftsführende Direktorin von Advocacy International.

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