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German Pages [477] Year 2021
Neue Phänomenologie
Barbara Wolf Christian Julmi (Hg.)
Die Macht der Atmosphären
VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495823781
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B
NEUE PHÄNOMENOLOGIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Neue Phänomenologie Herausgegeben von der Gesellschaft für Neue Phänomenologie Band 31
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. med. Walter Burger Prof. Dr. phil. Michael Großheim Prof. Dr. rer. nat. Jürgen Hasse Prof. Dr. phil. Hilge Landweer
https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Barbara Wolf / Christian Julmi (Hg.)
Die Macht der Atmosphären
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Barbara Wolf / Christian Julmi (Eds.)
The power of atmospheres Atmospheres are characterized equally by their profanity and their effectiveness. Wherever you look, atmospheres are a determining, perhaps even the most important element in human life. The aim of the anthology is to clarify the significance of atmospheres in emotional space both theoretically and practically, and to shed light on the phenomenon of atmospheres in its many facets, for example in architecture, art, medicine, psychiatry, pedagogy, care of the elderly, in professional and private life. The editors: Barbara Wolf was professor for childhood education at the SRH University Heidelberg from 2013 to 2020; since 2020 she is professor at the Kolping Stiftungshochschule Cologne; many years of professional experience in the elementary pedagogical field. Christian Julmi is a postdoctoral researcher at the Chair of Business Administration, in particular Organization and Planning, FernUniversität in Hagen.
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Barbara Wolf / Christian Julmi (Hg.)
Die Macht der Atmosphären Atmosphären zeichnen sich gleichermaßen durch ihre Profanität und ihre Wirkmächtigkeit aus. Wo immer man hinsieht, sind Atmosphären ein bestimmendes, vielleicht sogar das wichtigste Element im menschlichen Leben. Das Ziel des Sammelbandes besteht darin, die Bedeutung der Atmosphären im Gefühlsraum theoretisch und praktisch zu verdeutlichen und das Phänomen der Atmosphären in seinen vielfältigen Facetten, etwa in der Architektur, Kunst, Medizin, Psychiatrie, in der Pädagogik, in der Altenpflege, in Beruf und Privatleben, zu beleuchten. Die Herausgeber: Barbara Wolf war von 2013 bis 2020 Professorin für Kindheitspädagogik an der SRH Hochschule Heidelberg; seit 2020 ist sie Professorin an der Kolping Stiftungshochschule Köln; langjährige Berufserfahrung im pädagogischen Elementarbereich. Christian Julmi ist Habilitand und akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Organisation und Planung, der FernUniversität in Hagen.
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Gefördert durch die Gesellschaft für Neue Phänomenologie e. V.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49162-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82378-1
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Inhalt
Zu Beginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Barbara Wolf und Christian Julmi
11
Zur Philosophie der Atmosphäre Atmosphären als Mächte über die Person . . . . . . . . Hermann Schmitz
21
Geruch und Atmosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . Gernot Böhme
33
Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und die Macht der Atmosphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Guido Rappe Eingestimmte Subjekte? Das Kombinationsproblem des Panpsychismus im Licht der Atmosphärenkonzeption der Neuen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Voigt
41
60
Zum Begriff der Atmosphäre Was kann eine Gefühlsatmosphäre tun? . . . . . . . . . Atmosphären zwischen Immersion und Emersion Tonino Griffero
77
7 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Inhalt
Kollektive Atmosphären des Sports . . . . . . . . . . . . Robert Gugutzer
97
Heiliger Raum im Wandel. Zur atmosphärischen Macht von (profanierten) Kirchen . 117 Jürgen Hasse Kollektive Trauer. Formen der Vergemeinschaftung durch nahes und fernes Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Nina Trčka Gemischte Gefühle. Affektive Atmosphären von Hochschularchitektur . . . . 168 Christoph Michels und Dalal Elarji Von der Macht der Atmosphären. Eine korrespondenztheoretische Studie . . . . . . . . . 187 Reinhard Knodt
Zur Operationalisierung der Atmosphäre Implizites Wissen über Atmosphären . . . . . . . . . . . 201 Clemens Albrecht Zum Umgang mit Atmosphären. Atmosphäre als Handlungsressource und sinnliche Vermittlerin von Lebensmöglichkeiten . . . . . . . . . . 220 Rainer Kazig Religion und Atmosphäre. Überlegungen zum Potenzial sozial-räumlicher Arrangements in religiösen Situationen . . . . . . . . . . 240 Martin Radermacher 8 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Inhalt
Wirkmacht von Atmosphären. Ästhetische Verortungskoordinaten Andreas Rauh
. . . . . . . . . . . 260
Wer macht die Atmosphären? Eine kurze Einführung in das System der atmosphärischen Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Christian Julmi
Zur Praxis der Atmosphäre Hörbare Pflege? Der Beitrag der Akustik zur klinischen Atmosphäre . . . 305 Charlotte Uzarewicz Atmosphären im medizinischen Umfeld Wolf Langewitz
. . . . . . . . . 327
Therapeutische Atmosphären. Am Beispiel der Musiktherapie bei Demenzen . . . . . . 345 Jan Sonntag Die Wirkung von Atmosphären. Über den Umgang mit Attacken aus dem Prädimensionalen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Gabriele Marx Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären. Fallbeispiele aus der Prosopiatrie von prenzlkomm . . . 376 Cornelia Diebow
9 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Inhalt
Diversität schafft Atmosphären. Machtvolle Momente inklusiver Pädagogik . . . . . . . . 396 Barbara Wolf Wie kommt die Atmosphäre in die Atmosphäre? Das neue dreiteilige Wahrnehmungsmodell – Logos-Auge-Leib – als Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . 418 Petra Seibert
Zum Abschluss Hermann Schmitz im Gespräch mit Christian Julmi über Atmosphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Autoreninfos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
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Barbara Wolf und Christian Julmi
Zu Beginn
Im Jahre 2018 veranstaltete die Gesellschaft für Neue Phänomenologie vom 13. bis 15. April ihr XXVI. Symposion mit dem Thema »Die Macht der Atmosphären« an der Universität Rostock. Im Mittelpunkt der Tagung stand nicht nur das Thema Atmosphären, das im letzten Jahrzehnt im Rahmen des body turn 1 und des affective turn 2 in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen große Beachtung fand. Vielmehr stand ganz besonders im Vordergrund die Macht der Atmosphären, also die Art und Weise, wie diese Phänomene das Wahrnehmen, Erleben, Denken, Fühlen und Handeln des Menschen beeinflussen. Die Vorträge und Diskussionen beschäftigten sich gerade auch mit der Frage nach der unbewussten Wirkung von Atmosphären und Stimmungen und inwieweit man sich davon distanzieren kann. Atmosphären zeichnen sich gleichermaßen durch ihre Profanität und ihre Wirkmächtigkeit aus. Wo immer man hinsieht, sind Atmosphären ein bestimmendes, vielleicht sogar das wichtigste Element im menschlichen Leben. Wir suchen sie und wir meiden sie, und doch wissen wir kaum etwas über sie. Dass Atmosphären nicht nur in der Lebenspraxis, sondern auch als Gegenstände der Philosophie ernst genommen werden, ist ein zentrales Anliegen der Neuen Phänomenologie. »Die Macht der Atmosphären« – hier geht es nicht einfach um eine Beschäftigung mit Atmosphären schlechthin, sondern vor al1
Robert Gugutzer (Hrsg.): Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006. 2 Patricia Ticineto Clough (Hrsg.): The affective turn. Theorizing the social, Durham 2007.
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Barbara Wolf und Christian Julmi
lem um deren Macht über Menschen. Wie wirken Atmosphären, wie lassen sie sich beschreiben? Kann man sie beeinflussen – und sollte man sie beeinflussen, falls dies möglich ist? Welchen Atmosphären können wir uns nur schwer entziehen? Wie ausgeliefert sind wir ihnen? Was machen sie mit uns? Können Atmosphären überhaupt Macht haben? Wie wichtig die philosophische Erforschung der Atmosphären ist, zeigt sich, wenn sie auf Kollektive wirken, gleich ob in Politik, Ökonomie, Recht, Religion, Bildung usw., etwa in Form von Panik, kollektivem Zorn, gemeinsamen Eifer und Freude, die sich in Jubel entlädt. Das Atmosphärische des Gefühls ist zwar erst teilweise erforscht, wird und wurde jedoch privat und öffentlich umfassend ausgenützt, z. B. in der Politik, in der Werbung, in Zeremonien von Institutionen, im Theater und in der Literatur. Universal verbreitet ist diese Nutzung als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum einer Wohnung. Das Ziel des Sammelbandes besteht darin, die Bedeutung der Atmosphären im Gefühlsraum theoretisch und praktisch zu verdeutlichen und das Phänomen der Atmosphären in seinen vielfältigen Facetten, etwa in der Architektur, Kunst, Medizin, Psychiatrie, Pädagogik, Altenpflege, Sport, in Beruf und Privatleben, zu beleuchten. Indem sich der Sammelband dem Thema der Atmosphären widmet, trägt er nicht zuletzt der steigenden Aufmerksamkeit Rechnung, die dieses Thema in den letzten Jahren auch international erfahren hat. Der vorliegende erweiterte Tagungsband wurde gespeist durch die Vortragsthemen der Referenten einerseits und Spezialisten aus unterschiedlichen beruflichen und wissenschaftlichen Disziplinen zum Thema Atmosphären andererseits. Wenngleich nicht immer überschneidungsfrei haben wir das Werk zur besseren Orientierung in mehrere Sinnabschnitte eingeteilt. Der erste Sinnabschnitt dreht sich allgemein um die »Philosophie der Atmosphäre«. Zunächst unterscheidet hier Hermann Schmitz in seinem Beitrag Atmosphären als Mächte über die Person zwischen der passiven Seite der Besitzergreifung des Gefühls über die Person, etwa ein heftiger Zorn, und der aktiven Seite, die bewusst Stellung zur Atmosphäre bezieht, indem man Distanz dazu 12 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Zu Beginn
aufbaut. Insbesondere beschreibt er die mächtige Wirkung von Atmosphären auf den Leib. Gernot Böhme untersucht in seinem Aufsatz Geruch und Atmosphäre die olfaktorische Erfahrung als ursprünglichen Weltbezug. Er verweist auf die Unmittelbarkeit des Nahsinns Riechen und seine Bedeutung für das ästhetische Urteilsvermögen im Spannungsfeld von Abstoßung und Anziehung. Guido Rappe warnt in seinem Beitrag Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und die Macht der Atmosphären davor, die Qualität von Leiblichkeit, Subjektivität und Atmosphären im Rahmen der fortschreitenden Symbiose von Mensch und Maschine bzw. der künstlichen Intelligenz im Allgemeinen aus den Augen zu verlieren. Uwe Voigt verfolgt mit seinem Text Eingestimmte Subjekte? Das Kombinationsproblem des Panpsychismus im Licht der Atmosphärenkonzeption der Neuen Phänomenologie das Ziel, mit der Strömung des Panpsychismus innerhalb der neueren analytischen Philosophie des Geistes einerseits und der Neuen Phänomenologie andererseits zwei philosophische Forschungsperspektiven zusammenzuführen. Ausgangspunkt seiner Zusammenführung ist die Reflexion auf die je eigene Subjektivität. Der zweite Sinnabschnitt beschäftigt sich mit dem »Begriff der Atmosphäre«. Tonino Griffero setzt sich in seinem Text Was kann eine Gefühlsatmosphäre tun? Atmosphären zwischen Immersion und Emersion mit der atmosphärischen Wahrnehmung dieses machtvollen Phänomens auseinander. Er schlägt eine interessante Unterscheidung zwischen prototypischen, abgeleiteten und unechten Atmosphären vor und schließt mit einer »provisorischen Atmosphärenmoral« als atmosphärische Kompetenz. In Robert Gugutzers Beitrag Kollektive Atmosphären des Sports geht es einerseits um die wirkmächtige Bedeutung von Atmosphären im Sport für die Sportler selbst und das Sportpublikum. Andererseits geht es aber um eine systematische begriffliche Analyse von Situationstypen und kollektiven Atmosphären im Sport und einer Präzisierung von Hermann Schmitz’ Atmosphärentheorie. Jürgen Hasse thematisiert in seinem Aufsatz Heiliger Raum im Wandel. Zur atmosphärischen Macht von (profanierten) Kirchen unter anderem die Funktion und Relevanz von numinosen Atmosphären im sakralen Raum. Trotz der Profanierung von Kirchen im Zeichen der Säku13 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Barbara Wolf und Christian Julmi
larisierung bleibt die Wirkung von hybriden Atmosphären als Synthese des numinosen Raumes und seiner profanen Nutzung als Aspekte der ursprünglichen Ausdrucksmacht erhalten. Nina Trčka stellt sich in ihrem Aufsatz Kollektive Trauer. Formen der Vergemeinschaftung durch nahes und fernes Leid die Frage, wie kollektive Trauer angesichts der starken Vereinzelung des Menschen durch die Trauer möglich ist. Die Autorin untersucht diese Frage an Trauerfällen anlässlich des Todes einer nahestehenden Person und nimmt insbesondere die Interaktion der Betroffenen mit Trauerbegleitenden in den Blick. Christoph Michels und Dalal Elarji zeigen in ihrem Beitrag Gemischte Gefühle. Affektive Atmosphären von Hochschularchitektur anhand zweier Hochschularchitekturen, wie Hochschulräume durch das Zusammenspiel vieler Faktoren atmosphärisch »komponiert« werden. Mit ihren empirischen Vignetten erarbeiten sie ein spezifisches Atmosphärenverständnis, das eine hohe Kompatibilität mit den Ansätzen von Böhme und Schmitz aufweist. Abschließend plädiert Reinhard Knodt in seinem Text Von der Macht der Atmosphären. Eine korrespondenztheoretische Studie dafür, die Atmosphäre als ein »Korrespondenzgeschehen« aufzufassen, das seine Präsenz zunächst allmählich gewinnt, sich schließlich aber zu gewaltiger Macht entfalten kann. Der dritte Sinnabschnitt des Tagungsbandes stellt das Problem der »Operationalisierung der Atmosphäre« ins Zentrum. Hier konnte Clemens Albrecht mit seinem Artikel Implizites Wissen über Atmosphären eine wissenssoziologische und wissenschaftstheoretische Perspektive einbringen. Er diskutiert zusätzlich die Machbarkeit von Atmosphären aufgrund einer spezifischen atmosphärischen Kompetenz in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Praxisfeldern. Rainer Kazig sieht die Macht der Atmosphäre in seinem Beitrag Zum Umgang mit Atmosphären. Atmosphäre als Handlungsressource und sinnliche Vermittlerin von Lebensmöglichkeiten in dem Vermögen, mit atmosphärischen Kräften im Sinne der eigenen Interessen umgehen zu können. Mit ihrer Funktion als Handlungsressource und als sinnliche Vermittlerin von Lebensmöglichkeiten differenziert er hierbei zwei Bedeutungen von Atmosphären. Martin Radermacher untersucht 14 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Zu Beginn
in seinem Aufsatz Religion und Atmosphäre. Überlegungen zum Potenzial sozial-räumlicher Arrangements in religiösen Situationen religiöse Atmosphären, indem er auf die Wirkmächtigkeit sozialräumlicher Arrangements blickt. Die dahinterstehende These lautet, dass derartige Arrangements das semantische Potenzial bergen, in bestimmten sozialen Situationen religiöse Kommunikation, Praktiken und Erfahrungen zwar zu ermöglichen, diese aber nicht zu determinieren. Andreas Rauh umkreist in seinem Beitrag Wirkmacht von Atmosphären. Ästhetische Verortungskoordinaten verschiedene ästhetische Ideen. Er beginnt seinen Diskurs mit einem Feldforschungsprojekt über die Wirkmacht von Atmosphären, dessen atmosphärenrezeptive Fährten er mit den Konzepten der Schönheit und der Erhabenheit konfrontiert, um sich schließlich mit dem Fokus auf der Aisthetik damit zu beschäftigen, wie grundlegend Atmosphären unsere Wahrnehmung prägen. Schließlich setzt sich Christian Julmi mit seinem Beitrag Wer macht die Atmosphären? Eine kurze Einführung in das System der atmosphärischen Führung systematisch mit den atmosphärischen und sozialen Wirkmächten im Führungskontext auseinander. In einem Dreischritt erläutert er Kern, inneren und äußeren Zirkel des von ihm und Guido Rappe entwickelten Systems der atmosphärischen Führung. Der vierte Sinnabschnitt subsumiert Beiträge »Zur Praxis der Atmosphäre«. Charlotte Uzarewicz verdeutlicht in ihrem Aufsatz Hörbare Pflege? Der Beitrag der Akustik zur klinischen Atmosphäre die Rolle auditiver Reize für das Klima stationärer Einrichtungen in der Pflege. Sie zeigt anhand eigener empirischer Befunde qualitative Wirkungen von technischen und menschlichen Geräuschen auf und entwickelt auf der Basis der atmosphärischen Idealtypen nach Julmi eine Definition klinischer Atmosphären. Wolf Langewitz thematisiert in seinem Text Atmosphären im medizinischen Umfeld Argumente des Forschungsgebietes healing architecture bei der Gestaltung von Räumen für Menschen in prekären Lebenslagen. Anhand praktischer Beispiele diskutiert er Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung von Atmosphären im medizinischen Kontext. Jan Sonntag geht in seinem Artikel Therapeutische Atmosphären. Am Beispiel der Musiktherapie bei 15 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Barbara Wolf und Christian Julmi
Demenzen von der Prämisse aus, dass Menschen mit Demenz in erhöhtem Maße sensibel für Atmosphären sind. Daran anknüpfend entwickelt er Möglichkeiten der Konzeption und Gestaltung therapeutischer Atmosphären, wobei die Musiktherapie im Mittelpunkt steht. Gabriele Marx öffnet die Türen ihrer therapeutischen Erfahrung mit Atmosphären als ergreifende Mächte in dem Beitrag Die Wirkung von Atmosphären. Über den Umgang mit Attacken aus dem prädimensionalen Raum. Sie spricht insbesondere über Phänomene der wechselseitigen Einleibung in der therapeutischen Praxis und wie sich Therapeuten gegenüber heftigen Gefühlen als Atmosphären wappnen können. Dann folgt mit dem Artikel Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären. Fallbeispiele aus der Prosopiatrie von prenzlkomm eine dichte Beschreibung von Cornelia Diebow zu atmosphärischen Phänomenen ihrer therapeutischen Arbeit. Im Dreischritt Atmosphären meiden, Atmosphären tolerieren und Atmosphären wünschen zeigt sie Möglichkeiten der Heilung durch Gestaltung konstruktiver Atmosphären auf. In dem Beitrag Diversität schafft Atmosphären. Machtvolle Momente inklusiver Pädagogik zeigt Barbara Wolf drei Dimensionen der ideologisch aufgeladenen Debatte um Inklusion auf der soziologischen Mikro-, Meso- und Makroebene auf. Ergänzend werden mächtige Atmosphären auf der Ebene inklusiver Unterricht, pädagogischer Fachdiskurs und politische Debatte um Inklusion aufgespannt. Abschließend eröffnet Petra Seibert mit dem Text Wie kommt die Atmosphäre in die Atmosphäre? Das neue dreiteilige Wahrnehmungsmodell – Logos-Auge-Leib – als Leitfaden eine begrifflich-ästhetische Unterscheidung von drei Ebenen der Wahrnehmung im alltagspragmatischen Raum. Mit diesem Model ermöglicht sie ein neues Verständnis für verschiedene Wahrnehmungs- und Sichtweisen, quasi eine DNA der Atmosphären – und löst damit auch einen selbstreflexiven Prozess beim Leser aus. »Zum Abschluss« folgt dann ein Interview mit Hermann Schmitz zum Themenkomplex der Macht der Atmosphären, das Christian Julmi anlässlich des Sammelbandes in Kiel durchgeführt hat. Im Gespräch kommen hierbei auch Aspekte zur Sprache, die Hermann Schmitz so noch nicht schriftlich formuliert hat. 16 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Zu Beginn
Am Ende des Buches werden in dem Abschnitt »Zu den Autoren« noch die Kurzbiographien der Autoren vorgestellt, damit sich der Leser oder die Leserin ein Bild über den heterogenen, multiprofessionellen und interdisziplinären Hintergrund der Verfasser und den vielfältigen Diskurs dieses Werkes machen kann. Wir hoffen, das Interesse an dem Sammelband »Die Macht der Atmosphären« geweckt zu haben und wünschen viel Freude beim Lesen. Barbara Wolf, Christian Julmi
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Zur Philosophie der Atmosphäre
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Hermann Schmitz
Atmosphären als Mächte über die Person
Gefühle sind in der philosophischen Tradition hauptsächlich in zwei Rubriken eingeordnet. Die eine Auffassung vom Gefühl lehnt sich etwa an Kant an und besteht darin, das Gefühl als Lust und Unlust aufzufassen, womit die Seele auf irgendwelche äußeren oder inneren Reize reagiert. Die andere Auffassung ist die der älteren Phänomenologen um Brentano, Husserl und Scheler. Diese fassen die Gefühle als intentionale Akte auf, die sich auf einen Gegenstand richten, den sie mit Gefühlsqualitäten umkleiden. Beide Auffassungen halte ich für falsch. Gegen die Auffassung des Gefühls als Lust und Unlust habe ich auf den feierlichen Ernst verwiesen, ein starkes Gefühl, das weder Lust noch Unlust ist. Auf die Schwächen der Intentionalitätstheorie habe ich kürzlich eingehend hingewiesen. 1 Beide Auffassungen können in phänomenologisch haltbarer Weise berichtigt werden, wenn man sich überlegt, wie ein Gefühl vom Menschen Besitz ergreift. Diese Besitzergreifung hat eine passive und eine aktive Seite. Die passive Seite besteht darin, dass Atmosphären, wie zum Beispiel das Wetter und viele andere Atmosphären, die vom Wetter her metaphorisch so heißen, vom Menschen in leiblich spürbarer Weise, das heißt durch seinen spürbaren Leib hindurch Besitz ergreifen. Die aktive Seite, die aber auch fehlen kann, besteht darin, dass der Mensch, nachdem er vom Gefühl ergriffen ist – aber erst nach einer gewissen Weile –, als Person zu dieser Ergriffenheit Stellung nehmen kann, und zwar entweder sich ihr hingebend oder ihr
1
Hermann Schmitz: Zur Epigenese der Person, Freiburg/München 2017, S. 122– 136: »Bewusstsein von etwas« (Über Intentionalität).
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Hermann Schmitz
widerstehend, wodurch dann sein Gefühl auf die Dauer einen gewissen Stil annimmt, mit dem er dann tatsächlich fühlt, das heißt auf die von ihm empfangenen Gefühle eingeht. Auf der passiven Seite sind es die Atmosphären. Dass eine Atmosphäre in einem am Wetter abgelesenen Sinne den Menschen heimsucht und dadurch zu seinem Gefühl wird, ist eine allbekannte Tatsache. Das Wetter selbst ist von dieser Art, es ist gewissermaßen selbst ein Gefühl, indem es nämlich entweder heiter und freundlich den Menschen entsprechend heiter, gehoben und beschwingt stimmt oder aber als trübes, drückendes Wetter den Menschen entsprechend deprimiert. Das Wetter nimmt damit als Atmosphäre den Menschen emotional mit sich, indem es ihm ein entsprechendes Gefühl eingibt. Viele andere Atmosphären reihen sich dann an, die in ähnlicher Weise wie das Wetter Gefühle sind oder Gefühle induzieren, je nachdem, wie man sich ausdrücken will. Ich habe etwas provokant immer gesagt, Atmosphären sind Gefühle; aber wenn man die Gefühle lediglich dem Menschen vindizieren will, dann kann man ebenso gut sagen, die Atmosphären induzieren beim Menschen Gefühle, indem sie ihn leiblich ergreifen, und zwar mit affektivem Betroffensein. Es gibt eine ganze Menge von Erfahrungen so wirksamer Atmosphären, außer dem Wetter noch etwa der feierliche Ernst, der einen Menschen etwa in einer erhabenen, stillen, weiten Landschaft erfasst, etwa unter dem nächtlichen Sternenhimmel. Ebenso bei einem feierlichen Anlass oder auch in einer Kirche, die eine derartige Gestimmtheit suggeriert. Es gibt im Gegenteil eine ganz entgegengesetzte Atmosphäre, die den Menschen mit sich nimmt, das ist die Ausgelassenheit, die fröhliche Hingabe an eine alberne Stimmung, von der Goethe in dem Vorspiel zur Eröffnung des Berliner Theaters im Jahre 1825 die Muse beklagen lässt, dass »der Gebildete zuletzt erschrickt, wenn ihn Absurdes fesselt und entzückt«, er also in diese alberne Stimmung hineingezogen wird. Ebenso geschieht es zum Beispiel auf sogenannten Partys, Karnevalsveranstaltungen und ähnlichen lustigen und bewegten Festen, wobei zunächst eine Atmosphäre der Hemmung, der Verlegenheit und Verstimmtheit vorhanden ist, die dann mehr oder weniger mit einem plötzlichen Ruck – wenn es gelingt, in diese neue Atmosphäre hineinzukommen – 22 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Atmosphären als Mächte über die Person
umschlägt in eine ausgelassene Stimmung, eine Party, die den Menschen in ganz anderer Weise als im gewöhnlichen Leben Gelegenheit gibt, aus sich herauszugehen und auch einmal etwas mehr oder weniger Unvernünftiges zu machen. Es gibt da eine große Reihe weiterer Atmosphären, die man etwa unter Menschen erleben kann, je nachdem, ob die Atmosphäre unter Menschen gespannt ist oder ob sie entspannt und fröhlich ist. Die Atmosphäre einer Wohnung, die Atmosphäre einer Landschaft, etwa einer Gewitterlandschaft oder einer Landschaft im Hochgebirge, überall können wir hier von Atmosphären sprechen, die den Menschen so ergreifen, dass sie ihn nach sich stimmen und insofern selbst Gefühle sind. Auch Gefühle im ganz gewöhnlichen Sinne haben diesen Charakter als Atmosphären, zum Beispiel Freude ist eine Atmosphäre, die den Menschen spürbar hebt, so dass er leicht wird, dass er erleichtert wird, dass er sich leichter bewegt, eventuell sogar etwas springt oder besonders beschwingt bewegt. Und diese erleichternde Atmosphäre betrifft nicht den Körper, als ob der Körper besonders leicht würde, sondern den spürbaren Leib, und da sehr deutlich und gerade auch dann, wenn man keineswegs aus einem Kraftgefühl es leicht hat, in die Höhe zu streben, sondern sich etwa bei der Erleichterung von einer schweren Sorge in die Freude fallen lässt, und die Freude trägt und hebt einen dann nicht weniger. Ebenso ist die Trauer, der Kummer ein drückendes, ein nach unten ziehendes Gefühl, in das man sich fallen lässt und das einen keineswegs hebt. Und es ist ebenso die Scham eine aggressive Atmosphäre, die den Menschen gewissermaßen in sich verkriechen lässt mit dem äußerlich sichtbaren Symptom, dass er die Augen sinken lässt. Es ist der Zorn eine flammende Atmosphäre, die den Menschen aufreizt und aggressiv werden lässt. Es ist zum Beispiel das Schuldbewusstsein eine Atmosphäre, die es dem Menschen verbietet, den Menschen und sogar den Dingen gerade in die Augen zu sehen, weil er irgendwie von der Ahnung besessen ist, sie wüssten etwas von dieser Schuld und würden ihn damit anblicken. Hendrik de Stroker in seiner Monographie über das Gewissen spricht in diesem Sinne von der Allbekanntheit der Schuld als einer Atmosphäre des Schuldigen. Ärger ist eine Atmosphäre, die gewissermaßen die ge23 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Hermann Schmitz
samte Umwelt vergiftet dadurch, dass sie dem Verärgerten hinderlich wird und seinen Widerstand provoziert. Das alles sind spürbare Atmosphären, die selbst an Gefühlen haften, die dadurch entstehen, dass der Mensch von solchen Gefühlen heimgesucht wird und dass er davon leiblich irgendwie umgestimmt wird. Das sind einleuchtende Beschreibungen, die aber begrifflich noch sehr unklar sind, denn wir müssen uns jetzt darüber Rechenschaft geben, was eine Atmosphäre ist und was hier Leib heißt. Das lässt sich überhaupt nur bestimmen, wenn man zunächst auf den Raum eingeht. Das Charakteristische für Atmosphären ist eine gewisse Räumlichkeit, die von der gewohnten Räumlichkeit abweicht. Das für unser Denken gewohnte Raumverständnis betrachtet den Raum als ein dreidimensionales Gebilde mit Punkten, Linien, Flächen und Körpern, ein Gebilde, das von Orten besetzt ist, die dem Menschen gestatten zu sagen, wo etwas ist, und es dort zu finden. Diese Orte ihrerseits sind bestimmt durch an ihnen befindliche Objekte, die durch Lage und Abstandsbeziehungen zueinander orientiert sind, also sich gegenseitig bestimmen, und zwar so, dass gewisse Standardobjekte den Anhalt bieten, um an diesen Objekten Maß zu nehmen für die Abstände und Lagen der anderen Objekte. Das geht aber nur, wenn die Objekte, an denen die Standardorte gemessen werden, ihrerseits ruhen. Denn wenn sie sich bewegten, dann würden sich auch die Lage- und Abstandsbestimmungen ändern und man hätte den Eindruck, die Objekte, die an diesen anderen Orten tatsächlich ruhen, hätten sich bewegt. Ruhe und Bewegung wären nicht mehr unterschieden. Das ist ein wichtiger Gesichtspunkt: Wir können Ruhe und Bewegung nicht definieren, indem wir uns auf Orte in diesem Ortsraum im normalen Sinn – einem aus Orten zusammengesetzten Raum – beziehen, sondern wir müssen unser Verständnis der Ruhe und dann auch der Bewegung aus tieferen Schichten des Raumes schöpfen, wenn wir diese Begriffe zirkelfrei einführen wollen. Das führt uns auf die flächenlosen Räume. Das Raumverständnis in gewöhnlichem Sinn, mit relativen, sich gegenseitig bestimmenden Orten, hängt von Lagen und Abständen ab mit Hilfe der Fläche; Lagen und Abstände kann man nur an umkehrbaren 24 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Atmosphären als Mächte über die Person
Verbindungen ablesen. Dagegen sind die Verbindungen, die den Flächen vorausgehen, die leiblich spürbaren Verbindungen, nicht umkehrbar. Ich komme gleich darauf. Aber an der Fläche können umkehrbare Verbindungen, etwa als Linien zwischen Punkten, abgelesen werden. Und daraus kann dann weiterhin durch Zusammensetzung von Flächen die Vorstellung dreidimensionaler Körper entstehen. So kommt es zu einer Raumvorstellung mit Punkten, Linien, Flächen, Körpern und Orten, die durch Lagenund Abstandsbeziehungen miteinander verbunden sind. Das ist die übliche Raumvorstellung, die sich nur mit Hilfe des Auftretens der Fläche bilden lässt. Nun ist aber die Fläche ihrerseits leibfremd. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren. Der eigene Leib ist etwa so zu verstehen, dass zum Beispiel das Hungern und das Dürsten leibliche Regungen sind, wogegen die entsprechenden Veränderungen im Körper, die anatomischen Beschaffenheiten des Körpers und die physiologischen Veränderungen körperlich sind. Man hat sehr lange sich dabei aufgehalten, Hunger und Durst, diese leiblichen Regungen ebenso wie die anderen leiblichen Regungen, zum Beispiel auch Angst, Schmerz, Wollust, Müdigkeit, Frische, Wohlbehagen, Erleichterung und vieles dergleichen mehr, als bloße Akzidentien, bloßes Zubehör der betreffenden körperlichen Beschaffenheiten und Veränderungen anzusehen, gewissermaßen als Reflex, den diese Veränderungen in der Seele zurücklassen. Aber das ist eine vollkommen willkürliche Vorstellung, den Menschen mit einer solchen Seele als Spiegel des Körpers auszustatten. In der Tat handelt es sich um leibliche Regungen mit einer ganz besonderen Räumlichkeit, und zwar ist diese Räumlichkeit des Leibes flächenlos. Am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, daher den Leib auch nicht durch Flächen einteilen, etwa schneiden. Daher sind die leiblichen Regungen in diesem Sinne unteilbar, weil unzerschneidbar in der räumlichen Ausdehnung. Diese leiblichen Regungen sind aber verteilt auf Leibesinseln, wie ich gezeigt habe, also nicht kontinuierlich zusammenhängend, nur von Zeit zu Zeit stellt sich eine Kontinuität her. Außerdem ist diese Kontinuität hintergründig durch ganzheitliche leibliche Regungen, die hinter den teilheitlichen Regungen aus einzelnen Leibesinseln 25 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Hermann Schmitz
stehen 2. Der Leib selbst ist organisiert durch eine Dynamik, die in der Dimension von Enge und Weite beruht auf dem Zusammenspiel dieser Komponenten, dem sogenannten vitalen Antrieb, in dem Engung und Weitung verschränkt sind, mit verschiedener Gewichtsverteilung und verschiedenen Arten und Weisen der Mischung. Zweitens gibt es ebenso die Trennung von Engung und Weitung, privative Engung und privative Weitung. Dann gibt es die leibliche Richtung, die aus der Enge in die Weite führt. Und es gibt auch noch das Verhältnis von protopathischer und epikritischer Tendenz, aber davon will ich jetzt nicht sprechen. Das ist die Dynamik des Leibes. Aber hier sind wir erst bei der Ausdehnung des Leibes, und diese Ausdehnung des Leibes ist flächenlos; weder an den bloßen leiblichen Regungen kann man Flächen spüren, noch kann man sie spüren an denjenigen leiblichen Regungen, mit denen Gefühle empfangen werden, wie etwa die traurige Verstimmung von einer Atmosphäre der Traurigkeit. Ebenso wenig flächenhaft sind die leiblichen Regungen vom Typ der Bewegung, etwa einer ausladenden Handbewegung, die den Raum durchmisst, ohne durch irgendwelche Punkte und Linien sich zu ergehen, wenn es auch Richtungen dabei gibt. Ebenso wenig sind die bloßen leiblichen Richtungen, wie etwa der Blick, von Flächen durchsetzt. Sie sind flächenlos. Der Blick durchläuft einen Raum ohne Flächen, daher auch ohne Linien und Punkte, obwohl er in Punkten gewissermaßen enden kann, auf Punkte sich zusammenziehen kann, aber erst nach einem Zwischenraum, den er ohne solche Gliederung nach Art eines Ortsraumes durchläuft. Also am eigenen Leib kann man keine Flächen spüren, wenn man sie auch am eigenen Körper beobachten und betasten kann. Der leibliche Raum, der Raum des Leibes, gehört zu den flächenlosen Räumen, von denen es sehr viele Beispiele gibt. Das einfachste, abgesehen vom Leib, ist der Raum des Schalls, in dem es Enge, Weite und Richtung gibt, und zwar Richtung nicht nur als Richtung, die auf die Schallquelle zuführt, sondern auch als Richtung des Ansteigens- und Abschwellens etwa, man spricht von hohen 2
Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin/Boston 2011, siehe Sachregister Stichwort »Regung, ganzheitliche leibliche«.
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Atmosphären als Mächte über die Person
und tiefen, von schweren und leichten Tönen, von scharfen, spitzen Tönen, sich weit ausbreitenden Tönen. Miteinander führen sie durch Bewegungssuggestionen viele, sowohl zeitliche als auch räumliche Figuren auf, die dann als Bewegungssuggestionen etwa auf tanzende und marschierende Leiber übergreifen und zu dort wirklichen Bewegungen führen. Das alles sind die Formen, in denen der Schall räumlich ist, aber ohne jede Fläche. Dasselbe gilt ebenso von solchen plötzlich auf den Menschen einstürmenden Mächten wie dem Wind oder der reißenden Schwere, die den Menschen niederzwingt, wenn er sich nicht gegen sie stemmt. Das sind räumlich ausgedehnte, eingreifende Mächte, die den Menschen heimsuchen. Das sind Halbdinge, wie ich sie nenne, etwa die Stille mit Weite, Gewicht und Dichte, wie der Psychiater Minkowski sagte. Ein solches Halbding ist ebenso das Wetter. Das Wetter, das man unmittelbar am eigenen Leibe spürt, ohne in die Ferne zu blicken, und zwar als erlebte, befreiende Weite, wenn man etwa aus stickiger Luft mit einem tiefen Atemzug ins Freie tritt. Das sind solche flächenlos räumlich ausgedehnten Gebilde, und von dieser Art sind auch sowohl der Leib mit seinen Regungen als auch die Gefühle, wie zum Beispiel eben das Wetter. Sie sind Atmosphären: Die Atmosphären sind flächenlos ausgedehnt in einem Raum, der mit dem leiblichen Raum übereinstimmt; einem leiblichen Raum, der aus Enge und Weite, Engung und Weitung in ihrem Zusammenhang und Richtungen zwischen ihnen gebildet wird, zusätzlich aber noch bereichert ist durch die von mir so genannten abgründigen Richtungen, die aus der Weite, ohne erkennbaren Ursprung kommen, wie etwa die niederziehende Schwere oder der Wind oder auch die Gefühle als Erregungen, wie etwa Freude und Trauer oder die Schwermut oder die Bangnis als zentripetale Erregung. Das sind solche flächenlos ausgedehnten räumlichen Mächte. Ebenso ist der Leib durch die von mir anderswo genauer beschriebene Einleibung als leibliche Kommunikation eingespannt in eine Menge von Bewegungssuggestionen, die auf ihn zukommen, mit denen er sich auseinandersetzen muss, etwa im Ausweichen, im Zugreifen und dergleichen. Das sind Richtungen, die auf den Leib einstrahlen, aber mit bestimmten Ausgangspunkten, im Gegensatz zu den abgründigen 27 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Hermann Schmitz
Richtungen. So ist der Raum, bevor er zum Ortsraum wird, organisiert. Diese Beschaffenheit bestimmt auch den Charakter des Leibes und der Atmosphären mit einer Ausdehnung, die nicht im Ortsraum mit Hilfe von Lagen und Abständen definiert werden und keine Figuren bilden kann, Figuren, die durch Flächen um Körper entstehen oder durch Linien um Flächen und dergleichen. Das ist hier unmöglich. Diese Art von Ausdehnung, worin sich Atmosphären des Gefühls und der spürbare Leib gleichen, führt zu einer Koordination zwischen ihnen. In welcher Weise der Leib in dieser Art eng und weit ist, das habe ich anderswo genau bezeichnet. Dass auch die Gefühle in dieser Weise räumlich sind, lässt sich an der Grundschicht der Stimmungen, der reinen Stimmungen ablesen, die von vornherein Weite suggerieren, und zwar als erfüllte und leere Stimmung: Erfüllte Stimmung im Sinne einer Zufriedenheit, die nicht etwa Wunscherfüllung bedeutet, sondern ein gewisses Getragensein, ein gewisses Beruhen in der Weite des Raumes, das einen nicht allein lässt, und zwar etwa begründet in der Liebe eines Mitmenschen oder in einer harmonischen Familie oder im ruhigen, stolzen Selbstvertrauen oder in mystischer Frömmigkeit und dergleichen. Das ist eine erfüllte Stimmung. Die leere Stimmung ist so, als ob man in ein Loch fiele; sie ist charakterisiert durch eine qualvolle Beengung, die aber nicht bedrückend ist wie bei der Melancholie, sondern in einer Ortlosigkeit, in einer Unfähigkeit sich irgendwo zu halten besteht, wie schon bei den Wüstenvätern des Altertums, die, weil sie nicht mehr einsahen, warum sie in ihrer Zelle bleiben sollten, in der Mittagszeit herumirrten. Das ergab dann die sogenannte Acedia, ein solches reines leeres Gefühl, und das wird auch sonst vielfach beschrieben, bei den Franzosen heißt es Ennui, eine mit Ekel gemischte Langeweile. Dieses Gefühl kommt sehr oft in der Dämmerung vor, und in schmutzigen Großstädten. Das habe ich anderswo näher ausgeführt. Das reine leere und das reine erfüllte Gefühl als Grundschicht aller Gefühle bezeugen ihre Weite, während das Gefühl den Menschen zwar beengt, aber nicht selbst als Atmosphäre Enge besitzt. In dieser Weise stehen sich Gefühle und leibliche Regungen sehr nah, und sie gehen auch ineinander über, denn die Gefühle beruhen auf Atmosphären oder sind selbst At28 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Atmosphären als Mächte über die Person
mosphären, wie man es auch immer nennen will. Diese Atmosphären, die Gefühle sind, und also unbegrenzte Weite haben und aus nicht örtlich eingeschränkten Herkunftsstellen über den Menschen kommen, diese Atmosphären des Gefühls, die in unbestimmter Weite wurzeln oder aus ihr hervorgehen, denen entsprechen Atmosphären des Leibes, die aber örtlich viel besser bestimmt sind, die den Leib gewissermaßen umhüllen, etwa als die heitere, beschwingte Morgenstimmung oder auch die verstimmte Morgenstimmung, wenn man nicht richtig aufgewacht ist und mühsam aus dem Bett kommt. Das sind beides ganzheitliche Atmosphären, die den Leib umgreifen, zwar viele Komponenten in einzelnen teilheitlichen leiblichen Regungen haben, aber darüber hinausgehen durch ihre Integrationskraft. Diese leiblichen Atmosphären treten ebenso kollektiv durch Einleibung in dem von mir beschriebenen Sinne auf, zum Beispiel in dem gemeinsamen Eifer, den gemeinsamen Wallungen, gemeinsamem Zorn, der zunächst ein gemeinsamer, viele Leiber umfassender vitaler Antrieb aus Engung und Weitung ist, aber sehr nahe steht den entsprechenden Gefühlen, die sich ihm auflagern, zum Beispiel als Zorn und in einer entsprechenden Massenhysterie oder Massenaufregung oder als Panik. Das sind Gefühle als Atmosphären, die keineswegs auf einzelne Menschen bezogen sind, sondern die Atmosphären sind ebenso überpersönlich und beziehen ganze Massen ein wie einzelne Menschen, etwa auch als Jubel, in den die Menschen begeistert einstimmen, oder als zornige Erregung und so weiter. Diese begrenzten Atmosphären des Leibes und die aus unbegrenzter Weite herkommenden Erregungen des Gefühls gehen an dieser Stelle ineinander über. Jetzt aber will ich zu dem eigentlichen Thema kommen, nachdem erklärt worden ist, in welchem Sinne Atmosphären räumlich sind: Ich will nun auf die Macht der Atmosphären über den Leib eingehen. Dass die Atmosphären den Menschen leiblich ergreifen, ergibt sich daraus, dass sie ihm ganz bestimmte Bewegungen eingeben, die der Betreffende sofort beherrscht, ohne sich darum bemühen zu müssen. Der Fröhliche weiß sich leicht und beschwingt zu bewegen, vielleicht ein wenig zu hüpfen, um seiner Begeisterung Ausdruck zu geben. Er kann mit lachenden Augen 29 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Hermann Schmitz
blicken, kann mit leichter, gehobener Stimme sprechen, und seine Körperbewegungen haben sämtlich diesen Charakter. Das ist ein Bewegungsbild, das gar nicht so leicht bewusst nachzustellen ist, wenn man nicht groß im Nachstellen ist. Aber der Fröhliche schafft das ohne weiteres und ebenso der Bekümmerte, und sei er noch so ungeschickt, schafft es, schlaff und wie gebrochen dazusitzen, den Kopf sinken zu lassen, sich – als wäre er an der Stelle festgewurzelt – nur mühsam zu bewegen, schlaff und ohne Feuer zu blicken. Das ist ein motorisches Vermögen, das ihm vom Gefühl selbst eingegeben wird. Ähnlich geht es beim Beschämten, ähnlich beim Erzürnten und in vielen anderen Formen. Das heißt, das Gefühl verrät sich als eine den Leib ergreifende Macht durch die Bewegungssuggestionen, mit denen es selbst den eigenen Impuls dem Ergriffenen eingibt. Hier zeigt sich die besondere Macht der Atmosphären als Induktoren, als Einführer von Gefühlen in den Leib. Denn es gibt ja, wie ich schon sagte, beim Gefühl eine passive und eine aktive Seite. Diese aktive Seite kann auch fehlen. Dann ist der Mensch, ohne selbst Stellung zu nehmen, dem Gefühl hingegeben. Aber wenn er tatsächlich personal Stellung nimmt, dann geschieht diese Stellungnahme mit einer gewissen Verzögerung. Das ist anders als bei bloßen leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz und so weiter. Die kann man schon, wenn sie nicht ganz plötzlich kommen und ganz heftig sind, bei ihrem ersten Auftreten genau beobachten. Dagegen dem Gefühl muss man sich erst einmal überlassen, wenn es echt ist. Wer ein Gefühl gleich an der Schwelle seines Eintritts mit einer bestimmten Stellungnahme begrüßt, der war entweder nur von einem flüchtigen Anflug gestreift oder er fühlt nicht echt, sondern tut nur so. Aber das wirkliche Ergriffensein vom Gefühl geschieht nur so, dass man einfach hineingerät, stürmisch oder auch schleichend, ohne dass man es merkt, wird man von dem Gefühl befallen, und dann erst kann man Stellung nehmen. Das ist diese besondere Macht des Gefühls über den Menschen, zum Beispiel des Zorns. Erst muss man wirklich in Zorn geraten, und dann kann man dazu Stellung nehmen und zum Beispiel den Zorn in überlegener Haltung abschieben. Die Kunst der Bewältigung solcher Gefühle besteht darin, diese Zwischenzeit möglichst kurz zu 30 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Atmosphären als Mächte über die Person
gestalten; deswegen kann man auch Gefühle viel weniger beobachten als leibliche Regungen, weil man immer schon in das ergreifende Gefühl verwickelt ist. Es hat schon seine Macht bewiesen über den Leib, bevor man in der Lage ist, als Person dazu Stellung zu nehmen. Dies ist charakteristisch für Gefühle und unterscheidet die Atmosphären, die Gefühle sind, von den leiblichen Regungen. Die Atmosphären, die Gefühle sind, wird der Mensch deswegen nicht los, weil sie ihn immer schon besetzt haben, wenn er sich mit ihnen auseinandersetzt. Er ist insofern ihnen gegenüber nie ganz frei, aber er kann sie mehr oder weniger abarbeiten, und wenn ihm das ganz gelungen ist, ist er tatsächlich nicht mehr ergriffen. Das ist dann nur noch ein Scheingefühl, wie Nietzsche es sich zuschrieb, wenn er sagte, dass er auf seinen Gefühlen reitet wie auf Pferden oder besser noch wie auf Eseln und ihrer Herr werden könnte. Das war eine etwas übermütige Darstellung. Das echte Gefühl hat aber immer den Charakter der Unterwerfung, weil es gegenüber diesen ergreifenden Mächten nachträglich ist. Das beruht auf einer Art und Weise des Verhältnisses zum Gefühl, und zwar sind die Gefühle, wenn sie den Menschen ergreifen, unspaltbare Verhältnisse, wie ich es sage, also Verhältnisse, die nicht gerichtet sind, die nicht ordinal sind. Die gewöhnliche Verbindung ist eine Beziehung; eine Beziehung ist gerichtet von etwas zu etwas hin, auch wenn sie mehrstufig, mehrstellig ist. Die Beziehung hat also diesen ordinalen Charakter, dass ein erstes und ein zweites Glied in ihr ist. Und das ist bei den Verhältnissen nicht der Fall, die sind kardinal organisiert, also zum Beispiel wenn zwei Kräfte sich gegenseitig aufhalten an einer Grenzlinie, dann ist weder eines das Erste noch eines das Zweite. Dieses kardinale Verhältnis ist also bezeichnend für sehr viele Zustände, in denen der Mensch sich normalerweise befindet, aus denen er erst als Person mehr oder weniger herauskommt. In diesem Verhältnis ist er gewissermaßen hilflos, weil er keine gerichtete Beziehung zum Gefühl aufnehmen kann, sondern er steht zu ihm in einem ungespaltenen Verhältnis, er ist ihm gewissermaßen ausgeliefert. Die Aufgabe, dieses Verhältnis zu spalten und dadurch seiner Herr zu werden, eine Aufgabe, der zum Beispiel die Psychoanalyse sich widmet, ist die Ursache dafür, dass der Mensch den Gefühlen zu31 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Hermann Schmitz
nächst unterworfen ist: dass die Atmosphären, die Gefühle sind oder Gefühle induzieren, in ungespaltenem Verhältnis zu dem Empfänger, der menschlichen Person (oder auch der noch nicht personalen Menschen in der Unterschicht) stehen. Das ist die spezifische Macht der Atmosphären als Gefühle über den Menschen. Mit der muss man sich abfinden, ihnen erlag zum Beispiel der Fußballspieler, der bei einer Fußball-Weltmeisterschaft seine Karriere glänzend beenden wollte und dann von einem heimtückischen Gegner durch Beleidigung seiner Schwester so in Rage geriet, dass er dem Betreffenden einen Kopfstoß versetzte, und damit war dann sein Abgang als glänzender Fußballspieler schwer beschädigt. Davon wird man nicht herunterkommen, man ist in dem Gefühl ganz anders befangen als bei bloßen leiblichen Regungen.
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Gernot Böhme
Geruch und Atmosphäre
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Herkunft des Begriffs Atmosphäre
Der Terminus Atmosphäre wird seit dem 18. Jahrhundert in fast allen europäischen Sprachen zunehmend metaphorisch verwendet. Er stammt ursprünglich aus der Meteorologie und bezeichnet die oberen Luftschichten. Der Übergang zur metaphorischen Verwendung wird durch Wettererfahrungen vermittelt. 1 Wetter wird subjektiv durch die Stimmungen erfahren, die es in einem Menschen erzeugt: trübes Wetter, heiteres Wetter, Frühlingswetter usw. Das kann umgekehrt dazu führen, dass der Umschlag der Stimmungslage in einer Umgebung als Wetterveränderung wahrgenommen wird. So von Margarethe in Goethes Faust I. Nachdem sie in ihre Kammer zurückkehrt, in der sich gerade noch Faust und Mephistopheles aufgehalten haben, sagt sie: »Es ist so schwül so dumpfig hier und ist doch eben so warm nicht drauß’, es wird mir so weiß nicht wie-« (Faust I, 2752 ff.)
Atmosphäre ist danach die Stimmung, die in einem Raum hängt oder genauer ein gestimmter Raum. Diese Erfahrungsweisen sind besonders durch die neue Phänomenologie von Hermann Schmitz untersucht worden. In seine Auffassung von Atmosphäre geht allerdings ein starker Einfluss von Rudolf Ottos Begriff des Numinosen ein. Infolgedessen legt Schmitz darauf Wert, dass Ge1
Gernot Böhme, »Das Wetter in der Sprache der Gefühle. Mit besonderer Berücksichtigung Goethes«. In: A. Nova, T. Michalsky (Hrsg.), Wind und Wetter. Die Ikonologie der Atmosphäre. Venedig 2009, S. 247–258.
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Gernot Böhme
fühle keineswegs Zustände einer Seele sind – letztere nennt er affektive Betroffenheit durch leibliche Regungen. Gefühle dagegen sind quasi objektiv und haben räumlichen Charakter: Sie sind ergreifende Mächte unbestimmt in die Weite ergossen. 2 2
Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre 3
Tellenbachs Buch bildet die zweite Quelle für die Ausbildung des Begriffs Atmosphäre, wie er sich heute – vor allem als Grundbegriff der Ästhetik – eingebürgert hat. Tellenbachs Buch handelt trotz der Formulierung im Titel vornehmlich von Geruch – allerdings als ein Bestandteil olfaktorischer Erfahrung. Das mag für den heutigen Leser verwirrend sein, hat aber für die Herangehensweise von Tellenbach eine zentrale Bedeutung. Er siedelt nämlich dadurch die Erfahrung von Atmosphären in natürlichen, geradezu physiologischen Zusammenhängen ein. Das bedeutet: Die Erfahrung von Atmosphären ist keineswegs etwas spezifisch Menschliches oder gar Geistiges: Das Grundbeispiel atmosphärischer Erfahrung ist bei Tellenbach der Nestgeruch. Sehr viele Tiere, insbesondere Säuger, erkennen ihre Verwandten und ihren Ort am Geruch. Der Nestgeruch ist für sie die vertraute und schützende Hülle, in der sie sich zu Hause und wohl fühlen. Dasselbe gilt auch für den Menschen. 4 Für das Neugeborene und das Kleinkind ist die olfaktorische Wahrnehmung der ursprüngliche Weltbezug. Im Riechen und Saugen – so vermutet Tellenbach – fühlt sich das Kind mit der Mutter noch eins und darin am rechten Ort und geborgen. Dagegen wirken andere Gerüche und Geschmackserfahrungen befremdend.
2
Hermann Schmitz, System der Philosophie, Band III, 2, Der Gefühlsraum. Bonn 1969, S. 361 3 Hubert Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes. Salzburg 1968. 4 Siehe dazu Michael Hauskeller, Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung. Berlin 1995. Im Kapitel III. 1 Der Geruchsraum wird Geruch als Aura der Heimat bezeichnet.
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Aus diesem Hintergrund folgt Tellenbach den Schicksalen olfaktorischer Erfahrungen im weiteren Leben. Dabei macht er ausführlichen Gebrauch sowohl von literarischen Darstellungen, so etwa aus Dostojewskis Die Brüder Karamasow. Da sein Interesse als Psychiater naturgemäß auf pathogenetische Entwicklungen gerichtet ist, möchte ich nicht diese Stellen zitieren, sondern führe eine aus dem Roman eines anderen russischen Dichters an, nämlich aus Nicolai Gogols Die Toten Seelen. Sie ist ein charakteristisches Beispiel dafür, wie auch im späteren Leben der Geruch eine Atmosphäre von Zuhause und Vertrautheit erzeugt. Es handelt sich um Petruschka, den Diener des Romanhelden Tschitschikow, der als Mensch niederster Klasse bei den Reisen seines Herrn weder eigenes Bett noch Zimmer in Anspruch nehmen kann: Er bringt durch seinen Geruch überall hin sein eignes Zuhause mit und fühlt sich wohl. »Außer der Lesewut hatte er noch zwei Gewohnheiten, die zwei weitere Charakterzüge seiner Person bildeten: Er liebte es zu schlafen, ohne sich auszukleiden, so wie er ging und stand, in dem bekannten Rock, und ferner schleppte er immer eine eigene Atmosphäre, jenen ihm eigentümlichen Geruch, mit sich, der ein wenig an den Duft eines Wohnzimmers erinnerte, sodass er nur irgendwo sein Bett aufzustellen und seinen Mantel und seine Habseligkeiten mitzubringen brauchte, um sofort den Eindruck zu erwecken, dass dieses Zimmer seit 10 Jahren von Menschen bewohnt werde, selbst wenn bislang noch niemand darin gewohnt hatte. Tschitschikow, ein sehr empfindlicher Herr, der leicht Ekel empfand, rümpfte gewöhnlich die Nase, wenn er morgens, gleichsam auf nüchternen Magen, mit dem ersten Atemzuge diese Luft einzog, schüttelte den Kopf und murmelte: ›Hol dich der Teufel, Kerl! Du schwitzt wohl? Geh doch einmal ins Bad!‹« 5
Was Gogol hier mit thematisiert, ist die Differenz von zivilisiert und unzivilisiert. Der Prozess der Zivilisation (Norbert Elias) hat in Europa eine weitgehende Desodorierung durchgesetzt. Es waren seit dem 18. Jahrhundert die Strategien der Aufklärer, insbesondere der Hygieniker und der Diätetiker, es waren aber auch 5
Nicolai Gogol: Die toten Seelen. Köln, Lingenverlag. o. J., S. 22.
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Gernot Böhme
die von den oberen Klassen Schritt für Schritt verallgemeinerten Verhaltensregeln, die zu einer Zurückdrängung natürlicher, aber auch persönlicher Gerüche geführt haben, so dass die alltägliche Umwelt sowohl im Hause als auch außerhalb des Hauses im Großen und Ganzen geruchsfrei ist und insbesondere die persönliche Beziehung jenseits der Kindheit kaum noch darauf beruht, wie die Menschen einander riechend wahrnehmen. Dieser Prozess ist von Alain Corbin in seinem Buch Pesthauch und Blütenduft für Frankreich ausführlich beschrieben worden. 6 Diese Desodorierung unserer Umwelt und unserer kommunikativen Beziehungen bedeutet allerdings nicht, dass unsere Umwelt schlichthin geruchsfrei ist. Vielmehr wird das entstandene Vakuum durch Parfums und die Gerüche der Desodorantien wie auch der sonstigen Hygienemittel gefüllt. Was aber wirklich dabei verlorengegangen ist, sind die olfaktorischen Kompetenzen und die Orientierung in der Welt mit ihrer Hilfe. Das kann bedeuten, dass die zivilisierten Menschen, wir, den Umgang mit Atmosphären nicht gelernt haben, sodass ihr überraschender Einbruch gelegentlich pathogenetisch sich auswirken kann. Von der Art sind die meisten von Hubert Tellenbach beschriebenen psychiatrischen Befunde. Sie berichten von Fällen olfaktorischen Ausgesetztseins, das nicht mehr durch die distanzierte und objektive Weltbeziehung konterkariert wird. Die Macht entfesselter, olfaktorisch gespürter Atmosphären wird – fiktiv auf die Spitze getrieben – von Patrick Süskind in das Parfüm 7 dargestellt. Aus diesem Buch, das die Wahrnehmung und die Erzeugung von Gerüchen quasi wie in einem Labor seziert, lassen sich zwei wichtige Tatsachen der Geruchsatmosphären entnehmen: a) Man riecht sich gewöhnlich nicht selbst. Das ist verständlich, weil jede Qualitätserfahrung durch Gewöhnung verschwindet. Doch für Grenouille, dem Helden des Romans, bedeutet das, dass er keinen Eigengeruch hat und deshalb als kompetenter 6
Alain Corbin: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Berlin 1984. 7 Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1985.
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Parfumeur sich ein Menschenparfüm zulegt bzw. mehrere, nämlich in Abhängigkeit von der sympathischen und antipathischen Wirkung, die er in Bezug auf andere Menschen erreichen will. Dagegen schildert Tellenbach als Pathologiegefälle idiosynkratischer Eigenwahrnehmung Menschen, die durch die Vorstellung, wie sie riechen oder wie sie riechen mögen, ein gestörtes Verhältnis zur Umwelt haben. b) Gerüche sind von ihrer Quelle ablösbar – darin besteht ja ihr atmosphärischer Charakter: Sie tingieren den Raum. Bei Süskind wird das fiktiv auf die Spitze getrieben, indem sein Protagonist Grenouille junge Mädchen ermordet und sich durch parfumtechnische Praktiken ihres Geruchs bemächtigt: Er stellt aus deren Essenz ein Parfum her, dessen Attraktion und liebesstiftender Wirkung sich niemand entziehen kann. 3
Geruch als atmosphärischer Faktor
Atmosphären kann man erzeugen, und es lassen sich objektive Faktoren bzw. deren Konstellationen angeben, die der Erzeugung bestimmter Atmosphären dienen. Ein bedeutendes historisches Beispiel dafür haben wir in C. C. L. Hirschfelds Theorie der Gartenkunst. 8 Allgemein habe ich sechs 6 Arten angegeben, wie Atmosphären erzeugt werden: Klang, Licht (Farbe), Raumstrukturen und ihre Bewegungsanmutungen, Zeichen, Strukturen von Oberflächen und die dadurch gegebenen Synästhesien, Gerüche bzw. das Olfaktorische. Gerüche haben als Erzeugende von Atmosphären in mehrfacher Hinsicht eine ausgezeichnete Stelle. Das wird durch Tellenbach ausgedrückt in dem Satz: »Der Duft ist zugleich auch dieses Atmosphärische«. 9 Im Unterschied zu den meisten anderen Erzeugenden von Atmosphären zeichnet sich der Geruch durch die Direktheit einerseits und durch die Unmittelbarkeit seiner emotionalen Wirkung aus. 8
C. C. L. Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. 5 Bände. Leipzig 1779. Hubert Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes. Salzburg 1968, S. 46.
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Gernot Böhme
Zunächst Ersteres. Das Riechen ist ein Nahe-Sinn. Zwar mag die Quelle des Geruchs sehr fern sein – doch man riecht den Geruch immer unmittelbar hier. Das ist ein großer Unterschied etwa zum Sehen: Ich sehe den Baum dort in der Ferne, wo er ist, doch den Geruch habe ich immer in der Nase. Ferner ist das Riechen nicht abschaltbar – so wie man etwa die Augen schließen kann, um nicht zu sehen. Man ist also Gerüchen viel mehr ausgesetzt als anderen Sinneseindrücken – die Töne oder Geräusche allenfalls ausgenommen. Ferner – und das gilt für das Olfaktorische im Ganzen – ist, was man riecht oder schmeckt, unmittelbar zugleich mit seiner emotionalen Bedeutung gegeben. Genauer gesagt: In diesem Sinnesbereich ist die Unterscheidung von Zeichen und Bedeutung gar nicht zu machen. Beispielsweise in Bezug auf die Farben redet Goethe ja bekanntlich von der sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben. Das heißt, er unterstellt, dass man die Farben in der Wahrnehmung als solche konstatieren kann, also zum Beispiel dies ist rot, dies ist blau, und dann je nach Situation noch ihre affektive Wirkung zu spüren bekommt. Da redet man etwa von einem kalten Blau oder einem warmen Rot. Bei Geruchsqualitäten ist das jedoch nicht der Fall. Vielmehr ist in ihrer sinnlichen Qualität ihre emotionale Wirkung immer zugleich mitgegeben bzw. diese sinnliche Qualität ist ihre emotionale Wirkung. 10 Diese emotionale Wirkung der olfaktorischen Qualitäten bewegt sich mit vielen Nuancen in und zwischen dem Gegensatz von Anziehung und Abstoßung, von Habenwollen und Verwerfen. Diese Tatsache ist es wohl, die dazu geführt hat, dass man den Ausdruck Geschmack allgemein als das ästhetische Urteilsvermögen bezeichnet. Was schon in der englischen Ästhetik der Aufklärung taste hieß, wurde von Moses Mendelssohn als Billigungsvermögen bezeichnet. 11 Das Geschmacksurteil ist also niemals bloß die Konstatierung einer Tatsache, sondern immer zugleich 10
Man siehe dazu die Beschreibung von Geruchsbeispielen in: Ulrike Meyer: Das Riechen – ein vernachlässigter Leitsinn? Dipl.-Arbeit der Hochschule für Kunst und Design, Halle 2002, S. 43 ff. 11 In Mendelssohns »Morgenstunden«. Sämtliche Werke in einem Band als Nationaldenkmal. Wien 1838, S. 143 ff.
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der Ausdruck einer emotionalen Reaktion – einer Zustimmung oder Ablehnung, eines Habenwollens oder Verwerfens. Allerdings gibt es von olfaktorischen Erfahrungen zwei Modi, den intransitiven Modus und den transitiven Modus. So etwa beim Riechen: Wenn ich Süßes rieche, dann ist süß nicht der Gegenstand meines Riechens, sondern dessen Qualität. Das Riechen kann aber durchaus auch transitiv gewendet werden, etwa wenn ich sage, ich rieche Rosen. In solchem Satz wird in der olfaktorischen Erfahrung zugleich die Quelle des Geruchs oder Geschmacks identifiziert. Diese funktionale Weise olfaktorischer Erfahrung wird in der analytischen Chemie zunächst sogar zur Identifizierung von Substanzen benutzt – nämlich vor apparativer und indikativer Bestimmung. Auch war das Riechen früher ein Diagnoseakt, durch den der Arzt die Krankheit eines Patienten identifizierte. Es kann also sein, dass wegen des transitiven Modus die olfaktorischen Erfahrungen häufig quasi gebrochen sind oder dass gar ihre intrinsische emotionale Wirkung im Blick auf die Quelle des Geruchs und des Geschmacks übersprungen oder verdeckt wird. Das liegt vor allem daran, dass zivilisatorische Desodorierung unserer Welt zu einer Verödung der entsprechenden Sinneskompetenzen geführt hat. Diese Verödung bedeutet auch, dass die sprachliche Fähigkeit, olfaktorische Erfahrungen auszudrücken, äußert eingeschränkt ist. Dabei sind wohl Weinkenner und Gourmets auszunehmen, eigentlich aber nur diejenigen, die sich damit beruflich beschäftigen, wie Parfumeure und Küfer. Im Allgemeinen muss man dagegen sagen, dass die Gegenstände, die man mit einem Geruch oder Geschmack verbindet, in der Regel bloß Assoziationen sind, nicht etwa die Identifizierung der Quellen dieser olfaktorischen Erfahrungen. 12 Die Angabe von Gegenständen zur Charakterisierung von Geschmackserfahrungen ist also in der Regel keine Angabe über ihre Quelle, sondern weitere – hier assoziative – Charakterisierung ihrer Qualität.
12
Siehe dazu noch einmal die Dipl.-Arbeit von Ulrike Meyer unter »Geruchsbeispiele in beschreibender und assoziativer Stellungnahme«, a. a. O., S. 43 ff.
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Gernot Böhme
Abschließend können wir also bei der olfaktorischen Erfahrung, insbesondere beim Riechen, folgende paradoxe Situation feststellen. Obgleich im Prinzip diese Sinne, also Riechen und Schmecken, sehr wohl auch zu Urteilen und nicht bloß zu Beurteilungen führen können, hat gerade die Herabwürdigung und Verdrängung dieser Erfahrungen im Prozess der Zivilisation, insbesondere in Bezug auf das Riechen, die Desodorierung unserer Welt, dazu geführt, dass wir durch Geruchserfahrungen geradezu überfallen und hingerissen werden können. Speziell zum Riechen können wir sagen, was schon Platon in seinem Dialog Philebos feststellte, nämlich dass dem Genuss des Riechens kein Bedürfnis danach vorausgehen muss. Die Lust zu riechen sei deshalb rein, nämlich unvermischt, weil sie nicht auf der Befriedigung eines Bedürfnisses beruht – so wie etwa die Trinklust: Trinken ist so lange Lust, wie man noch durstig ist. Darüber hinaus aber müssen wir sagen, dass die Distanzlosigkeit verbunden mit der Unmittelbarkeit – unter Umständen der Plötzlichkeit – der Geruchserfahrung dazu führen kann, dass wir uns in einem Geruch ganz und gar verlieren und uns der Geruch als Atmosphäre zur Welt wird. Geruchserfahrungen können so zum Ereignis weltlicher Mystik werden.
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Guido Rappe
Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und die Macht der Atmosphären
Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) werden den Alltag immer weiter durchdringen, denn sie machen Dinge für uns bequem, sind Werkzeuge, mit denen wir unsere Lebenswelt gestalten und unsere Umwelt verändern! Unsere Propheten des TechnoNew-Age – zu denen etwa Minsky, 1 Kurzweil 2 oder Moravec 3 gehören – haben es vorausgesagt, und ihre Prophezeiungen scheinen sich zu erfüllen. Sie alle glauben, der digitale Fortschritt sei ausnahmslos gut; aber man darf skeptisch sein und nach dem Preis fragen. Denn wenn dieser zu hoch ist, sollte man ihnen ihren Fortschrittsglauben nicht abkaufen. Angesichts einer 100-jährigen Kritik am Fortschrittsglauben insbesondere durch die Lebensphilosophie (Ortega y Gasset, Spengler, Klages, aber in Amerika auch etwa Dewey) hat er etwas Naives. Damit soll nicht gesagt werden, dass naturwissenschaftlicher Fortschritt und neue Technologien wie die Digitalisierung grundsätzlich ›schlecht‹ sind. Im Gegenteil: Man ist geneigt, zunächst Wissenschaft und Technik als positiv zu betrachten, da sie dem Menschen helfen.
1
Marvin Minsky: The emotion machine. Commonsense thinking, artificial intelligence and the future of the human mind, New York 2007. 2 Ray Kurzweil: How to create a mind. The secret of human thought revealed, New York 2013. 3 Hans Moravec: »Nova«, unter: https://www.pbs.org/wgbh/nova/robots/mora vec.html (Stand: 12. 6. 2019); Hans Moravec: »Robots, re-evolving mind«, unter: https://frc.ri.cmu.edu/~hpm/project.archive/robot.papers/2000/Cerebrum.html (Stand: 12. 6. 2019); Hans Moravec: »Rise of the robots: The future of artificial intelligence«, unter: https://www.scientificamerican.com/article/rise-of-the-robots (Stand: 12. 6. 2019).
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Guido Rappe
Digitalisierung und KI können uns sehr viele Annehmlichkeiten bereiten. Und das ist eigentlich gut so! Aber das ›eigentlich‹ ist nicht unproblematisch; denkt man an die scharfe Kritik von Adorno an Heideggers Jargon der Eigentlichkeit. ›Eigentlich‹ kommt von ›eigen‹ mit der Bedeutung »›jmdm. (als Besitz) gehörend‹, dann ›einer Person oder Sache ausschließlich zukommend, für sie charakteristisch‹ und daher auch ›von besonderer Art, seltsam‹, ahd. eigan (8. Jh.)« sein. 4 Weiter gehören ›Eignen‹, ›aneignen‹, ›Eigentum‹ und ›Eigentümlichkeit‹ zur Wortfamilie. Mit Blick auf die Digitalisierung führt das zu der Frage, wie das ›eigentlich‹ weiter zu verstehen ist. Was ist die Digitalisierung eigentlich? Was ist für sie charakteristisch, was ihre besondere, eigene Art? Und was ist daran seltsam oder eigentümlich? Wozu eignet sie sich? Wer eignet sie sich an? Wessen Eigentum fördert das? Was ist ihre Eigentümlichkeit? Und dann noch: Was hat sie mit der menschlichen Eigentlichkeit zu tun? Die letzte Frage führt direkt zum Problem der KI, welche durch die heutige Digitalisierung bzw. die modernen Computer als universale, digitale Maschinen erst ermöglicht wurde. 5 Denn die KI beruht auf der Digitalisierung, durch die unsere analogen Rechner digital umgewandelt wurden und wir die Rechen-Kapazität erreichten, die es heute ermöglicht, auf eine Art maschinell zu rechnen, die den Menschen weit hinter sich lässt. Die heutige KI treibt zusammen mit dem Internet und dem sich ausbreitenden ›Internet der Dinge‹ die immer weitergehende Digitalisierung unserer Welt voran und soll immer ausgreifender menschliche Fähigkeiten imitieren. Dass dabei ein wichtiger Motor die waffentechnologische Forschung, also die Entwicklung von Killer-Drohnen und entsprechenden Robotern, Raketen-Systemen (usw.) ist, hat technologische Tradition. Davon hört man nicht mehr so viel, wenn es um die Digitalisierung in der Wirtschaft geht. Aber man sollte vorsichtig sein, beide Bereiche abzukoppeln. Alle Militär4
DWDS: »eigentlich«, unter: https://www.dwds.de/wb/eigentlich (Stand 12. 6. 2019) 5 Auch wenn es schon in Antike und Mittelalter in Form der sogenannten ›sprechenden Köpfe‹ primitive Vorläufer gegeben haben mag.
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technologie beruht auf einem immensen wirtschaftlichen Faktor, der sie vorantreibt, denn es lassen sich mit ihr riesige Gewinne erzielen. Waffen sind grundsätzlich ambivalente Werkzeuge; sie verdeutlichen das zentrale Problem des Menschen, nämlich die Frage nach dem ethischen Umgang mit ihnen. Dies gilt natürlich auch allgemein für den Umgang mit Werkzeugen, mit unserer Umwelt und, eigentlich an erster Stelle, den ethischen Umgang mit unseren Mitmenschen und allen anderen Lebewesen. Die Eigenart der Werkzeuge und Waffen besteht darin, dass sie eigentlich gut sind, aber schlecht gebraucht werden können. Von daher bleibt zu fordern: Je machtvoller sie sind, desto größer sollten die ethischen Auflagen ihrer Benutzung sein. Die Künstliche Intelligenz ist als Werkzeug eigentlich gut, aber wenn sie dazu benutzt wird, uns zu kontrollieren und unsere Freiheit zu beschneiden, ist das schlecht. Die durch sie unterstützte moderne Technologie ermöglicht es immer weniger Menschen, immer mehr zu töten und zu überwachen, d. h. zu beherrschen. Die durch die Maschine oder KI erhoffte Befreiung von der Mühsal der Arbeit droht so in eine Unfreiheit zu kippen, die ebenso schnell Diktatur, Techno-Faschismus und eine neue Kasten-Gesellschaft herbeiführen kann, je nachdem, wer die Technologien in den Händen hält und sie benutzt. Dass dieser Macht gegenüber diejenige der demokratischen Kontrolle immer kleiner wird, sollte bedenklich stimmen. Unsere Werkzeuge, Technologien oder die Wissenschaften sowie die Fragen nach den Mitteln der Erkenntnisgewinnung (etwa durch Tier- und Menschenversuche) und ihr Einsatz bzw. die Art und Weise der Benutzung sind gefährlich ambivalent; und dies sollte uns bewusst sein. In welchem Sinn sie benutzt werden, bestimmt der Mensch, der sie in die Welt setzt und mit ihnen hantiert. Deshalb ist der Mensch das größte Problem des Menschen, und dieses Problem kann, weil es ethisch oder moralisch (im Folgenden verwende ich die Begriffe synonym) und damit eigentlich menschlich ist, keine Digitalisierung und KI lösen! Die fortschreitende Verselbständigung der KI, die in ihrer Eigentümlichkeit und, wenn man so will, in ihrer Eigentlichkeit 43 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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besteht, verschafft uns zwar mehr Macht über unsere Umwelt, löst aber keine ethischen Probleme, sondern vergrößert diese nur. Denn wer ist es, der die Macht ausübt, sie in Händen hält? Und selbst wenn es eines Tages die ›große Bruder-Maschine‹ ist, wird damit kein Schritt in Richtung Lösung ethischer Fragen getan, da diese jeder für sich selbst lösen muss, und wir alle für uns. Dabei hilft keine Digitalisierung. Und eine techno-faschistisch verordnete Ethik (wie sie etwa dem Behavioristen B. F. Skinner vorzuschweben schien) nimmt dem Menschen seine Eigentümlichkeit und Eigentlichkeit! Im Ersatz des alten christlichen Gottes durch die große Computer-Singularität und ihrer Verwandtschaft in der ›Einzigkeit‹, also dem Monotheismus, zeigt sich allerdings eine aufschlussreiche Verschiebung der ›Stellung des Menschen im Kosmos‹ (Scheler), da er sich heute in der euro-amerikanischen Intellektual-Kultur weniger zwischen Gott und Tier verortet, sondern sich mehr und mehr zwischen Tier und KI stellt. Die menschliche Eigentlichkeit, die auf seiner Intuition und Intentionalität sowie seinem möglichen ethischen Bewusstsein beruht, wurzelt in seiner Fähigkeit, Gefühle zu fühlen, aber auch, sich durch seine Vernunft zu kontrollieren. Allerdings können weder die Macht der Vernunft noch die der Gefühle die ethischen Probleme lösen, denn die Macht der Gefühle ist ähnlich ambivalent wie die Macht des ›vernünftigen‹ technologischen Denkens. 6 Man kann aus dem Gefühl der Überzeugung und dem Glauben an das Gute schreckliche Verbrechen begehen. Und die Macht der Gefühle kann, wenn sie den Menschen ergriffen hat, ihn in den Abgrund des Wahns und des Leidens führen. Das Moralische aber, das sich in der Macht des Denkens und in der Macht der Gefühle zeigt, macht das Eigentliche, Eigentümliche und die Eigenheit des Menschen als Möglichkeit aus! Damit hat man eine erste Antwort auf die Frage nach der 6
Weshalb die sogenannten, meist kantisch inspirierten Vernunft-Ethiken der euro-amerikanischen Intellektual-Kultur mit ihren zweifelhaften Selbst- und sogar Letzt-Begründungen, die gerade durch die KI-Problematik immer deutlicher ad absurdum geführt werden und die immer schon kritisiert wurden, endlich auch wissenschaftlich offiziell als ›gescheitert‹ erklärt werden sollten.
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Eigenheit der KI mit ihrer formalen Vernunft und der Gefühle gefunden. Die Eigentümlichkeit und Eigentlichkeit der KI besteht im Unterschied zur menschlichen Intelligenz darin, dass die menschliche Intelligenz eine Entfaltungsform der leiblich-intuitiven Intelligenz des Lebens ist, also des Verstandes, wie man in der europäischen Tradition im Unterschied zur Vernunft sagte, die bzw. der sich in allen Lebewesen zeigt und gerade nicht ›künstlich‹ hergestellt ist oder werden kann! Es lassen sich zwar Kopien von bestimmten vorher reduzierten und funktionalisierten Teilbereichen herstellen, doch die Reproduktion ist nicht das Original! 7Die menschliche Intelligenz ist eine Manifestation des Lebens, die Künstliche Intelligenz ein elektro-mechanischer Ablauf und damit tot. Das Ausmaß, in dem wir heute das Leben ›kopieren‹, verführt uns zur Täuschung, die uns eine Lebensbewegung als mechanischen Ablauf sehen lässt, weil wir sie so manipulieren können. Und täuscht uns unsere Manipulationsgier über diesen Unterschied hinweg, macht sie uns selbst zu Maschinen, denn wir werden zu dem, was wir denken, glauben und tun bzw. ›machen‹ ! Die Manipulation des Menschen durch den Menschen macht ihn zur Maschine und dadurch jede Ethik obsolet. Die Rede von einer Maschinen-Ethik oder einer KI-Ethik zeigt schon die Selbsttäuschung des so Redenden! Eine Maschine verhält sich nicht menschlich, sie hat weder Intentionen noch Intuitionen, keinen Verstand, sondern besteht nur in formal bestimmten, elektrochemischen Abläufen. Das ändert auch keine formale Selbstbezüglichkeit, Autopoiese oder Selbstorganisation! Aber wir sind frei zu glauben, dass es intentionale Maschinen gibt, und uns von ihnen so täuschen zu lassen, dass wir glauben, sie wären wie wir. Religionsfreiheit wurde und musste (!) in Europa erkämpft werden! Maschinen verfügen – gerade weil sie keine Selbstbewegungsfähigkeit des Lebendigen, keine Intuitionen und Intentionen haben – auch nicht über die menschliche Freiheit, d. h., sie können gar keine Ethik haben oder sich ethisch verhalten! Aber die ma7
Was schon die Preise lehren, die wir für Kunstwerke bezahlen.
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schinelle Kopie dieser Eigenschaften suggeriert, sie würde das tun, so dass sie eine Maschinen-Ethik braucht. Das ist falsche Rede, die letztlich auf einem katastrophalen Missverständnis von Ethik beruht. Maschinen haben einen Rahmen von Funktionsanweisungen, aber Menschen sind verantwortlich für den Umgang mit Maschinen und deren Funktionieren. Verantwortung können nur Person tragen. Maschinen sind keine Personen. Wer Maschinen zu Personen macht, hat sich selbst missverstanden. Die menschlich-intuitive, leibliche Intelligenz ist das Original, die KI nur Kopie einer speziell ausgebildeten Fähigkeit des mnemotechnischen Umgangs. Die menschliche Intelligenz funktioniert nicht maschinell, nicht als Computer; das tut selbst das Gehirn nicht! Das zu glauben kennzeichnet den heutigen Transhumanismus oder die Dogmen der Neuro-Religion, 8 die aus der menschlichen Person ein Epi-Phänomen machen wollen, die Kopie zum Original erheben und eine Ontologie des Todes vertreten, wie sie Hans Jonas so erhellend nannte, bei der sie das Leben aus der richtigen Zusammensetzung bzw. Information der toten materiellen Bausteine durch Zuführung von Energie hervorgehen lassen. 9 Information, Masse und Energie bilden die todes-ontologische Formel des Lebens, das durch sie ebenso machbar wird wie die Intelligenz. Man kann zwar das Leben und die Intelligenz so sehen, dass sie mechanisch zu funktionieren scheinen oder sich darauf als ihren Kern reduzieren lassen. Und man kann sie ›messbar‹ machen. Wenn man das will! Aber man kann nicht Maschinen mit Intentionalität ausstatten. Die menschliche Intelligenz in ihrer polaren Zusammengehörigkeit von Intuition und Intentionalität ist als Original nur zum Preis der radikalen Reduktion kopierbar, die es um Intelligenz und Subjektivität reduziert! Dies war Anfang des 20. Jahrhunderts erklärtes Ziel, und da8
Guido Rappe: Neuro-Religion I. Der Homunkulus und die Gefühle, Bochum/ Freiburg 2016; Guido Rappe: Neuro-Religion II: Was die Neuro-Wissenschaft immer noch nicht erklären kann, Bochum/Freiburg 2016. 9 Hans Jonas: Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt 1994.
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durch wurde der Begriff der Intelligenz bereits fragwürdig vergegenständlicht. Man hat mit dem sogenannten Intelligenz-Test aus einer wunderbaren Fähigkeit des Lebens eine angeblich zu berechnende Größe gemacht. Und diese Ersetzung kulturwissenschaftlicher Begriffe des menschlichen Selbstverständnisses durch angeblich berechenbare Größen ebnete den Weg zum Erfolg der KI. Denn das Messbare kann man berechnen und schließlich, wenn es einmal entsprechend reduziert und formalisiert ist, nachbauen, nachmachen, künstlich erzeugen. Der Mensch und seine Subjektivität aber sind nicht künstlich ›reproduzierbar‹ ! Und wir sollten das gar nicht erst versuchen, 10 sondern unsere Aufmerksamkeit unserer ›Eigentümlichkeit‹, ›Eigenheit‹ und ›Eigentlichkeit‹ zuwenden: unserer Subjektivität! Das zumindest fordert die subjektivistische Wende, die mit der Rehabilitierung der Subjektivität durch Schmitz ihren Anfang nahm! Die ›Macht der Machbarkeit‹, die man technologisch immer mehr gewinnt, bedroht heute, im 21. Jahrhundert, unsere Existenz. Geht man also zunächst davon aus, dass Maschine und Technik – oder ›Künstlichkeit‹ im Sinne des von Menschen Hergestellt-seins – ›eigentlich gut‹ sind, weil sie die mühselige menschliche Arbeit abnehmen und das mit ihr verbundene Leid lindern, wird auch der Enthusiasmus verständlich, mit dem die Moderne, die sich grob mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ansetzen und an der Industrialisierung festmachen lässt, den Prozess der Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinen begrüßte. Mit ihm wurde ein radikaler Wandel der Arbeitsverhältnisse eingeleitet, welchen die damalige ›Universal-Maschine‹, die Dampf10
Welchen Sinn sollte das Klonen eines Menschen anders haben, als ihn etwa zur Organentnahme zu züchten oder ihn als Arbeitsroboter einzusetzen, wie dies das 1920 verfasste Theaterstück von Capek, in dem der Begriff Roboter verwendet wurde, vorwegnahm, wobei es bereits um biologische und nicht um Werkstoffmechanische Produktion ging (Čapek, Karel: R.U.R. – Rossum’s universal robots, London, New York 2004). Gerade der Traum, durch Klonen einen neuen Körper herzustellen, in den man ein altes Bewusstsein laden kann, zeigt die Absurdität des dualistischen Menschenbildes in seiner Konsequenz. Der Mensch erschöpft sich nicht in seinem Körper, ebenso wenig wie er von diesem losgelöster Geist oder Bewusstsein ist. Der Mensch ist leiblich! Das ist etwas anderes.
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maschine, ermöglichte. Schon da gingen Arbeitsplätze verloren und wurden neue geschaffen, waren die Menschen betroffen. Aber die Faszination und der versprochene Profit waren zu groß, um nicht die Möglichkeiten zu nutzen, die sich durch die Technologie und Naturwissenschaften boten. Ungefähr 100 Jahre später, also in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, wurde diese Thematik unter dem Stichwort der ›Rationalisierung‹ diskutiert, die den Vorläufer heutiger Digitalisierung-Diskussionen bildete. Denn schon damals konnte man eine so hohe Zahl an Arbeitsplätzen ›wegrationalisieren‹, dass sich eine zentrale Paradoxie abzeichnete. Diese bestand darin, dass durch die radikale Rationalisierung so viel Arbeitsplätze verlorengehen, dass die damit verbundene Arbeitslosigkeit zu einem Mangel an Kaufkraft führt und die Binnennachfrage bzw. den Konsum sinken lässt – und damit das Wirtschaftswachstum bedroht. Doch nicht deshalb blieben die Rationalisierungen hinter ihren Möglichkeiten zurück, sondern schlichtweg weil sie zu teuer waren und sich nicht ›rechneten‹. Der heutige DigitalisierungsHype schlägt gleichsam in dieselbe Kerbe der Möglichkeiten, doch spricht man mittlerweile vom ›productivity paradox‹, das darin besteht, dass man den durch Digitalisierung und KI versprochenen Anstieg an Produktivität bisher nicht feststellen bzw. an entsprechenden Zahlen festmachen kann. 11 Dafür lassen sich zwei Gründe anführen: Einmal den der Hype-Erzeugung, zu der, wie Dreyfus überzeugend zeigen konnte, die Informationstechnologien insgesamt neigen, um ihre Wichtigkeit und ›Eigentlichkeit‹, d. h. Bedeutsamkeit besonders herauszustellen und den Protagonisten, Propheten und Spezialisten dieser Bewegung die erwünschte Aufmerksamkeit und das entsprechende Prestige und, last not least, auch die Geldmittel zu verschaffen. 12 Und zum an-
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Erik Brynjolfsson/Daniel Rock/Chad Syverson: »Artificial intelligence and the modern productivity paradox. A clash of expectations and statistics«, in: Ajay Agrawal/Joshua Gans/Avi Goldfarb (Hrsg.): The economics of artificial intelligence. An agenda, Chicago/London 2019, S. 23–57. 12 Hubert L. Dreyfus: What computers still can’t do. A critique of artificial reason, 6. Aufl., Cambridge 1999.
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deren, dass sich ›ökonomisch‹ vieles einfach noch nicht ›rechnet‹, d. h. die entstehenden Unkosten einfach zu groß sind! Trotzdem bleibt zu konstatieren, dass man den Fortschritt in der Technologie genauso wenig endgültig aufhalten kann wie in der naturwissenschaftlichen Forschung. Allerdings, und das ist entscheidend, kann er etwas verlangsamt werden; was philosophisch nur geraten und klug erscheint, denn alle neuen Technologien haben ihre Gefahren und Probleme mit sich gebracht. Es gehört zu den Erfahrungen der ›menschlichen Situation‹, dass das ›eigentlich‹ Gute der Technik mit einem ›aber‹ daherkommt, das im Voraus bedacht werden will und kann. Dieses ›aber‹ könnte man mit Blick auf die Wirtschaft so formulieren, dass es schon nicht so schlimm werden und nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird (so die treffende Redensart). Allerdings gilt es auch hier, klug die Weichen zu stellen; was primär Aufgabe der Politik ist. Wesentlich mehr Sorgen sollte – neben der durch gierigen Technologie-Missbrauch ausgelösten Umweltzerstörung (z. B. Klimawandel und Artensterben) – die gegenwärtige neue Aufrüstungswelle im Wettlauf um die waffen-technologische Überlegenheit machen, die bis zu Mini-Nukes geht, was sich harmlos wie Atombomben ›für die Westentasche‹ anhört. Denn gleichzeitig lässt sich ein Anwachsen von ständig neu aufwachenden Krisenherden feststellen, in denen die Waffen ausprobiert werden können. Hier sei auf die Drohnen hingewiesen, die als Überwachungs- und Waffensysteme gegen Menschen gerichtet sind und weiterer Ausstattung mit KI harren, um zu selbstständigen ›Wesen‹ zu werden, deren Eigentlichkeit die Gefühlslosigkeit ist, durch die das Kalkül triumphiert und den Menschen mit angeblichem Schritt in Richtung Perfektion ersetzt. Die Lektion, die man hier nicht gelernt hat, besteht darin, dass es keine wert-freie Wirklichkeit mit entsprechendem Vernunftoder KI-Gebrauch gibt und dass jeder Einsatz von Maschinen gegen Menschen sowohl in gutem als auch schlechtem Sinn erfolgen kann. Je tödlicher und perfekter die Waffen sind, desto mehr Menschen werden sterben und desto weniger Menschen oder Maschinen können durch sie die anderen kontrollieren. Nicht die 49 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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Maschinen brauchen Ethik, sie können sich, wie betont, nicht ethisch verhalten; dies können nur Menschen! Betrachtet man dagegen, wieviel Geld die Menschen in die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technologie stecken, und wieviel in die Kulturwissenschaften und Ethik, kann von einer wünschenswerten Komplementarität, welche es den Kulturwissenschaften erlauben würde, sowohl ein kritisch-reflektierendes Gegenwicht zur technologischen Entwicklung zu bilden als auch (und nicht minder entscheidend) eine eigene Alternative des Kultur-Verständnisses erfolgreich pädagogisch attraktiv zu manifestieren, kaum die Rede sein. Denn Kultur kann durchaus im Sinne der überfälligen Hinwendung zu ethischem Handeln, der Selbst-Kultivierung und Selbst-Verwirklichung im lebenslangen Lernen und künstlerischen Gestalten verstanden werden. Dagegen zeigen nicht nur die militärischen Drohnen, durch die es möglich wird, vom Schreibtisch aus über immer größere Distanz Menschen zu töten und sie zu beherrschen, sondern auch die mittlerweile mögliche ›autonome‹ Tötung durch die Maschine, welche angeblich ›Entscheidungsprozesse‹ besser beherrscht als der Mensch, der sich durch seine Gefühle in die Irre führen lässt, schon heute einen Triumph der KI, welche den Menschen antiquiert (Anders) und ›unnötig‹ macht. Hier rächt sich der Idealismus als Intellektual-Kult der europäischen Philosophie-Tradition, welche, durchaus im Verein mit dem Christentum, die Tiere, Frauen, Kinder, Primitiven und Idioten als gefühlshafte Wesen abwertete, die nicht über Vernunft und entsprechende Denkkraft verfügten, weshalb sie beherrscht werden mussten. In der heutigen KI hat längst die Hochzeit von Idealismus und Materialismus stattgefunden, da die materialistische Denk-Maschine den Menschen mittlerweile in allem, was berechenbar ist, in den Schatten stellt und dadurch mit gewisser Konsequenz ›göttlich‹ erscheint. Nur dort, wo Arbeitsplätze wegrationalisiert werden können und dies auch werden, wenn, wie oben erwähnt, es profitabel ist oder sich rechnet, tritt Betroffenheit ein, so dass die Politik reagieren muss. Während die militärische Problematik die meisten Menschen in den reichen Industrie-Nationen unbetroffen lässt, weil sie kaum etwas davon mitkriegen und dies auch 50 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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gar nicht wollen bzw. entsprechend verdrängen, betrifft sie der Arbeitsplatz-Wandel mit größeren Sorgen, und diese kann man nur als berechtigt bezeichnen. Denn die heutigen Maschinen, allen voran die ›Computer‹ mit ihrer KI, sind ein Triumph des ›Geistes‹ über die Materie – und heute fähig, sich selbst zu vermehren und ihre menschlichen Eltern überflüssig machen. Diese werden in Zukunft, wenn sich die Maschinen entsprechend vermehrt haben, nicht mehr gebraucht und dann einfach wegrationalisiert, so wie heute die Arbeitsplätze, und zwar konsequenterweise! Bei den Arbeitsplätzen ist aber schon heute ›Schluss mit lustig‹ für die Betroffenen, die anfangen, sich größere Sorgen zu machen bzw. von diesen ergriffen zu werden. Alles aber, wovon man betroffen wird und was einen ergreifen kann, betrifft und ergreift einen immer auch leiblich, denn die Betroffenheit von etwas lässt uns spüren! Das menschliche Spüren wiederum ist die wesentliche eigentümliche Vermittlungsleistung unseres Leibes, der sich durch es mit uns als die von ihm partiell emanzipierten Personen, die trotzdem seine Aspekte sind, verbindet bzw. uns zurück ins leibliche Erleben, ins Spüren und Fühlen führt, so dass wir wieder Leib werden und nicht nur eine Vernunft-Person mit einem Körper sind, den sie hat wie der Computer seine Hardware. Denn unser Körper, so muss betont werden, ist längst eine Maschine, die wir zum Arzt bringen, wenn sie nicht mehr richtig funktioniert, damit er sie an andere Maschinen anschließt, die sie dann diagnostizieren und reparieren, so wie wir es mit unseren Autos tun. Wollen wir die Körper-Maschine aufpeppen, stehen uns heute etwa Steroide (usw.) zur Verfügung, wobei die Auswahl der Mittelchen von Tag zu Tag steigt, ähnlich wie die der Enhancer für unser Brain-Doping. Denn natürlich ist angeblich auch unser Gehirn ein Computer bzw. funktioniert aus todes-ontologischer Sicht wie dieser. Das Denken wurde schon sprachlich durch den Rechner zum Rechen, das Gehirn zum Computer und die Vernunft zur KI. Die Transhumanisten – als die modernen wissenschaftsgläubigen ›Aufklärer‹– sehen in diesem Prozess einen Fortschritt in Richtung ›Eigentlichkeit‹ des Menschen! Denn die Digitalisierung erlaubt 51 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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es angeblich, den Denk-Prozess, der ein Bewusstseinsprozess ist, welcher durch eine Gehirn-Maschine vermittelt wird, mit den Rechenoperationen eines Computers über ein Interface so zu synchronisieren, dass dieser Bewusstseinsstrukturen übernimmt und nun seinerseits zur neuen Lebensform wird. Demnächst müssen wir fragen, ob wir den Computer ausschalten dürfen, denn das bedeutet seinen Tod. Allenfalls darf man ihn dann noch in den Schlaf-Modus versetzen; was wiederum eine zweifelhafte Metapher ist, deren Erfolg zwar für sie, aber gegen die Verbreitung der menschlichen Einsicht spricht, dass Maschinen nicht schlafen können. Computer, so wurde betont, sind weder Lebewesen noch Personen, noch ›subjektiv‹ ! Gerade das Letztere können sie nicht sein, weil ihre Seinsweise objektiv vorgegeben ist. Ihre Eigentümlichkeit besteht nicht darin, leiblich manifeste, lebendige Intelligenz zu sein, was bedeutet, spüren und fühlen zu können bzw. Intuitionen und Intentionen zu haben. Zwar versucht man, auch diese Eigentlichkeit des Lebendigen ›nachzubauen‹, um die Kopie so weit wie möglich dem Original zu nähern, doch beruht dies nur auf dem dogmatischen Glauben, durch Zerschlagen des ganzheitlichen leiblichen Lebenszusammenhangs mittels der immer kleiner werdenden, angenäherten Bauteile eines als reduzierte Kopie konstruierten Körpermodells das grundsätzlich wissenschaftstheoretische Problem der Differenz von Leben und Tod, Leib und Körper, Intelligenz und Mechanik lösen zu können. Diese Haltung charakterisiert letztlich eine naive Selbstblendung gegenüber der Möglichkeit des besseren Wissens, die zur gegenüber der Maschine ödipalen Selbstverstümmelung führen muss, die auch Andere und letztlich die Menschheit mit in ihren Wahn zu reißen droht. Die Objektivität der Herstellung der Maschine und ihrer Funktionen wurde nur möglich durch die Ausblendung der Subjektivität, die dadurch zum nie zu erreichenden Ziel wurde, dem sich die Maschine wie den platonischen Ideen immer nur annähern, das sie aber nie erreichen kann. Die Subjektivität als entscheidende, wesentliche Eigentümlichkeit des leiblichen Erlebens am Ende des 20. Jahrhunderts he52 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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rausgestellt zu haben, ist das Verdienst der Neuen Phänomenologie von Schmitz. 13 Die Moderne Phänomenologie, die eine Position des 21. Jahrhunderts vertritt, geht über die Neue Phänomenologie durch ihren Lebensbegriff und die Erweiterung des LeibVerständnisses durch die Dimension von Lust und Unlust hinaus. 14 Außerdem unterscheidet sie sich vor allem erkenntnistheoretisch von dem eher naiven Ansatz sowie dem Gefühls-Verständnis der Neuen Phänomenologie, da sie dieser gegenüber das Gewicht auf erworbene leiblich-mnemonische Dispositionsgeflechte legt, die das emotionale Erleben entscheidend schienen und sowohl die Ergriffenheitsschwelle als auch den Anlass – zumindest im ›Normalfall‹– wesentlich mitbestimmen. Im Gefühlserleben, für dessen Verständnis Schmitz Wesentliches geleistet hat, findet eine eigentümliche Verschmelzung von menschlicher und atmosphärischer Situation statt, in der die Motive etwa für ein Angst-Gefühl eine wesentliche Rolle spielen, so dass zwar Angst-Atmosphären Menschen ergreifen können, dies aber auf sehr unterschiedliche Art, die sich nicht mit der von Schmitz so deutlich beschriebenen räumlichen Ergossenheit von ›Atmosphären‹ erklären lässt, sondern auf den erworbenen leiblichen Dispositionen beruht, die wie eine Art ›Filter‹ wirken. Die Ängste etwa um den Verlust des Arbeitsplatzes oder vor einem neuen Techno-Faschismus sind, wie erwähnt, keinesfalls unberechtigt; aber sie wirken unterschiedlich. Schließlich ermöglichen die modernen Technologien immer weniger Menschen mit Hilfe der Maschinen immer mehr Menschen zu kontrollieren. Der Mensch wird vom ›Maschinen-Hirten‹, wie sich Anders ›bukolisch‹ ausdrückte, zum ›Maschinen-Schaf‹, das nun seinerseits als Bediener 13
Hermann Schmitz: System der Philosophie, 10 Bände, Bonn 1964; Neuausgabe Freiburg/München 2019; Hermann Schmitz: Neue Phänomenologie, Bonn 1980. 14 Guido Rappe: Interkulturelle Ethik, Bd. II: Ethische Anthropologie, 1. Teil: Der Leib als Fundament von Ethik, Berlin/Bochum/London/Paris 2005; Guido Rappe: Interkulturelle Ethik, Bd. II: Ethische Anthropologie, 2. Teil: Personale Ethik, Berlin/Bochum/London/Paris 2006; Guido Rappe: Leib und Subjekt. Phänomenologische Beiträge zu einem erweiterten Menschenbild, Bochum 2012; Guido Rappe: Einführung in die moderne Phänomenologie: Phänomen / Leib / Subjektivität, Bochum/Freiburg 2018.
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und Wächter Maschinen hat; oder sie ihn. Der moderne Zauberlehrling von Computer-Besen hat diese längst beschworen, so dass sie sich ›verselbstständigt‹ und unsere Abhängigkeit von ihnen beständig vergrößert haben. Die fortschreitende Symbiose von Mensch und Maschine ist längst Realität, aber das Verständnis ihrer Auswirkung hinkt hinterher. Und ein wesentlicher Punkt dabei ist die Ersetzung des leiblichen Spürens und Könnens durch die Suggestionen der Körper-Maschine, die wir angeblich sein sollen. Diese Entwicklung kann nicht nur, sie sollte uns Angst machen. Denn mit der Angst ist ein Gefühl angesprochen, das als machtvolle Atmosphäre zur ›Eigentlichkeit‹ des Menschen zählt, wie Heidegger durch seine Verbindung mit der Sorge-Struktur des Daseins zu Recht betonte. Leibphänomenologisch zeigen sich die Problematik der Gefühle und die sie enthaltenden Möglichkeiten wesentlich klarer. Für Schmitz, der die Möglichkeit der kollektiven Ergriffenheit von Gefühlen betonte – und mit vielen Beispielen »wie die alberne oder strahlende Freude eines Festes, die kribbelige Aufgeregtheit einer Schlacht (Goethes ›Kanonenfieber‹), die Atmosphäre der Verlegenheit, in die ein Außenstehender nichtsahnend ›hineinplatzt‹, bis ihm das Wort auf den Lippen erstirbt, usw.« belegte –, sind »überpersönliche, kollektive Gefühle« »Atmosphären, die im strengsten und unmittelbarsten Sinn wahrgenommen werden«. 15 D. h., sie sind räumlich-ergossene, von sich aus den Menschen bis zur Besessenheit ergreifen könnende Mächte. Ihre ›Macht‹ kann so groß sein, dass sie zu Kriegen führt oder zu Heldentaten. Man könne, so Schmitz weiter, »solche Atmosphären auch züchten und pflegen, z. B. die Gemütlichkeit einer Wohnung, die einem eintretenden Besucher – ebenso wie die entgegengesetzte Kahlheit und Unbehaglichkeit – schon auf den ersten Blick auffällt, noch ehe er sich umgesehen hat«. Gefühle als räumlich ergossene Atmosphären ergreifen aus Situationen heraus, in denen sich die Menschen befinden; wobei 15
Hermann Schmitz: »Situationen oder Sinnesdaten – Was wird wahrgenommen?«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 19/2 1994, S. 1–21 (S. 4).
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die Moderne Phänomenologie den leiblich-mnemonischen dispositionalen Eigenanteil an der Gefühlswahrnehmung gegenüber Schmitz betont, ohne deshalb in die alte ›unräumliche‹ oder ›innenweltliche‹ Gefühlsauffassung zurückzufallen! Nimmt man als Beispiel Goethes Erlkönig, so entsteht der Effekt des Gedichtes aus der unterschiedlichen Ergriffenheit durch die Atmosphäre, die Vater und Sohn zwar teilen, vom Sohn im (wahrscheinlichen) Krankheitswahn 16 aber wesentlich intensiver wahrgenommen wird. Die räumliche Ergossenheit des Atmosphärischen und damit die von Schmitz betonte Räumlichkeit der Gefühle kommt durch die nächtliche Sturm-Atmosphäre auf dem Weg durch eine ländliche Gegend mit Erlen und Weiden zum Ausdruck. Physikalisch bzw. ›meteorologisch‹ betrachtet gibt diese Gegend ›nichts‹ her, was die Wahrnehmung des Kindes erklärt, so dass es sich psychologisch betrachtet um eine krankhafte Projektion des Kindes handelt, das sich im Kampf mit dem Erlkönig – als dem es holen kommenden Tod – befindet. Der Vater versucht das Kind erklärend zu beruhigen, um die Eindrücke des Kindes von ihrer Wirkmächtigkeit her zu entschärfen, doch ist er selbst nicht frei von Sorge; auch er spürt die magische Macht der Atmosphäre, die seinen Sohn im Griff hat. Der schließliche Tod des Kindes lässt zwar offen, woran es gestorben ist, doch dürfte der Ritt ihm den Todesstoß versetzt haben. War es die Angst des Kindes, die den Ausschlag gab? War es der ›Hauch des Todes‹, der das Kind mit dem Wind anwehte, um eine weitere Metapher einer ›tödlichen Atmosphäre‹ anzuführen? Für das Kind bestand der Wirklichkeitsgehalt seiner Situation in der Begegnung mit dem Erlkönig. Für den Vater hatte die Situation einen anderen Wirklichkeitsgehalt. Aber zu fragen, welche Wirklichkeit die wirkliche Wirklichkeit ist, macht mit Blick auf den Begriff der Wirklichkeit wenig Sinn. Das Kind erlebt nicht eine ›Unwirklichkeit‹ ! Der Erlkönig ist für es eine subjektive Tatsache! (um einen weiteren wissenschaftstheoretischen Durchbruch anzuführen, den wir Schmitz verdanken). Und sein Erleben findet nicht in einer 16
Das Gedicht sagt nicht ausdrücklich, dass das Kind krank war; es legt dies nur nahe.
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›Innenwelt‹ statt, die keinen Bezug zur Außenwelt hätte! Die Todes-Atmosphäre, die das Kind ergriffen hat, tut dies ›räumlich‹, und zwar in dem Raum, den das Kind mit dem Vater teilt, auch wenn dieser ihn nicht so wahrnimmt wie das Kind, so dass der Erlkönig für ihn keine subjektive Tatsache ist. Und doch fühlt er die Anwesenheit des Atmosphärischen, ahnt, um was es geht. Gäben wir Vater, Pferd und Kind noch einen Hund hinzu, so hätte auch dieser vielleicht das drohende der Atmosphäre gespürt, denn dass Tiere atmosphärische Sensibilität besitzen, dürfte kaum abzustreiten sein. Aber auch der Hund nimmt seine Wirklichkeit anders wahr als der Mensch und hier der Vater und der Sohn. Was sie in ihrem Wirklichkeitsempfinden vereint, ist ihre Leiblichkeit, die über ihre Sinnlichkeit das Subjekt mit seiner Wirklichkeit vermittelt. Diese Vermittlung nannte Kant die ›synthetische Einheit der Apperzeption‹. Sie sorgt dafür, dass wir unsere Wirklichkeit situativ-ganzheitlich wahrnehmen und eine Gegenstandsgestalt im sinnlich-wahrnehmbaren Wirklichkeitsganzen erkennen. Die Gestaltwahrnehmung selbst erfolgt dabei sinnlichkörperlich über den durch von Uexküll beschriebenen Funktionskreis, 17 der in die Moderne Phänomenologie in etwas veränderter Form des Gestaltkreises – eines Begriffs V. v. Weizsäckers 18 – übernommen wurde und der besagt, dass die Gestalt-Wahrnehmung eine Vermittlungsleistung ist, in welche subjektive und objektive, sinnliche und mnemonische Gehalte einfließen, um die Identifikation von etwas Wahrgenommenem als etwas Bestimmtem – also etwa einer Erle oder dem Erlkönig – zu ermöglichen. Alle unsere Wahrnehmung wird als leibliche Synthese-Leistung in einem Gestaltkreis vermittelt, der durch mnemonische Dispositionen Schema-Interpretationen ermöglicht, die uns ohne sichtbare Reaktionszeit einen Stuhl als Stuhl erkennen lassen. Unser Gedächtnis bestimmt – durch leiblich-mnemonische Dispositionen mittels des Gestaltkreises – unsere Wahrnehmung wesentlich mit, 17
Jakob v. Uexküll: Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen. Ein Bilderbuch unsichtbarer Welten, Hamburg 1956. 18 Viktor v. Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Leipzig 1940.
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Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und die Macht der Atmosphären
ohne dass wir dies bemerken, denn wir sehen dem Stuhl das SitzMöbel unvermittelt an, wissen aber, dass es keine unvermittelte Wahrnehmung eines ›Dings an sich‹ gibt. Diese Abhängigkeit der Wirklichkeitswahrnehmug von Leiblichkeit und Subjektivität ist ›körperlich‹ nicht einzuholen oder im Modell herzustellen; wir hören die Worte unserer Sprache, nicht Schallwellen, sehen einen Stuhl, nicht Lichtwellen; und wie wir das letztlich machen, wissen wir nicht wirklich, denn wir sind uns selbst immer auch dunkel. Welt- und Selbst-Verständnis sind eigentümlich korreliert, biographisch verflochten und karmisch geprägt, d. h. durch moralische Kausalität beeinflusst. 19 Und die erkenntnistheoretische Offenheit der subjektiven Welt ist es, die uns in eine unendlichfache Unentschiedenheit hinsichtlich der Frage nach deren Objektivität und den letzten Gegenständen der Wirklichkeit führt. 20 Damit hält sie aber die Dimension der Intuition, Ahnung und des Erspürens offen, die unsere leibliche Intelligenz ermöglicht, die aber bei der Herstellung ›Künstlicher Intelligenz‹ mechanisch ausgeschlossen wird. Die Digitalisierung beruht auf der logischen Entschiedenheit des entweder I oder 0 und setzt diese voraus. Unsere Wirklichkeit ist aber nur dort entschieden, wo wir entschieden haben! Nur in einer Wirklichkeit, die digital entschieden ist, hat die digitale Intelligenz den Status der adäquaten Spiegelung. Die Offenheit unserer Welt spricht dagegen. Und diese gilt auch für die Frage nach der ›letzten‹ Wirklichkeit der Gefühle und ihrer Macht. Denn auch diese können wir nicht beantworten, sondern werden hier mit dem konfrontiert, was wir Schicksal nennen. Die Künstliche Intelligenz kennt kein Schicksal und in einer digitalen Welt macht der Begriff keinen Sinn. Die Körper19
Guido Rappe: Interkulturelle Ethik, Bd. III: Deontologische Tugendethik: Die Theorie antiker Selbstkultivierung, Berlin/Bochum/London/Paris 2008; Guido Rappe: Interkulturelle Ethik, Bd. IV: Ethik als Lebenskunst. Die Praxis antiker ethischer Techniken, Berlin/Bochum/London/Paris 2010; Guido Rappe: Die Natur des Menschen als moralisches Potenzial. Konzepte des menschlichen Selbstverständnisses im alten China und in Griechenland, Bochum 2010. 20 Der Begriff der unendlichfachen Unentschiedenheit entstammt den logischen Überlegungen von Schmitz, mit denen er eine wesentliche Erweiterung der bisherigen, zweiwertigen Logik vornahm, ohne diese gänzlich aufzugeben.
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Guido Rappe
Maschine kann nicht von einem Gefühl ergriffen werden. In ihr finden nur physiologische Veränderungen statt, so wie im Gehirn neurophysiologische Aktivität und in der Computer-Hardware, dem Computer-Körper oder dem Gehirn nur elektromechanische Abläufe zu erkennen sind. Die ganze Dimension der Wirklichkeit für ein Subjekt, sie fehlt. Der Computer und das Gehirn sind keine Subjekte, sondern Objekte. Subjektiv sind wir – durch die leibliche Synthese-Leistung der Wahrnehmung und des Gestaltkreises – immer schon leiblich ›in der Welt‹ (Heidegger) und nicht seelisch in einer ›Innenwelt‹ (Schmitz). Unsere Wirklichkeit ist dadurch immer schon subjektiv gehaltvoll und subjektiv mitgestaltet, wobei der subjektive Gehalt teilweise mit Anderen geteilt werden kann oder nicht, was auch für die Gestaltung der Wirklichkeit gilt. Die Intersubjektivität beruht einerseits auf einer durch ähnliche leiblich-mnemonische Dispositionen bedingten emotionalen Ergreifbarkeit und zum anderen auf der gemeinsamen tätigen Umgestaltung der Welt, die uns heute vor die Probleme der Umweltzerstörung und der kriegerischen Selbstzerstörung stellt, oder auch vor das Problem der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz. Aber der erlebte Wirklichkeitsgehalt ist für das Subjekt immer objektiv, d. h. eine Tatsache! Hier hat, wie erwähnt, Schmitz mit seinem Begriff der »subjektiven« und »objektiven Tatsachen« viel für ein erweitertes wissenschaftstheoretisches Verständnis getan. Die subjektive Tatsächlichkeit des Erlkönigs für das Kind wird im Gedicht durch den Tod als objektiver Tatsache besonders herausgestrichen. Der Erlkönig ist keine objektive Tatsächlichkeit im Sinne der rationalisierenden Sicht des Vaters, der das Erleben des Kindes irgendwie zu erklären sucht und die grauen Weiden als Gestalten identifiziert, die dem Kind im Ergriffenheitswahn als Töchter des Erlkönigs erscheinen mochten. Diese ›Erklärung‹ erklärt aber nicht, wie es sein kann, dass der Tod als Erlkönig das Kind vergewaltigt. Sie dient zur Beruhigung nicht nur des Kindes im Gedicht, sondern auch des Vaters, dem es »graut« und der damit die Wirklichkeit des Atmosphärischen wahrgenommen hat, auch wenn seine Ergriffenheitsschwelle nicht so abgesenkt – oder seine Sensibilität nicht so groß – war wie die des Kindes. 58 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und die Macht der Atmosphären
Dass die Angst des Kindes vor dem Erlkönig nur ein Hormonaustausch und ein Nervenzellen-Feuern sein soll, suggeriert eine ›objektive‹ Wirklichkeit, die dem subjektiven Erleben in keiner Weise gerecht wird, macht aber das Kind zur Maschine, die eine Fehl-Funktion hat. Sie dispensiert das personale Bewusstsein und das subjektive Gefühlserleben durch Reduktion auf maschinelle Abläufe, die als einzige wahre Wirklichkeit postuliert werden. In dieser gibt es eigentlich auch gar kein Fühlen mehr, da ja lediglich eine epi-phänomenale Gehirn-Person als feuerndes NeuronenEnsemble mit einem andern interagiert. All unser Erleben wird so auf physikalischen Energie-Austausch reduziert, der nichts mehr mit uns als leiblich lebendigen Personen zu tun hat: Maschinen fühlen nicht! Genau das aber ist es, was die Künstliche Intelligenz von der menschlichen intuitiven Intelligenz unterscheidet. Aufgabe der Philosophie ist es, vor einer Nivellierung dieses Unterschieds und entsprechenden Propheten zu warnen. Das soll aber nicht bedeuten, stattdessen auf die Macht der Gefühle zu setzen. Denn diese ist ähnlich ambivalent und gefährlich wie die der Technologie; was jeder Krieg, jeder Mord, jede Vergewaltigung zeigt, insbesondere wenn diese Gefühle Kollektive ergreifen. Die wahre Herausforderung der Menschheit besteht darin, sich selbst zu kultivieren und den anderen zu helfen. Das bleibt uns im Rahmen unserer transgenerationalen ethischen Erfahrungen von Geschichte und Schicksal nach bestem Wissen und Gewissen zu realisieren, ohne den Anspruch zu erheben, der menschlichen Tragik allzu weit entkommen zu können. Dass dabei die Kultur, Gemeinschaft und Politik die Rahmenbedingungen einer solchen Entfaltung abstecken, verweist auf eine Verantwortlichkeit, die uns alle betrifft.
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Uwe Voigt
Eingestimmte Subjekte? Das Kombinationsproblem des Panpsychismus im Licht der Atmosphärenkonzeption der Neuen Phänomenologie 1
Einleitung
Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, skizzenhaft und spekulativ, also in Gestalt einer heuristischen Thesenbildung, zwei philosophische Forschungsperspektiven zusammenzuführen, die sich allem Anschein nach in großer wechselseitiger Distanz entwickelt haben und die sich trotzdem – oder gerade deswegen? – erstaunlich gut ergänzen, wenn denn diese Ergänzungsmöglichkeit nur in den Blick genommen wird. Gemeint sind dabei einerseits die neuere analytische Philosophie des Geistes und innerhalb dieser die an sich sehr alte, seit einigen Jahren aber mit neuem systematischen Anspruch vorgetragene Strömung des Panpsychismus 1 und andererseits die Neue Phänomenologie: Aus der Einsicht, dass Subjektivität sich nur unter großem Aufwand auf anderes reduzieren oder gar eliminieren lässt, zieht der Panpsychismus die Konsequenz, deren Ursprung in der Grundstruktur der Welt anzunehmen. Als Problem erweist es sich dabei, ob und wie die Entstehung der uns vertrauten Subjekte aus jenen Grundlagen zu verstehen ist. Die Neue Phänomenologie wiederum hat Atmosphären, qualitativ bestimmte Räume, als bedeutendes Thema philosophischer Reflexion erkannt und ermöglicht dadurch die Frage, ob und wie sich so verstandene Atmosphären zu den sie erfahrenden Subjekten und zu anderen Formen der Räumlichkeit verhalten. In der Folge wird der Versuch unternommen, die Potenziale der einen Seite jeweils für die Lösung des Problems der 1
Vgl. David Skrbina: Panpsychism in the West, Cambridge/Mass., London 2007.
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Eingestimmte Subjekte?
anderen zu nutzen, indem diese These angeboten wird: Subjekte entstehen und bestehen auseinander und miteinander in Atmosphären, die wiederum in eben diesem Prozess entwickelt werden. Die so versuchte Zusammenführung beider Perspektiven kann nur von einem Punkt aus unternommen werden, an dem beide sich treffen, und dies kann wiederum nur die Reflexion auf die je eigene Subjektivität als Mitte nicht nur zwischen jenen Perspektiven sein, sondern auch zwischen den vom Panpsychismus angenommenen Ebenen der Subjektivität. Daher nennt sich der hier vorgelegte Ansatz selbst nicht pan-, sondern mesopsychistisch. 2
Der Panpsychismus und das Kombinationsproblem
In der analytischen Philosophie des Geistes dominierte in der jüngeren Vergangenheit ein in verschiedenen Gestalten auftretender Physikalismus, der von folgenden Voraussetzungen ausging: 2 Die moderne Naturwissenschaft und insbesondere die als deren Grundlagendisziplin geltende Physik erfasst die Welt auf bestmögliche Weise. Diese Weise besteht negativ darin, von Subjektivität in einem basalen Sinn, also von Standpunkthaftigkeit und von Erfahrungsqualitäten abzusehen, und stützt sich positiv auf das quantifizierende Betrachten gesetzmäßiger Relationen, in denen primär Relata auf einer physikalischen Mikroebene (grob gesprochen: »Elementarteilchen«) stehen. Weiter kann angenommen werden, dass die Welt auch so ist, wie sie auf diese Weise erfasst wird, nämlich eine durch und durch physische Welt. Dafür spricht unter anderem ein Vorstellbarkeitsargument: Zu der aktualen Welt, die von der modernen Naturwissenschaft erfasst wird und in der es Subjektivität gibt bzw. zu geben scheint, lässt sich jederzeit eine andere Welt vorstellen, die physisch von ihr nicht verschieden ist, in der es aber keine Subjektivität gibt. Dies scheint für einen generellen Unterschied zwischen dem Physi-
2
Vgl. Philip Goff: Consciousness and Fundamental Reality, Oxford 2017a, S. 23– 41.
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Uwe Voigt
schen und dem Subjektiven zu sprechen. 3 Angesichts dessen stellt sich die Frage: Kann Subjektivität in einer solchen Welt einen Platz haben, und wenn ja, welchen? Geläufige Antwortversuche bewegten sich im Rahmen des Physikalismus: Sie wollten Subjektivität mit etwas Physikalischem identifizieren oder sie darauf reduzieren; oder sie wollten »nicht-reduktiv« der Subjektivität einen gewissen Raum innerhalb der physischen Welt zugestehen, sie dabei aber völlig von ihr abhängig sein lassen, vorzugsweise als eine Rolle, die von rein Physikalischem gespielt würde; oder aber sie versuchten sogar, die Existenz des Subjektiven eliminatorisch zu leugnen. Die massiven Probleme, die mit diesen Ansätzen einhergehen, haben in jüngster Zeit Alternativen attraktiv erscheinen lassen, die es wagen, mit dem Physikalismus zu brechen. 4 Eine derzeit im Aufschwung begriffene Alternative ist der Panpsychismus. 5 Ihn hat es schon vor dem Aufkommen der analytischen Philosophie des Geistes gegeben. Von ihr wurde er zunächst als überkommener philosophiegeschichtlicher Ballast kritisiert und marginalisiert; mittlerweile wird er als eine aktuelle Position der analytischen Philosophie selbst diskutiert und vertreten. Dies mag auch daran liegen, dass der Panpsychismus, wie er nun vertreten wird, das Bild einer physischen Welt nicht radikal in Frage stellt, sondern die These vertritt, dass Subjektivität in dieser Welt einen besonderen Platz hat: nämlich grundlegend als die Innenseite der Relata, mit deren quantifizierbare Relationen sich die 3
Daher richtet sich die in der Folge skizzierte Argumentation des Panpsychismus gegen den Physikalismus auch gegen den Dualismus, welcher jenen Unterschied ebenfalls erkennt, ihn aber als das Nebeneinander zweier Seinsbereiche deutet; vgl. Godehard Brüntrup SJ/Ludwig Jaskolla: »Panpsychismus und Handeln Gottes. Überlegungen im Grenzbereich von Philosophie des Geistes und Religionsphilosophie«, in: Georg Gasser/Ludwig Jaskolla/Thomas Schärtl (Hrsg.): Handbuch für analytische Theologie, Münster 2017a, S. 917–946, hier S. 924–926. 4 Vgl. ebd., S. 926–928; Goff (2017a), S. 76–105. 5 Vgl. Godehard Brüntrup SJ/Ludwig Jaskolla: »Introduction«, in: Dies. (Hrsg.): Panpsychism. Contemporary Perspectives, Oxford 2017b, S. 1–16; Godehard Brüntrup SJ: »Emergent Panpsychism«, in: ebd., S. 48–71. Aus Gründen der Sparsamkeit und der Plausibilität wird hier auf die Betrachtung verwandter Positionen wie etwa dem Panprotopsychismus verzichtet, deren Darstellung und Kritik sich in den gerade aufgeführten Texten findet.
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Eingestimmte Subjekte?
moderne Naturwissenschaft und insbesondere die Physik befasst. Kurz gefasst: Elementarteilchen sind, von ihrer Innenseite her gesehen, Subjekte, und zwar Mikrosubjekte. Die Subjektivität, die wir aus unserer Erfahrung kennen, also auf direktem Wege unsere eigene und darüber hinaus diejenige unserer Mitmenschen und anderer Lebewesen, verdankt sich jenen Mikrosubjekten: In Entsprechung dazu, dass Mikroobjekte durch ihre Verbindungen die uns vertrauten Makroobjekte hervorbringen, bringen Mikrosubjekte durch ihre Verbindungen die uns vertrauten Makrosubjekte hervor: die (qualitativ, nicht räumlich verstandenen) Innenseiten zumindest einiger Makroobjekte. Als paradigmatischer Fall gilt hier unsere eigene menschliche Subjektivität, die dementsprechend als die Innenseite des menschlichen Körpers aufgefasst wird. Dies soll die für den Physikalismus rätselhafte Frage beantworten, wie im Lauf der Entwicklung einer rein physischen Welt Subjektivität entstehen kann, wenn sich Subjektivität nicht auf Physisches zurückführen lässt: Dem Panpsychismus zufolge ist Subjektivität mit der physischen Welt immer schon innig verbunden, gewissermaßen sogar intim, als ihre elementare qualitative Innenseite, die bei passenden Konstellationen auf der Mikroebene zumindest in einigen Fällen sich auch auf einer Makroebene wieder manifestiert. Mit dieser Sichtweise kontert der Panpsychismus auf das genannte Vorstellbarkeitsargument: Wenn Subjektivität die Innenseite der physischen Welt ausmacht, kann jene Welt eben nicht ohne Subjektivität vorgestellt werden. So elegant dieser Ansatz wirkt, bleibt auch er von Schwierigkeiten nicht verschont. Relativ harmlos ist das Problem der angenommenen exotischen mentalen Zustände von Elementarteilchen. Zwar fällt es äußerst schwer, sich vorzustellen, wie das Erleben eines Elementarteilchens beschaffen ist. Doch hat es Thomas Nagel in seinem bahnbrechenden Aufsatz »What’s it like to be a bat?« 6 plausibel gemacht, dass es für uns exotische nichtmenschliche Subjektivität weit außerhalb der Reichweite unserer 6
Thomas Nagel: »What’s it like to be a bat?«, in: Philosophical Review 83/4, 1974, S. 435–450.
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Vorstellungskraft geben kann: Wenn es sich um ein noch so exotisches Subjekt handelt, dann zeichnet sich dieses Subjekt dadurch aus, dass es in Zuständen sein kann, die sich für es auf eine bestimmte Weise anfühlen. Diese Zustände werden geläufigerweise als mental bezeichnet. Gravierender ist demgegenüber das zuerst von William James artikulierte Kombinationsproblem: 7 Wenn Mikrosubjekte durch ihre Verbindungen Makrosubjekte hervorbringen – wie kann das vonstattengehen? Hier steht der Panpsychismus vor einem Dilemma, an dem sich seine Geister scheiden: Entweder die Mikrosubjekte verschmelzen miteinander zum jeweiligen Makrosubjekt (das ist die Sichtweise des »konstitutiven« Panpsychismus) oder sie tun dies nicht (wie der »nicht-konstitutive« Panpsychismus behauptet). 8 Gegen den konstitutiven Panpsychismus spricht, dass Subjekte keine Entitäten von der Art zu sein scheinen, die ineinander verschmelzen können. Und selbst wenn dies möglich wäre, würde es das Folgeproblem aufwerfen, wie sich aus den einzelnen Bewusstseinsinhalten der Mikrosubjekte die Einheit des Bewusstseins eines Makrosubjekts ergeben könnte. Daher scheint es geraten, das andere Horn des Dilemmas zu ergreifen. Dadurch wird der (nicht-konstitutive) Panpsychismus zu einer emergentistischen Position in dem Sinne, dass durch die Verbindung – aber nicht Verschmelzung – von Instanzen etwas Neues entsteht, das nicht einfach aus ihnen besteht und das zugleich von derselben Art wie sie, nämlich auch ein Subjekt, ist 9. Eine in panpsychistischen Kreisen gerne zitierte Wendung für derartige Vorgänge hat Alfred North Whitehead geprägt: Indem die Vielen in einem bestimmten Sinn Eines werden – indem sie untereinander eine Verbindung eingehen –, entsteht etwas Weiteres und tritt zu ihnen hinzu. 10 7
Vgl. David J. Chalmers: »The Combination Problem for Panpsychism«, in: Brüntrup/Jaskolla (2017b), S. 179–214. 8 Zu diesen beiden Spielarten des Panpsychismus vgl. David J. Chalmers: »Panpsychism and Panprotopsychism«, in: Brüntrup/Jaskolla (2017b), S. 19–47, hier S. 25; Brüntrup (2017), S. 57–67. 9 Vgl. ebd., S. 64 f. 10 Alfred North Whitehead: Process and Reality. An Essay in Cosmology. Corrected
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Eingestimmte Subjekte?
Mit dieser Sichtweise scheint das Kombinationsproblem aber nicht gelöst, sondern lediglich zugespitzt worden zu sein. Denn nun stellt sich erneut die Frage: Wie kann dies vonstattengehen? Es gibt sogar ein plausibel wirkendes Argument dafür, dass die Entstehung eines Makrosubjekts auf diese Weise gar nicht möglich ist: 11 Wenn Mikrosubjekte als solche miteinander verbunden sind, dann müsste dies jeweils auf ihren mentalen Zuständen beruhen. Diese mentalen Zustände sind aber – dies wird in der analytischen Philosophie des Geistes und somit auch im Panpsychismus vorausgesetzt – auf die einzelnen Mikrosubjekte als deren Träger beschränkt; sie sind privat, auf den subjektiven Binnenraum jener Subjekte beschränkt. Nun lässt es sich vorstellen, dass wie auch immer miteinander verbundene Mikrosubjekte bestimmte mentale Zustände haben, ohne dass daraus ein Makrosubjekt hervorgeht. Gerade im Fall von mentalen Zuständen, die sich als solche erfassen lassen, ist es plausibel, dass Vorstellbarkeit auch Möglichkeit bedeutet. Dieses Vorstellbarkeitsargument legt es nahe, dass es bei jeglicher Verbindung von Mikrosubjekten möglich ist, dass daraus kein Makrosubjekt hervorgeht. Dies würde die Widerlegung des Panpsychismus bedeuten. Ein Ausweg aus dieser scheinbaren Sackgasse besteht in der These, dass die Mikrosubjekte ihre wechselseitige Verbundenheit erleben, dass eben ihre Verbindung zugleich auch Inhalt ihrer mentalen Zustände ist. Philip Goff spricht hier von »phenomenal bonding«. 12 Wie aber kann eine derartige Verbundenheit zwischen Subjekten von ihnen als solche erfahren werden und dadurch ein mentaler Zustand jener Subjekte sein, wenn mentale Zustände jeweils nur die privaten Inhalte einzelner Mikrosubjekte sind? Oder wie kann unter diesen Voraussetzungen selbst ein inhaltlich gleiches Erleben zweier Mikrosubjekte eine Verbindung zwischen ihnen ausmachen? Edition, New York 1978, S. 32: »The many become one and are increased by one«; vgl. dazu Brüntrup (2017), S. 66. 11 Vgl. Chalmers (2017), S. 200 f.; Philip Goff: »The Phenomenal Bonding Solution«, in: Brüntrup/Jaskolla (2017b), S. 281–302 [Goff (2017b)], hier S. 291 f. 12 Goff (2017b), S. 292–295.
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Damit hat sich das Kombinationsproblem so zugespitzt, dass sich die Minimalbedingung einer Lösung abzeichnet: Sie würde eine Konzeption von mentalen Zuständen erfordern, die diese gerade nicht in den privaten Binnenraum einzelner Subjekte festschreibt. Dies lenkt den Blick zur Neuen Phänomenologie hin, in der eben eine solche Konzeption entwickelt worden ist. 3
Die Atmosphärenkonzeption der Neuen Phänomenologie
Die These, dass in der Neuen Phänomenologie eine Konzeption entwickelt worden ist, die sich auf mentale Zustände bezieht, mag zunächst befremdlich wirken. Ist die Rede von mentalen Zuständen in der analytischen Philosophie des Geistes doch typischerweise damit verbunden, diese Zustände im gerade angegebenen Sinn als privat zu verstehen, während sich die Neue Phänomenologie dagegen wendet, die Erlebnisinhalte von Subjekten in einem diesen zugeschriebenen privaten Innenraum anzusiedeln. Allerdings kann die oben gegebene minimale Bestimmung eines mentalen Zustands eine Brücke zwischen beiden Positionen bilden. Jener minimalen Bestimmung zufolge zeichnet sich ein mentaler Zustand dadurch aus, dass in ihm zu sein sich für ein Subjekt auf eine bestimmte Weise anfühlt. So lässt sich zugleich ein zentrales Thema charakterisieren, dem sich die Neue Phänomenologie seit den grundlegenden Untersuchungen durch Hermann Schmitz widmet: das Thema der Atmosphären. 13 Denn auch Atmosphären sind nach Schmitz dadurch gekennzeichnet, dass es sich für Subjekte auf eine bestimmte Weise anfühlt, in ihnen zu sein. Für Subjekte als Träger von Bewusstsein ist es Schmitz zufolge wiederum konstitutiv, auf derartige Weise affektiv betroffen zu sein. 14 Und zwar fühlt sich dies für Subjekte so an, dass die Atmosphäre 13
Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Der Raum. Zweiter Teil, 2. Aufl., Bonn 1981, S. 91–360; Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 292–310. 14 Vgl. Schmitz (1981), S. 80.
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als ein von intensiven Qualitäten bestimmter Raum – ein »Gefühlsraum« laut Schmitz – zwar auch in ihnen ist und so ihre leibliche Befindlichkeit affiziert, sich dabei aber zugleich als etwas zeigt, was jene Subjekte umgibt und übergreift. Schmitz zufolge werden Atmosphären von Subjekten als um sie herum »randlos ergossen« erlebt, als etwas, was also auch von mehreren von ihnen zwar nicht geteilt werden muss, indes durchaus geteilt werden kann. Atmosphären lassen sich deshalb durchaus als mentale Zustände bezeichnen, die sich nicht privat anfühlen und, weil mentale Zustände eben darin bestehen, sich auf eine bestimmte Weise anzufühlen, auch nicht privat sind. Gemäß seinem phänomenologischen Ansatz hat Schmitz bei der Betrachtung von Atmosphären auf deren Rezeption, nicht auf deren Produktion geachtet. Mit der Frage, wie die Entstehung von Atmosphären aufzufassen ist, hat sich in weiterführendem Anschluss an Schmitz Gernot Böhme beschäftigt, 15 und zwar mit einem beachtlichen Argument dafür, dass jene Frage durchaus sinnvoll gestellt werden kann: In Kunst und Kultur sind wir mit Handlungen vertraut, durch die Stimmungsräume und damit Atmosphären geschaffen werden. Dies bietet uns einen Zugang dazu, nicht nur das Vorhandensein von Atmosphären zu konstatieren, sondern eben auch zu verstehen, wie sie zustande kommen: indem etwas geschaffen wird, das nicht in sich verschlossen ist, sondern den Raum um sich herum intensiv prägt. Diese Verständnisweise entwickelt Böhme von der Betrachtung ästhetischer Produktionsprozesse her, verallgemeinert dies aber zu einer Position, die er trefflich als »ökologische Naturästhetik« bezeichnet: Nicht nur menschliche Kunstwerke, sondern alles, was in der Natur entsteht, tritt »ekstatisch« im Raum auf und bildet dadurch mit anderem, was dies ebenfalls tut, in dynamischen Wechselbeziehungen gemeinsame Atmosphären. Wenn Böhme hier von Ökologie spricht, betont er damit, dass menschliche Aktivitäten in einen umgreifenden Zusammenhang eingebunden sind und daher dem, was unter Natur verstanden werden kann, nicht einfach diametral 15
Vgl. Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt 1989, S. 19– 36; Ders.: Atmosphären. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 2017, S. 13–48.
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gegenüber gestellt werden können. Jens Soentgen 16 hat schließlich den Fokus dieser Betrachtungsweise auf den Bereich hin zurück ausgerichtet, mit dem sich die Ökologie als wissenschaftliche Disziplin primär beschäftigt: auf die Beziehungen zwischen Lebewesen, insbesondere auf diejenigen Beziehungen, durch die Lebewesen ihre gemeinsame Umwelt erschließen, gestalten und erhalten beziehungsweise verändern. Als Wesen, das schon seit langem und in neuerer Zeit unübersehbar die Umwelten seiner Umgebung mitgestaltet, gerät der Mensch dabei keineswegs aus dem Blick. Der für das hier behandelte Problem einschlägige Ertrag dieser philosophischen Entwicklung lautet: Atmosphären sind die Umwelten von Lebewesen, und zwar unter dem Aspekt, dass es sich aufgrund der Beziehungen, aus denen und in denen jene Umwelten bestehen, für die in diesen Beziehungen stehenden Lebewesen jeweils auf eine bestimmte Weise anfühlt, in jenen Umwelten zu leben. Exemplarisches Beispiel dafür ist die Atmosphäre der Angst, die unter Wildtieren in Bereichen herrscht, in denen sie mit modernen Feuerwaffen bejagt werden. Diese Angst ist nicht (nur) in den Wildtieren; sie leben in und mit ihr, und sie hat für sie auch eine wichtige ökologische Funktion: Sie ermöglicht es ihnen, sich auf eine Weise zu verhalten, die ihrer potenziell stets bedrohten Situation angemessen ist. Diese Atmosphäre lässt sich auch von den Menschen spüren, die sich in ihr bewegen, und erhält damit einen empirisch fassbaren Aspekt. Im Licht der oben erwähnten minimalen Bestimmung eines mentalen Zustands ist demnach auch das jeweilige Ökosystem ein solcher, und die notorisch schwierige Frage, ob überhaupt oder günstigstenfalls wie sich Ökosysteme eingrenzen und abgrenzen lassen, ohne dass völlig willkürliche Setzungen ins Spiel kommen, lässt sich nun beantworten: Sie lassen sich aus jener qualitativen Innenperspektive heraus als atmosphärische Einheiten innerhalb des Gefühlsraums erfassen; einer Innenperspektive, die nicht die Perspektive eines in sich verschlossenen Subjekts ist, sondern eine Perspektive erfahrbarer Beziehungen im Binnenbereich jenes durch seine Stimmung zusammengehaltenen Lebensraums. 16
Vgl. Jens Soentgen: Ökologie der Angst, Berlin 2018, S. 7–24.
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Eingestimmte Subjekte?
Das hier Skizzierte als »die Atmosphärenkonzeption der Neuen Phänomenologie« zu bezeichnen, könnte angesichts der Differenzen zwischen Schmitz, Böhme und Soentgen als ein fragwürdiges Etikett erscheinen. 17 Es wird hier trotzdem verwendet, weil sich in der Ausprägung des Atmosphärenbegriffs bei Soentgen zentrale Einsichten von Schmitz (Raumbezug des Mentalen) und Böhme (ökologischer Charakter dieses Raumbezugs) durchhalten und auf eine Weise konkretisiert werden, die jene Konzeption auch für eine Lösung des panpsychistischen Kombinationsproblems fruchtbar machen. 4
Ein »atmosphärischer« Vorschlag zur Lösung des Kombinationsproblems
Wie gesehen stellt sich dieses Kombinationsproblem bei näherer Hinsicht in Gestalt folgender Frage: Wie kann ein inhaltlich gleiches Erleben verschiedener Subjekte eine Verbindung zwischen ihnen ausmachen? Die Atmosphärenkonzeption der Neuen Phänomenologie ermöglicht darauf diese Antwort: Dies ist möglich, wenn es sich dabei um das Erleben einer Atmosphäre handelt, die jene Subjekte umgreift und die in deren Erleben als eben solche erlebt wird. In einem solchen Fall lässt sich die Atmosphäre als ein mentaler Zustand auffassen, bei dem es sich nicht um einen privaten Zustand eines der betreffenden Subjekte handelt, aber »in dem« sie in einem bestimmten, nämlich atmosphärischen Sinne durchaus sind. Dann erleben jene Subjekte, gemeinsam in jenem Zustand zu sein, der sie als solcher miteinander verbindet. 18 17
Vgl. dazu Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, Bonn 1998, S. 104–106; Hermann Schmitz: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 283–286; Jens Soentgen/ Hermann Schmitz: »Hamburger Disputation zum Schmitzschen Gefühlsraum«, in: B. J. Blume (Hrsg.): Raum. Materialien zur Vortragsreihe Raum 120, HfbK Hamburg 2001/2002, Hamburg 2002, S. 45–67. 18 Reinhardt Knodt spricht in einem sehr verwandten Zusammenhang von »Korrespondenzen«. Vgl. Reinhardt Knodt: Der Atemkreis der Dinge. Einführung in die Philosophie der Korrespondenz, Freiburg/München 2017, S. 23–56.
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Daraus lässt sich wiederum eine These darüber entwickeln, wie es ist, ein Mikrosubjekt zu sein. Makrosubjekte beruhen dem Panpsychismus zufolge auf der Verbundenheit von Mikrosubjekten, und wenn es sich beispielsweise bei uns menschlichen Subjekten um Makrosubjekte handelt, dann dauert diese Verbundenheit der Mikrosubjekte so lange, wie das jeweilige Makrosubjekt existiert. Dies lässt sich wiederum in einem an Soentgens Atmosphärenverständnis angelehnten ökologischen Sinn verstehen: Diese Verbundenheit ist deshalb auf Dauer angelegt, weil sie die Mikrosubjekte, die sie empfinden, dazu bewegt, sie aufrechtzuerhalten. Durch die Qualität der jeweiligen Atmosphäre, durch deren Stimmung, sind die Mikrosubjekte in die Atmosphäre eingebunden, gleichsam durch sie in sie eingestimmt. Diese Einstimmung erfüllt für die einzelnen Mikrosubjekte und die sie umgebende Atmosphäre jeweils eine wichtige ökologische Funktion: Die Atmosphäre erhält sich dadurch, indem sie ihre Mikrosubjekte dazu bringt, sie weiter zu begründen; und insofern das Verbundensein mit anderen Mikrosubjekten innerhalb einer gemeinsamen Atmosphäre für diese Mikrosubjekte selbst von Vorteil, vielleicht sogar existenzsichernd ist, profitieren auch sie davon. So wäre es demnach, ein Mikrosubjekt zu sein: ein derartiges Eingestimmtsein gemeinsam mit anderen Mikrosubjekten zu erleben. Dieses Erleben kann durchaus präreflexiv sein, wie es zumindest bei unseren Mikrosubjekten, bei denen es sich nach allem, was wir wissen, nicht um reflexionsfähige rationale Subjekte handelt, durchaus auch der Fall sein dürfte, wie es aber auch bei derartigen Subjekten wie uns der Fall sein könnte, sofern sie sich auf das Eingebundensein in Stimmungen einlassen. 19 Diese These droht erneut von einem Vorstellbarkeitsargument in Zweifel gezogen zu werden, das zugleich den Panpsychismus insgesamt beträfe: Ist es nicht jeweils vorstellbar, dass Subjekte in eine gemeinsame Atmosphäre eingestimmt sind, ohne dass dadurch ein Makrosubjekt entsteht und besteht? 19
Vgl. Uwe Voigt: »Wie ist es, ein Mikrosubjekt zu sein? Ein mesopsychistischer Versuch zum Thema Geist-Erfahrung«, in: Manfred Negele (Hrsg.): Geist-Erfahrung, Würzburg 2019, S. 41–58.
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Eingestimmte Subjekte?
Um diesem Angriff zu entgegnen, empfiehlt es sich, die Strategie zu wiederholen, die der Panpsychismus der vermeintlichen Vorstellbarkeit einer rein physischen Welt ohne Subjektivität entgegengesetzt hat: Jener Angriff läuft ins Leere, wenn es sich bei dem jeweiligen Makrosubjekt um nichts anderes als die qualitative Innenseite der entsprechenden Atmosphäre handelt. Mit Whitehead gesprochen: Die vielen Mikrosubjekte werden eines, indem sie ein ökologisches System bilden, das eine Atmosphäre erzeugt, und die Innenseite jener Atmosphäre kommt als weiteres Subjekt, nämlich als Makrosubjekt, hinzu. Dann ist es überhaupt nicht vorstellbar, dass die Atmosphäre ohne das Makrosubjekt bestehen könnte. Nach dieser Auffassung ist auch das Makrosubjekt in die ökologische Beziehung zwischen den Mikrosubjekten und »ihrer« Atmosphäre eingebettet: Als mentale Innenseite jener Atmosphäre hält das Makrosubjekt seine Mikrosubjekte gleichsam bei Stimmung, indem es, solange es eben besteht, diese einbindende Atmosphäre durch Einbindung seiner Mikrosubjekte aufrechterhält. Auch dies kann präreflexiv geschehen, ja muss auch bei reflexionsfähigen Subjekten zumindest zunächst so geschehen, da sie dadurch allererst als Subjekte entstehen und bestehen, die dann ihre Reflexionsfähigkeit ausüben können. Zusammenfassend lässt sich diese Lösung des panpsychistischen Kombinationsproblems so darstellen: Mikrosubjekte verschmelzen nicht miteinander, sondern interagieren so, dass sie eine gemeinsame Atmosphäre erzeugen. Auch die mentalen Zustände der jeweiligen Mikrosubjekte rinnen nicht aus verschlossenen Innenseiten heraus auf mysteriöse Weise zusammen, sondern sind, im Licht der Neuen Phänomenologie betrachtet, immer schon in dem Raum, in dem sich jene Atmosphäre bildet. Diese Atmosphäre besteht in dem und durch das Erleben der gemeinsamen Verbundenheit der sie bildenden Mikrosubjekte; zugleich ist sie das von den Mikrosubjekten gebildete Makrosubjekt, dem jener Umstand reflexiv nicht bewusst sein muss, ja zunächst auch gar nicht sein kann.
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Ausblick
Die Bestimmung der Mikrosubjekte und ihrer gemeinsamen Atmosphäre – was unter den hier gewählten Voraussetzungen zugleich auch heißt: ihres Makrosubjekts – ist gezielt sehr allgemein gehalten worden, denn sie soll auf derartige Verhältnisse anwendbar sein, wo auch immer sie anzutreffen sind. Es lohnt sich, über diese wie angegeben skizzenhafte und spekulative Darstellung hinauszugehen, denn in ihr bleiben die verwendeten Begriffe relativ leer, insofern sie von anschaulicher Gegebenheit weit entfernt sind. 20 Dies trifft jedenfalls auf den Begriff des Mikrosubjekts zu, insofern damit die Innenseite einer Instanz gemeint ist, die auf einer Größenebene unterhalb derjenigen der uns in der alltäglichen Erfahrung zugänglichen Welt anzutreffen ist. Auf solchen Mikroebenen sieht wenigstens die Hauptströmung des zeitgenössischen Panpsychismus Mikrosubjekte angesiedelt, 21 was deren mentale Zustände in einen sehr großen Abstand zu den unseren zu rücken scheint, so dass es kaum möglich ist, es nachzuvollziehen, wie es ist, ein Mikrosubjekt zu sein. Selbst wenn wir es mit gestaffelten Ebenen von Mikrosubjekten und Makrosubjekten zu tun haben sollten, so dass unsere »nächsten« Mikrosubjekte nicht Elektronen, sondern Neuronen sind, bliebe eine gewisse Fremdartigkeit bestehen. Besser ist es demgegenüber um den Begriff des Makrosubjekts bestellt. Wenn der Panpsychismus zutrifft und es sich bei menschlichen Subjekten daher um Makrosubjekte handelt, wissen wir zumindest implizit, wie es ist, ein Makrosubjekt zu sein, auch wenn wir unser Wissen darum, wie es ist, ein Subjekt von jener Art zu sein, noch nicht als solches expliziert haben dürften. Die Frage, ob und wie das je eigene Bestehen als Subjekt sich atmosphärisch auffassen lässt, als das Bestehen einer durch Stimmungen einbin-
20
Vgl. das bekannte Diktum Kants »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kritik der reinen Vernunft, B75/A51). 21 Vgl. Voigt (2019).
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Eingestimmte Subjekte?
denden Atmosphäre, mag zwar zunächst exotisch wirken, was aber nicht bedeuten muss, dass sie nicht sinnvoll sein kann und dass sich keine Wege zu ihrer Beantwortung finden ließen. Vielmehr könnte der Versuch, diese Frage zu beantworten, auch die Suche danach motivieren, was es denn ist, das da eingebunden sein könnte, und dadurch zumindest versuchsweise auch die Frage, wie es ist, ein Mikrosubjekt zu sein, mit weiterem Inhalt füllen. Diese Aufgabe kann zudem auch aus einer weiteren Richtung angegangen werden, wenn wir uns weiter fragen: Sind menschliche Subjekte tatsächlich, was der heutige Panpsychismus weitgehend voraussetzt, lediglich Makrosubjekte und nicht vielmehr auch Mikrosubjekte? Was die hier gebotene Darstellung zumindest nahelegt, da menschliche Subjekte ja durchaus durch Stimmungen in Atmosphären verschiedener Art eingebunden sind bzw. sein können. 22 Der Weg zu einem Verständnis von Mikrosubjektivität könnte also mit einem Verständnis menschlicher Subjektivität ansetzen, was wiederum zu einer Auffassung der uns umgebenden Atmosphären als unseren Makrosubjekten beitrüge. Diese Wege beginnen jeweils bei uns, in der Betrachtung unserer eigenen Subjektivität als der eventuellen Mitte zwischen verschiedenen Ebenen. Für eine derartige Betrachtung muss der Panpsychismus nicht schon in Geltung gesetzt werden; es genügt dazu, ihn als heuristische These zu verwenden. Diese These ist zwar mit inneren Schwierigkeiten verbunden. Die Atmosphärenkonzeption der Neuen Phänomenologie hat aber die Macht, einen Beitrag zur Überwindung jener Schwierigkeiten zu leisten. Jene Wege weiter zu beschreiten führt daher durch den spannenden Begegnungsraum mitten zwischen Panpsychismus bzw. allgemeiner der aktuellen analytischen Philosophie des Geistes einerseits und der sich nach wie vor in Entwicklung befindlichen Neuen Phänomenologie andererseits. Daher lässt sich der hier vorgestellte Ansatz als mesopsychistisch bezeichnen und, unter
22
Vgl. Heinz Bude: Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen, Hamburg 2016, S. 11–63.
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Uwe Voigt
welchem Titel auch immer, in weiterer fruchtbarer Zusammenarbeit in jenem Grenzgebiet unter Einbezug weiterer einschlägiger Disziplinen voranbringen. 23
23
An dieser Stelle sei Jens Soentgen herzlich dafür gedankt, dass er auf diesem Weg mit unschätzbaren Hinweisen weitergeholfen hat und ihn auf ermutigende Weise begleitet. Zu danken ist auch Frau Sabina Hüttinger, B.A., für Hilfe bei der Durchsicht dieses Beitrags.
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Zum Begriff der Atmosphäre
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Tonino Griffero
Was kann eine Gefühlsatmosphäre tun? Atmosphären zwischen Immersion und Emersion
In einem solch antireduktionistischen Kontext, der die Existenz von Halbdingen erlaubt, 1 bin ich mir sicher, dass ein gewisser ontologischer und phänomenologischer Inflationismus in der Luft liegt. Ich schlage also vor, sowohl das atmosphärische Wahrnehmen als auch die halbdingliche Natur der Atmosphäre selbst zu pluralisieren. Den Feldzug von Schmitz mache ich mir selbstredend zu eigen: es geht um die Desubjektivierung der Gefühle und um seine Definition der Atmosphären. Diese sind räumlich, aber ortlos ergossene Gefühle und üben – als leiblich ergreifende Mächte – eine Autorität aus auf diejenigen, die affektiv betroffen sind ohne Einlagerung in ihrem (rein hypothetischen) Inneren. Um auf der Höhe des zunehmenden Erfolgs des atmosphärologischen Ansatzes in den Geisteswissenschaften zu sein, halte ich es jedoch für angebracht, eine idealtypische Unterscheidung einzuführen. Es geht um den Unterschied zwischen prototypischen Atmosphären (objektiv, extern, nicht intentional und in den Raum strömend), abgeleiteten Atmosphären (objektiv, extern, teilweise absichtlich und auf den Richtungsraum bezogen) und sogar unechten Atmosphären (rein relational, subjektiv-projektiv und außerdem in den Ortsraum einfügbar). 2 Jetzt geht es darum, zu verstehen, ob auch in Bezug auf atmosphärische Gefühle von Macht gesprochen werden kann. Zunächst zu betonen ist, dass Denken und Beurteilen meistens eine 1
Vgl. Tonino Griffero, Quasi-Things. The Paradigm of Atmospheres, Albany (N.Y.) 2017. 2 Vgl. Tonino Griffero, Atmospheres. Aesthetics of Emotional Spaces, London/New York 2014, S. 144.
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Tonino Griffero
eigenständige Initiative des Bewussthabers sind, während die atmosphärische Wahrnehmung hingegen hauptsächlich ein »antwortendes Eingehen auf etwas, das ihm […] nahe geht, indem es ihn betroffen macht« ist. 3 Dabei greifen wir auf diese Definition von Schmitz zurück: Macht ist die Steuerungsfähigkeit, also »das Vermögen, einen Vorrat beweglicher Etwasse in gerichtete Bewegungen zu versetzen, diese im Verlauf zu führen oder Bewegungen anzuhalten«. 4 Wann und wie erlegt aber dann eine Atmosphäre »dem Betroffenen unverkennbar […] die verbindliche (nicht seinem Belieben überlassene) Geltung einer Norm« 5 auf? 1
Die prototypische Ingressionsatmosphäre
Nicht nur eine Atmosphäre, die prototypisch als Ingressionserfahrung verstanden wird, ergreift besonders atmosphärensensible Personen und entzieht sich weitgehend ihrer Kontrolle. Sogar die harmlose Atmosphäre, wie zum Beispiel die plötzliche Verdunkelung des Himmels durch eine Wolke, erweist sich als resistent gegen jeglichen Versuch, ihre Macht zu erklären, so als sei diese die Auswirkung der unbewussten Projektion einer subjektiven Regung. Ihre Autorität lässt sich auch nicht leicht auf den Wunsch zurückführen, kulturellen Emotionsnormen und sozialen Praktiken zu entsprechen, 6 da sie eher eine unmittelbare und leiblich dem Gefühl »für sich« zukommende Autorität ist. Selbst wenn 3
Hermann Schmitz, Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, Freiburg/ München 2016, S. 222–223. 4 Hermann Schmitz, »Die Legitimierbarkeit der Macht«, in Hans Jürgen Wendel/Steffen Kluck (Hrsg.), Zur Legitimierbarkeit von Macht, Freiburg/München 2008, S. 5. 5 Hermann Schmitz, Logische Untersuchungen, Freiburg/München 2008, S. 73. 6 Siehe Anna Blume/Christoph Demmerling, »Gefühle als Atmosphären? Zur Gefühlstheorie von Hermann Schmitz«, in: Hilge Landweer (Hrsg.), Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin 2007, S. 126, und Christoph Demmerling, »Gefühle, Sprache und Intersubjektivität. Überlegungen zum Atmosphärenbegriff der Neuen Phänomenologie«, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hrsg.), Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 48.
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Was kann eine Gefühlsatmosphäre tun?
sie – wie jedes Halbding – vorübergehend kommt und geht und es keinen Sinn macht, sich (auf verdinglichende Art) zu fragen, wo sie in der Zwischenzeit geblieben ist, so betrifft die prototypische Atmosphäre affektiv jemanden mit einer Kraft, die den sozialen Normen, den Gedanken und sogar der Evidenz der Wirklichkeit 7 fehlt. Dies erfolgt ohne physisches Einzwängen, sondern dank environmental affordances oder, um den neuphänomenologischen Sprachgebrauch zu verwenden, Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren als leibnahen Brückenqualitäten. 8 Gewiss hat bei Schmitz das Numinose-Modell (Rudolf Otto) als mysterium tremendum Einfluss. Die Atmosphärologie oder die neuphänomenologische Atmosphärenlehre auf ein Kapitel des theologischen Emotivismus zu reduzieren, wäre jedoch absurd. Das Numinose ist nur ein Beispiel, da für Schmitz jede Atmosphäre göttlich ist, deren leibliche und nicht planbare 9 Resonanz »für den Ergriffenen unbedingten Ernst« 10 besitzt, sowohl für diejenigen, die sich in diese Atmosphäre einstimmen, als auch, wenn nicht hauptsächlich, für diejenigen, die sich dagegen stellen und die genau mit diesem Protest die objektive Wirklichkeit der Gefühlsatmosphäre bezeugen. Das Beispiel konträrer und zusammenprallender Gefühle 11 ist für Schmitz entscheidend. Wenn der Fröhliche in eine Trauergemeinde gerät, verspürt er die Autorität der Trauer und erweist ihr Respekt. Das Übergewicht dieser Atmosphäre ist allerdings nicht nur der Trauer 12 zugeordnet, sondern jeder prototypischen 7
Hermann Schmitz, Was ist Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 315. Vgl. z. B. Hermann Schmitz, Der Leib, Berlin/Boston 2011, S. 33–38, und Tonino Griffero, Places, Affordances, Atmospheres. A Pathic Aesthetics, London/New York, vor allem S. 66–83. 9 Vgl. Michael Huppertz, »Spirituelle Atmosphären«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.), Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 160–166. 10 Hermann Schmitz, System der Philosophie, III. 4., Das Göttliche und der Raum, Bonn 1977, S. 91. 11 Siehe Hermann Schmitz, Was ist Phänomenologie?, 2003, S. 47–48. 12 Wie Demmerling, 2011, S. 47, Anm. 6, behauptet. 8
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Tonino Griffero
Atmosphäre, deren besondere Eigenschaft genau diese ist, einen totalen Anspruch zu erheben, zu Lasten anderer etwaigen anwesenden Atmosphären. Man kann daraus schließen, dass es Atmosphären gibt, die an sich eine höhere Autorität ausüben, sei es die ernste Schwere eines heiligen Ortes oder eines Justizpalasts, die Treue, die man umsonst schenkt, oder die Liebe, die sogar von demjenigen geachtet wird, der sie nicht erwidert. Sozial einflussreich (man denke an die soziale Segmentierung oder die Abgrenzung zu den Outsidern, die sie verursacht), ohne (ausschließlich) sozial erklärbar zu sein, besitzt die prototypische Atmosphäre aber nur in den reinsten Fällen der Irradiation 13 eine absolute Autorität. Diese Autorität wird hingegen relativ, wenn der Betroffene, dank einer leiblichen und biographischen Disposition, mit einem höheren Niveau der personalen Emanzipation rechnen kann und die Reserven verfügbarer Kritik mobilisiert. Die Hypothese ist, dass die leibliche Kommunikation 14 hier in der Abschwächung der einseitigen antagonistischen Einleibung besteht, die hingegen die unbedingte Verbindlichkeit der absoluten Autorität 15 erklärt, da der passive Partner nun nur teilweise von der Dominanzrolle fasziniert ist, die vom Enge-Pol übernommen wird. Selbst mit unterschiedlicher Intensität in unterschiedlichen Personen ist die prototypische Atmosphäre nicht relativer als eine Sprache, die von jedem etwas anders gesprochen wird: der strahlende Tag kann nämlich die Trauer des Trauernden vertiefen, nicht, weil er ihm als traurig erscheint, sondern weil diese Fröhlichkeit, die der Tag ausstrahlt, ihm fremd und irritierend vorkommt.
13
Nicht zu verwechseln mit der Ergossenheit der Gefühle (s. Hermann Schmitz, Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, hg. von Hermann Gausebeck und Gerhard Risch, Paderborn 1998, S. 132). 14 Für weiterführende Überlegungen zu diesem Begriff von Schmitz, vgl. Tonino Griffero, »Felt-bodily Communication: A Neophenomenological Approach to Embodied Affects (Sensibilia 10)«, Studi di estetica, XLV, 8/2, 2017, S. 71–86. 15 Für eine andere Meinung, vgl. Christian Julmi, Atmosphären in Organisationen. Wie Gefühle das Zusammenleben in Organisationen beherrschen, Bochum/ Freiburg 2015, S. 128.
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Was kann eine Gefühlsatmosphäre tun?
Jede ideal-typische Beschreibung erweist sich aber als viel zu einfach gegenüber der konkreten phänomenologischen Erfahrung und den Ausnahmen, die diese nahelegt. Im Folgenden wollen wir einige davon analysieren: a) Ist der flächenlose und vordimensionale Raum der prototypischen Atmosphäre wirklich vollkommen unbestimmt und grenzenlos? Sicherlich wird ein Mensch beim Übertritt in einen anderen Raumabschnitt nicht automatisch von einem anderen Gefühl überfallen, 16 doch zumindest wird die Autorität der vorherigen Atmosphäre durch den einfachen Ortswechsel des Wahrnehmenden relativiert. Wir haben tatsächlich den Eindruck, dass die in einem Zimmer gespürte Spannung sich auflöst, sobald wir das Zimmer verlassen. b) Auch die sozial durchdringende Atmosphäre kann leicht durch die Entzauberung beschädigt werden. 17 Unpassende Untertöne, zum Beispiel, zerstören das Charisma und somit die Legitimität einer atmosphärischen Macht. In diesem Fall wird die leibliche Kommunikation zur wechselseitigen antagonistischen Einleibung, in der Dominanz und Unterwerfung nicht mehr präzise auseinanderzuhalten sind. c) Schließlich übersteht die prototypische Atmosphäre nicht immer die cognitive penetrability. Das Pathos (die Atmosphäre der Trauer) einer Beerdigung wird durch ein gnostisches Moment gar nicht beeinträchtigt. Doch die Atmosphäre einer Abendröte wird entkräftet, wenn man weiß, dass sie eine Folge der Umweltverschmutzung ist. Die erzeugenden Bedingungen einer Atmosphäre zu kennen und diese eventuell präzise zu lokalisieren, bedeutet im Regelfall, vom eigenleiblichen Befinden Abstand zu nehmen. Die Beziehung zwischen Fühlen und Wissen in der atmosphärischen Wahrnehmung ist, allgemein, sehr problematisch, und nur im »Idealfall« ergreift sie uns trotz unserem Wissen. 16
Vgl. Sr. M. Johanna Lauterbach, »Gefühle mit der Autorität unbedingten Ernstes«. Eine Studie zur religiösen Erfahrung in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und Hermann Schmitz, Freiburg/München 2014, S. 510. 17 Vgl. Gernot Böhme, »Atmosphären in zwischenmenschlicher Kommunikation«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.), Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 289–290.
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Tonino Griffero
2
Eine latente Macht
Eine sehr wichtige Frage ist, welche Atmosphäre mächtiger ist: die gewaltig manifestierte Atmosphäre oder die bloß latente Atmosphäre? Beim ersten Blick scheint die erste, die eine Ingressionserfahrung bewirkt und sich dadurch als »besondere Atmosphäre« 18 erweist, mächtiger zu sein. Sie ist nämlich in der Lage, einen Kontrast zu ihrem Hintergrund und/oder mit der Biografie des Wahrnehmenden zu erzeugen und auf diese Weise den durch die Abstimmung von Gefühlen gegebenen Normalfall zu stören. Wenn man aber annimmt, dass die Atmosphären immer und überall sind, so sehr, dass »gerade die Ablehnung jeglicher Atmosphäre eine eigentümliche Atmosphäre erzeugt«, 19 so sollte man die Atmosphärelosigkeit oder Nullatmosphäre eher als Atmosphäre der Neutralität 20 erklären. Jede Situation leitet nämlich genau von ihrem atmosphärischen Ausdruck ihren prägenden Charakter, ihre Bedeutsamkeit als Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen ab. Um zu zeigen, dass die Atmosphären nicht immer in Situationen eingebettet sind, verwendet Schmitz das Beispiel der Sprachen als »gemeinsame Situationen ohne Atmosphäre«. 21 Doch dieses gilt eigentlich nur für die abstrakt verstandenen Sprachen, während diese keineswegs gefühllos klingen, wenn, zum Beispiel, man sie weit weg von Zuhause hört oder man sie für unübersetzbar erklärt.
18
Auch als Wahrnehmung der Wahrnehmung verstanden (vgl. Andreas Rauh, Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen, Bielefeld 2012, S. 161). 19 Mark Wigley, »Die Architektur der Atmosphäre«, in: Gerhard Auer/Ulrich Conrads et alii (Hrsg), Konstruktion von Atmosphären. Constructing Atmospheres, Gütersloh 1998: Bertelsmann-Fachzeitschrift, S. 27. Auch das Gefühl der Gefühllosigkeit der endogenen Depression ist auf jeden Fall gefühlt (vgl. Matthew Ratcliffe, Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford/New York 2008, S. 148 und 178), und vielleicht sogar das Zweifeln ist etwas, was man »fühlt« (Carl Haensel, Das Wesen der Gefühle, Überlingen 1946, S. 126). 20 Vgl. Rauh, 2012, S. 143. 21 Hermann Schmitz, Atmosphären, Freiburg/München 2014, S. 55 (vgl. auch S. 10 und 50).
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Was kann eine Gefühlsatmosphäre tun?
Für diese nur scheinbare Atmosphärelosigkeit sind zwei Erklärungen möglich. Es kann sein, dass eine Atmosphäre beim Wahrnehmenden ganz einfach die notwendige Wahrnehmungsschwelle nicht erreicht. Noch bedeutender, die Atmosphäre kann sich auch einfach als atmosphärischer Horizont zeigen, als (gestaltischer) Hintergrund einer Figur und damit als intransitive Bedingung von Wahrnehmungen, die ihrerseits spezifisch transitiv sind: 22 eine Bedingung, der dennoch die Intensität keinesfalls fehlt. Diese zweite Perspektive trifft den umstrittenen Unterschied zwischen den Atmosphären mit ihrer Gebärdensicherheit und den Stimmungen, aber auch, wie Böhme verlangt, zwischen der »Atmosphäre« und dem objektiveren »Atmosphärischen«. 23 Mir scheint es absolut wahrscheinlich zu sein, dass eine latente, aber binnendiffuse Gefühlsatmosphäre eine subtile Macht ausüben kann, mächtiger sogar als diejenige, von der man hier und jetzt die Wirkung und die Autorität erlebt. Wenn man behauptet, dass eine Atmosphäre eigentlich nur aktuell existiert, unterschätzt man vielleicht die latente Atmosphärisierung, deren Einfluss auch unterschwellig wirken kann und in der Tat erst nach einer bestimmten Zeit klar bewusst wird. 24 Für Heidegger galt bekanntlich: »gerade die Stimmungen, die wir gar nicht beachten und noch weniger beobachten, jene Stimmungen, die uns so stimmen, daß es uns ist, als sei überhaupt keine Stimmung da, als seien wir 22
Über die Atmosphäre als nicht thetische Bedingung, vgl., unter anderen, JeanPaul Thibaud, »Die sinnliche Umwelt von Städten. Zum Verständnis urbaner Atmosphären«, in: Michael Hauskeller (Hrsg.), Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Kusterdingen 2003, S. 293; Michael Bockemühl, »Atmosphären sehen. Ästhetische Wahrnehmung als Praxis«, in: Ziad Mahayni (Hrsg.), Neue Ästhetik. Das Atmosphärische und die Kunst, München 2002, S. 221; Eugène Minkowki, Vers une cosmologie: fragments philosophiques, Paris 1936, S. 234; und, contra, Volkmar Mühleis, »Kunst und Atmosphäre«, in Stephan Debus /Roland Posner (Hrsg.), Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 130 und 136. 23 Siehe Gernot Böhme, Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 59–62. 24 Vgl. Julmi, 2015, S. 102. Zum Beispiel, kann es passieren, dass es »schon Liebe [war], was man bei sich als unangenehme und beunruhigende Störung registriert hatte« (Schmitz 2003, S. 53).
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Tonino Griffero
überhaupt nicht gestimmt, diese Stimmungen sind die mächtigsten«. 25 3
Registriert aber nicht erlebt
Sehr interessant ist übrigens die Situation, in der eine Atmosphäre uns begegnet, ohne dass sie uns ergreift. 26 Wenn einer eine gefühllose Atmosphäre wahrnimmt, nimmt er dann nicht eher eine Atmosphäre mit niedriger Intensität wahr, von der er nicht vollständig ergriffen ist? Die von Moritz Geiger vorgeschlagene Unterscheidung zwischen einer »betrachtenden Einstellung«, die den Gefühlscharakter eines Gegenstandes erkennt, aber dieser als etwas »Fremdes gegenüber« steht, und einer teilhabenden »aufnehmenden Einstellung« 27 möchte nämlich der Situation Rechnung tragen, in der eine Gefühlsatmosphäre neutral registriert wird, aber ohne ein reales leibliches Betroffensein. Aber auch das Gefühl, das »anklopft«, ohne durch echte Ergriffenheit des Betreffenden zu seinem Gefühl zu werden, 28 ist eine leibliche Kommunikation. Und deshalb ist es mehr als ein bloßes Beobachten oder »Lesen« von atmosphärischen Gefühlen: Daraus stammt die verstrickte und hier nur angedeutete Debatte bezüglich der Anoder Abwesenheit einer (auch nur minimal) affektiven Komponente in jeder neutralen Betrachtung. Wie ergibt sich diese Dissoziation zwischen Gefühl und Ergriffenheit? Erlebt derjenige, der ein Gefühl nur beobachtet, wirklich Widerfahrendes ohne Betroffensein, ohne diese minimale pathische Komponente, die zumindest erlaubt, dass man eine Atmo25
Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (1929–30), Gesamtausgabe 29/30, Frankfurt 1992, S. 101–102. 26 Jan Slaby, Gefühl und Weltbezug. Die menschliche Affektivität im Kontext einer neo-existentialistischen Konzeption von Personalität, Paderborn 2008, S. 340, betrachtet sie nur als analytisch-euristische Unterscheidung zwischen Gefühlsakt und Gefühlsinhalt. 27 Moritz Geiger, »Zum Problem der Stimmungseinfühlung«, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 6, 1911, S. 27 f. 28 Vgl. Lauterbach 2014, S. 511–512.
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Was kann eine Gefühlsatmosphäre tun?
sphäre bemerkt? Spürt der Erwachsene wirklich nichts von der strahlenden Weihnachtsfreude des Kindes? Wenn Malte sagt, dass er eine fröhliche Situation nicht teilen kann – »die Leute hielten mich auf und lachten und ich fühlte, dass ich auch lachen sollte, aber ich konnte es nicht« 29 –, registriert er tatsächlich dann nur die soziosemiotischen Hinweise eines Umweltgefühls? Er sollte aber zumindest zum Teil jene Fröhlichkeit spüren, andernfalls würde er den Konflikt mit seinem affektiven-leiblichen Befinden gar nicht bemerken. Angenommen also, dass schon die einfache Wahrnehmung einer Situation ohne leibliche Betroffenheit ein Gespür für die Atmosphäre 30 voraussetzt, so geht es darum, den Unterschied zwischen affektiv und nicht-affektiv nicht zu sehr zuzuspitzen und dabei zu erkennen, dass jede atmosphärische Wahrnehmung nur im Laufe eines Kontinuums möglich ist, irgendwie gestimmt zwischen den rein ideellen Polen der Verschmelzung und der Distanzierung. 31 4
Im Laufe der Zeit
Diese Unterscheidung zwischen Gefühl und affektiver Betroffenheit 32 bringt aber einen anderen problematischen Aspekt der Macht der Atmosphären zum Vorschein: ihre mögliche zeitliche Artikulierung. Es wird häufig der status nascendi der Gefühle vergessen, zum Beispiel die entscheidende Rolle der Erwartungen in 29
Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), München 1997, S. 47. 30 Vgl. Hilge Landweer, »Der Sinn für Angemessenheit als Quelle von Normativität in Ethik und Ästhetik«, in: Kerstin Andermann/Undine Eberlein (Hrsg.), Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, Berlin 2011, S. 69 und 76. 31 Vgl. Slaby, 2008, S. 335–336 und vor allem Sabine Schouten, Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater, Berlin 2011, S. 203. 32 Schmitz gibt hier gerne das Beispiel von Gretchens Zimmer, in dem eine anfangs bloße Wahrnehmung sich in eine spätere Ergriffenheit, die auf Faust übergeht, verwandelt (Schmitz 2016, S. 234).
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Tonino Griffero
ihrer Wahrnehmung und die der nachfolgenden Erfahrungen. 33 Der Wahrnehmende ist genötigt, nach Schmitz, den Gefühlsimpuls anfangs zu seinem eigenen zu machen, und erst nach dieser Anfangsphase ist er in der Lage, Stellung zu nehmen, a) mit einer Preisgabe, b) mit einer konstruktiven Akzeptanz ihrer Ausstrahlung, c) mit einem Widerstand, sogar d) mit einer Mischung aus Akzeptanz und Widerstand. 34 Diese Reihenfolge, ermöglicht durch den Ausfall des unspaltbaren Verhältnisses der anfänglichen Ergriffenheit, kennzeichnet vor allem die niedrigere Autorität der abgeleiteten Atmosphäre, die mehr als die prototypische vom speziellen »Zwischen« von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen 35 dominiert wird. Zudem kann eine Atmosphäre im Laufe der Zeit sowohl ihre eigene Macht bewahren durch Mittel (Rituale und Konventionen), die nützlich sind, um »die Dominanzverhältnisse einer Kultur zu festigen«, 36 als auch erleben, dass sie gemindert wird aufgrund von Variationen des Wahrnehmungs- und Erfahrungsfelds der Person, 37 ihres kognitiven Niveaus, ihrer physiologischen Situation sowie ihrer soziologischen und ästhesiologischen »Kompetenz«. Dieses aufeinanderfolgende Auftauchen von ausdrucksvollen qualia im Rahmen »derselben« Atmosphäre ist eine oft unterschätzte Bedingung. Es kann beispielweise vorkommen, dass der Betroffene im Laufe der Zeit eine steigende Dyskrasie zwischen 33
Die Erwartungen (vor allem wenn unbewusst) begünstigen oder hindern die Bereitschaft, bestimmte Atmosphären zu erfühlen, da sie die Spuren sind, die alle einmal intensiv erlebten Gefühle in Form von unbewussten affektiven Bahnungen im Gesamtgefühl hinterlassen haben: aus diesem Grund, zum Beispiel, kann »das einmalige Erlebnis einer erotischen Ekstase eine lebenslange Erinnerungsmelancholie verpasster Liebe« hinterlassen (Heinz Bude, Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen, München 2016, S. 43). 34 Siehe Schmitz 2011, S. 95. 35 Ontologisch ganz anders, natürlich, ist das Zwischen (»subjektives Umsonst«: vgl. Rauh 2012, S. 96, Anm. 44) als Beziehung zwischen zwei Wesen zu verstehen, die dualistisch autonom definiert sind oder als Möglichkeitsbedingung ihrer Emersion selbst und (erst späterer) Unterscheidung. 36 Julmi, 2015, S. 196. 37 Zum Beispiel: gefühlte Distanz, Helligkeit, Schnelligkeit des Zugangs zum Wahrgenommenen, Wechsel der Wahrnehmungsskala, etc.
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Was kann eine Gefühlsatmosphäre tun?
der gesamten Atmosphäre und ihren Sub-Atmosphären empfinden kann; dass er, durch die Entwicklung der »Partitur«, in die er involviert 38 ist, das Gefühl immer auf persönlicher und idiosynkratischer Weise spüren kann, und so weiter. Es geht nur darum, die Dreiteilung der Atmosphäre, die am Anfang vorgeschlagen wurde, flexibel genug zu erhalten und somit Bedingungen vor Augen zu haben, in denen, mit der Veränderung der Orientierung oder des Rhythmus der Einleibung, eine prototypische Atmosphäre mit der Zeit eine abgeleitete werden kann oder eine unechte dadurch die eigene anfängliche Subjektivität verlieren und die (fast) gleiche externe Autorität der prototypischen einnehmen kann. Auch die gestaltische schmitzianische Unterscheidung zwischen Verankerungspunkt und Verdichtungsbereich betrifft irgendwie die zeitliche Frage. Wenn auch in Form einer Supervenienz über die Komponenten der Umgebung, so kann sich eine Atmosphäre nämlich nach und nach auch verdichten in jenen Elementen, die sie ausstrahlen, ohne deren Ursache zu sein (beim Zahnarzt fürchtet man sich oft mehr vor dem Lärm des Bohrers als vor dem erwarteten Schmerz). Daher stammt die Möglichkeit, dass sich die Macht einer Atmosphäre in Materialien und Situationen konkretisiert, die normalerweise ganz andere Stimmungen ausdrücken. Eine anti-introjektivistische Phänomenologie aber darf nie diese rezeptive Variabilität überbewerten und dabei vielleicht die Verschiedenheit der affektiven Antwort mit der Verschiedenheit der Atmosphäre selbst verwechseln. Statt also davon auszugehen, dass die Personen jedes Mal andere Atmosphären herausfiltern zwischen denen, die im Raum schweben, sollte man eher zugeben, dass verschiedene Stimmungen in Gegenwart der gleichen Atmosphäre koexistieren können: die prächtige Halle einer Bank, zum Beispiel, vermittelt eine Atmosphäre der Macht, relativ identisch sowohl für diejenigen, die dort schüchtern einen Kredit beantragen (deren Stimmung ist das Un-
38
Siehe Jürgen Frese, »Gefühls-Partituren«, in: Michael Großheim (Hrsg.), Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, Berlin 1995, S. 45–70.
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Tonino Griffero
behagen), als auch für diejenigen, die stolz darauf sind, dort angestellt zu sein (deren Stimmung ist der Stolz): hier haben wir einen Filter, der vom Fühlen her für jeden Teilnehmer relativ unterschiedlich wirkt, doch immer auf die gleiche gemeinsame und fast-objektive Atmosphäre bezogen ist. 39 5
Atmosphärische Kompetenz
Die Macht einer Atmosphäre wird als irrational beschrieben, weil deren leibliche Grundlagen unbekannt bleiben. Sie fordert nur im »idealen« Fall der prototypischen Atmosphäre eine unbedingte Autorität, wenn die einseitige Einleibung auf unmittelbare und unerwartete Art, mit beinahe betäubenden Effekten, dem passiven Partner seine persönliche Enge nimmt. Doch genau die Annahme einer solchen intensiven Ergriffenheit (Klages docet!) 40 verlangt einige Überlegungen bezüglich ihrer ethischen und politischen Folgen, umso mehr in einer Zeit der allgegenwärtigen sozialen, wirtschaftlichen und medienwirksamen Atmosphärisierung. Aus diesem Grund fühlen sich die Kritiker der neuphänomenologischen Atmosphärologie berechtigt, ihr schwerwiegende Fehler zuzuschreiben: dass sie auf ungültige Hypostatisierungen und Verdinglichungen zurückgreift, die die Personen auf rein passive Anhänger von äußerlichen und unkontrollierbaren Mächten reduzieren 41 und vielleicht sogar ein platonisches Reich der Gefühle voraussetzt, vergleichbar mit dem logisch-konzeptionellen Modell von Frege. 42 39
Vgl. Schmitz, 2014, S. 61. Über die intensive Beziehung zwischen Schmitz und Klages vgl. Michael Großheim, Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994, und Tonino Griffero, »Urbilder o atmosfere? Ludwig Klages e la Nuova Fenomenologia«, Annuario Filosofico 32, 2016, S. 326–348. 41 Man bildet sich vielleicht sogar ein, die bekanntermaßen paranoide Tendenz, die eigene Veränderung mit eher äußeren als inneren Ursachen zu erklären, darin zu sehen (Tony Stone/Andrew W. Young, »Delusions and Brain Injury: The Philosophy and Psychology of Belief«, Mind & Language 12, 1997, S. 327–364. 42 Vgl. Blume/Demmerling 2007, S. 131–132. 40
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Was kann eine Gefühlsatmosphäre tun?
Dieser Anspruch der Selbstbefreiung von äußeren atmosphärischen Gefühlen wäre vielleicht teilweise berechtigt, ohne eine nur moralistische Beigabe zur Ontologie zu sein, wenn die Atmosphärentheorie ausschließlich die prototypischen Atmosphären zulassen und sich vor allem auch nicht um eine atmosphärische Kompetenz kümmern würde. Diese Kompetenz kann doch verschiedene Formen annehmen. Aber mit Bollnow und Schmitz zu sagen, dass der Mensch später die Möglichkeit oder Freiheit hat, zu einem Gefühl Ja oder Nein zu sagen, 43 oder, mit Heidegger, dass man einer Stimmung nur eine gegensätzliche und stärkere Stimmung entgegensetzen kann, öffnet philosophische Lösungen, deren Kompatibilität problematisch ist. Eines ist klar: heute sieht auch Schmitz ein, 44 dass die Behauptung, »Gefühle [wären] nicht subjektiver als Landstraßen, nur weniger fixierbar« eine Übertreibung ist, weil die erstere die Subjekte auf ganz andere Art involvieren als Straßen. 45 Dennoch liegt die revolutionäre Kraft des neuphänomenologischen Ansatzes zum emotionalen Leben genau in der radikalen Entseelung und Externalisierung der Gefühle. Wenn man die »soziokulturelle Defizienz« 46 dieses Ansatzes aufzeigen würde, indem man sagt, die Atmosphären seien bloß Mitgefühle, die wir als objektiv betrachten, 43
Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen (1941), Frankfurt 1956, S. 132. 44 Vgl. Schmitz 2014, S. 9. 45 Aber sind wir sicher, dass eine nicht streng sachliche Ontologie die Dinge nicht auch so wahrnehmungsabhängig betrachtet (um die sekundäre Qualitäten nicht zu nennen) wie die Atmosphären? Können wir eine Landschaft als »fröhlich« bezeichnen, auch wenn alle Menschen depressiv wären (Schmitz 2003, S. 201), genauso wie die »Tatsache, dass es Wesen ohne Gesichtssinn gibt, stellt nicht das Sein farbiger Dinge in Frage« (Hilge Landweer, »Die Stimme des Gewissens. Sind persongebundene Gefühle Atmosphären?«, in: Michael Großheim (Hrsg.), Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg/München 2008, S. 382)? Reicht es zu sagen, dass man nicht entscheiden kann, was mit den Gefühlen und Atmosphären wird, wenn niemand sie fühlt (und auch nicht beobachtet) und »wir kennen nur gefühlte Gefühle« (Schmitz 2016, S. 241)? 46 Vgl. Johannes Preusker, Die Gemeinsamkeit der Leiber. Eine sprachkritische Interexistenzialanalyse der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz und Thomas Fuchs, Frankfurt 2014, S. 132.
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so sehr, dass es korrekter wäre, von einem »atmosphärischen Wahrnehmen« zu reden anstatt von »Atmosphärisches wahrnehmen«, 47 dann würde man etwas sagen, das sogar der trivialste Introjektivismus annehmen würde. Wenn, anders gesagt, man sich darauf beschränken würde, zu sagen, dass die Atmosphären eine Macht auf die Verhaltensweise der anderen nur dank kulturellen Emotionsnormen und sozialen Praktiken ausüben, wäre die These des Projektivismus noch nicht vollkommen vermieden, nach der die atmosphärischen Mächte die Folge einer Fehldeutung sind, die ihre objektive Gegebenheit mit einer subjektiven inneren Gestimmtheit, die der Mensch auf ein Außen projiziert hat, verwechselt. Kurz gesagt, wenn wir eine ontologische Soft-Version der Atmosphärologie 48 befürworten würden, würden wir sicher die fast vollständige Zustimmung der Akademiker erhalten, würden aber die traditionelleren introjektionistischen Ansätze nicht entkräften. Ohne die irritierende, ungewöhnliche und gar anstößige kontraintuitive 49 neuphänomenologische Kritik des jahrtausendealten Innenwelt- und Weltspaltungsparadigmas, sowie der innerlichen Seele als asylum ignorantiae, würde wirklich nichts unsere tausendjährige intellektuelle Kultur erschüttern. Es liegt mir fern, die Rolle des Spielverderbers zu unterschätzen, der auch die Argumente anführt, mit denen Schmitz die Idee von Böhme ablehnt, dass eine Person Atmosphären erzeugen könnte. Es ist nämlich wahr, dass diese intentionale Erzeugung oft nichts anderes ist als manipulativ-rhetorische Eindruckstechnik, die auf oberflächige »Plakat-Situationen« und (im Fall der Kunst) Kitsch-Produkte abzielt, indem sie eine segmentierte durch eine impressive Situation plakatieren wollen und in einem Augenblick zum Vorschein bringen. 50 Im Zweifel bezüglich der Möglichkeit 51 und der Ethizität die47
Siehe Rauh 2012, S. 252. Vgl. z. B. Slaby 2008, S. 339. 49 Ist nicht eine gute Philosophie auch immer das Resultat einer Übertreibung? 50 Vgl. Hermann Schmitz, Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg/München 2005: Alber, S. 266; Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 242–245 und 335. 51 Eine Atmosphäre lässt sich aber nur in minimalen Anteilen vorwegnehmend 48
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ser bewussten und fast hypnotischen Inszenierung befindet sich Schmitz sicherlich in guter Gesellschaft, da die Unerzeugbarkeit der Atmosphären und Stimmungen ein Standpunkt sowohl von Heidegger 52 als auch von Bollnow ist. Für Letzteren ist beispielsweise die Absicht, die eigenen Stimmungen zu kultivieren (die er eine »Stimmungsmache« »›Hygiene‹ der Stimmung« bezeichnet), nicht nur grundsätzlich unmöglich, da sie mit etwas zu tun hat, das ursprünglicher als der bewusste, zielsetzende Wille ist, sondern sie ist vor allem eindeutiger Ausdruck einer Verkitschung oder Instrumentalisierung des Lebens. Ähnlich gestaltet sich die Kritik, die Moritz Geiger an die sogenannte sentimentalistische Einstellung richtet, mit der der Wahrnehmende, ungeachtet des Gegenständlichen, einfach auf »ein Nachleben der Gegenstandsstimmung durch das Ich« 53 zielend, in die ästhetisch dilettantische »Innenkonzentration« fällt, die sich auf das Gefühl fokussiert anstatt auf das, was es ausstrahlt. 54 In Bezug auf diese Frage sind die Einwände von Schmitz ernst zu nehmen. Es ist demnach wahr, dass, wenn Atmosphären machbar wären, sie als Kern aller Werbung und der Unterhaltungs- und Wellnessindustrie die schädliche Illusion erzeugen würden, dass alles, auch das affektive Leben, ein Produkt sein kann. Es ist zudem wahr, dass Böhmes Theorie einer atmosphärischen Ekstase der Dinge die ontologisch falsche singularistische Annahme begünstigen könnte, nach der eine atmosphärische Situation aus einer Konstellation vorgegebener Einzelheiten besteht, statt aus einer chaotisch-mannigfaltigen Bedeutsamkeit. Letztendlich ist konkretisieren, das heißt, in diesem Fall ist sie nur eine Atmosphäre in abstraktprojektuellem Sinn. 52 Der das Bewusstmachen zugunsten der Weckung verurteilt: »Alles Bewußtmachen bedeutet hinsichtlich der Stimmung ein Zerstören, in jedem Falle ein Verändern, während es für uns bei der Weckung einer Stimmung darauf ankommt, diese Stimmung so sein zu lassen, wie sie als diese Stimmung sein soll« (Heidegger 1929/1930, S. 98). 53 Geiger 1911, S. 37. 54 Es ist der Unterschied, zum Beispiel, zwischen einer Landschaft, die nur existiert, um Gefühle hervorzurufen, und einer Landschaft, auf deren Werte und Ausstrahlungen man sich verlassen kann (siehe Moritz Geiger, Zugänge zur Ästhetik, Leipzig 1928: Der Neue Geist).
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es auch wahr, dass die Idee der Herstellbarkeit einer Atmosphäre an sich das naiv informationelle und dualistische Modell der Kommunikation (Sendung/Empfang) mitunter voraussetzt. Doch diese wirkungsvolle Kritik der sozial verantwortungslosen Instrumentalisierung der Affekte riskiert vielleicht, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Erstens verbietet die Ablehnung jeder Erzeugbarkeit der Atmosphären dem atmosphärologischen Ansatz, bei den vielen Feldern der Erfahrung mitzuwirken, die heute ein virulentes Interesse an Atmosphären zeigen. Hauptsächlich aber entspricht die Erzeugbarkeit nicht ganz der Manipulierbarkeit. 55 Schmitz sagt, dass Atmosphären nicht im eigentlichen Sinne gemacht sind, sondern sich in Situationen entfalten. Aber wie kann man atmosphärische Ekstase der Dinge völlig auszuschließen und dann zugeben, dass es möglich ist, die nichtmanipulative Seite von Atmosphären im umfriedeten Raum zu kultivieren? Wird das Wohnen im weiteren Sinne (Garten, Kirche, Teehaus, häusliche Wohnung) vielleicht nicht auch von der Ekstase einzelner Dingen wie Möblierung, Teppich etc. ermöglicht? Die Aussage, dass die erzeugten Atmosphären schlechte Atmosphären sind oder – und es ist selbstverständlich nicht das gleiche – nur Schein-Atmosphären, klingt eventuell wie eine existenzialistische Überschätzung der Opposition zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit oder wie eine ästhetische zwischen Elitengeschmack und Massengeschmack. 56 Hierbei wird doch ein Para55
Erstmal weil jede intendierte hergestellte Atmosphäre in jedem Fall mit einem zufälligen Geschehen rechnen muss und sowohl auf der Ebene des Subjektes konditioniert ist (Bildung, Verfasstheit, Aufmerksamkeit, Einstellung oder Haltung, Eigenstimmung und persönliche Erfahrung des Wahrnehmenden, Geschlechterunterschied und sogar Tageszeit, zu der sie wahrgenommen wird) als auch auf der Ebene des Objekts (zum Beispiel schlichte dilettantische Inszenierung, Planungsfehler, die von der unterschwelligen Überredung bis zum echten Verschlimmbessern reichen). 56 Die Atmosphäre des totalen Environments ist vielleicht auch ein Zufall zwischen zwei Extremen, zwischen dem schlechten Fall (Oberflächlichkeit und schlechter Geschmack) und dem guten Fall, basierend auf einer »Allianz aus technischen und sinnlichen Bezügen, eine[r] Steigerung des Lebens im sensiblen Miteinander der Korrespondenz«, es bleibt aber trotzdem unklar, ob man wirklich »eine neue Art des korrespondierenden Deutens unserer Wirklichkeit« einüben
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meter der adaequatio außerhalb der Erfahrung vorausgesetzt, der die erste-Person-Perspektive auf eine inaffektive dritte-PersonPerspektive reduziert, auf jeden Fall auf eine Axiologie und ein Paradigma von Wahrheit und Unwahrheit, die mit dem überwiegend beschreibenden Ansatz der Neuen Phänomenologie 57 nicht vereinbar sind, da eigentlich das Haben eines Gefühls (auch atmosphärisch) keinem Irrtums- oder Täuschungsvorbehalt 58 unterliegt. Die These des manipulativen Charakters jeder absichtlichen Erzeugung von Atmosphären impliziert hingegen einen traditionellen Dualismus zwischen der moralischen Verantwortung des Manipulierers und dem schuldhaften Verlust von Selbstbestimmung des Manipulierten 59 und scheint zudem dem Holismus der neuphänomenologischen Situativität zu widersprechen, angesichts dessen »Urheber und Adressat von Macht nicht leicht zu erkennen sind«. 60 Letztendlich ist auch der Manipulierte immer mitverantwortlich für das »gemeinsame leibliche Involviertsein«, 61 und die absolute Autorität kann auch nicht als unfehlbares Kriterium dienen, um festzustellen, was wirklich Manipulation ist, denn auch bei totalitaristischer Propaganda fehlt diese Autorität nicht. Schließlich kann die kognitive Mühe nur schwer die affektive Manipulierung vermeiden und dabei die Besollte (Reinhard Knodt, Ästhetische Korrespondenzen. Denken im technischen Raum, Stuttgart 1994, S. 68–69). 57 Siehe, zum Beispiel, die korrekte neuphänomenologische Kritik an der moralistischen Dämonisierung von Burckhardt, nach der »die Macht an sich böse ist«. 58 Das Bestimmt-Fühlen entspricht nicht dem Fühlen eines Bestimmten. Ein Kopfschmerz ist nämlich nicht verdächtig, außer man verwechselt den Zweifel am Objekt des Gefühls mit einem Zweifel am eigenen Fühlen. Vgl. Achim Hahn, »Erlebnis Landschaft und das Erzeugen von Atmosphären«, in: Ders. (Hrsg.), Erlebnislandschaft – Erlebnis Landschaft? Atmosphären im architektonischen Entwurf, Bielefeld 2012, S. 88. 59 Vgl. Christiane Heibach, »Manipulative Atmosphären. Zwischen unmittelbarem Erleben und medialer Konstruktion«, in: Dies. (Hrsg.), Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, München 2012, S. 263. 60 Hans Jörg Hennecke, »Macht, Legitimität und Ordnung«, in: Hans Jürgen Wendel/Steffen Kluck (Hrsg.), Zur Legitimierbarkeit von Macht, Freiburg/München 2008, S. 57. 61 Hilge Landweer, Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999, S. 145.
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troffenheit beibehalten, 62 weil niemand wirklich leiblich betroffen ist von einer Atmosphäre, von der er klardenkend »weiß«, dass sie das Produkt einer Manipulation ist. Wenn man nie den manipulativen Aspekt in einer atmosphärischen Planung ausschließen kann, woraus wird dann eine atmosphärische Intelligenz oder Kompetenz bestehen? Man kann sich diese Kompetenz vorstellen als ein »Gespür für Atmosphärisches«, 63 wodurch zumindest die gröbste Manipulation vermieden werden kann, 64 und so nutzt man hingegen aufs Beste die Atmosphäre jener implantierenden und machtlegitimen Situationen, deren Wiederherstellung sich Schmitz unermüdlich wünscht. Es geht aber letztendlich darum, sich keine Illusionen zu machen: a) in Bezug auf die volle Transparenz der Gefühlsatmosphären, die so weit wie nur möglich bewusst gemacht werden; und auch nicht b) bezüglich der Existenz eines archimedischen Punktes, der weniger fehlerhaft und flüchtig ist als der kritische Sinn der personalen Emanzipation; 65 c) bezüglich der Möglichkeit, das innenästhetische Kriterium des »Aussetzen[s] der Zweifel« 66 zu verallgemeinern; und schließlich nicht d) bezüglich der Verfügbarkeit eines Parameters, der die Intensität des Fühlens misst, da es absolut fragwürdig ist, ob sein Gipfel oder die Art des hervorgerufenen Ausdrucks, seine Dauer oder seine praktischen Folgen zählen. 67
62
Vgl. Heibach 2012, S. 263 ff. Hubertus Tellenbach, Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes, Salzburg 1968, S. 49. 64 Vgl. Michael Großheim/Steffen Kluck/Henning Nörenberg, Kollektive Lebensgefühle. Zur Phänomenologie von Gemeinschaften, Rostocker Phænomenologische Manuskripte, 20, 2014, S. 68–69. 65 Vgl. Schmitz, 2003, S. 328; 2005, S. 283; Die Legitimierbarkeit der Macht, S. 14. 66 Haben wir wirklich immer, oder nur im ästhetischen Bereich, die Möglichkeit, »den Blick auf das fingierte Als-ob der Anwesenheit selbst zu lenken und so die affektive Beeinflussung abzuwehren« (Michael Hauskeller, Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung, Berlin 1995, S. 197)? 67 Für eine detaillierte Problematisierung der »emotional intensity« vgl. Aaron Ben-Ze’ev, The Subtlety of Emotions, Cambridge (Mass.) 2001, S. 117–159. 63
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Es bleibt nichts anderes, als sich mit einer »provisorischen Atmosphärenmoral« zufriedenzugeben: 1) Sie unterscheidet nur nach der Versuch-und-Irrtum-Methode zwischen toxischen (nicht falschen) und gutartigen Atmosphären (oder Klimata) und bewegt sich dabei ständig auf ganz dünnem Eis in der Verstrickung zwischen Ethik und Ästhetik. Unter den toxischen werden diejenigen aufgezählt, die für Leiden, nervöse Unruhe oder unlustvolle Spannung etc. verantwortlich sind, aber auch diejenigen, deren sedierende und dissuasive Wirkungen die Grundwidersprüche neutralisieren und etwaige kritische Einstellungen durch ein konformistisch harmonisches Gefühl unterwandern. 68 2) Sie soll zudem nur unterschiedliche atmosphärische Erlebnisse untereinander interagieren lassen. Da in der gegenwärtigen Kultur kein bevorzugter Ort der Sensibilisierung existiert, kann sie nichts anderes als eine atmosphärische Gewaltenteilung fördern, ähnlich wie die demokratische, damit durch das Durchlaufen von verschiedenen Erfahrungen 69 die Chance besteht, zu verstehen, »dass vieles kontingent, gestaltbar und veränderbar ist«. 70 3) Schließlich müsste sie die Atmosphären begünstigen, in denen, wie im Falle vom trompe-l’œil, der anfänglichen pathischen Immersion eine weniger pathische Emersion folgt, die auf jeden Fall nicht als distanzierte Rationalität zu verstehen ist, die sich in einem ortlosen Niemandsland bewegt, sondern einfach als vorübergehende Verankerung in einer (unterschiedlichen) Atmosphäre. Hier kann die ästhetische Erfahrung wirklich wieder nützlich sein, da sie das Beispiel von kräftigen und einflussreichen Atmosphären bietet, die aber nicht unterdrücken, und deren Wirkung, gekennzeichnet also durch Verunsicherungen, Irritationen 68
Vgl. Schouten, 20112, S. 103. Vgl. Hilge Landweer, »Normativität, Moral und Gefühle«, in: Dies. (Hrsg.), Gefühle – Struktur und Funktion, Berlin 2007, S. 252. 70 Klaudia Schultheis, »Macht und Erziehung. Überlegungen zur pathisch-leiblichen Dimension pädagogischen Handelns«, in: Hans Jürgen Wendel/Steffen Kluck (Hrsg.), Zur Legitimierbarkeit von Macht, Freiburg/München 2008, S. 112. 69
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und Diskontinuitäten, tatsächlich den Wahrnehmenden dazu auffordert, »eigene Haltungen zum Wahrgenommenen einzunehmen und die […] Erfahrungen zu reflektieren«. 71 Wir wiederholen: unsere Atmosphärologie weiß sehr wohl, dass nur die affektiv-leibliche Betroffenheit deutlich macht, was uns wirklich wichtig ist. Aber, wenn man bedenkt, dass auch die Macht einer Atmosphäre ständig zwischen der personalen Regression und der personalen Emanzipation schwankt, traut sich meine Atmosphärologie nicht, die Möglichkeit einer prüfenden Distanzierung ganz zu verwerfen, die uns, während sie uns gegen die gefährlichsten Manipulierungen immunisiert, auch zu einer Sensibilisierung erzieht, die notwendig ist sowohl für das Machen als auch für das Erleben von Atmosphären. 72 Diese sind die Grenzen einer Ästhetik oder Ästhesiologie, die pathisch bleiben möchte, also nicht gelähmt vom Dogma der ontologischen Sparsamkeit, vom Schreckgespenst einer obskurantistischen oder esoterischen Philosophie 73 und von der lächerlichen Versuchung, dass jede Atmosphärisierung von einer Gebrauchsanleitung begleitet werden sollte. Viel mehr kann meine Atmosphärologie wirklich nicht tun. Klar, auf diese Art hat sie vielleicht mehr Probleme als Lösungen gebracht. Nun hat Schmitz sicherlich recht, wenn er die »Meinung, dass man über Schwebendes nur schwebend sprechen kann«, 74 ablehnt. Ich glaube aber, dass Philosophie immer auch bedeutet, sich jene Fragen zu stellen, mit denen prinzipiell nicht fertig zu werden ist. 75
71
Schouten, 20112, S. 106. »Erst explizites Wissen um die Erlebniswirkung ästhetischer Praktiken vermag den Gesten atmosphärischer Macht die Spitze zu nehmen« (Jürgen Hasse, Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes, Freiburg/München 2014, S. 260). 73 Für diese Kritiken vgl. Demmerling, 2011, 53 und Thomas Bulka, Stimmung, Emotion, Atmosphäre. Phänomenologische Untersuchungen zur Struktur der menschlichen Affektivität, Münster 2015, S. 80. 74 Schmitz, 2014, S. 11. 75 Vgl. Odo Marquard, Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen, Paderborn et al. 1989, S. 62. 72
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Robert Gugutzer
Kollektive Atmosphären des Sports
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Einleitung
Die weltweite Beliebtheit des Sports hat ganz wesentlich mit den Atmosphären und Stimmungen zu tun, in denen er erlebt wird. Das gilt besonders für die Atmosphären in Stadien, Hallen oder Arenen, beispielsweise die brodelnde, brennende, hitzige oder fesselnde Atmosphäre, von der die Anwesenden mitgerissen werden. Aber auch die abschreckend wirkende aggressive Atmosphäre oder die gespenstische, weil totenstille, Atmosphäre können besondere Erlebnisse sein, da sie irritieren und man sich deshalb lange an sie erinnert. Atmosphären sind jedoch nicht allein für das Sportpublikum bedeutsam, sondern ebenso für die Sportausübenden selbst. So macht es durchaus einen Unterschied, ob in einer Mannschaft eine lockere, entspannte und vertrauensvolle Stimmung oder eine angespannte, unruhige und vergiftete Stimmung herrscht. Sozial relevant sind solche Stimmungen zum Beispiel deshalb, weil sie den Gruppenzusammenhalt und damit den sportlichen Erfolg fördern oder hemmen können. Ähnliches trifft auf die Hexenkessel-Atmosphäre im Stadion oder der Halle zu, sofern es ihr gelingt, dass sich die Heimmannschaft davon anspornen und mitreißen und die Gastmannschaft einschüchtern und zu Fehlern verleiten lässt. Atmosphären sind aber ebenso im Individualsport wichtige Faktoren, beispielsweise die Atmosphären der Natur. Eine Joggerin, die frühmorgens bei aufgehender Sonne und frischer, klarer Luft ihre übliche Runde im friedlich-stillen Wald läuft, tut dies vermutlich deshalb, weil sie genau diese Stimmung schätzt. Für Kletterer*innen, Snowboarder*innen, Wellenreiter*innen und andere Natursportler*innen gilt das erst recht: 97 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Robert Gugutzer
Ihr Sport ist für sie aufgrund der natürlichen Umgebung attraktiv, in die ihre sportliche Aktivität atmosphärisch eingebettet ist. Die Liste dieser Beispiele ließe sich mühelos fortsetzen. Sie dürfte gleichwohl hinreichen, um zu erkennen, wie bedeutungsvoll Atmosphären und Stimmungen für das Handeln und Erleben der Akteure des Sports sind. Vor diesem Hintergrund darf es durchaus überraschen, dass bis dato eine angemessene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Atmosphären im Sport« fehlt. Mag man es der seit einigen Jahren stark prosperierenden philosophischen und sozialwissenschaftlichen Atmosphärenforschung nachsehen, dass sie den Sport quasi vollständig ignoriert, so fällt es doch schwer, das weitverbreitete Desinteresse der Sportwissenschaft und insbesondere der Sportsoziologie gegenüber dem Thema Atmosphären nachzuvollziehen. Der Begriff und der Gegenstand Atmosphäre sind der Sportwissenschaft überwiegend fremd. Zwar kennt die Sportwissenschaft selbstverständlich Phänomene wie die eingangs genannten, doch werden diese nicht als Atmosphären, sondern als Emotionen diskutiert. Im Falle kollektiver Emotionen kommt hinzu, dass sie mit einer räumlichen Umgebung verbunden werden, im Falle individueller Emotionen, dass sie als innerpsychische Phänomene behandelt werden. In Abgrenzung dazu will der vorliegende Beitrag dreierlei zeigen: Erstens, die Gleichsetzung von (den hier primär interessierenden) kollektiven Atmosphären mit kollektiven Emotionen ist sachlich unangemessen, zweitens, kollektive Atmosphären des Sports sind nicht per se an räumliche Umgebungen gebunden wie sie drittens auch keine innerpsychischen Zustände oder Prozesse sind. Kollektive Atmosphären (nicht nur) des Sports sind soziale Phänomene, weil sie mit Macht ausgestattet sind und deshalb die von ihnen Ergriffenen in deren Handeln und Empfinden lenken können. Theoretische Grundlage der folgenden Ausführungen ist die Atmosphärentheorie von Hermann Schmitz. Mit ihr wird zum einen die begriffliche Frage geklärt, was Atmosphären sind (2), zum anderen der Nachweis erbracht, dass kollektive Atmosphären immer in gemeinsame Situationen eingebettet sind (3). Da Schmitz selbst diese Einbettung eher postuliert denn wirklich aus98 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Kollektive Atmosphären des Sports
gearbeitet hat, erfolgt hier eine Präzisierung seiner Atmosphärentheorie im Sinne der Neophänomenologischen Soziologie (NPS). 1 Die soziologische Präzisierung besteht darin, Atmosphären gemäß des »methodologischen Situationismus« 2 der NPS ausgehend von der gemeinsamen Situation und deren Programmen zu analysieren. Im Mittelpunkt des Beitrags wird daher eine Situationstypologie stehen, auf deren Grundlage eine Systematik kollektiver Atmosphären des Sports vorgestellt wird (4). Der Text schließt mit einem kurzen Fazit (5). 2
Individuelle und kollektive Atmosphären
Schmitz zufolge ist eine Atmosphäre eine »ausgedehnte (nicht immer totale) Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich erlebter Anwesenheit, d. h. dessen, was als anwesend erlebt wird.« 3 Flächenlose Räume sind Phänomene, die ein Volumen haben, jedoch nicht – wie die vorherrschende, geometrische Raumvorstellung suggeriert – dreidimensional sind. Phänomene wie das gespürte Wetter, der Schall, die Stille oder der Pfiff besitzen ein räumliches Volumen, aber keine Flächen. Dasselbe gilt für den Leib und die Gefühle, den beiden bedeutendsten flächenlosen Räumen im menschlichen Leben. Hunger oder Kopfweh sind räumlich ausgedehnte und zugleich flächenlose leibliche Regungen, so wie Liebe oder Einsamkeit räumlich ausgedehnte und zugleich flächenlose Gefühle sind. Die Räumlichkeit der Gefühle
1
Vgl. Robert Gugutzer: »Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie«, in: Zeitschrift für Soziologie 46/ 3, 2017, S. 147–166; siehe auch Ders.: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld 2012, S. 21–92; daran anknüpfend Christian Julmi: »A Theory of Affective Communication: On the Phenomenological Foundations of Perspective Taking«, in: Human Studies 41/4, 2018, S. 623–641. 2 Gugutzer (2017), S. 161–162. 3 Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg/München 2014, S. 50.
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Robert Gugutzer
zeigt sich darin, dass man in sie hineingeraten und von ihnen ergriffen, ja, geradezu überwältigt werden kann. Wer fröhlich gestimmt ist und in Kontakt mit einer Person gerät, die tieftraurig ist, dessen Fröhlichkeit wird in aller Regel von der Traurigkeit des Anderen abgeschwächt, weil bzw. wenn das Gefühl der Trauer eine größere leiblich-affektive Autorität besitzt als die Fröhlichkeit. Einsamkeit, Liebe, Angst, Trauer oder Fröhlichkeit sind »private Atmosphären«, 4 die als räumlich anwesend erlebt werden, weil sie sich im »Gefühlsraum« 5 der von ihnen ergriffenen Person ausbreiten (ihn »besetzen«) und bemerkbar machen – die Wettkampfangst lähmt, der unberechtigte Elfmeter lässt die Wut hochkochen. Neben solchen privaten existieren gleichermaßen »überpersönliche Atmosphären«, 6 die ebenfalls Gefühle sind und als etwas räumlich Anwesendes erlebt werden. An sie denkt man wohl zuerst (oder ausschließlich), wenn von Atmosphären die Rede ist, wenngleich es seltsam anmuten mag, die Hexenkesselatmosphäre im Stadion oder die konzentrierte Atmosphäre in der Kabine kurz vor Spielbeginn als Gefühl zu bezeichnen. Die Irritation resultiert vermutlich daraus, dass Gefühle üblicherweise im Innenleben des Menschen verortet werden, traditionell in der Seele und seit geraumer Zeit vorzugsweise im Gehirn. Schmitz bricht mit diesem »Introjektionismus«, »Psychologismus« und »Reduktionismus« der christlich-abendländischen Kultur, die das gesamte Erleben des Menschen in eine Innenwelt einschließt und diese von einer entsinnlichten Außenwelt abtrennt. 7 Gefühle als räumlich ausgebreitete Atmosphären widersetzen sich der »Weltspaltung« in Innen und Außen bzw. der »Menschenspaltung« in Seele
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Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld/Locarno 2007, S. 23. 5 Vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band 3, Teil 2: Der Gefühlsraum, Bonn 1969, S. 185–360. 6 Schmitz (1969), S. 98–106. 7 Vgl. Hermann Schmitz: »Über das Machen von Atmosphären«, in: Ders., Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 243–261, hier: S. 245.
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Kollektive Atmosphären des Sports
und Körper, 8 wie sich besonders an den überpersönlichen Gefühlen zeigt. So ›sitzt‹ die brodelnde Hallenatmosphäre weder in der Halle noch im Innern des Menschen, wie auch die überwältigende Naturatmosphäre auf einem Berggipfel weder auf dem Gipfel oder in der Aussicht noch in der Seele, dem Gehirn oder Herzen der davon ergriffenen Bergsteigerin ›wohnt‹. Solche überpersönlichen, ganzheitlich-atmosphärischen Gefühle haben »weder im Subjekt noch in Objekten ihren Platz, sondern ziehen vielmehr als eigenständige, mächtige Atmosphären Subjekt und Objekt in sich hinein, indem sie allen diesen ihren Stempel aufdrücken und dabei, so unbestreitbar sie sich als gegenwärtig und wirklich präsentieren, doch selbst ungreifbar und unumschreibbar bleiben.« 9 Sinngleich spricht Gernot Böhme davon, dass Atmosphären sowohl einen »Subjektpol« als auch einen »Objektpol« aufweisen und deshalb als »Zwischenphänomene« bzw. als die »Relation« von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt zu verstehen sind. 10 Diese Konzeption von Atmosphären als Gefühlen, die weder im Subjekt noch in den das Subjekt umgebenden Objekten ›wohnen‹, verweist auf den ontologischen Status, den Schmitz Atmosphären zuweist. Atmosphären sind »Halbdinge«, die »kommen und gehen, ohne eines stetigen Zusammenhangs in der Zwischenzeit zu bedürfen«. 11 Soziologischer formuliert sind Atmosphären performative Ereignisse, die mit ihrem Erscheinen (da) ›sind‹ – und sonst eben nicht (da) ›sind‹. Die ausgelassene Atmosphäre während der Fahrt im Mannschaftsbus ist da, wenn sie da ist; und wo sie ist, wenn sie nicht da ist, ist irrelevant bzw. eine sinnlose Frage. Vor allem aber ist sie keine Projektion der inneren Befindlichkeiten der Mitfahrenden nach außen in den Bus hinein. Mit Hilge Landweer gesprochen, gehören Atmosphären als Gefühle 8 Vgl. Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben, Freiburg/München 2016, S. 16, 221–236. 9 Schmitz (1969), S. 103. 10 Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 54–55. 11 Schmitz (2016), S. 227; siehe auch S. 185–188.
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Robert Gugutzer
viel mehr »zu der Objektivität einer Situation, als dass sie an oder in Personen haften oder durch deren Wahrnehmung konstituiert wären.« 12 Das gilt für private wie überpersönliche Atmosphären gleichermaßen. 3
Die Einbettung kollektiver Atmosphären in gemeinsame Situationen (nicht nur) des Sports 13
Private bzw. individuelle und überpersönliche bzw. kollektive Atmosphären sind immer in Situationen eingebettet. 14 So heißt es bei Schmitz bezüglich der kollektiven Atmosphären: »Kollektive oder gemeinsame Atmosphären sind stets an gemeinsame Situationen gebunden […].« 15 Zum genaueren Verständnis dieser Aussage ist es notwendig, kurz den neophänomenologischen Situationsbegriff 16 zu erläutern, da dieser sich stark vom gängigen soziologischen und erst recht vom alltagssprachlichen Situationsverständnis unterscheidet. 12
Hilge Landweer: »Die Stimme des Gewissens. Sind personengebundene Gefühle Atmosphären?«, in: Michael Großheim (Hrsg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz, Freiburg/München 2007, S. 379–395, hier S. 382. 13 Die folgenden Ausführungen in den Abschnitten 3 und 4 sind zu großen Teilen übernommen aus: Robert Gugutzer: »Atmosphären, Situationen und der Sport. Ein neophänomenologischer Beitrag zur soziologischen Atmosphärenforschung«, in: Zeitschrift für Soziologie 49/5, 2020. 14 Zum Zusammenhang von Situation und Atmosphäre siehe Hermann Schmitz: »Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen«, in: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hrsg.): Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt 1993, S. 33–56; Ders. (2014), S. 56–64. Siehe dazu auch Christian Julmi: »Soziale Situationen und Atmosphäre. Vom Nehmen und Geben der Perspektiven«, in: Larissa Pfaller/Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden 2018, S. 103–123; Ders.: Atmosphären in Organisationen. Wie Gefühle das Zusammenleben in Organisationen beherrschen, Bochum/Freiburg 2015, S. 115–119 und 168–175. 15 Schmitz (2014), S. 50. 16 Siehe dazu Hermann Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 21–31; Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 65–79; Ders.: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg/München 2005, S. 17–61.
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Kollektive Atmosphären des Sports
Unter einer Situation versteht Schmitz »ein nach außen abgehobenes und in sich zusammenhängendes Ganzes, das zusammengehalten wird durch eine im Innern diffuse (nicht in lauter Einzelnes gegliederte) Bedeutsamkeit, die aus Sachverhalten, Programmen und Problemen besteht […].« 17 Ein Tennisspiel ist in diesem Sinne eine ganzheitliche, von anderen Spiel- und sonstigen Sportarten klar abgegrenzte Situation, da es charakteristische Sachverhalte aufweist wie zwei (oder vier) Menschen, die mit einem Schläger einen kleinen Filzball über ein Netz schlagen, ebenso Programme wie die spezifischen Spielregeln, informelle Verhaltensnormen und Konventionen (etwa die weiße Spielkleidung) oder den Wunsch der Spieler*innen, dass das Match ausgeglichen verlaufen möge; eventuell weist es auch Probleme auf wie den starken Wind, der das Spielen im Freien erschwert. Was für das je konkrete Tennisspiel alles bedeutsam ist, wodurch es sich also abhebt von anderen Tennisspielen, kann genau genommen erst im Nachhinein (und auch dann nur näherungsweise) gesagt werden, wenn aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit einzelne Elemente (Sachverhalte, Programme, Probleme) expliziert und sprachlich benannt werden. Anknüpfend an Schmitz’ Situationstypologie lässt sich ein einzelnes Tennisspiel genauer noch als eine »aktuelle« und »impressive« Situation im Unterschied zur historisch gewachsenen Sportart Tennis als einer »zuständlichen« und »segmentierten« Situation beschreiben; ein einzelnes Tennisspiel teilt mit dem Tennissport, dass es sich jeweils um eine »gemeinsame« Situation handelt. 18 Eine aktuelle Situation ist ein Tennisspiel insofern, als sein Verlauf von Augenblick zu Augenblick verfolgt werden kann, während der Wandel des Tennissports als zuständliche Situation nur über größere Zeitabschnitte sinnvoll beobachtbar ist. Ein Tennisspiel kennt zudem eine Vielzahl impressiver Situationen, das heißt,
17
Schmitz (2003), S. 247. Vgl. zu dieser Differenzierung des Situationsbegriffs Schmitz (1999), S. 22– 26, und im Zusammenhang mit Atmosphären siehe Ders. (2003), S. 248–252 sowie Ders. (2014), S. 53–62.
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Robert Gugutzer
»vielsagende Eindrücke«, 19 in denen ihre Bedeutsamkeit augenblickshaft zum Vorschein kommt – beispielsweise im gelungenen Return oder missglückten Volley, dem Break- oder Machtball. Der Tennissport ›als solcher‹, das heißt mit seiner Geschichte, seinen Institutionen, Regeländerungen etc., kommt hingegen nie in einem Augenblick, sondern immer nur ausschnitthaft zum Vorschein (und ist daher segmentiert), etwa in der jährlichen Neuauflage der traditionsreichen »Lawn Tennis Championships« in Wimbledon. 20 Die gemeinsamen Situationen des Sports bilden, wie gesagt, den sozialen Rahmen für die kollektiven Atmosphären des Sports. Nach Schmitz erfolgt die Vermittlung zwischen gemeinsamen Situationen und kollektiven Atmosphären dabei im Medium leiblicher Kommunikation. Insbesondere seien es die »Brücken leiblicher Kommunikation«, also »Bewegungssuggestionen« und »synästhetische Charaktere«, die zwischen Situation und Atmosphäre vermitteln. 21 Dass tausende Menschen in einem Fußballstadion von einer begeisternden Atmosphäre mitgerissen werden, ist in diesem Sinne das Ergebnis der leiblich affizierenden Kommunikation zwischen der aktuell-impressiven Situation im Stadion, von der die Atmosphäre ausgeht, und den leiblich resonanzfähigen Menschen, die daran teilhaben. Die begeisternde Stadionatmosphäre ist somit weder in den Stadionobjekten (Anzahl und Steilheit der Stadionränge, Verhältnis Sitz- zu Stehplätzen, Flutlicht an oder aus etc.) noch in den wahrnehmenden Stadionsubjekten
19
Schmitz (2003), S. 148. Auf der Grundlage dieser begrifflichen Differenzierungen lässt sich zusammenfassend eine Sportart wie Tennis als »Sozietät« und ein einzelnes Tennisspiel als »Soziierung« beschreiben. Vgl. Robert Gugutzer: »Moden des Sports – Manifestationen des Zeitgeists«, in: Hubertus Busche/Yvonne Förster (Hrsg.): Mode als ein Prinzip der Moderne? Ein interdisziplinärer Erkundungsgang, Tübingen 2019, S. 91–113, hier: S. 92–94. Die begriffliche Unterscheidung von »Soziierung« und »Sozietät« übernehme ich von Michael Uzarewicz: Der Leib und die Grenzen der Gesellschaft. Eine neophänomenologische Soziologie des Transhumanen, Stuttgart 2011, S. 259–260. 21 Vgl. Schmitz (2003), S. 252–256. Allgemein zu den »Brücken leiblicher Kommunikation im Raum« siehe Schmitz (2005), S. 168–184. 20
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Kollektive Atmosphären des Sports
(den Zuschauer*innen) angelegt, sondern wird auf leiblich-kommunikative Weise zwischen ihnen vermittelt. Mit Schmitz, zugleich aber über Schmitz hinausgehend, 22 lässt sich des Weiteren sagen, dass eine kollektive Atmosphäre nicht allein von der leiblichen Kommunikation abhängt, sondern ganz entscheidend von den einzelnen Bedeutungen der gemeinsamen Situation, in die sie eingebunden ist. Es sind die Sachverhalte, Programme und etwaigen Probleme der gemeinsamen Situation, also ihr sinnhafter Zusammenhang (Bedeutsamkeit), der für die Entstehung, Ausprägung, Wahrnehmung, Dauer und den Wandel der kollektiven Atmosphäre verantwortlich ist. Schmitz selbst betont zwar entschieden, dass kollektive Atmosphären immer in gemeinsamen Situationen eingebettet sind, setzt sich allerdings nicht dezidiert mit der Frage auseinander, auf welche Weise dies geschieht, das heißt, in welchem Verhältnis eine konkrete Atmosphäre zu den Sachverhalten, Programmen und Problemen der Situation(en) steht, deren Teil sie ist. Inwiefern die Bedeutsamkeit einer gemeinsamen Situation die Ausprägung einer Atmosphäre beeinflusst, sei exemplarisch anhand des folgenden Zitats verdeutlicht. Es stammt aus einem Interview mit dem ehemaligen Fußballprofi Dietmar Hamann, das dieser der Süddeutschen Zeitung (SZ) wenige Tage vor dem Achtelfinalrückspiel zwischen dem FC Bayern München und dem FC Liverpool in der Champions League-Saison 2018/2019 gegeben hatte: »Die Atmosphäre in England hat sich geändert. Da hat sich ein Fußballtourismus entwickelt, weil sich viele heimische Fans den Stadion22
Schmitz hat den Zusammenhang von Situation und Atmosphäre verhältnismäßig oberflächlich diskutiert. Das zeigt sich zum Beispiel auch in seiner Auffassung, dass es Atmosphären gibt, die ohne Situationen vorkommen, nämlich private Atmosphären (Schmitz 2014, S. 55). Ich teile diese Auffassung nicht. Da private (wie auch kollektive) Atmosphären immer auch einen subjektiven Anteil haben, weil sie von einem Menschen wahrgenommen werden, und jeder Mensch in seine persönliche Situation eingebettet ist, die wiederum viele partielle Situationen umfasst (Standpunkte, Gesinnung, Gewissen, Wunschbilder, Erinnerung etc.; Schmitz [1990], S. 75–79), kommen auch private Atmosphären nicht ohne Situationen vor.
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Robert Gugutzer
besuch nicht mehr leisten können. Heute kommen Leute aus der ganzen Welt, die astronomische Ticketpreise bezahlen. Vor 20 Jahren wurde aus 45000 vollen Kehlen gesungen. Jetzt sind zum Teil Leute im Stadion, die den Liedtext gar nicht kennen und lieber bei der Hymne [gemeint ist die Liverpool-Hymne »You’ll never walk alone«; RG] ein Handyvideo drehen. Ja, stimmt, die Stimmung beim 0 : 0 in Liverpool war ganz, ganz komisch. // SZ: Warum? // Sicher auch wegen der Erwartungshaltung der Fans: Liverpool war 2018 im Champions-League-Finale, die Bayern hatten diese Saison Probleme – also dachten viele: Denen schenken wir zwei, drei Tore ein! […] Aber wenn’s nicht so läuft, wie erhofft, wird es in englischen Stadien sehr schnell ruhiger. Das Publikum ist fachkundig, die haben gesehen: Oha, die Bayern sind ja doch ein ebenbürtiger Gegner – davor hatten sie Respekt.« 23
Hamann beschreibt in dem Zitat den Wandel einer zuständlichen Situationsatmosphäre (im Stadion an der Anfield Road herrscht traditionell eine tolle Atmosphäre), wie er sich in einer aktuellen Situation zeigte: Im Achtelfinalhinspiel zwischen Liverpool und Bayern München herrschte eine »komische«, weil ungewöhnlich ruhige Stimmung. Als dafür relevante Faktoren nennt Hamann objektive (tatsächliche, also nicht eingebildete) Sachverhalte wie die »astronomischen Ticketpreise«, die sich die »heimischen Fans« nicht mehr leisten können, den damit zusammenhängenden »Fußballtourismus«, der zur Folge hat, dass im Stadion immer mehr fachunkundige Zuschauer sitzen, die auch nicht die vereinseigene »Hymne« mitsingen können, sowie subjektive Sachverhalte wie die »Erwartungshaltung der Fans« aus Liverpool, dass ihre Mannschaft dem Gegner »zwei, drei Tore ein(schenken)« werde. Diese Erwartung wurde enttäuscht, weil das Problem auftrat, dass die Bayern »ein ebenbürtiger Gegner« waren und das Spiel nicht programmgemäß, nämlich »wie erhofft«, verlief. Obwohl die Fans bis Spielbeginn ihre ritualisierte »ästhetische Arbeit« 24 verrichtet
23
Dietmar Hamann im Interview mit Klaus Hoeltzenbein und Moritz Kielbassa: »Die Bayern müssen froh sein, dass sie Kovac haben!«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 58, 9./10. März 2019, S. 23. 24 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995, S. 35.
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Kollektive Atmosphären des Sports
bzw. ihre ritualisierten »Eindruckstechniken« 25 (Choreografien, Gesänge etc.) angewandt hatten, stellte sich die erwünschte kollektive Atmosphäre nicht ein. Verallgemeinert heißt das: Die Herstellung einer kollektiven Atmosphäre kann zwar vorbereitet werden, aber ob sie sich wirklich zeigt, ist offen – es hängt von den Sachverhalten, Programmen und etwaigen Problemen der gemeinsamen Situation ab. Aus Sicht der NPS und ihrem methodologischen Situationismus gilt es dem entsprechend, ausgehend von den gemeinsamen Situationen kollektive Atmosphären zu analysieren. 4
Kollektive Atmosphären des Sports: Eine Situationstypologie
Einer neophänomenologisch-soziologischen Analyse kollektiver Atmosphären des Sports geht es mit anderen Worten und frei nach Erving Goffman nicht um Atmosphären und ihre Situationen, sondern um Situationen und ihre Atmosphären. 26 Was damit gemeint ist, sei anhand einer Typologie gemeinsamer Situationen verdeutlicht, die auf den im vorangegangenen Abschnitt eingeführten Situationsbegriffen aktuell/zuständlich und impressiv/ segmentiert basiert. Die Situationstypologie wird dabei um eine – über Schmitz’ Typologie hinausgehende – räumliche Dimension mit den beiden Ausprägungen »ortsgebunden« und »ortsunabhängig« erweitert. Das hat folgenden Vorteil: So wie die viergliedrige Situationstypologie zu erkennen hilft, dass die Atmosphären des Sports nicht ausschließlich aktuell-impressiver Natur sind, verdeutlicht die räumliche Differenzierung, dass die Atmosphären des Sports keineswegs immer an eine räumliche Umgebung gebunden sind. Ausgehend von der solchermaßen räumlich spezifizierten 25
Schmitz (2003), S. 256. Goffman hat seine methodologische Grundhaltung in der berühmten Aussage zusammengefasst, dass es seiner Soziologie »nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen« gehe; vgl. Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt 1986, S. 9.
26
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Robert Gugutzer
Situationstypologie ist es damit möglich, eine Systematik kollektiver Atmosphären des Sports zu entwickeln (zusammenfassend siehe Tab. 1). Umgekehrt lässt diese Systematik erkennen, auf welche Weise kollektive Atmosphären von situationsspezifischen Sachverhalten, Programmen und Problemen typischer Situationen abhängig sind. Tabelle 1: Situierte kollektive Atmosphären des Sports Situationsdimension
impressiv
segmentiert
aktuell
Stadionatmosphäre »Tor liegt in der Luft«
Momentum »Lauf«
zuständlich
Heimvorteil »Wohnzimmer«
Klima der Angst »Reizklima«
Situationsdimension
ortsgebunden
ortsunabhängig
(1) Aktuell-impressive, ortsgebundene Situationsatmosphären. Die Atmosphären dieses Typs stehen im Mittelpunkt sowohl der sportwissenschaftlichen Atmosphärenforschung als auch in der medialen Sportberichterstattung sowie des Interesses der Sportkonsumenten. Es sind dies Atmosphären, die an einen konkreten Ort – Stadion, Halle, Laufbahn, Fußballplatz, Skipiste, Kletterwand, Kabine etc. – gebunden sind und als eindrucksvolle, überpersönliche Ereignisse von Augenblick zu Augenblick erlebt werden. Eindrucksvoll sind die Atmosphären in der voll besetzten Basketballarena, auf dem sandig weichen und sonnenwarmen Beach-Volleyball-Platz oder beim Public Viewing auf einem Marktplatz nicht in dem wertenden Sinne von »spektakulär«, sondern in dem phänomenologischen Sinne einer chaotisch-mannig108 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Kollektive Atmosphären des Sports
faltigen, leiblich-affektiven Wahrnehmung. Die mitreißende »südeuropäische« Stimmung in der Arena ist eine ganzheitliche Situation voller Impressionen, die typischerweise mit ritualisierten Eindruckstechniken – Verhaltensweisen (Gesang, Klatschen), Dingen (Transparenten, Tröten, Schals) und Halbdingen (Musik, Pfeifen) – herzustellen versucht wird. Die Stimmungsproduktion gelingt, wenn die Programme der impressiven Situation (z. B. der leiblich-affektive Appell, beim rhythmischen Klatschen mitzumachen) die Situationsteilnehmer mittels leiblicher Kommunikation ad hoc zu einem Gesamtleib zusammenschweißen. Der »Nomos« (Programmgehalt) der Situation lenkt in diesem Fall die Zuwendung des vitalen Antriebs der Zuschauer*innen, woraus ihr kollektives Verhalten und Empfinden resultiert. Letztlich aber ist das Entstehen einer bestimmten Situationsatmosphäre nicht planbar, weil immer irgendwelche Probleme (schlechtes Wetter, überlegener Gegner) auftreten können, die dem Nomos der Situation – etwa dem Wunschprogramm »die Hütte soll brennen« – einen Strich durch die Rechnung machen. Eine im Sport regelmäßig wiederkehrende, insbesondere durch problematische Situationen hervorgerufene Situationsatmosphäre ist die Stimmung, die »kippt«. Ein typischer Grund für das Kippen der Stimmung ist, dass explizite oder unwillkürliche Erwartungen – »Protentionen« im Schmitz’schen Sinne 27 – enttäuscht werden, ein anderer, dass Normen verletzt werden. Wenn der Underdog wider Erwarten gegen den Favoriten in Führung liegt, kann die verhaltene kollektive Stimmung urplötzlich in eine begeisternde Stadionatmosphäre umschlagen. Ebenso mögen spielimmanente Normverstöße in Form wiederkehrender ›böser‹ Fouls dazu führen, dass aus einer freundlichen eine feindselige Atmosphäre unter den Zuschauern erwächst. Neben solchen gut und von jedermann wahrnehmbaren aktuell-impressiven Situationsatmosphären kennt der Sport auch eine Vielzahl weniger offensichtlicher Situationsatmosphären, für deren Wahrnehmung es eines kompetenten Gespürs bedarf. Das Tor, das »in der Luft liegt«, ist eine solche situations- und orts27
Schmitz (1990), S. 56.
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gebundene Atmosphäre, die nur wahrnimmt, wer mit der Bedeutsamkeit der Situation vertraut ist. Die Atmosphärenwahrnehmung besteht hier im »Ahnen, Spüren, Wittern«, 28 und dazu ist nur befähigt, wer die Sachverhalte, Programme und Probleme der zuständlichen Situation »Fußball« kennt, sodass er den von Augenblick zu Augenblick sich zuspitzenden Verlauf der aktuellen Spielsituation lesen kann, was heißt, von der darin eingebetteten, leiblich engenden (»zugespitzten«) Atmosphäre gefangengenommen werden kann. Die Differenz zwischen Laien- und Expertenpublikum erweist sich hier als eine Differenz in der Kompetenz »atmosphärischen Verstehens«. 29 (2) Aktuell-segmentierte, ortsunabhängige Situationsatmosphären. Im Unterschied zu den aktuell-impressiven kommen die aktuell-segmentierten Gemeinschaftsatmosphären des Sports nicht ›auf einen Schlag‹ zum Vorschein, sondern zeitweise. 30 Aktuell sind sie insofern, als ihr zeitlicher Verlauf beobachtbar ist, selbst wenn er sich über den Zeitraum eines einzelnen Rennens oder Spiels hinaus erstreckt. Ist Letzteres der Fall, erweist sich die aktuell-segmentierte Situationsatmosphäre als ortsunabhängig. Ein typisches Beispiel für diesen Atmosphärentypus ist das so genannte Momentum oder der »Lauf«, den eine Mannschaft hat. Das Momentum kann innerhalb eines Spiels entstehen, wenn sich die Mannschaft »in einen Rausch hineinspielt«, es kann sich aber auch über mehrere Spieltage hinweg erstrecken (und ist dann segmentiert) und sich an den einzelnen Spieltagen aktuell zeigen. Wenn sich das Momentum zeigt, verdichtet sich die segmentierte zu einer impressiven Situation. 31
28
Uzarewicz (2011), S. 209–217. Gugutzer (2012), S. 80–81. 30 Schmitz nennt als Beispiele für aktuell-segmentierte Situationen »Gespräche, mit einer nur fragmentarisch durchblitzenden integrierenden, binnendiffusen Bedeutsamkeit; Probleme, an denen jemand ratlos grübelt […].« (Schmitz [2003], S. 92) 31 Schmitz bezeichnet die Verdichtung einer segmentierten zu einer impressiven Situation in Anlehnung an Heidegger »Plakat-Situation«. Vgl. Schmitz (1999), S. 25; Ders. (2003), S. 92. 29
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Kollektive Atmosphären des Sports
Als prinzipiell ortsunabhängige (weil sich an verschiedenen Spieltagen und damit auch in verschiedenen Stadien, Hallen, Arenen etc. zeigende) Atmosphäre besetzt das Momentum den flächenlosen Zeit-Raum so, dass das Handeln der davon ergriffenen »Patheure« 32 auf eine positive oder negative Weise maßgeblich beeinflusst wird. In der positiven Variante ergreift diese Atmosphäre die Patheure leiblich-affektiv auf eine Art, die sich leicht anfühlt, mitunter federleicht, als würde man fliegen. Es ist ein Zeit-Raum, in dem auf einmal alles gelingt, es »wie geschmiert läuft«, also reibungsfrei, glatt, alles Widerständige und Hemmende scheint verschwunden. Damit sich dieses atmosphärische Gefühl einstellt, bedarf es wiederholter Gelingensmomente – ein einmaliger DreiPunkte-Wurf reicht nicht hin, ein singulärer Sieg ebenfalls nicht. Im Falle wiederholter Gelingensmomente resultiert daraus eine Atmosphäre des Vertrauens, konkret: des Selbst-Vertrauens der Akteure. Das Selbst-Vertrauen ist eine so machtvolle Atmosphäre, dass es die von ihr Ergriffenen auf einer Welle des Erfolgs trägt. Aber: Das Momentum ist von endlicher Dauer, weil ein Halbding, das kommt und dann in seinem Erscheinen beobachtbar ist, das aber auch wieder geht, und wo es in der Zwischenzeit ist, bleibt rätselhaft – manch Trainer*in ist daran schon verzweifelt. Teams, die das Momentum auf ihrer Seite haben und von Sieg zu Sieg eilen, würden es gern festhalten und versuchen daher, die einzelnen Faktoren ihrer Erfolgssituation zu identifizieren. Dieses konstellationistische Vorgehen ist verständlich, letztlich jedoch zum Scheitern verurteilt, weil das Momentum Teil einer ganzheitlichen, binnendiffusen Situation ist. Aus der chaotisch-mannigfaltigen Situation, in die diese Atmosphäre zeitweise eingebettet ist, lassen sich nie alle für ihr Erscheinen relevanten Einzelheiten und insbesondere deren Zusammenspiel explizieren. Daher kann letztlich nicht willentlich für das Momentum etwas getan werden. Es ist eine machtvolle Atmosphäre, deren Aufblitzen erstaunt oder erschrocken wahrgenommen wird, aber es bleibt ein Widerfahrnis, das gerade deshalb fasziniert.
32
Gugutzer (2017), S. 150.
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(3) Zuständlich-impressive, ortsgebundene Situationsatmosphären. Atmosphären dieses Typs sind in gemeinsame Situationen eingebettet, die sich dadurch auszeichnen, dass sie über eine längere Zeit hinweg andauern und dabei regelmäßig wiederkehrend, gewissermaßen punktuell, mit gefühlshaften Eindrücken verbunden sind. 33 Für den Sport ist dabei charakteristisch, dass seine zuständlich-impressiven Situationen zumeist ortsgebunden sind. Ein typisches Beispiel dafür ist der so genannte Heimvorteil. »Ein absoluter Heimvorteil liegt vor, wenn die Wahrscheinlichkeit, unter heimischen Bedingungen zu siegen, größer ist als 50 %. Von einem relativen Heimvorteil kann dann gesprochen werden, wenn die Wahrscheinlichkeit, ein Heimspiel zu gewinnen, größer ist, als es zu verlieren«. 34 Über die Gründe des Heimvorteils herrscht in der sportwissenschaftlichen Forschung Uneinigkeit (Reisestrapazen der Auswärtsmannschaft, Vertrautheit der Heimmannschaft mit der Sportstätte, Unterstützung durch Zuschauer, Beeinflussbarkeit des Schiedsrichters etc.); gelegentlich wird seine Existenz auch statistisch angezweifelt. Als Idee ist der Heimvorteil gleichwohl ein fest verankerter, programmatischer Bestandteil der Sozietät Sport, das heißt, eine – zumeist unbewusste – »Richtlinie für die Eigenführung« 35 der Akteure: für die Heimmannschaften typischerweise der Wunsch, das Heimspiel möge ein Vorteil sein, für die Auswärtsmannschaft oftmals die Befürchtung, der Sachverhalt Auswärtsspiel könnte ein Nachteil sein, was in der aktuellen Situation des Aufeinandertreffens auf unterschiedliche Art (selbstbewusst/eingeschüchtert) verhaltenssteuernd wirken kann. Der Glaube an den Heimvorteil ist ein Verhaltensprogramm, dessen Wirkmacht primär daraus resultiert, dass es atmosphärisch 33
Als Beispiele für zuständlich-impressive Situationen nennt Schmitz »das ›Bild‹, das man sich von einem Menschen macht, den man gut zu kennen glaubt; der typische oder individuelle Charakter eines Dinges, der sich im Wechsel seiner Gesichter durchhält […].« (Schmitz [2003], S. 92) 34 Wolfgang Schlicht/Bernd Strauß: Sozialpsychologie des Sports, Göttingen et al. 2003, S. 160–173, hier: S. 160. 35 So die neophänomenologische Definition von »Programm«; siehe Hermann Schmitz: Das Reich der Normen, Freiburg/München 2012, S. 11.
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aufgeladen ist. Grund dafür sind die »heimischen Bedingungen«, die für den Heimvorteil konstitutiv sind, denn »heimisch« bedeutet bekannt, vertraut, gewohnt und meint damit etwas Gefühlshaftes. Die vorteilhaften heimischen Bedingungen im Einzelnen zu identifizieren, ist schwierig oder gar unmöglich, die daraus resultierende binnendiffuse, atmosphärische Gesamtsituation ist gleichwohl wahrnehmbar. Dass es hierbei Unterschiede gibt, die beispielsweise mit der Spielstärke der beiden Teams oder dem Standardisierungsgrad der Spielstätten (der in unteren Ligen geringer ist als im professionellen Sport) zu tun haben, ist selbstverständlich. Der Sachverhalt, dass der Heimvorteil als zuständlichimpressive Situation eine atmosphärische Färbung oder Tönung aufweist, bleibt davon jedoch unberührt. Ortsgebunden ist diese Atmosphäre dabei sowohl in dem allgemeinen Sinne, dass sie zu irgendeinem Heim gehört, als auch in einem konkreten Sinne, in dem zum Beispiel Boris Becker vom Center Court in Wimbledon immer wieder als seinem »Wohnzimmer« sprach. Wimbledon wurde für Becker zu seinem Wohnzimmer, nachdem er dort als 17-Jähriger das Turnier gewann und auch in den Folgejahren sehr erfolgreich war, erfolgreicher als bei jedem anderen Grand Slam-Turnier. Aufgrund dieser wiederholten aktuellen Situationen, die mit vielen positiven Gefühlen besetzt waren, erwuchs daraus eine zuständliche Situation, in der Becker sich heimisch fühlte – eben sein Wohnzimmer. Mit Schmitz gesprochen fühlt sich ein Wohnzimmer – wie insgesamt die private Wohnung – deshalb heimisch an, weil man sich dort frei bewegen und entfalten kann. 36 Auf den Heimvorteil im Sport übertragen, darf das wörtlich genommen werden: Der Heimvorteil ist ein ortsgebundener, mit einer (wohnzimmerähnlichen) atmosphärischen Qualität besetzter Raum, die sich in einer freien Entfaltung der Bewegungen, Spielzüge, Tricks und Kombinatio36
»Da die häusliche Wohnung solche freie Entfaltung gestattet, können sich in ihr reichhaltige zuständliche Situationen bilden, in die die Persönlichkeit oder persönliche Situation des Bewohners so einwächst, dass sich der Effekt des ZuHause-Sein, des Heimischgewordenseins, ergibt.« (Hermann Schmitz: »Heimisch sein«, in: Jürgen Hasse [Hrsg.]: Die Stadt als Lebensraum, Freiburg/München 2008, S. 25–39, hier S. 38.)
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nen niederschlägt, während der Heimnachteil sich in einer entsprechend gehemmten Entfaltung der Bewegungen etc. äußert. Der Heimvorteil kann also auch in einen Heimnachteil umschlagen, da auch zur Bedeutsamkeit dieser aktuell-impressiven Situation potenziell Probleme gehören, etwa ein hoher Erwartungsdruck von Seiten des Vereins oder der Zuschauer. (4) Zuständlich-segmentierte, ortsunabhängige Situationsatmosphären. Bei diesem Atmosphärentyp handelt es sich um die dauerhafte, zumeist latente Präsenz eines überindividuellen Gefühls, das an keine spezifische ortsräumliche Umgebung gebunden ist. Als eine Art Hintergrundgefühl ist die zuständlich-segmentierte Situationsatmosphäre zwar immer irgendwie als anwesend erlebbar, ohne aber die darin eingehüllten Akteure explizit leiblich-affektiv ergreifen zu müssen. Ihre Wirkung entfalten solche Atmosphären eher schleichend über eine längere Zeit, dadurch aber womöglich umso tiefgreifender. In Analogie zur Unterscheidung von (aktuell-impressivem) Wetter und (zuständlich-segmentiertem) Klima könnte man sie als klimatische Atmosphären bezeichnen. Der Sport kennt solche Atmosphären zum Beispiel als »Klima der Angst«, der »Sorge«, des »Misstrauens« oder als »Reizklima«, das in einem Team, Verein oder Verband herrscht. Doping im Spitzensport beispielsweise ist ein tatsächlicher Sachverhalt – es gibt Doping wirklich –, der dazu führt, dass er in einigen Sportarten als vermuteter Sachverhalt wirkmächtig ist und zu »defensivem Doping« 37 verleitet: Das anhaltende Misstrauen gegenüber den Konkurrent*innen kann ausreichen, um selbst zu dopen und so zumindest die dopingbedingten Vorteile der anderen auszugleichen. Das weitverbreitete Misstrauen, das Rennradfahrer*innen, Gewichtheber*innen, Sprinter*innen oder Biathlet*innen untereinander haben – und das neutrale Publikum pauschal gegenüber solchen Sportarten – ist Produkt und Ausdruck des Nomos der gemeinsamen Situation Spitzensport. Spit37
Karl-Heinrich Bette/Uwe Schimank: »Doping als Konstellationsprodukt. Eine soziologische Analyse«, in: Michael Gamper/Jan Mühlethaler/Felix Reidhaar (Hrsg.), Doping. Spitzensport als gesellschaftliches Problem, Zürich 2000, S. 91– 112, hier: S. 100.
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Kollektive Atmosphären des Sports
zensportimmanente Leitprogramme wie »Nur der Sieg zählt«, »Der Zweite ist bereits der erste Verlierer«, von Verbänden vorgegebene Leistungsnormen, die kaum zu erfüllen sind, Wunschprogramme wie »Ich trainiere, um Weltmeister*in zu werden« etc., fungieren als generelle Richtlinien spitzensportlichen Verhaltens, mitunter aber eben auch als spezielle Richtlinien für gezieltes Doping. Das ist besonders dann der Fall, wenn situationstypische Probleme auftreten, etwa die mühsame Rückkehr in den Spitzensport nach einer langen Verletzungspause oder die angedrohte Kürzung von staatlichen Fördergeldern bei ausbleibenden sportlichen Erfolgen. In einem solchen, situationsbedingten Klima der Sorge (um die eigene, nicht nur sportliche Existenz) oder Angst (vor dem Scheitern) kann Doping zu einer Problemlösungsstrategie werden, und dies vermutlich umso eher, je länger die latente, unterschwellig zehrende Präsenz der sorgevollen oder angstgesättigten Atmosphäre andauert. Klimatische Atmosphären wie das wechselseitige Misstrauen innerhalb einer Sportart oder das Angstklima in einem Kontext sexualisierter Gewalt hängen wie eine Dunstglocke 38 über der gemeinsamen Situation und können so anhaltend-hintergründig das Handeln, Denken und Empfinden der an der Situation Teilhabenden – genauer: deren persönliche Situation – beeinflussen. Explizit in den Vordergrund treten die zuständlich-segmentierten Situationsatmosphären immer dann, wenn sie sich zu einer aktuell-impressiven Situation verdichten. Das ist etwa dann der Fall, wenn die Dopingkontrolleurin unangekündigt vor der Wohnungstür steht oder der Trainer seine Athletin unsittlich berührt. Die Dopingkontrolleurin und der Trainer erscheinen in solchen Situationen als »Verdichtungsbereich« der Angst, die in der darunterliegenden Angst vor dem Erwischtwerden bzw. dem Miss38
Der Begriff Atmosphäre verbindet zwei Aspekte: »einerseits den Atmos, den Dunst, das feinstofflich Hauchartige und Diffuse, das zwischen Subjekten und Objekten weht und diffundiert, und andererseits die Sphäre, das Kugelförmige, das formhaft klar Definierte, das Gefäß, durch das der Hauch zusammengehalten wird.« Andreas Rauh: »Bruchlinien. Das Atmosphärenkonzept in Theorie und Praxis«, in: Larissa Pfaller/Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden 2018, S. 128 (Herv. i. O.).
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brauch »verankert« 39 ist. Es scheint dies ein typisches Merkmal zuständlich-segmentierter Situationsatmosphären zu sein, dass der Übergang ihrer latenten Präsenz zu einer manifesten Präsenz primär personengebunden ist, mehr oder stärker jedenfalls als dass dieser Wechsel ortsgebunden wäre. 5
Fazit
Die Ausführungen haben gezeigt, dass der Sport unterschiedliche gemeinsame Situationen mit einer Vielzahl kollektiver Atmosphären kennt. Gemeinsam ist den kollektiven Atmosphären des Sports, dass sie situationsimmanente, überpersönliche Gefühle sind, die von den davon Betroffenen nicht unmittelbar als eigener Zustand erfahren werden, sondern als »affektiver Raum«, 40 in den sie hineingeraten und der sie mehr oder weniger spürbar ergreift. Die Atmosphären des Sports sind daher machtvolle soziale Phänomene: Weil sie die Teilhabenden an der gemeinsamen Situation leiblich-affektiv in Beschlag nehmen und auf diese Weise – mal eher explizit, mal eher implizit – zu einem Tun bewegen, besitzen sie Autorität. Der affektive Raum, in den die Situationsteilnehmer*innen geraten, ist dabei nicht identisch mit dem geometrischen Raum, weshalb der Sport Atmosphären kennt, die unabhängig von einer konkreten räumlichen Umgebung existieren. Zugleich kennt der Sport Atmosphären, die losgelöst von einer konkreten aktuellen Situation vorliegen. Mit dieser Erkenntnis liefert die hier vorgestellte Typologie kollektiver Atmosphären des Sports gleichermaßen einen Beitrag zur sportabstinenten Atmosphärenforschung wie zur atmosphärenignoranten Sportforschung.
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Vgl. zur Unterscheidung von Verdichtungsbereich und Verankerungspunkt von Gefühlen Schmitz (1990), S. 301–302. 40 Zum »affektiven Raum« mit seinen drei Dimensionen Atmosphären, Stimmungen und Gefühle siehe Thomas Fuchs: Zur Phänomenologie der Stimmungen, https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/zpm/psychatrie/fuchs/Litera tur/Phaenomenologie_der_Stimmungen_pdf.pdf (letzter Zugriff: 09. 04. 2019).
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Heiliger Raum im Wandel. Zur atmosphärischen Macht von (profanierten) Kirchen Der Innenraum einer Kirche unterscheidet sich nicht nur in der Art und Summe der darin befindlichen Dinge vom Verkaufsraum eines Supermarkts oder Autohändlers. Alles, was die so unterschiedlichen Räume ausmacht, spiegelt sich »oberhalb« materieller Artefakte in atmosphärisch je spezifischen »Vitalqualitäten« wider. 1 So sind auch Städte über ihre bauliche Materialität hinaus »gelebte Räume« 2, in denen man einen »Leib der Stadt« 3 spüren kann. Dieser zeigt sich weniger in der physischen Körperlichkeit von Bauten und technischen Infrastrukturen als an der Art und Weise der kulturellen Rhythmen, die ein vitales Milieu mit Leben füllen. Ganz wesentlich kommt es darauf an, wie sich ein Raum im Gefühl des Drin- und Mit-Seins suggeriert. Kirchen gehören in nord- und südeuropäischen Städten aufgrund einer vorherrschend christlichen Religion zum Leib der Stadt wie die Warte zur mittelalterlichen Stadtbefestigung. Das architektonische Arrangement sakraler Milieus strebt programmatisch die Konstitution von individuellen wie kollektiven Gefühlen einer religiösen Fassung an. Liturgische Praktiken machen sich die architektonische Disposition eines Raumes zunutze und intensivieren auf rituellen Wegen die anstehenden Atmosphären, auf dass sie in eine
1
Vgl. Karlfried Graf von Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum. Mit Einführungen von Jürgen Hasse, Alban Janson, Hermann Schmitz und Klaudia Schultheis (= Natur – Raum – Gesellschaft, Band 4), Frankfurt am Main 2005, S. 39. 2 Vgl. Dürckheim (2005). 3 Vgl. dazu Jürgen Hasse: Der Leib der Stadt. Phänomenographische Annäherungen, Freiburg und München 2015.
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persönliche Stimmung des Getragen-Seins von göttlicher Macht umschlagen mögen. 1
Kirchen im atmosphärischen Raum der Stadt
Mit ihrem atmosphärischen und mythischen Anspruch sind Kirchen schon als Bauten im öffentlichen Raum präsent. In der Mitte des Dorfes überragt die Kirche alle anderen Gebäude. Ebenso stehen die Sakralbauten im Zentrum der »alten« Stadt. In der spätmodernen Metropole geraten sie dagegen immer öfter in den Schatten profaner Gebäude. Dennoch bilden Kirchen auch hier spirituelle, ästhetische, kulturhistorische und architektonische »Hot Spots«. Ob alt oder neu, stets bringen sie eindrucksmächtige Symbole (im Sinne einer Leitkultur) zur Geltung, um geradezu immersiv auf den atmosphärischen Raum der Stadt einzuwirken. Alle Bauten lassen mehr oder weniger deutlich ihnen Zweck erkennen – die Börse die Spekulation, das Kraftwerk die Stromerzeugung und der Bahnhof den Zugverkehr. In ihrem sich durch architektonische Eigenart und religiöse Rituale konstituierenden genius loci verweisen Kirchen auf existenzielle Bedeutungshorizonte. Zumindest bis ins 19. Jahrhundert geben sie zu spüren, dass die Geschicke der Welt dank göttlicher Macht auf guten und verheißungsvollen Wegen gehalten werden konnten. Schon in ihrem bildhaften Erscheinen insistiert eine Kirche in einem gestischen Sinne auf die Einhaltung der biblischen Gebote – nicht zuletzt, um Exzessen der Lust, zügellosen Begierden, ungebremster Profitsucht, Habgier, Mord und Todschlag zuvorzukommen. Wie Istanbul an der Kulisse seiner Minarette als Metropole der moslemischen Welt erkennbar ist, so die Städte der christlichen Welt an ihren Kirchtürmen (in Bamberg stehen auf einem Stadtgebiet von rund 80 km2 etwa 60 Kirchen). In ihrer (Aus-)Richtung zum Himmel repräsentieren sie – im Unterschied zu den oft viel höheren Bürotürmen – die Geltungsmacht göttlicher Regeln über das Leben der Menschen. Die zentralen Kirchtürme einer Stadt sind in ihrer Bauweise und Ästhetik nicht nur als Landmarken dominant (s. Abb. 1). 118 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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Abbildung 1: Mariä Heimsuchung (katholische Kirche, Wiesbaden) (Foto: Jürgen Hasse)
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Auch ragen sie nicht steil in den Himmel, weil sich der Wetterhahn in luftigen Höhen besser dreht. Ihre die Wolken knapp erreichenden Spitzen berühren vielmehr eine mythische Dimension des Hohen. Deshalb ziehen die den Kirchturm umschwebenden Wolken auch über keinen klimatologischen, sondern einen göttlichen Himmel. Innerhalb lebensweltlich tagtäglich erfahrbarer Grenzen spätmoderner Rationalismen bieten sich Kirchen als atmosphärische Sonderwelten der »mystische[n] Selbstvereinigung mit Gott« an. 4 In ihrem Inneren entfalten sich von Göttlichem getränkte Atmosphären. Sie spannen einen befindlichen Rahmen für die Ausleibung 5 existenzieller Gefühle niederreißender Trauer, abgründiger Furcht, bitteren Zorns wie nicht enden wollenden Schmerzes auf, ebenso von Gefühlen glückseligen Getragen-Werdens. Die Kraft, mit der sich die Kirche als Institution – symbolisiert durch die Gestalt ihrer Bauten – als letzte übermenschliche und noch halbwegs mächtige Wahrheitsinstanz in der Mitte des irdischen Lebens präsentiert, beginnt in der Gegenwart zu verblassen. Ihre jenseitsweltlichen Heilsversprechen werden immer weniger erhört. Wenn die Kirchen am »Abgrund der Säkularisierung« in ihrer Ästhetik und Autorität auch auf einen Grat ihres Bedeutungsverlustes geraten, so stehen sie als signifikante Bauwerke doch fortan im Raum der Stadt. Aber für viele Menschen sind sie als eine Art architektonisches Dekor nur noch das Salz in einer ubiquitären Bausuppe des Langweiligen und Unauffälligen zum einen wie Ekstatisch-Überdrehten zum anderen. Schließlich werden sie – in atheistischen Zeiten – zu optionalen Bühnen aller möglichen Veranstaltungen. Kraft ihrer eigenartigen atmosphärischen Potenz beharren sie – aller Verweltlichung und neuer (quasi-)religiöser Orientierungen zum Trotz – allerdings auch als Inseln der Kontemplation, der Besinnung und der Stille. Die spätmodernen Städte sind Zentren sich fortwährend beschleunigender Prozesse der Zirkulation des Geldes wie der ratio4
Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin und Boston 2011, S. 51. Unter »Ausleibung« versteht Schmitz einen »Selbstverlust durch Entrückung und Versunkenheit«; Schmitz (2011), S. 52.
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nalistischen Selbstüberschätzung des Menschen. Gegen die immer wieder enttäuschte Hoffnung auf schnelle Gewinne, Erfolge im Kampf gegen Konkurrenten und Siege in allem, was sich scheinbar berechnen lässt, suggerieren sich Sakralbauten schon in ihrer Physiognomie als andere Welten, als Sphären der (äußeren) Ruhe, mehr noch der (inneren) Stille und Horte beständiger Ordnungsgefüge. So stehen sie in ihrem Hoffnung, Zuversicht und Trost spendenden Programm in einem Kontrast zu den verschiedensten Eintrübungen subjektiver Lebenszufriedenheit: Unsicherheiten, die sich der demokratische Massenmensch selbst zumutet, ökonomische und soziale Risiken, fragile soziale Netze und ein fataler Mensch-Natur-Metabolismus. Als Folge der Säkularisierung der Gesellschaft verlieren sich die sedativen Kräfte des Religiösen aber mit Nachdruck. In der Folge werden vor allem in den Großstädten immer mehr Kirchen profaniert. Damit verändern sich nicht nur ihre Nutzungen, sondern auch ihre Atmosphären. 2
Zur Funktion numinoser Atmosphären
Kirchen sind als sakrale Bauten entworfen, realisiert und über viele Dekaden, wenn nicht über Jahrhunderte von Gläubigen als religiöse Stätten genutzt worden. Jeder atmosphärische Wechsel stellt sich daher als Prozess eines essentiellen Übergangs dar. Mit dessen Vollzug verändert sich das Gesicht, wenn nicht sogar der Charakter des atmosphärischen Raumes. Gravierende Raumwechsel bringen sogar tiefgreifende atmosphärische Brüche mit sich, die mit einer gewissen Gewalt auf die in einer Kirche spürbare Vitalqualität einwirken. 2.1 Architektur – das Erhabene und das daraus erwachsende Numinose Sakralbauten sind als architektonische Gebilde in ihrer Materialität, Größe und Kubatur äußerst vielgestaltig. Hellen Kirchenräu121 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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men ist eine andere Atmosphäre eigen als halbdunklen, romanischen eine andere als gotischen und erst recht modernen. Sie alle verdanken sich einer Eindrucksmacht, die sich allein in sakralen und nicht in profanen Bauten entfalten kann und soll. Lediglich im Protestantismus herrscht die Auffassung vor, dass die alleinig entscheidende religiöse Kraft aus der Glaubensgemeinschaft selber hervorgeht, womit die Frage der Architektur auf ein ganz untergeordnetes Bedeutungsniveau absinkt. Das schlägt sich in der weitgehend unspezifischen Ästhetik zahlreicher Neubauten nieder, die vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen deutschen Städten errichtet worden sind. Kirchen, deren Erleben profanen Räumen nähersteht als sakralen Milieus, mangelt es an emotionaler Ausdrucksmacht. Diese konstituiert sich aber nicht erst vor dem performativen Hintergrund religiöser und insbesondere liturgischer Milieus, sondern schon im tatsächlichen Raum großer Architektur. Solche »Größe« ist keine Frage der Kubatur, sondern der Ergriffenheit durch die Macht des Erhabenen, welche sich in einem ambivalenten Gefühl lähmender Faszination vermittelt. Das atmosphärische Konglomerat des Erhabenen bindet die Aufmerksamkeit im Doppelgefühl ehrfürchtigen Erschauderns und gleichzeitiger Bewunderung. 6 Schon diesseits der Weihung sowie der Praktizierung liturgischer Rituale weckt zum Beispiel die trotz ihrer immensen Größe scheinbar schwebende Kuppel der ursprünglich als christliche Kirche erbauten Hagia Sofia (s. Abb. 2) ein Gefühl der Faszination und der respektvollen Demut. Ein ganz ähnliches Doppelgefühl von ästhetischer Beeindruckung und sprachlos machender Überwältigung vermitteln die überaus hohen, weiten und offenen Innenräume der gotischen Cathedral Church of St. Mary in Lincoln (s. Abb. 3), die vom 14. bis Mitte des 16. Jahrhunderts das höchste Gebäude der Welt war. Ambivalente Gefühle, in denen Angezogenheit und gleichzeitige Distanziertheit eine Spannung bilden, verdanken sich der Baukunst und der von ihren ästhetisch inszenierten Konstruktio6
Zum Erhabenen in diesem Sinne vgl. auch Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (= Philosophische Bibliothek, Band 507), Hamburg 2001, § 28.
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Abbildung 2: Hagia Sofia (Istanbul) (Foto: Jürgen Hasse)
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Abbildung 3: Cathedral Church of St. Mary (Lincoln) (Foto: Jürgen Hasse)
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nen ausgehenden Eindruckswirkungen, die Eigenschaften des gebauten Raumes auf dem Wege der Synästhesien ins leiblich spürbare Befinden übertragen. Im Spannungsfeld des sakralen Raumes steigern sich diese in architektonischen Atmosphären nistenden Eindrücke ins Numinose, das vom Erhabenen der Architektur gleichsam »angestachelt« wird. Das aus solcher räumlich ausgedehnten Vitalqualität erwachsende Gefühl sakraler Stille verdankt sich existenziell tiefer Ergriffenheit von der affizierenden Eindrucksmacht des Numinosen. Sakralräumliche Stille steht profaner Stille fern. Deshalb ist sie auch weder mit der brütenden Stille eines sommerlich überhitzten Mittags, geschweige denn der langweiligen Stille eines kleinstädtischen Sonntags vergleichbar. Atmosphären des Erhabenen springen da in Atmosphären des Numinosen über, wo die Architektur einen Raum zu einem Milieu der »gelebten und erlebten Ästhetik des Glaubens« 7 gestimmt hat, so dass sich Gott – für den der religiösen Mythologie aufgeschlossenen Menschen – in einem pneumatologischen Sinne als heiliger Geist zu spüren geben kann. Wie das Erhabene von einem Doppelgefühl getragen wird, so auch das Numinose, unter dessen affizierendem Gewicht die Anbetung übermenschlicher Größe in der Bahn religiöser Ideen gehalten wird. Die nachhaltig wirksame Ausdrucksmacht räumlich-architektonischer Baugestalten ist so groß, dass sie noch von jenen Menschen als »existenzielle Bühne« 8 erlebt werden kann, »die sich am kirchlichen Leben nicht (mehr) beteiligen und sogar außerhalb der Kirche stehen.« 9 Der »Begegnung« ist nicht allein der im konfessionell-religiösen und strengen Sinne Gläubige fähig, sondern auch der Atheist, wenn er sich in seinem sinnlich-leiblichen Eindruckserleben »mit einem unverfügbaren Geheimnis, letztlich mit Gott« 10 konfrontiert sieht. Nicht zuletzt deshalb plädiert der Theologe Friedhelm Mennekes dafür, den modernen Sakralraum 7
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Umnutzung von Kirchen. Beurteilungskriterien und Entscheidungshilfen, Bonn 2003, S. 7. 8 Friedhelm Mennekes: Zur Sakralität der Leere. Unveröffentlichtes Manuskript. 9 Sekretariat (2003), S. 12. 10 Ebd., S. 13.
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von seinen scheinbaren Eindeutigkeiten zu befreien, »um ihn für seine überkommene Offenheit und komplexe Vieldeutigkeit zurückzuholen«. 11 Zu allen Zeiten sind von Kirchenbaumeistern starke architektonische Ausdrucksmittel gewählt und eingesetzt worden, um die Gläubigen in ihrer emotionalen Sensibilität zu treffen und an den sakralen Ort sowie die gemeinsame Situation der sich darin versammelnden Gläubigen zu binden. Auf der Schwelle der Affizierung entscheidet sich, ob und wie eine Atmosphäre des heiligen Raumes in säkularen Bedeutungssphären weiterlebt. Wo Kirchen aber in ihrer architektonischen Ausstrahlung und minderen ästhetischen Kraft die Mitglieder einer Gemeinde im Glauben nicht dauerhaft zusammenhalten können, versagen sie auch in der psychologischen Entlastung gegenüber den Zumutungen hyperrationalistisch funktionierender gesellschaftlicher Systeme, die oft als Ausdruck eines »herzlosen« Maschinismus empfunden werden. Der Architektur kommt in der Vermittlung numinoser Atmosphären eine richtungsgebende Rolle zu. Zwar kann sie religiöse Gefühle nicht in direkter Weise »materialisieren«; aber sie vermag diese mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln erhabener Ausdrucksgestalten atmosphärisch anzubahnen. Es war vor allem Johannes Volkelt, der auf das Moment der »ästhetischen Einfühlung« 12 als Modus der Aneignung atmosphärischer Milieus verwiesen hatte. Hermann Schmitz spricht hier vor dem Hintergrund seiner systematisch entwickelten Phänomenologie von »leiblicher Kommunikation« 13. Diese bedarf (mindestens) eines 11
Hennekes (o. J.). Johannes Volkelt: System der Ästhetik. Werk in drei Bänden. Band 2: Die ästhetischen Grundgestalten, München 1910, S. 110 ff. 13 »Leibliche Kommunikation« erklärt Hermann Schmitz so: »Von leiblicher Kommunikation im allgemeinen will ich immer dann sprechen, wenn jemand von etwas in einer für ihn leiblich spürbaren Weise so betroffen und heimgesucht wird, daß er mehr oder weniger in dessen Bann gerät und mindestens in Versuchung ist, sich unwillkürlich danach zu richten und sich davon für sein Befinden und Verhalten in Erleiden und Reaktion Maß geben zu lassen«; Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band 3, Teil 5 (zuerst 1978), Bonn 1989, S. 31 f.; ausführlich vgl. auch Schmitz (2011), Kapitel 4. 12
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lebendigen, leiblichen Wesens, vollzieht sich aber nicht als körperlicher Prozess. 14 Die Wirkung der Dinge (Glanz, Material, Physiognomie etc.) wie gestalteten Räume (Höhe, Größe und Weite eines Kirchenschiffes) erschöpft sich im sakralen Raum daher auch nicht in symbolischer Kommunikation. Vielmehr verdanken sich ihre essentiell affizierenden Emissionen bewegungssuggestiver und synästhetischer Ausdrucksgesten, gehen also gleichsam unmittelbar ins spürende Befinden eines Individuums ein. Die Architektur von Kirchenfenstern setzt mit ihrer Verglasung eine Lichtdramaturgie ins Werk, die im liturgischen Gebrauch sakraler Medien zu einer immersiven Stimmungsmacht »hochgezüchtet« wird. Das den offenen Kirchenraum gleichsam »bespielende« Ritual (durch Verwendung von Weihrauch zur Produktion sedierender Gerüche und emotional überwältigender Chorgesänge) unterstützt das Szenario der Ansprache des Leibes mit Nachdruck. 2.2 Immersive Atmosphären im heiligen Raum Kirchen sind »andere Räume« 15; sie konstituieren sich nur insofern in einem relationalräumlichen Innen, als dieses Voraussetzung einer mythischen Fassung ist, die der profanen Welt des gesellschaftlichen Draußen entgegensteht – nicht faktisch und nicht real, sondern narrativ und mit der suggestiven Macht einverleibter Bedeutungen. Das sphärische Milieu sakraler Räume ist entlastend und mythisch kompensierend, weil es eine emotional erträgliche Welt zu spüren gibt, die »anders« ist als das wirkliche tagtäg14
In metaphorischer Rede spricht Michel Henry vom Fleisch: »In der Tat ist die rein phänomenologische Materie jeder wahrhaften, das heißt radikal immanenten Selbstaffektion, in welcher sich das Leben pathisch selbst erprobt, genau das Fleisch. Allein weil das Fleisch die phänomenologische Materie der Selbstimpressionalität ist«; Michel Henry: Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg und München 2014, S. 30. 15 Vgl. auch Michel Foucault: »Andere Räume« (zuerst 1967). In: Barck, Karlheinz/Peter Gente (Hrsg.): Aisthesis, Leipzig 1990, S. 34–46.
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liche Leben mit all seinen sozialen und ökonomischen Härten. Das sonderweltlich (sakralräumliche und mythisch-narrative) Drin-Sein im Raum einer Kirche vermittelt sich im sichernden Gefühl einer sedierenden Abfederung der »Abgründigkeit« 16 existenzieller Grenzsituationen des Lebens; nicht tatsächlich, aber doch mit der autosuggestiven Kraft religiösen Glaubens. 17 Es ist nicht zuletzt die Ahnung einer finsteren und furchterregenden Unendlichkeit nach dem eigenen Leben, die das Bedürfnis nach emotional entlastenden Gottesideen weckt. Diese müssen jedoch, um ihre lebensstimmende Macht auch entfalten zu können, leiblich spürbar werden. Deshalb ist die Essenz des Numinosen »allem Natürlichen und Weltlichen entgegengesetzt«. 18 Und so wird das Numinose noch von Menschen, die im engeren konfessionellen Sinne keine Gläubigen (mehr) sind, insbesondere in »Grenzsituationen« (im Sinne von Karl Jaspers 19) als ergreifende und umfriedende Macht gesucht.
16
Schmitz (1995), S. 278. Wegen dieser umfriedenden Macht der Atmosphären betrachtet Hermann Schmitz die sakrale Welt der Kirchen auch als eine Zone des Wohnens außerhalb des häuslichen Kreises, denn der Mensch wohnt überall da, wo er sich in der kultivierenden Pflege atmosphärischer Milieus ein behagendes wie umfriedendes Herum schafft; vgl. Hermann Schmitz: System der Philosophie. Band III, Teil 4: Das Göttliche und der Raum (zuerst 1977). Bonn 1995, S. 278 ff. Auch Martin Heidegger fasst das Wohnen in einem weiteren Sinne auf: »Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind« (Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«. In: Führ, Eduard (Hrsg. 2000): Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur. Münster u. a. 1951, S. 31–49, hier S. 35). »Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen«; Heidegger (2000), S. 45. 18 Rudolf Otto: Das Heilige. Gotha und Stuttgart 1924, S. 31. 19 Jaspers, Karl: Psychologie der Weltanschauungen (zuerst 1919). Berlin u. a. 1971, S. 229 ff. Mit dem Begriff der Grenzsituationen spricht Jaspers nicht allein die im engeren Sinne existenziellen Situationen des bevorstehenden Todes, schwerster Krankheit oder anderer Ereignisse an, die den Fortbestand eines guten Lebens einschränken, sondern schon jeden Übergang im eigenen Leben, an dessen Schwelle etwas Neues anbricht und überkommene Ordnungen des Gewohnten damit fragwürdig werden. 17
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Religion bedeutet für Hermann Schmitz: »Verhalten aus Betroffenheit von Göttlichem«. 20 Das Göttliche ist nicht mit einem personalisierten 21 Gott identisch (wie im Christentum, Islam oder Buddhismus), noch weist es auf die übermenschliche Anwesenheit vieler individueller Götter (wie bei den Griechen und Römern) hin, gleichwohl auf göttliche Mächte. Ihnen ist eine Autorität eigen, die »für den Ergriffenen unbedingten Ernst« bedeutet. 22 Man kann nicht zum Spaß von Gott, Göttern oder Göttlichem ergriffen sein. Das Göttliche ist eine Form wehrloser »Auseinandersetzung mit einer berechenbaren von sich aus dem Menschen begegnenden Macht«. 23 Insofern spricht Schmitz auch »vage von göttlichen Wesen oder Numina, wobei z. B. offen bleibt, ob es sich um Götter handelt«. 24 Martin Heidegger sieht »die Göttlichen« als Gegenpol zu den »Sterblichen« 25, als weltgebende Instanz außerhalb der Handlungsmacht des Menschen. Deshalb stellen sich »die Göttlichen« dem Denken als eine Aufgabe 26, konfrontieren sie doch mit der »Bodenlosigkeit« 27 der menschlichen »Selbstbehauptung« 28. Weil sich das Göttliche »jeder Definition« 29 entzieht, bleibt das in ihm Waltende auch eine Deutungskategorie 30, die sich im Numinosen als Gefühlgestimmtheit vom Charakter göttlicher Erregung 31 zu spüren gibt. Das macht die Rede über die Macht numinoser At20
Schmitz (1995), S. 11. Nach Hermann Schmitz gibt es im Neuen Testament deutliche Spuren »einer personalisierten Auffassung des heiligen Geistes«; ebd., S. 39. 22 Ebd., S. 91. 23 Ebd., S. 11. 24 Ebd., S. 13. 25 Das »Geviert« besteht aus den vier Achsen von Himmel und Erde, den Sterblichen und den Göttlichen. 26 Vgl. Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk, Hamburg 2014, S. 287. 27 Günter Figal: Martin Heidegger zur Einführung, Hamburg 1992, S. 136. 28 Ebd. 29 Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg u. a. 2008, S. 248. 30 Vgl. Otto (1924), S. 5. 31 Vgl. ebd., S. 7. 21
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mosphären wie ihren Wandel so diffizil. Wie Bilder das Andere der Sprache sind, so Atmosphären – allzumal jene des Göttlichen – das Andere des Denkens, in gewisser Weise dessen »Überschuß« 32. Das numinose Gefühl feierlichen Ergriffen-Werdens 33 gibt sich nach Hermann Schmitz vor allem in Gestalt des Hineingeratens in Atmosphären zu spüren. 34 Indem diese Schwellenphänomene sind, existieren sie an zwei ontologisch unterschiedlichen Orten zugleich: am absoluten Ort leiblichen Spürens und in einer »Gegend« 35, von der und in die sie ausstrahlen. Was als Geist (genius loci) in seiner stimmenden Macht sinnlich zwar spürbar sein mag, aber doch nicht physisch bzw. materiell an einem Ort entspringt, bezeichnet Otto als »ein Objekt außer mir«. 36 An Orten vom Charakter einer Gegend nistet, was sodann »in der Feierlichkeit und Gestimmtheit von Riten und Kulturen, in dem, was um religiöse Denkmäler, Bauten, Tempel und Kirchen wittert und webt«. 37 Das Numinose vermittelt sich in übermächtiger Weise 38 über ein mysterium tremendum, das von etwas Verborgenem eingefasst wird. Darin stehen Gefühle des Sich-Fürchtens und Geheimnisvollen neben denen eines Fremden und Befremdenden. 39 Otto nennt diese Macht auch die »Energie des Numinosen« 40, die das Gemüt mit starrem Staunen erfüllt. 41 Des Numinosen wird der 32
Ebd., S. 6. Vgl. ebd., S. 9. 34 Vgl. Schmitz (1995), S. 26. 35 Zum Begriff der »Gegend« sagt Martin Heidegger: »Mit diesem Ausdruck meinen wir zunächst das Wohin der möglichen Hingehörigkeit des umweltlich zuhandenen, plazierbaren Zeugs. In allem Vorfinden, Handhaben, Um- und Wegräumen von Zeug ist schon Gegend entdeckt«; Heidegger, Sein und Zeit (zuerst 1927), Tübingen 1993, S. 368. Eine Gegend ist also kein räumliches Irgendwo, sondern ein durch Bedeutungen und deren Bezüge zu möglichem Tun wie Dasein schon eingerichteter Raum. 36 Otto (1924), S. 10. 37 Ebd., S. 12. 38 Vgl. ebd., S. 20. 39 Vgl. ebd., S. 12. 40 Ebd., S. 24. 41 Vgl. ebd., S. 28. 33
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Mensch ahnend gewahr und nicht auf dem Wege rationaler Erkenntnis. Deshalb liegt es auch im Bereich eines »Irrationalen des Weltengrundes« 42. Die Macht numinoser Atmosphären ist damit in der Art ihrer Eindrücklichkeit dem Dämonischen ähnlich, das »über allen ›Begriff‹ über ›Verstand und Vernunft‹ hinausgeht, darum eigentlich nicht aussprechlich, sondern ›unfaßlich‹ ist«. 43 Die Wahrnehmbarkeit architektonischer Erhabenheit bedarf (auch im Sakralbau) keiner religiösen Stimmung. Das Erhabene ist auch von Menschen erfahrbar, die nicht im engeren Sinne religiös sind, jedoch über andere mentale und emotionale Praktiken dem Versuch zustreben, die Unvorstellbarkeit dessen, was das menschliche Leben transzendiert, zu bewältigen (vgl. 2.2). Das Numinose vergegenwärtigt im Unterschied dazu in seinem immersiv ergreifenden Charakter die Autorität des Göttlichen und die Unzulänglichkeit des menschlichen »Distanzierungsvermögens vor dem Ungeheuren« 44. Dem Unheimlichen, das in jeder Frage nach dem Tod rumort, können auch Heiden begegnen – zum Beispiel in der Stille des Kirchenraumes. Zwar geben ihnen die dort anzutreffenden Atmosphären keine Antworten auf existenziell abgründige Sinnfragen, aber sie bahnen eine Gefühlsbrücke zur Erspürung dessen an, was sich mit Worten nicht sagen lässt, in seiner vermeintlichen Leere gleichwohl über alle Maßen mit Bedeutung gefüllt ist. Daher merkt Albert Gerhards an, dass »›sakrale‹ Orte für eine intakte Gesellschaft unverzichtbar sind, da sie einen wesentlichen Faktor der Selbstbegegnung und der Strukturierung des freien Raums als sozialen Lebensraum außerhalb der Sachzwänge der Existenzerhaltung darstellen«. 45 Umso mehr stellen sich damit Anforderungen an die bauliche (Um-)Gestaltung einer für profane Folgenutzungen entweihten Kirche.
42
Ebd., S. 167. Ebd., S. 171. 44 Schmitz (1995), S. 92. 45 Albert Gerhards: »Verortung der Suche nach dem Anderen in multireligiös indifferenten Kontexten«. In: Gerhards, Albert/Kim de Wildt (Hrsg.): Der sakrale Ort im Wandel. Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft, Band 12, Würzburg 2915, S. 15–29, hier S. 19. 43
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Säkularisierung und die Folgen
Allzumal in der Moderne verliert sich die traditionelle, über Jahrhunderte gewachsene Macht der Kirche(n) als moralische Instanz. Verluste der Anerkennung erreichen in einigen Ländern eine tendenziell fundamentale Dimension (in den ehemals sozialistischen Staaten, aber auch zum Beispiel in den Niederlanden). In anderen Ländern ist der Prozess im Sinne einer kontinuierlich zehrenden Zersetzung eher schleichend (wie u. a. in Deutschland). In der Folge wird nicht nur die symbolische Ansprache durch die Kirche als Institution schwächer, sondern auch ihre Macht im gesellschaftlichen Kampf um die Durchsetzung ethischer Leitlinien. Von diesem Transformationsprozess, den Friedrich Nietzsche vorausgesehen hatte 46, sind die Sakralbauten insofern zunächst nicht betroffen, weil sich die Menschen zwar von der Kirche als Institution distanzieren, nicht auch aber mit derselben Konsequenz von ihren Bauten. Tatsächlich hat ein gravierender Mitgliederschwund auch eine geringere Frequentierung der Gebäude zum Zwecke der Teilnahme an kirchlichen Predigten, Festen und liturgischen Praktiken zur Folge. Spätestens dann werden die gemiedenen Kirchen auf ihre Zukunftsfähigkeit hin geprüft. Wenn ihr Zweck letztlich ganz oder teilweise verloren gegangen ist, müssen sie von ihren Trägern notgedrungen als kostentreibende Immobilien betrachtet werden, die nicht länger umstandslos finanziert werden können. Kirchen werden aber auch dann in ihrem Fortbestand fragwürdig, wenn sie die Gläubigen kaum noch für ihre Versammlung ansprechen, weil ihre eigenartige Architektur dem veränderten ästhetischen Empfinden nicht mehr entspricht. Hiervon sind in besonderer Weise jene vor allem evangelischen Kirchen betroffen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in demonstrativ-modernen Stilen errichtet worden sind. Bevor der Abbruch eines Bauwerkes als letzte Maßnahme zur Abwehr einer finalen kirchlichen Finanzkrise unvermeidbar wird, 46
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hgg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, Band 6.
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werden Folgenutzungen erwogen, zu denen auch Mischnutzungen gehören. Die Deutsche Bischofskonferenz hat eine Reihe von Leitlinien zur Bewertung anstehender Umnutzungsperspektiven erlassen. Folgenutzungen sollen danach »einfühlsam« sein, 47 denn »die Würde des Raumes setzt der profanen Nutzung Grenzen« 48. Nutzungen, die »mit der Heiligkeit des Ortes unvereinbar« 49 sind, soll entgegengetreten werden. Im Sinne einer Positivliste werden als mögliche Perspektiven unter anderem genannt: »Wohnungen, Galerien, Büros, Werkstätten usw.« Eine neue Nutzung soll »dem Charakter des Gebäudes nicht zuwiderlaufen« 50. Insbesondere solche Verwendungsformen dürften den Konflikt hervorrufen, wie sie in manchen niederländischen Großstädten mit dem dauerhaften Betrieb von Discotheken oder ähnlichen Eventorten realisiert worden sind. Auch die temporäre Nutzung einer entweihten Kirche als Kulisse für die Performance einer Modenschau könnte zumindest als strittig gelten, besteht das evidente Interesse der Veranstalter am Kirchenraum doch offensichtlich an der ästhetischen Instrumentalisierung des Numinosen in Verbindung mit dem Erhabenen des Kirchenschiffs für eine extravagant-exzentrische Präsentation von Mode. In »allzu« säkularen (bis hin zu banausisch-rabiaten) Umnutzungen klingt eine kulturell weit fortgeschrittene Abstumpfung gegenüber dem Bedürfnis der Menschen nach einer mythischen Bewältigung existenzieller Fragen des Lebens im Milieu sakraler Atmosphären durch. Aber auch eine Reihe kirchennaher Nutzungen dürfte dem Mythos des heiligen Raumes noch relativ nahestehen. Ein idealtypisches Beispiel stellt die Johannes A Lasco-Bibliothek in Emden dar (s. auch Abb. 4), die in der Kriegsruine einer neogotischen Kirche Platz gefunden hat und das international bedeutsame wissenschaftliche Schrifttum zur Geschichte des evangelischen und calvinistischen Glaubens beherbergt. 47
Sekretariat (2003), S. 13. Ebd., S. 17. 49 Diözesanbischöfliches Dekret, zit. bei Katrin Bauer: Gotteshäuser zu verkaufen. Gemeindefusionen, Kirchenschließungen und Kirchenumnutzungen. Münster u. a. 2011, S. 44. 50 Sekretariat (2003), S. 20. 48
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Jürgen Hasse
Abbildung 4: Johannes A Lasco-Bibliothek (Emden) (Foto: Jürgen Hasse)
3.1 Atmosphärische Transformationen Die konfessionell-religiöse (aber auch die postsakrale) Situation einer vital gelebten Kirche gibt sich in aller Regel atmosphärisch zu verstehen. Die Menschen begreifen in der ganzheitlichen Erfassung der Situation eines kirchlichen Raumes gleichsam intuitiv, dass sie sich in einem Milieu befinden, welches auf komplexe Weise anders ist als ein profaner, infra-gewöhnlicher Ort. Sie müssen, um zu sehen wo sie sind, nicht erst erläuternde Texte lesen. Sie stimmen sich gleichsam von selbst leiblich auf den Vitalton einer 134 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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situationsspezifisch anstehenden Atmosphäre ein. So ist die Atmosphäre einer Hochzeit in ihrem feierlichen Charakter leicht, fröhlich und hoffnungsvoll gestimmt, die einer Bestattung zwar auch feierlich, aber darin doch schwer, dunkel und schmerzhaft. Atmosphären strahlen im Medium der Gefühle die sie rahmenden Bedeutungen vernehmbar aus. Es gibt keinen einfachen Übergang von der Atmosphäre eines numinosen Sakralraumes in eine solche der Meditation oder Esoterik auf der einen Seite, wie des Kommerzes oder spektakulärer Events auf der anderen Seite. Die Transformation vom sakralen zum profanen Raum berührt eine atmosphärische Achillesferse. Eine durch Profanierung ohnehin schon geschwächte Atmosphäre reagiert auf ihre Instrumentalisierung durch eine neue Nutzung umso empfindlicher. Keine wie auch immer programmierte Nischenwelt der Gefühle kann sich im ausgemusterten und »freigewordenen« Kirchenraum praktisch bzw. allokativ einfach niederlassen. Zwar verlieren die Benutzungsregeln, denen Kirchen unterliegen, nach einer Profanierung ihre verhaltensregulierende Macht; das heißt aber nicht auch schon, dass es keine verhaltens- und gefühlsregulierenden Mächte mehr gäbe. So kann auch in einer entweihten Kirche nicht alles sein, was möglich wäre. Dies schon deshalb nicht, weil sich Atmosphären nicht wechseln lassen wie Glühbirnen oder Teppiche. So leicht sich aus dem Verkaufsraum eines Bäckers der eines Konditors machen lässt, so komplex ist der Transfer von einem heiligen Raum in einen säkularen. Die Spürbarkeit des Numinosen setzt eine Reihe von Merkmalen voraus, die sich der situativen (und zugleich institutionellen) Einfassung durch religiöse Rituale, das Gebet sowie spezielle liturgische Praktiken erst verdankt. Sobald diese Fassung von einer profanen Nutzung durchbrochen wird, stellt sich die Frage nach dem Verlust des Numinosen. Dieses muss sich aber nicht schon dann auflösen, wenn ein tradierter kirchlicher Nutzungsrahmen gesprengt wird. Oft beharren residuelle Elemente des Numinosen als Ausdrucksmacht eines Kirchenraumes auch nach seiner Entweihung – zumindest dann, wenn atmosphärische Brücken zum Erhabenen des Bauwerkes lebendig bleiben. Jede Kirche bleibt auch nach ihrer Profanierung – in ihrer Ar135 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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chitektur – eine Kirche. Und nicht jeder Nutzungswandel geht auch mit einer durchgreifenden Veränderung ihrer baulichen Gestalt einher. Erst der räumlich, performativ oder situativ gravierende Wechsel vermittelt auch eine atmosphärisch spürbare Umprogrammierung. Es sind daher in besonderer Weise strukturell signifikante Nutzungsänderungen, die die Frage nach atmosphärischen Kollisionen pointieren. Darin dürfte ein Grund liegen, weshalb die Deutsche Bischofskonferenz nicht jede Folgenutzung gleichwertig neben einer anderen als tolerabel ansieht. Es gibt Gebrauchsformen, die sich mit der Aura des »heiligen Ortes« vertragen, aber eben auch solche, die diese zunichte machen. Das Bedürfnis, auch über die Grenze der Profanierung hinaus die schlimmsten Brüche und Widersprüche zu vermeiden, führt zumindest zur Empfehlung von Nutzungspräferenzen wie zur Benennung von Inkompatibilitäten. So heißt es unter anderem: »Wenn eine Kirche in keiner Weise mehr zum Gottesdienst verwendet werden kann und keine Möglichkeit besteht, sie wiederherzustellen, kann sie vom Diözesanbischof profanem, aber nicht unwürdigem Gebrauch zurückgegeben werden«. 51 Je herausragender die baukulturelle und ästhetische Eigenart historischer Kirchenbauwerke, desto größer die Attraktivität für spezifische Folgenutzungen. Das in diesem Sinne wohl bekannteste Beispiel findet sich in Maastricht 52, wo in eine gotische Dominkanerkirche aus dem Jahre 1294 (jedoch seit 1796 nicht mehr als sakraler Raum genutzt) eine Buchhandlung eingezogen ist. 3.2 Hybride Atmosphären – das Beharrende Profanierte Kirchen sind nur in einem weiteren Sinne anderen aufgelassenen Gebäuden wie Lagerhallen oder öffentlichen Schulen ähnlich. Zwar können die einen wie die anderen auf neue 51
Ebd., S. 44. Gonni Engel: »Geistige Erbauung. Umnutzung einer Kirche in Maastricht zur Buchhandlung«, in: Bauhandwerk, Heft 11/2008; https://www.bauhandwerk.de/ artikel/bhw_Geistige_Erbauung_Umnutzung_einer_Kirche_in_Maastricht_ zur_Buchhandlung_47153.html (Stand: 2. 2. 2019).
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Weise »eingeräumt« 53 werden; während beim Austausch einer profanen Nutzung durch eine andere lediglich pragmatische, architektonische und rentabilitätsspezifische Probleme zu lösen sind, stellen sich an der Schwelle der Neubelebung einer »ausgemusterten« Kirche komplexe wie diffizile Probleme. Mit jeder Umnutzung einer Kirche baut sich eine Spannung zwischen christlichen und säkularen Werten auf. Der Theologe Romano Guardini merkt dazu an: »Christentum und Kultur stellen sich gegenseitig in Frage. Und beide wissen darum«. 54 Es dürfte indes von der zuständlichen Situation einer Gesellschaft abhängen, ob sich diese mehr oder weniger von christlichen bzw. religiösen Werten distanziert oder sie (wie in Deutschland) geradezu reibungslos als Maßstab politischen Handelns anerkennt. 55 Potentielle Betreiber einer durch Profanierung zur Umnutzung »frei« gewordenen Kirche streben in aller Regel danach, die aus der Synthese von Erhabenem und Numinosem resultierende atmosphärische Ausdrucksmacht, soweit sie wenigstens in Relikten noch ansteht, gleichsam recycelnd in neue Nutzungen einzuschreiben. Diese Option wird zum Beispiel dann aktuell, wenn eine ehemalige Kirche als performatives Milieu für die Inszenierung einer Modenschau genutzt wird oder wenn Hotels und Restaurants mit »coolen« Speisesälen in einen einst sakralen Raum einziehen. Wo die Innenwände einer Kirche dagegen zur motorischen und sportlichen Herausforderung (wie in Manchester) erklettert werden und das riskante Steigen in wettergeschützte Höhen den sportlich packenden Nervenkitzel garantiert, verliert sich der Stoff des heiligen Raumes tendenziell in Gänze, die Aura der Weihe des Raumes löst sich auf und das atmosphärische punctum des Numinosen verschwindet. Von der Aura des Heiligen Raumes bleibt dann nicht viel, das sich – in seiner synästhetischen Strahlkraft abgeflacht und verblasst – noch produktiv in ein neues Mi53
Vgl. Martin (1993), S. 111. Romano Guardini: Liturgische Bildung, Burg Rothenfels am Main 1923, S. 89. 55 Vor dem Hintergrund der kulturell und intellektuell lebendigeren Zeiten der 1920er Jahre sah Guardini eine Kultur immer danach streben, »sich als das Eigentlich-Endgültige zu konstituieren und sich vor jener Gefährdung durch die Religion zu schützen.«; ebd. 54
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Jürgen Hasse
Abbildung 5: Inseln des Numinosen in einer profanierten Kirche (Grabplatten) (Foto: Jürgen Hasse)
lieu integrieren ließe. Fraglich ist auch, inwieweit sich Relikte numinoser Atmosphären nach dem möglichen Ende einer rüden Umnutzung wieder »auftauen« lassen. Als »erster« Stoff allen Interesses von Folgenutzern am NichtMateriellen des ehemals numinosen Raumes bietet sich das Erhabene an. Es geht von der Architektur eines Raumes aus und bedarf weder ritueller Handlungen noch der Versammlung Gläubiger. Oft genug lebt im Erhabenen der Architektur einer Kirche trotz förmlicher Entwidmung ein beharrender Rest des Numinosen in gleichsam hybriden Atmosphären fort. Residuelle Spuren des Religiösen klingen in Dingen und materialisierten Spuren liturgischer Praktiken nach – im Ausdruck abgetretener Grabplatten im Boden, einer Nische in der Wand, einer ornamentreichen Säule oder dem magischen Ort der Apsis. Ein flüchtiger »Geruch« des Numinosen bleibt in Gestalt atmosphärischer Transzendenz an den Stoffen einer Kirche haften oder wird sogar noch vom Mythos des heiligen Raumes durchwoben. Ein Altar kann zwar in seiner Materialität demontiert werden, der Geist seines Ortes jedoch nicht einfach von diesem weggetragen werden. Wo in der architektonischen Gestalt eines Sakralbaus Atmosphären des Erhabenen über die Profanierung hinaus gegenwärtig sind, hallt unter bestimmten Bedingungen ein gleichsam verinselter Vitalton des Numinosen nach. Mitunter hängt das Numinose 138 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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Abbildung 6: Inseln des Numinosen in einer profanierten Kirche (Kerzennische) (Foto: Jürgen Hasse)
dann nur noch punktuell am verorteten Artefakt (s. Abb. 5 und 6). Wo der Mythos über die Dauer einer facettenreichen Zeit liturgischer Praktiken sowie aus der Kraft der Rituale an Dingen und materialisierten Orten kultiviert wurde, mag er auch nach der Entwidmung einer Kirche noch stark genug sein, um fortan wahrgenommen und gespürt werden zu können – wenn auch nur punktuell, residuell und auf örtlichen wie mnemonischen Inseln im ehemals heiligen Raum. Besondere Aufmerksamkeit verdienen sakrale Folgennutzungen, die unmittelbar von Atmosphären des heiligen Raumes profitieren. Das ist zum Beispiel bei der Umgestaltung einer Kirche in einen Urnen-Begräbnisplatz der Fall, weil Gefühle der Trauer und die transzendentale Gegenwart des Todes von der Spürbarkeit des Numinosen im ehemaligen Kirchenraum eingefasst werden (s. Abb. 7). In ähnlicher, wenn auch schwächerer Weise lebt der spürbare Gefühlsraum des Göttlichen in der theologischen Johannes A Lasco-Bibliothek in Emden fort (vgl. Abb. 3.). Noch die Umnutzung einer entwidmeten Kirche zur Tafel folgt einem mit139 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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menschlichen Programm der Nächstenliebe und steht deshalb dem narrativen Milieu christlicher Werte nahe. Sie folgt der Logik der Gabe (hier von Lebensmitteln für Arme), im Unterschied dazu die Kletterkirche der Lust des Nehmens (von Spaß und Vergnügen). Bestimmte – vielleicht die meisten – Raum- und Gebäudenutzungen stehen der Erhaltung atmosphärischer Relikte des heiligen Raumes jedoch eher entgegen. Dabei ist der Grad von Kompatibilität wie Inkompatibilität nur im Einzelfall zu erkennen, kommt es doch auf die an Ort und Stelle im Detail vollzogene Integration des einen ins andere an. Inwieweit zumindest Relikte numinoser Atmosphären in eine neue Raumqualität hinüber-»gerettet« werden können, ist von vielen Nutzungsmomenten abhängig, die sowohl baulich als auch performativ disponiert sind. Eine spezifische und von Grund auf andere Situation stellt sich in der Umnutzung protestantischer Kirchenneubauten dar, die als Folge ihrer architektonischen Konzeption nach Prinzipien des modernen industriekulturell seriellen Bauens ohnehin aus sich heraus kaum numinose Atmosphären zustande gebracht haben – oft noch nicht einmal solche des architektonisch Erhabenen. 56 So werden diese modernen Bauten deshalb auch für eine Folgenutzung kaum interessant.
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Dabei entsprach der weitgehende Verzicht auf die Ästhetisierung des sakralen Raumes durchaus der protestantisch-lutherischen Glaubenslehre, spiegelt die funktionalistische Kühle solcher Kirchen doch nur wider, was den Protestantismus programmatisch ausmacht. Beeindruken soll das Wort und nicht das Bild bzw. der ästhetisierte Raum. Luther zog daraus unmissverständliche Konsequenzen für das Verhältnis des Protestantismus zum Kirchenbau: »Es were besser, das man alle kirchen und stifft ynn der wellt außwutzelett und tzu pulver verbrentt […]«; zit. bei Helmut Umbach: Heilige Räume – Pforten des Himmels. Vom Umgang der Protestanten mit ihren Kirchen, Göttingen 2005, S. 212. Über die lutherische Kirche sagte Otto treffend: »Die Kirche wurde Schule, und ihre Mitteilungen gingen dem Gemüte indertat […] mehr und mehr nur ›durch die schmale Ritze des Verstandes‹ zu«, Otto (1924), S. 126. Danach verdankt sich die autosuggestive atmosphärische Macht einer gemeinsamen Situation Gläubiger allein deren gemeinschaftlicher Versammlung.
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Abbildung 7: Grabeskirche Liebfrauen (Dortmund) (Foto: Jürgen Hasse)
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Kollektive Trauer Formen der Vergemeinschaftung durch nahes und fernes Leid Fälle massenhafter kollektiver Trauer wie etwa anlässlich des Todes von Prinzessin Diana scheinen für die Möglichkeit geteilter Trauer von anonymen Vielen zu sprechen. Zugleich ist die Tatsache, dass Trauer vereinzelt und daher mehr trennt als verbindet bekannt: Trauernde sind verschlossen, verlieren ihr Interesse an der Außenwelt und ziehen sich teils völlig aus dem sozialen Leben zurück. Diesen Befund gilt es ernst zu nehmen, um angemessen zu verstehen, wie Trauer dennoch geteilt werden kann. Ein Schwerpunkt liegt im Folgenden auf jener Form der gefühlsmäßigen Vergemeinschaftung, die sich über Affektregulation vollzieht. Untersucht wird dies an Trauerfällen anlässlich des Todes einer nahestehenden Person, wobei modellhaft die Interaktionen zwischen den vom Trauerfall Betroffenen mit Trauerbegleitenden in den Blick genommen werden. 1
Die Vereinzelung durch Trauer und der Verlust des Anhalts an der Welt
Mit den folgenden Worten klagt – in einem spätmittelaterlichen Text aus dem Jahre 1400 – der »Ackermann« vor Gott gegen den Tod. Er klagt über den unwiederbringlichen Verlust seiner geliebten Frau und die irreparable Beschädigung seines Lebens: »Ihr habt meines Glückes Halt, meine auserwählte Turteltaube arglistig entführt; ihr habt unwiderbringlich Raub an mir getan. Erwägt selber, ob ich nicht billig zürne, wüte und klage. Von euch bin ich des glückreichen Wesens beraubt, jeglicher guten Lebenstage bestohlen und alles wonnebringenden Besitzes entäußert. Freudig und froh
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war ich zu aller Stunde […]. Nun wird zu mir gesprochen: Schab ab! Bei trübem Trank, auf dürrem Ast, verkümmert, verdunkelt, verdorrt bleib und heul ohn Unterlaß! Also treibt mich der Wind: Ich schwimme dahin durch des wilden Meeres Flut. Die Wogen haben überhand genommen. Mein Anker haftet nirgendwo. Darum will ich ohn Ende schreien: Tod, sei verflucht!« 1
Trotz des zeitlichen Abstands lesen wir in diesem Text jene Kennzeichen tiefer Trauer, die wir für die Moderne und ihren Individualismus für typisch halten könnten: die Unersetzbarkeit des persönlichen Verlusts, die Einzigartigkeit der (Liebes-)Gemeinschaft mit der verstorbenen Person, der Verlust des Anhalts an der Welt 2 und der Rückzug aus dieser, die Unversöhnbarkeit der Haltung, wobei sich Trauer mit Wut und Zorn mischen sowie die Verdammung zu Einsamkeit. 3 Der Text spricht deutlich von der Untröstlichkeit des Betroffenen. 4 Angesichts einer solchen Trauer, wie sie in dieser Klage exemplarisch zutage tritt, scheint es geradezu ausgeschlossen, diese teilen zu können. Oft ist um Trauernde ein Nimbus der Unberührbarkeit und Unnahbarkeit, der es schwer macht, überhaupt an sie ›heranzukommen‹. Jedes Wort, das man ihnen sagen könnte, ist zu banal, jede Handlung scheint unangemessen. 5 Ein Hiatus trennt die Trauernden von anderen Menschen. Jene scheinen aus der gemeinsamen Welt gefallen zu sein. Und obwohl dieser mittelalterliche Text klagend beredt ist, so wird doch die Unartikulierbarkeit der Trauererfahrung thematisch, indem die Trauer nur negativ, in der Verfluchung des Todes und in der Aufzählung der Schönheiten des Lebens, deren der Trauernde nun beraubt ist, aufscheint: »unersagbares Her-
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Johannes von Saaz: Der Ackermann und der Tod, übertragen von Hans Franck, Gütersloh 1963, S. 9 f. 2 Siehe oben: »treibt mich der Wind […]. Mein Anker haftet nirgendwo.« 3 von Saaz (1963), S. 25 f.: »Wo Trost suchen? Wohin Zuflucht nehmen?« 4 von Saaz (1963), S. 15: »trauern muß ich immer«; von Saaz (1963), S. 18: »bis an mein Ende beraubt bleiben muß aller Freuden«. 5 Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, Paderborn 1989, S. 125–134.
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zensleid« 6 – sodass schließlich nur das Aushalten der schweren Stille als ein Modus des angemessenen Anteilnehmens infrage kommt. 7 Um diesen (sozialen) Hiatus und die Vereinzelung der Person durch Trauer, welche dem Teilen von Trauer entgegenstehen, phänomenologisch aufzuklären, soll zunächst aufgezeigt werden, dass der Verlust einer geliebten Person bedeutet: Für die Betroffenen geht der einst gemeinsame, die Person aber fundierende Anhalt an der Welt verloren. Hierbei greife ich auf die Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty zurück. Mithilfe der Neuen Phänomenologie werde ich darüber hinaus zeigen: Trauernde sind durch das Zerbrechen der einst gemeinsamen Situation mit der Verstorbenen 8 auch in ihrer Fähigkeit getroffen, mit Anderen in eine gemeinsame Situation einzutreten und damit auch, Trauer teilen zu können. 9 1.1 Geliebte Andere als Mittler meines Zur-Welt-seins – ihr Tod als Zerbrechen des gemeinsamen Anhalts an der Welt Merleau-Ponty beschreibt in der Phänomenologie der Wahrnehmung das Liebesverhältnis nicht nur als affektive interpersonale Bindung, sondern als ein gewandeltes Weltverhältnis. Denn die geliebte Person wird »Mittlerin meines Bezuges zur Welt«, 10 das heißt das Verhältnis zu ihr geht in das je eigene »Grundverhältnis
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von Saaz (1963), S. 45. Zum Aspekt versagender Sprache als einem zwiespältigen Ausdruck von Trauer vgl. Burkhart Liebsch: »In Worte(n) gefasst (?). Zum Verhältnis von Sprache und Trauer«, in: Seraina Plotke/Alexander Ziem (Hrsg.): Sprache der Trauer. Verbalisierung einer Emotion in historischer Perspektive, Heidelberg 2014, S. 19–47 (S. 23). 8 Die weibliche und die männliche Sprachform sind zufällig gewählt und wechseln ab. Natürlich sind stets alle Gender gemeint. 9 Diese beiden phänomenologischen Ansätze werden hier komplementär eingesetzt. 10 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen von Rudolf Boehm, Berlin 1966, S. 431. 7
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zur Welt und zum Anderen ein«. 11 Es betrifft demnach auch andere zwischenmenschliche Kontakte. Die Liebenden sind sozusagen ›durch einander‹ zu Welt und zu Anderen. Bei Liebenden wird daher, und ich denke dieser Punkt gilt gleichermaßen für die Liebe von Eltern und Kindern, das je eigene Zur-Welt-sein konstitutiv an die Partner gebunden und durch diese vermittelt – und damit zugleich alle basale, leiblich entspringende Bewegung auf die Welt zu. Denn das Zur-Welt-sein ist stets primär leibliches Zur-Welt-sein. Die Liebenden sind demnach Miteinander-leiblich-zur-Welt in einem fundierenden Sinne. Das eigene Weltverhältnis wird damit präpersonal wie personal durch die Perspektiven der geliebten Anderen grundlegend verändert. Die Art der wechselseitigen Bezogenheit lässt sich beispielsweise daran illustrieren, dass uns unmittelbar nahegeht, was unsere Lieben erleben, wir nehmen teil an ihrer Perspektive auf die Welt und auch was sie affektiv berührt und involviert geht uns nahe. 12 Dies verdeutlicht, dass der Tod eines geliebten Menschen eine grundlegende Erschütterung verursacht, da das Zur-Welt-sein, das seinen Anhalt mittels des Anderen an der Welt gefunden hatte, mit dessen Tod zerbricht. Es ist ja nicht so, dass da nur jemand fehlt in der stillgewordenen Wohnung, beim Reisen und bei den früher gemeinsamen Unternehmungen (wobei auch dies sein kann), sondern die Welt selbst macht keinen Sinn mehr. Es gibt kein Reisen und Wohnen mehr ohne die oder den Geliebten. 13 Der Verlust des Anhalts an der Welt zeigt sich unterschiedlich, zum Beispiel an Beschreibungen, die explizit die räumliche Entwurzelung und das Umhergetriebenwerden artikulieren. So bildet etwa in David Grossmans großem Trauerbuch »Aus der Zeit fal11
Merleau-Ponty (1966), S. 404. Man vergleiche hier das Beispiel von Angelika Krebs mit Referenz auf Scheler, dass eine Kränkung des einen Partners zwischen Liebenden Thema wird und auch als Kränkung von beiden erlebt wird. Vgl. Angelika Krebs: Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe, Frankfurt am Main 2015, S. 116. 13 Vgl. einen ähnlichen Punkt zu Trauer bei Matthew Ratcliffe: »Relating to the Dead: Social Cognition and the Phenomenology of Grief«, in: Thomas Szanto/ Dermot Moran (Hrsg.): Phenomenology of Sociality. Discovering the ›We‹, New York/London 2016, S. 202–215 (insbes. 204–209). 12
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len« das ruhelose nächtliche Umherziehen der Väter (teils auch Mütter), die ihre Kinder verloren haben, das strukturbildende und die Narration tragende Element. 14 Der Verlust des Anhalts an der Welt zeigt sich auch an der Unfähigkeit Trauernder, den Alltag zu ›meistern‹ und die schlichtesten Routinen aufrechtzuerhalten. 15 Hierher gehört auch der Rückzug der Person von der Welt, das Erlöschen des Interesses für die Außenwelt, ein Rückzug aus Sozialkontakten und aus gemeinsamen Unternehmungen bis hin zum Sich-Einschließen in Zimmer, Wohnung oder Haus. Mithilfe der Neuen Phänomenologie zeigt sich der Verlust des Anhalts an der Welt als ein Zerreißen der einst gemeinsamen Situation mit der verstorbenen Person, und zwar einer spezifischen Art Situation, nämlich zuständlicher und implantierender gemeinsamer Situation. 16 In dieser sie tragenden Situation waren die Liebenden oder auch Familienmitglieder miteinander leiblich ›verwoben‹ eingebettet, daher ist die je eigene persönliche Situation eines jeden Einzelnen darin verschränkt gewesen. Deshalb ist durch das Zerreißen der gemeinsamen, zuständlichen und implantierenden Situation auch die Identität der zurückgebliebenen Menschen betroffen, sie erleiden einen partiellen Selbstverlust, wie auch aus (Selbst-)Beschreibungen hervorgeht. 17 Da die einstige situative Eingebettetheit mit der Partnerin die leiblich-intersubjektive Grundlage für das Dasein der Verbliebenen bildete, ›beschädigt‹ deren Verlust diese Personen tiefgreifend: Zum einen führt starke Trauer zu einer extremen Erschütterungserfahrung im Sinne personaler Regression 18 und ggf. zur Unfähigkeit, sich wie14
David Grossman: Aus der Zeit fallen. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, München 2013. 15 Wie etwa in Whybrows Beschreibung in Ratcliffe (2016), S. 205. 16 Mit der Neuen Phänomenologie lassen sich unterschiedliche Modi gemeinsamer Situationen unterscheiden. Zentral ist bei implantierender zuständlicher gemeinsamer Situation, dass die Partner leiblich-intersubjektiv miteinander in diese ›eingewachsen‹ sind. Vgl. Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg/München 2005, S. 18–32. 17 Vgl. etwa zum erschütterten Selbstbild Ulrike Backhaus: Personzentrierte Beratung und Therapie bei Verlust und Trauer, München/Basel 2017, S. 38. 18 Dieser Fachterminus der Neuen Phänomenologie verweist auf ein Erleben starker Fassungslosigkeit und Überwältigung von der Trauer. Die Person ist hier-
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der zu fassen und damit in neue (gemeinsame) Situationen mit Anderen eintreten zu können. Zum anderen kann das Zerreißen der tragenden gemeinsamen Situation die Zurückgebliebenen bis in die Grundlage leiblicher Vitalität hinein treffen 19 – man vergleiche hierzu in der eingangs zitierten Textpassage aus Der Ackermann und der Tod die Verdorrungsmetaphern und die Bilder der Leblosigkeit. Hierdurch ist die Fähigkeit herabgesetzt, in neue gemeinsame Situationen einzutreten, auf Andere zuzugehen, an Projekten teilzuhaben etc. Damit aber ist das Teilen von Trauer erschwert, denn es beruht immer auf sich zu Anderen öffnender leiblicher Interaktion. 1.2 Die caligo der Düsternis und der akathartische Charakter der Trauer Trauer vereinzelt ganz grundlegend auf der leiblichen, nicht erst auf der personalen Ebene. 20 Die Vereinzelung ist also nicht von den Personen ›beschlossen‹ und ›gemacht‹, sondern wird leiblich erlitten: Die Trauer wird als machtvolle und bedrückende Atmosphäre erlebt, in die das gesamte Erleben eingetaucht ist und welche die Betroffenen mit Vereinzelung und Rückzug ›belegt‹. Die Trauer wird leiblich spürbar als Last und Bedrückung erfahren, als Herabgedrücktwerden, Bedrücktsein, auch als Versinken
bei ihrem leidvollen leiblichen Fühlen derart stark ausgesetzt und darin versunken, dass zentrale personale Fähigkeiten nicht (voll) wahrgenommen werden können. Vgl. hierzu Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 156–158. 19 Und zwar durch eine Störung des vitalen Antriebs. Zu diesem Aspekt leiblicher Kommunikation vgl. z. B. Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 34–43 (insbes. S. 38 f.). 20 Aus Platzgründen kann ich hier nicht die Grundkonzepte von Leib, Person und Fühlen einführen. Mein Beitrag setzt daher eine grundlegende Vertrautheit mit der Neuen Phänomenologie voraus. Zum Verhältnis von Leib und Person vgl. Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz, Freiburg/München 2016, S. 215–221.
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in Trauer. 21 Redewendungen drücken dies aus: Der Kummer »drückt« die Traurigen »nieder« oder »lastet« auf ihnen, der erlittene Schicksalsschlag wird als »schwer« empfunden. 22 Dies hat mit dem veränderten leiblichen Befinden zu tun; das affektive Betroffensein von Trauer 23 verändert den leiblichen Raum, es greift an den leiblichen Richtungen an. 24 Weiterhin wird Trauer als leiblich engend erfahren, die leiblichen Richtungen sind stark nach innen gekehrt, man vergleiche etwa die Redewendung, das Herz ziehe sich vor Trauer im Leib zusammen. 25 Dies ist nicht nur metaphorisch zu verstehen, sondern dem leiblichen Erleben kommt eine primäre Sinnhaftigkeit zu, die Grundlage für übertragene Bedeutungen ist. 26 Die herabdrückenden und engenden leiblichen Richtungen sind auch sichtbar für Andere im Gefühlsausdruck und im Gefühlsverhalten: Die Trauernden sind gebeugt, bedrückt; die engende Wirkung der Trauer ist verschließend, das heißt die Trauernden sind in sich gekehrt (das »Herz« »verschließt« sich). Die Atmosphäre der Trauer, die sich über die Betroffenen legt, wird als machtvoll erfahren, als eine caligo, eine kummervolle Wolke, in der sie befangen sind. 27 Die Welt ist ihnen in Düsternis getaucht, eine (leiblich-affektiv wahrgenommene, nicht etwa optische) Trübung legt sich über alles. 28 Dabei durchstimmt die Trauer atmosphärisch das ganze Erlebnisfeld der betroffenen Per21 Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum. System der Philosophie III.2, Bonn 2005, S. 79 f., 120 f. Nachfolgend als: Schmitz (2005/2). 22 Schmitz (2005/2), S. 161. 23 Affektives Betroffensein von Trauer meint das subjektive, leiblich spürbare Ergriffensein von Trauer, das als Widerfahrnis erlebt wird, indem jemandem etwas nahegeht: Die Person muss sich mit affektivem Betroffensein auseinandersetzen, es verlangt eine Art Bewältigung und ›Stellungnahme‹. Vgl. Schmitz (2016), S. 221–244. (insbes. S. 222 f.). 24 Zur Struktur des leiblichen Raumes und den leiblichen Richtungen im Zusammenhang mit affektivem Betroffensein vgl. Schmitz (2005/2), S. 150–165. 25 Schmitz (2005/2), S. 162. 26 Schmitz (2005/2), S. 201. 27 Schmitz (2005/2), S. 108, 110. 28 Vgl. bei Homer die »schwarze Wolke des Kummers« – erwähnt in: Schmitz (2005/2), S. 186.
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son, ihr gesamtes Zur-Welt-sein, ihre existenzielle Situation. 29 Trauer in der leiblichen Selbstwahrnehmung unterscheidet sich grundlegend von Trauer, aufgefasst als messbarer physiologischer Zustand. Hier ist auf Deskriptionen des eigenleiblichen Erlebens zu verweisen. So erscheint beispielsweise »eine Stadt, die von einer geliebten Person verlassen worden ist, dem dort zurückgebliebenen Liebhaber oft gleichsam in einem neuen »Licht« […], nämlich im Licht der Trauer, in die als Atmosphäre für ihn nun alles eingetaucht ist, was ihm dort begegnet.« 30 Trauer vereinzelt jedoch noch gravierender als andere engende Gefühle, da sie von sich aus zunächst akathartisch, ohne Abfuhrmöglichkeit ist: »Trauer ist eine akathartisch bedrängende Erregung. Akathartisch bedrängene Erregungen sind solche, die – anders als Freude, Wonne oder Bewunderung – den Betroffenen leiblich engend ergreifen und dadurch in drangvolle Verlegenheit stürzen, ohne doch, wie Zorn und Scham […], von sich aus kathartisch, d. h. darauf angelegt zu sein, sich auszulassen und dadurch aufzuheben, wie Zorn in der Rache, Scham in der Selbstdemütigung oder Selbstvernichtung.« 31
Damit gehört Trauer wie Furcht und Jammer (im Sinne von Aristoteles’ Tragödientheorie) zu jenen belastenden Gefühlen oder Affekten, 32 die aufgrund der sich auf den Leib übertragenden Richtungen per se zunächst keine »Aussicht auf Abfuhr« 33 mit sich bringen. Trauer erschwert ihre Bewältigung.
29
Schmitz (2005/2), S. 105 f. Schmitz (2005/2), S. 315. 31 Schmitz (2007), S. 470. 32 »Affekt« und »affektiv« werden hier bevorzugt verwendet, da sie das pathische Moment des Fühlens betonen; sie können aber auch durch »Gefühl« und »gefühlsmäßig« ersetzt werden. 33 Schmitz (2007), S. 470. 30
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Mit Trauernden in gemeinsamer Situation: Leibliche Resonanz und der Aufforderungscharakter fremden Leids
Habe ich bisher ausgeführt, aus welchen Gründen Trauer vereinzelt, so ist doch zu berücksichtigen, dass die Trauer Anderer uns in einer gemeinsamen Situation mit ihnen, etwa einer Begegnung, sehr wohl in der primären leiblichen Wahrnehmung anrührt, uns unmittelbar nahegeht und wir uns zum Anteilnehmen aufgefordert fühlen. Mithilfe phänomenologischer Theorie lässt sich die unmittelbare leibliche Evidenz fremder Trauer aus der grundlegenden leiblichen Intersubjektivität erklären: Vor aller kognitiven, etwa denkenden oder urteilenden Bezugnahme auf den Anderen und dieser zugrundeliegend ist mir der Andere in Interaktion und Wahrnehmung leiblich unmittelbar zugänglich, und zwar als »vorpersonales Subjekt« 34 – insofern ich selbst stets auch ein solches bin, das ihn leiblich wahrnimmt. Die unmittelbare leibliche Evidenz über die Trauer des Anderen wird dabei am eigenen Leibe spürbar erfahren, durch das veränderte eigene Zumutesein, durch leibliche Resonanz: Über leibliche Kommunikation 35 – und das umfasst leibliche Interaktion, aber auch passive Momente des Spürens – geht mir fühlbar das Befinden des Anderen nahe, sein Leid und seine Trauer gehen deutlich von seinem Ausdruck und Verhalten aus. 36 Ich fühle mich in seiner oder ihrer Anwesenheit beengt und bedrückt. Der Trauerausdruck des Anderen stellt dabei eine Aufforderung an mein leibliches Rechnungtragen dar – die Trauer der Anderen spricht mich leiblich 34
Merleau-Ponty (1966), S. 404; Merleau-Ponty (1966), S. 407 f.: »Ich nehme den Anderen als Verhalten wahr: z. B. nehme ich in seinem Verhalten, in seinem Gesicht und an seinen Händen, die Trauer oder den Zorn des Anderen wahr, ohne jede Anleihe bei einer »inneren« Erfahrung von Leiden oder Zorn, vielmehr insofern Trauer oder Zorn zwischen Leib und Bewußtsein ungeteilte Weisen des Zur-Welt-seins sind, sich darbietend im Verhalten des Anderen, wie es an seinem phänomenalen Leib sichtbar ist […].« 35 Schmitz (2016), S. 183–210. Leibliche Kommunikation ist wesentlich an der Bildung gemeinsamer Situationen beteiligt. 36 Hermann Schmitz: Die Aufhebung der Gegenwart. System der Philosophie V, Bonn 1990, S. 82.
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an, sie verlangt nach einer Antwort. 37 Jedoch kann ich mich hiervon auch distanzieren. Hier möchte ich mit Hinweis auf die leibliche Vereinzelung durch Trauer betonen, dass die Trauer des Anderen wegen der Umkehr der leiblichen Richtungen nach innen repulsiv oder abweisend wirkt: Zwar rührt mich die Trauer des Anderen leiblich an, aber »ihr Anruf« ist zugleich voll »Hinweg!« – um es mit einer Wendung von Rilke zu sagen. 38 Auch auf der Ebene leiblicher Resonanz bestehen also Hemmnisse für ein Teilen von Trauer. Letztlich ist diese Resonanz dann eine Form des Mitleids, so wie Schmitz es versteht, nämlich Mitleid als ein primäres Sympathiegefühl. 39 Leid und Trauer strahlen dabei atmosphärisch vom Trauernden auf den Mitleidigen oder besser Mit-Leidenden aus: Der Bemitleidete steht für den Mitleidenden »gleichsam eingeschmolzen in sein Leid, von diesem übergossen« 40 da und zwar zunächst in der primären leiblichen Wahrnehmung, vor kognitiven Erwägungen, die sich hierauf zurückbeziehen. Die gemeinsame Situation und die Interaktionen von Trauernden und Begleitenden sind daher von der Trauer atmosphärisch durchdrungen. Diese leiblich spürende Wahrnehmung hat bereits den Cha37
Zu leiblicher Resonanz vgl. Hilge Landweer: »Gemeinsame Gefühle und leibliche Resonanz«, in: Undine Eberlein (Hrsg.): Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen, Bielefeld 2016, S. 137–174 (S. 151–160) sowie: Thomas Fuchs: »Intercorporeality and Interaffectivity«, in: Christian Meyer/Jürgen Streeck/J. Scott Jordan (Hrsg.): Intercorporeality: Emerging Socialities in Interaction, Oxford 2017, S. 3–24. 38 Siehe das Ende der siebenten Elegie von Rainer Maria Rilkes »Duineser Elegien«. 39 Während meist davon ausgegangen wird, dass es sich bei dieser Klasse von Gefühlen, den Sympathiegefühlen, um solche des Anteilnehmens handelt, die sekundär gegenüber dem Fühlen der Mitmenschen sind, also das Fühlen des Anderen zum Gegenstand haben, plädiert Schmitz interessanterweise dafür, Sympathiegefühle als primäre Gefühle gelten zu lassen – die jedoch eine Ambivalenz zwischen primär und sekundär aufweisen können. Er revidiert damit auch das Verständnis des Teilens von Gefühlen. Vgl. Hermann Schmitz: Jenseits des Naturalismus, Freiburg/München 2010, S. 164–180 (insbes. S. 164–166). 40 Schmitz (2010), S. 173.
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rakter eines affektiven Berührtseins, stellt aber noch kein Teilen der Trauer im engeren Sinne dar, nur ein spürendes Wahrnehmen der Trauer in der gemeinsamen Situation. Für affektives Teilen muss Zweierlei hinzukommen: a) eigenes subjektives Betroffensein von dieser vom Anderen ausstrahlenden Traueratmosphäre sowie personale Aneignung (statt Distanzierung) dieses affektiven Betroffenseins; b) durch leibliche und personale Kommunikation und Interaktion tragen dann beide Interaktionspartner durch ihre je eigene Trauer zur gemeinsamen Trauersituation bei. Die Trauer kann von beiden angenommen werden – vom Trauernden als die Trauer seiner persönlichen Situation, vom Begleitenden als Trauer in der gemeinsamen Situation mit dem Betroffenen – und in den Interaktionen ausgedrückt werden. 41 Die Interaktion muss aber gegen die Vereinzelung durch Trauer erst einmal gelingen. Jedoch kommt beim Mitleid nach Schmitz eine konstitutive Ambivalenz ins Spiel, da zwar eine gemeinsame Situation (z. B. eine Trauerfeier, ein Kondolenzbesuch oder ein Gespräch) die Trauernde und die Mitleidige umfasst, Letztere aber natürlich nicht in der persönlichen Situation der Trauernden ›steckt‹. Das ursprüngliche Leid betrifft sie daher nie so unmittelbar wie diese. 42 Diese Ambivalenz erschwert natürlich das Teilen der Trauer und privilegiert das Miteinandertrauern unter Personen, die in ähnlicher Weise vom Leid betroffen sind (z. B. weil sie ebenfalls in einer gemeinsamen zuständlichen implantierenden Situation mit der Verstorbenen waren). 43 Mitleid kann auch zu eigenem 41
Es gibt auch Fälle, in denen Betroffene sich gegen die Trauer wehren, etwa versuchen, sich zusammenzunehmen und weiterzumachen wie zuvor, die Trauer nicht zulassen und annehmen wollen. Selbst dann kann Trauer manchmal gerade als abgewehrte atmosphärisch wahrgenommen werden. 42 Schmitz (2005/2), S. 141. Vgl. ebd. insbes. zu Verlegenheit bei Kondolenz. 43 In anderen Emotionstheorien wird diese Ambivalenz als ein Unterschied des intentionalen Gegenstandes der Trauer zwischen der unmittelbar Betroffenen und der Begleitenden oder Mitleidigen gefasst, vgl. etwa das Zitat von Scheler in diesem Text zu Beginn von 3.1. Bereits Merleau-Ponty jedoch versteht das Mittrauern als Leibtheoretiker situativ und nicht mehr in der Sprache differierender Bewusstseinsgegenstände: »[…] wenn ich als Freund an seiner Trauer oder seinem Zorn teilnehme, so bleiben sie doch die Trauer oder der Zorn meines Freundes Paul: Paul leidet, weil er seine Frau verloren hat […], ich aber leide, weil Paul
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affektiven Betroffensein hinzutreten, etwa wenn bei einer Trauerfeier eine Person um einen verstorbenen Freund trauert und zugleich Mitleid mit den trauernden Eltern des Verstorbenen fühlt. 3
Trauer teilen – durch interpersonale Affektregulation unter Trauernden
Gemeinsam trauern umfasst demnach unmittelbare leibliche Resonanz (mit den genannten Erschwernissen) mit den Leidtragenden genauso wie eigenes affektives Betroffensein. Vermittelte bzw. sekundäre Formen von Anteilnahme, wie Nachfühlen oder imaginatives Sich-an-die-Stelle-des-Anderen-Denken, treten hierbei hinzu. 44 In der personalen Dimension kommen die vermittelten Weisen der Anteilnahme zum Zuge; in leiblicher Dimension unmittelbare leibliche Kommunikation zwischen den Anwesenden. Gleichsam in der Mitte zwischen leiblichen und personalen Weisen des Mittrauerns und Anteilnehmens steht nun eine Sonderform des Miteinandertrauerns, die zur Vergemeinschaftung beiträgt und die bislang wenig thematisiert wird: die gemeinsame Trauerbewältigung oder Trauerarbeit. Sie besteht darin, dass die Trauernden untereinander, über ihren wechselseitigen Gefühlsausdruck, ihre Trauer gegenseitig regulieren. »Affektregulation« meint hierbei die ›Bewältigung‹ oder besser individuelle Aneignung und Verarbeitung der Trauer sowie deren Ausdruck. Regulation muss dabei verstanden werden als Formung und Äußerung, nicht notwendig als Dämpfung und Unterdrückung des Traueraffekts. Generell kennzeichnet Regulation das Verhältnis, das die Person zum Affekt einnimmt. Dieses Verhältnis zum Affekt kann ein gemeinsames sein, so die Grundidee – da auf gemeinsamen Interaktionen aufruhendes und in diesen sich vollziehendes, daher also ein genuin geteiltes. Schmerzliches erfuhr […]; die Situationen decken sich nicht«, Merleau-Ponty (1966), S. 408. 44 Vgl. das »Nachfühlen« als »Nachleben« und »Mitfühlen an« in: Max Scheler: Wesen und Formen der Sympathie, Gesammelte Werke Bd. 7, Bern/München 1973, S. 19 f. und 23 f. sowie 142 f.
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3.1 Joel Kruegers Interpretation des Miteinanderfühlens als interpersonale Affektregulation Einen Beitrag auf diesem Gebiet hat Joel Krueger vorgelegt. Mit Referenz auf Max Schelers Konzept des »Miteinanderfühlens« entwirft er ein Modell für eine mögliche Art des Teilens von Gefühlen, die über Affektregulation verläuft, und zwar ausgehend von Schelers Bespiel der gemeinsamen Trauer von Eltern über ihr verstorbenes Kind. 45 Krueger interpretiert dabei Schelers »Miteinanderfühlen« als interpersonale Affektregulation. Er bezieht sich dabei auf folgende Textstelle bei Scheler: »Vater und Mutter stehen an der Leiche eines geliebten Kindes. Sie fühlen miteinander ›dasselbe‹ Leid, ›denselben‹ Schmerz. Das heißt nicht: A fühlt dies Leid und B fühlt es auch, und außerdem wissen sie noch, daß sie es fühlen – nein, es ist ein Mit-einanderfühlen. Das Leid des A wird dem B hier in keiner Weise ›gegenständlich‹, so wie es z. B. dem Freund C wird, der zu den Eltern hinzutritt […].« 46
Krueger versteht seinen Vorschlag für das Teilen von Gefühlen im starken Sinne, nämlich als »the idea that a numerical single emotion can be given to more than one subject«. 47 Dass die Eltern um ihr verstorbenes Kind wirklich gemeinsam und nicht parallel trauern, sieht Krueger erstens dadurch gewährleistet, dass beide Eltern eine gemeinsame Geschichte mit dem Kind und miteinander hatten – er nennt das »narrative intimacy«: »both parents share what we might term a diachronic narrative intimacy […] comprised of an indefinite number of shared experiences, memories, and associations that define the internal history unique to 45
Joel Krueger: »The Affective ›We‹ : Self-Regulation and Shared Emotions«, in: Thomas Szanto/Dermot Moran (Hrsg.): Phenomenology of Sociality. Discovering the ›We‹. New York/London 2016, S. 263–277 (S. 270–273). 46 Scheler (1973), S. 23 f. [Hervorh. i. Orig.]. Vgl. auf Englisch bei Krueger (2016), S. 270. Auch Angelika Krebs interpretiert diese Textstelle und baut von ihr aus ein Modell für echtes Miteinanderfühlen aus. Vgl. Krebs (2015), S. 112– 234. 47 Krueger (2016), S. 263, vgl. auch Krueger (2016), S. 269. Diese numerische Vorstellung ist verdinglichend und entspricht nicht der phänomenologischen und deskriptiven Herangehensweise, die Krueger eigentlich vertritt.
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every family. When gazing at the corpse of their beloved child, both parents draw upon this common stock of family knowledge; since they share this narrative intimacy, the child will, as an object of their mutual grief, be experientially given in a similar way, that is, via a similar network of memories and associations (e. g., his first birthday, learning how to ride a bycycle, playing with his first pet, etc.).« 48
Nach Krueger teilen die Eltern zweitens deshalb ihre Trauer miteinander, weil sie aufgrund ihrer räumlichen und leiblichen Nähe (»synchronic« »intimacy« als »bodily and spatial proximity«) 49 einander in ihrer Affektregulation wechselseitig beeinflussen. Er scheint dies für eine Angleichung im Affekterleben zu halten und beschreibt dies auch so (»mimicry«). 50 Gleichzeitig betont Krueger jedoch personale Differenzen in den Affektäußerungen, sodass unklar wird, warum es sich um ein Teilen von Gefühlen im starken Sinne handeln soll (numerische Identität), wie er es für seinen Vorschlag reklamiert. 51 Richtig ist Kruegers Hinweis auf die gemeinsame Situation der Eltern mit dem Kind und miteinander – nur wird diese Situation bei Krueger leider als Identität des intentionalen Objekts missdeutet. 52 Es wäre jedoch eine grobe Übersimplifizierung zu sagen, die Eltern trauern gemeinsam, weil das Kind bei beiden derselbe Bewusstseinsgegenstand der Trauer mit einem ähnlichen Kontext 48
Krueger (2016), S. 270 f. [Hervorh. N. T.] Krueger (2016), S. 272. 50 Krueger (2016), S. 272: »the mother’s grief expression will trigger a similar response in the father (via mimicry of facial expressions, gestures, postures, etc.), which will in turn modulate the mother’s further responses […].« 51 Krueger (2016), S. 272 f.: »Of course, each partner will offer their own idiosyncratic expressions of grief: one might be more overt, vocal, and florid, one more reserved.« Zur Kritik am numerischen Paradigma generell vgl. Landweer (2016), S. 158. 52 Man vergleiche dazu im oberen Zitat zur gemeinsamen Geschichte und narrativen Intimität die Formulierung »draw upon […] family knowledge« und »child […] as an object of their mutual grief«. Auch im abschließenden Resümee wird die gemeinsame Situation nur als narrativer Kontext des intentionalen Objekts begriffen: »their narrative history, including a wealth of similar memories suddenly welling up and framing how the child is given, experientially, as an object of their grief«, Krueger (2016), S. 272. 49
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ist. 53 Obwohl der Vorschlag von Joel Krueger, der auf Affektregulation abzielt, in die richtige Richtung geht, 54 interpretiert er das Teilen der Trauer ohne Berücksichtigung der situativen Verwobenheit der Eltern – die gemeinsame Situation sowie die Atmosphäre, die ihr entspringt, bildet aber immer die Grundlage für das Teilen von Gefühlen in Kopräsenz. 55 Da überdies die gemeinsame Situation der Eltern durch den Tod des Kindes partiell zerrissen ist, muss auf die Fragilität des Miteinandertrauerns hingewiesen werden, was Krueger schlicht nicht sieht. Denn die Eltern haben zumindest partiell ihren Anhalt an der Welt verloren, da sie in der gemeinsamen Situation mit dem Kind wechselseitig vermittelt zur Welt waren. Sie versuchen sich nun aneinander zu halten – bildlich gesprochen, aber auch im direkten leiblich-personalen Verständnis der inneren Haltung oder Fassung (dazu im Folgenden). Ihr Versuch, einander in der Trauer Halt zu geben, ist fragil und voller Anläufe, denn gerade ihr Miteinandersein ohne das Kind ist fremdartig. Es gilt daher zu beachten, dass die Eltern häufig jeder für sich und gerade nicht miteinander trauern, weil die gemeinsame Situation zerrissen ist. Außerdem kommt es nicht immer zu einer Angleichung oder passenden Abstimmung der Traueräußerungen und Trauerregulationen. Darüber hinaus erscheint bei Krueger das Teilen von Gefühlen über Affektregulation – so, wie es ausgehend von gemeinsamer Trauer thematisiert wird – ganz falsch als seltener Ausnahmefall, der lediglich in intimsten Beziehungen statthat. 56 Ich werde argumentieren, dass man ähnliche affektregulierende und vergemeinschaftende Prozesse auch in einer Betroffenengruppe oder bei
53
Vgl. einen verwandten Kritikpunkt bei Ratcliffe (2016), S. 206 f. Ich behandle hier wohlgemerkt nicht die Frage, inwiefern Kruegers Interpretation Schelers Text angemessen ist, sondern lediglich, inwiefern seine Idee für das Teilen von Trauer tragfähig ist. 55 Zum Miteinandertrauern von Eltern, erklärt als je eigenes affektives Beitragen zur gemeinsamen Trauersituation, vgl. Schmitz (2010), S. 177 – und zwar mit Bezug auf Schelers »Miteinanderfühlen«. 56 Krueger (2016), S. 272. 54
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einer professionellen Trauerbegleitung findet und nicht nur in Liebesbeziehungen. Wichtig ist jedoch insbesondere, dass bei Krueger der Aspekt der wechselseitigen Regulation der Trauer und deren Gemeinsamsein zwischen Personen zu kurz kommt – an den kurzen Beschreibungen, die er anbietet, wird das regulativ-bewältigende Moment nicht deutlich, sie erfassen eher das Teilen unregulierter (fassungsloser) Trauer. Hier scheint eine Konzeptstelle leer zu sein und die passende Begrifflichkeit zu fehlen. Um diese zu füllen, werde ich im Folgenden zunächst kurz auf den zentralen Begriff der »Haltung« in der Trauerbegleitforschung eingehen, sowie anschließend auf die Konzepte der »inneren Haltung« nach Jürg Zutt sowie der »Fassung der Person« nach Hermann Schmitz. Damit lässt sich dann detailliert zeigen: Das Teilen von Trauer über Affektregulation vollzieht sich entlang der wechselseitigen Modulation der »inneren Haltung« oder »Fassung« der interagierenden Personen. Sie vollzieht sich durch leibliche Kommunikation zwischen den Trauernden oder mit den Trauerbegleitenden. Hierbei muss es nicht zur Angleichung der inneren Haltungen bzw. Fassungen kommen. Es gibt auch Formen der Abstimmung, die vergemeinschaftend wirken. 3.2 Vergemeinschaftung durch wechselseitige Modulation der inneren Haltung oder Fassung am Beispiel der Trauerbegleitung »Die Trauernden lässt man nicht allein.« 57
Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen stellt eine starke Erschütterungserfahrung dar. Zugleich erschwert Trauer, weil sie eine akathartisch bedrängende Erregung ist, eine »Abfuhr« oder ein Ausagieren des Affekts. Umso wichtiger ist es für die Betroffenen, angesichts der Trauer ihre Fassung wiederzugewinnen, um eine personal stabilisierende Weise des Umgangs mit dem Traueraffekt zu finden. Für Andere mag es umgekehrt darum gehen, sich 57
Reiner Sörries: Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer, Darmstadt 2012, S. 87.
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überhaupt erst für die Trauer zu öffnen und sie zuzulassen. Diese »Affektregulation« ist meist nicht allein zu leisten, sondern geschieht mit Unterstützung und gemeinsam, zum Beispiel von Leidtragenden untereinander und mit sozial/familiär nahestehenden Personen, aber auch mit anderen Betroffenen in Gruppen oder in individueller Trauerbegleitung. Ich greife nachfolgend auf Forschung zur Trauerbegleitarbeit zurück, da zum Teil ähnliche Prozesse zwischen (ehrenamtlichen aber auch professionellen) Begleitenden und Trauenden ablaufen, wie sie im gelungenen Fall in einem engen, etwa familiären Kreis unter Betroffenen und Angehörigen zu finden sein müssten. 58 Ein Hauptanliegen der Trauerbegleitung ist es, Trauernden zu einer personalen Verarbeitung der Trauer und Verlusterfahrung zu verhelfen. Dies wird durch spezifische Interaktionen unterstützt, welche als interpersonale Affektregulationen verstanden werden können. Für diese spielt der Begriff der Haltung in der Trauerbegleitforschung eine zentrale Rolle. 3.2.1 Zum Begriff der »Haltung« in der Trauerbegleitforschung Die Haltung ist zwar ein zentrales Thema in der Trauerbegleitforschung, wird aber selten begrifflich bestimmt oder konzeptuell entwickelt und in teils unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Zur »Haltung« gehören hierbei jedoch folgende drei Aspekte, die dafür sprechen, dass es sich um das handelt, was Zutt die »innere Haltung« nennt, und was in der Neuen Phänomenologie die »Fassung« der Person ist. 59
58
Denn mit der Dienstleistung der »Trauerbegleitung« ist etwas professionalisiert worden, das wir zunehmend zu verlernen drohen, u. a. weil in der modernen Verwertungsgesellschaft kaum Zeit für Trauerbewältigung zur Verfügung gestellt wird und die soziale Mobilität die dafür nötigen familiären und freundschaftlichen Bindungen erschwert. So versteht es auch die Trauerbegleitforschung; vgl. etwa Backhaus (2017), S. 86. 59 Hierbei beziehe ich mich hauptsächlich auf die personzentrierte Trauerbegleitung nach Carl Rogers. Hier wird der Haltung (Trauernder wie Begleitender) eine große Bedeutung beigemessen.
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1. Als zentrale Komponente der Haltung der Trauerbgleitenden wird die Offenheit für die Gefühle (Trauer, Wut, Schuldgefühl, Erleichterung etc.) angesehen, mit denen Leidtragende ringen. Kennzeichnend für den aus der Psychologie stammenden Ansatz von Rogers ist beispielsweise, dass Empathie bzw. Einfühlung als eine spezifisch gefühlshafte Verstehensform die Bedingung dafür ist, dass Betroffene ihre Trauer annehmen und ausdrücken können. Empathie wird dort als »Haltung« der Trauerbegleitenden thematisiert. 60 2. Vonseiten der Begleitenden kommt es jedoch nicht nur zu einer Wahrnehmung der Trauer der Leidtragenden, sondern zu einem Mitfühlen der Trauer in dem Sinne, dass die Begleitende sich affektiv betroffen sein lässt von der Trauer der Leidtragenden. Dies meint keine Verschmelzung, sondern beinhaltet maßvolle Distanz zur Trauernden. 61 Häufig wird dies auch als »Mit-Aushalten« beschrieben. 62 Dies ist ein wichtiger Aspekt für die Frage nach dem affektiven Teilen. Es ist demnach nötig, dass in der gemeinsamen Situation mit dem Leidtragenden die Trauer, die von ihm ausstrahlt, mitgefühlt wird und man sich von ihr affektiv betreffen lässt. Dies wird durchaus als Belastung von den Begleitenden empfunden, daher gibt es eigene Schritte in der Ausbildung zum Umgang mit der eigenen affektiven Betroffenheit bei Trauerbegleitung, worauf die Forschung teilweise unter dem Begriff der Achtsamkeit mit sich selbst oder der Selbstsorge eingeht. 63 3. Weiterhin wird besonders darauf hingewiesen, dass Trauernde ihre Trauerarbeit bzw. ihre Affektregulation in ihren Phasen
60
Norbert Mucksch: Trauernde hören, wertschätzen, verstehen. Die personzentrierte Haltung in der Begleitung, Göttingen 2015, S. 45–57; Backhaus (2017), S. 21 f., 39 f.; Dennis Klass: »Tiefer Kummer und Trost«, in: Monika Müller/Sylvia Brathuhn/Matthias Schnegg (Hrsg.): Handbuch Trauerbegegnung und -begleitung, Göttingen 2018, S. 108–119 (S. 115). 61 Backhaus (2017), S. 171. 62 Backhaus (2017), S. 32 f. 63 Backhaus (2017), S, 162 f.; Mucksch (2015), S. 46, 112–116; vgl. auch Martina Kern: »Fremd- und Selbstsorge«, in: Müller/Brathuhn/Schnegg (2018), S. 160–169.
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nur durchlaufen können, wenn die »Grundhaltung« 64 der Begleitperson annehmend sowie gewährend ist und signalisiert: »Du darfst dir mit der Trauer Raum und Zeit nehmen.« 65 Durch diese Haltung der Trauerbegleitenden soll also eine entsprechende Haltung beim Trauernden initiiert werden. Damit wird die Haltung in der Trauerbegleitforschung als (leiblich) mitteilbar und sogar übertragbar verstanden. 66 Indem der Trauerbegleitpartner sich von der Trauer anrühren lässt, sich wirklich zum Mit-Aushalten öffnet und dann eine offene und verletzliche, aber zugleich auch widerstehende Haltung einnimmt, soll der oder die Trauernde eine solche oder ähnliche Haltung einnehmen können. Nur so kann Letzterer sich einerseits der Trauer öffnen und sie annehmen, andererseits überhaupt ein Verhältnis zu ihr gewinnen und sich in seinem Personsein stabilisieren. Der Haltungsbegriff soll im Folgenden phänomenologisch präzisiert werden. Der Begriff der »Fassung der Person« nach Schmitz ist hier konzeptuell passend, weil die Fassung sowohl als Weise der Stabilisierung der Person im Umgang mit affektiven Erschütterungserfahrungen verstanden wird als auch als fein modulierbare, leiblich-affektive Empfänglichkeit gegenüber dem Befinden Anderer. Der Begriff der »inneren Haltung« nach Zutt ist wiederum deshalb anschlussfähig, weil er die genuine Interpersonalität der inneren Haltung herausstellt sowie die innere Haltung als ein in allen Gemeinschaftssituationen fungierendes dynamisches – oft präreflexiv wirkendes – Steuerungsmedium von Menschen in ihrem Gefühlserleben und Gefühlsausdruck ausweist. Schmitz begreift wiederum die innere Haltung nach Zutt
64
Vgl. Trauer und Trauerbegleitung. Eine Handreichung des DHPV, S. 7, aufgerufen am 15. 9. 19 unter: https://www.dhpv.de/aktuelles_detail/items/dhpvbroschuere-zu-trauer-und-trauerbegleitung.html 65 Ebd., S. 11. 66 Von der Seite der Begleitenden soll eine eigene gelungene Verarbeitung von Leiderfahrung, die zu einer entsprechenden eigenen Haltung geführt hat, die weder regressiv noch gefühllos sein darf, für die Trauernde als Vorbild und konkrete Hilfestellung dienen, und zwar für deren Erarbeitung einer Haltung; vgl. Backhaus (2017), S. 36.
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als Bestandteil der Fassung der Person, ich beginne daher mit der inneren Haltung. 3.2.2 Die innere Haltung nach Jürg Zutt Der Psychiater Jürg Zutt zeigt in seinem Aufsatz Die innere Haltung auf, dass unser primärer Zugang zum (Gefühls-)Erleben Anderer nicht nur im Ausdrucksverstehen liegt, sondern recht besehen Haltungsverstehen ist. 67 Denn nach Zutt wird alles (ausdruckshafte) Verhalten moduliert über die »innere Haltung« der Person, die zur Identität eines jeden Menschen gehört, lebensgeschichtlich erworben wird und teils habitualisiert ist. Er entwickelt diesen Gedanken ausgehend von der spielerischen Nachahmung einer anderen Person, die wir über das Einnehmen von deren »innerer Haltung« als Gesamtpersönlichkeit nachahmen, sodass wir nicht permanent einzelne Ausdrucksbewegungen imitieren müssen. Die innere Haltung hat auch mit der körperlichen Haltung zu tun; sie ist eine »Gesamthaltung« 68, da sie an allem Verhalten der Person formend beteiligt ist. Sie stellt gleichsam den alle Interaktionen prägenden individuellen Stil der Person 69 dar und wirkt sich bis ins Kognitive hinein aus, etwa in der Urteilsbildung. 70 Die innere Haltung bestimmt auch das Verhältnis der Person zu den Affekten, 71 nämlich wie sie sich diese aneignet, verarbeitet und sie ausdrückt, wie sie etwa mit starker Trauer umgeht. Zwar habe jeder Affekt eine Tendenz, »die ihm adäquate innere Haltung hervorzurufen (Trauer beugt uns nieder, Freude richtet uns 67
Jürg Zutt: »Die innere Haltung«, in: ders.: Auf dem Wege zu einer anthropologischen Psychiatrie. Gesammelte Aufsätze, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1963, S. 1–88 (S. 24). Hier geht es um die basale Ebene; kognitive Zugangsweisen zum Anderen treten natürlich hinzu. Nach Zutt ist alles Verhalten ausdruckshaft, da es die Zuständlichkeit der Person kundgibt. Vgl. Zutt (1963), S. 7, S. 32. 68 Zutt (1963), S. 3. 69 Zutt (1963), S. 20. 70 Zutt (1963), S. 32 f. 71 Im Sinne affektiven Betroffenseins oder des Pathos. Zutt unterscheidet explizit zwischen Affekt und innerer Haltung; vgl. Zutt (1963), S. 16 f.
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auf )«, 72 aber mithilfe der inneren Haltung könne man auch einen gegensätzlichen Einfluss auf den Affekt nehmen, sich etwa lustig benehmen, obwohl man gerade von Trauer ergriffen ist. 73 Das heißt, die innere Haltung ist das Medium der Affektregulation schlechthin. Zutt vertritt die These, dass jede Interaktion ein wechselseitiges Sicheinspielen der Interaktionspartner mittels einer Anpassung der je eigenen inneren Haltung an die der Anderen verlangt. So hält er z. B. fest, »daß in jeder Gemeinschaftssituation dauernd eine spezifische Reaktion unserer inneren Haltung auf das uns von den Gemeinschaftspartnern entgegengebrachte Verhalten statthat. […] ohne daß eine Absicht dazu vorliegt, ja manchmal, ohne daß wir diese Reaktion bemerken«, 74 und spricht treffend vom »Hinüber- und Herüberwirken des ausdrucksmäßigen Verhaltens von einem Situationspartner auf den andern«. 75 Das bedeutet, dass in allen sozialen Interaktionen stets ein wechselseitiges, in der Regel unwillkürliches Sich-Steuern von Interaktionspartnern statthat, welches deren Erleben beeinflusst. Damit ist die innere Haltung das interpersonale Medium der Affektregulation. Zutt illustriert diese Art einer Wechselwirkung der inneren Haltungen an einem Beispiel, bei dem ein zorniger Mensch durch die liebenswürdige innere Haltung eines Interaktionspartners in seinem Zornaffekt gemäßigt wird (und damit in seiner eigenen wenig mäßigen inneren Haltung). 76 Der Einfluss eines Interaktionspartners kann auch dazu führen, dass es zu einer Übernahme der inneren Haltung dieses Inter72
Zutt (1963), S. 18. Zutt (1963), S. 18. 74 Zutt (1963), S. 25 [Hervorh. i. Orig.]. 75 Zutt (1963), S. 29. 76 »[…] Wir können z. B. jemanden zum ersten Male aufsuchen, um ihm energisch die Meinung zu sagen. Die Ausführung dieses Vorsatzes kann unterbleiben, weil wir beispielsweise durch das Imposante oder Liebenswürdige seiner Gesamterscheinung ›bezwungen‹ werden. Haben wir den Betreffenden dann verlassen, so können wir sehr unzufrieden mit uns sein, weil wir unserem Vorsatz nicht treu geblieben sind, weil wir dem vorhandenen Zornaffekt nicht in unserem Verhalten Ausdruck verliehen haben, sondern passiv dem Einfluß des fremden Verhaltens auf unsere innere Haltung unterlegen sind«, Zutt (1963), S. 28. 73
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aktionspartners kommt. 77 Zutt weist jedoch auch auf den Spielraum des Verhaltens hin und betont, dass wir uns der unwillkürlichen und absichtslosen Modifikation unserer inneren Haltung durch den Interaktionspartner sehr wohl auch widersetzen können (das gilt auch für die Übernahme) – jedoch benötigt dies einen besonderen Willensentschluss. 78 Dieser Punkt ist wichtig, weil er auf die Steuerungsfähigkeit der inneren Haltung hinweist. Für die professionelle Trauerbegleitung ist dies zentral, da die Trauernden beim Einnehmen einer offenen (inneren) Haltung unterstützt werden sollen, um ihre Trauer anzunehmen. Es ist also umgekehrt als man erwarten würde: Zum Sich-Abstimmen auf die Anderen braucht es gerade keinen Willensentschluss, jedoch um diese Wirkung zu bremsen oder willkürlich zu steuern. Dies spricht dafür, dass die Abstimmung sich über leibliche Kommunikation vollzieht – auch wenn Zutt in jenem Aufsatz noch nicht explizit leibphänomenologisch argumentiert, wie er es dann in späteren Aufsätzen tut. 3.2.3 Die Fassung der Person nach Hermann Schmitz Schmitz greift das Konzept der inneren Haltung nach Zutt auf und integriert es in sein Konzept der »Fassung« der Person. Über Zutt hinaus arbeitet er zum einen heraus, welche zentrale Rolle der Fassung zukommt für die Entwicklung und Stabilisierung der Person im Umgang mit Affekten. 79 Der Begriff der Fassung ist dabei an Verwendungen des Wortes in der Alltagssprache angelehnt, etwa wenn wir sagen, jemand sei aus der Fassung geraten oder angesichts einer Sache fassungslos. Die Fassung der Person ist ihre spezifische Weise, mit Affekten (terminologisch: mit affektivem Betroffensein) umzugehen und sich zu stabilisieren, ohne dabei gänzlich distanziert und gefühllos zu werden, noch sich zu stark in Gefühlen zu verlieren und besinnungsunfähig zu werden.
77 78 79
Zutt (1963), S. 21–25. Zutt (1963), S. 27. Schmitz (2003), S. 167 f.
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Nina Trčka
Die Fassung stabilisiert affektives Betroffensein und hilft einerseits der Person aus personaler Regression, welche aus starken affektiven Erschütterungserfahrungen resultieren kann, und sie ermöglicht andererseits, dass wir überhaupt »beeindruckbar« bleiben. Sie steuert affektive Empfänglichkeit. 80 Die Fassung ist damit intersubjektiv relevant: Sie kennzeichnet nicht nur ein Selbstverhältnis, sondern zugleich die Art der Offenheit/Verschlossenheit der Umwelt und der Mitwelt gegenüber. Unsere Fassung steuert unsere Empfänglichkeit für das Befinden Anderer im Sinne der leiblichen Resonanz. Sie ist »ein Organ sensibler Aufgeschlossenheit für die Fülle der Welt«. 81 Zum anderen arbeitet Schmitz heraus, dass die Fassung der Person über individuelle Eigentümlichkeiten hinaus auch Anteile von Rollenverhalten enthält, die wir im Laufe der Sozialisation über spielerische Formen der Identifizierung erwerben. 82 Dabei weist Schmitz darauf hin, dass die Fassung einer Person aus einer Vielzahl von personalen Niveaus und Stilen besteht, sodass die Person über eine feine Steuerbarkeit ihres Verhaltens und Erlebens für eine Vielzahl sozialer Situationen verfügt. 83 Ein Beispiel für unterschiedliche Niveaus wäre etwa kühle und berechnende Sachlichkeit contra warmherzig-feinfühlige Besonnenheit. Und schließlich weist Schmitz über Zutt hinaus auf, dass die Fassung leiblich ist. Sie stellt eine personale Überformung leiblicher Kommunikation dar und ist nicht nur in Handlungen, son-
80
Michael Großheim: Phänomenologie der Sensibilität, Rostock 2008. Schmitz (2003), S. 173. 82 »Fassung ist das, was man verliert, wenn man die Fassung verliert. Jeder Mensch, der es zur Person gebracht hat [Kleinkinder z. B. noch nicht; N. T.], hat seine eigentümliche Fassung. Diese wird zum Teil durch institutionell geprägte Rollen bestimmt, also etwa dadurch, wie jemand auf seine besondere Art Kind, Mutter, Großmutter, Lehrer, Arzt, Bauer, Bettler ist; zum anderen Teil beruht sie auf dem, was der Psychiater Jürg Zutt ›innere Haltung‹ nennt, also der habituell gewordenen Weise, wie ein Mensch z. B. stolz, liebenswürdig, bedächtig, mit ruhiger Bestimmtheit sanft […] ist und diese besondere Fassung in alles Verhalten einfließen läßt, womit er an Menschen und Dinge herangeht und sich mit ihnen auseinandersetzt«, Schmitz (2005), S. 4. 83 Schmitz (2003), S. 167. 81
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dern auch in pathischer leiblicher Kommunikation wirksam, bei der wir passiv Umgebungseinflüsse erspüren. 84 Ich denke, es ist offensichtlich, dass die Fassung konzeptuell dem entspricht, was in der personzentrierten Trauerbegleitung als Haltung bezeichnet wird. Wir sahen modellhaft an der Trauerbegleitung, dass die Haltung/Fassung (leiblich) kommunizierbar oder evtl. sogar übertragbar ist, dass es also durch spezifische Interaktionen von Trauernden und Begleitenden zu einer Modifikation der Fassung der Trauernden kommt. Was in der Trauerbegleitung mehr einseitig geschieht, ist jedoch unter Trauernden und ihnen Nahestehenden als ein wechselseitiger Prozess von Trauerregulation anzusehen. 4
Resümee: Leibliche Resonanz und interpersonale Affektregulation als komplementäre Formen der Vergemeinschaftung bei Trauer
In Kopräsenz ist ein Teilen der Trauer stets auf der Ebene der gemeinsamen Situation zwischen Trauernden (sowie mit Begleitenden) angesiedelt, im Sinne leiblicher Resonanz. In der gemeinsamen Situation strahlt die Traueratmosphäre von der unmittelbar Leidtragenden aus. Hierbei vollzieht sich ein Teilen der Trauer, wenn durch die offene Fassung der Begleitenden gegenüber der Trauernden deren Trauer als berührend miterlebt und auch – durch das Sich-betreffen-Lassen davon – in Maßen, mit Distanz, mitgefühlt wird. Unter Leidtragenden (z. B. Familienangehörigen) wird die leibliche Resonanz zu dem schon vorhandenen eigenen affektiven Betroffensein von Trauer durch den Tod der nahestehenden Person hinzukommen, sodass diese nicht nur parallel trauern, sondern gemeinsam auf leiblich-intersubjektiver Ebene. Hierbei ist miteinzubeziehen, dass zwar jede Person für sich genommen nach ihrer Façon trauert – im Sinne der je eigenen Habitualhaltung/Fassung, dass aber Trauernde untereinander 84
Schmitz (2003), S. 171–173.
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Nina Trčka
wechselseitig ihre Trauer in ihren Interaktionen aufeinander abstimmen und zwar über die gegenseitige Modulation ihrer Fassungen. Da die Fassung das Verhältnis der Person zum Affekt darstellt, regulieren die Trauernden gemeinsam in wechselseitiger Abstimmung ihren Traueraffekt (einseitiger mit Trauerbegleitenden). Es kommt damit zu einem gemeinsam gestalteten Gefühlsverlauf innerhalb der Gruppe. Dies geschieht nicht nur durch handlungsmäßige Interaktion, sondern auch durch pathische leibliche Kommunikation, weil die Schwierigkeit, Trauer zu artikulieren, dennoch ein leiblich-spürendes Mittrauern in Stille ermöglicht, ein leiblich-fassungsmäßiges Mit-Aushalten. Das kann in gemeinsamem Schweigen, aber auch in Gesprächen erfolgen, nicht nur weil hierbei Inhaltliches zur Trauer und zum Verlust besprochen wird, sondern weil sich im ›nonverbalen‹ leiblichen Umgang des Besprechens eine annehmende, öffnende, zugleich aber stabilisierende Fassung zeigen und leiblich kommuniziert werden kann. Selbst ein Satz wie »Du darfst dir mit der Trauer Raum und Zeit nehmen« will authentisch hinsichtlich der eigenen Fassung gesagt sein 85 und kommuniziert über Stimmmodulation, Langsamkeit, Betonung und Blickführung den Inhalt der Rede auch leiblich. Gegenüber einem niedergeschlagen-hoffnungslosen Ton eines Trauernden könnte ein Trauerbegleitender einen leicht zuversichtlichen einschlagen, wenn er eine entsprechende Fassung selbst erworben hat, sodass Ersterer auf die angebotene zuversichtliche Fassung unwillkürlich reagieren wird. Hierauf kann selbstverständlich auch ein Rückzug des Gesprächspartners erfolgen oder eine Verstärkung der Niedergeschlagenheit. Auch hierauf muss wiederum die erste Dialogpartnerin fassungsmäßig reagieren. Es kommt zu einem ›tastenden‹ fassungsmäßigen Sich-aufeinander-Beziehen. Durch diese Interaktionen wird der scheinbar bloß persönliche Umgang mit der Trauer ein gemeinsamer, die Personen finden
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Zur Grundhaltung der Authentizität bzw. Echtheit und Kongruenz nach Rogers vgl. Backhaus (2017), S. 18, wunderbar plastisch und zum nonverbalen Verhalten vgl. Mucksch (2015), S. 52–58.
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aneinander Halt. Der gemeinsame Halt ruht auf diesen Interaktionen auf. In einem starken Sinne vergemeinschaftet diese Form der interpersonalen Affektregulation natürlich in Fällen, wo es zu einer Angleichung der Fassungen unter den Interagierenden kommt. 86 Aber auch die wechselseitige Abstimmung der Fassungen von Person zu Person führt zu Vergemeinschaftung, da sich bei den Anwesenden ein ähnlicher oder zumindest ein miteinander verträglicher Modus des Umgangs mit der Trauer etabliert sowie ein interpersonales Beziehungsgewebe entsteht, indem die Trauernden wechselseitig Anhalt aneinander finden. Die Abstimmung kann gerade Raum für persönliche Differenzen lassen, um gemeinsam die Trauer zu ›begehen‹. Diese dürfen jedoch nicht extrem und einander ausschließend sein. »Trauer teilen« durch interpersonale Affektregulation beruht damit auf interpersonaler Interdependenz (über die Abstimmung der Fassungen) einerseits und leiblicher Resonanz in der atmosphärisch ›getränkten‹ gemeinsamen Situation andererseits. Daher ist diese Form der Vergemeinschaftung nicht nur leiblich-intersubjektiv, sondern auch interpersonal. 87 Die interpersonale Affektregulation als Modus der Vergemeinschaftung bildet jedoch ein Gegengewicht gegen die Vereinzelung durch Trauer und deren Macht, die sich auf leiblich-intersubjektiver Ebene geltend macht, und kann helfen, diese interpersonal zu überwinden.
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Zutt (1963), S. 22 f. Diese zwei Aspekte gelten grundsätzlich für das Teilen von Gefühlen in Kopräsenz, da stets leibliche Resonanz und wechselseitige Modulation von Fassungen eine Rolle spielen. Zur Interpersonalität von Haltung in einem weiten Kontext vgl. Frauke Kurbacher: Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung, Würzburg 2016.
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Gemischte Gefühle. Affektive Atmosphären von Hochschularchitektur
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Einleitung
Betreten wir die Gebäude einer Hochschule, so werden wir unmittelbar von spezifischen Atmosphären ergriffen, die wir als Lernende und Lehrende mehr oder weniger bewusst mitproduzieren. 1 Die Atmosphäre, in die wir geraten, kann von dem durch das Fenster einfallenden Licht ebenso geprägt sein wie vom Geruch des Linoleumbodens, der Angst vor einer bevorstehenden Prüfung oder der Erinnerung an eine unliebsame Begegnung. Dabei spielt es für die Entstehung einer Atmosphäre eine entscheidende Rolle, welche Komponenten – Dinge, Architektur, Gerüche, Erinnerungen, Diskurse und Menschen – wie in einer räumlichen Situation zusammenkommen. Der folgende Beitrag entwickelt am Beispiel zweier Hochschularchitekturen ein Atmosphärenverständnis, das auf die Komponiertheit von Atmosphären fokussiert und ihr Entstehen auf die affektiven Potentiale ihrer Bestandteile zurückführt. Der Mensch wird darin als potentiell affizierte und affizierende Komponente gedacht, deren Empfinden aus ihrer jeweiligen Situation entsteht. Gefühle entspringen demnach nicht allein der Innenwelt des Subjekts, sondern werden als »räumlich ergossene Atmosphären« verstanden, »die den Menschen mit affektivem Betroffensein ergreifen, indem sie ihn leib1
Das vorliegende Kapitel versucht einen Beitrag zur gendergerechten Sprache und Gesellschaft zu leisten, indem, wenn möglich, eine genderunspezifische Sprache gewählt wird. In den wenigen Fällen, in denen diese nicht ohne weiteres möglich oder umständlich ist, wird die der Geschlechterkonvention entgegenstehende Form verwendet, z. B. »Hausmann«, aber »Hausmeisterin«.
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Gemischte Gefühle
lich spürbar in Bann ziehen«. 2 Das Fühlen von Atmosphären ist jedoch voraussetzungsreich und bedingt eine Resonanz zwischen leiblichen Kapazitäten und der jeweiligen Situation. 3 Atmosphären können somit als fragile Halbdinge begriffen werden, deren Entstehen von den affektiven Kapazitäten der anwesenden Menschen ebenso abhängt wie von den übrigen in einem flächenlosen Raum versammelten Komponenten. 4 Atmosphären werden somit nicht in erster Linie wahrgenommen, vielmehr entstehen sie aus der Gemengelage sich gegenseitig affizierender Komponenten. Der Beitrag knüpft somit an ein Affektverständnis an, das Scheve und Berg als primär ontologisch charakterisieren, 5 um anhand von zwei Fallbeispielen sieben Aspekte von Atmosphären und ihrem leiblichen Erleben zu illustrieren. Der Architektur wird in dieser Betrachtung besondere Aufmerksamkeit zuteil. Sie umschließt, begrenzt und strukturiert die Räumlichkeit der sich Versammelnden. Indem sie Hüllen bereitstellt und Oberfläche definiert, mag sie als atmosphärisches Werkzeug par excellence verstanden werden. Dennoch vermag sie allein nichts zu bewirken; sie entfaltet ihre Macht erst in Handlungszusammenhängen, in eingespielten Mustern und im Zusammenspiel mit den auf sie eingestimmten Leibern. Dabei bleiben die Atmosphären stets eine fragile – und immer für Umkehrungen bereite – Komposition. 6 Der folgende Text zeigt anhand autoethnographischer Vignetten aus zwei Fallstudien auf, wie Hochschulräume in der Begegnung von Menschen, Gebäuden, Technolo2
Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg, S. 30, 104. Schmitz differenziert die Voraussetzungen leiblichen Empfindens in die Disposition, die persönliche Lebensgeschichte sowie den Menschentyp. Siehe hierzu Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg 2009, S. 71–116. 4 Böhme spricht in diesem Zusammenhang von »dinglichen Konstellationen«, Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, München 2006, S. 50. 5 Christian von Scheve/Anna Lea Berg: »Affekt als analytische Kategorie der Sozialforschung«, in: Larissa Pfaller/Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären: Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden 2017, S. 27–52. 6 Christoph Michels/Chris Steyaert: »By Accident and by Design: Composing Affective Atmospheres in an Urban Art Intervention«, in: Organization 24/1, 2017, S. 79–104. 3
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gien, Narrativen und vielen weiteren Elementen »komponiert« werden und wie im Zusammenkommen der vielfältigen Elemente Atmosphären als fragile und gleichzeitig durch Stimmungen strukturierte Kompositionen entstehen. Die empirischen Illustrationen sind aus autoethnographischen Beobachtungen im Rahmen des Forschungsprojekts OSCAR (Organizing Spaces of Creativity and Reflexivity) an der Universität Liechtenstein generiert und zeigen Momentaufnahmen aus Sicht der Forschenden sowie Perspektiven von Interviewpartnerinnen auf die untersuchten Orte. Es geht hierbei nicht um eine abschließende Beschreibung der Atmosphäre dieser Orte, sondern um das Aufzeigen ihrer Potentialitäten. Vor dem Hintergrund der aktuellen Hochschulentwicklung und dem immer lauter werdenden Ruf nach unternehmerischen Universitäten, die zur regionalen Entwicklung und technologischen Innovationsprozessen einen Beitrag leisten, haben auch die Räume der Universität begonnen sich zu verändern. 7 So erfahren Hochschulen weltweit ein ungebremstes Wachstum, gleichzeitig ist ein neuer Anspruch an ihre Architektur entstanden. Hochschulbauten müssen heute nicht nur die Abwicklung effizienter und innovativer Lehre und Forschung gewährleisten, sondern ihre Hochschule regional verankern und gleichzeitig auch im internationalen Kontext repräsentieren. 8 Diese Veränderungen prägen die Atmosphäre vieler neu entstehender Hochschulbauten. Anhand des Zentralgebäude der Leuphana Universität in Lüneburg (Daniel Libeskind) sowie der temporären Floating University Berlin (Architekturkollektiv Raumlabor Berlin) wird im Folgenden die Komposition von Hochschulräumen dargestellt und reflektiert.
7 Peter David Whitton: The New University: Space, Place and Identity (Dissertation), Manchester 2018. 8 Justus Henke/Peer Pasternack/Sarah Schmid: Third Mission bilanzieren: Die dritte Aufgabe der Hochschulen und ihre öffentliche Kommunikation, Halle-Wittenberg 2016.
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Gemischte Gefühle
Abbildung 1: Eingang des Leuphana-Zentralgebäudes von der WillyBrandt-Straße (Foto: Christoph Michels)
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Im Irrgarten
Das 2017 eröffnete Zentralgebäude der Leuphana Universität in Lüneburg ist sichtbarer Ausdruck der seit 2006 durchgeführten Neuausrichtung der damaligen Universität Lüneburg. Neben der Neustrukturierung der Studiengänge und dem Hochschulmarketing bildet die architektonische Umgestaltung des Campus einen zentralen Bestandteil der neuen Strategie. Das unter Einbeziehung von Studierenden der Universität entworfene Gebäude befindet sich am südöstlichen Rand des Universitätscampus. Der Bau ist mit Titanzink verkleidete und steht in deutlichem Kontrast zur Backsteinarchitektur des restlichen Campus, der in den 1930er-Jahren als Militärkaserne erbaut und in den 1990er-Jahren zum Universitätscampus umgenutzt wurde. Das Gebäude beheimatet neben Seminarräumen, Büros, Labors und einer Cafeteria vor allem einen großen Veranstaltungssaal und einen Andachtsraum. 171 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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2.1 Zur Bedingtheit von Atmosphären Das Taxi hält direkt unter der metallischen Gebäudespitze, die weit aus der Häuserflucht in die Straße hineinragt und den Haupteingang des Zentralgebäudes formt. Diese große bauliche Geste wird zusätzlich von der geschwungenen Vorfahrt unterstrichen. Das Taxi, die prominennte Architektur, die Ankunftssituation – für einen Moment fühle ich mich wie der Besucher eines Gala-Events und nicht wie ein mit öffentlichen Geldern bezahlter Architekturforscher. Aus Limousinen steigende Anzugsträger, Blitzlichtgewitter und leise aus dem Foyer dringende Jazzklänge steigen vor meinem geistigen Auge auf. Und tatsächlich erfahre ich später, dass der große Veranstaltungsaal im Innern des Gebäudes auch für diese Art Anlässe genutzt wird. Das leise Gefühl, fehl am Platz zu sein, verblasst ein wenig, während ich die Stufen zum Haupteingang hinaufsteige. Offensichtlich ist dieser Eingang auf ein anderes Publikum ausgerichtet; vom Universitätscampus aus besitzt das Gebäude einen zweiten, weit weniger spektakulären Zugang.
»Alles hängt vom Empfinden der Atmosphäre ab und von der Richtung, aus der wir sie betreten«, schreibt die Anthropologin Kathleen Stewart. 9 Betreten wir nämlich eine räumliche Situation, so erfahren wir diese durch einen bereits auf bestimmte Weise ausgerichteten oder verfassten Leib. Die Richtung unseres Eintreffens bestimmt unsere leibliche Verfassung und ist entscheidend für ihr Vermögen mit einer Situation in Resonanz zu treten. Die Frage der Atmosphäre eines Ortes lässt sich somit als eine Frage der Resonanz zwischen einem spezifisch gestimmten Leib und der Situation, in welche dieser eintritt, verstehen. 10 Die Entstehung von Atmosphäre bedingt daher neben einer räumlichen Komposition einen auf spezifische Weise gestimmten und somit affizierbaren Leib. 9
Kathleen Stewart: »Afterword: Worlding Refrains«, in: Melissa Gregg/Gregory J. Seigworth (Hrsg.): The Affect Theory Reader, Durham 2010, S. 340, eigene Übersetzung von »Everything depends on the feel of an atmosphere and the angle of arrival.« 10 Hartmut Rosa: Resonanz: eine Soziologie der Weltbeziehung, 3. Aufl., Berlin 2018.
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Der Leib erhält seine Vermögen in Resonanz zu sein auf vielfältige Weise. Von klein auf entwickelt er mehr oder weniger ausgeprägte Kapazitäten, spezifischen Situationen zu begegnen: sei es einer feierlich gedeckten Tafel, einer Zuschauertribüne bei einem Fußballspiel oder einer religiösen Zeremonie. Nicht allein durch unsere Erziehung, sondern vor allem durch eine Prägung mittels Geschichten, Büchern, Filmen und durch das Erleben von Situationen wird ein Leib auf vielfältige Weise gestimmt. Man könnte von einer ganzen Bandbreite von Registern sprechen, die im Laufe der Zeit in einem Menschen angelegt werden. 11 Manchmal benötigt es nur eine bauliche Geste, um eines dieser Register aufblitzen zu lassen: ein Schauer, der uns überfällt, wenn wir das Berliner Olympiastadion betreten, das Aufblitzen von Jugenderinnerungen, wenn wir als Erwachsene unser Elternhaus besuchen, oder das Flüstern, in das wir verfallen, wenn wir ein Museum oder eine Kirche betreten. Der Leib kann sich auch in Diskrepanz zu seiner Umgebung befinden. »Damit ist gemeint, daß ich von einer Atmosphäre her eine Anmutung erfahre in Richtung einer Stimmung, die von meiner – mitgebrachten – Stimmung abweicht.« 12 Als Forschender bin ich eingestimmt auf mein Forschungsprojekt, das öffentliche Gelder, einen Auftrag etc. umfasst und das meine Rolle – und somit meine leibliche Verfassung – maßgeblich mitbestimmt. In dieser Gestimmtheit wirkt der expressionistische Neubau in Kombination mit der Vorfahrt, dem Taxi, der gesamten Szene fast schon als eine Bedrohung meiner Identität des unauffällig Forschenden. Das in der Situation evozierte innere Bild eines GalaEvents mit seiner festlichen Stimmung trifft in diesem Moment auf kein empfängliches Gegenüber, anders als wenn ich beispielsweise als Tourist oder Studienanfänger das Gebäude betreten hätte. Daher würde es zu kurz greifen, aus dieser Erfahrung eine 11
Christian Julmi: »Soziale Situation und Atmosphäre. Vom Nehmen und Geben der Perspektiven«, in: Pfaller/Wiesse (2017), S. 103–123; Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt 2001, S. 205. 12 Gernot Böhme: Ästhetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 47.
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Kritik an der Architektur abzuleiten. Vielmehr gilt es, das Gebäude in seiner spezifischen Komplexität zu erfassen. Hochschulen sind heute einem Spannungsfeld unterschiedlicher Diskurse ausgesetzt. Sie dienen längst nicht mehr allein der Bereitstellung inspirierender Räumlichkeiten für Forschung und Lehre. Vielmehr sind sie dazu aufgerufen ökonomisch ausgelastet zu sein, eine Verbindung mit der Region herzustellen, Führung in Innovation und Reputation auf internationaler Ebene zu vermitteln und gleichzeitig einen umsichtigen Umgang mit der Historie der Universität und deren Lokalität zu garantieren. 13 Es stellte sich im Laufe meines Besuches heraus, dass mein gewählter Zugang von der Willy-Brandt-Straße vor allem öffentlichen Anlässen dient und mit seiner großen Geste weniger Studierende oder Gastforschende empfangen will als vielmehr Veranstaltungsbesucher, die das Gebäude für kulturelle Events oder Kongresse besuchen und daher anders gestimmt sind als ein allein ankommender Architekturforscher. Die verschiedenen Register des Gebäudes prägen sich hier folglich in den unterschiedlich gestalteten Eingangssituationen des Zentralgebäudes zur Straße und zum Campus hin aus. Das Gebäude übernimmt eine Art Scharnierfunktion zwischen der Welt des universitären Alltags und jener der öffentlichkeitswirksamen Großveranstaltung. 2.2 Zur Strukturiertheit von Atmosphären Die komplexe Geometrie der Fassade setzt sich im Inneren des Gebäudes fort. Dort prägen schräg ineinander mündende Flächen und Linien die Raumfolgen bis ins kleinste Detail. Zwei Herren, deren Fahrräder vor dem Gebäude abgestellt sind, schauen sich staunend im Foyer um. Einer von ihnen stammt aus Osnabrück, der Stadt, in welcher Daniel Libeskind 1998 sein erstes Museum realisieren konnte. Er berichtet, dass auch dort dem Neubau zunächst mit viel Skepsis begegnet wurde, nicht zuletzt wegen seiner hohen Kosten. Aber mit der Zeit habe sich der Widerstand der Bevölkerung gelegt und die 13
Jos Boys: Building Better Universities: Strategies, Spaces, Technologies, New York 2015.
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Bewohner der Stadt hätten sich inzwischen nicht nur an das Gebäude gewöhnt, nein, sie schätzten es sogar sehr. Der andere Herr stammt aus Lüneburg und wirkt etwas zurückhaltender in seiner Einschätzung. Er zieht einen Vergleich zur Hamburger Elbphilharmonie. Dort müssten die Besucher bereits Tickets lösen, nur um auf den Vorplatz des Gebäudes zu gelangen. Er erhoffe sich einen ähnlichen Effekt vom neuen Zentralgebäude der Universität.
Betrachtet man Zaha Hadids Design für das Learning Center der Wirtschaftsuniversität Wien, das vom japanischen Büro SANAA entworfene Rolex Learning Center der EPFL Lausanne oder die Erweiterung der Universität Zürich durch ein Großprojekt des Büros Herzog und de Meuron, so wird klar: Universitäten sind nach Museen zu Orten der Stararchitektur geworden, die eine Strahlkraft weit über den Campusalltag hinaus entwickeln und im Kontext des regionalen und internationalen Standortmarketings eine zentrale Rolle spielen. 14 Sie reihen sich damit in ein atmosphärisches Muster von Bauten ein, die im Wesentlichen zwei Gefühle zu evozieren suchen: Einerseits zielen sie darauf ab, Faszination und Staunen beim Besucher zu wecken (und damit die Nutzung mit einem Erlebniswert anzureichern), andererseits sind sie Hoffnungsversprechen für ganze Regionen, indem sie eine neue Ökonomie ankündigen. Auch in dieser Hinsicht sind unsere Leiber gestimmt. Die Erfahrung und Atmosphäre des Staunens reicht weit über den konkreten Ort hinaus und lebt von der Bezugnahme auf ähnliche Architekturerlebnisse. Solche Gefühle entstehen besonders durch Architektur, die den Besucher mittels neuer Spielarten eine überraschende und verheißungsvolle räumliche Komposition anbietet und diese leiblich erfahrbar macht.
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Roberta Comunian/Abigail Gilmore/Silvie Jacobi: »Higher Education and the Creative Economy: Creative Graduates, Knowledge Transfer and Regional Impact Debates«, in: Geography Compass 9/7, 2015, S. 371–383; Sharon Haar: The City as Campus: Urbanism and Higher Education in Chicago, Minneapolis/London 2011.
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2.3 Zur Ambivalenz von Atmosphären Ich verlasse einen der Seminarräume im ersten Stock, ignoriere den Lift und öffne eine weiße, mit einem Treppensymbol versehene Tür, um zu einer Antrittsvorlesung eine Etage höher zu gelangen. Entgegen meiner Erwartung befindet sich aber auf der anderen Seite der Tür kein Treppenhaus. Vielmehr betrete ich einen weiteren Flur mit einer Reihe weiterer in Weiß gehaltener Türen. Ich öffne jene mit einem weiteren Treppensymbol und gelange von dort in eine Abfolge weiterer Räume mit weiteren Türen. Jede Türe, die ich öffne, mündet in einen Raum mit weiteren Türen. Plötzlich stehe ich vor einer verschlossenen Tür. Ich drehe am Schließknopf, die Türe öffnet sich und ich gelange in einen Raum, in dem eine Gruppe Studierende einen Workshop abhält. Eine Entschuldigung murmelnd durchquere ich den Raum, hin zu einer weiteren Tür, auf der wieder das Treppensymbol zu sehen ist. Dieser Raum scheint ein Zwitterleben zu führen, halb Korridor, halb Seminarraum, ich fühle mich als Eindringling, aber gleichzeitig als durchaus rechtmäßiger Benutzer des Treppenhauses. Ich gehe weiter, bis ich endlich das Treppenhaus erreiche, gehe eine Etage nach oben, das ist einfach. Dann folgen erneut Türen. Zu dem Gefühl von Frustration und Neugierde (darauf wie viele Türen es wohl noch sein werden, bis ich mein Ziel erreiche) mischt sich auch ein Schmunzeln und die Erinnerung an einen Satz, den ich am Vorabend bei einem Vortrag aufgeschnappt hatte: »Die Universität braucht und lebt von Momenten der Desorientierung. Das Auflösen von Sicherheiten ist zentraler Bestandteil des Lernens und Forschens.« Vielleicht kann das Gebäude genau hierzu einen Beitrag leisten, der sich auf ganz alltäglicher Ebene entfaltet, vielleicht hat die verstörende Raumfolge auch etwas Wunderbares, indem es die Frage aufwirft, welche Räume, welche Vorträge wir eigentlich aufsuchen, wem wir begegnen. Ich fühle mich wie in einem Irrgarten, dessen Wege vom Schwanken zwischen Frust, neugieriger Spannung und schließlich Erleichterung beseelt werden. Hinter jeder Ecke bzw. hinter jeder Tür werden diese Gefühle aufs Neue ausgelotet. Dies steht im klaren Kontrast zu den gradlinigen Kasernengebäuden, die den Rest des Campus prägen und in deren Korridoren, wie mir eine Professorin erzählt, noch die Stiefel der Wehrmachtssoldaten widerzuhallen scheinen.
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In unserer vielfältigen Gestimmtheit können wir hin- und hergerissen sein zwischen verschiedenen Atmosphären. Es gibt nicht nur Momente, in denen die Stimmung kippt, sondern auch jene, in denen die Stimmung schwankt, in denen sich Atmosphären punktuell ankündigen oder durchscheinen. In einem Moment können wir uns nerven und einen Augenblick später sind wir erheitert oder überrascht. Es braucht manchmal nur sehr wenig (eine Türe zu viel oder eine Minute zu wenig), um eine Atmosphäre in eine andere kippen zu lassen. Atmosphären können somit als zwiespältig erfahren werden, als Situationen, die gleichzeitig unterschiedliche affektive Potentiale aktualisieren. Atmosphären können zugleich aufregend und beängstigend, langweilig und erholsam, nervtötend und inspirierend sein. Unser Leib schwingt in diesen Atmosphären auf unterschiedliche und teilweise widersprüchliche Weise mit. Die komplexe Geometrie des Leuphana-Zentralgebäudes versucht die drückende Ordnung des Kasernencampus zu durchbrechen und dem Ort einen offenen Geist einzuhauchen, der von Komplexitäten und Überraschungen geprägt ist und der Eindimensionalität der Kasernenarchitektur entgegensteht. Im Zusammenhang des übrigen Campus schafft diese Architektur ein Gefühl der Öffnung. In meiner Situation als Besucher des Gebäudes, der möglichst schnell von einem Raum zum nächsten gelangen möchte, weckt die Architektur jedoch auch ein Gefühl der Verlorenheit und Verzweiflung. 2.4 Zur Macht von Atmosphären An der Bushaltestelle werde ich in ein Gespräch mit einer Anwohnerin verwickelt. Sie lebt schon seit über dreißig Jahren im Quartier und hat die Umwandlung der Kaserne zum Universitätscampus miterlebt. In ihrer Stimme schwingt viel Frustration mit, als sie vom neuen Zentralgebäude erzählt. Sie bekäme regelmäßig Mitleidsbekundungen ihrer Gäste für das neue Gebäude, lässt sie mich wissen. Die metallische Fassade verbreite eine kalte und abweisende Atmosphäre und die kolossale Größe passe schlicht nicht in eine Stadt wie Lüneburg. Zudem mache es sie wütend, dass so viele Mittel in den Bau geflossen seien, die es an anderer Stelle viel dringlicher brau-
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che, beispielsweise im sozialen Wohnungsbau. Nicht zuletzt wegen der vielen Studierenden seien die Mieten in Lüneburg in den letzten Jahren durch die Decke gegangen und der Wohnraum knapp. Die kalte Atmosphäre des Zentralgebäudes vermittle eben auch diese soziale Kälte der Politik, die es ermöglicht habe.
Obschon das Erleben des Gebäudes hier ein gänzlich anderes ist als jenes, das ich im Rahmen meines Besuchs der Universität erfahren habe, lässt sich kaum argumentieren, dass es sich um ein ausschließlich subjektives Empfinden handelt. Die geschilderte Erfahrung ist nicht nur eingebettet in eine Reihe handfester Gegebenheiten, sie begegnet mir auch in den Einschätzungen von Lüneburger Taxifahrerinnen und Gastwirten. Das Gebäude macht sie auf eine andere Art und Weise betroffen, affiziert sie in ihrer Position anders als mich, die Studierenden oder den Gast aus Osnabrück. Aus dieser Richtung kommend fühlt sich das Gebäude anders an, es versetzt die Betrachter in eine andere Komposition und aktualisiert andere Affekte. Die expressive Form des Gebäudes wirkt in dieser Komposition bedrohlich und seine metallische Haut vermittelt eine Kälte, die in den zuvor geschilderten Erfahrungswelten keine Rolle spielte. Das Gebäude wird hier zum Bestandteil einer Komposition, in der auch öffentliche Mittel, der Wohnraum in Lüneburg und die Mietpreise maßgeblich sind. Dieses Gefüge affiziert einige Bewohner der Stadt in einer Weise, die wenn nicht Existenzängste, so aber ein Unrechtsgefühl weckt. Diese Befindlichkeit und das Gefühl der Ohnmacht lassen sich von der räumlichen Erfahrung des Gebäudes nicht trennen, vielmehr sind sie ihr inhärent. Es ist die Herabsetzung des Potentials, in dieser Stadt noch bezahlbaren Wohnraum zu finden, die in der Erfahrung der Architektur zum Ausdruck kommt. Diese Erfahrung unterscheidet sich gänzlich von jener einer Event-Besucherin, einer Wissenschaftlerin oder einer Studentin. Sie alle sind Bestandteil anderer Kompositionen und werden durch das Gebäude auf andere Weise bewegt. Ob ein Leib für etwas empfänglich ist, ob er sich auf eine ermächtigende Weise von einem Ort, einem Gebäude berühren lässt, hängt also davon ab, wie er gestimmt ist und ob man ihn umstimmen kann. Letzteres ist – wenn überhaupt möglich – ein 178 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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Abbildung 2: Zugangssteg zur Floating University Berlin (Foto: Dalal Elarji)
mühsames Unterfangen. Jemanden umzustimmen bedeutet, dass man nicht nur sein Empfinden bezüglich einer Sache oder eines Ortes verändert, sondern auch sein Vermögen mit einer Komposition in Resonanz zu treten. Dieses Beispiel zeigt, dass sich die kritischen Stimmen der Lüneburger eventuell umstimmen ließen, wenn die Finanzierung des Baus aus anderen Mitteln erfolgt wäre oder, wie das Beispiel des Osnabrücker Museums zeigt, genug Zeit vergeht, sodass die Finanzierungsthematik gegenüber anderen Themen in den Hintergrund treten und das Gebäude allmählich in neue Kompositionen eintreten kann. Dabei ist es wichtig zu unterstreichen, dass nicht das Wissen um die Finanzierungshintergründe allein die Atmosphäre des Baus prägt, sondern die Betroffenheit durch diese. Es macht einen eklatanten Unterschied, ob man die Hintergründe lediglich kennt oder direkt von ihnen betroffen ist und sich durch sie beispielsweise bei der Wohnungssuche bedroht fühlt.
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Christoph Michels und Dalal Elarji
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Schwimmend
Die Floating University Berlin (FUB) wurde von Mai bis September 2018 als ein temporäres Projekt in einem Regenrückhaltebecken des Tempelhofer Feldes im Zentrum Berlins realisiert. Unter der Leitung des Architekturkollektivs »Raumlabor« diente die FUB als Labor und Unterrichtsort für Studierende und Wissenschaftler von über zwanzig internationalen Universitäten sowie als Begegnungsort für Künstler, lokale Expertinnen, Musikerinnen und Tänzer. Es galt während der Sommermonate Vorschläge zur Neuorganisation des alltäglichen städtischen Lebens zu erarbeiten. In diesem Sinne ist die FUB kein Universitätscampus, der einer spezifischen Institution zuzurechnen ist, sondern vielmehr ein temporäres gesellschaftliches Experimentierfeld. 3.1 Zur Komposition von Atmosphären Der Eingang zur Floating University liegt zwischen Büschen versteckt. Das Rauschen der Blätter im Wind erfüllt die Luft. Während ich zögerlich eintrete, beschleicht mich ein Gefühl von Abenteuerlust und Neugier. Eine Universität, die man über die widerhallende Struktur eines metallischen Baugerüsts erreicht! Vorbei an duftenden Tomatensträuchern und über einen langen schmalen Steg über das Wasser balancierend gelange ich in eine Welt voller Überraschungen. Am Immatrikulationstresen spricht mich ein Besucher, ein älterer Herr, an. Er erzählt mir, dass er seit zwanzig Jahren in dieser Gegend lebe, aber bisher nie etwas von der Existenz dieses Wasserbeckens gewusst habe. Er sei zum ersten Mal hier. Er blickt zum Wasser und den Bäumen hinüber und teilt seine Faszination über diesen Ort mit mir. Ihm sei es wichtig alles zu sehen, da er sich nicht vorstellen könne, dass es an dieser Stelle einen solchen Ort gäbe. Daher meldet er sich zu einem Rundgang durch die angrenzenden Schrebergärten an.
Die ungewöhnliche Komposition der Floating University Berlin (FUB) überrascht und bewegt mich. Es ist ein Ort, den man sich vor dem Betreten nicht vorstellen kann. Indem die FUB ein anderes Bild einer Universität vermittelt und die Besucher in Stau180 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Gemischte Gefühle
nen versetzt, spielt sie mit einem ähnlichen Register wie das Zentralgebäude der Leuphana Universität. Gleichzeitig ist ihre Atmosphäre gänzlich anders komponiert. Die leichte und nur temporär installierte Raumstruktur erinnert in ihrer offenen Unfertigkeit und Unabgeschlossenheit an die utopischen Entwürfe von Archigram, Buckminster Fuller oder Constant. Durch ihre handgemachte und simple Bauweise lädt diese Architektur ihre Besucher ein mitzugestalten. Doch auch die nicht-architektonischen Elemente der FUB, ihre Initiierung, ihre Finanzierung, ihr Programm und ihre ungewisse Zukunft, fordern quasi zum kreativen Weiterdenken auf. Obschon auch hier die Atmosphäre vom Vermögen der Besucher abhängt in eine affektive Resonanz zu treten, so ist die Komposition doch darum bemüht, offen für experimentelle Auslegeordnungen zu sein. Ob dieses Bemühen gelingt, kann kritisch hinterfragt werden. Denn auch die FUB nährt sich aus spezifischen affektiven Modulationsweisen. So gliedert sie sich fast nahtlos in die charakteristische Ästhetik der Berliner Kulturszene ein. Gleichzeitig steigen Erinnerungen an den Züricher Manifesta Pavillon aus dem Jahr 2016 vor meinem geistigen Auge auf. Trotz der Ähnlichkeit des architektonischen Themas unterscheidet sich die Floating University Berlin jedoch von seinem Zürcher Pendant. Ein auf dem Rand des Steges abgelegtes Pizzastück, ein fragil wirkendes Wasserrad, an dem sich ein Kind emporzieht, ein spontan geschriebenes und an der Konstruktion befestigtes Manifest – dies alles wäre in Zürich zwar nicht undenkbar, aber doch unwahrscheinlich. Auf dem Wasser treibende Pavillons sind Ausprägungen einer Eventarchitektur, zu der künstliche Wasserfälle und spektakuläre Aussichtsplattformen genauso gehören wie begehbare Skulpturen oder Unterwasserrestaurants. Ihre Vergänglichkeit ist unverzichtbarer Bestandteil der Eventhaftigkeit. Die FUB stimmt in diesen Diskurs ein, greift sein Muster auf und transformiert dieses gleichzeitig. So fühlt sich dieser Campus zwar ähnlich, aber doch ganz anders an. Die spezielle Atmosphäre der FUB ist auch ein Produkt der Programmarbeit, die diesen Ort nicht einfach als hippe Berliner Party-Locations inszeniert, sondern zahlreiche Anfragen für private und kommerzielle Veranstaltung ablehnte und lieber eine 181 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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vielfältige Mischung wissenschaftlicher, kultureller und gesellschaftspolitischer Veranstaltungen vorsieht. 3.2 Zur Anordnung von Atmosphären Mehr und mehr Leute kommen und versammeln sich langsam auf dem Deck. Ein paar Kinder rennen über den Steg, um sich Plätze auf der zum Wasser führenden Treppe zu sichern und nehmen dicht gedrängt auf ihr Platz. Ein Kameramann sucht nach guten Perspektiven auf das Wasser. Das »Auditorium«, in dem den ganzen Nachmittag Familien mit Kindern am Pool geplantscht haben, entleert sich schlagartig. Kinder und Passanten werden gebeten, sich vom Wasserbecken zu entfernen. Eine eigenartige Ruhe legt sich über die Szene. Alle warten. Die Atmosphäre erinnert mich an den Moment im Konzertsaal kurz bevor das Konzert beginnt. Spannung liegt in der Luft. Ich frage mich, was wohl passieren wird, denn das Programmheft gibt dazu keine Auskunft. Aus dem Schilf tritt eine weiße Silhouette hervor, die mit frenetischem Applaus empfangen wird. Das sumpfige Wasser wird mit einem Mal zur Bühne, über die sich die Silhouette einer Tänzerin bewegt: mal auf allen Vieren kriechend, mal tänzelnd, mal durchs Wasser rennend, immer geschmeidig und elegant. Jeder ihrer Bewegungen wird vom Publikum gewürdigt. Das Deck ist überfüllt mit begeisterten Zuschauern und ich habe kaum Platz mich zu bewegen. Die Vorstellung endet damit, dass die Tänzerin sich wieder ins Schilf zurückzieht, dorthin woher sie gekommen war. Das Publikum tobt. Die Zuschauer können nicht aufhören zu applaudieren.
Noch bevor die weiße Silhouette die Szene betritt, hat sich die Atmosphäre des Ortes fundamental geändert. Innerhalb kürzester Zeit wurde er neu geordnet und hat auf diese Weise eine gänzlich andere Stimmung erhalten. Ich bin in dieser Situation nicht länger der zufällige Besucher unter vielen, sondern Bestandteil eines Publikums, das eine Tänzerin erwartet und ihr gebannt durch ihre Tanzperformance folgt. Es geht somit nicht allein um die An- oder Abwesenheit einer Sache oder einer Person, sondern auch um die Anordnung der versammelten Elemente untereinander, die eine Atmosphäre auf bestimmte Weise herzustellen ver182 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Gemischte Gefühle
mögen. In diesem Sinne könnte man davon sprechen, dass Atmosphären aus spezifischen Daseinsweisen, verstanden als Art und Weisen miteinander in Relation zu treten, hervorgehen. So betrachtet würde man weniger von der Atmosphäre eines Ortes sprechen, sondern vielmehr von der Atmosphäre einer spezifischen (An)Ordnungsweise, in welcher die Architektur eine – nicht fest definierte – Rolle spielen kann. 15 3.3 Zur Fragilität von Atmosphären »Eines Tages kam ich hier an und der WC-Tank hatte ein Leck. Der Strom war ausgefallen und ich konnte ihn nicht mehr selbst einschalten. Niemand hatte mir gezeigt, wie das geht, und ich konnte es selbst nicht herausfinden. Die Kinder-Uni würde bald beginnen und der Tank leckte noch immer, mit all dem Gestank … Ich dachte: »Prima, wir haben all die Eltern, die mit ihren Kindern diesen fröhlichen, utopischen Ort besuchen wollen, und dann bieten wir ihnen diese überlaufenden Fäkalien, die sich in das Bassin ergießen. Und das in einem Projekt, das sich die Reinigung von Wasser auf die Fahnen geschrieben hat.« Aber es gelang mir die Elektrizität wiederherzustellen, indem ich sie von einem anderen Ort bezog, und in kurzer Zeit konnte die Pumpe die Fäkalien abpumpen. Es war ein guter Moment.« (Auszug aus einem Interview mit einer Künstlerin/Forscherin der FUB)
Dass Atmosphären aufrechterhalten bleiben, ist alles andere als selbstverständlich. Eintretende Un- oder Neuordnung, Veränderungen der Wetterlage oder eben unpassende Gerüche können eine Bedrohung für die Absichten derjenigen sein, die Atmosphären planen oder durch »ästhetische Arbeit« erzeugen wollen. 16 Um Atmosphären aufrechtzuerhalten, bedarf es gestalterischer Anstrengungen und ständiger Kontrolle der Komposition. Und dennoch entziehen sie sich einer vollständigen und verlässlichen Vor15
Zu dem Konzept der Ordnungsweise vgl. auch John Law: Organizing Modernity, Oxford 1994. 16 Gernot Böhme: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995, S. 34– 39.
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hersagbarkeit und Planbarkeit. Aus einem affektbasierten Verständnis kann man das affektive Potential der Komponenten, die sich zu einer Atmosphäre zusammenfügen, nicht vorab kennen. Auch kleinste Modulationen der in die Atmosphäre eintretenden Leiber und anderer Komponenten können das Vermögen, sich gegenseitig zu affizieren, grundlegend verändern. Neben der Planung erhält das situative Justieren von Atmosphären eine zentrale Bedeutung für ihre Aufrechterhaltung. 4
Diskussion
Das mittels der empirischen Vignetten entwickelte Atmosphärenverständnis knüpft an das von Böhme entwickelte Verständnis der Atmosphärenerzeugung als die Erzeugung »gesellschaftlicher Charaktere« an, indem es auf die konventionellen und kulturspezifischen Ausprägungen von Atmosphären fokussiert und diese in den Mittelpunkt eines allgemeineren Atmosphärenverständnisses rückt. 17 Mit anderen Worten erscheint es in einer Welt, die weitgehend kulturell modelliert ist, aus unserer Sicht lohnenswert, Atmosphären primär als Effekte kulturell bedingter Stimmungen zu definieren. Dabei ist es entscheidend, die gesellschaftlichen Charaktere einer Atmosphäre nicht allein auf ihre materielle Verfasstheit zu reduzieren, sondern besonders auch die Ausprägung des leiblichen Vermögens der Menschen in den Blick zu nehmen, die in diese Komposition eintreten. Wie anhand der empirischen Illustrationen verdeutlicht wurde, schafft der Blick auf »affektive Kompositionen« Raum für »gemischte Gefühle«, die Ambivalenzen von Atmosphären als zugleich voraussetzungsvoll und unberechenbar, als strukturiert und fragil, als kollektiv und individuell, als materiell und unfassbar nicht nur zulassen, sondern von diesen genährt werden. Das relationale Verständnis, welches Atmosphären (und Affekte) als Zusammenkommen von spezifisch gestimmten Personen und Situationen begreift, kann mit dem von Schmitz entwickelten und 17
Böhme (2006), S. 124.
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Gemischte Gefühle
von Böhme aufgegriffenen Begriff der Halbdinge 18 (bzw. QuasiObjekte) in Resonanz gesetzt werden, da sie reale Tatsachen darstellen (sie sind nicht schlicht eingebildet) und gleichfalls voraussetzungsvolle und fragile Kompositionen sind, die von einem auf den anderen Moment verschwinden können, ohne sich irgendwo sonst zu befinden. 19 Dieses Atmosphärenverständnis fokussiert auf die Emergenz und Aktualisierung von Kapazitäten in der Begegnung ihrer Komponenten. Hierbei geht es nicht in erster Linie um Wahrnehmung, sondern um das Entstehen von Kompositionen oder Befindlichkeiten: beispielsweise das »im Affekt« Zur-Waffe-Werden einer Bratpfanne genauso wie das Zur-Mörderin-Werden des Menschen, der sich der Pfanne bedient. Wir werden aber einer Situation nicht gerecht, wenn wir sie auf ihre mechanischen Aspekte reduzieren (obgleich diese für das Entstehen der Situation maßgeblich sein mögen). Niemand wird zur Mörderin, lediglich weil sie einer Bratpfanne begegnet. Es braucht vielmehr weitere Elemente, die Bestandteil der Situation werden, z. B. eine Einbrecherin, einen untreuen Partner oder den Wunsch, frühzeitig ein Erbe anzutreten. Es geht also mehr um die Art und Weise, wie sich Komponenten in einer solchen Situation gegenseitig affizieren, als um die Eigenschaften der Dinge und Menschen an und für sich. 20 Diese Art und Weise bestimmt im Wesentlichen die Atmosphäre der Situation. Die Komponenten, durch welche eine Situation emergiert, stimmen sich auf einander ein, sie entfalten in dieser wechselseitigen Stimmung ihre Potentiale (als Waffe, 18
Hermann Schmitz: »Gefühle als Atmosphären«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 260–280 (S. 267). 19 Es sei an dieser Stelle auch an Böhmes Ansatz erinnert, der die leibliche und nicht vollständig bestimmbare Anwesenheit von Dingen als »Ekstasen« charakterisiert, Böhme (1995). S. 155–176. 20 »The engagement of affect and aesthetics is more a matter of ›manner‹ than of essence: ›not what something is, but how it is—or, more precisely how it affects, and how it is affected by, other things‹«, Steven Shaviro, zitiert nach: Gregory J. Seigworth/Melissa Gregg: »An Inventory of Shimmers«, in: Gregg/Seigworth (2010), S. 1–25 (S. 14).
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Mörderin, Opfer). Die in der Stimmung entstehende Resonanz zwischen den Bestandteilen der Situation, das Eintreten in eine Art und Weise des In-der-Welt-seins (oder eben Nicht-länger-inder-Welt-seins), das sich ankündigende Potential des Täterin-oder Opfer-Werdens, wird emotional spürbar und als Gefühl benannt. Übertragen auf die Architektur von Hochschulen stellt sich somit die Frage, für welche Befindlichkeit eine Hochschule anschlussfähig sein möchte, welche Potentialitäten sie versucht zu wecken, welche sie durch architektonische oder programmatische Mittel auszuschließen bemüht ist und wo sie gezielt versucht, Raum für Experimente, Unerwartetes und Desorientierung zu schaffen. Dabei gilt es zu beachten, dass die Atmosphäre das Produkt von Gestaltungsabsichten ist und von diesen maßgeblich geprägt werden kann, auch wenn ihre Entstehung von vielen Dingen abhängt, voller Ambiguitäten sein kann, allein durch die Neuordnung ihrer Bestandteile umgekehrt werden kann und somit nicht vollständig planbar ist. Die Gestaltung von Atmosphären – mit architektonischen oder anderen Mitteln – verlangt daher nach einem reflexiven und kreativen Umgang mit den Lebensformen, die sie hervorbringen und von denen sie getragen werden. 21
21
So verlangt Felix Guattari »to develop a creative responsibility for modes of living as they come into being«, zitiert nach: Lone Bertelsen/Andrew Murphie: »An Ethics of Everyday Infinities and Powers. Félix Guattari on Affect and the Refrain«, in: Gregg/Seigworth (2010), S. 138–157 (S. 141).
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Reinhard Knodt
Von der Macht der Atmosphären. Eine korrespondenztheoretische Studie
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Raum, Gefühl und Stimmung
Heideggers Vortrag »Die Kunst und der Raum«, eine Galerierede, die sich mit dem Bildhauer Eduardo Chillida und dessen Werken beschäftigte, 1 behandelt den Sachverhalt, dass Raum – nicht wie bei Kant, der ihn in der Kritik der reinen Vernunft als Anschauungsform behandelte, und auch anders als bei Descartes und Newton, die Raum mathematisch definierten bzw. ihn als überallhin gleichmäßig ausgedehntes Kontinuum veranschlagt hatten – zuallererst eine phänomenologische Qualität habe. Er wies dazu auf den Raumbegriff der Aristotelischen Topos-Schrift hin, nach der Raum eine poietische »Versammlung von Orten« ist, heiligen und profanen Orten, Orten der Arbeit und der alltäglichen Verrichtungen, aber auch Orten, die durch die Dinge selbst bezeichnet seien, etwa im Fall einer Statue, eines Heiligtums, bei dem Ort und Ding zusammenfalle. 2 Nicht abstrakt sei der Raum, sondern erst einmal phänomenologisch zu fassen, nämlich als »eingeräumt« durch »das Wohnen des Menschen, was der auf den Raum bezogenen Kunst – also den großen Statuen und Raumgebilden Chillidas – einen bedeutsamen Rang gebe«. 3 Die Hinweise Heideggers zum Raum waren in vieler Hinsicht stichwortgebend für gewichtige Arbeiten zu Raum und Atmo1
Martin Heidegger: Die Kunst und der Raum, St. Gallen 1969, S. 7. Heidegger (1969), S. 6. 3 Vgl. meine ausführliche Interpretation der Heidegger-Arbeit in: Reinhard Knodt: »Die Technik und das Leiden«, in: Reinhard Knodt: Ästhetische Korrespondenzen – Denken im technischen Raum, Stuttgart 1994, S. 98–103. 2
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Reinhard Knodt
sphäre bei Schülern und Zeitgenossen, so etwa bei Otto Friedrich Bollnow, Gaston Bachelard, Gernot Böhme und auch Hermann Schmitz. Raum und Atmosphäre waren dabei gewissermaßen im Amalgam. Die Atmosphäre und eine räumliche Situation (etwa eine Gartenanlage oder eine architektonische Struktur) bildeten Situationen, die man erfahren, betrachten, erleben, aber auch verlassen oder beeinflussen konnte. Atmosphäre erschien bei all dem als ein zwar nicht besonders gut greifbarer, aber doch immerhin eingrenzbarer Gegenstand, der etwa im Begriff der »Stimmung« seine psychologische Deutung hatte. Der »gestimmte Raum« lautete etwa aufschlussreich die Formulierung Bollnows in Mensch und Raum. Man könnte die von Heideggers Hinweis induzierte Liste raumbezogener Atmosphärentheorie noch verlängern, wenn man aus dem Bereich der Phänomenologie in die Soziologie oder in die Architekturtheorie ginge. Fast überall erscheint dort die Atmosphäre einerseits als Raum und Raumsituation und andererseits als synästhetische Wahrnehmung eines wie auch immer gearteten »Ich« – im Wesentlichen aber auch als ein Phänomen, das aus der Flanierperspektive beschrieben und zwischen einem räumlichen Außen und einem psychischen Innen verortet wird. – Hier der »Raum« – dort das Ich – in einem Park oder auf einem Bahnhof, auf dem Sportplatz, am Meer … Böhme nannte seinen Gegenstand seinerzeit auch ganz folgerichtig »quasi-objektiv«, um anzudeuten, dass es dabei einerseits nicht nur um Gefühl oder Stimmung gehe, andererseits aber auch nicht einfach um objektiv fassbare »Gegenden« oder Situationen. Die Atmosphäre war gewissermaßen beides: objektiv und nur in Grenzen beeinflussbar, aber auch subjektiv – also eine Form der Ergriffenheit. Auch dieses Modell war einflussreich und fand seine Ausgestaltung in den »Erlebnissen angesichts von Umgebungen« (J. Hasse) oder in der Theorie der »Gefühlsergießungen in flächenlose Räume« (H. Schmitz). Ich selbst habe den Gegenstand dann als Korrespondenzgeschehen behandelt, demgegenüber es wenig Sinn mache, überhaupt von »subjektiv« oder »objektiv« zu sprechen. 4 Dabei schien mir der Sachverhalt wichtig, dass Atmosphären nicht nur betrach188 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Von der Macht der Atmosphären
tet oder empfunden werden, sondern dass sie uns mitunter geradezu durchdringen und verändern, dass sie uns formen und auch lange Zeit nicht mehr entlassen, wobei das ergriffene »Ich« sich ständig wandelt, also keine Gefühlsmonade ist, sondern zur Atmosphäre gehört, womit eine Reihe von Machtmomenten ins Spiel kommen. Wir befinden uns also, was die Theorie der Atmosphären angeht, nun nicht mehr in der Erkner-Galerie, in der Heidegger seinerzeit über Chillida redete, und müssen die Perspektive der Atmosphäre, die man nach Gusto genießen, verlassen oder verändern kann, hinter uns lassen, um die Atmosphäre als zwingendes Geschehen und mithin als »Macht« ins Auge zu fassen. 5 Hier soll auf zweierlei hingewiesen sein. Zum einen darauf, dass Atmosphären sich nicht nur räumlich in Landschaften oder Arenen ausbreiten, sondern dass sie auch von einem einzelnen Gegenstand, also einem Ding ausgehen können; sodann dass sie von Geschehnissen ausgehen können. So sei ins Gedächtnis gerufen, dass es eine große Anzahl von Ereignissen und auf Dauer gestellte Geschehensverläufe gibt, die Atmosphären selber sind, ein Fest, eine Krönungszeremonie, ein Krieg, die Atmosphäre, die durch eine Regierungszeit (»die Ära Metternich«) geprägt ist, eine Mall als atmosphärisches Mischangebot, das Internet und die Korrespondenz aller mit allen usw. usf. Es gibt sodann auch lang andauernde und kurzfristige, dichte, beiläufige und insistierende Atmosphären, wie etwa die der Bedrohung und die der Versprechung. Und es gibt schließlich Mischungen. Wer auf solchen Gebieten von Atmosphäre als Raum spräche, würde vielleicht noch metaphorisch in eine Richtung weisen, doch hätte er kaum eine begriffliche Leistung vollbracht und entsprechend noch nicht einmal angedeutet, dass es hier um mehr geht als um Stimmungen 4
Reinhard Knodt: Der Atemkreis der Dinge – Einübung in die Philosophie der Korrespondenz, Freiburg/München 2018. 5 In Knodt (2018) habe ich Gegenstände als atmosphärische Mächte aufgefasst, die sonst nicht unter dieser Bezeichnung vorkommen – etwa das Internet und seine Korrespondenz-Apps, aber auch Multiplexkinos oder »Gastlichkeits-«Formen in Hotels. In allen Fällen ist das Entscheidende die Macht von Atmosphären, die uns bannt.
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Reinhard Knodt
oder Gefühle angesichts von Umgebungen. Eine Warnung, ein gespendeter Trost, ja der Ton einer Flöte usw. bilden Atmosphären aus, die uns zwingen und denen gegenüber wir keinesfalls frei bleiben, da sich in ihnen etwas wesentlich Mächtigeres zeigt, etwas, zu dem wir selber gehören. Daher sei nun allen verdienstlichen Untersuchungen zum Trotz nochmals betont: Atmosphären sind weder Räume noch Gefühle, noch Gefühlsergießungen, noch Stimmungen, noch auch »gestimmte Räume«. Sie sind stattdessen als ein mehr oder weniger zwingendes Geschehen des »Wir« zu fassen, als ein Geschehen, das erst nach und nach Präsenz gewinnt, sich dann aber zu gewaltiger Macht entfaltet und das man vermutlich am besten als »Korrespondenzgeschehen« fasst. 2
Korrespondenz-Phänomene des atmosphärisch Zwingenden
In mittelalterlichen Sarkophagen gab es oft eine kleine Öffnung, durch die der Gläubige seine Hand stecken konnte, um dem heilbringenden Hauch des darin ruhenden Leichnams nahe zu sein. Andere Möglichkeiten, mit dem »Ruach«, also gewissermaßen Gottes Atem in Kontakt zu kommen, waren die Berührung einer sekundären Reliquie, 6 das Sammeln von Wasser, das aus dem Sarkophag tropfte, oder der lange Aufenthalt, etwa sehr nahe am Grab eines Heiligen. Die Überzeugung, es gehe von dem Leichnam ein Dunst aus, ein »Atmos«, und das genau vorgeschriebene Ritual (also etwa die Art des Aufnehmens der Wassertropfen oder das mehrmalige Durchgehen unter dem Sarkophag) stehen dabei in enger Korrespondenz. Der sich dem Kultus als einer Macht beugende Gläubige ist überzeugt, dass die Kraft, um die es geht, durch das Ritual zugänglich wird oder gar entfaltet wird. Was er empfindet und was er ausführt, steht in Korrespondenz. Wenn man das Ritual als gesellschaftlich vorgeschriebenen Usus bezeichnen will, erkennt man, dass es hier abstrakt eben um jenes »Wir« 6
Eine sekundäre Reliquie ist etwa das Schweißtuch der hl. Veronika.
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geht, das der Einzelne neben seiner scheinbaren »Subjektivität« oder Individualität in sich trägt. Damit wird uns nahegelegt, den Dualismus von »subjektiv« empfundener »Stimmung« und »objektiver« Situation aufzugeben. Atmosphäre ist kein empfundenes Ding und kein Raum, sondern ein Korrespondenzgeschehen. Am Ritual als Beispiel formuliert: Dieses wird nicht durchgeführt, weil die Aura des betreffenden Gegenstandes so mächtig wirkt, vielmehr macht das möglichst genau ausgeführte Ritual den Gegenstand (die Reliquie) mächtig. Die Reliquie und die Vorschrift, wie mit ihr zu verfahren ist, sind in atmosphärischer Hinsicht ein und dasselbe. Nicht nur die mittelalterliche Welt kennt eine hohe Verdichtung ritueller Zentren und nicht nur die Religion vereinigt Ritus und Atmosphäre. Jedes Fest funktioniert so und Goethes arabische Hausschuhe mit der Aufschrift »Suleika« wirken atmosphärisch wie ein Abglanz vom Schweißtuch der heiligen Veronika, d. h., sie rufen durch das Detail eine Atmosphäre auf, die der mit der Reliquie Befasste gewissermaßen kultisch pflegt – in Goethes Fall: einen Gedanken- und Interpretationskosmos zum Thema des Orients. Wir werfen angesichts des atmosphärischen Phänomens also einen tiefen Blick in die Kulturationsgeschichte; eine Geschichte über eine Methode, die bei den katholischen Heiligen gut nachvollziehbar ist, die aber in der Aufklärung nicht plötzlich Halt macht und die von magischen Zeremonien bis zur »Macht« eines Emblems auf der Uniform eines Wachmanns in der Mall nichts anderes entfaltet als immer wieder das eine: Macht. Macht nicht als Symbol von etwas Dahinterstehendem, sondern ganz konkret als präsente Atmosphäre in der Anwesenheit des Wir. Im Ganzen betrachtet muss also gelten: Von einem Detail (etwa einem Schmuckstück, das Proust seitenlang beschreibt) bis zu den ausgreifenden Ereignissen einer Krönungszeremonie, von der Uniform des Wachmanns in einer Mall bis zur Atmosphäre, die ein Terror-Anschlag in einem Land auslöst, müssen wir davon ausgehen, dass nicht »hier« die Atmosphäre und »dort« unsere Wahrnehmung derselben stattfindet, von der wir wie ein Flaneur, der durch einen Garten spaziert, auch lassen könnten, sondern dass das eine das andere ist. Um es noch genauer zu sagen: ein Ge191 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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schehen von »Hier« und »Dort« zugleich, ein Phänomen, das wir vor allem deswegen so schlecht fassen können, weil wir selber dazugehören. Wir benennen Atmosphären im Grunde sehr behelfsmäßig, doch weist sich in jeder Benennung der größere Zusammenhang auf, um den es dabei geht, ein Zusammenhang, auf den wir nur mittelbar bzw. nur korrespondierend Einfluss haben. So benennen wir Atmosphären nach dem Wetter (düster, heiter, schwül, kalt …), genetivisch nach Situationen (die Atmosphäre einer Landhausvilla, die Atmosphäre eines Kongresses, die Atmosphäre während eines Rituals am Ganges-Ufer bei Nacht …) oder nach leiblichen Zuständen (die nervöse Atmosphäre …). Schließlich gehen wir auch ganz praktisch davon aus, dass man Atmosphären beeinflussen und Situationen schaffen kann, in denen sie sich einstellen. Genau genommen sind wir sogar ständig damit beschäftigt. Im einfachsten Fall zündet man eine Kerze an oder man räumt auf, wodurch nicht nur Ordnung entsteht, sondern eben auch die Atmosphäre der Reinheit oder eines Neubeginns, denn wir wissen geradezu instinktiv, dass »äußere« und »innere« Ordnung korrespondieren, ja die Korrespondenz selbst (also etwas das instinktive Aufräumen) ist schon unsere Haupterkenntnis. Oder wir musizieren, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass uns dies atmosphärisch absorbiert. (Schopenhauer würde sagen: zeitweise vom Wollen befreit.) Was damit gemeint ist, betrifft die Tatsache, dass Atmosphären so mächtig sein können, dass sie alles andere auslöschen. 3
Atmosphäre als praktische Korrespondenz
Enge Korrespondenz zwischen einer Umgebung und »atmosphärischem Entwurf« ist bekanntlich ein Topos der Gartentheorie. Hier scheint es möglich, durch atmosphärische Arbeit in einem Areal Stimmungen und »Gegenden« zu erzeugen, die uns leiten. Für den Gartenbautheoretiker Jakob Hirschfeld etwa war eine »Atmosphäre« eine »Gegend« für einen im Park sinnierenden Spaziergänger, den er auf vorbestimmten Wegen hierhin und dorthin 192 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Von der Macht der Atmosphären
führte. Hirschfeld gibt an, welche Laubarten man für welche »Stimmungen« zu verwenden habe, wie man durch die Beschattung von Wasserflächen den Eindruck des Geheimnisvollen herstellte oder durch Anlage von Springbrunnen Fröhlichkeit und Heiterkeit erzeugt. Diese Stimmung der Herrschaftlichkeit als psychisch gewollter Dauerzustand, die ja etwa dem mittelalterlich geforderten »huoen muot« entsprechen würde, war für Goethe die »heitere Weite«, die er in dem Roman Die Wahlverwandtschaften mit literarischen Mitteln zu erzeugen suchte, allerdings auch, um die Korrespondenzen, um die es dabei in der Praxis geht, gewaltig zu erweitern. Dieser literarische Versuch soll kurz umrissen sein. »Lasst uns den nächsten Weg nehmen, sagte er zu seiner Frau und schlug den Pfad über den Kirchhof ein, den er sonst zu vermeiden pflegte. Aber wie verwundert war er, als er fand, dass Charlotte auch hier für das Gefühl gesorgt habe. Mit möglichster Schonung der alten Denkmäler hatte sie alles so zu vergleichen und zu ordnen gewusst, dass es ein angenehmer Raum erschien, auf dem das Auge und die Einbildungskraft gerne verweilten. Auch dem ältesten Stein hatte sie seine Ehre gegönnt. Den Jahren nach waren sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht, der hohe Sockel der Kirche war damit vermannichfaltigt und geziert. Eduard fühlte sich sonderbar überrascht, wie er durch die kleine Pforte herein trat; er drückte Charlotten die Hand und im Auge stand ihm eine Thräne«. 7
Wir müssen uns die Szene auf einem deutschen Herrensitz zu Anfang des 19. Jahrhunderts vorstellen. Goethe hatte mehrfach den heute noch existierenden Landschaftspark von Wörlitz besucht und könnte ihn als Vorbild verwendet haben. Nach Aussagen der Literaturwissenschaft geht es hier um den Konflikt von Leidenschaft und Vernunft. In atmosphärischer Hinsicht geht es um anderes: Vier Personen – zwei befreundete Paare – arbeiten gemeinschaftlich an einem Park, so dass sie sich einerseits im allegorischen »Raum« der Gefühle, Stimmungen und Gedanken, andererseits aber auch im konkreten Gartenraum, d. h. angesichts 7
Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, Tübingen 1809, S. 22.
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konkreter Aussichten, Gestalten, Denkmäler oder Wege bewegen. In der Weise ihres Zusammenarbeitens verlieben sie sich kreuzweise ineinander, was mit ihrer Tätigkeit in dem betreffenden Park zusammenhängt. Nach Heidegger würden sich die Paare in einem aristotelischen Ort-Raum aufhalten, den sie durch ihr »Wohnen« bzw. ihre Gepflogenheiten nach und nach einrichten oder sich auch in ihm verändernd orientieren. Die beiden Paare gestalten den Park nämlich nicht einfach nach subjektivem Gefallen, sondern nach der ihnen gemeinsamen Idee einer damaligen Mode, nämlich der des »Gartenreichs«, nach dessen Ideal das Gebiet zum Ort des glückseligen Lebens für alle dort Lebenden umgewandelt werden soll, damit dieses Leben aller dann auch tatsächlich glückselig werde. Dazu wird die gesamte Umgebung gestaltet, also nicht nur die Gartenanlagen des Schlosses, sondern auch die umliegende Landschaft, Wälder, Gewässer, Felder, die Kirche, der Kirchhof, die Meierei, das Dorf und die umliegenden Örtlichkeiten. Um die Utopie des gelingenden Lebens nicht nur abzubilden oder dem Spaziergänger einen schönen Blick auf seine innerpsychischen Träume zu gönnen, sondern das Ganze zu einer realen Korrespondenz von Abbilden und Handeln, Leben und LebensBild werden zu lassen, erlässt man für die arbeitenden Bauern Vorschriften, die man mit der Idee einer »naturgemäßen« Lebensweise verbindet. Die Landarbeiter etwa müssen sich zu gewissen Stunden ausruhen und dazu »familienweise« auf extra aufgestellte Bänke setzen, was durch die Schlossgesellschaft kontrolliert wird, die sich am Anblick des ruhenden Landvolks auf Kutschfahrten ergötzt. Das alles ist eine geradezu zwingende Atmosphäre! Arbeiten werden nach bestimmten Prinzipien verteilt, um niemanden über Gebühr zu belasten. Der Schönheit auch der reinen ZweckGebäude werden ganze Abschnitte gewidmet. Die Ausgestaltung der hierbei zu beachtenden Prinzipien wird in der Anlage selber deutlich, doch nicht nur diese: Fragt man sich, wie im einstmals verwahrlosten Kirchhof durch Charlottes Tätigkeit eine für ihren Ehemann (den Schlossherrn) nun zu Tränen rührende Atmosphäre entstanden sein soll, 194 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Von der Macht der Atmosphären
so erhält man als Antwort: »durch ordnende und vergleichende Tätigkeit«, […] »mit möglichster Schonung der alten Denkmäler«, […] durch »Wiederaufrichten alter Steine«, dadurch, dass selbst den »nutzlosesten, ältesten Dingen« […] »die Ehre« gegeben wurde.
Charlotte – dies ist nun gewissermaßen die Sicht mit der Lupe auf unseren Gegenstand, der »Atmosphäre als Geschehen« – hat mit ihrem Arrangement eine Art Topologie geschaffen, die Eduard überwältigt und psychisch ergreift, die ihm also nicht nur distanziert lesbar ist, die ihn vielmehr rührt. Dass sie »Ordnung hergestellt« hat, dass sie sich innerlich »bekümmert« und sich bemüht hat, »auch den hinfälligsten Dingen« ihren Wert zu geben, dass »das Alte und Gebrechliche« aufgerichtet, das »scheinbar Nutzlose« geehrt wurde, geht weit über ein bloßes Arrangement hinaus. Es ist hier ein geradezu religiöser Appell an den Betrachter hörbar, anders ausgedrückt: Charlotte hat einen »guten Kosmos« geschaffen, die der anfänglichen »Wüste« der Verwahrlosung nun in einem geradezu an Parmenides gemahnenden Sinn der eukosmia entgegengestellt werden kann. Die Entgegenstellung von Wüste (Erde) und Garten (Paradies) ist ein Barocktopos, der spätestens seit Comenius Allgemeingut ist. Die »Schöpfung«, wie Goethe die Arbeit Charlottes nennt, führt also bei Eduard nicht nur dazu, historische oder symbolische Bildungs-Bezüge mit der Erfahrung des neu gestalteten Raumes zu verbinden und anzuerkennen. Vielmehr wirkt hier eine seelische Gemütslage der Zuwendung ganz direkt, die Hingabe, die Pfleglichkeit, das Kümmern, der Trost und damit die sorgende Disposition der »Schöpferin«, die mehr als einmal mit dem »naturgemäßen« und »schonenden« Umgang der Menschen untereinander identifiziert wird, und das heißt nun mit einem humanen Wir. Das ist es, was sich in den Wahlverwandtschaften abgesehen von ein wenig Gartenatmosphäre machtvoll und geradezu unausweichlich als gute Ordnung bzw. eukosmia entfaltet. Das Genie der atmosphärischen Korrespondenz ist eine Tätigkeit, die nicht nur eine Aktivität aufgrund von Vorstellungen oder eines Plans agiert, sondern zugleich auch Rezeptivität (in Stellver195 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Reinhard Knodt
tretung für etwaige Betrachter) ist. – Sie stellt produktiv und rezeptiv zugleich eine Situation her, die auf einen Menschen übergreift. Nicht die Tränen Eduards wollen wir dabei als »Ziel« Charlottes betrachten, sondern die Erweiterung des atmosphärischen Korrespondenz-Geschehens unter Einbeziehung einer zusätzlichen Person, wodurch nun auch die Eigenart der »Macht der Atmosphäre« umrissen ist, von der hier, wie in einer Laborsituation, die Rede ist. Eduard ist gerührt. Er ist nicht der heitere Flaneur, der vorbeikommt und anerkennend nickt. Vielmehr ist er im Sog von Arrangement und Empfinden, das Charlotte ein Stück weit allein (oder nur in Korrespondenz mit dem wichtigen Ort) geführt haben mag, das im Ganzen aber doch vor allem ein Zusammenhandeln ist, ein »Handeln im Hinblick auf« eine Art des Mitseins, dessen Austragungsort und Spiegel der Kirchhof wird. Was hier wirkt, scheuen wir mit Recht, »Gefühl« zu nennen. Jedenfalls geht es um mehr als Sentimentalität. Wir müssen vielmehr in Rechnung stellen, dass sich das gesamte Netz der hergestellten Bezüge überträgt, dass nun auch eine andere Person gefangen ist, dass mithin beide Personen angesichts des Kirchhofs in Korrespondenz miteinander geraten sind. Eduard »fühlt« nicht nur mit und er »denkt« nicht nur über Charlotte nach, sondern er tritt in eine Art platonische Teilverschmelzung mit ihr ein. Es erfolgt entsprechend ein leiblicher Liebes-Akt: »… er drückte Charlotten die Hand und im Auge stand ihm eine Thräne …« Das Handreichen ist im Übrigen ein anthropologisches Indiz, wie zum Beispiel der schottische Anthropologe Tim Ingold (2017) in seinem Aufsatz »On human correspondence« ausgeführt hat. Ingold bezieht sich auf Marcel Mauss’ Schrift Die Gabe (1923/24), in der das Handgeben, der Geschenkaustausch und andere responsive Akte beschrieben werden, und er erweitert die Angelegenheit zu einer Theorie der Gemeinsamkeit als ständiger Korrespondenz aller mit allen, bei er sich auf John Dewey bezieht: »I aim to show that such correspondence rests on three essential principles. The first is habit [Gewohnheit] the second what I shall call ›agencing‹ [Gemeinschaftshandeln], and the third attentionality [Achtsamkeit]. The theory of correspondence I propose here is not new. It was already adumbrated a century ago in 196 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Von der Macht der Atmosphären
the writings of the pragmatist philosopher and theorist of education John Dewey«. 8 Der Hinweis der Korrespondenztheorie angewandt auf das Phänomen der Atmosphären lautet mithin: Ohne einen atmosphärischen Bezug zueinander und zu den Dingen um uns könnten wir als Kollektivwesen gar nicht existieren. Korrespondenz ist im anthropologischen Sinne zum einen »Gewohnheit«, zum anderen »Zusammenhandeln« und schließlich unsere geradezu perfekt entwickelte Fähigkeit, auch unwillkürlich ständig aufeinander zu achten. Als Korrespondenzwesen (und nicht als berechnende Umgebungsbauer) schaffen wir jene atmosphärischen Milieus, die besser als Ergebnis eines »Zusammenhandelns« (coagencing) bezeichnet werden sollten und die verkannt sind, wenn man sie als Produkte einzelner Künstler oder als ästhetische Entwürfe einzelner Flaneure behandelt – ob in produktiver oder rezeptiver Hinsicht. Sie treten dem Einzelnen als Atmosphären machtvoll entgegen und ergreifen ihn. Er tritt gewissermaßen zurück in ein »Wir«, zu dem er selber gehört und dessen Atem er spürt, selbst wenn dieser ihm fremd und sonderbar anmuten sollte. Atmosphäre als Korrespondenzgeschehen ist also ein »Wirhandeln«, ein Zusammenwirken verschiedener Beziehungspole psychischer und physischer Art, das Situationen, Milieus und Atmosphären zu einem sich fortzeugenden stimulierenden Geschehen zwischen Menschen, aber auch zwischen Menschen und Tieren und Menschen und Dingen macht und in Gang hält. Das Spiel der Korrespondenzen erweitert oder verengt sich dabei, schaukelt sich auf oder stimmt sich herab, glättet sich oder steigert sich. In jedem Falle aber ist dabei etwas im Spiel, was der Einzelne nicht mehr wahrnimmt und dessen Atem er nur mehr spürt, sei es der eines anwesenden Gottes, sei es ein unwiderstehlicher Bezugsrahmen, sei es ein abwesendes »Wir«, sei es ein vorgeschriebener Ritus, der den Eindruck des »Umhaften« zelebriert.
8
Tim Ingold: »On human correspondence«, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 23/1, 2017, S. 9–27.
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Reinhard Knodt
Inwieweit der Begriff der Korrespondenz zur Erläuterung nicht nur klassischer atmosphärischer Phänomene, sondern vieler anderer Fälle des Mitseins sinnvoll ist, muss sich zeigen. Sicher ist, dass eine Reflexions-Instanz »außerhalb« problematisch wird, weil es dieses Außerhalb im empirischen Sinne einer Dualität nicht gibt, sondern nur stärkeres und weniger starkes Involviertsein ins Atmosphärische, das man in seinen Unterschieden aufschlüsseln müsste. Würde man auf den Begriff der Korrespondenz insgesamt stärkeres Augenmerk legen, könnte es jedenfalls sein, dass wir nicht nur im Falle der Macht der Atmosphären, sondern an vielen klassischen Dualismen vorbei, die uns den Blick bisher verstellen, noch ein weites Terrain zu Gesicht bekommen.
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Zur Operationalisierung der Atmosphäre
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Clemens Albrecht
Implizites Wissen über Atmosphären
»Mein Handwerkszeug als Krankenpfleger besteht darin, Stimmungen aufzuspüren, ebenso Stimmungen auszuhalten, Stimmungen zu steuern, und vor allem, bestimmte Stimmungen zu gestalten«. 1 Bereits auf dem morgendlichen Weg von der Tür der Psychiatrischen Abteilung zum Dienstzimmer spüre ein erfahrener Pfleger, welche Anforderungen an sein berufliches Handeln in den nächsten Stunden auf ihn zukommen könnten. Sind die Kollegen der Nachtschicht entspannt oder angespannt, ist der Geräuschpegel normal oder signalisiert er in einem Zimmer oder gar in der ganzen Abteilung eine Sondersituation? Sind die Bewegungsmuster normal, stehen die Gegenstände dort, wo sie hingehören? »Bei einigen meiner Arbeitskollegen erkenne ich schon am Klang ihrer Stimmen, wie der Tag werden wird«. 2 Das tägliche Sicheinrichten am Arbeitsplatz ist bereits Arbeit an der Atmosphäre, weil auch die Reaktion auf eine hektische oder bedrückende Situation, gestresste oder fröhliche Kommunikation, Lichtverhältnisse, Geräusche und Gerüche die Atmosphäre aufgreifen, bestätigen oder verändern kann. Indem man die Stimmung wahrnimmt, stimmt man sich selbst als Interaktionspartner ein, auch indem die eigene Gestimmtheit gegen kontrastierende Reize gewappnet wird. Der Klang der eigenen Stimme in der Erwiderung auf den Arbeitskollegen bestimmt den Ton, an den sich weitere Kommunikation anschließen kann. 1
Uwe Könemann: »Atmosphärische Gestaltungsmöglichkeiten auf einer psychiatrischen Station«, in: Stefan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 43–52, hier: S. 44. 2 Könemann (2007), S. 46.
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Clemens Albrecht
Spätestens im Morgenkreis mit den Patienten wird aus der Wahrnehmung der Atmosphäre dann ihre bewusste Gestaltung: die Wahl des Raumes, der Lichtverhältnisse, die Platzierung der Teilnehmer. Das wichtigste Mittel freilich ist die Gesprächsführung: das Gewährenlassen oder Umlenken von Erzählungen, Aufgreifen oder Liegenlassen von Themen, Problematisieren oder Bestätigen von Meinungen, Bestärken oder Versachlichen von Emotionen. In solchen Situationen können Gegenstände eine unerwartete Rolle spielen: Aus Zufall steht ein Schemel im Stuhlkreis, dem Pfleger kommt die Idee, den Schemel in der Mitte zu platzieren, aus seinen Schuhen zu schlüpfen und die Füße auf den Schemel zu stellen. Die Patienten machen es nach, und die körperliche Berührung ohne Verlust der Distanz, die spontane Neuerung und die lockere Sitzhaltung sorgen für eine gelöste Stimmung in der Runde und erzeugen eine positive Anfangsatmosphäre, die, sofern sie sich aufrechterhalten lässt, dem ganzen Tag einen positiven Schwung verleihen kann. 3 Dieses Beispiel zeigt, dass Berufserfahrung zu einem guten Teil durch den Umgang mit Atmosphären geprägt wird. Dazu gehört die Wahrnehmung von Stimmungen und Situationen, aus denen sie resultieren, die mehr oder weniger intuitive Identifikation von Faktoren, die Atmosphären verändern können, ihre Bewertung als positiv oder negativ für den Gesamtprozess und dann das Nutzen, Gewährenlassen, Beseitigen oder Überlagern durch selbst gesetzte Impulse. Ganz ähnliche Prozesse der Wahrnehmung, des Ansteuerns, des Umsteuerns bis hin zur eindimensionalen technischen Herstellung von Atmosphären sind auch in das außerberufliche Alltagshandeln eingelassen. Wenn ein normaler Wochentag beginnt und sich die Mitglieder einer Familie am Frühstückstisch einfinden, mit allen ihren unterschiedlichen Stimmungen, die in einer relativ intimen Gemeinschaft weniger kontrolliert werden müssen als später im Bus oder bei der ersten Begegnung mit Schulkameraden oder Kollegen, bestimmt die Atmosphäre die sich anbah3
Könemann (2007), S. 48 f.
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Implizites Wissen über Atmosphären
nende Kommunikation. Ähnlich, wenn sich WG-Bewohner in der Küche arrangieren, bevor sie zu den verschiedenen Tagesaktivitäten aufbrechen, ein Paar die morgendliche Stimmungslage beim Partner sondiert, um dann zu entscheiden, welche Zeit in ein gemeinsames Frühstück investiert und ob das Handy dabei besser beiseitegelegt werden sollte – oder als Ablenkung in die Hand genommen. In all diesen Situationen beruhen die Wahrnehmungen und Urteile auf schwer rationalisierbarem Wissen und merkwürdig ineinanderfließenden Signalen, die sich aber auch punktuell auf einen einzigen Impuls verdichten können: einen Blick, ein Wort, eine Geste, bei langer Kenntnis der Personen mit minimalem Ausdruck vermittelt. Atmosphären machen Gedanken lesbar. Auch das Selbstmanagement von Stimmungen arbeitet mit atmosphärischen Impulsen, etwa bei der Wahl einer bestimmten Musik für den Abend zur Entspannung nach der Arbeit, vielleicht nach Jahreszeit unterschiedlich. Kleine Alltagsrituale wie ein Balkonfrühstück oder der Tee mit Kerze, mediale Kontakte (auch ihre Meidung), sportliche Aktivitäten, Spaziergänge, Lektüre bestimmter Texte, Betrachten von Bildern, der erste Schluck Kaffee am Morgen zusammen mit einer Zeitung, die Soap am Abend mit Schokolade oder Chips, die Jogging-Runde: Alle diese Elemente setzen wir ein, um uns selbst in eine bestimmte Stimmung zu bringen, eine Stimmung zu erhalten und diese Stimmung als nicht nur subjektive Innenlage zu erleben, sondern als Gesamtzustand der Situation, an dem der umgebende Raum stimmig teilhat. Atmosphären fordern den Einklang zwischen der Innenlage der Gestimmtheiten und der Außenlage der Situation. Diese alltägliche Atmosphärenarbeit beruht auf einem impliziten Wissen, das in der Umgangssprache mit Formulierungen wie »ein Gespür haben für« oder »Erfahrung haben mit« charakterisiert werden kann. Es lässt sich sowohl im Alltagshandeln als auch im hoch spezialisierten professionellen Handeln nachweisen, ist also nicht an diffuse Handlungssituationen gebunden. Atmosphären entstehen im Fußballstadium genauso wie beim Bedienen einer Straßenbaumaschine, sie prägen Partys und andere Formen der Geselligkeit wie eine Vertragsverhandlung. 203 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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Implizites Wissen und die Möglichkeiten der Explizierbarkeit
Ohne auf die inzwischen umfangreiche theoretische Literatur zum Thema Atmosphäre eingehen zu können, 4 wird sie hier im Anschluss an die Neue Phänomenologie verstanden als »eine totale oder partielle, in jedem Fall aber umfassende Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird«. 5 Atmosphären überbrücken den Spalt zwischen Mensch und Welt, der sich durch die Differenzierungszwänge des zweckrationalen Handelns auftun muss. Atmosphären sind synthetisch, emergent, diffus und fluide. 6 Der Umgang mit ihnen speist sich aus Wissensformen, die über den Sinn-Begriff nur schwer aufzuschlüsseln sind, weil sie eine solche Nähe zu Emotionen und Gewohnheiten haben, dass sie eher in den Bereich des Verhaltens hineinragen als in den des Handelns. 7 Dies ändert sich freilich mit dem Aufbau von Kompetenzen im gestalterischen Umgang mit Atmosphären. Auch hier sind wir also, wie sonst auch, in einem durch Reflexion veränderbaren Handlungsfeld. Dass unser explizites Wissen auf anderen Wissensformen aufbaut, die sich meist aus der Erfahrung und dem langen Umgang mit Dingen und Situationen ergeben, hat für die Wissenschaftstheorie Michael Polanyi mit dem Begriff »tacit knowledge« he4
Vgl. zum Überblick etwa Robert Gugutzer: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld 2012; Barbara Wolf: »Methoden phänomenologischer Sozialisationsforschung. Untersuchungen von Lernatmosphären«, in: Sociologia Internationalis 55/2, 2017, S. 167–189; Christian Julmi: »Soziale Situation und Atmosphäre. Vom Nehmen und Geben der Perspektiven«, in: Larissa Pfaller/Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden 2018, S. 103–123. 5 Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg/München 2014, S. 19. 6 Clemens Albrecht: »Atmosphären operationalisieren«, in: Sociologia Internationalis 55/2, 2017, S. 141–165, hier: S. 149 f. 7 Clemens Albrecht: »Atmosphäre statt Sinn. Offene Räume in der interferenten Kultur«, in: Stephan Lessenich (Hrsg.): Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016, unter: http://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2016/article/view/ 603/pdf_141 (Stand: 20. 8. 2019).
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Implizites Wissen über Atmosphären
rausgearbeitet. 8 Er geht von der Beobachtung aus, dass wir quer durch alle Wissensformen hindurch stets mehr wissen, als wir ausdrücken können. 9 Diese Differenz werde dann bewusst, wenn wir die Fähigkeiten eines Genies oder die Erfahrungen eines Praktikers beschreiben. Der Aufbau dieses impliziten Wissens geschehe in jenen Dimensionen der Erkenntnis, die Dilthey als Einfühlung in den Gegenstand beschrieben hat. Implizites Wissen ist eher unbewusst, wird, wenn thematisiert, als selbstverständlich dargestellt, eröffnet sich intuitiv und ist durch ein Primat des Gefühls gekennzeichnet. 10 In der Wissenschaft zeige sich die Bedeutung des impliziten Wissens auf zwei Ebenen am deutlichsten: in der Problemerkennung und in der moralischen Einbettung der Problembearbeitung. Beide Ebenen, so Polanyi, entzögen sich a priori dem analytischen Zugriff. Die Problemerkennung setzt vorgelagerte Wissensbestände voraus, die eine allgemeine metaphysische Überzeugungsgrundlage enthalten, wie sie Grundlage aller Disziplinen ist. Eine Problemlage muss auch emotional inkorporiert sein, um die Erkenntnissuche anzustoßen, bis hin zur persönlichen Obsession: »ein Problem darf uns nicht in Ruhe lassen, sonst ist es kein Problem. Entweder treibt es uns, oder es ist keins. Niemals könnten wir angeben, um was sich unsere Obsession, die uns anspornt und lenkt, eigentlich dreht. Ihr Inhalt ist undefinierbar, indeterminiert, ganz unpersönlich«. 11 Ihre Begrenzung erhält die Problembestimmung auch durch die moralische Dimension des impliziten Wissens, die gleichsam Leitplanken des Fragbaren aufstellt. Solche Abhängigkeiten der Erkenntnis ließen sich nicht oder nur sehr schwer ausdrücken. 12 8
In der deutschen Übersetzung wurde daraus der Begriff des »impliziten Wissens«, der die Unterscheidung stärker aus dem Situativen herauslöst und ins Kategoriale verschiebt, was für die folgenden Überlegungen zweckdienlich ist. 9 Michael Polanyi: Implizites Wissen, Frankfurt 1985, S. 14. 10 Günther Schanz: Implizites Wissen. Phänomen und Erfolgsfaktor – Neurobiologische und soziokulturelle Grundlagen – Möglichkeiten problembewussten Gestaltens, München 2006, S. 13 ff. 11 Polanyi (1985), S. 70. 12 Polanyi (1985), S. 31.
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Jede Formalisierung impliziter Wissens- und Erfahrungsbestände setzt einen analytischen Zugriff voraus, der in einem konstitutiven Gegensatz zu ihrem synthetischen Charakter steht. Implizites Wissen lässt sich nicht restlos durch Aufklärung in explizites überführen, da jede Explikation wiederum eigene Implikationen voraussetzt. Trotzdem können sich die Grenzen verschieben, indem die Voraussetzungen bestimmter Problemkonzeptionen selbst zum Problem werden, wenn, wie Weber formuliert, »das Licht der großen Kulturprobleme« 13 weitergezogen ist. Dieses Licht erhellt und verdunkelt gleichzeitig, macht vorher implizites Wissen explizierbar, aber dies nur auf der Grundlage eines neuen, veränderten impliziten Wissens. Und ähnlich verschieben sich auch die moralischen Grenzen des Erforschbaren, durch Ethik-Kommissionen eher begleitet, ja diskursiv vorbereitet als begrenzt, indem die ausformulierten Alternativen der ethischen Positionen die Reflexionsfähigkeit in Richtung der impliziten moralischen Überzeugungen ausbauen. Sobald die moralischen Selbstverständlichkeiten ausformuliert, ja in Normen gegossen sind, verlieren sie ihren impliziten Geltungsimperativ. Diese Dialektik zwischen Geltung und Aufklärung ist aus der Institutionentheorie bekannt. 14 Implizites Wissen lässt sich also durchaus explizieren, aber nicht alles zu jeder Zeit im Sinne einer trivialen Aufklärungstheorie, sondern nur ein Teil, das in Phasen eines allgemeineren Wandels gleichsam freigegeben wird, und nur als Nullsummenspiel, indem es zugleich ›von unten‹ wieder nachwächst. »Die Unsicherheit des Wissens aber wird durch den Fortschritt der Wissenschaft nie ausgeräumt werden können, weil sie nicht vom Ausmaß unseres Wissens, sondern von dem Anspruch der Handelnden an dieses Wissen abhängt«. 15 Und dieser An-
13
Max Weber: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1982, S. 146–214, hier: S. 214. 14 Helmut Schelsky: »Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie«, in: Ders.: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln 1965, S. 250–275. 15 Friedrich H. Tenbruck: »Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit«, in: Hans
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Implizites Wissen über Atmosphären
spruch kann die Rationalität des Handelns nur nutzen, indem er sie auf einen Berg an Irrationalem setzt. War der Begriff des impliziten Wissens zunächst ganz auf die Wissenschaftstheorie fokussiert, so richtete er sich in der Praxistheorie zunehmend auf die unterschiedlichen Dispositionen des Wahrnehmens und des Handelns. Ohne in die Diskussion um die Fruchtbarkeit dieses Begriffs für die allgemeine soziologische Theorie hier einsteigen zu können, kann man an Fritz Böhles Beobachtung anschließen, dass die spürende Wahrnehmung auch von Atmosphären ein Fall der Anwendung von implizitem Wissen im Alltagshandeln darstellt. »Exemplarisch hierfür sind Geräusche und Vibrationen bei technischen Anlagen, die Haltung und der Gesichtsausdruck von Personen, die ›Atmosphäre‹ eines Raums oder sozialer Situationen, die ›Stimmigkeit‹ einer Bewegung oder eines Verlaufs. Diese Art der sinnlichen Wahrnehmung ist verbunden mit einem subjektiven Empfinden, das sich in einem leiblichen Spüren äußert. Häufig wird dieses Empfinden in synästhetischen oder metaphorischen Qualitäten beschrieben […]«. 16 Bereits die Wahrnehmung solcher Phänomene wird durch implizites Wissen gesteuert, ein meist erfahrungsangeleitetes Wissen um relevante Impulse: die Bewegungen eines Pferdes für den geübten Reiter, Mimiken und Körperhaltungen für den Mediator, Vibrationen und Geräusche für den Maschinisten. Erinnerung und Emotionen spielen für das implizite Wissen über Atmosphären eine ähnlich wichtige Leitplankenfunktion, wie metaphysische Grundüberzeugungen und Moral in der Wissenschaftstheorie Polanyis. So wie in der Weber’schen Handlungssoziologie das traditionale und das affektuelle Handeln im Vergleich zum wert- und zweckrationalen Handeln die größere Nähe zum Verhalten aufweisen, so bilden in erster Linie Erfahrungssedimente im Gedächtnis und Emotionen die Träger des Maier/Klaus Ritter/Ulrich Matz (Hrsg.): Politik und Wissenschaft, München 1971, S. 323–356, hier: S. 328. 16 Fritz Böhle/Stephanie Porschen: »Körperwissen und leibliche Erkenntnis«, in: Reiner Keller/Michael Meuser (Hrsg.): Körperwissen, Wiesbaden 2011, S. 53–67, hier: 58 f.
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impliziten Wissens bei der Identifikation von und im Umgang mit Atmosphären. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich in erster Linie Wissens- und Emotionssoziologie der Analyse von Atmosphären angenommen haben. 17 2
Explikationen atmosphärischer Praktiken
Sieht man die neuere Literatur durch, in der auf völlig verschiedenen Themenfeldern Rolle und Bedeutung von Atmosphären beschrieben werden, fällt auf, dass Atmosphären wohl auf einigen Handlungsfeldern eher explizierbar sind als auf anderen. Schon aus der Genese der Atmosphärenforschung wird deutlich, was das Eingangsbeispiel anreißt: In der Psychiatrie scheint ein Handlungsfeld zu bestehen, das zu einem reflektierten Umgang mit Atmosphären drängt. Die Psychiatrie muss gleichsam in ›einseitiger Rationalität‹ einen Umgang mit Interaktionspartnern finden, die zu sinnhafter Kommunikation nur sehr eingeschränkt Zugang haben. 18 Hubert Tellenbach hatte in diesem Zusammenhang vorgeschlagen, die Wahrnehmung des Atmosphärischen an Geruch und Geschmack zu koppeln, die er im »Oralsinn« zusammenführte. »Im Gespür des Atmosphärischen besitzen wir ein Organ des Erfassens dessen, was Mitwelt und Umwelt ganz unmittelbar und einheitlich charakterisiert. Dem Spüren dieses Unwägbaren, Ungestaltigen entspringen einprägsame Vor-Urteile über mitmenschlich Begegnendes, entspringen Stimmungen, die primäre sympathetische Zustimmung oder ab-
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Vgl. Reiner Keller/Michael Meuser (Hrsg.): Körperwissen, Wiesbaden 2011; Larissa Pfaller/Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden 2018. 18 In gesteigerter Form findet sich dieses Problem in der Tierhaltung, wo atmosphärisches »sich Hineinversetzen« in die Tiere zu einer besonderen Fähigkeit verdichtet werden kann, vgl. Sara Asu Schroer: »›A feeling for birds‹. Tuning into more-than-human atmospheres«, in: Sara Asu Schroer/Susanne B. Schmitt (Hrsg.): Exploring Atmospheres Ethnographically, London/New York 2018, S. 76– 88. Das atmosphärische Wissen von Tierpflegern wäre noch zu erheben.
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Implizites Wissen über Atmosphären
lehnende ›Animosität‹ sein können«. 19 Atmosphärische Wahrnehmungen seien, so Tellenbach, dezidiert nicht objektivierbar. Gerade weil sich solche Wahrnehmungen im vorrationalen Raum vollziehen, bieten sie für die Psychiatrie eine Kommunikationsform jenseits sinnhafter Botschaften. Tellenbach greift hier zunächst auf die Beobachtung erfahrener Diagnostiker zurück, die aus dem unmittelbaren Eindruck, den eine Person noch vor jedem Kommunikationsakt durch Sprache, Blicke, Gesten etc. vermittelt, den Psychotiker zu erkennen vermögen. Auch die Diagnose Schizophrenie ergebe sich nie aus der Summe einzelner Symptome, stets trete noch ein Unbestimmbares hinzu, das nur die Kennerschaft des Diagnostikers im Sinne einer Geschmacksausbildung erkennen und sicher identifizieren könne. 20 Spielt das Atmosphärische schon in der Diagnose eine zentrale Rolle und muss als Kompetenz durch Erfahrung angeeignet werden, so rückt es bei einigen Therapieformen weiter in den Vordergrund. Soteria etwa ist ein Behandlungsansatz für Schizophrenie, der auf Atmosphärisches setzt. Dieser Therapieansatz geht davon aus, dass die akute schizophrene Psychose Folge einer nicht bewältigten Lebenskrise ist. »Der akut psychotische Mensch erscheint somit als ein fragiler und verwirrter, nach außen abwehrender, dahinter jedoch meist ausgesprochen feinfühliger und dünnhäutiger Mensch.« 21 Die Therapie arbeitet mit dem Aufbau eines bestimmten Milieus, das eine sichere, reizarme Umgebung bietet, klare Haltung bei Interaktionen, Vertrautheit und Normalität in einer kleinräumigen Umgebung sichert. Auch die Architektur der Klinik ist in dieses Konzept eingebunden. Das wichtigste Element der Therapie sind jedoch die Mitarbeiter, die atmosphärische Kompetenzen mitbringen müssen: authentisch, empathisch, respektvoll, klar, kommunikativ, initiativ, praktisch, das richtige Maß von Nähe und Distanz findend, 19
Hubert Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontakts, Salzburg 1968, S. 49. 20 Tellenbach (1968), S. 62. 21 Holger Hoffmann: »Soteria – Atmosphäre als Therapeutikum in der Schizophreniebehandlung«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 15–41, hier: S. 16.
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eigenverantwortlich, mit der nötigen Gelassenheit reagierend und frei von ideologischen Überzeugungen. »Die Qualität der zwischenmenschlichen Atmosphäre ist von zentraler Bedeutung für das Gelingen des Soteria-Konzepts«. 22 Das Therapiemilieu ist durch eine geringe Bettenanzahl, Altersgruppen, eine verbindlichen Tagesstruktur und Lernmöglichkeiten bestimmt. Ziel ist die Entmedikalisierung der Therapie. Sind die Patienten einigermaßen stabilisiert, wird ihre Familie in die Therapie einbezogen, um die Atmosphäre des Therapiemilieus möglichst auf sie zu übertragen. Das Soteria-Konzept geht mit Ciompis Konzept der Affektenlogik davon aus, dass Kognition und Emotion nicht isoliert sind, sondern als ein zentraler Baustein der Psyche zusammenwirken. 23 Insofern spielt die Gestaltung der räumlichen Umgebung, die Inneneinrichtung eine Rolle, vor allem in der Phase der ersten Stabilisierung von Patienten. Soteria Bern hat hierzu ein sog. »Weiches Zimmer« eingerichtet. »Die besondere Farbgebung und sparsame Einrichtung des Weichen Zimmers sollen eine reizarme und beruhigende, entspannte Atmosphäre schaffen«. 24 Generell geht das Konzept von einem klaren Zusammenhang zwischen Architektur und Heilungschancen aus. Damit ist ein zweites Feld benannt, auf dem man die Explizierung atmosphärischen Wissens beobachten kann. Krankenhäuser als Orte, an denen Funktionalität, Sterilität und Sauberkeit die Architektur bestimmen, sollten doch gleichzeitig eine Atmosphäre bieten, die nicht als kalt, steril und abweisend empfunden wird. Und so gibt es beim Klinikbau und in der Innengestaltung immer wieder Versuche, Funktionalität und angenehme atmosphärische Gestaltung zu verbinden (vgl. Langewitz in diesem Band). Die anthroposophischen Kliniken in Witten-Herdecke und Filderstadt setzen dies in erster Linie durch eine polygone Gestaltung der Räume um, ergänzt durch Lichteinfall, Farbgestaltung, Holz und Bepflanzung. 22 23 24
Hoffmann (2007), S. 32. Hoffmann (2007), S. 23. Hoffmann (2007), S. 28.
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Implizites Wissen über Atmosphären
Auch in der konventionellen Medizin lassen sich ähnliche Ansätze beobachten. An der Medizinischen Hochschule Hannover wurde ein eigener »Pavillon der Sinne« aufgebaut, der zum Malen, Zeichnen, Gestalten, Musizieren und Schreiben in unterschiedlichen Räumen und Settings einlädt, um den Heilungsprozess zu begleiten. 25 Das Kinderkrankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara in Halle wurde durch Ulrich Reimkasten, Professor für Malerei und textile Künste, und seine Studenten künstlerisch so gestaltet, dass unterschiedliche Raumatmosphären entstanden sind. »Kein weißes steriles Krankenhaus, sondern ein ›gestimmter‹ Raum mit fühlbaren Atmosphären, die den Funktionsraum Krankenhaus aufbrechen und zu einem Spielplatz der Sinne werden lassen«. 26 Am Eingang zur Kinderabteilung etwa wurde eine matte Glaswand eingebaut, die durch eine Farb-Licht-Projektion jeden Passanten durch einen lebensgroßen Schatten begleitet, der in den Spektralfarben oszilliert. Kinder beobachten dies fasziniert und fangen an, mit den Schatten spielerisch zu experimentieren. Sie verlieren dadurch die ängstliche Haltung, mit der sie in der Regel den Gebäudekomplex betreten haben. »Aktiv und spielerisch in die Konstitution des Raums einbezogen und dessen Differenz leiblich spürend, fühlt man sich als Mensch willkommen und betritt die Krankenstation mit Offenheit und weniger Angst«. 27 In den Krankenzimmern wurden an den Decken Mobiles angebracht, die durch Beleuchtung immer neue Schattenformen an die Wände werfen, und einige Krankenzimmer der Kinderabteilung wurden mit einem künstlichen Sternhimmel versehen, der nachts zu leuchten beginnt.
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Anke Bertram/Anika Bertram/Andine Mosa: »›Pavillon der Sinne‹. Gesundheitsförderung durch Kunst, Kultur und soziale Kontakte an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 66–75. 26 Claudia Lorenz/Joachim Penzel: »Gestimmte Räume. Ein atmosphärischer Rundgang durch ein Kinderkrankenhaus«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 53–65, hier: S. 55. 27 Lorenz/Penzel (2007), S. 56.
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Clemens Albrecht
Atmosphären geraten also an der Nahtstelle zwischen Medizin und Architektur in den Fokus, und zwar durch den Bedarf an einer architektonischen Hilfestellung für den Heilungsprozess. 28 Von hier aus kann der Blick auf andere Wirkungen von Architektur fallen: Wie sich bestimmte Atmosphären in Innenräumen (Wohnungen, Büros oder Sakralbauten) herstellen lassen, ist ein klassischer Lehrgegenstand der Innenarchitektur. Aber auch im Städtebau kommt in den Blick, welche Wirkung (etwa in der Banlieue) die trostlose Atmosphäre heruntergekommener Plattenbauten entwickeln kann und wie diese durch Sanierungskonzepte verändert werden soll. Atmosphärische Gestaltungsansprüche sind besonders bei der Architektur zu beobachten, die Erlebnisse vermitteln soll, wie etwa Aquarien. 29 Gebäudeensembles, Wohnviertel, ja ganze Städte können aber auch als eigene Gefühlsräume betrachtet werden, in denen Baukultur, Licht und Schatten, Gerüche, Geräusche, Bewegungsrhythmen etc. zu einem synästhetischen Gesamterlebnis zusammenfließen und als je spezifische Atmosphären reflektiert werden. 30 Von hier aus ist die Forderung nicht mehr weit, die Wahrnehmungsfähigkeit von Atmosphären als Moment einer neuen ästhetischen Erziehung einzuführen. 31 Auf dieser Grundlage werben heute Architekturbüros mit ihren atmosphärischen Kompetenzen, eine Ausstellung im Baukunstarchiv NRW 2018 findet unter dem Titel »Konzept + Atmosphäre« statt, in der Tagespresse erscheinen Artikel aus diesem Kontext. 32 Es ist abzusehen, dass 28
Vgl. Anette Stenslund: »The harsh smell of scentless art. On the synaesthic gesture of hospital atmosphere«, in: Sara Asu Schroer/Susanne B. Schmitt (Hrsg.): Exploring Atmospheres Ethnographically, London/New York 2018, S. 153–171. 29 Susanne B. Schmitt: »Making charismatic ecologies. Aquarium atmospheres«, in: Sara Asu Schroer/Susanne B. Schmitt (Hrsg.): Exploring Atmospheres Ethnographically, London/New York 2018, S. 89–101. 30 Jürgen Hasse: Atmosphären der Stadt. Aufgespürte Räume, Berlin 2012. 31 Gernot Böhme: Atmosphären in der Architektur, Paderborn 2006, S. 52. 32 Vgl. https://www.atmo-architektur.de; https://www.gerberarchitekten.de/kon zeptatmosphaere/; https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/atmosphaere-in-der-
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Implizites Wissen über Atmosphären
dieses Thema in die Curricula der Hochschulen für Architektur einziehen wird und nicht nur in der Innenarchitektur, sondern auch im Städtebau zum Standard wird. Neben der Krankenhausarchitektur steht dabei die Schule im Fokus der Atmosphärenforschung. 33 Hier verlagert sich allerdings die Aufmerksamkeit mehr auf die soziale Situation, die Unterrichtsatmosphäre. »Dass die Atmosphäre für das Schulleben bedeutend ist, wissen alle Lehrerinnen, eingeführte Rituale in unseren Schulen zeugen z. B. davon.« 34 Eine ethnographische Beobachtung, die sich auf die emotionalen Reaktionen der Schüler, die emotionalen Interaktionen zwischen Schülern und Lehrern und die diskursiven Aushandlungsprozesse zur kollektiven Herstellung einer bestimmten Atmosphäre richtet, kommt zu dem Befund, dass deren Relevanz gleichzeitig mit der Flüchtigkeit von Atmosphären korrespondiert. Die klassische Literatur zum »Schulklima« 35 oder neuere zum »Lernklima« 36 greifen aus didaktischer Perspektive dieses Thema auf. Vor allem in der frühkindlichen Pädagogik kann man die Bedeutung von Atmosphären kaum hoch genug bewerten. 37 Eine besondere Variante der Explikation von implizitem Wissen über Atmosphären zeigt sich in sonderpädagogischen Handlungsfeldern, wenn etwa Blinde durch eine Gemäldegalerie
architektur-gute-architektur-fuehre-menschen-zum-besten-selbst-findet-wimwenders/11114426–3.html (alle Stand: 20. 8. 2019). 33 Stefan Wellgraf: »Hauptschule: Atmospheres of boredom und ruination«, in: Sara Asu Schroer/Susanne B. Schmitt (Hrsg.): Exploring Atmospheres Ethnographically, London/New York 2018, S. 12–29. 34 Doris Krammling-Jöhrens: »Atmosphäre als Wirklichkeitsebene. Mit ethnographischer Forschung Erfahrungen aus einer Schule zur Verfügung stellen«, in: Heiner Ullrich/Till-Sebastian Idel/Katharina Kunze (Hrsg.): Das Andere Erforschen. Empirische Impulse aus Reform- und Alternativschulen, Wiesbaden 2004, S. 123–134, hier: S. 133. 35 Helmut Fend: Schulklima: Soziale Einflußprozesse in der Schule, Weinheim/Basel 1977. 36 Wolfgang Endres u. a.: Lernklima in der Sekundarstufe. Unterrichtsideen mit Kopiervorlage, Weinheim 2011. 37 Barbara Wolf: Atmosphären des Aufwachsens, Rostock 2015; Wolf (2017).
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Clemens Albrecht
geführt werden. Hier wird atmosphärisch vermittelt, was an primären Sinneswahrnehmungen fehlt. Gerade der synästhetische Charakter von Atmosphären kann substituierend wirken, indem Raumgefühl und erzählende Schilderung ersetzen, was Blick oder Gehör nicht signalisieren können. »Das imaginär Unscharfe kann das sinnlich Präsente ebenso verdrängen, wie das gedanklich Eindrückliche sich mit dem körperlich Distanzierten, nur vage Gespürten zu überlagern vermag, nicht anders, wie diese Erfahrungsweisen stets vermischt sind und es bei all ihren, auch extremen, Gewichtungen bleibt«. 38 Atmosphären realisieren sich primär im Imaginativen. Nur so ist der Zusammenhang zu erklären, den bereits Tellenbach zwischen Psychiatrie und Literatur wob, indem er die atmosphärische Dimension der Einbrüche des Wahns mit Dostojewski analysierte. 39 Wie Stimmungen literarisch erzeugt werden, ist Gegenstand einer umfangreichen Sekundärliteratur, die sich auf Fiktives konzentriert. 40 Horror-Autoren wie Stephen King sind Meister der Atmosphärenproduktion, wobei das entscheidende Mittel im Angedeuteten, Undeutlichen, in der Unschärfe besteht. 41 Interessant wird es dort, wo die literarische Fiktion den Charakter einer Ethnographie hat und ihr eine so dichte Beschreibung gelingt, dass diese wie eine idealtypische Atmosphärendarstellung wirkt. George Orwells »Moon under water« gilt etwa als perfekte Beschreibung einer typischen Pub-Atmosphäre. 42
38
Volkmar Mühleis: »Kunst und Atmosphäre«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 124–140, S. 137. 39 Tellenbach (1968), S. 72. 40 Vgl. etwa Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011. 41 Dagmar Schmauks: »Grauen aus dem Baukasten. Die Herstellung von Atmosphäre in Stephen Kings Roman Friedhof der Kuscheltiere«, in: Stephan Debus/ Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 89–123. 42 Robert Shaw: »The making of pub atmospheres and George Orwell’s Moon Under Water«, in: Sara Asu Schroer/Susanne B. Schmitt (Hrsg.): Exploring Atmospheres Ethnographically, London/New York 2018, S. 30–44.
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Implizites Wissen über Atmosphären
Auch der Film bietet eine breite Angriffsfläche für die Analyse von Atmosphären. 43 Ein besonders interessantes Umsetzungsgebiet ist dabei die Tontechnik. Hier zeigt sich, mit welchen minimalistischen Mitteln atmosphärische Effekte erzielt werden können und wie erfahrene Tontechniker geradezu geschult sind, atmosphärenrelevante Geräusche aus einer komplexen Klangkulisse herauszuhören und sie tontechnisch weiter zu bearbeiten. Der Film macht sich dabei das Selektionsvermögen des menschlichen Ohrs zu eigen, aus einer komplexen Geräuschkulisse handlungsrelevante Orientierungslaute herauszufiltern. Tontechniker reproduzieren diesen Effekt durch eine eigene Tonaufnahme vor Ort, die sogenannte »Atmo«, die die charakteristischen Geräusche einfängt. Sie bildet den Hintergrund, um bei Schnittwechsel die Kontinuität des Ortes zu signalisieren. »Eine gute Atmo aufzunehmen ist eine häufig unterschätzte Arbeit beim Filmemachen. Sie erfordert Sensibilität und die Fähigkeit, ganz genau hinzuhören, um beurteilen zu können, welche Geräusche dem Ort seine spezifische Sound-Charakteristik verleihen. Es stellt sich die Frage, mit welchen Mikrofonen, aus welcher Entfernung und von welchem Standpunkt aus die Geräusche des Ortes aufgenommen werden sollen, damit die akustische Atmosphäre möglichst genau erfasst wird«. 44 Eine Szene am Meer etwa kann durch einen Möwenschrei oder Wellenrauschen charakterisiert werden, während die Motorboot-Geräusche ausgeblendet werden. Zikaden suggerieren Hitze, Unwirtlichkeit und Einsamkeit wird über heulenden Wind vermittelt. Hier können dann auch dramatische Effekte nur durch den Ton atmosphärisch verstärkt werden: »Die Krisensituation des Paares in dem Café könnte man unterstützen, indem man laute, aufdringliche oder nervende Geräusche einsetzt und sich langsam steigern lässt, sowohl in der Intensität als auch 43
Vgl. etwa Julia Bee/Gerko Egert: »Waves of experience. Atmosphere und Leviathan«, in: Sara Asu Schroer/Susanne B. Schmitt (Hrsg.): Exploring Atmospheres Ethnographically, London/New York 2018, S. 102–114. 44 Katrin Moll: »Die ›Atmo‹ – Tondramaturgische Gestaltung durch Geräuschatmosphären in Film und im Hörspiel«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 76–88, hier: S. 77.
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Clemens Albrecht
in der Häufung. Oder man arbeitet kontrapunktisch mit Elementen der Atmo, also gegenläufig zur angespannten Situation, indem man liebliche oder fröhliche Hintergrundmusik anlegt oder allgemein eine eher ruhige und entspannte Caféhausatmosphäre ohne laute nervige Geräusche«. 45 Geräusche können technisch mit einem Nachhall versehen werden, was große Räume suggeriert, während die fehlende Atmo die Spannung steigen lässt. Allein die technische Nachbearbeitung der beim Drehen aufgenommen Klangkulisse inklusive der Stimmen hat ein großes Potential, Atmosphären zu gestalten: »Wir können beispielsweise einen Raumklang als warm oder kalt, dumpf oder klar, wohlig oder ungemütlich einordnen. Steigt die Nachhallzeit zu tiefen Frequenzen hin, dann ergibt sich beispielsweise der Eindruck eines warm klingenden Raumes. Fehlen dagegen hohe Frequenzen, dann wirkt der Raum akustisch dumpf. Und wenn die Nachhallzeit insgesamt niedrig ist, dann ergibt sich beim Hören der Eindruck eines dumpfen, bedrückend engen Raumes, beispielsweise einer Abstellkammer«. 46 Jenseits von Kunst und Literatur lassen sich eine Reihe spezifischer sozialer Felder nennen, die zur Atmosphärenforschung besonders einladen. Dazu gehören etwa Jugendkulturen, die auf ein flow-Erlebnis hin ausgerichtet sind, 47 oder Religion, wenn etwa der Unterschied zwischen traditionell-kirchlich gebundenen Gläubigen und den modernen »religiösen Wanderern« 48 durch den Unterschied zwischen »numinoser« und »spiritueller« Atmosphäre verdeutlich wird. Während numinose Atmosphären das Heilige oder das Göttliche einbeziehen, sind spirituelle nur durch 45
Moll (2007), S. 79. Moll (2007), S. 79 f. 47 Eva Kimminich: »Kairos, Actionality und Flow – Wie, wozu und warum in Jugendkulturen Atmosphäre hergestellt wird«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 141–156. 48 Winfried Gebhardt: »Kein Pilger mehr, noch kein Flaneur. Der ›Wanderer‹ als Prototyp spätmoderner Religiosität, in: Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler (Hrsg.): Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart, Wiesbaden 2006, S. 228–243. 46
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Implizites Wissen über Atmosphären
einen eher diffusen Transzendenzbezug gekennzeichnet. »Spirituelle Atmosphären sind in der Regel sowohl dicht als auch offen, sowohl emotional als auch unaufdringlich.« 49 Sie fordern vom Teilnehmer eine Entscheidung, die nicht in der Teilhabe schon vorausgesetzt wird. Sie sind nicht autoritär, sondern libertär, und zielen auf Selbsttransformation. Neben diesen eher erwartbaren Untersuchungsfeldern gibt es in der Organisationssoziologie eine produktive Bearbeitung des Themas, die zunächst von konzeptionellen Fragen ausgeht 50 und bei praktischen Handlungsratschlägen endet. 51 In der Arbeitssoziologie hat sich die Fruchtbarkeit bereits seit längerem erwiesen, und zwar ausgehend von der klassisch tayloristischen Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Wie die Arbeitssoziologie festgestellt hat, stellt sich dann bei den Handarbeitern ein eigenes Selbstbewusstsein über die Fähigkeiten des eigenen Körpers ein, und zwar nicht nur in Bezug auf ihre physischen Fähigkeiten wie Stärke etc., sondern auch auf das inkorporierte Wissen, das Gespür für Materialien etwa. »Da dieses Wissen von sinnlicher Erfahrung und damit vom Körper nicht ablösbar ist, kann es auch ohne Verbindung mit praktischem Tun weder dargestellt noch erlernt werden. Vor- und Nachahmen sind entsprechend wichtige Formen, in denen ein solches Wissen vermittelt wird«. 52 Hier zeigen sich in der Arbeitswelt typische Formen eines impliziten Wissens, die ebenfalls Atmosphärisches einschließen. Dazu gehören auch die typischen Geräusche, Vibrationen und Lichteffekte technischer Anlagen: »beispielsweise wird ein Geräusch als warm, rund oder schräg, eine Atmosphäre als wohltuend oder er49
Michael Huppertz: »Spirituelle Atmosphären«, in: Stephan Debus/Roland Posner (Hrsg.): Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007, S. 157–195, hier: S. 174. 50 Vgl. Christian Julmi: Atmosphären in Organisationen. Wie Gefühle das Zusammenleben in Organisationen beherrschen, Bochum 2015. 51 Christian Julmi: Atmosphärische Führung. Stimmungen wahrnehmen und gezielt beeinflussen, München 2018. 52 Fritz Böhle: »Körper und Wissen. Veränderungen in der sozio-kulturellen Bedeutung körperlicher Arbeit«, in: Soziale Welt 40/4, 1989, S. 497–515, hier: S. 504.
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Clemens Albrecht
drückend empfunden. Solche Phänomene beruhen nicht, wie oft unterstellt, auf einem rein inneren Vorgang; wesentlich ist für sie vielmehr eine subtile, empfindende und spürende Wahrnehmung äußerer Gegebenheiten. Das Empfinden und Spüren bezieht sich also nicht nur auf ein ›inneres Erleben‹, sondern informiert die Akteure über Qualitäten der Außenwelt«. 53 Werkzeugmacher an Fräsmaschinen etwa zeigen in den Interviews eine luzide Fähigkeit, über Metaphern atmosphärische Differenzen der Bearbeitung unterschiedlicher Materialien zu charakterisieren, die aus ihrer Erfahrung im Arbeitsprozess stammen. 54 Aus diesem »Körperwissen« leiten sie ihre Überlegenheit gegenüber den Ingenieuren ab, die nur vom Kopf her entscheiden. Ein ähnlich intuitives Verhalten zeigt sich ebenfalls bei Informatikern, die anhand eines Bauchgefühls über willkürlich gezogene Datensätze entscheiden, mit welcher Datenbank sie weiterarbeiten. Hier wie dort zeigt sich ein implizites Wissen, das aus der Berufserfahrung gewonnen ist und nur bei der Weitergabe dieser Erfahrungen begrenzt und meist nur metaphorisch kommunizierbar wird. Das Wissen von Beobachtern außerhalb des Handlungsfeldes bleibt bei der Explikation von Atmosphärenwissen meist in abstrakten und kategorialen Formen stecken, wo es nicht auf eigener Erfahrung im entsprechenden Praxisfeld beruht. Dort allerdings, wo Praktiker aus dem Berufs- oder Erfahrungsfeld selbst die Beschreibung und Analyse vornehmen, sei es direkt als Autor oder indirekt als Interviewte, wird dieses Wissen wie im Eingangsbeispiel schnell anschaulich und konkret und birgt manch überraschende Befunde. Gerade weil Atmosphärenforschung auf implizites Wissen zugreift, muss sie nahe an ethnographischen Methoden arbeiten. Mit dem zunehmenden Wissen um Atmosphären aber, das sich über die Fallanalyse exemplarisch aufbaut und durch die Erfahrungen der ›Atmosphärenarbeiter‹ praktisch validiert, verschiebt sich die Grenze zwischen implizitem und explizierbarem Wissen, und Atmosphären werden gestaltbar, etwa für soziopru53 54
Böhle/Porschen (2011), S. 59. Böhle/Porschen (2011), S. 60.
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Implizites Wissen über Atmosphären
dente Anwendungen: »Stimmungen und Atmosphären sind eigentümliche Phänomene. Sie sind flüchtig wie der Wind und hängen doch manchmal tief und klebrig über einer sozialen Situation. Sie sind diffus und kaum zu fassen, und können doch von einem einzigen Gegenstand, von einem Wort oder einem Blick ausgehen. Atmosphären bestehen aus Gefühlen, aber wir haben nicht selten den Eindruck, dass sie von außen kommen. Sie sind kaum zu kontrollieren, und doch kann man Atmosphären auch gezielt herstellen. Bei Atmosphären verschwimmen die Grenzen zwischen uns selbst und der Welt. Gerade deshalb sind sie auch ein wichtiges Mittel für Alltagsdiplomatie«. 55
55
Clemens Albrecht: Sozioprudenz. Sozial klug handeln, Frankfurt/M. 2020, S. 248.
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Rainer Kazig
Zum Umgang mit Atmosphären. Atmosphäre als Handlungsressource und sinnliche Vermittlerin von Lebensmöglichkeiten 1
Einführung
Die Atmosphärenforschung hat sich im Verlauf der vergangenen 20 Jahre im internationalen Raum als ein Disziplinen übergreifendes Forschungsfeld etabliert. Nach einer zunächst überwiegend theoretischen Ausrichtung ist die Atmosphärenforschung inzwischen in zunehmendem Maß auch durch empirische bzw. durch in phänomenologischer Tradition auf spezifische Orte fokussierte Arbeiten gekennzeichnet. Sie erfolgen überwiegend in der Logik einer Raumforschung. Mit dieser Bezeichnung soll ausgedrückt werden, dass die hier zusammenfassend als empirisch bezeichnete Atmosphärenforschung weitgehend von der Frage geprägt ist, Atmosphären als lokalisierte Ortseffekte zu verstehen und zu analysieren, von denen die an einem Ort anwesenden Personen in mehr oder weniger gleicher Weise betroffen werden. 1 Konkret manifestiert sich diese Orientierung der Atmosphärenforschung in Arbeiten, die beispielsweise städtische, architektonische, touristische Atmosphären oder die Atmosphären von Situationen der Mobilität als lokalisierte Phänomene beschreiben bzw. in ihrer Entstehung und ihren Effekten analysieren. 2 1
Vgl. zur Dominanz dieser Perspektive auch Mikkel Bille/Kirsten Simonsen: »Atmospheric Practices: On Affecting and Being Affected«, in: Space and Culture, 2019, S. 1–15, insbes. auf S. 6: »we argue that there is a prominent imbalance towards a passive subject being exposed to the flows moving through people, places, and things.« 2 Jürgen Hasse: Atmosphären der Stadt. Aufgespürte Räume, Berlin 2012; Rainer Kazig: »Typische Atmosphären städtischer Plätze. Auf dem Weg zu einer anwendungsorientierten Atmosphärenforschung«, in: Die alte Stadt 35/2, 2008,
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Zum Umgang mit Atmosphären
Dieser Beitrag lädt dazu ein, ergänzend zu der raumwissenschaftlichen Perspektive Atmosphären mit einem anderen Fokus zu betrachten. 3 Es wird vorgeschlagen, den Blick auf den Umgang mit Atmosphären zu richten. Dabei wird davon ausgegangen, dass Atmosphären aufgrund ihrer Wirkmächtigkeit in alltäglichen und außeralltäglichen Lebenszusammenhängen bewusst erlebt, erinnert und Orte aufgrund ihrer atmosphärischen Qualitäten bewusst genutzt oder gemieden werden. Die Frage nach der Macht von Atmosphären wird in diesem Beitrag insofern nicht in erster Linie als eine Betroffenheit ihrer Kräfte verstanden, sondern vielmehr als eine bewusste Aneignung dieser Kräfte und des Wissens um sie im Sinn der eigenen Interessen. Diese Perspektive beruht auf der Annahme, dass die Atmosphären dieser Orte trotz des grundsätzlich ephemeren Charakters von Atmosphären systematisch in einer typischen Ausprägung in Erscheinung treten. 4 Darüber hinausgehend wird angenommen, dass Atmosphären ungeachtet ihrer Qualität als vage Phänomene erinnert und auf sie bewusst Bezug genommen werden kann. Die Vagheit von Atmosphären bezieht sich in erster Linie auf die
S. 147–160 für städtische Atmosphären; Grégoire Chelkoff/Jean-Paul Thibaud/ Jean-Luc Bardyn/Bernard Belchun/Martine Leroux: Ambiances sous la ville. Une approche écologique des espaces publics souterrains, Grenoble 1997; Anton Escher/ Marie Karner/Christina Kerz/Helena Rapp/Elisabeth Sommerlad: »The atmospheric grid of cruising on the high«, in: Erdkunde 70/4, 2016, S. 313–322 für touristische Atmosphären. 3 Der diesem Beitrag zugrunde liegende Atmosphärenbegriff ist sowohl durch Arbeiten von Böhme als auch von Thibaud beeinflusst. Er stellt die sinnliche Begabtheit des Menschen und die jederzeit über die Sinne vermittelte Einbindung in die Umgebung in den Vordergrund. Aufbauend auf dieser Einbindung geht er davon aus, dass sich das subjektive Befinden in Abhängigkeit von der sinnlichen Qualität der Umgebung verändern kann. Die Veränderung des Befindens kann sich auf der Ebene von Emotionen, Aufmerksamkeit oder Motorik äußern (ausführlicher in: Rainer Kazig: »Atmosphären – Konzept für einen nicht repräsentationellen Zugang zum Raum«, in: Robert Pütz/Christian Berndt (Hrsg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld 2007, S. 167–187). 4 Diese Überlegungen wurden mit Bezug auf öffentliche Räume entwickelt; Kazig (2008).
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Rainer Kazig
Schwierigkeit, sie im Alltag klar zu charakterisieren. 5 Diese Schwierigkeit schließt jedoch nicht aus, dass die Atmosphären bzw. ihre Effekte auf das subjektive Befinden sehr wohl bewusst erlebt und bewertet werden können und dass sich im Alltag auf sie bezogen werden kann. Dieses bewusste Bezugnahme auf Atmosphären wird von den etablierten Vertretern der Atmosphärenforschung durchaus am Rande angesprochen, ohne dass sie bisher systematisch theorisiert und als Perspektive der Atmosphärenforschung entwickelt wurde. 6 Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Atmosphären und ihre Effekte in alltäglichen Lebenszusammenhängen nur dann Berücksichtigung finden, wenn sie als bedeutungsvoll erlebt werden. In diesem Beitrag werden mit ihrer Funktion als Handlungsressource und als sinnliche Vermittlerin von Lebensmöglichkeiten zwei Bedeutungen von Atmosphären unterschieden, die eine Berücksichtigung und einen bewussten Umgang mit ihnen nahelegen. Beide Perspektiven verfügen über eine gewisse Breite, so dass sie neben der Raumforschung zwei neue Felder an Fragestellungen für die Atmosphärenforschung eröffnen. Die folgenden beiden Abschnitte dieses Beitrages beinhalten sowohl eine eher konzeptionelle Auseinandersetzung mit der jeweiligen Perspektive als auch einen stärker empirisch orientierten Teil. Sie bauen teilweise auf eigenen konzeptionellen und empirischen Arbeiten auf, die in diesem Beitrag in einer allgemeineren Ausrichtung weitergedacht werden.
5
Andreas Rauh: Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen, Bielefeld 2012, S. 200. 6 Jürgen Hasse: »Der Mensch ist (k)ein Akteur – Zur Überwindung szientistischer Scheuklappen in der Konstruktion eines idealistischen Menschenbildes«, in: Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur 10/ 2, 2006, unter: http://www.cloud-cukoo.net/openarchive/wolke/deu/Themen/ 052/Hasse/hasse.htm (Stand: 6. 8. 2019).
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Zum Umgang mit Atmosphären
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Atmosphäre als Handlungsressource
Die Bezugnahme auf Atmosphären als Handlungsressource beruht auf ihrem Einfluss auf die Handlungsfähigkeit des Menschen. Zur Entwicklung dieser Perspektive wird zuerst mit Bezug auf konzeptionelle Überlegungen diskutiert, wieso diesem Zusammenhang in der Atmosphärenforschung bisher wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde und wo auf der anderen Seite systematische Ansatzpunkte für dessen Entwicklung bestehen, um schließlich Problemstellungen für die Entwicklung der empirischen Seite dieser Forschungsperspektive zu diskutieren. 2.1 Hindernisse und Perspektiven auf konzeptioneller Ebene In der deutschsprachigen Atmosphärenforschung wurde der Bedeutung und Nutzung von Atmosphären für die menschliche Handlungsfähigkeit zunächst wenig Interesse entgegengebracht. Arbeiten mit einer entsprechenden Orientierung sind erst in jüngerer Zeit entstanden. 7 Zu dieser Entwicklung haben verschiedene Autoren aus dem Feld der Atmosphärenforschung beigetragen, indem sie den Atmosphärenbegriff in Abgrenzung zum Handlungsbegriff entwickelt haben. Böhme beispielsweise betrachtet Handeln und Wahrnehmen als unterschiedliche Dimensionen menschlicher Existenz. Er führt aus, dass das eigene Dasein im Handeln durch Widerstand erfahren wird, im Wahrnehmen hingegen als ein Ausgesetztsein. 8 Als Folge dieser Trennung von Handeln und Wahrnehmen und der Verortung von Atmosphären auf der Seite der Wahrnehmung war es naheliegend, dass Böhmes Arbeiten zum Atmosphärenbegriff 7
Rainer Kazig: »Einkaufsatmosphären. Eine alltagsästhetische Konzeption«, in: Heiko Schmid/Karsten Gäbler (Hrsg.): Perspektiven sozialwissenschaftlicher Konsumforschung, Stuttgart 2013, S. 217–232. Barbara Wolf: Kinder lernen leiblich. Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung, Freiburg 2016. 8 Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 83.
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Rainer Kazig
sowie daran anknüpfende Arbeiten kein vorrangiges Interesse entwickelt haben, menschliches Handeln in den Blick zu nehmen und sich der Frage nach der Bedeutung von Atmosphären für die Handlungsausführung zuzuwenden. Die konzeptionelle Trennung von Handeln und Wahrnehmen als zwei getrennt zu betrachtende Formen menschlichen Daseins blendet jedoch aus, dass jedes Tun mit Wahrnehmen einhergeht und insofern ebenso von dem Empfinden des Ausgesetztseins begleitet ist. Die Ausblendung von Tätigkeiten aus weiten Teilen der Auseinandersetzung mit dem Erleben von Atmosphären hat zudem dazu geführt, dass die Atmosphärenforschung überwiegend mit einer nicht weiter reflektierten, neutralen oder passiven Position des Erlebenden operiert. 9 Auf die Problematik dieses Ausgangspunkts hat in der Ästhetik Berleant mit dem von ihm geprägten Begriff des »Aesthetic Engagement« hingewiesen. 10 Mit dem in der Umwelt- und Alltagsästhetik angelsächsischer Prägung verorteten Begriff wird herausgestellt, dass das Engagement einer Person in einer Situation für das ästhetische Wahrnehmen von Belang ist und entsprechend berücksichtigt werden muss. Übertragen auf Atmosphären ist davon auszugehen, dass deren Erleben von der Aktivität mitbestimmt wird, in die jemand eingebunden ist. Auch Hasse positioniert den Handlungsbegriff in deutlicher Abgrenzung zum Atmosphärenbegriff. Seine Argumentation beruht auf einer Konzeption des handelnden Akteurs als rein rationalem Subjekt, die nach seiner Meinung keinen Platz für die Berücksichtigung von Gefühlen hat. 11 Mit dieser Argumentation wurde eine systematische Auseinandersetzung mit der Verbindung von Handlungen und Atmosphären, deren Effekte von Hasse mit Bezug auf Schmitz als Gefühle gedacht werden, ausgeschlossen. Hasse blendet in seiner Argumentation allerdings zu Unrecht aus, dass Emotionen und Affekte sehr wohl ihren Platz in der Handlungstheorie haben, wie beispielsweise Slaby in einem 9
Siehe Fußnote 1. Arnold Berleant: »What is aesthetic engagement?«, in: Contemporary Aesthetics 11/1, 2013, unter: https://contempaesthetics.org/newvolume/pages/article.php? articleID=684 (Stand: 6. 8. 2019). 11 Hasse (2006). 10
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Zum Umgang mit Atmosphären
Beitrag zur Rolle von Emotionen in Handlungstheorien ausführt: »Emotionen und affektive Einstellungen sind ausgezeichnete Kandidaten, um in rationalisierende Handlungserklärungen einzugehen. Kraft ihrer intentionalen Gehalte liefern Emotionen Handlungsgründe und tragen insofern zur rationalen Rechtfertigung von Handlungen bei.« 12 Im weiteren Verlauf seiner Argumentation betont Slaby die enge Verwobenheit von Handeln und Fühlen und stellt heraus, dass beide getrennt voneinander nur »um den Preis von Verzerrungen und Einseitigkeiten« thematisiert werden können. 13 Folgt man den breit fundierten, hier nur kurz angerissenen Ausführungen von Slaby, können Atmosphären sehr wohl in Verbindung mit Handlungen gedacht werden bzw. drängt sich eine Berücksichtigung von Atmosphären für das Verständnis von Handlungen geradezu auf. Für die Berücksichtigung von Atmosphären als Handlungsressource ist von besonderem Interesse, dass Emotionen nicht nur als Motivation für Handlungen dienen können, sondern dass Emotionen und Handlungen auch im Vollzug des Handelns nahtlos ineinander übergehen können und den Handlungen auf diese Weise eine spezifische emotionale Qualität verleihen, die erinnert werden kann. 14 Wenn also eine Handlung begleitende Emotion von der Atmosphäre des Ortes mitbestimmt wird, an dem die Handlung ausgeführt wurde, kann die Atmosphäre des Ortes als Motivation dienen, die Handlung an dem Ort mit einer besonders positiven Atmosphäre auszuführen. Im Feld der Atmosphärenforschung lassen sich allerdings ebenso Ansätze finden, die eine Berücksichtigung von Atmosphären als Ressource für die Ausführung von Handlungen nahelegen. 12
Jan Slaby: »Emotionen«, in Michael Kühler/Markus Rüther (Hrsg.): Handbuch Handlungstheorie. Grundlagen, Kontexte, Perspektiven, Berlin/Heidelberg 2006, S. 191 f. 13 Slaby (2006), S. 192. 14 Emotionen werden hier als gerichtete, d. h. als auf Gegenstände, Personen oder Aspekte von Situationen gerichtete Gefühle verstanden. Vgl. zum hier verwendeten Emotionsbegriff Slaby (2006) oder Thomas Fuchs: »Zur Phänomenologie der Stimmungen«, in Friederike Reents/Burkhard Meyer-Sickendiek (Hrsg.): Stimmung und Methode, Tübingen 2013, S. 25 f.
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Rainer Kazig
An erster Stelle kann jener Teil der Atmosphärenforschung angeführt werden, der sich nach dem einflussreichen Aufsatz von Kotler seit den 1970er Jahren als Teil der Marketingforschung etabliert hat und der schwerpunktmäßig den Einfluss von Atmosphären auf das Einkaufsverhalten untersucht. 15 Auch wenn dieser Spielart der Atmosphärenforschung eine explizite theoretische Auseinandersetzung mit dem Atmosphärenbegriff weitgehend fehlt und sie zudem in einer verhaltenstheoretischen Tradition steht, ist sie insofern von Interesse, als sie von einem atmosphärisch vermittelten Einfluss von Umgebungsqualitäten auf Aktivitäten ausgeht. 16 Julmi hat ausgehend von einer sehr grundsätzlichen Kritik an der verhaltenstheoretischen Spielart der Atmosphärenforschung einen auf den Überlegungen der Neuen Phänomenologie aufbauenden Ansatz zur Analyse von Shoppingatmosphären vorgeschlagen. 17 Er stellt – anknüpfend an den von Schmitz geprägten Begriff der Brückenqualitäten zum Verständnis der Effektivität von Atmosphären – kinetische und synästhetische Qualitäten ins Zentrum seiner Überlegungen. Von besonderem Interesse sind für die Argumentation in diesem Beitrag die kinetischen Qualitäten, die als Bewegungssuggestionen am eigenen Leib spürbar sind. 18 Sie stellen eine Verbindung zur menschlichen Motorik her und verdeutlichen, dass Atmosphären – an Einkaufsorten im Speziellen sowie ganz generell – die Handlungsfähigkeit des Menschen berühren. Obwohl bei Schmitz mit der Konzeption von Atmosphären als räumlich ergossenen Gefühlen auf den ersten Blick die emotionale Dimension in den Vordergrund gerückt wurde, beinhaltet der von ihm vertretene Atmosphärenbegriff also grundsätzlich das Potenzial, Atmosphären und Handlungen zusammen zu denken. Auch wenn der Handlungs15
Philip Kotler: »Atmospherics as a marketing tool«, in: Journal of Retailing 49/4, 1973, S. 48–64. 16 Kazig (2013), S. 217–218. 17 Christian Julmi: »Conquering new frontiers in research on store atmospheres: Kinetic and synesthetic qualities«, in: Ambiances: International Journal of Sensory Environment, Architecture and Urban Space 2016, unter: https://journals. openedition.org/ambiances/723 (Stand: 6. 8. 2019). 18 Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg/München 2014, S. 67.
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Zum Umgang mit Atmosphären
begriff in erster Linie die kognitive Seite der Ausführung von Aktivitäten in den Blick nimmt, kann er nicht darauf verzichten, deren leibliche und motorische Seite zumindest rudimentär mitzudenken, so dass auch auf dieser Seite eine grundsätzliche Offenheit gegenüber den Effekten von Atmosphären auf der motorischen Seite besteht. Der Zusammenhang zwischen Atmosphären und menschlicher Motorik wird auch in der französischen Atmosphärenforschung nahegelegt. Sie hat neben der Phänomenologie eine starke Verankerung im Pragmatismus, der die Verbindung von Wahrnehmen und Handeln betont. 19 Die Beziehung zwischen Atmosphären und Motorik besteht nach Thibaud – einem der führenden Theoretiker der französischen Atmosphärenforschung – darin, dass Atmosphären einen bestimmten Bewegungsstil nahelegen. Sie regen also keine neuen Handlungen an, sondern tragen dazu bei, dass sie in ihrer Ausführung eine bestimmte Gestalt annehmen. 20 Die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Atmosphärenforschung in bewusster Abgrenzung zum Handlungsbegriff hat letztendlich verdeutlicht, dass mit Emotionen und der menschlichen Motorik zwei Größen bestehen, die sehr wohl eine Verbindung zwischen Atmosphären und Handlungen nahelegen und zu einer weitergehenden Untersuchung ihres Zusammenspiels einladen. 2.2 Empirische Aspekte Aufbauend auf der grundsätzlich gegebenen Beziehung zwischen Atmosphären und Handeln stellt sich in Hinblick auf ihre empirische Untersuchung zunächst die Frage nach dem spezifischen 19
Jean-Paul Thibaud: »Une approche pragmatique des ambiances urbaines«, in: Pascal Amphoux/Jean-Paul Thibaud/Grégoire Chelkoff (Hrsg.): Ambiances en débats, Bernin 2004, S. 145–161. 20 Jean-Paul Thibaud: »Die sinnliche Umwelt von Städten. Zum Verständnis urbaner Atmosphären«, in: Michael Hauskeller (Hrsg.): Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Kusterdingen 2003, S. 290–292.
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Rainer Kazig
Fokus von Arbeiten in diesem Feld. Von besonderem Interesse erscheint die Frage nach der Nutzung der atmosphärischen Qualitäten für eine leichte und angenehme Ausführbarkeit von Handlungen zu sein, nach ihrer Nutzung als Handlungsressource. Diese Problemstellung leitet sich aus den vorausgehenden Überlegungen ab, dass Atmosphären einen Bewegungsstil nahelegen. Geht man davon aus, dass Handlungen idealerweise in einer dem persönlichen Stil bzw. den Anforderungen der jeweiligen Aktivität entsprechenden Form ausgeführt werden, können die atmosphärisch vermittelten Effekte die Handlungsausführung in der bevorzugten Form mehr oder weniger unterstützen. In diesem Sinn können auch atmosphärisch vermittelte Emotionen zum Tragen kommen. Im Zentrum der Problemstellung steht also die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Nutzung der Atmosphären von Orten als Handlungen unterstützende oder erleichternde Ressource. Im Rahmen dieser Problemstellung lassen sich zwei prinzipiell unterschiedliche Fälle unterscheiden. Auf der einen Seite stehen Tätigkeiten, die an solchen Orten durchgeführt werden, deren Atmosphären den Nutzerinnen und Nutzern weitgehend vorgegeben sind und die sie nur in sehr begrenztem Maß beeinflussen können. Das Einkaufen beispielsweise fällt in dieses Feld von Aktivitäten. Für die empirische Forschung stellt sich an erster Stelle die Aufgabe, in dem untersuchten Tätigkeitsfeld die Handlungen zu bestimmen, bei denen Atmosphären bei der Handlungsausführung explizit berücksichtigt werden. In einer Untersuchung zu Einkaufsatmosphären konnten das Stöbern – verstanden als das Bemühen, sich durch den Kontakt mit den Waren einen differenzierteren Eindruck von ihnen zu verschaffen – sowie das Bummeln – verstanden als die nicht auf einen konkreten Einkauf bezogene Bewegung zwischen Geschäften – als zwei Handlungen ausgemacht werden, in denen Atmosphären von Einkaufsstätten zum Tragen kommen. 21 An zweiter Stelle gilt es dann im Sinn einer Raumforschung die atmosphärischen Qualitäten zu bestimmen, die für die Ausführung von Handlungen als förderlich beziehungsweise als hinder21
Kazig (2013).
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Zum Umgang mit Atmosphären
lich angesehen werden. Im Rahmen der angesprochenen Untersuchung konnte beispielsweise herausgestellt werden, dass das Stöbern unterstützende Atmosphären in ihrer sozialen Dimension durch ein hohes Maß an Unverbindlichkeit sowie in ihrer gestalterischen Dimension durch eine leichte und bequeme Zugänglichkeit zu den Waren geprägt ist. 22 Schließlich stellt sich die Frage, wie die Atmosphären im Vergleich zu anderen handlungsrelevanten Kriterien wie beispielsweise dem Preis, der Breite und Tiefe des Angebots an einer Einkaufsstätte oder deren Distanz zum Wohnort gewichtet werden und inwieweit Orte wegen ihrer atmosphärischen Qualitäten bewusst gemieden oder aufgesucht werden. Auf der anderen Seite werden Tätigkeiten an Orten durchgeführt, die von ihren Nutzerinnen und Nutzern in gewissem Maß mitgestaltet werden können. Neben Aktivitäten in der eigenen Wohnung, bei der als privatem Raum ein großer Gestaltungsspielraum existiert, ist hier an die Erwerbsarbeit sowie in begrenztem Maß an Aktivitäten in öffentlichen Räumen zu denken. Auch hier stellt sich die Frage, bei welchen Handlungen Atmosphären bei der Handlungsausführung explizit berücksichtigt werden, welche atmosphärischen Qualitäten für die Ausführung von Handlungen als förderlich beziehungsweise als hinderlich angesehen werden. Angesichts der zumindest teilweise gegebenen Gestaltbarkeit von Atmosphären ist mit Bezug auf diese Räume aber auch von Interesse zu verstehen, wie Nutzerinnen und Nutzer versuchen, die Atmosphären im Sinn ihrer eigenen Handlungsinteressen mitzugestalten. Einerseits stellt sich hier die Frage nach dem atmosphärischen Wissen und den atmosphärischen Kompetenzen, die die Nutzerinnen und Nutzer mobilisieren und einsetzen, um die Atmosphären entsprechend ihrer Anforderungen zu formen. 23 Die Gestaltung von Atmosphären ist jedoch nicht allein ein Designproblem, sondern bedarf darüber hinausgehend 22
Kazig (2013), S. 225–227. Vgl. zum Bergiff der atmosphärischen Kompetenz auch Tonino Griffero: »Who’s afraid of atmospheres (and of their authority)«, in: Lebenswelt 4/1, 2014, S. 193–213, insbes. S. 211 f.
23
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Rainer Kazig
auch der Kommunikation und Abstimmung, wenn mehrere Personen einen Ort nutzen. In Hinblick auf diese Aufgabe ist insbesondere der Umgang mit der problematischen sprachlichen Greifbarkeit von Atmosphären von Interesse, der mit ihrem vagen Charakter einhergeht. Im Rahmen einer explorativen Untersuchung zur Bedeutung von Atmosphären als Ressource kreativen Arbeitens hat sich angedeutet, dass an von mehreren Personen geteilten Orten und Situationen der Erwerbsarbeit deren atmosphärische Qualitäten und Einfluss auf die Leistungsfähigkeit zwar bewusst erlebt werden, atmosphärisch bedingte Beeinträchtigungen jedoch nicht zwangsläufig kollektiv thematisiert und gelöst werden. 24 Mehrfach wurde die Geräuschentwicklung als eine die Konzentration störende atmosphärische Dimension angesprochen, der durch die individuelle Abkapselung mit Hilfe von Kopfhörern oder dem Rückzug an den Arbeitsplatz in der eigenen Wohnung begegnet wurde. Lediglich im Fall der Bürogemeinschaft von drei Unternehmerinnen, die einen großen Arbeitsraum teilen, wurde bereits in der Anfangsphase der Etablierung der Bürogemeinschaft eine Vereinbarung getroffen, auf längere Telefonate innerhalb des geteilten Büroraumes sowie auf das Essen von rohem Gemüse am Arbeitsplatz zu verzichten, um eine die Konzentration störende Geräuschentwicklung und damit einhergehende Konflikte grundsätzlich zu vermeiden. Diese ersten Einblicke in das Themenfeld deuten an, dass eine breitere und tiefergehende Auseinandersetzung mit der Gestaltung von Atmosphären gemeinsam genutzter Räum durch ihre Nutzer ein lohnendes Unterfangen für die Atmosphärenforschung darstellt. Ein Interesse an einer weitergehenden Auseinandersetzung mit dieser Problemstellung leitet sich auch aus Erfahrungen mit der Nutzung professionell angeleiteter Kommunikation über Atmosphären für die architektonische Entwurfsplanung ab. 25 Die erfolgrei24
Bisher liegen noch keine Publikationen zu der vom Autor des Beitrages geleiteten und durchgeführten empirischen Untersuchung vor. Eine kurze Beschreibung des Projektes findet sich unter: https://aau.archi.fr/contrat-de-recherche/ les-ambiances-des-ressources-pour-le-travail-creatif/ (Stand: 8. 11. 2019). 25 Susanne Hofmann: Partizipation, Macht, Architektur. Die Baupiloten-Methode und Projekte, Berlin 2014.
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Zum Umgang mit Atmosphären
che Nutzung dieser Methode für die Entwicklung architektonischer Entwürfe lädt dazu ein, sich beispielsweise in Form von Aktionsforschung mit der Frage zu beschäftigen, wie auch außerhalb von konkreten Planungsprojekten eine bessere Gestaltung von Arbeitsatmosphären erreicht werden kann. 3
Atmosphäre als sinnliche Vermittlerin von Lebensmöglichkeiten
Die Bezugnahme auf Atmosphären in ihrer Bedeutung als sinnliche Vermittlerinnen von Lebensmöglichkeiten rückt die soziokulturelle Dimension von Atmosphären in den Vordergrund. Vor fast 20 Jahren hat Löw unter Bezugnahme auf frühe Texte von Böhme noch mit Recht gefordert, in der Auseinandersetzung mit Atmosphären den Einfluss von Kultur und Sozialisation auf das Spüren von Atmosphären nicht zu vernachlässigen. 26 Inzwischen werden diese Aspekte vermehrt explizit thematisiert und beginnen sich in Form theoretischer und empirischer Arbeiten in der Atmosphärenforschung zu etablieren. 27 Die Auseinandersetzung mit Atmosphären als Vermittlerin von Lebensmöglichkeiten reiht sich in diese Entwicklung ein, indem sie auf eine alltagsästhetische Argumentation Bezug nimmt. Diese Forschungsperspektive ist durchaus eng mit der zuvor diskutierten Nutzung von Atmosphären als Handlungsressource
26
Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt 2001, S. 208 ff. Für die Thematisierung der Bedeutung der Sozialisation für das Erleben von Atmosphären vgl. Christian Julmi: »Soziale Situation und Atmosphäre. Vom Nehmen und Geben der Perspektiven«, in: Larissa Pfaller/Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden 2018, S. 103–123; Barbara Wolf: »Atmosphären als sozialisierende Einflussgröße«, in: Pfaller/Wiesse (2018), S. 169–196; Barbara Wolf: Atmospheres of learning. How they affect the development of our children, Sesto San Giovanni 2019; für Kultur vgl. Rainer Kazig: »Vers une culturalisation de la recherche sur les ambiances«, in: Jean-Paul Thibaud/Cristiane Rose Duarte (Hrsg.), Ambiances urbaines en partage. Pour une écologie sociale de la ville sensible, Genf 2013, S. 37–48.
27
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Rainer Kazig
verknüpft. 28 Sie als eine eigenständige Perspektive zu behandeln ist jedoch sinnvoll, weil hiermit systematisch das Potenzial von Atmosphären in den Fokus gerückt werden kann, Lebensmöglichkeiten spür- und erlebbar zu machen. Mit dem Begriff der Lebensmöglichkeiten sowie dem später auch verwendeten Begriff der Lebensweisen wurde bewusst ein in den Sozialwissenschaften wenig etablierter Begriff gewählt, um in der Argumentation keinen disziplinären Begrenzungen zu unterliegen. 29 3.1 Konzeptionelle Überlegungen Um das Interesse an einer Forschungsperspektive zu verdeutlichen, die Atmosphären als sinnliche Vermittlerinnen von Lebensmöglichkeiten betrachtet, ist eine Annäherung an die Problemstellung von zwei Seiten hilfreich. Auf der einen Seite gilt es den Sinn und die Notwendigkeit herauszustellen, sich dieser Problemstellung überhaupt anzunehmen. Auf der anderen Seite muss herausgearbeitet werden, was Atmosphären in diesem Zusammenhang leisten können. Das Interesse, Atmosphären als Vermittlerinnen von Lebensformen zu analysieren, wird mit Hilfe eines Blickes auf die Bedingungen der Konstruktion von Subjektivität, von Identitäten und sozialen Zugehörigkeiten in der Gegenwartsgesellschaft erkennbar. Identitäten und soziale Zugehörigkeiten werden in der Gegenwartsgesellschaft in zunehmendem Maß als das Ergebnis eines fortwährenden Prozesses angesehen. Aus der Perspektive der Sozialpsychologie wurde vor diesem Hintergrund bereits in den 1990er Jahren der Begriff der Identitätsarbeit geprägt. 30 In jünge28
Vgl. Kazig (2013) zu Einkaufsatmosphären; Atmosphären kultureller Resonanz werden hier als eine Handlungsressource thematisiert. 29 Dieser Begriff wurde in einem für die Überlegungen in diesem Abschnitt wichtigen Beitrag von Martin Seel verwendet, Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München 2002, S. 152. 30 Heiner Keup/Thomas Ahbe/Wolfgang Gmür/Renate Höfer/Beate Mitzscherlich: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Hamburg 1999, S. 60.
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Zum Umgang mit Atmosphären
rer Zeit wurde zunehmend die Bedeutung der affektiven und emotionalen Dimension bei diesem Prozess in den Vordergrund gestellt. Im Rahmen seiner bedeutenden Arbeit zur Erlebnisgesellschaft postuliert Schulze einen grundlegenden Wandel in der Lebensauffassung in der Gegenwartsgesellschaft, der diesen Bedeutungsgewinn verständlich macht. Schulze beschreibt einen Wandel in der Lebensauffassung von einer Außenorientierung zu einer Innenorientierung. 31 Während eine außenorientierte Lebensauffassung von Zielen geprägt ist, die – wie in dem Begriff angedeutet wird – außerhalb des Subjekts liegen, wird eine innenorientierte Lebensauffassung von einer Erlebnisorientierung geprägt. Dieser mit einer Ästhetisierung des Alltagslebens einhergehender Wandel in der Lebensauffassung bezieht sich nicht allein auf die subjektive Ebene, sondern bringt grundlegende Veränderungen in der Formation von Gesellschaft mit sich, bei der alltägliches ästhetisches Erleben und alltagsästhetischen Präferenzen eine prominente Stellung zukommt. 32 Auch wenn in der Argumentation von Schulze Atmosphären keine besondere Betrachtung finden, ist offensichtlich, dass sie mit ihrem Fokus auf räumlich vermittelte Empfindungen grundsätzlich sehr gut an seine Überlegungen zur Erlebnisorientierung in der Gegenwartsgesellschaft anschlussfähig sind. Explizit angesprochen wird die Bedeutung von Atmosphären in der umfangreichen sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung von Rosa mit Resonanz, die sich als Soziologie der Weltbeziehung versteht. 33 Eingebunden in die Tradition der Kritischen Theorie entwickelt Rosa den Begriff der Resonanz im Kontrast zur Beschleunigung, die er in der gegenwärtigen Gesellschaft als Bedingung von Entfremdung ansieht. Resonanz hingegen beschreibt eine Bedingung für die Entwicklung eines geglückten Lebens. Resonanzerfahrung ist nach Rosa »ein 31
Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/New York 2000 [1992], S. 36–39. 32 Vgl. Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus, Berlin 2016, für eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung. 33 Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.
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Rainer Kazig
momenthafter Dreiklang aus konvergierenden Bewegungen von Leib, Geist und erfahrbarer Welt«. 34 Er räumt mit der Positionierung von Resonanz in seinem theoretischen Entwurf sowohl dem Materiellen als auch dem Sinnlichen eine zentrale Stellung für die Soziologie und Gesellschaftsanalyse ein. Da sich der Resonanzbegriff wie der Atmosphärenbegriff auf eine Relation zwischen einem leiblich gedachten Subjekt und dessen Umgebung bezieht, ist es nahliegend, dass Rosa in seiner Arbeit auch Atmosphären thematisiert. Sie werden als eine Rahmenbedingung von Resonanzerfahrungen betrachtet. Folgt man diesen beiden einflussreichen Beiträgen zur Analyse zeitgenössischer Gesellschaft, erhalten Atmosphären grundsätzlich eine Rolle bei der Entstehung von sozialer Zugehörigkeit und geglückter Subjektivität. Das Potenzial von Atmosphären für diesen Zusammenhang wird mit einem Blick auf Theorie der Atmosphären und der Alltagsästhetik nachvollziehbar. Grundsätzlich baut es auf der Leistung von Atmosphären auf, zu der Vereinheitlichung einer Situation beitragen zu können und Orte und Situationen als Ganzes erlebbar zu machen. Atmosphären werden in diesem Verständnis zu einer Art von diffusem Wahrnehmungsgegenstand, über den der Charakter einer Situation oder eines Ortes vermittelt und spürbar wird. 35 Aufbauend auf dieser Leistung von Atmosphären eröffnet sich in dem alltagsästhetischen Entwurf von Seel eine soziokulturelle Perspektive der Atmosphärenforschung, die insbesondere in seiner Ästhetik des Erscheinens explizit wird. Von Interesse ist dabei das atmosphärische Erscheinen – und damit das Erleben von Atmosphären –, das Seel als eine von drei Formen ästhetischen Erscheinens unterscheidet. 36 Er versteht Atmosphäre als »sinnlich und affektiv spürbares und darin existentiell bedeutsames Artikuliertsein von realisierten und nicht realisierten Lebensmöglichkeiten«. 37 Das ästhetische Wahrnehmen besteht in dieser Spielart im Spüren der mit einer Form des Lebens einher34 35 36 37
Rosa (2016), S. 290. Rauh (2012), S. 107 f. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt 2000, S. 145 ff. Seel (2000), S. 152.
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Zum Umgang mit Atmosphären
gehenden Atmosphäre. In diesem Sinn trägt beispielsweise erst die Atmosphäre eines Restaurants dazu bei, dass dieses als bayerisch oder italienisch erlebt wird. Kleimann hat diese Form des ästhetischen Wahrnehmens als »ästhetisch-existentielle Wahrnehmung« bezeichnet. 38 Er betont mit Verweis auf Seel, dass sich das ästhetisch-existentielle Wahrnehmen weniger auf Dinge als auf Räume und deren atmosphärische Anmutung bezieht. 39 Mit der Bezeichnung als »ästhetisch-existentiell« kommt sehr gut zum Ausdruck, dass mit dieser Form des ästhetischen Wahrnehmens nicht nur Lebensweisen vermittelt werden, sondern dass ihre Wahrnehmung auch von existentieller Bedeutung sein kann. Existentiell im Sinn von relevant für die eigene Identität und die Entwicklung sozialer Zugehörigkeit werden diese atmosphärisch vermittelten Lebensmöglichkeiten insofern, da sie auf den eigenen Lebensstil bezogen werden können und mit diesem mehr oder weniger korrespondieren. Seel spricht deshalb auch von einer »korresponsiven« ästhetischen Wahrnehmung bzw. von »ästhetischer Korrespondenz«. 40 Das Erleben von Korrespondenz der eigenen Lebensweise mit der atmosphärisch vermittelten Lebensform eines Ortes kann als ein Augenblick eines gelingenden Lebens erlebt werden, in dem die an einem Ort sich entfaltende Lebensmöglichkeit positiv der eigenen Lebensweise entgegenkommt. Im Verständnis von Rosa können solche Augenblicke als Momente der Resonanzerfahrung bezeichnet werden. 3.2 Empirische Perspektiven Die vorausgehenden Überlegungen zur Bedeutung von Atmosphären als sinnliche Vermittlerinnen von Lebensmöglichkeiten wurden bisher überwiegend in Form von theoretisch-konzeptio38
Bernd Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. Eine Untersuchung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästhetischen, München 2002, S. 113–127. 39 Kleimann (2002), S. 116 f. 40 Seel (2000), S. 154; Martin Seel: Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt 1991, S. 89 ff.
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Rainer Kazig
nellen Überlegungen entwickelt. An erster Stelle ist es für die in dieser Perspektive stehende empirische Atmosphärenforschung deshalb von Interesse, die Situationen und entsprechenden Orte von Korrespondenzerfahrungen überhaupt zu erfassen und in ihrer Bedeutung für die Dynamik von Identität, Subjektivität und sozialer Zugehörigkeit zu verstehen. Sie können im Sinn von Schulze als eine spezifische Form alltagsästhetischer Episoden verstanden werden. 41 Darüber hinaus gilt es die notwendigen materiellen und sozialen Rahmenbedingungen für die Emergenz solcher Episoden von Korrespondenzerfahrungen zu bestimmen. In einer explorativen Untersuchung zur Alltagsästhetik konnte beispielsweise für einen Industriedesigner der Besuch in einer Bar als eine Episode ästhetischer Korrespondenzerfahrung ausgemacht werden. 42 Der Gesprächspartner beschreibt in dem Gespräch über seine alltagsästhetischen Episoden, wie er systematisch den Besuch einer Bar der Münchner Innenstadt in seinen Arbeitsalltag integriert hat, weil ihm der Aufenthalt in der Bar Energie für seinen weiteren Arbeitstag in seinem in einem Gewerbegebiet gelegenen Büro vermittelt hat. Entsprechend der Beschreibung seines Aufenthaltes wird diese gespürte Energie im Wesentlichen über die Besucher der Bar vermittelt, die er als freie Menschen mit besonderen Berufen beschreibt. Die gespürte Energie bezieht er jedoch nicht aus Gesprächen mit anderen Gästen der Bar, sondern lediglich durch den bewusst erlebten Aufenthalt an dem Ort. Die an den Aufenthalt in der Bar gebundene Situation der Korrespondenzerfahrung mit einem von ihm als besonders erlebten Milieu dient ihm zur Bestätigung seiner professionellen Identität und regt seine Leistungsfähigkeit als Designer an. Auf der anderen Seite deutet er in dem Gespräch an, dass er nicht in kleineren Städten wohnen und arbeiten könnte, weil ihm dort dem Baraufenthalt entsprechende Situationen fehlen und seine 41
Schulze (2000), S. 98 ff. Rainer Kazig: »Embedded aesthetics. An empirical approach to everyday aesthetic relations to the environment and its application to urban spaces«, in: Nathalie Blanc/Téa Manola/Pierre Desgeorges (Hrsg.): Forms of experienced environments. Crossing relations between humans, aesthetics, sciences, Newcastle upon Tyne 2020.
42
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Zum Umgang mit Atmosphären
Arbeitsfähigkeit leiden würde. Ähnliche Aussagen wurden in einem explorativen Projekt zu Atmosphären als Ressource kreativen Arbeitens getroffen, in dem in Berlin ansässige Designer betonten außerhalb von Berlin als Wohn- und Arbeitsort nicht arbeiten zu können, weil ihre Kreativität leiden würde. 43 Da sich in allen Fällen die Aussagen nicht auf konkrete Phasen oder Aufgaben im kreativen Arbeitsprozess bezogen, scheinen die Episoden der Korrespondenzerfahrung in erster Linie ihre Identität als kreativ Arbeitende zu bestärken. Der Fokus auf Atmosphäre als Vermittlerin von Lebensmöglichkeiten eröffnet auch die Frage nach Planung, Macht und Konflikten als ein Thema der Atmosphärenforschung. Die theoretisch-konzeptionelle Argumentation hat grundsätzlich die Bedeutung des atmosphärisch vermittelten Korrespondenzerlebens für die Entstehung von Situationen geglückten Lebens deutlich gemacht. Wie am Beispiel des Industriedesigners deutlich wurde, beruhen Korrespondenzerfahrungen auf der Korrespondenz spezifischer Lebensweisen mit der Atmosphäre spezifischer Orte. Die Möglichkeiten von Korrespondenzerfahrungen sind also soziokulturell differenziert ausgeprägt. Vor diesem Hintergrund wirft sich die Frage auf, für welche Lebensweisen Räume geschaffen werden, die Korrespondenzerfahrungen ermöglichen. Diese Frage stellt sich auch im privaten Bereich der Wohnung, in dem möglicherweise nicht alle Mitglieder einer häuslichen Lebensgemeinschaft die gleichen Anforderungen an Wohnräume haben, damit sie ihnen das Erleben von Korrespondenz ermöglichen. Bedeutender sind in diesem Kontext allerdings öffentliche Räume, die idealerweise allen gleichermaßen zugänglich sind. Sie sind jedoch keineswegs neutral, sondern differenzieren sich über ihre Gestaltung, ihre Nutzungen und ihre Nutzerinnen und Nutzer. Auf diese Weise stellen sie Korrespondenzmöglichkeiten für bestimmte Lebensweisen bereit, während sie sie gleichzeitig für andere ausschließen. Mit dieser Problemstellung hat sich Degen in einer Untersuchung zum sinnlichen Erleben städtebaulicher Erneuerung auseinandergesetzt, allerdings ohne sich explizit auf den At43
Siehe Fußnote 24.
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Rainer Kazig
mosphärenbegriff zu beziehen. 44 Dennoch lassen sich die Ergebnisse ihrer Untersuchung zur städtebaulichen Umgestaltung von zwei Stadtvierteln in Barcelona und Manchester als Veränderung der Möglichkeiten von Korrespondenzerfahrungen in den Stadtvierteln ansehen, in deren Folge die Lebensqualität der Bewohner der Viertel beeinträchtigt wurde. Für die Atmosphärenforschung stellt sich in dieser Perspektive deshalb auf der einen Seite die Frage, wie in Planungsprozessen Möglichkeiten der Erfahrung von Korrespondenz mitgedacht und welche Personengruppen dabei implizit oder explizit Berücksichtigung finden. Auf der anderen Seite ist von Interesse, Stadtumbau, Stadterneuerung oder den sozialen und kulturellen Wandel von Städten als Auseinandersetzung über ungleich verteilte Möglichkeiten zu Korrespondenzerfahrungen zu thematisieren. Eine solche Fragestellung würde unter anderem eine neue Sichtweise auf Gentrificationprozesse ermöglichen. 4
Ausblick
Dieser Beitrag hat zwei die dominierende Raumforschung ergänzende Perspektiven vorgeschlagen, mit der die Atmosphärenforschung bereichert und der Macht von Atmosphären in der Gegenwartsgesellschaft auf die Spur gekommen werden kann. Dieser Beitrag kann und soll jedoch über den konkreten Vorschlag hinausgehend als eine Aufforderung verstanden werden, jenseits der Perspektive als Raumforschung alternative Perspektiven der Atmosphärenforschung systematisch zu entwickeln und empirisch umzusetzen. Die starke Ausprägung der Atmosphärenforschung als Raumforschung ist vor dem Hintergrund von Atmosphäre als räumlichem Begriff durchaus verständlich. Zudem hat sie dazu beigetragen die Atmosphärenforschung in begrifflicher und methodischer Hinsicht zu konsolidieren und als Disziplinen übergreifende For44
Monica Degen: Sensing cities: Regenerating public life in Barcelona and Manchester, London 2008.
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Zum Umgang mit Atmosphären
schungsrichtung zu etablieren. Nach dieser Phase der Konsolidierung erscheint es für die Atmosphärenforschung gegenwärtig allerdings von großem Interesse, neben der Raumforschung systematisch andere Perspektiven zu entwickeln beziehungsweise weiter auszubauen und auf diesem Weg der Frage nach der Macht der Atmosphären in einer stärker differenzierten Weise auf die Spur zu kommen.
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Martin Radermacher
Religion und Atmosphäre. Überlegungen zum Potenzial sozial-räumlicher Arrangements in religiösen Situationen 1
Einleitung
Soziale Atmosphären sind ein wirksamer, wenn auch oftmals impliziter Hintergrund von Handeln und Erfahrung. Sie sind auch und besonders im Bereich des Religiösen ein machtvoller Faktor sowohl im unmittelbaren Erleben als auch in der rückblickenden Beschreibung von religiös gerahmten Ereignissen. Immer wieder weisen Geistes- und Sozialwissenschaftler/innen auf die besondere Wirkmächtigkeit von religiösen Atmosphären hin: So werden Kirchengebäude oft als erstes Beispiel genannt, wenn Forscher/innen sich mit dem Phänomen der Atmosphäre befassen, weil hier eine – offenbar als unmittelbar nachvollziehbar empfundene – »besondere Atmosphäre« zu erleben sei, die leicht von anderen Atmosphären zu unterscheiden ist. 1 Andere sprechen von »mate1
Z. B. Werner Hager: »Über Raumbildung in der Architektur und in den darstellenden Künsten«, in: Studium Generale 10/10, 1957, S. 630–645; Hubertus Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes, Salzburg 1968, S. 74; Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum, Bonn 1969, S. 127– 133; Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995, S. 95; Gernot Böhme: »Atmosphären kirchlicher Räume«, in: Helge Adolphsen/ Andreas Nohr (Hrsg.): Sehnsucht nach heiligen Räumen. Eine Messe in der Messe, Darmstadt 2003, S. 111–124 (S. 112–113); Lenelis Kruse: »Der gestimmte Raum«, in: Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter (Hrsg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin 2007, S. 233–250 (S. 236–237); Peter G. Richter: »Vorwort«, in: Peter G. Richter (Hrsg.): Architekturpsychologie. Eine Einführung, 3. Aufl., Lengerich 2008, S. 11–15 (S. 11); Jürgen Hasse: Atmosphären der Stadt. Aufgespürte Räume, Berlin 2012, S. 18; Tonino Griffero: Atmospheres. Aesthetics of Emotional Spaces, Farnham 2014, S. 73–87.
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Religion und Atmosphäre
riellen Kraftfeldern im Kirchenraum« 2 – eine Aussage, die zwar unmittelbar nachvollziehbar sein mag, aber ungleich schwieriger sozialwissenschaftlich operationalisierbar ist. Ausgehend von Arbeiten der Neuen Phänomenologie sowie weiteren Ansätzen, die sich mit der sozialen Wirksamkeit architektonischer Arrangements befassen, entwirft dieser Beitrag einen religionswissenschaftlichen Zugang zum Phänomen religiöser Atmosphären, der das semantische Potenzial sozial-räumlicher Arrangements und dessen Aktualisierung in der konkreten Situation in den Mittelpunkt stellt. Um religiöse Atmosphären zu erforschen, bedarf es einer heuristischen Definition der Konzepte »Religion« und »Atmosphäre«. Auch die Begriffe »semantisches Potenzial«, »sozial-räumliches Arrangement« sowie »Situation« bedürfen einer genaueren Erläuterung (Abschnitt 2). Die konzeptuellen Vorschläge werden um methodologische Überlegungen ergänzt (Abschnitt 3) und mit einem Fallbeispiel aus dem Kontext katholischer Jugendinitiativen illustriert (Abschnitt 4). Epistemologische Basis dieses Beitrags ist ein religionswissenschaftlicher, das heißt explizit nicht religiöser oder theologischer, sondern sozial- und kulturwissenschaftlich vergleichender Ansatz. Atmosphären werden als sozio-kulturelle Konstruktionen verstanden, was aber nicht bedeutet, dass sie ohne Weiteres ›dekonstruiert‹ werden können. Sie sind eigenständige Phänomene der Lebenswelt, denen sich Anwesende nicht entziehen können – ob sie aber im religiösen Kontext auf das Wirken höherer Mächte zurückzuführen sind, darüber kann und wird die Religionswissenschaft keine Aussage treffen. In den grundlegenden Arbeiten der Neuen Phänomenologie nehmen religiöse Atmosphären einen prominenten Platz ein. So widmet Herrmann Schmitz ihnen im Gefühlsraum (1969), einem Kernstück seines Systems der Philosophie, ein ganzes Kapitel und fasst den »Charakter Gottes als atmosphärisches Gefühl« zusammen. 3 Er schlägt vor, dass Gefühle nicht im Subjekt zu verorten 2
Stefan Laube: Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort – Wunderkammer – Museum, Berlin 2011, S. 22. 3 Schmitz (1969), S. 130.
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Martin Radermacher
sind, sondern einen eigenen Existenzbereich außerhalb des Subjekts besitzen und dabei räumlicher Natur sind: Gefühle sind »eigenständige, mächtige Atmosphären«, die unbestreitbar wirksam und doch ungreifbar sind. 4 Als Atmosphären sind Gefühle Teil des Raumes und das Subjekt wird von ihnen affektiv-leiblich betroffen. 5 In späteren Arbeiten heißt es, Gefühle seien »räumlich, aber ortlos, ergossene Atmosphären« 6 oder »Atmosphären, die darauf angelegt sind, den Raum erlebter Anwesenheit total zu erfüllen«. 7 Schmitz nähert sich den Atmosphären somit über das Gefühl an und bereitet damit unter anderem den Boden für Themen, die heute unter Schlagworten wie Soziologie der Gefühle oder Soziologie des Affekts erforscht werden. Wenn Gefühle Atmosphären sind, dann sind Atmosphären weiter zu definieren als die »totale oder partielle, in jedem Fall aber umfassende, Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird.« 8 Schmitz schenkt den religiösen Atmosphären zwar besondere Aufmerksamkeit, verlagert jedoch die Begründung dafür in den subjektiven Nachvollzug: »Die Wichtigkeit gefühlsmäßiger Atmosphären für das religiöse Erlebnis ist augenscheinlich; wer einmal in weihevollen Momenten in der Kirche war, weiß Bescheid.« 9 Erfahrungen der Gegenwart Gottes können nach Schmitz als Atmosphären verstanden werden. Schmitz arbeitet dabei mit dem Konzept des Numinosen nach Rudolf Otto 10 und 4
Schmitz (1969), S. 103. Schmitz (1969), S. 185. 6 Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Ostfildern 1998, S. 22–23. 7 Hermann Schmitz: »Atmosphäre und Gefühl. Für eine neue Phänomenologie«, in: Christiane Heibach (Hrsg.): Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, München 2012, S. 38–56 (S. 42). 8 Hermann Schmitz: »Atmosphärische Räume«, in: Rainer Goetz/Stefan Graupner (Hrsg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff, München 2012, S. 17–30 (S. 22); Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg 2014, S. 19. 9 Schmitz (1969), S. 127. 10 Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1991 [1917]. 5
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Religion und Atmosphäre
bezeichnet dieses als die »Atmosphäre des Heiligen«. 11 Otto wiederum ist in weiten Teilen der neueren religionswissenschaftlichen Literatur aufgrund der religionstheologischen Prämissen seiner Arbeiten kritisiert worden. 12 Neben Schmitz arbeiten aber auch andere phänomenologisch orientierte Ansätze relativ unkritisch mit Ottos Idee des Heiligen. 13 Schmitz bezeugt aus dieser Perspektive letztlich die Existenz eines Gottes: »Die Einsicht in den Charakter Gottes als atmosphärisches Gefühl gestattet auch ein klares Verständnis der merkwürdigen Erfahrungen von Gottes Gegenwart, die zu den unmittelbarsten und phänomenologisch wichtigsten Bezeugungen der Wirklichkeit des Göttlichen gehören. […] Die räumliche Natur des als Atmosphäre ergossenen Göttlichen […] hat eine verzaubernde, den menschlichen Normalzustand tief umwandelnde Kraft.« 14 Auch wenn hier nicht zwangsläufig der christliche Gott gemeint ist, so sind solche quasi-theologischen Sätze in einer religionswissenschaftlichen Fassung des Atmosphärenbegriffs zu meiden. 11
»Etwa ab 1900 deutet sich in der Konzeption des Gefühls ein prinzipieller Neubeginn an. Dessen erste deutliche Formulierung (etwa ab 1910) ist wahrscheinlich Rudolf Ottos Darstellung des Numinosen, das als schauderhafte, erhabene und faszinierende Macht die Atmosphäre des Heiligen ist und den betroffenen Menschen ergreift. Damit ist […] die Schranke zwischen (privater) Innenwelt und (überpersönlicher) Außenwelt für das Gefühl annulliert« (Hermann Schmitz: Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik, Paderborn 1989, S. 20). 12 Burkhard Gladigow: »Religionsgeschichte des Gegenstandes – Gegenstände der Religionsgeschichte«, in: Hartmut Zinser (Hrsg.): Religionswissenschaft. Eine Einführung, Berlin 1988, S. 6–37 (S. 11); Johann Figl: »Religionswissenschaft. Historische Aspekte, heutiges Fachverständnis und Religionsbegriff«, in: Johann Figl (Hrsg.): Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck 2003, S. 24–27; Peter J. Bräunlein: »›Zurück zu den Sachen!‹ Religionswissenschaft vor dem Objekt«, in: Peter J. Bräunlein (Hrsg.): Religion und Museum. Zur visuellen Repräsentation von Religion/en im öffentlichen Raum, Bielefeld 2004, S. 7–54 (S. 24). 13 Tellenbach (1968), S. 74; Michael Hauskeller: Atmosphären erleben. Philosophische Untersuchungen zur Sinneswahrnehmung, Berlin 1995, S. 171; Griffero (2014), S. 73. 14 Schmitz (1969), S. 130–131.
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Schmitz’ Ansatz ist ausgesprochen wirksam und wurde vielfach rezipiert und fortgeführt, 15 in einigen Fällen auch kritisiert. 16 Eine Kritik, die für den vorliegenden Beitrag relevant ist, stammt von Wolfhart Henckmann, der konstatiert, dass die Metapher der »Atmosphäre« bei Schmitz oftmals dem Gegenstand aufgedrängt werde, ohne direkt mit ihm verbunden zu sein. 17 Diese Kritik ist durchaus ernst zu nehmen: Analytische Konzepte sollten im empirischen Material verankert sein, werden sich aber freilich von ihrem objektsprachlichen Gegenstück unterscheiden. Ansonsten müsste sozial- und religionswissenschaftliche Analyse sich auf reine – und somit redundante – Nacherzählung beschränken. Auch wenn die neo-phänomenologische Grundlage von Schmitz nicht ohne Reibungsverluste in ein religionswissenschaftlich fundiertes Atmosphärenkonzept überführt werden kann, liegt der ausdrückliche Vorzug von Schmitz’ Vorstoß darin, Atmosphären eine eigenständige Existenz und soziale Wirksamkeit zuzugestehen. Schmitz wird dieser Existenz habhaft durch genaue Analysen von eigenem und fremdem Erleben sowie von Alltagssprache und verortet sie in einer vorobjektiven Sphäre des Seins, die leiblich erfahren wird. Ich möchte darüber hinaus vorschlagen, Atmosphären in der Sinnstruktur sozial-räumlicher Arrangements zu verorten – eine These, die nach einem weiteren Blick auf den Forschungsstand erläutert wird. 15
Heinz Paetzold: »Theorie der Erfahrung von Atmosphären offener städtischer Räume«, in: Christiane Heibach (Hrsg.): Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, München 2012, S. 229–245 (S. 230); Robert Gugutzer: Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen, Bielefeld 2012; Robert Gugutzer: »Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie«, in: Zeitschrift für Soziologie 46/3, 2017, S. 147–166; Hasse (2012), S. 28; Thomas Bulka: Stimmung, Emotion, Atmosphäre. Phänomenologische Untersuchungen zur Struktur der menschlichen Affektivität, Münster 2015. 16 Hauskeller (1995), S. 30; Jens Soentgen: »5 Thesen zur Gefühlsphilosophie des Hermann Schmitz«, in: HfbK Hamburg (Hrsg.): Raum. Materialien zur Vortragsreihe, Hamburg 2002. 17 Wolfhart Henckmann: »Atmosphäre, Stimmung, Gefühl«, in: Rainer Goetz/ Stefan Graupner (Hrsg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff, München 2007, S. 45–84 (S. 72).
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Andere Vertreter/innen der Neuen Phänomenologie nähern sich Atmosphären kirchlicher Räume mitunter zögerlich. Gernot Böhme beispielsweise beschreibt es als »heikle Herausforderung, über Atmosphären kirchlicher Räume zu sprechen«, offenbar vor allem deshalb, weil er vermutet, hier über das reden zu müssen, was aus theologischer Sicht in Kirchen gewünscht oder erwartet wird – und glaubt, keine »distanzierte und aufgeklärte« Beschreibung liefern zu können, die er als phänomenologisch arbeitender Philosoph bevorzugt. 18 Für Böhme gestaltet es sich schwierig, Atmosphären im Kirchenraum zu untersuchen, weil er die theologischen Vorstellungen über das, was in Kirchen erfahren werden soll, als Hindernis sieht. Sie »blockieren«, dass man sich unmittelbar auf kirchliche Räume einlassen könne: »Aus kirchlicher Sicht gibt es eben zulässige und unzulässige Erfahrungen, und von daher lassen sich wohl auch die immer erneuten Wellen von Bilderverbot und Ausstattungsaskese erklären. Die Anmutungen, die man in kirchlichen Räumen auch unabhängig von gottesdienstlichen Handlungen erfahren kann, werden tendenziell als heidnische Bedrohung empfunden. Der Phänomenologe fühlt sich wegen seiner schon angedeuteten Tendenz zum Polytheismus ohnehin vor die Tür gewiesen.« 19 Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist nicht ganz ersichtlich, warum Böhme diesem vermeintlichen Problem so viel Aufmerksamkeit schenkt, ist es doch jeder Disziplin völlig unbenommen, sich einem Forschungsgegenstand, hier dem Kirchenraum, aus ihrer je eigenen Perspektive anzunähern. So deutet er auch selbst an, dass es an der Zeit sei, »die Atmosphären kirchlicher Räume als solche zu thematisieren«. 20 Ausgehend von diesen Ansätzen schlage ich hier einen Zugriff zum Phänomen religiöser Atmosphären vor, der die Wirkmächtigkeit sozial-räumlicher Arrangements untersucht. Die Hypothese lautet, dass sozial-räumliche Arrangements das semantische 18 19 20
Böhme (2003), S. 113–114. Böhme (2003), S. 115. Böhme (2003), S. 117; Hervorhebung MR.
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Potenzial bergen, in bestimmten sozialen Situationen religiöse Kommunikation, Praktiken und leibliche Erfahrungen zu ermöglichen, ohne sie zu determinieren. Um diese Hypothese zu entwickeln, bedarf es einer heuristischen Definition des Religionsbegriffs sowie einer Methode, die das semantische Potenzial sozial-räumlicher Arrangements sowie dessen Aktualisierung in jeweils konkreten Situationen untersuchen kann. Der Beitrag beinhaltet daher neben theoretischen und metholologischen Überlegungen ein Fallbeispiel aus dem Feld katholischer Jugendinitiativen. 2
Konzeptuelle Überlegungen: Atmosphäre und Religion
2.1 Atmosphären als realisiertes Potenzial sozial-räumlicher Arrangements Das Konzept »Atmosphäre« soll hier in heuristischer Weise verstanden werden als das realisierte semantische Potenzial sozialräumlicher Arrangements. Das alltagssprachliche Verständnis als vages, vornehmliches subjektives Gefühl in bestimmten Räumen tritt damit in den Hintergrund, auch wenn es als empirischer Ankerpunkt von Relevanz ist, wie Menschen Atmosphären wahrnehmen, empfinden und in Worten beschreiben. Die Vermutung, dass eine Atmosphäre als realisiertes semantisches Potenzial eines sozial-räumlichen Arrangements verstanden werden kann, bedeutet, dass sozial-räumliche Arrangements grundsätzlich polysem sind, also viele verschiedene potenzielle Bedeutungen haben, von denen eine bestimmte in einer gewissen Situation realisiert wird. Die Situation ist damit ein Schlüssel zum Verständnis auch von religiösen Atmosphären. Nach Schmitz sind Situationen unumgängliche Zusammenhänge menschlichen Erlebens. 21 Situa21
Hier dargestellt auch unter Rückgriff auf Christina Kerz: Atmosphäre und Authentizität. Gestaltung und Wahrnehmung in Colonial Williamsburg, Virginia (USA), Stuttgart 2017; Christian Julmi: »Soziale Situation und Atmosphäre.
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tionen sind ganzheitlich, das heißt, sie können nicht auf ihre Bestandteile reduziert werden und sie tragen Bedeutungen, die von anwesenden Individuen wahrgenommen und kommuniziert werden können. 22 Schmitz unterscheidet verschiedene Unterformen von Situationen, die sich z. B. anhand ihrer zeitlichen Eigenschaften differenzieren lassen. 23 Situationen bergen ein Potenzial für bestimmte Atmosphären, die wiederum für Sozialität ausschlaggebend sind. »Die soziale Situation ist […] sowohl Grundlage für die Wahrnehmung spezifischer Atmosphären als auch Nährboden für die ›ansteckende‹ Wirkung von Atmosphären innerhalb der sozialen Situation. Wer sich dagegen einer solchen ›ansteckenden‹ Wirkung von Atmosphären (bewusst oder unbewusst) entzieht, grenzt sich von der sozialen Situation ab und letztlich aus ihr aus«. 24 Die Realisierung einer bestimmten Atmosphäre geschieht jedoch nicht zufällig oder allein durch die kommunikativen Zuschreibungen anwesender Personen, sondern – so die hier skizzierte Hypothese – weil alle Elemente des sozial-räumlichen Arrangements (Menschen, Dinge, Architekturen etc.) zusammen eine soziale Wirksamkeit entfalten, die je nach Situation zwar unterschiedlich ausfallen kann, aber in eine bestimmte Richtung disponiert. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise Situationen in einem Kirchengebäude atmosphärisch als religiös empfunden werden. Eine solche nicht ausdrücklich verbal thematisierte Atmosphäre lebt unter anderem von dem, was Schmitz als »Bewegungssuggestionen« beschreibt. Diese geschehen beispielsweise dann, wenn ein räumliches Arrangement ein unwillkürliches Aufrichten oder Einatmen hervorruft. Sie sind »Vorzeichen einer Bewegung«, die zwischen Raum und Leib – ohne notwen-
Vom Nehmen und Geben der Perspektiven«, in: Larissa Pfaller/Basil Wiesse (Hrsg.): Stimmungen und Atmosphären. Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden 2018, S. 103–123; Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen, Freiburg 2005. 22 Hermann Schmitz: Jenseits des Naturalismus, Freiburg 2010, S. 86. 23 Kerz (2017), S. 59–60. 24 Julmi (2018), S. 116.
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dige verbal-sprachliche Kommunikation – sinnlich vermittelt werden. 25 Der hier formulierte Ansatz verlässt einen einfachen Geist-Materie-Dualismus und argumentiert, unter anderem mit Bezug auf Bruno Latour, 26 dass auch die nicht-menschlichen Elemente eines sozial-räumlichen Arrangements hinsichtlich der dort realisierten Atmosphäre ›etwas zu sagen haben‹. Für die Analyse religiöser Atmosphären bedeutet dies unter anderem, dass die Rolle von vermeintlich einflussreichen menschlichen Akteuren (wie z. B. Architekten, Geistlichen, liturgischem Personal) neu bewertet werden muss. Sie sind – vielleicht entgegen ihrer eigenen Einschätzung – nicht die Einzigen, die entscheiden, wie eine Atmosphäre entsteht und wirkt. Die Wirksamkeit liegt also nicht bei einzelnen Elementen des Arrangements – weder beim Raum allein noch bei den Menschen allein – sondern in der Menge der miteinander verquickten Elemente eines sozial-räumlichen Arrangements, deren Einzelekstasen sich miteinander verbinden. 27 Während die individuellen Wahrnehmungen und Bewertungen anwesender Menschen keineswegs gleich sein werden, so sind sich doch in der Regel die meisten Anwesenden darüber einig, was in einer bestimmten räumlich-zeitlich definierten Situation der Fall ist und wie man sich dabei in der Regel fühlt (z. B. wenn Gottesdienst gefeiert wird, wenn Touristen eine Kirche als Kulturdenkmal besichtigen oder wenn dort der Fußboden geputzt wird). Insofern sind Atmosphären über-individuell und quasi-objektiv. 28 Als Elemente des sozial-räumlichen Arrangements sind Einrichtungsgegenstände, architektonische Formen und Arrangements daher nicht passive, sondern wirksame Akteure: Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Zuschreibungen, die immer auch mit affektiven Wahrnehmungen verbunden sind, über die menschliche Akteure dann reden können (aber nicht 25
Schmitz (2014), S. 94–95. Bruno Latour: Reassembling the Social. An Introduction to Actor-Network-Theory, Oxford 2005, S. 72. 27 Hauskeller (1995), S. 40. 28 Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, München 2013, S. 26. 26
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müssen). 29 Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Wirksamkeit materieller Objekte wird hier nicht darauf zurückgeführt, dass sie selbst ›belebt‹ oder mit einer wie auch immer gearteten Intentionalität ausgestattet seien; auch kann ein religionswissenschaftlicher Zugriff nicht davon ausgehen, dass sich ›höhere Mächte‹ räumlich-materiell manifestieren und bestimmte Atmosphären erzeugen. Sowohl die Potenzialität als auch die Realisierung von Semantiken sozial-räumlicher Arrangements, verbunden mit allen leiblichen Empfindungen und kommunizierten Bewertungen, ist sozio-kulturell bedingt, historisch gewachsen und verdichtet und wird mit jeder Situation in einem gebauten Raum zugleich bewahrt und transformiert. Der Ausdruck »sozial-räumliches Arrangement« beschreibt Situationen als relationale Arrangements, die sich aus gebauten (oder natürlichen) materiellen Strukturen und Artefakten sowie den sich darin bewegenden Menschen zusammensetzen. Die Unterscheidung von »Menschen« und »gebauten Strukturen« ist im Grunde schon eine vereinfachende, da sie erst in den untersuchten sozialen Prozessen hergestellt wird; »Menschen« und »Dinge« sind keine a priori in der Welt vorhandenen Einheiten, sondern das Ergebnis sozialer Vorgänge. 30 In letzter Konsequenz bedeutet dieser Ansatz auch, dass beispielsweise ein Kirchengebäude nicht a priori und von sich aus ein religiöser Ort ist. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass hier religiöse Situationen, Gefühle und Kommunikationen stattfinden, das räumliche Setting erlaubt aber prinzipiell auch andere semantische Anschlüsse, beispielsweise kulturhistorischer, architektonisch-technischer oder ökonomischer Art. Es bedarf somit immer einer sorgfältigen empirischen Untersuchung, um zu ver-
29
In der Diskussion über die agency der Dinge ist dies eine differenzierte Position, die weder von einer starken, determinierenden agency der Dinge ausgeht noch ihnen Wirksamkeit völlig abspricht. Dennoch verwende ich das Konzept im Sinne einer sozialen Wirksamkeit, wie beispielsweise auch Sonia Hazard: »The Material Turn in the Study of Religion«, in: Religion and Society: Advances in Research 4/1, 2013, S. 58–78; oder Latour (2005), S. 71. 30 Latour (2005), S. 75–76.
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stehen, wie und wann bestimmte räumliche Umwelten in bestimmten Situationen bestimmte Atmosphären ermöglichen. 2.2 Religiöse Atmosphären Was macht eine Atmosphäre – wenn man sie in der oben skizzierten Weise versteht – zu einer »religiösen« Atmosphäre? Diese Frage nähert sich der in der Religionswissenschaft seit mehr als einem Jahrhundert diskutierten und lange nicht entschiedenen Grundsatzfrage, wie »Religion« zu verstehen sei. Ohne diese Debatte hier auch nur ansatzweise rekapitulieren zu wollen, 31 folge ich einem system- und kommunikationstheoretischen Ansatz, der Religion als diejenige Art von Kommunikation (und damit als soziales System) betrachtet, die mit dem Anspruch auf letztinstanzliche Kontingenzbewältigung die Differenz von Immanenz und Transzendenz bearbeitet. 32 »Kommunikation« meint in diesem Verständnis ausdrücklich nicht allein geschriebene oder gesprochene Worte. Kommunikation kann in vielerlei Modi stattfinden: Dazu gehören, neben gesprochener und geschriebener Sprache, auch Bilder, Artefakte, Rituale, Klänge oder Architekturen. Wichtig ist hier auch, dass es nicht allein die Beschreibung der Menschen im Feld ist, die darüber entscheidet, was Religion ist und was nicht. Zwar ist die explizite Beschreibung von etwas als »religiös«, »heilig«, »sakral« etc. ein starker Indikator dafür, dass hier die Immanenz-Transzendenz-Differenz mit dem Anspruch auf letztinstanzliche Kontingenzbewältigung bearbeitet wird, doch gibt es viele empirische Fälle, die von religiösem Vokabular durchsetzt sind, ohne diesem Kriterium zu genügen (man denke an »Fußballgötter« oder »Apple-Jünger«). Damit bleibt das religiöse Selbstbestimmungsrecht jedes Einzelnen völlig unangetastet: Jede/r bezeichnet als religiös, was er/sie für religiös hält. Eine 31
Z. B. Fritz Stolz: Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 1988, S. 9– 33, für einen Überblick. 32 Volkhard Krech: »Religion als Kommunikation«, in: Michael Stausberg (Hrsg.): Religionswissenschaft, Berlin 2012, S. 49–63.
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religionswissenschaftliche, das heißt gegenwarts- und geschichtsbezogene systematisch-komparative Perspektive muss aber mit abstrakteren Mitteln arbeiten, um sozio-kulturelle Typen und Muster rekonstruieren zu können; sie kann sich nicht allein auf die Aussagen einzelner menschlicher Akteure verlassen. Wenn man Religion so bestimmt, dann sind Atmosphären aus analytischer Perspektive immer dann religiöse Atmosphären, wenn das semantische Potenzial, das sie realisieren, sprachliche oder nicht-sprachliche Kommunikationen beinhaltet oder Anschlusskommunikationen ermöglicht, welche die Immanenz-Transzendenz-Differenz im Hinblick auf letztinstanzliche Kontingenzbewältigung bearbeiten. In einem einfachen Fall könnte ein gläubiger Mensch beim Betreten einer Kirche zu seinem Begleiter sagen, dass ihm hier eine »sakrale Atmosphäre« begegne. In anderen Fällen mag es ein stummes Verbeugen vor dem Bild eines Heiligen sein, das eine Situation als atmosphärisch religiös qualifiziert, selbst wenn die handelnde, also sich verbeugende Person in Gedanken mit ganz weltlichen Dingen beschäftigt sein mag. Denn Atmosphären sind nicht allein ein individueller, sich im Kopf einzelner Menschen abspielender Sachverhalt, sondern ein sozialer, d. h. einer, der auf Kommunikation und wechselseitiges Wahrnehmen von Kommunikation angewiesen ist. Auch kommt es nicht darauf an, dass jeder einzelne sprachliche oder nicht-sprachliche Kommunikationsakt in einer bestimmten sozial-räumlichen Situation direkt mit Immanenz/ Transzendenz sowie Kontingenzbewältigung befasst ist. Beispielsweise laufen in einem überfüllten Kirchenraum während der Weihnachtsmesse viele Kommunikationen ab, die weder explizit noch implizit religiöser Natur sind. Dennoch wird die soziale Situation, der analytische Fall, insgesamt als »religiös« identifizierbar sein. Denn es ist der Gesamtzusammenhang eines Arrangements von sprachlichen und nicht-sprachlichen Kommunikationen in einer sozial-räumlichen Situation, der retrospektiv einen Aufschluss über die Art des Falls ermöglicht. Die Bestimmung, was eine religiöse Atmosphäre ist bzw. war und was nicht, erfordert somit immer eine eingehende Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. Wie dieses Material zu 251 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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erheben und auszuwerten ist, darüber herrscht in der Erforschung situativer Atmosphären beileibe kein Konsens. Daher werde ich im folgenden Abschnitt nur eine von verschiedenen Möglichkeiten vorstellen, um daran auch die bis hierhin diskutierten Begriffe zu veranschaulichen. 3
Methodologische Vorschläge
Der hier formulierte methodische und methodologische Vorschlag folgt dem Prinzip der Triangulation, das heißt, dass mehrere Verfahren kombiniert werden, um ein möglichst umfassendes Bild vom untersuchten Gegenstand zu erhalten. Dazu gehören teilnehmende Beobachtungen, Interviews und Textanalysen aus dem klassischen Methodenkanon sowie sequenzanalytische Untersuchungen von Fotos der untersuchten sozial-räumlichen Situation. Letzteres ist in Bezug auf die Untersuchung von Atmosphären eher ungewöhnlich und soll daher im Folgenden ausführlicher erläutert werden. Eine Fotografie hat den entscheidenden Vorteil, dass sie einen vergänglichen Moment fixiert und so für die Analyse greifbar macht: »Im Medium der Fotografie kann fixiert werden, was trotz aller Veränderungsdynamik situativ sichtbar ist – ein fahrender Zug, ein menschliches Lächeln, ein rauchender Schornstein, aber eben auch eine Atmosphäre, die all diesen und anderen ›Szenen‹ erst zu nachhaltiger Beachtung verhilft. Die Fotografie hält (im fixierten Bild) fest und bietet der Einfühlung an, was sich in der Aktualität einer Situation der Wahrnehmung gezeigt hat«. 33 Zwar kann die Atmosphäre selbst als Ganzes nicht fotografiert werden, weil die Fotografie eine multisensorische Wahrnehmung auf einen nur visuell wahrnehmbaren Zustand reduziert, aber die Fotografie kann Ausgangspunkt einer analytischen Rekonstruktion der dokumentierten Atmosphäre sein; sie ist eine »Geste des Zeigens«, wie Jürgen Hasse vorschlägt. 34 Alles, was die Fotografie 33 34
Hasse (2012), S. 38. Hasse (2012), S. 39.
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nicht im Stande ist zu konservieren, muss im Laufe der Analyse ausgehend von der Fotografie rekonstruiert werden. 35 Dazu ist es notwendig, die Fotoanalyse mit teilnehmenden Beobachtungen und Interviews mit in der Situation Anwesenden zu kombinieren. Wenn man methodologisch annimmt, dass eine Fotografie eine verdichtete und reduzierte Konservierung von sozial-räumlichen Situationen mit ihrer je eigenen Atmosphäre ist, dann kann sie als Protokoll im Sinne der Sequenzanalyse betrachtet werden. Ein Protokoll wiederum kann den üblichen Verfahrensschritten der Sequenzanalyse, wie sie von Ulrich Oevermann und anderen vorgeschlagen wurden, unterzogen werden. 36 Kurz gesagt bedeutet das, einzelne Segmente des Fotos dahingehend zu befragen, in welche sinnvollen sozialen Kontexte sie eingebunden sein könnten (Gedankenexperimente), welche Anschlüsse – also Fortsetzungen im Bild – sie prinzipiell erlauben und welche davon tatsächlich realisiert wurden. 37 Insgesamt lassen sich durch den Vergleich von möglichen und realisierten Anschlüssen allgemeine sozio-kulturelle Muster ableiten (sogenannte Fallstrukturhypothesen), die der dokumentierten sozial-räumlichen Situation und ihrer Atmosphäre zugrunde liegen. Das Foto steht damit methodologisch auf der gleichen Ebene wie ein Textdokument oder ein Interview-Transkript: Es leistet die Konservierung flüchtiger Situationen (beschränkt auf die visuellen Aspekte dieser Situation) und ermöglicht damit eine regel35
Hasse (2012), S. 43. Ulrich Oevermann/Tilman Allert/Elisabeth Konau/Jürgen Krambeck: »Die Methodologie einer ›objektiven Hermeneutik‹ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften«, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 352–434; Ulrich Oevermann: »›Get Closer‹. Bildanalyse mit den Verfahren der objektiven Hermeneutik am Beispiel einer Google Earth-Werbung«, in: Jörg Döring (Hrsg.): Geo-Visiotype. Zur Werbegeschichte der Telekommunikation, Siegen 2009, S. 129–177 (S. 130). 37 Ich folge damit einer von Gregor J. Betz und Babette Kirchner im Anschluss an die Objektive Hermeneutik entwickelten Vorgehensweise, siehe Gregor J. Betz/Babette Kirchner: »Sequenzanalytische Bildhermeneutik«, in: Nicole Burzan/Ronald Hitzler/Heiko Kirschner (Hrsg.): Materiale Analysen. Methodenfragen in Projekten, Wiesbaden 2016, S. 263–288. 36
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hafte und bewusst verlangsamte Analyse, die prinzipiell beliebig oft und von verschiedenen Forschern wiederholt werden kann, so dass dem methodologischen Postulat der Transparenz Genüge getan wird. 38 Dem Einwand, dass ein Foto mehr über den Blick des Fotografen aussagt als über die abgebildete Situation, kann man erwidern, dass auch ein Interview-Transkript mehr über das Hörvermögen der Transkribierenden und die Intentionen der Interviewer aussagt als über das untersuchte Thema. Beides ist nicht gänzlich falsch, schließt aber nicht aus, dass das Foto (wie auch das Interview-Transkript) zugleich etwas über den dokumentierten Fall aussagt. 4
Fallbeispiel: Die katholische Jugendinitiative »Nightfever«
»Nightfever« ist eine 2005 gegründete katholische Initiative, die aus dem Weltjugendtag in Köln heraus entstand. 39 Die Gründer Andreas Süß und Katharina Fassler-Maloney, Theologie-Studierende in Bonn, organisierten Ende Oktober 2005 in der St. Remigius-Kirche in Bonn eine eucharistische Anbetung unter dem Motto »WJT goes on – Nightfever«. 40 Daraus entstand eine Bewegung, die in über 300 Städten weltweit Veranstaltungen organisiert. Von Beginn an steht dabei die Anbetung des Allerheiligsten, das heißt des Leibes Jesu in der gewandelten Hostie, im 38
Für eine ausführlichere Diskussion der methodischen Arbeitsschritte siehe auch Martin Radermacher: »Eine Fotografie als Quelle der Erforschung räumlich-materieller Arrangements. Methodologische Überlegungen«, in: Irene Ziehe/Ulrich Hägele (Hrsg.): Eine Fotografie. Über die transdisziplinären Möglichkeiten der Bildforschung, Münster 2017, S. 167–179. 39 Das hier geschilderte Fallbeispiel resultiert aus einer ausführlicheren Analyse, siehe Martin Radermacher: »Nightfever. Zur populärkulturellen Anschlussfähigkeit einer katholischen Jugendinitiative«, in: Elisabeth Zwick/Sebastian Weißgerber (Hrsg.): Katholizismus und Moderne, im Erscheinen. 40 Hanns-Gregor Nissing/Andreas Süß: »›Wir sind gekommen, um Ihn anzubeten‹. Die Initiative Nightfever – Theologische Grundlegungen«, in: HannsGregor Nissing/Andreas Süß (Hrsg.): Nightfever. Theologische Grundlegungen, München 2013, S. 11–40 (S. 20).
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Abbildung 1
Mittelpunkt. Dies geschieht jedoch nicht in traditioneller Weise, sondern weist eine spezifische Atmosphäre auf, die sowohl von den Initiatoren als auch von den lokalen Organisatoren und nicht zuletzt von den Teilnehmer/innen genannt, beschrieben und oftmals auch geschätzt wird. Das Ziel der Initiative ist es, in den Innenstädten an einem Abend des Wochenendes kirchenferne Menschen wieder für den Glauben zu begeistern. 41 Dieses Ziel soll mit einer bestimmten, niedrigschwelligen Form und einer »besonderen Atmosphäre« erreicht werden. Zu den Angeboten und Elementen eines Nightfever-Abends gehören beispielsweise »Glaubensgespräche«, »Lobpreis«, »musikalisch gestaltete Anbetung«, »freies Gebet«, eine »Fürbitten-Box« vor dem Altar und die »Spendung des Sakraments der Versöhnung«. 42 41
Nissing/Süß (2013), S. 12. Albert Gerhards/Kim de Wildt: »Zwischen modernem Event und traditionellem Katholizismus. Liturgiewissenschaftliche Anfragen an Nightfever«, in: Liturgisches Jahrbuch 65/2, 2015, S. 91–104.
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Wie bereits erwähnt spielt die Atmosphäre sowohl explizit als auch implizit eine zentrale Rolle für die Vorbereitung, Durchführung und Wahrnehmung der Nightfever-Veranstaltungen. So betonen beispielsweise Nissing und Süß, dass die Abende durch ihre »spirituelle Atmosphäre, ihre einladende und zugleich unaufdringliche Gestaltungsform […] von unmittelbarer Evidenz und Anziehungskraft« seien. 43 Die folgende, sehr verkürzte und rein illustrative Analyse nimmt ihren konzeptuellen Ausgang bei den oben skizzierten Überlegungen und basiert in erster Linie auf der Analyse von Fotografien sowie auf Beobachtungen bei mehreren Veranstaltungen von Nightfever. Dazu kommen Auswertungen von textlichen Quellen aus dem Umfeld der Initiative. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, wie man jener von Teilnehmer/innen beschriebenen »besonderen Atmosphäre« 44 analytisch auf die Spur kommen kann, wenn man sie nicht – denn das wäre religiöse Sprache – auf das Wirken Gottes, aber auch nicht auf die Gestaltungskompetenz einzelner Akteure zurückführen will. Anders gesagt: Welche sozial-räumliche Situation bringt eine solche Atmosphäre hervor? Die Hypothese lautet, dass die Initiative in erster Linie aufgrund der Atmosphäre ihrer Veranstaltungen – und erst nachrangig aufgrund ihrer theologischen Aussagen oder organisatorischen Form – eine Anschlussfähigkeit auch unter kirchenfernen Besucher/innen erzeugt, die in der konkreten Situation implizit ›funktioniert‹, das heißt ohne dass Akteure sich erst diskursiv darüber verständigen müssten. Die meisten Nightfever-Veranstaltungen beginnen direkt im Anschluss an eine Vorabendmesse zum Sonntag und dauern bis kurz vor Mitternacht. Während die Messe der traditionellen Liturgie entspricht, erzeugen die Veranstalter von Nightfever durch wenige, aber bedeutsame Umbauten eine andere, aber immer noch erkennbar religiös gerahmte Atmosphäre: Zuerst wird der
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Nissing/Süß (2013), S. 12. Markus Wittal: »Im Raum des Lobpreises. Musik und Gesang«, in: Nissing/ Süß (2013), S. 97–112 (S. 97).
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Altar mit einem rot-weißen Tuch bedeckt, auf dem die Monstranz mit dem Allerheiligsten positioniert wird. Die farbliche Symbolik – rot und weiß für Blut und Wasser, das der Überlieferung zufolge aus den Wunden Jesu strömte – ist christlich Sozialisierten sofort ersichtlich, wird jedoch für andere Besucher/innen unbekannt sein. Lichtstrahler erhöhen noch die Aufmerksamkeit für die Monstranz (siehe Abb. 1). Auf den Stufen vor dem Altar werden Metallbleche bereitgelegt, die nach wenigen Stunden eine Menge an Teelichten tragen werden. Die Lichtverhältnisse werden verändert, indem ein Halbdunkel geschaffen wird, das nur wenige deutliche Akzente (beispielsweise die Monstranz auf dem Altar) enthält und somit einen klaren Fokus ermöglicht. Der Hintergrund des Kirchenraums wird oft in rötlichen Lichttönen erleuchtet. Musikalisch wird der Abend von eingängiger, nicht zu lauter oder abwechslungsreicher christlicher Musik begleitet, die von einer Laienband gespielt und gesungen wird. Bei den von mir besuchten Veranstaltungen betraten schon bald nach dem Beginn die ersten Gäste, die von Freiwilligen auf der Straße eingeladen worden waren, den Kirchenraum und folgten oft, wenn auch nicht immer, dem vorgesehenen Handlungsmuster: Eine Kerze vor dem Altar entzünden, kurz im Gebet verweilen, ggf. auch das Gespräch mit dem Priester suchen. Gelegentlich sind dabei emotionale oder intensive Erfahrungen zu beachten, die sich äußern, wenn Menschen weinen, einander umarmen oder mit hinter den Händen verborgenen Gesichtern im Gebet verharren. Atmosphärisch positioniert sich die Veranstaltung in einem doppelten Kontrast: Einerseits im Kontrast zum ›normalen‹ Gottesdienst, andererseits im Kontrast zur Atmosphäre einer Innenstadt am Samstagabend. Gegenüber der Messe ist der NightfeverAbend weitgehend offen und unstrukturiert. Jeder ist eingeladen, zu kommen und zu gehen, wann und wie er oder sie möchte. Niemand erwartet bestimmte Kenntnisse der Liturgie (wenn auch die Anbetung des Allerheiligsten ein theologisch ausgesprochen voraussetzungsreiches Ritual ist) oder Kenntnisse klassischer Kirchenlieder und -texte. Der sinnliche Fokus ist stark reduziert auf die Monstranz und das Anzünden einer Kerze – und selbst dies sind schon optionale Angebote. Diese Faktoren erzeugen eine At257 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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mosphäre, die offenbar – die Zahl der Besucher/innen spricht dafür – ein breites Publikum anlockt. Gegenüber der Atmosphäre eines innerstädtischen Samstagabends unterscheidet sich die Situation im Kirchenraum durch ihre kontemplative Ruhe: Während draußen Passanten ihre letzten Einkäufe erledigen, andere auf dem Weg ins Restaurant, die Kneipe oder zur Party sind, ist schon die Einladung auf der Straße, mit einem Teelicht die Kirche zu betreten, gleichermaßen eine Aufforderung, einen Moment innezuhalten. Kurz: Die atmosphärische Gestaltung eines NightfeverAbends ermöglicht einer relativ breiten Zielgruppe die unkomplizierte Teilnahme, ist aber für alle Besucher/innen schon durch den Ort – die Kirche – und das Motiv des Anzündens einer Kerze eindeutig religiös gerahmt. Der Fokus auf das ästhetische Erleben einer Atmosphäre erfordert zudem – zumindest im ersten Schritt – kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Vorgang der eucharistischen Anbetung oder mit den Prinzipien der katholischen Lehre im Allgemeinen. Wer sich nach dem Besuch einer solchen Veranstaltung tatsächlich neu für die katholische Kirche interessiert, muss selbst Wege finden, um dieses Interesse zu befriedigen. Belastbare Zahlen über den Erfolg dieser Missionsveranstaltungen sind nicht bekannt, allein die große Zahl der Besucher/innen und die relativ schnelle Verbreitung des Konzepts lassen darauf schließen, dass zumindest die Herstellung eines Erstkontakts relativ gut gelingt. 5
Fazit
Nicht nur in religiösen Zusammenhängen zeigen sich Atmosphären als machtvoll und einflussreich – gerade weil sie oft im Verborgenen wirken. In diesem Beitrag habe ich versucht, eine Fassung des Atmosphärenkonzepts zu entwickeln, die für religionswissenschaftliche Forschungen nützlich ist. Es steht außer Frage, dass Organisator/innen von religiösen Veranstaltungen Atmosphären beeinflussen wollen und dies durch den Einsatz von Architektur, Licht, Musik und Technik 258 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Religion und Atmosphäre
auch tun. Die katholische Liturgie kann als atmosphärisches Gesamtkonzept schlechthin bezeichnet werden. Auch neuere Initiativen im christlichen Raum arbeiten gezielt mit atmosphärischen Mitteln, um Anhänger zu gewinnen. Jedoch ist die intentionale und gezielte Gestaltung von machtvollen Atmosphären – so meine oben ausgeführte Vermutung – nur ein Faktor, um die Wirksamkeit von Atmosphären zu erklären. Diese Wirksamkeit liegt daneben, und vielleicht entscheidend, im Potenzial sozial-räumlicher Arrangements, das in bestimmten Situationen zum Tragen kommt, ohne dass jemand dies bewusst entschieden hätte. Daher habe ich vorgeschlagen, Atmosphären in heuristischer Weise als das realisierte semantische Potenzial sozial-räumlicher Arrangements zu verstehen. Dieser Ansatz lenkt den Blick auf die oftmals latente Wirkungszusammenhänge, die im situativen Zusammenspiel von Menschen, Dingen und Architekturen entstehen und manchmal, aber nicht immer, letztlich auch als »besondere Atmosphäre« beschrieben werden.
259 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Andreas Rauh
Wirkmacht von Atmosphären. Ästhetische Verortungskoordinaten »Wagemutige Teppichkombo zerstört ersten Wohlfühleindruck: mächtiges, aber einladendes Korbsofa, alles in braun/schwarz, schön heimelig, aber lila-grellroter Teppich … → Atmosphärenzerstörer!« 1
Es sind nicht immer die angenehmen Atmosphären, die auffallen. Oft sind es die erstaunlichen, eigen- oder einzigartigen Atmosphären, die uns den Atem rauben. Im Raum kann eine Stimmung herrschen, die nicht die eigene ist – etwa die ausgelassene Stimmung bei einem kurzweiligen Konzert oder die angespannte Stimmung bei einer kontroversen Konferenz. Diese solchermaßen empfundene Atmosphäre kann uns als anwesende Personen in unserer je eigenen Stimmungslage beeinflussen, also etwa für eine immersive Einstimmung sorgen oder einen spürbaren emotionalen Kontrast zementieren, und uns damit den Atem rauben. Empfindungen und Erfahrungen wie diese sind es, die das Phänomen der Atmosphäre ganz konkret plausibel machen. In metaphorischer Annäherung lassen sich Parallelen zum meteorologischen Atmosphärenbegriff als (Luft-)Hülle des Planeten zeichnen: Atmosphären umgeben uns allzeit und bereiten die Grundlage für das Atmen vor, für eine nicht luftleere Lebenswelt, die im Sinne des Luftdrucks sowohl für frische Brisen und einen zarten Lufthauch wie auch für schwüle Witterung und dicke Luft verantwortlich ist. Beschreibungen und Metaphern wie diese sind es, die das Phänomen der Atmosphäre auch ganz allgemein in Wahrnehmungskontexten nachvollziehbar machen. 1
Feldforschungsnotiz tn-02 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg. In Bezug auf die Sprachform des gesamten Beitrags gilt ›Corpus Iuris Civilis Dig. I, 16,1‹ : Verbum hoc ›si quis‹ tam masculos quam feminas complectitur / Der Ausdruck ›wenn jemand‹ umfasst männliche wie weibliche Personen.
260 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Wirkmacht von Atmosphären
Eine Synopse etlicher wissenschaftlicher Hinführungen zum Atmosphärenphänomen der letzten Jahre würde diese und weitere Grundcharakteristiken sowohl des Atmosphärenphänomens und seiner Wahrnehmung aufzeigen wie auch der Weise, in der man auf das Phänomen begrifflich zuzugreifen sich wünscht: Wir lesen dann von gestimmten Räumen, Enge-Weite-Verhältnissen, der eigenen leiblichen Anwesenheit, der affektiven Betroffenheit als Ergriffenheit, von Präsenz und Kopräsenz, Erscheinungseigenschaften, Vermittlung von Erlebnisqualitäten, ästhetischen Werterfahrungen, Halb-Dingen und Materialität und vielem weiteren mehr. Ein Kernpunkt aller Hinweise ist die Wirkmächtigkeit von Atmosphären, ihre gewisse Art der Eigenständigkeit als Qualität, die den Menschen in seiner leiblichen Verfasstheit angeht. Wie viele andere auch stellt Löw fest: »Nun könnte man annehmen, daß Gestimmtheit nicht mehr ist als die Projektion von Gefühlen auf die umgebenden Räume, gäbe es nicht das Phänomen des ›Umgestimmt-Werdens‹ durch Räume. […] Räume entwickeln demnach eine eigene Potentialität, die Gefühle beeinflussen kann.« 2 Eine Argumentationslinie bei Definitions- und Beschreibungsversuchen des Atmosphärenphänomens aus dem Fachbereich der Ästhetik heraus besteht darin, es über die reine sinnliche Wahrnehmung als Empfindung im Rahmen einer Aisthetik (mit den Gewährsleuten Böhme und Welsch) zu erklären. Dabei könnte jedoch – trotz aller gegenteiliger Beteuerungen – die Ästhetik als Wissenschaft vom Schönen noch nachwirken, so dass im Hintergrund eine am Ideal der Schönheit orientiertes Paradigma des Kontemplativen steht: Atmosphären werden zuerst mit Wohlfühlatmosphären assoziiert, die in erfreulichem Maße auf das Wohlbefinden wirken sollen. Atmosphären wirken aber nicht nur in Situationen des Schönen und des Außeralltäglichen, sondern sind vielfältiger und viel alltäglicher, damit bisweilen subtil und undeutlich. In diesem Essay möchte ich mit Blick auf die Atmosphärentheorie einige ästhetische Ideen umkreisen. Facetten gespürter At2
Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt 2001, S. 204.
261 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Andreas Rauh
mosphären bringen dabei das Atmosphärenkonzept mit klassischen, aber auch modernen ästhetischen Positionen ins Gespräch. Der Diskurs beginnt zunächst mit einem Feldforschungsprojekt, das das Befinden in, die Beeinflussung durch und die Beschreibung von Atmosphären thematisiert. Die Feldforschungsaufzeichnungen verschiedener Personen legen einige atmosphärenrezeptive Fährten aus und verweisen auf einige der zuvor genannten Grundcharakteristika (Kapitel 1). Welche theoretischen Schemata dabei subkutan wirksam sein könnten, wird im nächsten Schritt beleuchtet. Denn die Fährten wie auch einige gängige Facetten des Verständnisses von Atmosphären möchte ich mit den aus der Ästhetikgeschichte bekannten Konzepten der Schönheit und der Erhabenheit (mit den Gewährsleuten Kant und Burke) konfrontieren. Vor allem mit der ästhetischen Perspektive der Erhabenheit – mit den Filiationen, die Kant vorschlägt – wird dann die paradigmatische Erfahrungsweise von Atmosphären verständlich (Kapitel 2). Zeigte schon der Blick auf alltägliche und subtile Atmosphären die Wirkmacht von Atmosphären, so verdeutlicht der Fokus auf die Aisthetik und die Rolle der leiblichen Betrefflichkeit und Betroffenheit durch mächtige und machtvolle Atmosphären, wie grundlegend Atmosphären die Wahrnehmung prägen (Kapitel 3). Mit diesen ästhetischen Verortungen der Wirkmacht von Atmosphären erinnere ich an altbekannte und aktuelle begriffliche Koordinaten und Schemata, für die in der Folgeforschung zu prüfen ist, inwieweit sie Einfluss auf den Diskurs nehmen und damit weiterführende (empirische) Studien in einen bestimmten Fokus stellen.
262 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Wirkmacht von Atmosphären
»starker Eindruck von ›wie du wohnst, so bist du‹ noble, dunkle Einrichtung, Weingläser vs. helle und satte Farben, Kinderzimmerplastikgeschirr ›jedem seine eigene Atmosphäre bieten?‹« 3
1
Atmosphärenforschung im Möbelhaus
Für ein atmosphärisches Feldforschungsprojekt wurden Studierende der Kunstpädagogik in zwei Kleingruppen eingeteilt, die in den beiden Stockwerken einer Würzburger Möbelhauskettenfiliale Feldforschungsnotizen erstellten. Im Vorfeld wurden nur wenige Erläuterungen zum Begriff und Phänomen der Atmosphäre gegeben. Der Arbeitsauftrag lautete lediglich: ›Beschreibt die Atmosphäre.‹ Die Feldforschungsphase dauerte 45 Minuten, (zunächst) ohne einen Austausch untereinander und ohne das Vollständigkeitsideal, das ganze Stockwerk voll erfassen/beschreiben zu sollen. Den Studierenden war die Art und Weise freigestellt, in der sie ihre Wahrnehmungen in die bereitgestellten Skizzenhefte versprachlichen und notieren durften. Im Anschluss sollten die Notizen reflektiert werden, sowohl durch weitere schriftliche Ergänzungen (erinnerungsprotokollarische Notizen, epN) wie auch durch den gemeinsamen Austausch in der Kleingruppe: Was habt ihr wahrgenommen? Welche Art von Atmosphäre? Was war auffällig? Gibt es eine starke Atmosphäre oder viele verschiedene Atmosphären? Mit dieser methodischen Form der Feldforschung wollte ich weitergehende Fragen aufwerfen wie: Wirkt eine inszenierte Atmosphäre in einem Möbelhaus gleich stark auf unterschiedliche Individuen? Wie ließe sich diese Atmosphäre dann konkret beschreiben? Wie spiegelt sich die Wirkmacht einer Atmosphäre in unterschiedlichen Notationen wider? Was sagt mir das als Feldforschender, als jemand, der selber einer Atmosphäre nachspürt, sie in ihrer Spürmächtigkeit aufgreifen und nachzeichnen will? Der sukzessive sprachliche Zugriff auf das simultane Spüren der Atmosphäre ist eine hermeneutische Herausforderung, die vom Zeichnen her geläufig sein mag: Was macht die Linie? Was mache 3
Feldforschungsnotiz tn-02 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg.
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Andreas Rauh
ich mit der Linie? Ich ziehe eine Grenze, wo eigentlich keine Grenze ist, wo eine Ahnung oder ein Wissen um Objektdifferenzen in die Wahrnehmung und ihre Erfassung hineinspielt. Sieht man die Abgrenzung? Kann man zeichnen, was man sieht? Was zeichnet man genau: Grenzen, Flächen, Stoffliches … ? Die bereits zitierten Feldforschungsnotizen weisen auf einige Atmosphärenmerkmale hin. Im Möbelhaus werden je nach Kundenzielgruppe unterschiedliche Atmosphären inszeniert, ›jedem seine eigene Atmosphäre‹ geboten. Art der Gegenstände wie auch Ausleuchtungsgrad und farbliche Umgebungsgestaltung nehmen Einfluss auf die je erspüre Atmosphäre, und zwar in einer Weise, die Wohnumfeld und Persönlichkeit stark verknüpft – ›wie du wohnst, so bist du‹. Bei diesen Inszenierungsstrategien können auch Störfaktoren, wenn nicht gar Fehler auftreten, wenn etwa die ›wagemutige‹ Kombination von Korbsofa und grellfarbigen Teppich zum ›Atmosphärenzerstörer‹ wird. Diese Atmosphäre des Wagemuts ist keine Atmosphäre des Wohlfühlens. Der Wirkumfang einzelner Gegenstände, und damit ihre potentielle Wirkmacht, wird gekonnt eingesetzt, in Kombination aber auch mitunter unterschätzt: »Illusion wird aufgebaut (Bücher, Fernseher, Kissen, Bilder von Menschen, die dort wohnen könnten, Feierabendlichtatmosphäre) und bei kurzem Verweilen gleich wieder gebrochen (vorbeilaufende Leute, Fake-Geräte, Durchsagen).« 4 Dazu auch: »Fremde Leute mit Einkaufswagen laufen durch mein Wohnzimmer; schauen in meine Schränke.« 5 Diese atmosphärische Inszenierung und Brechung taucht auch in einem anderen Feldforschungsbericht auf: »Teilweise fühlen wie als Spanner in fremder Leute Wohnraum, da kein ›neutrales‹ Vorführen der Möbel, sondern bewusstes Arrangieren und ›bestücken‹, als fände Leben statt (Kaffee-Set am Arbeitsplatz).« 6 Die verschiedenen Verflechtungen der atmosphärischen Wirkungen von Gegenständen und Menschen führt Martina Löw zu ihrer (soziologisch imprägnierten) Atmosphärenbestimmung: Die »Außenwirkung sozialer 4 5 6
Feldforschungsnotiz tn-01 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg. Ebd. Feldforschungsnotiz tn-02 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg.
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Wirkmacht von Atmosphären
Güter und Menschen bleiben nicht einfach als verschiedene Wirkungen nebeneinander bestehen, sondern entwickeln im gemeinsamen Arrangement eine eigene Potentialität. In der Zusammenschau verschiedener Außenwirkungen entstehen […] spezifische Atmosphären, die dann aber […] aktiv aufgegriffen werden müssen. Atmosphären sind demnach die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An)Ordnung.« 7 Im Möbelhaus werden Einrichtungsgegenstände mit ihren Außenwirkungen in sog. ›Wohnlandschaften‹ kombiniert, um spezifische Kaufatmosphären zu erzeugen, die nicht nur ein Arrangement, sondern auch den einzelnen Gegenstand im Arrangement in seiner atmosphärischen Wirkmacht präsentieren. Die einzelnen Gegenstände tragen mit ihrer Materialität, Farbigkeit, Gestalt, Voluminösität und ihrem Geruch 8 zu einer Gesamtstimmung bei, die die Anwesenden umhüllt und einstimmen soll. Die atmosphärischen Brechungen könnten sogar notwendig sein, damit die Gegenstände noch als einzelne Kaufware genug Aufmerksamkeit bekommen und nicht bloß als inszenatorische Teilfaktoren in einer atmosphärischen Gesamtheit fungieren. Das Spüren des Raumes zeichnet sich als Hauptakteur der atmosphärischen Wahrnehmung aus, wobei nicht bloß einzelne Sinneskanäle angesprochen werden: »Spiel von Horizontalen & Vertikalen [epN: Qualität der Raumstrukturen].« 9 Gleichfalls können einzelne Sinneswahrnehmungen/-empfindungen bei der Bestimmung des Charakters einer spezifischen Atmosphäre eine Art Leitfunktion übernehmen. Einlullende Musik kann in einem Möbelhaus nicht nur zuerst ungehört sein und dann bewusst werden: »seichte Musik im Hintergrund, fällt erst nach 10 min auf. (großer Kontrast zu einem Supermarkt).« 10 Sie kann auch nicht vorhanden sein, was dann bewusst wird: »KEINE DUDEL7
Löw (2001), S. 204 f. Vgl. Feldforschungsnotiz tn-05 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg: »Holz-Bast-Geruch riecht einerseits ›neu, unecht, nach Fabrik‹ erinnert mich persönlich andererseits an Urlaub«. 9 Feldforschungsnotiz tn-04 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg. 10 Feldforschungsnotiz tn-01 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg. 8
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MUSIK! (erstaunlich lange gebraucht, um das zu bemerken).« 11 Ziel atmosphärischer Inszenierungsstrategien kann es also sein, die raumprägende Atmosphäre bewusst auf eine bestimmte Vermittlungsabsicht, Handlungssteuerung oder Objektpräsentation hin zu fokussieren, die Atmosphäre bewusst durch einzelne Sinneskanäle bzw. einzelne Objekte mit ihren spezifischen (materiellen) Anmutungsqualitäten zu bestimmen oder gar zu dominieren. Während solche Strategien im Konsumbereich nachvollziehbar sind, stellen sie eine (um)gestalterische und rezeptive Herausforderung für Atmosphären dar, deren Wirkmächtigkeiten sich neben der Wahrnehmung vor Ort noch durch einen historischen Kontext und damit ein spezifisches Wissen speisen. Die spezifische Inszenierung von Macht, wie sie sich etwa im architektonischen Erbe (beispielsweise des Deutschen Pavillons der Venedig-Biennale oder des Münchner Hauses der Kunst) oder etwa auch bei archäologisch erschlossenen Kultstätten findet, berücksichtigt einen nicht mehr vorhandenen Adressatenkreis. Was ist also von den architektonischen Atmosphären heute noch wahrnehmbar und gewollt? Wie können vergangene Atmosphären (adäquat) rekonstruiert werden? Welches Hintergrundwissen um historische Situationen, aber auch Materialien und ihre Wirkung ist dafür nötig? Wie und ab wann greifen Verklärungen? Die Feldforschungsnotizen im Möbelhaus weisen noch ein weiteres spezielles Merkmal auf. Sie charakterisieren die Atmosphäre als Ganze, z. T. unter Nennung einiger Haupteindrucksqualitäten: »Geräusche: Gerede, Kinderrufe; Erster Blick: Fußbälle (rot, blau, schwarz); rechts Pflanzen; grauer Boden: Abklebespuren; Lagerhallenatmosphäre – Rohre, Aluminiumabdeckungen, Lampen.« 12 Architektonischer Funktionalismus, konsumorientierte Raumnutzung und Abnutzungsspuren prägen eine Atmosphäre, die an eine Lagerhalle erinnern, die sich mit grauem Boden, Rohren und verschiedenen Abdeckungen eher von einer als positiv empfundenen Atmosphäre abzuheben scheint. Deutlicher wird diese (negative) Charakterisierung in einem anderen 11 12
Feldforschungsnotiz tn-02 am 15. 07. 2010, Möbelhaus 2, Würzburg. Feldforschungsnotiz tn-04 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg.
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Wirkmacht von Atmosphären
Feldforschungsbericht: »weite ›Lagerhaus-Atmosphäre‹, erinnert an Turnhalle, grauer Boden, LED-Beleuchtung, – 1. Blick auf Stoffbälle in Körben, dahinter massenhaft Decken, → Eindruck von Vielzahl, – organisierte, strukturierte (→ Schilder), etwas lieblose, kalte Atmosphäre, dominiert durch kalte Farben (weiß, grau), viel Kahles (Bodenflächen, Beleuchtungsgestänge).« 13 Hier wird die Atmosphäre nicht nur als Lagerhausatmosphäre charakterisiert, sondern zudem als ›etwas lieblose, kalte Atmosphäre‹ aufgrund der kalten Farben und der kahlen Flächen. Es könnte durchaus sein, dass die Feldforschenden mit dem Atmosphärenbegriff einen positiv konnotierten Begriff im Sinne einer Wohlfühlatmosphäre verbinden – womit sie keine Ausnahme darstellen dürften: Wie wir auch bei der Ästhetik vorschnell an Schönheit oder die Lehre von den schönen Künsten denken, werden wir bei Fragen zu Atmosphären wohl zunächst Wohlfühlatmosphären erstassoziieren. Denn neben einer neutralen Beschreibung kann der Begriff Atmosphäre auch »implicitly (and positively) axiological [verstanden werden], in the sense that by exclaiming ›what an atmosphere!‹ we usually express ipso facto a favourable condition.« 14 Im Rahmen einer Ästhetik, die sich in Rückbesinnung auf das Ausgangswort aisthesis auf die sinnliche Wahrnehmung in ihrer ganzen Breite bezieht, werden Atmosphären – grob gesprochen, aber feldforschungsgestützt – als Wahrnehmungsbedingung und -effekt der räumlichen Kopräsenz von leiblich anwesenden Personen und Gegenständen mit Wirkmacht verstanden. Die Erstassoziation ›Wohlfühlatmosphäre‹ könnte jedoch darauf hindeuten, dass der Atmosphärenbegriff als eine hinreichende Worthülse für gestimmte, aber vage Situationen fungiert, ohne die notwendige Rückbindung an sein weitgreifendes Potential. Denn »so seltsam es erscheinen mag: wir sind oft außerstande zu wissen, welche Ideen wir von Dingen haben und ob wir über bestimmte Gegen-
13
Feldforschungsnotiz tn-05 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg. Tonino Griffero: Atmospheres. Aesthetics of Emotional Spaces, London 2016, S. 3.
14
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stände überhaupt irgendwelche Ideen haben.« 15 Ausgesprochene Begriffe lösen Leidenschaften aus, üben Macht aus, haben nach Burke drei Wirkungen auf das Gemüt des Hörers: »die erste ist der Ton; die zweite die Abbildung oder Repräsentation des Dinges, das durch den Ton bezeichnet wird; die dritte ist der Affekt der Seele, der durch die beiden anderen Wirkungen oder durch eine von ihnen hervorgerufen wird.« 16 Ohne Begriffs- und damit gekoppelter Feldforschung wird der Atmosphärenbegriff nur zum Auslöser der ersten und dritten Wirkung. Diese und andere Feldforschungen deuten darauf hin, dass es Atmosphären als Wahrnehmungsbedingung und Empfindungsstimmer gibt, sie also nicht bloß begriffliches Tönen und Affizieren sind. In der Theoretisierung des Phänomens ist jedoch die Nachwirkung gewohnter ästhetischer Schemata zu vermuten. Die beiden Begriffe der Schönheit und der Erhabenheit sind dabei diejenigen ästhetikgeschichtliche Koordinaten, die diese Vermutung gegebenenfalls nicht aufzulösen, jedoch zu klären helfen. Nach den Feldforschungshinweisen sollen also nun weitergreifende Verortungen der Wirkmacht von Atmosphären versucht werden. »weite ›Lagerhaus-Atmosphäre‹, erinnert an Turnhalle, grauer Boden, LED-Beleuchtung [epN zu ›weite‹ : Größe, sofort überwiegt der Eindruck von unheimlichen Dimensionen, Massen]« 17
2
Atmosphäre schön und erhaben
Atmosphären spielen als grundlegendes Wahrnehmungsphänomen eine prominente Rolle bei der Konturierung einer Neuen Ästhetik, einer Ästhetik, die sich in Rückbesinnung auf die aisthesis als allgemeine Wahrnehmungslehre begreift. Für diese ästhetische Theoriebildung sind phänomengerechte Beschreibungen und adäquate phänomenologische Analysen wichtig. 15
Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg 1989, S. 211. 16 Burke (1989), S. 209. 17 Feldforschungsnotiz tn-05 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg.
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Wirkmacht von Atmosphären
Über besondere Atmosphären wird oft erst im Nachhinein geredet. Dieses Nachhinein kann notwendig sein, da man zuerst ergriffen ist und sich im Sinne einer Stellungnahme oder Einschätzung bezüglich der emotionalen Ergriffenheit aus der Macht erst einmal lösen muss. 18 Geäußert werden dann jedoch ästhetische Urteile über einen Gegenstand – konkret die Atmosphäre als Gegenstand –, von dessen umfangender Betroffenheit man sich gerade gelöst hat. Dabei tritt dieses Urteil durchaus mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auf, beansprucht also, nicht nur persönlich, sondern interpersonell gültig zu sein: ›Diese Atmosphäre war bedrückend/bezaubernd. Das war eine angenehme Wohlfühlatmosphäre.‹ Das erinnert strukturell an Kants Ausführungen zur Ästhetik. Ohne ihn en detail ausführen zu wollen, gibt es einige Bestimmungsstücke, die sich mit Aspekten der Atmosphärentheorie – zumindest im angenommenen Fall einer subkutanen Nachwirkung – abgleichen oder testweise konfrontieren lassen. Gesetzt den Fall, dass eine Ästhetik der Schönheit in der Atmosphärentheorie mitschwingt, dass also die ästhetische Theoriebildung des Atmosphärenphänomens vom Kantischen Konzept der Schönheit imprägniert sei, müssen wir bedenken: Ein Geschmacksurteil bei Kant ist ein subjektiv grundiertes und kontemplatives Urteil. Es orientiert sich am eigenen Wohlgefallen, jedoch nicht an der konkreten Anwesenheit des Gegenstandes, über den ein Urteil gefällt wird. Es will also gleichzeitig objektbezogen und indifferent dem Wahrnehmungsobjekt gegenüber sein, kein begehrendes Interesse an ihm implizieren: »Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.« 19 Das zu unterlassende Interesse ist ein lebensweltliches Interesse etwa am Besitz eines Gegenstandes, ein Begehrnis. Schon Burke versteht in seiner empiristisch-sensualistischen Ästhetik unter Schön18
Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg 2014, S. 72. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2001, S. 58, vgl. auch S. 48 und 56.
19
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heit »die Qualität oder die Qualitäten eines Körpers, durch die er Liebe oder eine ähnliche Leidenschaft verursacht. […] Unter Liebe verstehe ich die Befriedigung, die im Gemüt beim Betrachten irgendeines schönen Dinges aufkommt, von welcher Natur dieses auch sein mag. Ich unterscheide sie von Begierde oder Sinnenlust, also von einer Energie des Gemüts, welche uns zum Besitz gewisser Objekte treibt, die uns nicht durch Schönheit, sondern durch ganz andere Mittel affizieren.« 20 Sosehr nun also Atmosphären schön sind, wenn sie ein unmittelbares und zweckfreies affektives Mitempfinden ermöglichen – wie das Wohlfühlatmosphären zu leisten imstande sind –, 21 sosehr läuft dieser Umstand etwa verkaufsfördernden Atmosphären in einem Kaufhaus oder Möbelmarkt zuwider. Dort sollen Atmosphären anregen: zum ästhetischen wie dann zum ökonomischen Genuss und Konsum – auch wenn sich viele Designer, also Gestalter der Lebenswelt, als Künstler verstanden wissen wollen und sich somit in die Linie der Interesselosigkeit stellen. 22 Das Inter-esse, also das Dazwischen-Sein, die Bezogenheit von Subjekten und Objekten, ist jedoch bedeutend für die Atmosphärentheorie, etwa in Böhmes Atmosphärenbestimmung als ein ›Zwischen‹, das Umgebungsqualitäten und eigenes Befinden umgreift, 23 wie auch bei vielen Betonungen des atmosphärischen Zwischenstatus vieler Atmosphärentheoretiker. Diese atmosphärische Bezüglichkeit, die zur ästhetischen Vorzüglichkeit werden kann, aber eben nicht muss, deutet eine mögliche konzeptuelle Unvereinbarkeit von Schönheit und Atmosphäre an – und zwar nicht nur, wenn man Interesse als psychologisches, lebensweltliches Begehrensverhältnis eines Subjektes auf ein Objekt versteht, wie es im Möbelhaus erregt, aber im kontemplativen 20
Burke (1989), S. 144. Michael Hauskeller: »Ist Schönheit eine Atmosphäre? Zur Bestimmung des landschaftlich Schönen«, in: Michael Hauskeller/Christoph Rehmann-Sutter/ Gregor Schiemann (Hrsg.): Naturerkenntnis und Natursein, Frankfurt 1998, S. 161–175 (S. 170). 22 Ein Umstand, den man besonders dann bemerkt, wenn etwa ein Stuhl aufgrund seiner Gestaltungsart nicht mehr dem Primärinteresse des Sitzens genügt und also mindestens ungemütlich ist. 23 Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995, S. 22 f. 21
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Wirkmacht von Atmosphären
Geschmacksurteil getilgt werden soll. Denn jegliches »Interesse verdirbt das Geschmacksurteil und nimmt ihm seine Unparteilichkeit […] Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf, ja wohl gar diese zum Maßstabe seines Beifalls macht.« 24 Unvereinbarkeit herrscht auch im Sinne des Interesses als ontologisches Konstitutionsverhältnis, das bei der Schönheit nur bedingt zum Anschlag kommt, bei der Atmosphäre jedoch im genannten buchstäblichen Sinne als Inter-esse und damit als ein Zwischen von Subjekt und Objekt einen wesentlichen Konzeptpunkt darstellt. Weitere Differenzierungen mit Kant könnten die ästhetischen Urteile unterteilen in die reinen, formalen und damit eigentlichen Geschmacksurteile, die die Schönheit eines Gegenstandes konstatieren, und in die empirischen, materialen ästhetischen Urteile, die Annehmlichkeiten wie auch Unannehmlichkeiten feststellen. 25 Auch die Art der Schönheit könnte noch verfeinert betrachtet werden als »freie Schönheit (pulchritudo vaga) oder die bloß anhängende Schönheit (pulchritudo adhaerens)«, also Formen, die sich darin unterscheiden, ob und in welcher Weise ein gegebener Wahrnehmungsgegenstand dem Vergleich mit einem entsprechenden begrifflichen Konzept und Zweck genügt. 26 Diese Differenzierungen können für Folgeforschungsprojekte als Verfeinerungsanreize dienen, die Beziehung von Ästhetik als Schönheitstheorie mit der Atmosphärentheorie als Aisthetik genauer in den Blick zu nehmen. Ob sich nun die Schönheit nur dem Gegenstand, nur dem urteilenden Subjekt, der Relation von Gegenstand und Subjekt zuordnen lässt oder dieser Relation als Zwischenphänomen vorausgeht: Den Äußerungen zu Wohlgefallen oder Missfallen eines Geschmackurteils oder einer Atmosphärenbeschreibung eignet ein eigentümlicher Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit, eine Zumutung desselben Wohlgefallens verbunden mit der Forderung der Einstimmung in das Urteil, die schwerlich reflexiv 24 25 26
Kant (2001), S. 74. Kant (2001), S. 75. Kant (2001), S. 83–84.
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einholbar scheint. 27 Das Private ist damit in gewisser Hinsicht entprivatisiert. Die gegebene Atmosphäre scheint in diesem Zusammenhang von einer feststellbaren, aber nicht messbaren Qualität zu sein. Atmosphärenforschung in der wie auch immer bewussten Linie der Schönheit wird mit einer gewissen Vagheit argumentieren und damit auch mit der Kompliziertheit und Komplexität praktischer Forschung, da das Qualitative auf das Quantitative transponiert werden müsste. Gesetzt den Fall, dass eine Ästhetik der Erhabenheit in der Atmosphärentheorie mitschwingt, also der anderen ästhetikhistorisch prominenten Kantischen Koordinate Einfluss auf die Theoriebildung zugestanden werden müsse, stellt sich das Verhältnis von Wahrnehmung zu Wahrnehmungsgegenstand anders dar: Während bei der Schönheit noch qua Interesselosigkeit das Wahrnehmungssubjekt auf Distanz gehalten ist, ist man bei der Erhabenheit emotional involviert und wird atmosphärisch befangen. Erhabene Eindrücke werden von Quantitäten erzeugt, und lassen sich mit Kant grob in die beiden Bereiche des Mathematisch-Erhabenen und des Dynamisch-Erhabenen unterteilen. Das Mathematisch-Erhabene bezieht sich auf Größenordnungen, die sinnlich nicht mehr erfassbar sind, wie etwa der unendliche Sternenhimmel oder die endlosen Weiten und Tiefen des Ozeans: etwas also, »was schlechthin groß ist«, »mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist« und »was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft«. 28 Das Dynamisch-Erhabene finden wir vor allem in der Natur, es ist Resultat eines besonderen Wahrnehmungsprozesses. Denn es muss wie das Schöne gefallen, lädt dabei aber nicht zur ruhigen Kontemplation ein, sondern versetzt in einen inneren Erregungszustand. Das Erhabene verführt durch Reize zur Rührung, ist mitunter Furcht erregend 29 und raubt den Atem. Wir fühlen uns klein, ausgeliefert, aber erhaben, wenn wir angesichts von Naturgewalten (auch) nicht gänzlich machtlos sind. Kant 27 28 29
Kant (2001), S. 60. Kant (2001), S. 110–114. Kant (2001), S. 127.
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Wirkmacht von Atmosphären
führt Beispiele an, wie sie den Katastrophenmeldungen der täglichen Nachrichten entsprungen sein könnten: »Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses«, wobei »ihr Anblick […] nur um desto anziehender [wird], je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen«. 30 Die Bilder von Caspar David Friedrich beispielsweise können uns Erhabenheit illustrieren und also ein gewisses Ohnmachtsgefühl vermitteln – freilich in Anbetracht des Bildobjektes mit den naturgewaltigen Bildsujets, nicht in Anbetracht des Bildträgers. Erhabene Orte sind damit solche, an denen »die paradoxe Erfahrung des Erhabenen möglich wird, die ein Hinausstreben über das Sinnliche im Sinnlichen fühlbar macht«. 31Auch Burke untersucht etliche erhabene Empfindungselemente wie etwa den Schrecken, die Dunkelheit, Riesigkeit, Unendlichkeit, Dimensionalität, Pracht, das Licht und die Farben oder die Plötzlichkeit. Die Macht des Erhabenen resultiert dann daher, »daß es nämlich, weit davon entfernt, von unserem Räsonnement hervorgerufen zu sein, diesem vielmehr zuvorkommt und uns mit unwiderstehlicher Kraft fortreißt. Erschauern ist also […] die höchste Wirkung des Erhabenen; die niederen Wirkungen heißen Bewunderung, Verehrung und Achtung.« 32 Das (präreflexive) Reiz- und Rührungspotential ist auch bei besonderen Atmosphären vorhanden, die uns überraschen und sprachlos machen, uns den Atem rauben. Und mit Schmitz sind diese betroffen machenden Gefühle dann eine wichtige Atmosphärenfacette, denn »Gefühle sind räumlich ergossene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte«. 33 Reize und Rührun-
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Kant (2001), S. 128 f. Annika Schlitte: »Der Raumbezug der »erhabenen Gemütsstimmung« – Überlegungen im Ausgang von Kant und Simmel«, in: Michael Großheim/Anja Kathrin Hild/Corinna Lagemann/Nina Trčka (Hrsg.): Leib, Ort, Gefühl. Perspektiven der räumlichen Erfahrung, Freiburg/München 2015, S. 177–202 (S. 188). 32 Burke (1989), S. 91. 33 Schmitz (2014), S. 30. 31
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Andreas Rauh
gen bilden ein Kausalverhältnis, das positive wie negative Emotionen als graduierbar machtvolle Atmosphären erlebbar macht. Gibt es also eine subkutan wirksame (historisch vorgeprägte) ästhetische Leitlinie in der Atmosphärentheorie, so könnte mit der wie auch immer bewussten Linie der Erhabenheit gerade das Quantitative als Qualitatives bestimmend sein: eine potentiell überwältigende Vielheit von Empfindungsgründen, die das Subjekt mit seinem Interesse – als lebensweltliche Begehrnis- und Bedürfnisstruktur wie auch als konstitutive Verstrickung ins atmosphärische Zwischen – in Beziehung setzt zu vielfältigen Wahrnehmungsfacetten und -gegenständen. Die Wirkung einer Überwältigung durch Einzelteile, durch gewisse atmosphärische Verdichtungen ist in der Feldforschungsnotiz vor Kapitelbeginn angedeutet. Die Weite der ›Lagerhaus-Atmosphäre‹ wird durch ihre Größe bestimmt, wodurch ›der Eindruck von unheimlichen Dimensionen, Massen‹ entsteht. Auch in einem anderen Feldforschungsbericht wird den präsentierten Waren ein »Eigenleben durch Massen/Haufen« attestiert, die eine »anfänglich konzentrierte Beobachtungsrolle [beeinträchtigt], nach und nach durch viele visuelle Reize Licht, Farben, Massen → erschöpfter«. 34 Anhand der ästhetischen Verortungskoordinate der Erhabenheit wird die Wirkmacht von Atmosphären durch das Zusammenspiel einer Vielzahl und Vielfalt von Wahrnehmungsfacetten deutlich. Es zeigt, wie eine am Paradigma der Atmosphäre entwickelte Ästhetik als grundlegende Wahrnehmungswissenschaft verschiedene Wahrnehmungsakte, Gestaltqualitäten und -quantitäten in gleicher Weise berücksichtigen und aufeinander bezogen denken muss. 35 Feldforschungsprojekte und ästhetikhistorische Abgleiche mit der aktuellen Atmosphärentheorie leisten hierzu einen Beitrag. Die klassische Ästhetik und ihre spezifischen Kategorien sind dann nurmehr Modi und Produkte ausgewählter Atmosphären. Die Atmosphäre als ontologisches Fundament einer Wahrneh-
34
Feldforschungsnotiz tn-04 am 27. 05. 2010, Möbelhaus 1, Würzburg. Vgl. auch das Vorgehen bei Schlitte (2015), S. 194 bzgl. der Stimmung einer Landschaft.
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Wirkmacht von Atmosphären
mungssituation ist dann den Ausprägungen der Ästhetik vorgelagert. Wie prägen nun Atmosphären die Wahrnehmung? »weiter in Richtung ›Matratzenstudio‹, der Gemächlichkeit wegen, der ruhigen gedeckten Farben wegen, angenehme Temperierung; trotz Verlockung der Blitzer- & Glitzerwelt d. ›Lichthauses‹ und der Versprechung des ›Jünger Wohnen‹« 36
3
Aisthetik und Anästhetik und Macht
Die moderne Ästhetik – und insbesondere die Ästhetik der Atmosphären – beschäftigt sich nur marginal mit distanzierten, reinen oder materialen Geschmacksurteilen über natürliche oder anhaftende Schönheit, noch mit einer durch starke Reize ausgelösten erhabenen Rührung. Vor aller Urteilsbildung ist sie auf die aisthesis als reine sinnliche Wahrnehmung/Empfindung ausgelegt. Im Rückgriff auf den griechischen Ursprung des Begriffs will Welsch die »Ästhetik genereller als Aisthetik verstehen: als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, lebensweltlichen wie künstlerischen.« 37 Mit dieser für alle Wahrnehmungsarten zuständigen Ästhetik sind die Atmosphären in all ihren Potenzialitäten umfasst. Und »[w]enn man vom Standpunkt der Ästhetik qua Aisthetik Atmosphären als das eigentliche Thema der Kunst bezeichnet, so erscheint Schönheit dann nur noch als eine Atmosphäre unter anderen – etwa neben dem Schrecklichen, dem Heiteren, dem Bedrohlichem etc.« 38 Psychologisch gesehen ist Wahrnehmung ein Akt des Subjekts, das sich intentional auf ein Objekt richtet, welches aber in der Atmosphärenwahrnehmung die Relation von Subjekt und Objekt ist. In dieser schematischen Weise gesehen ist die Wahrnehmung 36
Feldforschungsnotiz tn-03 am 15. 07. 2010, Möbelhaus 2, Würzburg. Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Stuttgart 2003, S. 9 f. 38 Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 184. 37
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des Subjekts damit zwangsweise ein partielles Auf-sich-selberrichten als wahrnehmendes Subjekt, das qua Wahrnehmung ein Objekt hat, das aber qua Subjekt nicht neutral ist. 39 Durch die Integration des eigenen Befindens in die Umgebungsqualitäten, durch die Teilhabe des Subjektiven und Objektiven an der Atmosphärenrelation des Zwischen gewinnt die Atmosphäre zwangsweise immer etwas Eigenmächtiges, was sich dem Wahrnehmungssubjekt entzieht, da es ja Teil des Wahrnehmungsobjekts ist. 40 Die Atmosphäre nimmt damit Einfluss auf eine klare Trennung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, der etwa in der Wahrnehmung auftaucht einerseits mit der Intention als Gerichtetsein auf einen Gegenstand und andererseits der Intention als Bewusstsein, dass ich diesen Gegenstand wahrnehme. Betroffenheit und ästhetisches Urteil über die Art der Betroffenheit spielen dann auf anderen intentionalen Ebenen. Welsch unterscheidet hier zwei Wahrnehmungstypen, nämlich den »horizonthaften« vom »aktuellen Sinn des Wahrnehmens«. 41 Durch den Fokus auf horizonthafte Aspekte der Wahrnehmung, also auf ihre Bedingungen und Formen einer Sinneswahrnehmung (die Sichtbarkeit oder das Sehen an sich) gerät der aktuelle Sinn und damit der Inhalt der nicht-neutralen Wahrnehmung (das Sehen eines sichtbaren Gegenstands) sprichwörtlich aus dem Blickwinkel. Diese beiden Wahrnehmungstypen möchte Welsch als zweistufige Wahrnehmungsart in einer »vertikale[n] Ästhetik-AnästhetikRelation« berücksichtigt wissen. 42 Mit der Anästhetik ist dabei weder Anti-Ästhetik, Un-Ästhetik oder Nicht-Ästhetik gemeint, 39
Andreas Rauh: »The Atmospheric Whereby: Reflections on Subject and Object«, in: Open Philosophy 2/1, 2019. Die Darstellung dieses speziellen SubjektObjekt-Verhältnisses ließe sich auch im Sinne eines Tetralemmas bei der Frage nach Subjektivität oder Objektivität der Atmosphäre aufschlüsseln, mit den Antworten: wahr, falsch, nicht-wahr und nicht-falsch (vs. Satz des ausgeschlossenen Dritten) ebenso wie weder nicht-wahr noch nicht-falsch (vs. Verneinung). 40 Mit dieser Thematisierung und dann auch Unterschreitung der Subjekt-Objekt-Differenz hat – ggf. ganz im Sinne des Neuen Realismus – das Atmosphärenthema die Realität von Subjektivem als Objektivem zur Grundlage. 41 Welsch (2003), S. 33. 42 Welsch (2003), S. 33.
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Wirkmacht von Atmosphären
sondern der Zustand beschrieben, »wo die Elementarbedingung des Ästhetischen – die Empfindungsfähigkeit – aufgehoben ist«. 43 Das tele-ontologische Beispiel eines potenziellen Tourismus von daheim, etwa anhand von schönen Online-Videos, verdeutlicht einen Zug der ästhetischen Animation, die »als Narkose [geschieht] – im doppelten Sinn von Berauschung wie Betäubung. Ästhetisierung […] erfolgt als Anästhetisierung.« 44 Damit ist der Bildrausch der neuen Medien gemeint, der Formierung der Sinne durch Medienformate: »Der Wahrnehmungsflut ist Wahrnehmungsverlust gesellt«, wodurch »Wahrnehmen zum Konstatieren« verkümmert. 45 Aisthetisch geformte und aufgrund leiblicher Anwesenheit gespürte ästhetische Atmosphären können da ein Gegengewicht zu bloß medial inszenierten und transportierten anästhetischen Atmosphären bilden. Die Trennung der ÄsthetikAnästhetik-Verweisstruktur, wie Welsch sie aufzeigt, 46 mag diskutierbar erscheinen, ebenso wie die Verwendung der Strukturbestandteile als analytisches Werkzeug oder als Differenzierungsgrund von Atmosphären. In Anbetracht seines touristischen Beispiels anästhetischer Wahrnehmung scheint mir jedoch die leibliche Anwesenheit im Hier und Jetzt einer Atmosphäre eine wichtige Rolle zu spielen. Demnach ginge es bei Anästhetik um vermittelte Sinneswerke, ohne leibliche Anwesenheit. Diese verweisen zwar auf ihre potenziellen Atmosphären, sind dabei aber nicht so grundlegend wie das atmosphärische Spüren im Hier und Jetzt. Die Berauschung erfolgt durch sinnlich Gegebenes und die Betäubung durch Ausbleiben der direkten Betroffenheit im eigenleiblichen Spüren. Der Vergleich mit atmosphärischen Computerspielen liegt nahe, deren Spielwelt so gestaltet sind, dass Erinnerungen an und Erfahrungen mit leiblich gespürten Atmosphären nachvollzogen, aber eben aufgrund der fehlenden leib-
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Welsch (2003), S. 10. Welsch (2003), S. 14, das Beispiel wird auf S. 20 f. ausgeführt. 45 Welsch (2003), S. 63. 46 Welsch (2003), S. 32: »Keine aisthesis ohne anaisthesis – nicht einmal im einfachsten Wahrnehmen.« Es geht also strukturell darum, dass, wenn etwas in den Blick gerät, gleichzeitig etwas Anderes aus dem Blick gerät und vice versa. 44
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lichen Anwesenheit vor Ort nicht gespürt werden können – zumindest nicht so wirkmächtig und leiblich ergreifend. Die leibliche und affektive Betroffenheit ist ein Kernmerkmal der Ästhetik der Atmosphäre. In dieser Betroffenheit erweisen sich die Atmosphären als eigenmächtige Phänomene, die alltäglich bis außeralltäglich und subtil bis brachial gespürt werden in verschiedenen reizenden Formen, die sich in verschiedener Rührung bemerkbar machen. »Eine Atmosphäre, ganz allgemein gesprochen, ist eine totale oder partielle, jedenfalls aber beträchtlich ausgedehnte Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich dessen, was als anwesend erlebt wird.« 47 Atmosphären können also allgemein sehr viele unterschiedliche räumliche und emotionale Charaktere haben. Schmitz beschreibt die bemächtigenden Gefühle als »räumlich ergossene, aber nicht örtlich umschriebene Atmosphären und leiblich ergreifende Mächte«. 48 Sie füllen den Raum, sind allen zugänglich als im Raum vorhandenes Angebot und vorhandene Wirkung, können den Atem rauben, sind dabei aber ortlos, also nicht wie ein Subjekt oder Objekt mit Koordinaten im Raum festmach- und verortbar – was auf eine gewisse Form ihrer Eigenmächtigkeit und Wirkmacht hinweist. Durch den Unterschied zwischen dem Gefühl und dem tatsächlichen Erleben des Gefühls werden »Atmosphären des Gefühls […] entweder bloß wahrgenommen oder sie ergreifen leiblich spürbar; in diesem Fall werden sie in affektivem Betroffensein als die Gefühle, die man selbst hat, gefühlt.« 49 Die Schmitz’sche Differenzierung von Atmosphären als räumliche Gefühle und Atmosphären als Betroffensein von diesen Gefühlen leistet einen wichtigen Beitrag für die Diskussion um geteilte Gefühle und die Frage, wie Gefühle ansteckend wirken, wie es zu interpersonellen Abgleichen und Ein-Stimmungen kommt. 50 Sind also mehrere Personen in einem 47
Schmitz (2014), S. 69, vgl. auch S. 30. Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie? Rostock 2003, S. 247, vgl. auch S. 252; Schmitz (2014), S. 30. 49 Schmitz (2014), S. 21. 50 Hilge Landweer: »The spatial character of atmospheres: being-affected and corporeal interactions in the context of collective feeling«, in: Studi di estetica XLVII/IV/2, 2019, S. 153–168. 48
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Wirkmacht von Atmosphären
Raum durch eine Atmosphäre gleichermaßen gestimmt, dann empfinden sie gemeinsam jeweils ein Gefühl (ihre eigene Stimmung) auf Basis eines Gefühls im Raum (der Atmosphäre) – während anders gestimmte Personen letzteres diskrepant erleben. Diskrepanz und Ingression in Atmosphären deutete schon die Feldforschungsnotiz zu Kapitelbeginn an, wenn man im Möbelhaus den ›Verlockungen der […] Glitzerwelt‹ widerstehen, sich dabei aber weiterhin der erzeugten und verführenden ›Gemächlichkeit‹ hingeben kann. Geweitet zu einer Aisthetik zielt die Ästhetik der Atmosphären auf ein leibliches Spüren, dessen Stimmung sich notwendig der Anwesenheit von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen in einer gemeinsamen Wahrnehmungswirklichkeit verdankt, in der das Erhabene nachhallt, insofern Quantitäten zu Qualitäten werden (können). Das Hier und Jetzt der Wahrnehmung gewinnt ästhetisches Gewicht und setzt sich damit von modernen Formen einer anästhetischen Tele-Ästhetik ab. 51 Das Verflochtensein von Subjekt und Objekt der Wahrnehmung und das atmosphärische Potenzial räumlicher Gefühlsansteckung beeinflussen die Wirkmacht der Atmosphäre. Das hat Auswirkungen auf die Folgeforschung. Betrefflichkeit und Betroffensein, das Involviertsein in Produktion wie Rezeption von Atmosphären führen zu Atmosphärenbeschreibungen, die erst ex post besonders prägnant werden. Das kann zur Herausforderung bei Feldforschungen werden, denn es wird wichtig, nicht gleich im Untersuchungsfeld beschreibend zu beginnen, sondern sich der atmosphärischen Verflechtungen und Verbindungen auszuliefern. Im Verzicht auf ein vorschnelles (Forschungs-)Ergebnis lauert das Erlebnis. Feldforschung wie auch beschreibende Poesie können dann die Atmosphären durch die Ersetzungskraft der Wörter 52 festhalten und herbeizitieren. In ergebnisoffenen methodischen Abstimmungen 51
Auch wenn sich viele soziale und wirtschaftliche Prozesse über neue Medien aus der Ferne verhandeln und abwickeln ließen, ist das Sich-Treffen mit dem (Geschäfts-)Partner von hoher atmosphärischer Bedeutung und ausschlaggebend für den Fortgang dieser Prozesse. 52 Vgl. Burke (1989), S. 217.
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von Theorie und Praxis könnten dann auch testweise mathematische Modellierungen einer Atmosphäre versucht werden – also die Transformation von Qualitäten in Quantitäten zur Schärfung eines Konzeptions- wie auch empirischen Forschungsverständnisses. Mit den genannten Verortungskoordinaten des Schönen und des Erhabenen wurde eher die Macht von Atmosphären, weniger das Machen von Atmosphären reflektiert. Doch auch dort geht es um eine atmosphärenbezogene Haltung, die zur Handlung führt. Das Erzeugen von Atmosphären wird als ein tacit knowledge bezeichnet, das mit wachsendem Erfahrungsschatz expliziter zu einem Wissen um die Bedingungen des Erscheinens von Atmosphären wird. Das Wahrnehmen von Atmosphären ließe sich dann als eine tacit awareness bezeichnen, eine Wahrnehmungseinstellung, die mit dem Immersionszeitpunkt zu spielen und atmosphärenkompetent Distanzierungen zuzulassen oder zu unterdrücken weiß. Schweigende Aufmerksamkeit auf Atmosphären garantiert deren Genuss, eine konstitutive und bewusste Ohnmacht im atmosphärischen Machtgefüge.
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Christian Julmi
Wer macht die Atmosphären? Eine kurze Einführung in das System der atmosphärischen Führung Die Führung von Menschen wird in der Literatur überwiegend als rationaler Prozess verstanden, der sich funktional ausgestalten lässt. Eine solche Sicht lässt jedoch außer Acht, dass Menschen durch ihre sozialen Prägungen, ihre Verstrickungen in persönliche und gemeinsame Situationen sowie allgemein durch ihre Leiblichkeit keineswegs in die Welt bzw. in den Führungsprozess nach Belieben eingreifen können. Ob eine Führungskraft eine positive Autorität ausstrahlt oder jemanden für sich einnehmen kann, entscheidet sich in erster Linie auf atmosphärischer Ebene, die ihrerseits in das komplexe situative Geflecht des Führungskontextes eingebettet ist und von diesem mitgeprägt wird. Dass der Führungserfolg wesentlich vom Umgang mit Atmosphären und einem Gefühl für die Situation abhängt, steht daher außer Frage. Trotz der unabweisbaren Relevanz fehlt es bislang an Ansätzen, die sich systematisch mit den atmosphärischen und sozialen Wirkmächten im Führungskontext auseinandersetzen. An diesem Punkt setzt das System der atmosphärischen Führung an, 1 das als Versuch zu werten ist, die atmosphärischen und sozialen Wirkmächte so zu zergliedern, dass Führungskräfte sich in diesem selbst verorten können. Auf diese Weise sollen Führungskräfte unterstützt werden, ihre (Führungs-)Situation und ihre eigene atmosphärische Wirkung besser zu verstehen, um davon ausgehend an beidem zu arbeiten. Das Ziel des Beitrags ist es, einen kompakten Überblick über das System der atmosphärischen Führung zu geben, der aus drei 1
Christian Julmi/Guido Rappe: Atmosphärische Führung: Stimmungen wahrnehmen und gezielt beeinflussen, München 2018.
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Christian Julmi
Teilen besteht: einem Kern, einem inneren sowie einem äußeren Zirkel. Obwohl das System der atmosphärischen Führung grundlegend von der Neuen Phänomenologie beeinflusst ist, lässt es sich der von Guido Rappe propagierten Modernen Phänomenologie zuordnen. 2 Diese übernimmt wesentliche Konzepte und Termini von Schmitz, grenzt sich jedoch in einigen – beispielsweise erkenntnistheoretischen – Fragestellungen kritisch von diesem ab. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, 3 sind die Grundgedanken der atmosphärischen Führung auch mit der von Robert Gugutzer begründeten Neophänomenologischen Soziologie 4 kompatibel bzw. lassen sich als Beitrag zu dieser verstehen. Das folgende Kapitel skizziert zunächst die phänomenologischen Grundlagen der atmosphärischen Führung, insbesondere fokussierend auf diejenigen Aspekte, die über die Schmitz’sche Phänomenologie hinausgehen. 1
Phänomenologische Grundlagen
Atmosphären werden mit Schmitz als objektive Gefühlsmächte verstanden, die subjektiv am eigenen Leib gespürt werden. 5 Als Gefühle sind Atmosphären objektiv im Raum vorhanden und können von mehreren Personen als objektive Tatsache wahrgenommen werden. Zu einer subjektiven Tatsache werden Atmosphären dadurch, dass sie im Sinne eines affektiven Betroffenseins leiblich gespürt werden, wobei sich dieses Spüren sehr aufdring2
Guido Rappe: Einführung in die moderne Phänomenologie: Phänomen / Leib / Subjektivität, Bochum/Freiburg 2018. 3 Christian Julmi: »A theory of affective communication: On the phenomenological foundations of perspective taking«, in: Human Studies 41/4, 2018, S. 623– 641. 4 Robert Gugutzer: »Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der Neophänomenologischen Soziologie«, in: Zeitschrift für Soziologie 46/3, 2017, S. 147–166. 5 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 2. Teil: Der Gefühlsraum, Bonn 1969; Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg/München 2014.
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Wer macht die Atmosphären?
lich als Ergriffenheit präsentieren kann, häufig aber unterschwellig wirkt, ohne deshalb an Wirkmacht einzubüßen. Atmosphären überfallen den Menschen in der Regel nicht grundlos und sind wesentlicher Bestandteil gemeinsamer Situationen. Atmosphären sind einerseits Ausdruck gemeinsamer Situationen, andererseits wichtiger Impulsgeber für deren Entwicklung, weshalb zwischen Atmosphäre und gemeinsamer Situation eine kreisartige Verbundenheit besteht, die als Gestaltkreis bezeichnet werden kann. 6 Ein wesentlicher Anhaltspunkt der atmosphärischen Wahrnehmung in gemeinsamen Situationen besteht darin, dass Atmosphären in und durch gemeinsame Situationen ähnlich wahrgenommen werden. Dies ist auf zwei Wegen möglich. Erstens können Menschen von der Makroebene ausgehend bereits vorgängig durch eine oder mehrere gemeinsame Situationen verbunden sein und so eine ähnliche Wahrnehmung teilen. Hierzu gehören beispielsweise die Sprache, die Unternehmenskultur, dieselbe Ausbildung oder ein spezifisches Milieu. Zweitens kann zwischen Menschen von der Mikroebene ausgehend ein Angleichungsprozess stattfinden, der ein gemeinsames Verständnis fundiert, beispielsweise (beidseitig) durch einen Small Talk oder (einseitig) durch eine fesselnde Rede. 7 Dieser Angleichungsprozess basiert auf leiblicher Kommunikation, die es den kommunizierenden Partnern ermöglicht, sich miteinander ab- und aufeinander einzustimmen und so eine gemeinsame Situation zu begründen oder zu festigen. Bei der leiblichen Kommunikation bilden zwei miteinander kommunizierende Partner einen gemeinsamen, übergreifenden Leib. Charakteristisch für die leibliche Kommunikation ist die Verteilung von Enge und Weite. Die Enge ist das, was den (übergreifenden) Leib zusammenhält und als ›Hier‹ gespürt wird; die Weite kennzeichnet dagegen den Hintergrund, von dem sich die Enge abhebt. 8 In der 6
Christian Julmi: Atmosphären in Organisationen: Wie Gefühle das Zusammenleben in Organisationen beherrschen, Bochum/Freiburg 2015. 7 Gugutzer (2017); Julmi (2018). 8 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. II: Der Leib, 1. Teil: Der Leib, Bonn 1965, S. 73–74.
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leiblichen Kommunikation ist derjenige, der die Enge auf seiner Seite hat, der dominante Partner, der die Zügel in der Hand hält, während derjenige, der die Weite auf seiner Seite hat, der dominierte Partner ist, der vom anderen auf einer leiblichen Ebene geführt wird. 9 Der Aspekt der Führung zeigt sich also bereits auf leiblicher Ebene. Die Enge kann grundsätzlich einseitig verteilt sein oder beständig wechseln, wobei die wechselseitige Kommunikation im Alltag eher die Regel darstellen dürfte. Bei einem Gespräch reißt z. B. jeder hin und wieder die Enge an sich, um an dem Verlauf des Gespräches gestaltend teilzunehmen, so dass am Ende des Gesprächs ein von beiden Seiten gespeistes gemeinsames Verständnis hergestellt wird. Die Dominanz muss dabei nicht gleich verteilt sein, d. h., eine Seite kann dominanter sein als die andere. Der Gegenbegriff der Dominanz ist im System der atmosphärischen Führung die Subdominanz. Die subdominante Seite entspricht der Seite des dominierten Partners. Dominanz und Subdominanz sind zunächst als neutral zu werten und umfassen sowohl positive als auch negative Formen. Nach der Modernen Phänomenologie spielt für die leibliche Kommunikation neben der Polarität von Enge und Weite auch die von Rappe in seiner Interkulturellen Ethik eingeführte Polarität von Lust und Unlust eine tragende Rolle, die sich in der leiblichen Kommunikation als Bewegungstendenzen von Attraktion (Lust) und Repulsion (Unlust) zeigen. 10 In der leiblichen Kommunikation bestimmen Attraktion und Repulsion, ob sich die kommunizierenden Partner einander annähern oder voneinander abgrenzen, wobei die Bewegungstendenzen von Attraktion und Repulsion leiblich fundiert sind. In diesem Sinne ist jeder leibliche Impuls immer in irgendeiner Form attraktiv oder repulsiv konnotiert, indem er auf etwas hinauswill oder von etwas wegwill. Dies schließt eine neutrale Unentschiedenheit zwischen beiden 9
Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. III: Der Raum, 5. Teil: Die Wahrnehmung, Bonn 1978. 10 Guido Rappe: Interkulturelle Ethik, Bd. II: Ethische Anthropologie, 1. Teil: Der Leib als Fundament von Ethik, Berlin 2005; Guido Rappe: Leib und Subjekt. Phänomenologische Beiträge zu einem erweiterten Menschenbild, Bochum 2012; Julmi (2015).
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Wer macht die Atmosphären?
ebenso wenig aus wie ambivalente Impulse, die gleichzeitig attraktiv und repulsiv konnotiert sind. Die Attraktion zeichnet sich durch eine Sogwirkung auf etwas hin aus, die Repulsion durch eine Druckwirkung von etwas weg. Während Engung und Weitung räumlich sind, sind Attraktion und Repulsion zeitlich, wobei sich ihr zeitlicher Aspekt in der Wiederholung zeigt. Lustvolle Erfahrungen motivieren zur Wiederholung und erzeugen einen attraktiven Sog, unlustvolle Erfahrungen motivieren dagegen die Vermeidung einer Wiederholung und bilden einen repulsiven Druck aus. Auf diese Weise wird der Mensch leiblich durch vergangene Erfahrungen in seinem Verhalten präreflexiv darauf ausgerichtet, was er in der Zukunft erstrebt bzw. zu vermeiden sucht. Erfahrungen von Lust und Unlust stellen die Basis der Sozialisation und des Gedächtnisses eines Menschen dar. Sie bestimmen, welche Sachverhalte, Programme, Probleme, Situationen, Menschen, Dinge, Räume, Ideen usw. mit einem attraktiven Sog oder einem repulsiven Druck verbunden sind. Für die leibliche Kommunikation gilt, dass sich die Attraktion in der Annäherung der Partner äußert, während sich die Repulsion in deren Abgrenzung zeigt. 11 Eine attraktive leibliche Kommunikation zielt auf eine gemeinsame Perspektive und ist auf einer Mikroebene Voraussetzung zur Bildung gemeinsamer Situationen und der Wahrnehmung derselben Atmosphäre. Der Zusammenhang zwischen Attraktion und gemeinsamer Perspektive lässt sich gut am Unterschied von Lob und Kritik veranschaulichen. Wer sein Gegenüber lobt, erzeugt bei diesem in der Regel einen leiblich-attraktiven Sog, der dessen Aufmerksamkeit erhöht und auf eine gemeinsame Perspektive gerichtet ist. Kritik löst dagegen häufig einen leiblich-repulsiven Reflex aus, der schwer steuerbar ist und dazu führt, dass das, was im Anschluss der Kritik gesagt wird, nicht mehr wirklich wahrgenommen wird. Anstatt der Kritik aufmerksam zuzuhören, drehen sich die Gedanken darum, die andere Person abzuwerten (Was maßt sich diejenige an?) oder eine
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Christian Julmi
Gegenstrategie zu formulieren (Die muss gerade reden). 12 Die Empathie als Fähigkeit zur Perspektivenübernahme wird durch Ärger, Frust oder andere repulsive Impulse blockiert. 13 Es ist daher davon auszugehen, dass auch das gegenseitige Verstehen leiblich fundiert ist bzw. durch leibliche Impulse erleichtert (Attraktion) bzw. erschwert (Repulsion) wird. Dies soll ausdrücklich nicht als Kritik an der Kritik verstanden werden, denn Kritik ist essenziell, wenn es darum geht, die eigenen blinden Flecken aufzudecken. Es erscheint jedoch phänomenologisch evident, dass eine gemeinsame Perspektive in der leiblichen Attraktion fundiert ist und das Annehmen von Kritik eine disziplinierende Kultivierung der eigenen leiblichen Impulse ebenso voraussetzt wie hinreichend gute und geklärte Beziehungen zwischen den Kommunizierenden. 14 Bei dieser von der Attraktion ausgehenden Konzeptualisierung des Verhältnisses von Atmosphäre und gemeinsamer Situation handelt es sich auch keinesfalls um »ein befremdlich harmonisches (und empirisch limitierendes) Verständnis von Sozialität«. 15 Konflikte oder eine Atmosphäre »dicker Luft« werden weder ausgeschlossen noch jenseits der Sozialität konzipiert. In einem Konflikt sind die Streitenden über zahlreiche gemeinsame Situationen verbunden (z. B. Sprache, soziale Normen), die etwa ein gemeinsames Verständnis über die Handhabung von Konflikten erlauben kann. Der entscheidende Unterschied ergibt sich auf der Mikroebene. In einer repulsiv geprägten Kommunikation, wie sie für Konflikte charakteristisch ist, findet keine (weitere) Bildung einer gemeinsamen Situation statt bzw. eine in Bezug auf den Kontext der Kommunikation bereits bestehende gemeinsame Situation hat die Tendenz zur Auflösung (ohne diese vollenden zu müssen), da sich das ›Ge12
Christina Seitter: »Feedback ohne Verletzung«, in: Personalwirtschaft. Magazin für Human Resources 43/12, 2016, S. 62–64. 13 Gaby Baller/Bernhard Schaller: Kommunikation im Krankenhaus, Berlin, Heidelberg 2017, S. 157. 14 Heinz Becker: Unternehmen brauchen Streitkultur, München 2017, S. 49. 15 Charlotte Renda: »Einige Überlegungen zu Stimmung als situationssoziologischer Kategorie«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 70/4, 2018, S. 629–654 (S. 638).
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Wer macht die Atmosphären?
meinsame‹ der Situation verringert. Empirisch ist ein solches Verständnis nicht limitierend, sondern im Gegenteil gerade durch das Machen eines Unterschieds das Mächtigere. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sich die gemeinsame Situation ohne Rekurs auf eine (attraktiv gewonnene) geteilte Perspektive überhaupt lebensweltlich fundieren lässt und als phänomenologisches Konzept gelten kann. 16 In Bezug auf Attraktion und Repulsion ist zudem zu beachten, dass die leibliche Kommunikation in der Beziehung zweier Menschen nur selten ausschließlich attraktiv oder repulsiv ist und die Idee einer ›perfekten‹ Perspektiveneinheit allenfalls idealtypisch zu verstehen ist. Bereits auf der Ebene eines einzelnen Gesprächs lassen sich mitunter vielschichtige Nuancen attraktiver und repulsiver Kommunikation identifizieren, durch die sich beide Seiten mal annähern, mal abgrenzen oder durch gekonntes Spiel mit beiden Tendenzen in einem Schwebezustand verbleiben und eine spezifische Spannung bzw. Distanz aufrechterhalten. Eine gemeinsame Situation löst sich nicht auf, sobald ihre Teilhaber einander repulsiv begegnen – der Impuls weist aber in diese Richtung. In gewissen Fällen kann sich jemandem die Möglichkeit, eine gemeinsame Situation zu ›verlassen‹, sogar ganz entziehen, wenn die eigene personale Identität mit dieser so verwachsen ist, dass sie nicht mehr aus ihr herausgelöst werden kann. Ein prägnantes Beispiel hierfür stellt ein altes, chronisch streitendes Ehepaar dar: Einerseits trägt die Kommunikation klar repulsive Züge, andererseits sind beide so in die gemeinsame Situation verstrickt, dass die nach deren Auflösung strebende Repulsion nicht vollendet werden kann. 17 Ähnlich wie beim Schmerz 18 ist die gemeinsame Situation durch einen gehinderten (repulsiven) Impuls 16
Schmitz führt in Bezug auf seine Dreistadienmethode der phänomenologischen Revision vielsagend an, bei dem »chaotisch-mannigfaltige[n], binnendiffuse[n] Bedeutsamkeitshof von Situationen« ließe sich diese Methode nicht anwenden, »und doch« habe er »eine ergiebige Phänomenologie der Situationen vorgelegt«, Hermann Schmitz: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, S. 21. 17 Julmi (2015), S. 153. 18 Schmitz (1965), S. 98–99.
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Christian Julmi
»Weg!« gekennzeichnet, der sich als Verhinderung der Auflösung der gemeinsamen Situation interpretieren lässt (in diesem Fall ließe sich durchaus von einer schmerzvollen gemeinsamen Situation sprechen). 2
Die Schichten im System der atmosphärischen Führung
2.1 Relevanz und Struktur des Systems Für Unternehmen und andere Organisationen besitzt die leibliche Kommunikation eine hohe Relevanz, da deren arbeitsteilige Struktur voraussetzt, dass eine gemeinsame Perspektive auf die zu erledigenden Aufgaben besteht und die Abstimmung zwischen den Beteiligten ohne Reibung verläuft. Hierbei sind es in erster Linie die Führungskräfte, die die Verantwortung dafür tragen, dass ein solches gemeinsames Verständnis entsteht. Sie müssen gewissermaßen im Wirrwarr der vielfältigen Verhältnisse von Dominanz und Subdominanz einerseits und Attraktion und Repulsion andererseits sicherstellen, dass der Betrieb funktioniert und die Mitarbeiter stimmig miteinander agieren. Im Kontext der atmosphärischen Führung geht es für Führungskräfte im ersten Schritt darum, sie dafür zu sensibilisieren, dass sich ihre Führungssituation immer in den Polaritäten von Dominanz und Subdominanz sowie Attraktion und Repulsion abspielt und das Führungsergebnis wesentlich von diesen beeinflusst wird (Sensibilisierung). Im zweiten Schritt kann die Führungskraft dann ihre eigene atmosphärische Wirkung analysieren (Selbstverortung), um dann in einem dritten Schritt schließlich die Atmosphäre zu verändern. Atmosphärische Führung setzt immer an der eigenen atmosphärischen Wirkung an und lässt sich daher dem in der Praxis zunehmend populär werdenden Konzept der Selbstführung zuordnen. 19 19
Günter F. Müller: »Führung durch Selbstführung«, in: Gruppe. Interaktion. Organisation. Zeitschrift für Angewandte Organisationspsychologie 36/3, 2005, S. 325–334.
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Wer macht die Atmosphären?
Grundsätzlich besteht das System aus drei aufeinander aufbauenden Schichten. Der Kern stellt das Zentrum des Systems dar, in dem es um die genannten Grundkonstellationen von Dominanz und Subdominanz bzw. Attraktion und Repulsion geht. Darüber liegt der innere Zirkel, der auf den Grundkonstellationen aufbauend aufzeigt, wie eine Führungskraft agieren kann bzw. agieren sollte. Hierbei steht vor allem der Führungsstil im Vordergrund, der das relativ stabile Verhaltensmuster einer Führungskraft gegenüber ihren Mitarbeitern bezeichnet. 20 Der äußere Zirkel fokussiert die situative Dynamik der Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeitern. Im Zentrum stehen die Aktionsund Reaktionsmuster der Kommunizierenden in konkreten (Führungs-)Situationen. Neben der situativen Dynamik kommt im äußeren Zirkel das längerfristige Kommunikationsmuster zwischen der Führungskraft und einer Mitarbeiterin 21 ins Spiel, die sich durch die vielfältigen Differenzierungen detailliert analysieren lassen. 2.2 Der Kern des Systems Der Kern im System der atmosphärischen Führung ergibt sich aus dem Zusammenspiel der beiden Polaritäten, d. h. aus der Kombination von Attraktion und Repulsion einerseits und Dominanz und Subdominanz andererseits (siehe Abbildung 1). 22 Bei der Attraktion stehen sich zwei Menschen positiv gegenüber, z. B. weil sie sich mögen, sich auf einer gemeinsamen Veranstaltung begegnen oder sich als Mitglieder derselben sozialen Kategorie identifizieren. In der Regel ist die Kommunikation hier vorgängig über die Makroebene auf eine gemeinsame Perspektive gerichtet, 20
Ewald Scherm/Stefan Süß: Personalmanagement, 3. Aufl., München 2016, S. 202. 21 Zur Berücksichtigung einer gendersensiblen Schreibweise wird im Folgenden im Singular ausschließlich die weibliche Form verwendet, obwohl Personen weiblichen und männlichen Geschlechts gleichermaßen gemeint sind (generisches Femininum). 22 Julmi/Rappe (2018), S. 47–69.
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Christian Julmi
die dann von einer gemeinsamen Basis ausgehend auf der Mikroebene vertieft wird. Es findet ein Perspektivenaustausch statt. Bei der Repulsion stehen sich Menschen negativ gegenüber, etwa weil sie einen schlechten ersten Eindruck voneinander haben oder sich als Mitglieder verschiedener politischer Parteien bzw. verschiedener sozialer Kategorien wahrnehmen. Häufig sind die Kommunizierenden über die Makroebene vorgängig darauf ausgerichtet, die Verschiedenheit der Perspektiven zu betonen und auf der Mikroebene gegenüber der anderen als die geltende oder überlegene abzugrenzen, auch wenn – wie bei einem schlechten ersten Eindruck – ein repulsiver Impuls auch zuerst auf der Mikroebene entstehen kann. Die Perspektiven besetzen die Tendenz zur Abspaltung, weshalb hier von Perspektivenisolation gesprochen wird. Attraktion und Repulsion sind in der Regel reziprok. Eine Geste der Attraktion provoziert eher eine attraktive Gegengeste ebenso wie repulsives Verhalten beim anderen Part ein repulsives Verhalten provoziert. Phänomenologisch erscheint es naheliegend, dass dieses reziproke Verhalten leiblich fundiert ist. Bei der Polarität von Dominanz und Subdominanz geht es darum, wer auf einer leiblichen Ebene führt und wer geführt wird, wobei die Art der Führung entscheidend davon abhängt, ob die Beteiligten einander attraktiv oder repulsiv gegenüberstehen. Im Falle der Attraktion sind der dominante Part der Perspektivengeber und der dominierte Part der Perspektivennehmer. Je wechselseitiger dieser Prozess ist, desto mehr sind beide Seiten am Zustandekommen einer gemeinsamen Perspektive beteiligt. Bei der Repulsion spiegeln sich Dominanz und Subdominanz dagegen im klassischen Verständnis von Herrschaft und Unterwerfung wider. Die leibliche Kommunikation ist hier kein Nährboden für die (weitere) Entwicklung einer gemeinsamen Situation. Der andere hat dann jeweils die Tendenz, zum bloßen Sachverhalt (oder Problem) der eigenen Situation zu werden, die darüber hinaus eine mit Dritten geteilte gemeinsame Situation sein kann. Eine gemeinsame Perspektive – die hier als definitorisch für gemeinsame Situationen angesehen wird – entsteht nicht. Dominant ist, wer die eigene Perspektive durchsetzt, subdominant, wer sich dieser beugen muss, ohne sie als Betroffener einnehmen zu können. 290 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Wer macht die Atmosphären?
Abbildung 1: Der Kern im System der atmosphärischen Führung
Aus der Kombination der Polaritäten ergeben sich vier Grundkonstellationen. In der attraktiven Dominanz ist die Führungskraft die Perspektivengeberin und die Mitarbeiterin übernimmt ihre Perspektive. In der attraktiven Subdominanz ist die Führungskraft die Perspektivennehmerin, während die Mitarbeiterin ihre Perspektive einbringt. In beiden Fällen findet ein Austausch und damit eine Annäherung der Perspektiven statt. In der repulsiven Dominanz setzt sich die Führungskraft durch, eine Übernahme der Perspektive durch die Mitarbeiterin findet nicht statt. In der repulsiven Subdominanz ist die Führungskraft ihrer Mitarbeiterin unterlegen, übernimmt aber deren Perspektive nicht. In beiden Fällen werden die jeweiligen Perspektiven voneinander isoliert und es findet auf leiblicher Ebene kein Annäherungsprozess statt, während gleichzeitig beide Seiten spürbar – und mitunter dauerhaft – leiblich ineinander verstrickt und aufeinander bezogen sind.
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2.3 Der innere Zirkel des Systems Ausgehend von den Polaritäten geht es im inneren Zirkel um den Führungsstil, der sich ebenfalls hinsichtlich der Anteile von Attraktion und Repulsion sowie Dominanz und Subdominanz differenzieren lässt. Der innere Zirkel besteht seinerseits aus drei Schichten. 23 Die erste Schicht betrifft das schon beim Kern thematisierte Teilen von Perspektiven. Sowohl bei der attraktiven Dominanz als auch bei der attraktiven Subdominanz findet ein Perspektivenaustausch statt, während bei der repulsiven Dominanz und der repulsiven Subdominanz eine Perspektivenisolation stattfindet. Dieser Unterschied ist für die Führung zentral, da nur attraktive Führungsstile auf ein gemeinsames Verständnis ausgerichtet sind, während dieses bei repulsiven Führungsstilen unterbunden wird. Abbildung 2 zeigt die drei Schichten des inneren Zirkels im System der atmosphärischen Führung im Überblick. Die zweite Schicht bezieht sich auf den von der Führungskraft ausgeübten Grad der Dominanz. Hierbei wird zwischen exklusiver, inklusiver und variabler Führung differenziert. 24 Bei der exklusiven Führung versteht sich die Führungskraft selbst nicht als Teil des Teams, sondern führt dieses von außen. Beispiele sind eine Fremdenführerin, eine charismatische Führungskraft oder, im repulsiven Fall, die Chefin als Tyrannin. Demgegenüber ist der Dominanzanteil bei der inklusiven Führung gering. Hier ist die Führungskraft Teil des Teams und steht metaphorisch eher neben oder hinter diesem. Die inklusive Führung findet man nicht selten in Unternehmen mit flachen Hierarchien und starkem Teamgeist, während Unternehmen mit starken Hierarchien eher zu einer exklusiven Führung neigen. Bei der variablen Führung steht die Führungskraft mal außerhalb und mal innerhalb des Teams, je nachdem wie sich die Situation gerade gestaltet. Eine Führungskraft, die variabel führt, beherrscht gewissermaßen die Kunst, von ihrer Dominanz hin und her zu wechseln, also mal
23 24
Julmi/Rappe (2018), S. 126–127. Julmi/Rappe (2018), S. 92–108.
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Wer macht die Atmosphären?
Abbildung 2: Der innere Zirkel im System der atmosphärischen Führung
Teil des Teams zu sein und mal das Team von außen zu führen, ohne dass es ihrer Autorität oder Integrität schadet. Die dritte Schicht des inneren Zirkels ergibt sich aus der Kombination der ersten beiden Schichten. D. h., die exklusive, inklusive und variable Führung wird danach differenziert, ob sie attraktiv oder repulsiv ist. In Bezug auf attraktive Führungsstile werden die persuasive Führung (exklusiv), die korporative Führung (inklusiv) und die partnerschaftliche Führung (variabel) unterschieden. 25 Die persuasive Führung beruht auf attraktiver Dominanz. Die Impulse gehen überwiegend von der Führungskraft aus, die ihr Team gewissermaßen dirigiert. Das Ziel besteht darin, die Mitarbeiter von der Sinnhaftigkeit der eigenen Perspektive zu überzeugen. Die Führungskraft behält die Zügel in der Hand 25
Julmi/Rappe (2018), S. 109–119.
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und kann das Team an ihrem Masterplan ausrichten. Bei der korporativen Führung nimmt die Führungskraft eine Haltung der attraktiven Subdominanz ein, so dass die Bedürfnisse und Sichtweisen der Mitarbeiter in den Mittelpunkt rücken. Die Führungskraft zeigt zwar gemeinsame Ziele auf, schreibt aber nicht vor, wie diese zu erreichen sind. Die attraktive Subdominanz der Führungskraft zeigt sich in ihrer Empathie, also als eine Fähigkeit des Zuhörens und als eine Offenheit gegenüber alternativen Sichtweisen. Die partnerschaftliche Führung beruht auf einer relativ gleich verteilten, ausgewogenen Dominanz zwischen der Führungskraft und den Mitarbeitern. Bei der partnerschaftlichen Führung steht die Ausgewogenheit in der Rollenverteilung von Aktivitäten, Ideen und Vorschlägen und damit die Offenheit und Ausgewogenheit im Zusammenspiel von Dominanz und Subdominanz im Vordergrund. Partnerschaftliche Führung ist in diesem Sinne Führung ›auf Augenhöhe‹. Neben den Formen attraktiver Führung lassen sich repulsive Führungsstile differenzieren. 26 Diese sind zwar – als Verhaltensmuster – nicht anzustreben, Führungskräfte sollten ihnen gegenüber jedoch eine bestimmte Sensibilität mitbringen, um etwa erkennen zu können, wenn sich bei ihnen unerwünschte Verhaltensweisen einschleichen. Grundsätzlich können auch repulsive Formen der Führung nach dem Grad der Dominanz differenziert werden. Ist die Dominanz sehr groß, entspricht dies einer tyrannischen Führung. Hier geht es der Führungskraft darum, die eigene Perspektive ohne Rücksicht auf Verluste oder die Belange der Mitarbeiter durchzusetzen. Eine tyrannische Führungskraft führt sich wie eine Alleinherrscherin auf und lässt nur die eigene Sicht gelten. Sie duldet keine Widerworte und lässt den Mitarbeitern buchstäblich keine Luft zum Atmen. In abgeschwächter Form der negativen Dominanz spielen die Perspektiven der Mitarbeiter zwar nach wie vor keine Rolle und es findet kein Austausch der Perspektiven statt, die Mitarbeiter und deren Perspektiven werden aber zumindest geduldet, so dass ein rein funktionales Austauschverhältnis von Lohn und Brot grundsätz26
Julmi/Rappe (2018), S. 119–125.
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lich möglich ist. Die Mitarbeiter tun, was sie sollen, ansonsten werden sie von der Führungskraft repulsiv zurechtgewiesen. Die Atmosphäre bleibt unpersönlich und letztlich ›kalt‹. In ihr kann keine rechte Begeisterung aufkommen. Sobald Konflikte entstehen, werden Machtspiele virulent, deren Wirkungskraft nicht zuletzt auf der Isolation von Perspektiven beruht, was sich besonders deutlich an der Extremform der Intrige offenbart. Da bei der repulsiven Führung keine Perspektiven ausgetauscht werden, wird sie im System der atmosphärischen Führung unabhängig von ihrem Dominanzanteil allgemein als destruktive Führung bezeichnet. 27 2.4 Der äußere Zirkel des Systems Der äußere Zirkel im System der atmosphärischen Führung fokussiert auf die Interaktion zwischen Führungskraft und Mitarbeiter und differenziert die Perspektivenlehre der atmosphärischen Führung weiter aus. Stand im inneren Zirkel das Verhalten der Führungskraft im Vordergrund, geht es im äußeren Zirkel darum, wie Führungskraft und Mitarbeiter in der gemeinsamen Kommunikation agieren und reagieren. Es wird angenommen, dass sich die Polaritäten von Attraktion und Repulsion einerseits sowie Dominanz und Subdominanz andererseits nicht nur auf die Aktions-, sondern auch auf die Reaktionsseite übertragen lassen. Ein attraktives Verhalten kann mit einem attraktiven oder einem repulsiven Verhalten beantworten werden, ebenso wie sich ein repulsives Verhalten mit einem attraktiven oder einem repulsiven Verhalten beantworten lässt. Dasselbe gilt für die Dominanz. Ein dominantes Verhalten kann man dominant oder subdominant beantworten, ebenso wie man ein subdominantes Verhalten dominant oder subdominant beantworten kann. Bezüglich Attraktion und Repulsion sind zwei Arten des Verhaltens abzugrenzen. Auf der einen Seite steht der Normalfall der Reziprozität, in dem ein attraktives (repulsives) Verhalten zu einer 27
Julmi/Rappe (2018), S. 120.
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attraktiven (repulsiven) Reaktion führt. Auf der anderen Seite kann attraktives Verhalten aber auch repulsiv beantworten werden, beispielsweise bei der Verweigerung eines Handschlags. Ebenso kann repulsives Verhalten attraktiv beantworten werden, wenn man z. B. auf einen Affront mit einer Geste der Versöhnung reagiert. Diese Arten der Reaktion werden im System der atmosphärischen Führung als Umstimmung bezeichnet. 28 Sowohl bei der Reziprozität als auch bei Umstimmung sind weiter attraktive und repulsive Formen zu unterscheiden. Attraktive Reziprozität bezieht sich auf eine attraktive Antwort auf ein attraktives Verhalten, repulsive Reziprozität auf eine repulsive Antwort auf ein repulsives Verhalten. Bei der attraktiven Umstimmung wird repulsives Verhalten attraktiv beantwortet, während bei einer repulsiven Umstimmung ein attraktives Verhalten zu einer repulsiven Reaktion führt. Analoges lässt sich nun für Dominanz und Subdominanz vornehmen. Im System der atmosphärischen Führung wird zwischen Spiegelung und Ergänzung differenziert. 29 Bei der Spiegelung wird das Dominanzverhalten gespiegelt, d. h., dominantes Verhalten wird dominant gespiegelt bzw. subdominantes Verhalten wird subdominant gespiegelt. Die Ergänzung ist dagegen komplementär, d. h., dominantes Verhalten wird subdominant, subdominantes Verhalten dominant beantwortet. Der Normalfall stellt wohl eher die Ergänzung dar, wenn – wie bei der antagonistischen Einleibung bei Schmitz 30 – einer die dominante und einer die subdominante Seite einnimmt, wobei die Rollen beständig getauscht werden können und beide Seiten abwechselnd als Impulsgeber fungieren (z. B. in einem Gespräch). Geht man zunächst vom Normalfall der Reziprozität aus, lassen sich unter Berücksichtigung von Spiegelung und Ergänzung verschiedene Möglichkeiten differenzieren, wie die Perspektiven in der Kommunikation miteinander in Berührung kommen. Bei 28
Julmi/Rappe (2018), S. 130–131. Julmi/Rappe (2018), S. 131–132. 30 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Bd. V: Die Aufhebung der Gegenwart, Bonn 1980, S. 39–40. 29
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der attraktiven Reziprozität findet generell ein Austausch der Perspektiven statt, d. h., die Perspektiven nähern sich an und zielen auf ein gemeinsames Verständnis hin. Es lässt sich jedoch unterscheiden, ob sich die Partner in ihrem Dominanzverhalten spiegeln oder ergänzen. Spiegeln sie sich, wird das als Perspektivenkonvergenz bezeichnet. 31 Hierbei wird die eigene Perspektive jeweils so angepasst, dass sie sich der anderen Perspektive angleicht, so dass die Perspektiven konvergieren (jedoch nicht zu einer Perspektive verschmelzen). Bei einer Ergänzung wird dagegen von vorneherein an einer gemeinsamen Perspektive gearbeitet, indem metaphorisch gesprochen solange die Bälle hin und her gespielt werden, bis man sich aufeinander eingespielt hat. Dies wird Perspektivenfusion genannt. 32 Ähnlich verhält es sich bei der repulsiven Reziprozität, bei der die Perspektiven voneinander abgegrenzt werden. Wird die repulsive Reziprozität gespiegelt, gehen die Perspektiven zunehmend auseinander, wobei keine der beiden Seiten die Überlegene oder Unterlegene ist. Dies wird als Perspektivendivergenz bezeichnet. 33 Wird die negative Reziprozität dagegen ergänzt, erweist sich eine Seite als die Überlegene, ohne dass dabei eine Verständigung stattfindet. Beide Seiten sind leiblich ineinander verstrickt, können aber keine gemeinsame Sicht finden. Das Ergebnis ist Perspektivenkonfusion. 34 Neben der Reziprozität berücksichtigt der äußere Zirkel der atmosphärischen Führung auch die Möglichkeit der Umstimmung, bei der ein Wechsel in der Art des Perspektivenkontakts stattfindet, also z. B. von einer Perspektivenkonfusion zu einer Perspektivenfusion. Grundsätzlich gilt, dass in jeder Aktion vier Verhaltensweisen möglich sind: Man kann attraktive Dominanz ausüben, sich attraktiv subdominant verhalten, repulsiv dominant sein oder auf repulsive Subdominanz zurückfallen. Dies gilt entsprechend für die Reaktion, so dass in der Kombination aus Aktion und Reaktion 4 � 4, also insgesamt 16 Fälle möglich sind, die im äußeren 31 32 33 34
Julmi/Rappe (2018), S. 139–140. Julmi/Rappe (2018), S. 140–141. Julmi/Rappe (2018), S. 142–143. Julmi/Rappe (2018), S. 143–144.
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Zirkel des Systems differenziert und jeweils gesondert diskutiert werden. Diese 16 Fälle sind wiederum grundlegend in vier Gruppen einzuteilen. Zu unterscheiden sind vor allem die Gruppen der (attraktiven und repulsiven) Reziprozität von den Gruppen der (attraktiven und repulsiven) Umstimmung, da sie eine sehr unterschiedliche Stabilität aufweisen. Die Gruppen der Reziprozität sind grundsätzlich stabil, während die Gruppen der Umstimmung grundsätzlich instabil sind und den Übergang von einer stabilen Gruppe in die andere markieren. Das Ziel der atmosphärischen Führung besteht hier darin, ein Verhältnis attraktiver Reziprozität herzustellen, um dauerhaft ein gemeinsames Verständnis zu erzielen. Grundsätzlich ist Reziprozität sowohl im attraktiven als auch im repulsiven Fall selbstverstärkend. Konkret heißt das, dass sich aus einem anfangs vielleicht nur marginalen Impuls eine immer stärker werdende Reziprozitätsspirale 35 entwickelt, die nur noch schwer aufzubrechen ist. Bei der attraktiven Reziprozität ist das wünschenswert, bei der repulsiven Reziprozität dagegen ein Problem. Hierzu bedarf es spezieller Techniken aus der Gruppe der attraktiven Umstimmung, mit denen das möglich ist, auch wenn es viel atmosphärisches Fingerspitzengefühl erfordert. 36 Letztlich liegt hierin aber der Schlüssel, eine negative Atmosphäre in eine positive umzugestalten. Die Gruppe der repulsiven Umstimmung ist zwar nicht direkt für die Führungskraft relevant, sie sollte sich aber ihrer Wirkmacht bewusst sein, da sie sich bei Phänomenen wie dem Mobbing beobachten lässt, wenn das eigentlich annähernde Verhalten eines Mitarbeiters von den Kollegen repulsiv beantwortet wird. Dadurch soll der Mitarbeiter von der gemeinsamen Situation ausgeschlossen werden. Abbildung 3 skizziert den äußeren Zirkel im Überblick. Die Aktion ist im Kern abgebildet und umfasst die vier Möglichkeiten der attraktiven Dominanz, der attraktiven Subdominanz, der repulsiven Dominanz sowie der repulsiven Subdominanz. Für die 35 Ronald D. Laing/H. Phillipson/A. R. Lee: Interpersonelle Wahrnehmung, Frankfurt 1971, S. 37. 36 Julmi/Rappe (2018), S. 173–187.
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Abbildung 3: Der äußere Zirkel im System der atmosphärischen Führung
Reaktion sind dann wiederum vier Möglichkeiten gegeben, die im äußeren Zirkel abgebildet sind. Oben und unten finden sich in der Abbildung jeweils reziproke, links und rechts jeweils umstimmende Reaktionen. Ergänzende und spiegelnde Reaktionen sind jeweils abwechselnd angeordnet. 3
Ausblick
Das hier kurz vorgestellte System der atmosphärischen Führung lässt sich in der Praxis als eine Art atmosphärischer Kompass verwenden, mit dem sich die Führungskraft im System der atmosphärischen Führung selbst verortet, sowohl hinsichtlich der eigenen Verhaltensmuster als auch in Bezug auf die Interaktion und das Verhältnis mit den Mitarbeitern. Grundsätzlich lassen sich jedoch für eine gelungene atmosphärische Führung keine Patentrezepte formulieren, da atmosphärische Führung immer ein Ge299 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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spür für die Situation voraussetzt. Manchmal lässt sich eine angespannte Atmosphäre mit einem einfachen Witz auflösen, aber dies verlangt ein intuitives Gespür dafür, was in einer Situation möglich ist und was nicht. Gute atmosphärische Führung basiert daher wesentlich auf dem Prinzip der Selbstkultivierung, also der Arbeit an sich selbst. Nur wer sich wirklich für Atmosphären sensibilisiert und sich ein Gespür für die eigene atmosphärische Ausstrahlung auf andere erschließt, kann die eigene Kompetenz als atmosphärische Führungskraft dauerhaft im Alltag entfalten. Je mehr die Führungskraft auf die Atmosphären in ihrem Alltag achtet, desto besser wird ihr Verständnis für sie. Das System der atmosphärischen Führung ist kein Ersatz für die Selbstkultivierung, kann diese aber unterstützen und leiten. In Bezug auf die weitere Forschung stellt das System der atmosphärischen Führung einen komplexen Analyserahmen zur Verfügung, der zur empirischen Untersuchung atmosphärischer Dynamiken in Unternehmen oder Gruppen genutzt werden kann. Insbesondere in qualitativen Untersuchungsdesigns ließe sich das System als Kategoriensystem verwenden, um typische Konstellationen der Führung herauszuarbeiten oder Entwicklungspfade in der Kommunikation aufzuzeigen. Mögliche Forschungsfragen wären beispielsweise, mit welchen Strategien der Umstimmung negative Reziprozitätsspiralen aufgebrochen werden (können), welchen Einfluss der erste Eindruck oder Vorurteile auf den Kommunikationsverlauf haben oder wie typische Rollen bzw. Muster bei der Entwicklung positiver und negativer Reziprozitätsspiralen aussehen. Neben Führungsbeziehungen in Unternehmen ließen sich auf diese Weise ebenso andere Konstellationen wie die atmosphärisch hochsensible Arzt-Patienten- oder Pflege-PatientenKommunikation im Gesundheitswesen 37 untersuchen. Die Strategie einer attraktiv-dominant ergänzenden Umstimmung kommt 37
Wolf Langewitz/Michael Großheim: »Balintarbeit und ›die Gefühle‹ – Phänomenologische Überlegungen zum Begriff der Gefühle in der Arbeit von Balintgruppen«, in: Balint Journal 18/2, 2017, S. 41–46; Charlotte Uzarewicz: »Kranken-Pflege als ästhetische Arbeit«, in: Eulenfisch 10/2, 2017, S. 30–34; Tonino Griffero: »The invasion of felt-bodily atmospheres: Between pathic aesthetics and psychopathology«, in: Gianni Francesetti/Tonino Griffero (Hrsg.): Psycho-
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etwa sehr prägnant bei folgender Aussage von Charlotte Uzarewicz zum Ausdruck: »Der warme Blick ist dazu in der Lage, ängstliche Patienten, die den Blick der Pflegenden suchen, zu beruhigen, oder unruhige und irritierte Patienten mit einem ruhigen und gelassenen Blick merklich zu entspannen.« 38 Auch in dem von Barbara Wolf für die Neue Phänomenologie geöffneten Feld der Pädagogik 39 scheint die atmosphärische Führung eine hohe Relevanz aufzuweisen. In Bezug auf den inneren Zirkel ist beispielsweise zu beachten, dass ein persuasiver Führungsstil im Sinne eines Frontalunterrichts verletzen kann, »weil er nivelliert, von allen das gleiche Tempo, die gleiche Aufmerksamkeitsspanne verlangt«. 40 Bei den Kommunikationsdynamiken des äußeren Zirkels ist leicht einzusehen, dass etwa ein atmosphärisches Taktgefühl, »wann man nun einen Impuls ins Gespräch eingibt und wann man sich zurückhält«, 41 für den pädagogischen Kontext eine eminente Bedeutung hat. Abschließend soll die Relevanz der atmosphärischen Führung für Praxis und Forschung anhand eines kleinen Beispiels aus dem Fußball illustriert werden. Uli Hoeneß, Präsident des FC Bayern München und bekannt für sein repulsiv-dominantes Auftreten in den Medien, hat auf einer Pressekonferenz des Vereins am 19. 10. 2018 über den ehemaligen Spieler Juan Bernat gesagt: »Als wir in Sevilla gespielt haben, war er fast alleine dafür verantwortlich, dass wir fast ausgeschieden sind. Der hat einen Scheißdreck gespielt.« 42 Dem Prinzip der Reziprozität folgend wird auf derartipathology and atmospheres: Neither inside nor outside, Newcastle upon Tyne 2019, S. 6–34. 38 Uzarewicz (2017), S. 31. 39 Barbara Wolf: Atmosphären des Aufwachsens, Rostock 2015; Barbara Wolf: Kinder lernen leiblich. Praxisbuch über das Phänomen der Weltaneignung, Freiburg 2016; Barbara Wolf: »Leibliche Dimensionen des pädagogischen Taktes. Vom Unwillkürlichen, Unverfügbaren und Unvorhersehbaren der pädagogischen Situation«, in: Robert Gugutzer u. a. (Hrsg.): Irritation und Improvisation. Zum kreativen Umgang mit Unerwartetem, Freiburg 2019, S. 160–190. 40 Wolf (2019), S. 169. 41 Wolf (2019), S. 168. 42 Welt: »Der denkwürdige Auftritt von Hoeneß und Rummenigge«, unter: https://bit.ly/2IhFLtY (Stand: 25. 2. 2020).
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ge verbale Angriffe in der Regel mit einer repulsiv-dominant spiegelnden Reziprozität reagiert, um die Perspektive der jeweils anderen Seite als die falsche herauszustellen, was dann eine Perspektivendivergenz in Gang setzt. Die Antwort Bernats ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert, da sie nicht der Reziprozität, sondern der Umstimmung folgt. Auf die Kritik angesprochen erwiderte er: »Ja, ich habe davon gehört, aber ich habe darüber nichts zu sagen. Mir wurde schon als Kind beigebracht, dankbar zu sein.« 43 Bernat hat mit seiner attraktiv-subdominant ergänzenden Umstimmung Hoeneß gewissermaßen die Füße unter dem Boden weggezogen und ihn zu einem Umdenken bewegt, indem er sich – durch attraktiv-subdominant spiegelnde Reziprozität – öffentlich entschuldigte: »Das hat mir sehr leid getan, Juan Bernat beleidigt zu haben für seine Spielweise in einem Spiel. Das würde ich nicht wieder machen.« 44 Anstatt in eine repulsiv-dominante Reziprozitätsspirale zu verfallen (Perspektivendivergenz), hat Bernat (bewusst oder unbewusst) mit seinem umstimmenden Verhalten den Anfang einer attraktiv-subdominanten Reziprozitätsspirale gemacht (Perspektivenkonvergenz). Dieses kleine Beispiel zeigt, welche Wirkmacht eine gelungene atmosphärische Führung entfalten kann und dass jederzeit das Setzen eines neuen Anfangs möglich ist – und es verdeutlicht letztlich, wie einfach und zugleich schwierig die Kunst der atmosphärischen Führung ist.
43
Spiegel Online: »So freundlich reagiert Bernat auf die Kritik von Hoeneß«, unter: https://bit.ly/2MubHk8 (Stand: 25. 2. 2020). 44 Transfermarkt.de: »Hoeneß: »Hat mir sehr leid getan, Bernat beleidigt zu haben« – Freude über PSG-Tor«, unter: https://bit.ly/2Wb4iWw (Stand: 25. 2. 2020).
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Zur Praxis der Atmosphäre
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Charlotte Uzarewicz
Hörbare Pflege? Der Beitrag der Akustik zur klinischen Atmosphäre Krankenbeobachtung ist eine der zentralen Aufgaben der Pflege, und die geschieht zu großen Teilen über die visuelle Wahrnehmung; zu noch größeren Teilen über das eigenleibliche Spüren, wobei der Leib als Resonanzraum für Atmosphären zur Geltung kommt. Das Hören spielt eher eine weniger dominante Rolle – meint man! Es läuft einfach mit. Gerade darin liegt aber ein besonderes Thema, wie Utz Jeggle schreibt: »(Das Ohr) warnt, aber es weiß nicht wovor. Es hat nicht die Kombinationskraft des Augensinns, es serviert akustisch, aber ohne Begriff (…) Es kann schlecht ordnen (…) und bleibt deshalb oft hilflos, weil es auch das registriert, was es nicht kennt.« 1 Was sind das für Alltagsgeräusche in Kliniken und was macht das mit den Menschen, die dort arbeiten? Wieso spricht man auch von Lärmbelastung im Krankenhaus? In welchen Atmosphären findet Pflege statt und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Qualität der Pflegearbeit? Ich fokussiere in meinen Überlegungen die Perspektive der Pflegenden. Eine Patientenperspektive klammere ich aus, ebenso wie die des derzeitigen Trends der Healing Architecture, die hauptsächlich Patientinnen im Fokus ihrer Überlegungen haben und aus der Perspektive der Neurowissenschaften und Architektur auf das Thema Raumgestaltung blicken, ohne die Konzepte »Healing« bzw. »Wohlbefinden« für empirische Untersuchungen operationalisiert zu haben. 2 Mich interessieren die Qualität des Ge1
Utz Jeggle: Der Kopf des Körpers. Eine volkskundliche Anatomie, Weinheim, Berlin 1986, S. 112. 2 Siehe hierzu die gesammelten Aufsätze bei Christine Nickl-Weller/Stefanie Matthys/Tanja Eichenauer (Hrsg.): Health Care der Zukunft Bd. 4: Healing Architecture, Berlin 2013. Christine Nickl-Weller/Stefanie Matthys/Anja Eichenauer (Hrsg.): Health Care der Zukunft Bd. 5: Healing Architecture + Communication,
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Charlotte Uzarewicz
hörten und dessen Einfluss auf die Pflegearbeit. Nach einem kurzen Einblick in Studien zur Lärmbelastung im Krankenhaus stelle ich die Ergebnisse einer kleinen empirischen Untersuchung vor, die sich mit typischen Geräuschen des Arbeitsalltags in Kliniken befasst. Nach der Analyse und Interpretation der Daten auf dem Hintergrund neophänomenologischer Theorien versuche ich, mögliche Auswirkungen auf die Pflege und das Pflegen zu umreißen, und charakterisiere die klinischen Atmosphären anhand von Julmis atmosphärischen Idealtypen. 3 1
Über das Hören
Lärm, Geräusche, Ton, Klang, Laut, Krach – für das akustische Spektrum bietet unsere Sprache eine Menge verschiedener Begriffe an. Die Ohren hören das alles, und wir sind es gewohnt, das Überhören zu lernen. Fragt man Menschen, die in der Einflugschneise eines Flughafens oder an einer stark befahrenen Straßenkreuzung wohnen, ob sie der Lärm nicht stört, kommt oft die Antwort: »Ich hör’ das gar nicht mehr; hab’ mich dran gewöhnt.« Geht das überhaupt: Hören und nicht (mehr) Hören gleichzeitig? Eine solche Antwort zeigt, dass das, was einst (als störendes Berlin 2015, sowie Synnove Caspari/Katie Erikson/Dagfinn Naden: »The aesthetic dimension in hospitals — An investigation into strategic plans«, in: International Journal of Nursing Studies 43, 2006, S. 851–859. Ch. Douglas/MR Douglas: »Patient-centred improvements in health-care built environments: perspectives and design indicators«, in: Health Expectations 8, 2005, S. 264–276. Phil Leather/Daine Beale/Angeli Santos/Janine Watts/Laura Lee: »Outcomes of environmental appraisal of different hospital waiting areas«, in: Environment and Behavior 35(6), Nov. 2003, S. 842–869. Monjur Mourshed/Yisong Zhao: »Healthcare providers’ perception of design factors related to physical environments in hospitals«, in: Journal of Environmental Psychology 32(4), Dez. 2012; S. 362– 370. Maria Obenaus/Peter G. Richter: »Gestaltung von Patientenzimmer in Kliniken«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TU Dresden 48 (5/6), 1999, S. 73–79. Annika Piecha/Annegret Schlosser: Der Einfluss der Warteraumgestaltung auf die Einschätzung der ärztlichen Kompetenz. Forschungsbericht der TU Dresden, Institut für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie 2008. 3 Christian Julmi: Atmosphären in Organisationen. Wie Gefühle das Zusammenleben in Organisationen beherrschen, Bochum/Freiburg 2015.
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Hörbare Pflege?
Geräusch) bewusst wahrgenommen worden ist, irgendwann den Bewusstheitscharakter verliert und damit aber in seiner atmosphärischen Wirkungsweise subtil wird. Internationale Studien zeigen, dass Akustik einen maßgeblichen Einfluss auf Atmosphären und damit auch auf die Menschen hat. Eine neue Erkenntnis aus den aktuellen Lärmstudien (NORAH) 4 zeigt, dass Lärm nicht nur für Herz-Kreislauferkrankungen verantwortlich ist, sondern vor allem für Depressionen (der Zusammenhang von Kunstfehlern und Lärmstress wird vermutet). 5 »Geräusche werden zu Lärm, wenn wir sie nicht selbst steuern beziehungsweise uns nicht gegen sie wehren können«, sagt der Bochumer Lärmforscher Rainer Guski. 6 »Lärm wurde daher in einem europäischen Konsensuspapier als zweitwichtigstes umweltbezogenes Gesundheitsrisiko eingestuft«. 7 Viele Lärmstudien konstatieren die Dezibelzahlen, wenn es um Lärmbelastung geht. Kupczik zitiert eine Forschergruppe der Johns Hopkins University, die in den letzten 40 Jahren einen Lärmpegelanstieg im Krankenhaus am Tage von durchschnittlich 57 auf 72 Dezibel (dB) gemessen haben. So laut ist es auch auf einer Hauptverkehrsstraße. In der Nacht gibt es einen Anstieg im gleichen Zeitraum von 42 auf 60 dB. 8 Die Welt-
4
NORAH: Noise-Related Annoyance, Cognition, and Health (Lärmwirkungsstudie 2017). 5 »In Deutschland beispielsweise beträgt die Zahl der Menschen, die pro Jahr an den Folgen eines Kunstfehlers sterben, schätzungsweise mehr als 20 000. Schlechte Kommunikation, Überlastung der Ärzte, Übermüdung, Hektik und Streß gelten als Hauptursachen.« Ingrid Kupczik: »Spektakel statt Bettruhe«, in: Welt am Sonntag 2005, unter: https://www.welt.de/print-wams/article135742/Spektakelstatt-Bettruhe.html (Stand: 28. 11. 2018). 6 Kupczik (2005). 7 Anne Volkmann: »Wenn Krankenhauslärm der Gesundheit schadet«, in: Gesundheitsstadt Berlin, Gesundheitsnetzwerk 2016, unter: https://www.gesundheits stadt-berlin.de/wenn-krankenhauslaerm-der-gesundheit-schadet-10743/ (Stand: 28. 11. 2018). 8 Kupczik (2005).
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gesundheitsorganisation WHO empfiehlt als Grenzwert für die Nacht in der Klinik 35 dB, am Tage 45 dB. »Eine Erhöhung um nur zehn dB sorgt für eine Verdopplung der Lärmintensität«. 9 Auch Untersuchungen in der Mayo Klinik in Rochester aus dem Jahr 2005 zeigen einen Lärmhöhepunkt bei Schichtwechsel morgens um 7.00 Uhr von 113 dB. Das entspricht der Lautstärke einer Kettensäge. 10 Grundsätzlich muss zwischen den dauerhaften Geräuschen, der »Hintergrundmusik« und den kurzzeitigen, aber immer wieder kehrenden Geräuschen unterschieden werden. Das Herablassen eines Bettgitters entspricht 90 dB, wenn eine Nierenschale zu Boden fällt, werden 95 dB gemessen; ein Gespräch von vier Personen (z. B. bei einer Visite) erzeugt 74 dB, um nur ein paar Beispiele zu nennen. 11 Für Werte ab 85 Dezibel ist nach den Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen des Arbeitsschutzes sogar das Tragen eines Gehörschutzes notwendig. 12 In meiner empirischen Untersuchung möchte ich herausfinden, was Pflegende täglich hören. Ohne hier eine mikrologische Studie vorzulegen, thematisiere ich im Folgenden das akustisch Selbstverständliche in der Pflege, das, an was man sich »gewöhnt«, wenn man in Kliniken arbeitet, denn »der Alltag ist ein Meer an Selbstverständlichkeiten, (…) das atmosphärisch von einem Rahmen des Infra-Gewöhnlichen zusammengehalten wird«. 13 364 Pflegende aus sehr unterschiedlichen Settings (Krankenpflege, Kinderkrankenpflege, Altenpflege, Hebammen) haben spontan drei typische Geräusche aus ihrem Arbeitsalltag aufgeschrieben. Insgesamt 1036 Nennungen lassen sich wie folgt aufteilen:
9
Kupczik (2005). Kupczik (2005). 11 Volkmann (2016). 12 Volkmann (2016). 13 Jürgen Hasse: Die Aura des Einfachen. Mikrologien räumlichen Erlebens, Freiburg 2017, S. 23. 10
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Tab. 1: Klassifizierung der Geräusche Art der Geräusche
Häufigkeit der Nennung
Technische Geräusche:
743
Menschliche Geräusche:
280
Technisch-menschliches Mischgeräusch (Absauggeräusche)
12
Naturgeräusche (Vogelzwitschern):
1
Wie zu erwarten ist, überwiegen in klinischen Pflegesettings die technischen Geräusche, und zwar von der Sorte des Schrillen, Hohen, aber nicht unbedingt Lauten. Dieses Klangspektrum weist einen epikritischen Charakter 14 auf, und das ist zwingend notwendig, damit nichts überhört werden (die Gewöhnung nicht stattfinden) kann, selbst wenn die dB-Zahl niedrig ist, denn es sind überwiegend Alarmtöne (piepsen) von Monitoren, Perfusomaten, Infusomaten, PEG-Sonden etc. An zweiter und dritter Stelle stehen Ruftöne: Patientenglocke, Klingel, Notfallglocke, Telefonklingeln. Mit Abstand wesentlich weniger Geräusche entstehen durch Geschirrgeklapper, Küchengeräusche, Beatmungsmaschinen, Toilettengeräusche, Türen zuschlagen, Quietschen von Betten, Türen und anderen Geräten.
14
Bei der Charakterisierung der Geräuschqualitäten orientiere ich mich an Schmitz’ Alphabet der Leiblichkeit, weil dieses m. E. die leiblich gespürten Qualitäten sehr präzise erfasst. Epikritisch bezeichnet Qualitäten des Hellen, Grellen, Schrillen, Spitzen, scharf Abgegrenzten im Gegensatz zum Protopathischen, welches als Dumpfes, Dunkles, Diffuses, Amorphes, nicht scharf Abgegrenztes charakterisiert ist.
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Tab. 2: Differenzierung der technischen Geräusche 15 Geräuschart
Anzahl der Nennungen
Alarmtöne (Piepsen): Monitore, Perfusomaten, Infusomaten, PEG Sonden …
211
Patientenglocke/Klingel/Notfallglocke:
190
Telefonklingeln
165
Geschirrklappern, Küchengeräusche
30
Beatmungsmaschinen
20
Toilettengeräusche
15
Türen zuschlagen
17
Quietschen (Türen, Betten, Geräte)
13
Der protopathische Charakter der technischen Geräusche (Brummen oder Summen von Betten, Röntgengeräten oder Aufzügen; insgesamt 9 von 1036 Nennungen) fällt quantitativ und qualitativ nicht weiter ins atmosphärische Gewicht und kann vernachlässigt werden. Bei den Humangeräuschen steht der Schrei bzw. Hilferuf an oberster Stelle der Häufigkeitsliste: Schreien, Geschrei, »Hilfe, Schwester!« Daneben sind Pflegende sehr häufig mit einem Stimmengewirr als »Hintergrundmusik« konfrontiert. Zum typisch Hörbaren zählen auch Atemgeräusche bzw. Schnaufen, Schritte im Gang, Gespräche, Weinen oder Jammern, Husten, Stöhnen, Schnarchen, Tönen (von Gebärenden), Lachen, Rülpsen, Schlürfen, Meckern, und auf den Kinderstationen hört man wohl auch mal ein Kinderlied.
15
Sonst wurden noch genannt: Radio/Fernsehgedudel (12), Klappern (Pflegegerätschaften) (10), Klopfen (an der Tür, RR-Messungen, CTG) (10), Brummen (Röntgen, Aufzug, Bett) (9), Wasserrauschen (7), Zischen, Reißen, Scheppern (7), Sauerstoffgeräte (6), Autolärm (6), Schlüssel (4), Baugeräusche (4), Rascheln (3), Rollen (Wagen, Bett) (3), Sturz aus dem Bett (1).
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Tab. 3: Differenzierung der menschlichen Geräusche Geräuschart
Anzahl der Nennungen
Schreien/Geschrei (Hilferuf, »Schwester!«, Babygeschrei davon 16)
137
Lautes Stimmengewirr
60
Atemgeräusche/Schnaufen
14
Schritte am Gang
14
Gespräche
13
Weinen/Jammern
13
Husten
9
Stöhnen
6
Schnarchen
4
Tönen
3
Lachen
3
Rülpsen, schlürfen, meckern
Je 1
Kinderlieder
1
Die menschlichen Geräusche korrespondieren in ihrem epikritischen Charakter mit den technischen Geräuschen. Beide haben Aufforderungscharakter: Tu endlich etwas! Allerdings ist ihre leibliche Wirkung sehr verschieden, denn mit den Humangeräuschen dringt die pathische Dimension des Seins in den Vordergrund. 16 Unabhängig von der Dezibelzahl ist bei diesen Geräuschen ein 16
Das Pathische bezeichnet eine anthropologische Dimension unserer Existenz, die oft vergessen wird: Es ist das, was uns widerfährt, das, was wir erleiden, das, was mit uns geschieht. Hasse spricht vom »Patheur«, den er dem Akteur gegenüberstellt. Viktor von Weizsäcker hat sich in seiner Gestaltkreislehre mit dem Ontischen und dem Pathischen des Menschseins befasst. Jürgen Hasse: Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes, Freiburg/München 2014, S. 45 ff. Eckhard Frick: Psychosomatische Anthropologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studien, Stuttgart 2009, S. 154– 158.
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leiblicher Nachvollzug unmittelbar und zwingend gegeben (eben weil wir selbst leiblich sind). Selbst die protopathischen Humangeräusche (Stöhnen) sind negativ konnotiert (das lustvolle Stöhnen ist damit nicht gemeint!) und implizieren ebenfalls einen Hilferuf. Der Schrei ist leibliche Weitung, ist selbst aber engend, wenn man ihn hört. Küttner hat in seiner medizinischen Phänomenologie von 1842 eine interessante Klassifikation von 14 verschiedenen Schreiqualitäten vorgelegt. 17 Dabei hat er die Gründe nicht nach psychischen oder somatischen Diagnosen differenziert, sondern das Schreien als kommunikative Form der Mitteilung verstanden und versucht, diese zu übersetzen. Der Schrei dient seiner Ansicht nach »wie die Sprache als Ausdruck der körperlichen und psychischen Empfindung und hat daher (…) eine große Wichtigkeit«. 18 Er unterscheidet den Aufschrei (bei der Einatmung) von dem Ausschrei (bei der Ausatmung). 1. Starkes, kräftiges Schreien, das auf unbefriedigte Bedürfnisse, Schläfrigkeit, Missbehagen, Schmerz, Schreck, Ärger, Ungezogenheit etc. hindeutet. 2. Kreischendes, gellendes Schreien hört man bei Schmerz, Schreck, Unart, aber auch bei hirnorganischen Erkrankungen. 3. Schwaches mattes Schreien entsteht bei Durst, Schwäche, heftige innere Entzündungen, (…) aber auch Langeweile. 4. Hohes, feines Schreien findet sich bei Kehlkopf- oder Lungenkrankheiten etc. 5. Tiefes, raues Schreien ist Zeichen von Unart, Misslaune, Unbehaglichkeit, etc. 6. Hastiges Schreien deutet auf Schmerz, Angst, Ungeduld hin. 7. Träges, gedehntes Schreien bedeutet Ungezogenheit, Langeweile, Schläfrigkeit, Schwäche. 8. Abgebrochenes, unterbrochenes Schreien ist ein Zeichen bei Bronchial- und Lungenerkrankungen sowie bei schmerzhaften Affektionen.
17
Robert Küttner: Medicinische Phaenomenologie. Ein Handbuch für die ärztliche Praxis, Leipzig 1842. 18 Küttner (1842), S. 326.
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9. Meckerndes, zitterndes Schreien hört man bei Krampfleiden vor allem am Stimmapparat, aber auch bei Baucherkrankungen. 10. Schluchzendes Schreien entsteht bei starkem Weinen, Krampf, Zusammendrücken der Luftwege. 11. Verstümmeltes Schreien besteht nur aus dem Aufschrei bei Erschöpfung durch vorher langanhaltendes Schreien, Schlaflosigkeit, Schmerz. 12. Anhaltendes, langdauerndes Schreien findet sich bei unbefriedigten Bedürfnissen, Verlangen, Schmerzen, Jucken, Ungezogenheit, Schläfrigkeit (…) oder auch als bloße Gewohnheit zu bestimmten Tageszeiten. 13. Kurzes, momentanes Schreien verweist auf Kolikschmerz oder Hirnreizung. 14. Stillsein, Verstummen als letzte Schreiqualität (!) deutet Küttner als befriedigtes Verlangen, aber auch als Erschöpfung, Betäubung, Schläfrigkeit. In dieser Taxonomie des Schreiens schwingen Situationen chaotischer Mannigfaltigkeit mit, deren diffuse Bedeutsamkeit fragmentarisch zu Ohren kommt, aber unmittelbar präsent ist: Es ist nichts Geringeres als das große Spektrum menschlicher Nöte. Das hat einen völlig anderen Charakter als die verschiedenen, aber immer hohen Frequenzen von technischen Alarmgeräuschen. Diese Nöte werden leiblich erfasst und erfahren und gestalten die Atmosphären der gemeinsamen Situationen in der Pflege, die immer hierarchisch strukturiert sind – sei es in Bezug auf eine pflegerische Interaktion mit Patientinnen; sei es in Bezug auf das Pflegeteam (diese sind ebenfalls hierarchisch strukturiert, von der Stationsschwester über die Pflegehelferin bis zum Praktikanten). Menschen, die den Pflegeberuf wählen, bringen etwas mit, nämlich ihre Motivation, die in ihrer persönlichen Situation begründet liegt und hinreichend erforscht worden ist. Konsens ist eine hohe soziale Verbundenheit und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen: etwas mit anderen Menschen zu tun haben und helfen wollen (sie sind keine Misanthropen). Dieses »Mitbringsel« wird vom klinischen Kontext gerahmt. Was macht das mit den 313 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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Pflegenden? Wie wird die Atmosphäre einer Situation dadurch getönt? Das Hören gilt wie das Sehen als Fernsinn, aber ohne den Moment des Abstands (nah und fern). »Ton dringt ein, ohne Abstand«. 19 Das meint Plessner, wenn er von der Eindringlichkeit der Töne spricht. Wenn wir also etwas akustisch wahrnehmen, dann hat das eine »indikative Rolle« 20, weil Töne voluminös sind, einen Impulswert haben und rhythmisch gegliedert werden. 21 Im Wimmern oder im immer wiederkehrenden Schrei liegen Bewegungssuggestionen. Deswegen bedarf es einer besonderen Anstrengung, ruhig zu bleiben, wenn ein Mensch vor einem liegt, der sich im Schmerzensschrei windet oder sich wimmernd im Bett zusammenrollt. Man kann die Bewegung spüren, die von diesem Geräusch ausgeht. Der Kulturwissenschaftler Jochen Bonz sagt: »ein Geräusch besitzt die Macht, sie (die Situation; Ch. Uz.) aufzulösen und das in ihr vorhandene Selbst anzugreifen und fundamental in Frage zu stellen«. 22 Die beiden für den beruflichen Kontext wichtigen Fernsinne, das Hören und das Sehen, korrespondieren miteinander in der Art, dass sie sich gegenseitig auszugleichen versuchen. 23 »In einer lauten Umgebung mit einem hohen Frequenzbereich (hohe Töne) bevorzugt der Mensch dunkle Farben, bei tiefen Frequenzen (…) sehnt man sich eher nach hellen Farbtönen«. 24 Typische Krankenhäuser sind vom Farbspektrum her jedoch eher hell, monoton und fade. Das Glatte, das Kahle und das Fahle bestimmen dominant die Raumatmosphären von Kliniken, seien es die Pa-
19
Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne, Frankfurt/Main 1970, S. 209. 20 Plessner (1970), S. 209. 21 Plessner (1970), S. 213. 22 Jochen Bonz: Alltagsklänge – Einsätze einer Kulturanthropologie des Hörens, Wiesbaden 2015, S. 7. 23 Joaquim M. Fuster/Mark Bodner/James K. Kroger: »Cross Modal and Cross Temporal Association in Neurons of Frontal Cortex«, in: Nature 405(6784), 2000, S. 347–351, hier S. 349. 24 Jean-Gabriel Causse: Die unglaubliche Kraft der Farben, München 2014, S. 47.
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tientenzimmer, die Flure oder sonstige Räumlichkeiten. Der »Ausgleich« kann also nicht wirklich funktionieren. 2
Über die Aufgaben der Pflege und den Nomos des Pflegens
Als direkt personenbezogene Dienstleistung umfasst Pflege präventive, kurative, rehabilitative und kompensatorische Aufgaben. 25 Die Durchführung dieser ist dadurch charakterisiert, dass Produktion und Konsumtion zeitlich und räumlich zusammenfallen (uno-actu-Prinzip). Eine Vorab-Qualitätsprüfung ist also nicht möglich, was dazu führt, dass die Konsumenten (Pflegebedürftige) einen gewissen Vertrauensvorschuss geben müssen, wenn sie pflegerische Arbeit in Anspruch nehmen. 26 Das ist eine hohe Anforderung an den homo patiens! Der »Ort« der pflegerischen Arbeit ist zu großen Teilen der Körper der Pflegebedürftigen. Damit geht es aber nicht nur um konkrete Handlungen, sondern vor allem um Beziehungsgestaltung und leibliche Kommunikation. In Lebenssituationen der Unselbständigkeit, Hilfebedürftigkeit oder Abhängigkeit wird das Vermögen, ein Gespür für die Bedürfnisse der den Pflegenden Anvertrauten zu entwickeln, evident. Dieses Gespür verweist auf den Leib als nichtteilbare Einheit. 27 Nicht nur willentlich-emotionale und technisch-instrumentelle Aspekte 28 sind bedeutungsvoll, sondern die unwillkürlichen leib-
25
dip, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung (Hrsg.): Ansätze zur Pflegeprävention. Rahmenbedingungen und Analyse von Modellprojekten zur Vorbeugung von Pflegebedürftigkeit, Hannover 2002, S. 25. 26 Gerhard Naegele: »Die sozialen Dienste vor neuen Herausforderungen – dargestellt am Beispiel der sozialen Dienste für alte und/oder hilfsbedürftige Menschen«, in: Eckhart Schnabel/Frauke Schönberg (Hrsg.): Qualitätsentwicklung in der Versorgung Pflegebedürftiger, Münster 2003, S. 11–28, hier S. 12–14. 27 Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin 2011, S. 3 ff. 28 Monika Krohwinkel: »Fördernde Prozesspflege. Konzepte, Verfahren, Erkenntnisse«, in: Jürgen Osterbrink (Hrsg.): Erster internationaler Pflegetheoriekongress Nürnberg, Bern 1998, S. 134–154, hier S. 146.
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lichen Regungen werden gespürt, kommuniziert und wirken. 29 Der Leib ist der Phänomenbereich des affektiven Betroffenseins von Gefühlen und Regungen z. B. in Angst, Schmerz oder Schreck. Dieses Betroffensein, Bewegtsein oder auch Ergriffensein zielt nicht auf den Körper, wenngleich an ihm dieses Bewegtsein häufig zu sehen ist. 30 Der Leib, das eigenleibliche Spüren, ist das Proprium der Pflege und des Pflegens. 31 Deswegen brauchen Pflegende ein »Gespür« für ihre Arbeit. 32 Maio bezeichnet Pflege sogar als Spür-Beruf. 33 Dieser Aspekt findet jedoch noch keinen Niederschlag im Pflegeversicherungsgesetz, welches von einzelnen Tätigkeiten ausgeht, die mit Minutenwerten für die Abrechnung hinterlegt sind. 34 Wenn Menschen der Pflege bedürfen, sind sie in einer subjektiven Ausnahmesituation, die von den Pflegenden erfasst, begleitet, unterstützt, evaluiert und ständig angepasst werden muss, um die verlorengegangene Integrität mit sich selbst wieder herstellen 29
Charlotte Uzarewicz/Michael Uzarewicz: Das Weite suchen. Einführung in eine phänomenologische Anthropologie für Pflege, Stuttgart 2005, S. 72 f. 30 Hermann Schmitz: System der Philosophie. Band 2. Teil 1: Der Leib, Bonn 1998, S. 10. 31 Vgl. hierzu auch Fritz Böhle: »Erfahrungsgeleitete und leibliche Kommunikation und Kooperation in der Arbeitswelt«, in: Thomas Alkemeyer/Kristina Brümmer/Rea Kodalle/Thomas Pille (Hrsg.): Ordnung in Bewegung. Choreographie des Sozialen. Körper in Sport, Tanz, Arbeit und Bildung, Bielefeld 2009, S. 107–126, hier S. 122–123. Charlotte Uzarewicz: »Das Konzept der Leiblichkeit und seine Bedeutung für die Pflege«, in: Deutscher Verein für Pflegewissenschaft (Hrsg.): Das Originäre der Pflege entdecken. Pflege beschreiben, erfassen, begrenzen, Frankfurt/Main 2003, S. 13. 32 André Büssing/Jürgen Glaser: Interaktionsarbeit. »Konzept und Methode der Erfassung im Krankenhaus«, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 53 (25 NF), Heft 3, 1999, S. 164. Michael Brater/Sabine Weishaupt: »Altenpflege ermutigen, subjektivierend zu handeln. Ein Fortbildungselement im Haus Heilig Geist«, in: Dorit Sing/Ernst Kistler (Hrsg.): Lernfeld Altenpflege. Praxisprojekte zur Verbesserung der Dienstleistung an und mit alten Menschen, München 2003, S. 51. 33 Giovanni Maio: »Das Besondere der Pflege. Aus Sicht der Ethik und der Gesellschaft«, in: procare (4), 2016, S. 4. 34 Dazu zählen Grundpflege (z. B. Körperpflege wie Waschen und Ankleiden), Behandlungspflege (z. B. medizinische Assistenz wie Wundversorgung oder Medikamentengabe) und Anleitung, Beratung auch von Angehörigen (Patientenedukation).
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zu können. 35 Pflegerisches Handeln besteht also nicht nur aus objektiven Tatsachen, die konstellationistisch verbunden werden können, wie die Daten und Dokumente über einen Pflegebedürftigen suggerieren. Zentrales Phänomen in der Pflege ist die Nichtplanbarkeit – trotz aller Pflegeplanungen. Pflege findet immer im Modus der Unmittelbarkeit statt. 36 Pflegende müssen in die gemeinsame Situation eintauchen, um erfassen zu können, was ist und wie es dem Anderen zumute ist. Eine pflegerische Interaktionsbeziehung kann als gemeinsame, impressive, segmentierte, aktuelle und includierende Situation beschrieben werden, in die die jeweils persönlichen Situationen hineinreichen. 37 Bemerkenswert ist dabei die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Situationen, die sich überlagern. Hierbei gehören Grenzüberschreitungen und Tabuverletzungen zur Tagesordnung: Intimpflege oder der Umgang mit allen möglichen Ausscheidungen fremder Menschen. Pflegende suchen in diesen Situationen immer nach dem »richtigen« Maß von Nähe und Distanz, um Unzumutbares zumutbar zu machen, um mit solchen Phänomenen wie Ekel oder auch Scham irgendwie umgehen zu können. 38 Pflegerische Arbeit ist soziale Interaktion und leibliche Kommunikation gleichzeitig. Pflegende und zu Pflegende sehen sich, sprechen miteinander und berühren sich. Die Atmosphäre, der Blick, die Stimme, der Händedruck sind dabei Medien für Mitteilungen auf leiblicher Ebene. 39 Wenn eine Pflegende in ein Patientenzimmer kommt, kann sie die hier herrschende Atmosphäre sofort spüren (z. B. entspannt, traurig, fröhlich oder irgendwie geladen). Die Patienten hingegen spüren auch, ob es sich bei der Pflegenden um eine unsichere oder routinierte Person handelt, ob sie gut drauf, in Eile oder eher genervt ist. Diese leiblichen Botschaften haben eine viel größere Wirkung und weitreichende35
Maio (2016), S. 6–9. Maio (2016), S. 7, Büssing/Glaser (1999), Böhle (2009), S. 112 ff. 37 Zur Situationstheorie von Schmitz siehe Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg 2005, S. 24 f. 38 Maio (2016), S. 7, Uzarewicz/Uzarewicz (2005), S. 121 ff. 39 Jens Soentgen: Die verdeckte Wirklichkeit. Einführung in die Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz, Bonn 1998, S. 38. 36
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re Konsequenzen als das gesprochene Wort. 40 Der Ton macht eben die Musik! 3
Pflege(n) in klinische Atmosphären: Definition und These
Pflegerische Interaktionsbeziehungen zwischen Pflegenden und zu Pflegenden sind immer körper-/leiborientiert. Verrichtungen direkt am Körper (z. B. Ganzkörperwaschung), das Eindringen in andere Körper (Sondenernährung, Wundbehandlung) sowie Beratung, Erziehung, Lenkung von anderen, fremden Menschen (die meist älter sind als die Pflegenden) lassen eine eigentümliche Intimität in der pflegerischen Beziehung entstehen. Damit sind besondere atmosphärische Herausforderungen an Pflegearbeit verbunden. Diese werden nun mit Hilfe des Konzepts der Raumund Situationsatmosphären (Pfister 2013) in den Blick genommen, um mögliche Konsequenzen für Pflege als ästhetische Arbeit ableiten zu können. Mit dieser Differenzierung versucht Pfister in seinem Spacing Modell zwei Verständnisweisen von Raum zusammenzubringen: Das geometrisch-mathematische Raumverständnis, das struktur- und leiblos 41 ist, findet sich in der Raumatmosphäre wieder, die er auf das »dinghaft Stabile« bezieht, auf die Atmosphäre eines Raumes mit seinen Objekten; 42 auf der anderen Seite der spürbare, erlebbare, leibliche Raum, in dem er das »situativ einmalige« verortet, das »durch die Belebung eines Raumes durch Menschen entsteht« (die Situationsatmosphäre). 43 Das situativ einmalige beinhaltet die leibliche Verfasstheit eines jeden Einzelnen, die persönliche Situation, den Leib- und Gefühlsraum. 40
Schmitz hat mit dem Alphabet der Leiblichkeit ein Instrument entwickelt, mit dem wir die Art und Weise der leiblichen Wirkungen entschlüsseln können (vgl. Uzarewicz/Uzarewicz 2005, S. 90–97). 41 Charlotte Uzarewicz: Kopfkissenperspektiven. Fragmente zum Raumerleben in Krankenhäusern und Heimen, Freiburg 2016, S. 16 ff. 42 Dieter Pfister: Atmospheric Design. Zur Bedeutung von Atmosphäre und Design für eine sozial nachhaltige Raumgestaltung, Basel 2013, S. 84. 43 Pfister (2013), S. 84.
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Wenn Menschen in einer gemeinsamen Situation zusammenkommen, bildet sich ein übergreifender ad hoc Leib, der die Menschen durch leibliche Kommunikation verbindet. 44 Damit wird die Atmosphäre mit Lebendigem aufgeladen, wird lebendig und kommuniziert auch mit den Dingen in einem gegebenen Raum. Atmosphären beinhalten also einerseits tendenziell stabile Faktoren (dazu gehören sowohl die Materialitäten eines Zimmers ebenso wie leibliche Dispositionen der Menschen), andererseits tendenziell variable Faktoren (aktuelle, impressive Situationen etc.). Atmosphären in Kliniken sind von einem konstanten Charakter durchzogen (der in fast allen Kliniken zu finden ist), auf dem sich verschiedene wechselnde ad hoc-Atmosphären ausbreiten können. Dies ist zunächst »die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmendem und des Wahrgenommenen«. 45 Die Frage ist nun, welche Blaupause eine klinische Atmosphäre liefert, auf der sich das komplexe pflegerische Geschehen wie entfalten kann. Zunächst schlage ich als Definition vor, klinische Atmosphären als paradoxes Verhältnis zwischen ausladend-weitenden Raumatmosphären und ein- bzw. ausladend engenden Situationsatmosphären der Pflegeteams zu charakterisieren. Dabei überspannt die dominant epikritische Akustik sowohl die Raum- als auch die Situationsatmosphären. In Anlehnung an Julmis atmosphärische Idealtypen erläutere ich im Folgenden diese Definition. Eine ausladend-weitende Raumatmosphäre ist charakterisiert durch ein unlustvolles Erleben, eine langweilige, öde, sehnsüchtige, triste, befremdliche und bizarre Atmosphäre. Auf der sinnlichleiblichen Ebene wird der synästhetische Charakter deutlich erfahrbar: Das »Trübe, Fahle, Kühle, Graue, Schäbige, Matte, Cha44 »Eine Situation […] ist charakterisiert durch Ganzheit (d. h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, daß die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) nicht sämtlich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind.« (Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung, Freiburg 2005, S. 22). 45 Böhme, Gernot: Atmosphären. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt/Main 1995, S. 34.
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rakterlose und Fade« 46 ist visuell wahrnehmbar anhand der meist eher monochrom in weiß-grau gehaltenen Oberflächen; manchmal mit extremen Kontrasten: Plötzlich gibt es kräftig blaue Stühle in Wartebereichen oder rote Vorhänge. Die paradoxe Mischung aus Trägheit und Unruhe ist für diesen Typ klinischer Atmosphären charakteristisch. Das taktil-haptische sowie das olfaktorische Erleben spannt sich zwischen epikritischen Tendenzen (das glatte Metall der Betten, das Spitze und Scharfe der Spritzennadeln, Scheren oder der stechenden Gerüche von Desinfektionsmitteln oder Urin) und protopathischen Tendenzen (dumpf miefende Fäkalien) auf. Gerade auf olfaktorischer Ebene entstehen oft tiefgreifende leibliche Irritationen durch die besonderen Mischungen zwischen Aromatherapie und Exkrementengestank. Im akustischen Erleben herrscht extreme Engung durch epikritische Dominanz vor. Die dadurch erzeugte Unruhe geht in alle Richtungen, ohne aber ein Ziel zu haben und irgendwo anzukommen. Henning Hintze hat das als »operative Hektik« 47 bezeichnet, und es ist bekannt, dass Pflegende immer über zu wenig Zeit und zu viel Stress klagen, so dass sie ihren eigentlichen Aufgaben nicht nachkommen können; stattdessen hetzen sie meist über die Gänge. Julmi hat das mit dem Bild vom »Strampeln in zäh fließendem Honig« beschrieben. So ist es auch kein Wunder, dass das Thema »Burnout« in diesen atmosphärischen Zusammenhang gebracht wird. 48 Die Situationsatmophären der Pflegeteams können in Abhängigkeit zur Pflegearbeit als einladend-engende oder auslandend-engende Atmosphären beschrieben werden. Letztere ist charakterisiert durch das Unlustvolle, eine unangenehme Spannung, das Gefühl des Ausgeliefertseins, fehlende Rückzugsmöglichkeiten, Trauer, Stress, bleierne Schwere oder überdrehte Hektik und Lärm. Julmi zählt die Farben Rot und Schwarz dazu. 49 Rot ist das Blut (und einige Formen von Hautausschlag) und eine »Farbe 46 47 48 49
Julmi (2015), S. 216. Persönliches Gespräch am 22. 3. 2018. Julmi (2015), S. 217. Julmi (2015), S. 215.
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der Gefahr«. 50 Studien zeigen, dass Rot die Leistungsfähigkeit bremst. 51 Eine solche Atmosphäre findet sich in Pflegeteams, in denen die Mitglieder aufgrund ihrer persönlichen Situationen nicht zueinander passen, aber eng miteinander arbeiten müssen; hier herrschen oft Antipathie, Neid oder Missgunst (z. B. wenn eine Pflegende bei der Dienstplangestaltung immer bevorzugt wird, weil sie von der Stationsschwester protegiert wird). Wenn man in einem solchen Kontext arbeiten muss, sieht man schon ROT, bevor man zur Schicht geht! Eine solche Atmosphäre springt dann auch auf die Patientinnen über und hat Einfluss darauf, ob sie sich geborgen und aufgehoben fühlen oder eher nicht. Die einladend-engende Atmosphäre findet man bei Pflegeteams, »bei denen die Chemie stimmt«. Sie ist charakterisiert durch eine angenehme Nähe und Intimität; Interaktion und gemeinsames Handeln werden gefördert. Der synästhetische Charakter ist das Helle, Warme, Strahlende, Leuchtende. Diese Atmosphäre hat Aufforderungscharakter. Lärm wird zum Teil gar nicht als störend empfunden. In solchen Teams finden sich oft persönliche Freundschaften und gemeinsame private Unternehmungen – jenseits der Dienstpflichten. Patienten spüren das mit entsprechenden Auswirkungen auf das Wohlbefinden und den Vertrauensvorschuss, den sie leisten müssen. Idealtypisch stehen sich nun die weitende Tendenz der Raumatmosphäre und die engende Tendenz der Situationsatmosphäre gegenüber und bilden ein merkwürdiges Spannungsverhältnis, welches durch die pathischen Nötigungen der menschlichen Geräusche (Schreien, Stöhnen) verstärkt wird. Welche Macht haben nun diese Atmosphären über die Pflegenden und über das Pflegen? Pflegerische Interventionen bestehen darin, über den Körper in den Leibraum der Patienten regelmäßig und »ohne Weiteres« einzudringen. Niemand würde bei der Vorderfrau in der Schlange an der Kasse eines Supermarktes auf die Idee kommen, einen Fussel vom Mantel zu entfernen oder ihr die Locke aus der Stirn zu streichen. Man fasst fremde Körper nicht einfach so an! Patienten 50 51
Causse (2014), S. 48. Causse (2014), S. 50.
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sind nach einem Krankenhausaufenthalt (mehr oder weniger) leiblich derangiert und finden erst wieder zu Hause (in den gewohnten Umfriedungen) zu sich. Das drückt der Volksmund in dem Satz aus: »Man wird erst zu Hause wieder richtig gesund!« Daraus leite ich eine These ab: Klinische Atmosphären unterstützen das Eindringen in den Leib- und Gefühlsraum der Patientinnen. Die Sorge um Andere ist also eine bestimmte Form von Übergriffigkeit (im wahren Wortsinn), die im klinischen Kontext begünstigt wird. Die gleiche Tätigkeit fühlt sich in der häuslichen Pflege (ambulante Dienste) völlig anders an, weil in privaten Wohnungen die ausladend-weitende Raumatmosphäre selten zu finden ist; Wohnen hat tendenziell den Charakter einer einladend-weitenden Atmosphäre: im Wohnen möchte man verweilen, sich ausbreiten; Glück und Zufriedenheit wird mit Wohnen assoziiert; hier kann man entspannen und sich in seiner Privatsphäre gehen lassen, ohne das Gesicht zu verlieren. 52 Wenn es zur Ge-Wohn-heit wird, in den Leib- und Gefühlsraum fremder Menschen recht spontan einzudringen, entwickelt man eine gewisse »Kompetenz« für Grenzüberschreitungen. Über die Zeit der Ausbildung und der Berufsjahre hin implantiert sich hier etwas in die persönliche Situation der Pflegenden. Es ist ein bestimmtes Vermögen, das in den Aussagen von Dritten meist so formuliert wird: »Was, du bist Krankenschwester! – Toll!!! Also ich könnte das nicht!« – ohne »das« genau benennen zu können, was es ist bzw. ausmacht. Die dominant epikritischen Tendenzen (das Spitze, Scharfe, Schneidende) der klinischen Atmosphären mit ihrem indifferenten, aber spannungsreichen Charakter (Raumund Situationsatmosphären) fördern bzw. ermöglichen erst diesen »grenzüberschreitenden Kompetenzerwerb«.
52
Julmi (2015), S. 211.
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Abschließende Bemerkungen: Über das »Machen« von Atmosphären
Im philosophischen Kontext wird darüber gestritten, ob Atmosphären machbar sind oder ob sie schon immer da sind. Hermann Schmitz bezeichnet Atmosphären als nicht lokalisierbare Gefühlsmächte, die uns affektiv betroffen machen können. 53 Sie ergreifen die Menschen und umhüllen sie. Daher sind Atmosphären räumliche Träger von Stimmungen, die in leiblicher Anwesenheit bei Menschen und Dingen bzw. in Räumen erfahren werden. 54 Atmosphären sind aber nicht nur frei schwebend im Raum – so eine weitere Theorie –, sie werden auch von der jeweiligen Umgebung erzeugt. Das Konzept der Ekstasen der Dinge nach Gernot Böhme besagt, dass jedes Ding, jeder Gegenstand, über seine materielle Basis hinaus in den Raum hinein steht und wirkt bzw. diesen beeinflusst. 55 Ex stasis bedeutet »aus sich heraustreten«. Ein Krankenhausbett aus Metall wirkt anders als das Bett zu Hause aus Holz, weil die Materialien unterschiedliche Ekstasen haben. Das Zusammenwirken aller Ekstasen erzeugt die Atmosphäre eines Raumes oder auch der Zeit. Wie wir diese Atmosphären wahrnehmen und empfinden, ist von individuell-biografischen, sozio-kulturellen und historischen Faktoren abhängig. Deswegen sind Atmosphären zunächst die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen. Wenn Atmosphären erzeugt werden können, dann haben auch die Schaffensleistungen der Menschen daran Anteil. Jeder hat ein implizites Wissen darüber und es gibt viele Berufe, die damit befasst sind, Atmosphären zu befördern: Bühnenbildnerinnen, Dekorateure, Künstlerinnen, Kosmetiker, Architektinnen. Das ist ästhetische Arbeit. Dabei muss jedoch von einem monokausalen Verständnis von Atmosphärengestaltung abgesehen werden. Diese Rechnung geht nie auf, 53
Hermann Schmitz: System der Philosophie. Band 3, Teil 2, Der Gefühlsraum, Bonn 1998, S. 343. 54 Ziad Mahayni: »Einleitung. Zur Rolle der Kunst in der Neuen Ästhetik«, in: Ders. (Hrsg.): Neue Ästhetik. Das Atmosphärische und die Kunst, München 2002, S. 9–14. 55 Böhme (1995), S. 31 ff. und S. 155 ff.
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weil Atmosphären immer ambivalenten Charakter haben. Was ein Mensch als angenehme und entspannende Atmosphäre empfindet, kann für einen anderen genau das Gegenteil bedeuten. Patienten erleben die Atmosphären in Krankenhäusern anders als Pflegende. Wenn also von Atmosphärengestaltung die Rede ist, geht es immer darum, Möglichkeitsräume zu eröffnen. Dabei wird das Thema der Macht implizit oder auch explizit immer mit verhandelt, 56 z. B. die Ehrfurcht gebietende Atmosphäre einer Kathedrale oder die einschüchternde, kühle Atmosphäre eines Untersuchungszimmers. Pflege als ästhetische Arbeit beginnt dann, wenn diese Zusammenhänge als zentrale Bestandteile der Arbeit bewusst werden, wenn ein Begriffsapparat zur Verfügung steht, mit dem über diese Sachverhalte reflektiert werden kann, und wenn die Erkenntnisse der Reflexionen in die pflegerische Arbeit rück- und eingebunden werden können. Die Architektur eines Krankenhauses, die Verortung des Stationszimmers und seine Zutrittsmöglichkeiten, die Dienstkleidung, auch das Personal selbst in seiner Vielfalt trägt zu einer spezifischen Atmosphäre bei. Will man nun den paradoxen Charakter der klinischen Atmosphäre abmildern, um den Nomos des Pflegens lebendig werden zu lassen, kann einerseits an den Raumatmosphären angesetzt werden, andererseits an den Situationsatmosphären. Im Kontext der Raumgestaltung gibt es bereits viele Modellversuche, die letztlich auf die Themen Farben, Formen und Akustik fokussieren (Gerüche sind in diesem Kontext noch kein Thema). Vor allem durch Geräuschdämpfungssysteme kann der spannungsgeladene Charakter klinischer Atmosphären entladen werden, damit Pflege ihrem Auftrag auch gerecht werden und dem Nomos folgen kann. 57 Vielleicht erhalten dann die oben angesprochenen Grenzüberschreitungen auch einen anderen Charakter? Durch Farbgebung können Akzente gesetzt werden, die die ausladend-weitende Tendenz eindämmen. Das wird vielerorts schon 56
Böhme (1995), S. 39 ff. Jannicke Olhausen: »Lärm gegen Lärm«, in: Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören. Schriftenreihe Forum, Band 2, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1994, S. 175–182.
57
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ausprobiert. 58 Bei derartigen Gestaltungsversuchen gilt es, durch Abmildern der Spannungen Anhaltspunkte für eine einladendengende Raumatmosphäre zu schaffen. Dies würde dann mit der einladend-engenden Situationsatmosphäre korrespondieren. Um hier gestalterisch tätig zu werden, bedarf es der »atmosphärischen Führung« und daran angepasste Personalentwicklungskonzepte. 59 »Das Ziel der am Menschen ausgerichteten atmosphärischen Führung besteht in der Produktivitätssteigerung durch die Herstellung einer gemeinsamen, als positiv erlebten Atmosphäre, in der eine Entfaltung des einzelnen Menschen möglich wird, die für das Team und das Unternehmen insgesamt ein Gewinn bringt«. 60 In dieser Definition wird ein hoher Anspruch an Führungskräfte – oder besser Führungspersönlichkeiten – gestellt, der von grundlegenden win-win-Situationen ausgeht und die so genannten soft skills zu den hard skills umdefiniert: Gefordert wird eine Vorbildfunktion, die Präsenz und Ansprechbarkeit der Führungskräfte (statt formaler Regelungen), offene Kommunikationsstrukturen und die Vermittlung des Gefühls, als Mensch anerkannt und geschätzt zu werden. Dabei darf die bestehende Hierarchie nicht ins Wanken geraten – keine leichte Aufgabe! Personalentwicklung umfasst in diesem Sinne gleichermaßen die Ziele/Intentionen des Unternehmens, die der einzelnen Mitarbeiter/innen und die des jeweiligen Teams bzw. der Arbeitsgruppe. Wenn man morgens zur Arbeit geht und sich auf die Aufgaben freut und auch darauf, die Kollegen/innen wieder zu sehen, verbreitet man selbst eine einladend-engende Atmosphäre, die »Ansteckungscharakter« hat. Wenn die Führungspersönlichkeit mit dieser Ausstrahlung mitschwingt, wird diese Stimmung über kurz oder lang alle Mitarbeiter ergreifen. Schon 1991 hat R. Sprenger in seinem Managementklassiker »Mythos Motivation« darauf hingewiesen, dass es eine zentrale Aufgabe der Führungskräfte ist, die Motivation der 58
Claudia Schumm: Feng Shui im Krankenhaus. Architektur und Heilung, Räume für die Seele, Berlin 2004. 59 Christian Julmi & Guido Rappe: Atmosphärische Führung. Stimmungen wahrnehmen und gezielt beeinflussen, München 2018. 60 Julmi & Rappe (2018); S. XXII.
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Einzelnen, die er als »natürliche Ordnung der Dinge« ansieht, nicht durch »Motivierungsstrategien« zu zerstören. 61 Wenn es also gelingt, einerseits durch räumliche Gestaltung, andererseits durch atmosphärische Führung einladend-engende Atmosphären zu schaffen, käme das der vorne erwähnten Motivationslage von Pflegenden für diesen Beruf entgegen.
61
Reinhard K. Sprenger: Mythos Motivation. Wege aus einer Sackgasse, Frankfurt/ New York, 1. Aufl. 1991; hier verwendete 19. Aufl. 2010, S. 176.
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Atmosphären im medizinischen Umfeld
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Einführung
Wann immer wir eine Arzt-Praxis aufsuchen, begegnen wir dem Gestaltungswillen ihrer Inhaber und der von ihnen beauftragen Innenarchitekten. Die Ziele einer bewussten Gestaltung der Räume sind naheliegend, sie ergeben sich aus unserem Unbehagen, in der Rolle eines Problem-Trägers, der alleine nicht mehr weiterweiß – vulgo als Patient oder Patientin –, diese Räumlichkeiten zu betreten resp. betreten zu müssen. Entsprechende Firmen preisen ihre Inneneinrichtung dementsprechend als »warme Umgebung« an, die Vertrauen vermitteln und Angst mindern soll. 1 Gut gewählte Einrichtungen können noch mehr: »[d]ie stimmig fortgeführte Raumgestaltung unterstreicht die Kompetenz und die Persönlichkeit des Arztes und vermittelt dem Patienten ein Gefühl von Sicherheit«. 2 Es ist plausibel anzunehmen, dass die Persönlichkeit einer Ärztin und eines Arztes, ihr jeweiliges Fachgebiet (und ihre finanziellen Möglichkeiten) auch in der Praxiseinrichtung ihren Niederschlag finden; sonst wären Arztpraxen normiert. Der Eindruck, den eine ärztliche Praxis bei Patienten und Patientinnen hinterlässt, wird also nicht nur auf die (Innen-) Architektur zurückzuführen sein, sondern in schwer zu unterscheidender Art und Weise auch auf die Person der Praxisinhaberin. Daher sind für unser Anliegen Räume interessanter, die weni1
Beschreibung der Firma Wiemer Einrichtungen, http://www.wiemer-einrich tungen.de/arztpraxen/. Eingesehen am 12. 8. 2019. 2 Beschreibung der Firma Wiemer Einrichtungen, http://www.wiemer-einrich tungen.de/arztpraxen/hausarztpraxis-alstaette/. Eingesehen am 12. 8. 2019.
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ger von einer einzelnen Person geprägt sind, sondern ganz unterschiedlichen Personen als Arbeitsplatz dienen und dennoch sozusagen ›aus eigener Kraft‹ eine bestimmte Atmosphäre entfalten. An dieser Stelle sei auf den einleitenden Beitrag von Hermann Schmitz verwiesen, in dem der Begriff der Atmosphäre sensu Schmitz vorgestellt wird. 2
Über das Machen von Atmosphären durch die Architektur einer Klinik
Im Englischen hat sich der Begriff einer ›healing architecture‹ eingebürgert, bei dem zwischen den Verben to cure und to heal unterschieden wird. Während eine Behandlung im Sinne von to cure eine endgültige Heilung von einer Krankheit zum Ziel hat, kann sich eine ›heilsame‹ Auseinandersetzung mit einer Krankheit im Sinne von to heal unabhängig davon einstellen, ob die Krankheit weiter besteht oder nicht. Die typischen englisch-sprachigen Definitionen tragen zu einer genaueren Einordnung nicht bei, da sie Begriffe wie ›spirituell‹ und ›holistisch‹ oder ›Ganzheitlichkeit‹ anwenden, ohne sie je eindeutig definiert zu haben: »healing is a holistic, transformative process of repair and recovery in mind, body, and spirit resulting in positive change, finding meaning, and movement towards self-realization of wholeness, regardless of the presence or absence of disease«. 3 Für unsere Belange ausreichend ist das Aufgeben der positiven Erwartungen an Architektur als einer ›heilenden‹ Architektur im Sinne von to cure: jemanden von einer Krankheit heilen, hin zu einem Verständnis von Architektur, das einem Genesungsprozess förderlich sein kann. In Übersichtsarbeiten wird untersucht, inwieweit Einzelzimmer, Beleuchtung, Tageslicht, Blick in die Natur, Maßnahmen zur Reduzierung von Lärm-Immissionen etc. einen positiven Einfluss auf Infektionshäufigkeit, Länge des Kran3
Firth, K., Smith, K., Sakallaris, B. R., Bellanti, D. M., Crawford, C., & Avant, K. C. (2015): »Healing, a Concept Analysis«, in: Global Advances in Health and Medicine 4, 44–50. doi:10.7453/gahmj.2015.056
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kenhausaufenthaltes, Schlafqualität, Wahrung der Intimität der Patienten usw. haben. 4 Allen Literaturübersichten zum Thema ›heilsame Architektur‹ (healing architecture) ist gemeinsam, dass sie vor allem über Forschungen mit Patientengruppen berichten, die für längere Zeit (z. B. in Rehabilitationseinrichtungen oder in psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken) oder in kritischem Gesundheitszustand (z. B. unter künstlicher Beatmung auf einer Intensivstation) in Behandlung waren. 5 Das macht insofern Sinn, als davon auszugehen ist, dass es einer bestimmten Kontaktzeit bedarf, bis eine Raumatmosphäre gesundheitliche Auswirkungen hat. Davon unabhängig kann natürlich ein erster Eindruck als positives oder negatives Geschmacksurteil oder als Wahrnehmung von Wohl- oder Unwohlsein entstehen; nur wäre es etwas hoch gegriffen, diesem ersten Eindruck bereits Auswirkungen auf das Immunsystem oder die Stimmungslage zuschreiben zu wollen, den typischen Parametern, auf die langfristige günstige Auswirkungen zurückgeführt werden. Diese Zeitdimension ist insofern für das Thema relevant, als man sich fragen kann, ob die Architektur einer Rehabilitationsklinik den gleichen Ansprüchen genügen sollte wie die einer Akutklinik, in der Patienten und Patientinnen im Durchschnitt nach sieben Tagen wieder entlassen werden. In dieser Zeit durchlaufen sie ein zeit-intensives diagnostisches Programm, die Behandlung wird etabliert oder umgestellt, sie stehen vor der Aufgabe, pro Tag im Schnitt alleine auf der Visite innerhalb von knapp acht Minuten über 20 neue Informationen verarbeiten zu müssen, ganz zu schweigen von den Informa4
Ulrich, R. S., Zimring, C., Zhu, X., DuBose, J., Seo, H. B., Choi, Y. S., & Joseph, A. (2008), »A review of the research literature on evidence-based healthcare design«, in: Health Environments Research & Design Journal, 1, 61–125. 5 Jennifer DuBose, Lorissa MacAllister, Khatereh Hadi, and Bonnie Sakallaris, »Health Environments«, in: Research & Design Journal 2018, Bd. 11(1) 43–56; Oliver P. Fricke, Daniel Halswick, Alfred Längler, and David D. Martin: »Healing Architecture for Sick Kids Concepts of Environmental and Architectural Factors in Child and Adolescent Psychiatry, in: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2019), 47 (1), 27–33; Katja Becker: »Bedeutung der Architektur in der und für die Kinder- und Jugendpsychiatrie – Editorial«, in: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (2019), 47 (1), 5–8.
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tionen und Anregungen, die sie von Spezialisten, Pflegenden und Mitpatienten erhalten. 6 Es ist meines Erachtens völlig unklar und wäre interessant zu untersuchen, welche Form der (Innen-)Architektur Patienten und Patientinnen dabei unterstützen könnte, sich in diesem Überangebot von Stimuli nicht zu verlieren. Aus Sicht der Auftraggeber eines Klinikbaus für die Akutmedizin ließe sich wahrscheinlich mit gutem Grund argumentieren, dass eine Architektur, die effiziente Abläufe erleichtert, nicht nur im Sinne der Wirtschaftlichkeit einer sachmittel- und personalintensiven Institution, sondern auch im Interesse der Patienten und Patientinnen ist, da sie ihnen unnötige Wartezeiten ersparen. In der Universitäts-Kinderklinik beider Basel (sc. der beiden Halbkantone Basel Stadt und Basel-Landschaft; UKBB) stellte sich z. B. die Frage, ob den Pflegenden zugemutet werden darf, auf dem Weg von ihren Vorbereitungsräumen zu den Krankenzimmern längere Laufwege zu absolvieren. Letztlich wurden abgeknickte Verläufe der Flure und größere Distanzen in Kauf genommen, damit die Fenster aller Patienten-Zimmer dem Außenlicht zugewandt sind und damit die Gestalt der einzelnen Stationen kleinteiliger wird, so dass Kinder und Jugendliche eher das Gefühl haben können, auf ›ihrer Station‹ zu sein. Im Folgenden wird das Thema anhand von zwei Beispielen aus Einrichtungen, in denen Patienten mit Rückenmarks- und Hirnverletzungen behandelt werden, vertieft, zum einen das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil und zum anderen das REHAB in Basel. Bei den Ausführungen geht es um den Raum als Erlebensraum, in dem bestimmte Weisen des Sich-Findens bevorzugt auftreten, und nicht um einen umbauten Raum, der durch bestimmte technische Messgrößen (z. B. Lichteinstrahlung, Kubatur, Raumhöhe etc.) gekennzeichnet ist. Das spezielle Problem, das sich dem Schreibenden stellt, ist die Frage nach der Autorität eines Be6
Heidemarie Weber, Marcel Stöckli, Matthias Nübling, Wolf Axel Langewitz: »Communication during ward rounds in Internal Medicine: An analysis of patient-nurse-physician interactions using RIAS«, in: Patient Education and Counselling 2007; 67 (3), 343–8.
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obachters: spricht er oder sie nur für sich selbst, oder darf das Zeugnis eines Raumerlebens eine über die individuelle Person hinausreichende Geltung beanspruchen? Das Argument wird nicht einfacher dadurch, dass im Schmitz’schen Verständnis des Wahrnehmens von Atmosphären das Spüren am eigenen Leib zentral ist: Ich kann über die Wirkung einer Atmosphäre primär auf mich Aussagen treffen, indem ich den Regungen des eigenen Leibes Beachtung schenke. 7 Der Diskurs erinnert an das Privatsprachen-Argument, das bei Wittgenstein mit dem ›Käfer in der Schachtel‹Bild veranschaulicht wird. Wenn man Personen als primär voneinander isoliert ansieht, gilt tatsächlich: »Das Wesentliche am privaten Erlebnis ist eigentlich nicht, daß Jeder sein eigenes Exemplar besitzt, sondern daß keiner weiß, ob der Andere auch dies hat, oder etwas anderes«. 8 »Man stelle sich vor, eines jeden Bewußtseinsinnenwelt sei eine Schachtel, in der sich die eigenen Erlebnisse als ›etwas, das wir #Käfer# nennen‹, befänden. Niemand könne dabei das Erleben des Anderen direkt miterleben: ›Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist.‹ Dass verschiedene Subjekte ihr jeweils subjektives Erleben, z. B. ihren Schmerz, mit demselben Begriff bezeichneten, gewährleiste in diesem Fall nicht, daß auch auf dasselbe Erleben Bezug genommen werde: ›Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte.‹ In letzter Konsequenz sei der subjektive Erlebensinhalt gleichgültig für die Verwendung des beschreibenden Begriffs, ›durch dieses Ding in der Schachtel kann #gekürzt werden#; es hebt sich weg, was immer es ist‹. 9 Durch die Verortung des Subjektiven in einem unverbindlichen Schachtelraum wird die Empfindung selbst gewissermaßen belanglos für das Sprechen-über-sie, ›ein Nichts [täte] die gleichen Dienste‹ wie das innermonadisch-vereinzelte ›Etwas‹, über das sich ›nichts aussagen 7
Schmitz, Hermann: Der Leib, Berlin/Boston 2011, S. 89–92. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Band I, Frankfurt 1984. Zit. als [PU]: § 272. 9 PU § 293. 8
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läßt‹ 10 – jedenfalls nichts von Gültigkeit oder allgemeinem Interesse. Woher aber sollen die Maßstäbe vergleichender Rede kommen, wenn sich das phänomenale Erleben als gänzlich ungeeignet erweisen wollte?« 11 Schmitz hält diesem Postulat der Unmöglichkeit eines Sprechens über etwas aus persönlicher Perspektive – in unserem Beispiel über das Erleben der Wirkungen von Architektur – entgegen, dass es durchaus möglich sei, sich sprachlich über das Erlebte auszutauschen, denn die Allgemeinsprache, derer wir uns im Alltag bedienen, hält genügend Begriffe bereit, um sich über subjektives Erleben mit Anderen auszutauschen. 12 Gleichwohl beanspruchen die folgenden Überlegungen keine absolute Gleichgültigkeit, sie wurden allerdings mit den Studierenden in der o. g. Lehrveranstaltung und mit Mitarbeitenden und Patienten und Patientinnen, die beide Institutionen kennen, diskutiert und im Wesentlichen bestätigt. Bereits die Annäherung an die Klinikgebäude in Nottwil und Basel vermittelt einen sehr unterschiedlichen Eindruck: In Nottwil, am Schweizer Paraplegikerzentrum (SPZ), dominieren Stahl, Glas und unverputzter Klinker, was in seiner Aussage eher an die Architektur von Funktionsgebäuden, z. B. an einen Bahnhof oder den Eingang in eine überdachte Fußgängerzone erinnert; die Bodenflächen im Außenbereich sind großflächig mit Asphalt versiegelt. Beim REHAB fällt als Außenmaterial vor allem Holz auf, die Oberfläche ist kleinteiliger gestaltet, weniger monumental. Die Bodenflächen sind weitgehend naturbelassen resp. gärtnerisch/vegetabilisch gestaltet. Beim Eintritt in die Klinik empfängt einen im SPZ eine gewölbte Stahl-Glas-Konstruktion mit Rollstuhlrampen auf der linken Seite und offenen Galerien auf der rechten, die den Stationen 10
PU § 304. Eva Kreikenbaum: Grundzüge einer Phänomenologie und Ethik des Schmerzes, Promotionsschrift des Instituts für Philosophie der Universität Rostock, 2012, S. 31 ff. 12 Schmitz, Hermann: Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität, Bonn 1995, S. 406. 11
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Atmosphären im medizinischen Umfeld
Abbildung 1: Eingangsbereich des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) in Nottwil, LU 13
vorgelagert sind. Dieser Raum ist als Begegnungsraum für Patienten und Mitarbeiter konzipiert, wie ein langjähriger Patient sagte: »Das Tolle ist, dass da jeder sehen kann, wer kommt und geht. Man muss gar nicht lange suchen und findet gleich die Leute, die man gerad’ braucht«. 14 Ein entsprechendes zentrales großräumiges Forum fehlt am REHAB – es wirkt insgesamt ›intimer‹ als das SPZ. Gerade der Unterschied in der Weitläufigkeit der Räume und in der Bodenbeschaffenheit scheint mir beim Vergleich dieser Institutionen bedeutsam. Wenn man den Vorschlag aufgreift, sich einen Raum gehend resp. durch Eigenbewegung im Raum auf einer ganz bestimmten Oberfläche zu erschließen, 15 stellt sich die Frage, welche Wahrnehmungen eintreten (können), wenn die zu 13
Alle Fotos des SPZ wurden zur Verfügung gestellt von der Schweizer Paraplegiker-Stiftung Nottwil. 14 F. V. persönliche Mitteilung. 15 Fromm, Ludwig: »Überlegungen zum Gelebten Raum«, in Michael Großheim (Hrsg.): Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie, Freiburg/München 2008, S. 252.
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Abbildung 2: Eingangsbereich des REHAB in Basel, BS 16
schaffenden Oberflächen (z. B. glatt und asphaltiert oder naturbelassen im Außenbereich) Personen zur Verfügung gestellt werden, die sie nicht mehr durchschreiten, sondern mit einem Rollstuhl befahren müssen. Wenn Distanzerleben rein als durchmessene Strecke vorgestellt wird, wird unterstellt, dass eine Person im Rollstuhl Boden nur noch unter dem Aspekt seiner Befahrbarkeit wahrnimmt. Wenn dagegen das Distanz-Erleben einer Person auch über die Richtung des Blickes gedacht wird, der nach einer bestimmten Strecke an einer Struktur hängenbleibt, sich dann womöglich wieder von dieser Struktur löst (z. B. einer Unebenheit 16
Alle Fotos vom REHAB wurden von »Foto REHAB Basel« zur Verfügung gestellt.
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Atmosphären im medizinischen Umfeld
Abbildung 3: Eingangshalle des Schweizer Paraplegiker-Zentrums in Nottwil, LU
im Boden oder einer Nuancierung in der Farbgebung des Bodenbelages) und sich auf die nächste ›Wegmarke‹ heftet, dann ist Distanzerleben nicht vom motorischen Körperschema her abgeleitet, sondern vom leiblichen Richtungsraum. Unter dem Aspekt des Raumerlebens als ein Raum, der mehr oder weniger in die Weite sich öffnet, lassen sich die Schwimmbäder der beiden Institutionen vergleichen; bezeichnenderweise heißt nur eines dieser Wasserbecken »Schwimmhalle«, das andere heißt »Badhaus«. In der ›Schwimmhalle‹ vermitteln die von öffentlichen Schwimmbädern vertrauten Begrenzungsleinen der Bahnen (von roten Kugeln unterbrochene weiße Kugeln) ganz eindeutig und in kurzen Abständen messbare Distanz, in dem anderen bieten sich dem Blick weniger konkrete ›Anhalts‹punkte. Der Weiteraum wird also im eigentlichen Wortsinn durch Linien in einen Ortsraum umgewandelt. Im Ortsraum sind die Richtungen umkehrbar, man könnte den Linien entlang hin- und zurückschwimmen 335 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Wolf Langewitz
Abbildung 4: Schwimmhalle am SPZ in Nottwil, LU
und wüsste jeweils, bei welcher Marke man sich gerade befindet. Der Ortsraum der relativen Orte ist nur über die »Objekte, von denen gesagt wird, daß sie sich dort befinden« 17, zugänglich. Und eben diese Objekte sind in so konkreter Ausgestaltung im ›Badhaus‹ nicht zu finden. Ein weiteres Raum-Charakteristikum, das ein Unterscheidungsmerkmal liefert, ist das Überwiegen der Vertikalen im Vergleich zur Horizontalen: im Badhaus wird der Blick nach oben gelenkt, die zylindrischen Einschnitte in der schräg geneigten und schwarz gefärbten Deckenstruktur ziehen den Blick hinaus in den Himmel, ins Licht des Tages, während die flache und tiefer hängende weiße Decke der Schwimmhalle den Blick in die Horizontale, auf die zu bewältigende Strecke lenkt. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Idee der Architektin (Christine Binswanger von Herzog und De Meuron), das unregelmäßige Trapez der Deckenform mit einer virtuellen Kugel zu überwölben, von deren Oberfläche aus an verschiedenen Stellen gerade Linien konstruiert wurden, die sich an einem Punkt im Wasser, ungefähr in der Mitte des größeren Beckens, treffen. An den Stellen, an denen diese virtuellen Fluchtlinien die Dachkonstruktion durchschneiden, wurden Lichtschächte freigelassen. Konkret bedeutet dies, 17
Schmitz, Hermann: System der Philosophie III/1: Der leibliche Raum, Bonn 1988, S. 73, S. 88 ff.
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Atmosphären im medizinischen Umfeld
Abbildung 5: ›Badhaus‹ am REHAB in Basel, BS
dass jemand, der sich dort, ›in der Mitte des Wassers‹ befindet, gleichzeitig durch alle Lichtschächte hindurch ins Freie hinausschauen kann. Mit diesen Beschreibungen soll kein Werturteil abgegeben werden, etwa in dem Sinne, dass doch das eher der Kontemplation förderliche ›Badhaus‹ der die Aktivität stimulierenden Schwimmhalle vorzuziehen wäre. Es ist meines Erachtens unmöglich, diese Frage zu entscheiden, denn der Autor und die meisten Leser sind Fußgänger und so weit entfernt von der Situation eines Menschen, der nach einem Unfall plötzlich vom Bauch oder vom Hals abwärts das eigenleibliche Spüren verloren hat, dass man sich nicht ausmalen kann, was einem eher und in welcher Phase der Bewältigung helfen würde. Wie ein Betroffener schreibt: »Die aufgezwungene Lebensweise im Rollstuhl [nach einem Unfall 337 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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mit hoher Querschnittslähmung] hat unser Urvertrauen erschüttert … Angstgefühle verfolgen uns. Wir können uns kaum wehren, wir können nicht davonspringen, uns auch nicht beeilen«. 18 Vielleicht kann man aber – auch das bestätigt von betroffenen Patienten und Patientinnen – festhalten, dass das SPZ eher die Normalität des Rollstuhllebens betont und auf die prospektiven Anteile der persönlichen Situation setzt, nach dem Motto: »Kämpf ’ dich zurück ins Leben, wir helfen dir dabei!«. Das REHAB bietet vielleicht eher die Möglichkeit, sich zunächst einmal mit dem Verlust der Normalität auseinanderzusetzen, also mit dem, was war und nicht mehr ist. 3
Über das Gestalten von Atmosphären durch die Person (des Arztes/der Ärztin)
Wie oben bereits ausgeführt, lohnt es sich darüber nachzudenken, ob und inwieweit die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in einem Krankhaus der Akutversorgung, in dem die Architektur vor allem das möglichst effiziente Bearbeiten von Problemen erleichtern soll, durch ihre persönliche Präsenz ein Gegengewicht bilden können. 19 In den Ausführungen von Hermann Schmitz zum Themenkomplex Gefühle, Affekte, Atmosphären sind Personen als Verursacher von Atmosphären wenig präsent, 20 sie werden vor allem
18
Vischer, Fritz: Ansonsten munter – Einsichten eines Rollstuhlfahrers, Leck 2019, S. 73. 19 Die Studierenden hatten im Rahmen der Lehrveranstaltung auch das Klinikum in Aachen besichtigt und als Reparaturbetrieb und Maschinenraum beschrieben. 20 Schmitz argumentiert gegenüber Michael Hauskeller, dass man eine solche Position nur vertreten könne, wenn man sich fragt, ob »etwas Erfahrbares subjektiv oder objektiv sei«, womit man der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung schon aufgesessen sei. Schmitz, Hermann: Der Spielraum der Gegenwart, Bonn 1999, S. 295 f.
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Atmosphären im medizinischen Umfeld
als Betroffene von Gefühlen, die als ›randlos ergossene Atmosphäre‹ vorgestellt werden, erwähnt. 21 Gefühle breiten sich nach Schmitz randlos in einem Raum aus, der durch Flächen nicht unterteilt werden kann, also in einem Weiteraum. Personen können bei ausreichender Intensität und ausreichender Sensibilität Gefühle, die als Atmosphären einen Raum prägen, wahrnehmen. Nicht immer bedeutet Wahrnehmen von Gefühlen auch Betroffensein, denn es ist durchaus möglich, z. B. die Trauer in einem Raum zu registrieren, ohne sich ihr preiszugeben – der Pfarrer auf einer Abdankungsfeier wird in der Regel weniger traurig als die Angehörigen sein, durchaus aber registrieren, ob die Gemeinde in trauriger Verfassung des Verstorbenen gedenkt. Interessant für unsere Überlegungen, inwieweit »seelenlose Räume« durch eine einzelne Person mit Atmosphäre aufgeladen werden können, ist die Frage, aus welcher Quelle sich eine solche Aufladung oder Prägung speist. Wir haben an anderer Stelle ausgeführt, dass »sich dieser Ort am ehesten im Inneren der Person lokalisieren [lässt]«, 22 die z. B. aus ihren Erinnerungen schöpft und so mit einem Raum bestimmte Stimmungen assoziiert oder aber aus ihrer Fassung als Fachperson heraus (als Pflegende, als Ärztin) ein bestimmtes Charisma vermitteln kann, in dessen Dunstkreis sich Patienten und Patientinnen z. B. weniger von 21
Vgl. Schmitz, Hermann: System der Philosophie III/2: Der Gefühlsraum. Bonn 2005, S. 138–155. 22 Langewitz, Wolf und Langewitz, Helena: »Die Macht der Atmosphären – Die Beziehung zwischen Arzt und Patient«, in: Synthesis philosophica 33, 2 2018; in press; die Debatte um einen »inneren Raum« hat eine lange Tradition bei Schmitz, in erster Linie geprägt von der Ablehnung der Introjektion, die »die konsolidierten Innenwelten der Personen als Abfallgruben (Mülldeponien) zur Verfügung [stellt], in denen der Abfall abgeladen werden kann, der bei der Abschleifung der Außenwelt […] bis auf die privilegierten Merkmalklassen und die Atome oder Substanzen als deren Träger anfällt«. (Schmitz, Hermann: Adolf Hitler in der Geschichte, Bonn 1999, S. 34). – Das Bedürfnis des Menschen, »die Gefühle in gewisser Weise einzufangen, zu verwalten und an ihnen zu gestalten« wird immerhin anerkannt. »Wie das gelingen kann, ist allerdings schwer zu begreifen« (Schmitz, Hermann: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2007, S. 75).
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Wolf Langewitz
Angst bedrängt fühlen. Wie Schmitz ausführt, gehört zum Charisma zum einen das Element der einseitigen antagonistischen Einleibung, wobei in unseren Überlegungen zur Art der Prägung von Atmosphären durch Fachpersonen davon auszugehen ist, dass der Engepol bei der Fachperson liegt, und zum anderen die Bereitschaft des nicht-dominanten Partners, sich in der Aura des Charismas zu verlieren. 23 Dies wird umso wahrscheinlicher, je mehr die eigene Fassung als Person Gefahr läuft abzugleiten – schwere Erkrankungen, medizinische Notfallsituationen oder das Ertragen starker Schmerzen sind Lebensphasen oder Zustände, die die eigene Fassung auf die Probe stellen und das Anlehnen an eine andere, nicht betroffene Person attraktiv erscheinen lassen. Schmitz hat den Begriff der Fassung geprägt als das, was wir verlieren, wenn wir die Fassung verlieren. 24 Sie ist sozusagen die Außengrenze der Person, oder die Kontaktfläche in der Begegnung mit Anderen. 25 Im Rückgriff auf Schmitz selbst lassen sich also Formulierungen finden, die den Kampf gegen die Annahme privater Innenwelten weniger martialisch denken lassen, als Schmitz das bisweilen formuliert hat, z. B. 2005: »Die hier gemeinten Atmosphären müssten also in den privaten Innenwelten unterkommen, wo sie als Gefühle in der Seele der Introjektion willkommen wären […]. Aber tatsächlich werden sie nicht durch Introspektion in privaten Innenwelten gefunden, sondern in der Natur oder einer anderen Umgebung wahrgenommen«. 26 Immerhin lesen wir bei Schmitz 23
Schmitz, Hermann: »Charisma«, in Heinz Becker (Hrsg.), Zugang zu Menschen, Freiburg/München 2012, S. 100–109. 24 »In der Fassung identifiziert sich der Mensch mit etwas, das eindeutiger ist als er selbst. Dabei handelt es sich teils um die Berufs- und Familienrolle, mehr aber noch um das, was der Psychiater Jürg Zutt ›Innere Haltung‹ genannt hat.« (Schmitz, Hermann: Der Leib, Berlin 2011, S. 45 f.) 25 »Wenn man den anderen am eigenen Leibe spürt, wenn man sich von ihm eigentümlich berührt fühlt, dann ist es im Wesentlichen die eigene Fassung, an die er gerührt hat. Wer sich nicht so rühren lässt, wer seine Fassung starr festhält, sieht am andern vorbei. Wer sie schwingungsfähig hält und bereit ist, sie auch einmal aufs Spiel zu setzen, kann ihr über den, mit dem er zu tun hat, […] mehr entnehmen als durch bloße Beobachtung.« (Schmitz 2011, S. 46) 26 Schmitz, Hermann: »Über das Machen von Atmosphären«, 2005, S. 29.
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Atmosphären im medizinischen Umfeld
auch: »Damit zeichnet sich ein phänomenologisch haltbarer Sinn der Rede vom Inneren (in Wendungen wie ›Blick nach innen‹ usw.) ab: Nicht mehr ein Inneres im Sinne der Introjektion ist gemeint, sondern das von einer Umfriedung gestiftete Innere, in dem namentlich den Gefühlen trotz ihrer Abgründigkeit und uferlosen Ergossenheit mehr oder weniger eine Heimstatt angewiesen ist, die sie menschlichem Verfügen eher zugänglich macht. Solches Verfügen über Atmosphärisches bezeichne ich, sofern ihm durch eine Umfriedung ein Spielraum gewährt wird, als Wohnen im allgemeinsten Sinn. Ein Wohnen findet demnach statt, wenn Menschen in einem umfriedeten Bezirk dank der Umfriedung eine Chance haben und wahrnehmen, mit ergreifenden Atmosphären in der Weise vertraut zu werden, dass sie sich unter ihnen zurechtfinden und mehr oder weniger über sie verfügen«. 27 Wir werden diesen Gedanken weiter unten aufgreifen, wenn es um die Frage geht, inwieweit Architektur per se oder über das Charisma einer Person Macht über die Personen ausüben kann, die sich in architektonisch gestalteten Räumen aufhalten. Die Debatte um Begriffe der Innen- oder Außenwelt ist nicht zuletzt eine Debatte um Grenzen. Grenzen per se sind in der Neuen Phänomenologie nichts Ungewöhnliches, sie sind an verschiedenen Stellen anzutreffen. Ich erinnere an die Grenzziehung zwischen personaler Eigen- und Fremdwelt 28 oder ganz prominent an die Unterscheidung zwischen Leib und Körper. 29 Schmitz begründet seine Ablehnung einer Innenwelt u. a. mit dem Argument, dass sie vorgestellt wurde als Rückzugsort des sich emanzipierenden Ich aus einer Welt, in der mächtige ergreifende Regungen unkontrolliert herrschen. 30 Es geht nicht darum, die 27
Schmitz, Hermann: System der Philosophie III/4: Das Göttliche und der Raum, Bonn 1995, S. 213. 28 Schmitz, Hermann: Die Aufhebung der Gegenwart, Bonn 2005, S. 122; 129. 29 Vgl. die anwendungsbezogene Definition in Langewitz, Wolf: »Leib und Körper in der Psychotherapie. Die Perspektive der Neuen Phänomenologie«, in: Psychotherapie im Dialog (Nr. 1/2016), S. 16–22. 30 »Die Menschheit bedurfte der Introjektion im Kampf um personale Emanzipation vom Diktat der Regungen«. Mit diesem Satz fasst Schmitz seine Argumente gegen die Annahme einer Innenwelt zusammen (Schmitz 2005, S. 19). Genau
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Wolf Langewitz
Innenwelt als den Herrschaftsbereich der Vernunft oder des die Triebe kontrollierenden Ich der Psychoanalyse zu rehabilitieren. Vielmehr soll auf eine in der Neuen Phänomenologie vertraute und hier anwendbare Grenzziehung verwiesen werden, die konstitutiv ist für den Begriff der »Situation«: Wenn wir nämlich mit Schmitz die Situation als etwas in sich Geschlossenes und von der Umgebung Abgehobenes begreifen, ist die Möglichkeit einer Öffnung in die umgebende Welt hinein vorgezeichnet; 31 in unserem Beispiel wäre es ein Übertritt von Gefühlen aus der persönlichen Situation hinaus in die Welt der gemeinsamen Situation mit einer Patientin oder einem Patienten. Jürgen Hasse bringt einen weiteren interessanten Aspekt ein, nämlich den der unter Umständen diametral entgegengesetzten Bedürfnisse von Personen, die in einem Krankenhaus arbeiten, und Personen, die als Patienten vorübergehend und in einer Ausnahmesituation Linderung oder Heilung suchen. 32 Bei der Planung eines Krankenhauses gilt es also auch, einen Kompromiss zwischen den Bedürfnissen derer zu finden, die vorübergehend ihre Orientierung verloren haben und womöglich am Rande ihrer Fassung sind, und denen, die in ihre Arbeitsabläufe eingebettet, voll orientiert und von der professionellen Fassung geschient ihren Arbeitsalltag so gut wie möglich und so kräftesparend wie möglich gestalten wollen. So lässt sich sicher argumentieren, dass eine glatte Oberfläche wahrscheinlich einfacher sauber zu halten ist, dass sie aber auf der anderen Seite dem Auge weniger Orientierung bietet als eine Oberfläche, die z. B. durch die Maserung des Holzes (wie im REHAB Basel) oder durch die variable Einfärbung des Lehmputzes (wie im UKBB) vermittelt wird. Wenn in diese Argumentation noch die Zeitdimension einfließt, der zufolge ein Patient im Akutspital der Atmosphäre einer bestimmten darum geht es hier nicht, sondern um das Aufsuchen und Auffinden von »Regungsherden«, die das Subjekt nicht in der es umgebenden Welt vermutet, sondern in der eigenen Geschichte aufzufinden hofft. 31 Schmitz, Hermann: Höhlengänge. Über die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, Berlin 1997, S. 24 f. 32 Hasse, Jürgen: Die Aura des Einfachen – Mikrologien räumlichen Erlebens, Freiburg/München 2017, S. 40.
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Atmosphären im medizinischen Umfeld
Architektur für wenige Tage ausgesetzt ist, während im Spital Beschäftigte jahrelang den großen Teil ihres wachen Tages dort verbringen, wird deutlich, wie schwierig es ist, eine Spitalarchitektur zu schaffen, die möglichst vielen Bedürfnissen möglichst weit entgegenkommt. Wenn wir die Position des Patienten oder der Patientin nicht einfach nur verstehen als die Position dessen, der »patiens«, also ausharrend ist, sondern akzeptieren, dass auch für die Beziehung zwischen Fachperson und Patient gilt, was alle Formen der wechselseitigen Einleibung charakterisiert, nämlich das Potential, Enge- und Weitepol auszuwechseln, dann sollte auch daran erinnert werden, dass Patienten durchaus das Potential besitzen, die Atmosphäre eines Raumes auf ihre Art zu prägen. Diese Tatsache ist z. B. Hebammen oder Pflegenden und Ärztinnen und Ärzten wohlvertraut, die sich gerade in der Pädiatrie nicht auf die objektiven Tatsachen verlassen können (man kann nicht jedem Kleinkind Blut zu diagnostischen Zwecken abnehmen oder einen Ultraschall durchführen), sondern am eigenleiblichen Spüren sich Rechenschaft darüber abgeben müssen, ob ein Patient oder eine Gebärende ›in Not‹ ist und dieser Not durch die Prägung der Atmosphäre im Behandlungsraum Ausdruck verleiht. Das Vermögen, in einer Atmosphäre mit den Gefühlen so weit mitzugehen, dass sie am eigenleiblichen Spüren wahrnehmbar und in einem gewissen Umfange nachvollziehbar werden, ist vor allem dann fehleranfällig, wenn die eigene Lebensgeschichte nicht reflektiert wurde. Dann besteht die Gefahr, dass das Erleben eines Gegenübers Erinnerungskerne aus der eigenen Biographie der Erinnerung zugänglich macht und sie so wirkmächtig werden für das Erleben des Betroffenen. Dann reagiert die Fachperson auf eine Mischung aus eigenem und fremdem ›Material‹ und wird Mühe haben, die Situation adäquat einzuschätzen. In Bezug auf die Architektur lässt sich formulieren, dass eine Raumgestaltung, die der Fachperson eine möglichst wenig gestörte und aufreizende, die Aufmerksamkeit beanspruchende Umgebung anbietet, dazu beitragen kann, Atmosphären angemessen wahrzunehmen und sich im eigenen Verhalten entsprechend in diesen Atmosphären einzurichten. 343 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Wolf Langewitz
Genau das ist eine Leistung der Architektur, die Schmitz in seinen Überlegungen zum Wohnen in umfriedetem Raum darstellt. Wenn wir das Bedürfnis von Personen, sich in einer bestimmten Architektur aufhalten zu wollen, als ›Macht‹ dieser Architektur verstehen, und wenn wir weiter die Funktion des Umfriedens in gestalteten Räumen als eine Funktion ansehen, die es Personen erleichtert, sich im potentiell überwältigenden Konzert der Gefühle zurechtzufinden, dann müsste gerade in den Situationen, in denen mächtige Gefühle nach uns greifen, jede Form der Unterstützung beim Versuch der Explikation willkommen sein. Die gilt selbstverständlich für die Mitarbeitenden in Krankenhäusern, die oft mit einfachsten Mitteln versuchen, ihren Arbeitsplatz als ›mein Schreibtisch‹ zu kennzeichnen, z. B. dadurch, dass sie Zeichnungen und Fotos ihrer Kinder aufhängen, und es gilt erst recht für Patienten und Patientinnen, die sich zumindest in Westeuropa meist nicht schlicht fallen lassen wollen in die Aura einer charismatischen Fachperson, sondern im Sinne der gemeinsamen Entscheidungsfindung ihren Kopf aus dem Schlamassel heben wollen, um so kompetent wie möglich und in Distanz zu den eigenen Gefühlen kluge Entscheidungen zu treffen.
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Jan Sonntag
Therapeutische Atmosphären. Am Beispiel der Musiktherapie bei Demenzen
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Einleitung
Menschen mit Demenz und andere kognitiv eingeschränkte Personen sind in erhöhtem Maße sensibel für Atmosphärisches. Mangels Orientierung an Faktischem versuchen sie unwillkürlich, ihre Orientierung anhand von leiblich-affektiven Qualitäten zu erlangen. Insbesondere bei Krankenhauseinweisung oder Umzug in stationäre Pflege kommen vertraute, Sicherheit gebende und ästhetisch ansprechende Qualitäten häufig zu kurz. Hier werden atmosphärebezogene Ansätze wirksam, wie sie in der Musiktherapie entwickelt wurden. 1 Sie thematisieren sowohl die Gestaltung zwischenmenschlicher Kontakte als auch Maßnahmen zur Verbesserung auditiver Milieus in stationärer Pflege und Betreuung. Ausgehend von einem Praxisbeispiel werden in diesem Beitrag zunächst ausgewählte atmosphärentheoretische Aspekte beschrieben und die besondere Sensibilität Demenzbetroffener für Atmosphären begründet. Eine Schilderung häufig erlebter Atmosphären in Pflegeeinrichtungen mündet in die Einführung anwendungsbezogener Modelle, die durch das Atmosphärenkonzept der Musiktherapie bei Demenzen exemplifiziert werden. Hier geht es im Wesentlichen um Konzeption und Gestaltung Therapeutischer Atmosphären.
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Jan Sonntag: Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit, 2. Aufl., Frankfurt 2016; Aktuelle Zusammenfassung: Jan Sonntag: »Atmosphäre«, in: Hans-Helmut Decker-Voigt/Eckhard Weymann (Hrsg.): Lexikon Musiktherapie, Göttingen 2020 (im Druck).
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Jan Sonntag
Schließlich wird eine auf Atmosphäre bezogene Auffassung von Musik vorgestellt, in der Musik als Kunst in Zeit und Raum mit hoher leiblich-affektiver Wirksamkeit verstanden wird. Vor dem Hintergrund musiktherapeutischer Forschung wird damit eine Brücke in therapeutische Anwendung geschlagen und damit der hohe Praxisbezug phänomenologischer Theoreme bestätigt. 2
Die zwei Leben der Anneli
Seit mehr als fünf Jahren lebt Anneli Balkens 2 in einem Pflegeheim, weil sie infolge demenzieller Veränderungen Tag und Nacht auf Hilfe angewiesen ist. Sie findet sich in der Gegenwart nicht mehr zurecht, glaubt, in ihrem ursprünglichen Zuhause in Holstein zu leben, ruft nach ihrem vor mehreren Jahren verstorbenen Ehemann und zieht sich die Jacke über, um nach draußen zu gehen – zum Hühnerfüttern. Ihre Stimmung ist labil, schwankt zwischen verzweifeltem Klagen und irritierend unvermittelter Euphorie. Sie betritt die Zimmer anderer Heimbewohner.innen 3 und gerät dort nicht selten in ernsthafte Konflikte. Für die Pflegenden und die Betreuenden ist Annelis Verhalten eine große Herausforderung. Ärztlicherseits scheint die einzige Möglichkeit der Behandlung die Gabe sedierender Medikamente zu sein. Ihre Töchter, die Anneli regelmäßig besuchen, wirken hilflos. Sie können sich mit ihrer Mutter nicht mehr unterhalten und beschränken ihre kurzen Besuche darauf, bei ihr zu sitzen, ihr gut zuzureden und ihre Hand zu halten. Es gibt jedoch noch eine andere Geschichte. Anneli nimmt gemeinsam mit anderen demenzbetroffenen Heimbewohner.innen an der wöchentlich stattfindenden offenen Musiktherapiegruppe teil. Mit Abstand am schwersten erkrankt, ist sie dennoch diejenige, die bereits auf die ersten Töne aus der Gitarre des Musiktherapeuten mit großer Aufmerksamkeit reagiert. Sie hebt den Blick, richtet sich auf, lächelt und greift mit zarter Stimme die Töne auf. In lebendigen 2
Alle Namen von Menschen mit Demenz in diesem Beitrag sind erfunden. Den Herausforderungen gendersensibler Sprache begegne ich, indem ich entweder genderneutrale Begriffe wähle oder den Genderpoint verwende.
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Therapeutische Atmosphären
Vokalimprovisationen webt sich die Stimme des Therapeuten in ihre Tonfolgen. Anneli reckt die Arme in die Höhe und äußert helle Freude. Manchmal bricht sie in Tränen aus und zeigt tiefe Rührung. In der Musik erlebt sie ausdrucksstarken Dialog und pure Gegenwärtigkeit. Erklingt der letzte Akkord eines gemeinsam entwickelten Stückes, faltet sie die Hände und neigt sich unter Äußerungen des Dankes und der Freude zu Boden. Mit der Zeit verbinden sich die beiden Geschichten. Anneli erfährt durch weitere Menschen musikalische Kontaktangebote. Eine Praktikantin arbeitet individuell abgestimmt mit Liedern aus ihrer Lebensgeschichte. Alltagsbegleiter.innen erhalten Hinweise, wie sie ihren alltäglichen Umgang mit ihr »musikalisieren« können, so dass stimmige Kommunikation entstehen kann. Deutlich mit Gesten untermalte Ansprache, Bewusstsein für Sprachmelodie, Sprachdynamik und Sprachrhythmik ermöglichen ihr momentanes Wohlbefinden und Begegnungen jenseits zeichenhafter Bedeutung. Eine besondere Empfänglichkeit für Musik zeigen viele Menschen, die aufgrund von Demenzen ihre kognitiven Fähigkeiten nach und nach einbüßen. 4 Das hat zu spezifischen Konzepten und umfangreicher Forschung sowie einer weitreichenden Anerkennung musikalischer und musiktherapeutischer Angebote im Bereich Demenz geführt. Das Atmosphärenkonzept, 5 um das es hier gehen soll, steht im Zusammenhang interdisziplinärer Theorie- und Praxisansätze. 6 In Resonanz mit der Erfahrungswelt musiktherapeutischer Praxis bietet die Perspektive von Atmosphären einen möglichen Zugang zu den Phänomenen Demenz und
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Dorothea Muthesius/Jan Sonntag/Britta Warme/Martina Falk: Musik – Demenz – Begegnung. Musiktherapie für Menschen mit Demenz, 2. Aufl., Frankfurt 2019; Jörn-Henrik Jacobsen/Johannes Stelzer/Thomas Hans Fritz/Gael Chételat/ Renaud La Joie/Robert Turner: »Why musical memory can be preserved in advanced Alzheimer’s disease«, in: Brain 138/8, 1995, S. 2438–2450. 5 Sonntag (2016). 6 Thomas Wosch: »Aktueller Stand der Musiktherapie bei Alter und Demenz«, in: Thomas Wosch (Hrsg.): Musik und Alter in Therapie und Pflege. Grundlagen, Institutionen und Praxis der Musiktherapie im Alter und bei Demenz, Stuttgart 2011, S. 13–31.
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Jan Sonntag
Musik, erlaubt, sie miteinander in Beziehung zu setzen und sie in therapeutische Anwendungszusammenhänge zu stellen. 3
Theoretische Perspektive
Oben geschildertes Beispiel vermittelt einen Einblick in musiktherapeutische Praxis. In den folgenden Abschnitten werde ich die theoretische Perspektive des vorliegenden Beitrags umreißen. Namentlich werden gegenstandsrelevante Aspekte ästhetischer Atmosphärologie zusammengefasst und das Verständnis von Atmosphäre in Bezug auf Musiktherapie und Demenz dargestellt. Mit Böhme betrachte ich Atmosphäre als zentralen Begriff in einer als allgemeine Wahrnehmungslehre verstandenen Ästhetik, die auf »sinnlich-affektiver Teilhabe an den Dingen« gründet. 7 Der unmittelbare Bezug auf sinnliche Erfahrung stellt das Subjekt mit seiner Leiblichkeit in den Mittelpunkt. Wichtige Anregungen erhält Böhme deshalb aus dem umfangreichen philosophischen Werk von Schmitz, dem seine Theorie vor allem die Berücksichtigung des Leibes als Zentrum menschlichen Erlebens verdankt. Böhme geht von einem Grundbedürfnis nach sinnlichem Erleben aus, das den Menschen in einen intensiven Dialog mit seiner Umwelt bringt und dazu führt, dass er sie und sich in ihr erleben kann. 8 Die von Böhme so genannte Neue Ästhetik beschäftigt sich mit der Herstellung und Wahrnehmung von Atmosphären. Wahrnehmung wird dabei im unverkürzten Sinne verstanden als »die Erfahrung der Präsenz von Menschen, Gegenständen und Umgebungen«. 9 Mit Präsenz sind sinnlich wahrnehmbare Qualitäten gemeint, nicht Gegenständlichkeit oder symbolische Bedeutung. Atmosphäre ist eine subjektive Erlebnisqualität mit einem hohen Potenzial an intersubjektiver Übereinstimmung, da sie sozial und von äußeren Umgebungen vermittelt wird. 7 8 9
Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt 1995, S. 51. Böhme (1995), S. 15. Böhme (1995), S. 25.
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Therapeutische Atmosphären
Der Quasi-Objektivität, die Atmosphären im Alltagsverständnis zugeschrieben wird, indem etwa gesagt wird, ein Raum habe eine bestimmte Atmosphäre, begegnet Böhme mit der Auffassung von Atmosphäre als Zwischenphänomen. Demnach haben Atmosphären »[…] mit der Beziehung von Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden zu tun. Dieses Und, dieses zwischen beidem, dasjenige, wodurch Umgebungsqualitäten und Befinden aufeinander bezogen sind, das sind die Atmosphären«. 10 Eine solche Auffassung von Atmosphäre, die sie gleichsam als Zusammenspiel von Umgebung und wahrnehmendem Subjekt erscheinen lässt, hat eine hohe Relevanz für die Begründung einer künstlerisch-therapeutischen Praxis, die sich leiblich-affektiv wirksamer Medien wie der Musik bedient. Atmosphären verstehe ich als spürgewisse Momente des Nichtwissens, in der ontogenetisch früh entstandene Wahrnehmungskompetenzen wie die amodale Wahrnehmung zum Tragen kommen. 11 Sie wird erlebt als ein alle Sinneseindrücke verschmelzendes gesamtsinnliches Gespür, das Atmosphären begriffsfern, aber leiblich eindrücklich vermittelt. Mit dieser Spürgewissheit äußert sich eine schwer demenzbetroffene Frau, als sie sagt: »Es ist da, es ist da, es ist da!«, ohne benennen zu können, was »es« ist. Indem im Erleben von Atmosphären basale leibliche Qualitäten angesprochen sind, führt es in vorgestaltliche, präverbale Erlebnisformen hinein. 12 Atmosphären werden somit besonders bedeutsam dort, wo des Menschen kognitive Fähigkeiten entweder noch nicht (beim kleinen Kind), nicht mehr (z. B. bei Demenzen) oder temporär nicht (z. B. bei reversiblen Hirnschädigungen) voll intakt sind. Hier setzt die Musiktherapie an, die ihre Wirksamkeit unter anderem mit der Ansprache dieser früh entwickelten Erlebensformen begründet.
10
Böhme (1995), S. 22 f. Daniel N. Stern: The Interpersonal World of the Infant. A View from Psychoanalysis and Developmental Psychology, New York 1985. 12 Eckhard Weymann: »Atmosphäre. Ein Grundbegriff für die Musiktherapie«, in: Musiktherapeutische Umschau 26/3, 2005, S. 236–249. 11
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Jan Sonntag
Bemerkenswert ist der existentielle Charakter von Atmosphären, die in Polaritäten wie beherbergend-bedrohend, angenehmunangenehm, warm-kalt oder freundlich-feindlich erlebt werden. Mit Blick auf ihr therapeutisches Potenzial spreche ich von malignen, schädlichen und benignen, wohltuenden Atmosphären und fasse weiter unten therapeutische Angebote als gekonnte und reflektierte »Einladung« benigner Atmosphären auf. 4
Atmosphärensensibilität Demenzbetroffener
Demenz kann als eine Form zu altern verstanden werden, die den Betroffenen bei abnehmenden kognitiven Fähigkeiten zunehmend sensibel für Atmosphären werden lässt. Dermaßen atmosphärensensibel werden die Betroffenen besonders vulnerabel in Bezug auf maligne Atmosphären und gleichzeitig empfänglich für benigne Atmosphären. Sie bewahren ihren Sinn für sinnlich Berührendes. So schreibt die ehemalige Bundesfamilienministerin von der Leyen zutreffend: »Worte schwinden, die Namen, Orte und Zusammenhänge geraten in Vergessenheit. […] Den Vogel, der singt, kann der früher so kundige Ornithologe schon lange nicht mehr benennen, aber dass es um ihn herum zwitschert, lässt ihn gleichwohl lächeln«. 13 Die gesteigerte Atmosphärensensibilität Demenzbetroffener liegt zum einen in den schwindenden Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Umweltgestaltung begründet. Menschen mit Demenz sind nicht mehr uneingeschränkt in der Lage, ihren Lebensraum so zu gestalten, dass er ihren Bedürfnissen entspricht. Das betrifft auch die sinnlich vermittelten Bereiche wie Temperatur, visueller und auditiver Gestaltung. So wissen sie z. B. nicht, wie sie einer unangenehm empfundenen Umgebung atmosphärisch wohltuendes wie eine passende Musik hinzufügen (oder eine unpassende abstellen) können.
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Ursula von der Leyen: »Vom Glück, die Vögel zwitschern zu hören«, in: Die Zeit 12, 2009, S. 15.
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Therapeutische Atmosphären
Ein zweiter Grund ist das nachlassende Vermögen, sich kognitiv von atmosphärischen Wirkungen zu distanzieren. Erfasst eine Betroffene etwa eine vorübergehende atmosphärische Kühle, so ist sie unter Umständen nicht in der Lage zu denken: »Das geht vorbei, und danach wird es wieder warm«. Durch eine solche kognitive Distanzierung wäre sie in der Lage, in der Situation trotz leiblich erlebtem Unwohlsein zu verweilen, sie auszuhalten. Stattdessen regt sich bei ihr beispielsweise eher der körperlich ausgelebte Drang, der existenziell unangenehmen Situation zu entfliehen, eine Ursache sogenannter Weglauftendenzen. Schließlich führt die demenzübliche Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses dazu, dass Situationen im Takt weniger Minuten immer wieder neu erlebt werden. So wird auch der Einfluss der Atmosphäre immer wieder neu erlebt. Die betroffene Person befindet sich gleichsam in einer andauernden Übergangssituation, die sie beständig in Atmosphärewirkungen hineintaucht. Die Konzentration auf leiblich gespürtes Befinden im Raum macht Menschen mit Demenz zwar abhängig von der sorgenden Zuwendung begleitender Personen, ermöglicht ihnen aber auch das Wiederentdecken basaler menschlicher Lebens- und Erlebensweisen, die bei Menschen ohne Demenz in der Regel von kognitiven Vorgängen überlagert werden. Mit dieser Auffassung geht ein Perspektivwechsel einher: Ausgehend vom Leben und Erleben der Betroffenen im gegebenen Kontext taucht gleichsam ein verändertes Bild demenzieller Daseinsbedingungen auf, das im Kern ressourcen- und an sinnlicher Wahrnehmung orientiert ist. Aus atmosphärischer Sicht wird z. B. die veränderte Sprache vieler Demenzbetroffener nicht pathologisch (als Aphasie, Apraxie etc.), sondern ästhetisch betrachtet und entsprechend beantwortet. Hierzu ein Beispiel aus der Praxis der Musiktherapie in stationärer Betreuung von Menschen mit Demenz: Herr Meinhart ist nicht ansprechbar. Bei meiner Begrüßung in der Gruppe reagiert er mit keinem Wort, wirkt verschlossen und starr. Ich begrüße andere Anwesende und beginne mit der musiktherapeutischen Arbeit. Stimmungen im Raum aufnehmend und beantwortend, spiele ich Musik und singe Lieder. Irgendwann im Verlauf der Gruppenstunde bemerke ich, wie Herr Meinhart sich in seinem Stuhl 351 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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aufgerichtet und den Blick auf mich gerichtet hat. Wie aus heiterem Himmel ruft er plötzlich das Wort »Sonnenstraße«. Ich wende mich ihm zu, versuche durch Fragen wie »Ist es nicht heute sonnig?!«, »Wissen Sie, dass ich Sonntag heiße?« und »Wohnen Sie dort?« die Bedeutungsumgebung des Wortes zu erkunden – ohne Erfolg. Doch ruft er das Wort »Sonnenstraße« noch einige Male und wirkt dabei freudig, strahlend. Es wiederholend, greife ich Ton- und Affektlage auf und schaue ihn dabei an. Herr Meinhart wirkt begeistert, so dass wir im Folgenden, andere Bewohner mit unserer Freude ansteckend, dieses einzige Wort in verschiedenen Ausdrucksweisen zelebrieren wie ein Fest. Diese Szene zeigt, wie unter dem Einfluss der Musik bei dem Bewohner Erstarrtes wieder in Bewegung kommt, er sich aus einem reglosen, resonanzarmen Zustand befreit und schließlich »wie aus heiterem Himmel« am Geschehen teilhaben kann. Die persönliche Bedeutung des Wortes »Sonnenstraße« bleibt im Verborgenen, und es könnte ein ausnahmslos defizitäres Bild der Person entstehen, wenn ihr Wert allein an ihrer Fähigkeit, sich sprachlich zu artikulieren, gemessen würde. In der Tat sind viele Begleiter von Menschen mit Demenz hilflos und überfordert, wenn Versuche verbaler Interaktion scheitern. Die Möglichkeit, ein einziges Wort als affektiv-sinnliche Gestalt aufzugreifen, fortzuführen und zu verwandeln, ist ein Hinweis darauf, wie atmosphärengeleitetes Vorgehen einen Erlebnisraum erzeugen kann, in dem auf ästhetischer Ebene Sinnzusammenhänge entstehen können, ohne dass Verlorenes als Verlust erlebt wird. 5
Maligne Atmosphären in stationärer Altenpflege
Atmosphären entstehen in der Regel unabhängig von gezielter Einflussnahme im Verborgenen der subtil wirkenden Gesamtheit von Lebensäußerungen in Verbindung mit der unbelebten Umgebung. Sie haben als solches weder therapeutischen Wert, noch werden sie in therapeutischer Intention erzeugt. Infolge der hohen Komplexität und Kontingenz ihrer Entstehungszusammenhänge sowie dem hohen Grad an Subjektivität können Atmosphären als 352 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Therapeutische Atmosphären
unverfügbar gelten. Mit Rosa läge in dieser Unverfügbarkeit sogar ein wichtiger Grund, die Welt nicht vollends zum Instrument des Menschen werden zu lassen. 14 Das ruft zu Vorsicht und Bescheidenheit im Umgang mit Atmosphären auf, wobei freilich nicht von der Hand zu weisen ist, dass ganze Berufsgruppen sich professionell mit der Beeinflussung von Atmosphären befassen: Designer, Komponisten, Architekten und ja, auch Therapeuten. Dem pathischen Grundzug von Atmosphären tritt hier ein aktiv gestaltendes Moment zur Seite, das gleichermaßen handlungsethische wie ästhetische Fragen aufwirft. Wird dem Atmosphärischen keine Beachtung geschenkt, entfalten sie sich gleichsam wildwüchsig. Das kann unter günstigen Bedingungen zu wohltuenden Atmosphären führen. Unter ungünstigen Bedingungen kann die Ignoranz dieser elementaren Erlebnisdimension schädliche, ungesunde und inhumane Auswirkungen haben. Als Pionier eines personenorientierten Umgangs mit Demenz bezeichnet der Sozialpsychologe Kitwood Merkmale einer Pflegekultur, die das Personsein von Menschen mit Demenz missachtet als »maligne, bösartige Sozialpsychologie«. 15 Demgemäß sind die sozialen, psychischen und institutionellen Dispositionen von Pflegeheimen »für sich genommen bereits völlig ausreichend, um Menschen dement zu machen«. 16 Verhaltensweisen, die das Personsein schädigen (personal detractions), können sich regelrecht zu malignen Atmosphären aufsummieren und lebensfeindliche Milieus erzeugen, denen kaum zu entrinnen ist: »Wo schwerstpflegebedürftige Menschen, herausgerissen aus gewachsenen, altersdurchmischten Lebenswelten, zusammengeballt und oft unfreiwillig leben müssen, entstehen toxische Klimata, denen sich niemand entziehen kann. So sind Bewohner und Mitarbeiter ganzer Stationen oft ergriffen von Leiden, depressiver Lähmung, nervöser Unruhe oder explosiver Spannung und Aggression«. 17 14
Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 2018. Tom Kitwood: Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen, Bern 2000, S. 73. 16 Kitwood (2000), S. 73. 17 Margarete Schnaufer: »Stimmungen. Arbeit mit Atmosphären in der integrativen Musiktherapie«, in: Lotti Müller/Hilarion Petzold (Hrsg.): Musiktherapie in 15
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Jan Sonntag
Eine psychologische Ursache für die Entstehung maligner Atmosphären vermute ich in einer aus der Kollusion aller Beteiligten resultierenden institutionellen Abwehr, die letzten Endes nichts Geringeres ist als eine Abwehrdynamik angesichts des nahenden Todes der Pflegeheimbewohner.innen. Koch-Straube bezeichnet die resonanz- und beziehungsarme Atmosphäre stationärer Einrichtungen, in der die übermächtige Thematik von Sterben und Tod weitgehend ausgeklammert wird, als »Wartehalle zum Tod«. 18 Begleiter.innen schwer dementer Menschen verfallen in dieser Atmosphäre häufig entweder in den Modus übersteigerten Handelns oder sie erachten alles Handeln als sinnlos, was ich in dem polaren Verhältnis von Nihilismus und Aktionismus zusammenfasse. Im musiktherapeutischen Kontext zeigt sich Nihilismus etwa in Geringschätzung der eigenen Arbeit, Inkompetenzgefühlen und depressiver Erlahmung im Berufsalltag. Als Ausdruck von Aktionismus hingegen kann eine zu starke Übernahme der Handlungsinitiative etwa durch pausenloses Anstimmen von Liedern angesehen werden. Das Dasein zum Tode betagter Menschen mit Demenz bedarf spezifischer Konzepte und feinfühliger Aufmerksamkeit, um nicht zur »Wartehalle« zu degenerieren, in der die Sinn und Bedeutung raubende Kraft institutionalisierter Todesnähe in zu viel oder zu wenig Aktivität führt. Hier kommt die Beachtung und Gestaltung von Atmosphären ins Spiel. 6
Therapeutische Atmosphären
In der reflektierten und qualifizierten Ausrichtung auf Atmosphärisches liegt das Potenzial, das Dasein zum Tode nicht malignen Dynamiken anheimzugeben, sondern gleichsam als Schwellenraum zu kultivieren, der den sich wandelnden Bedürfnissen und der klinischen Arbeit. Integrative Modelle und Methoden, Stuttgart 1995, S. 91– 112 (S. 96). 18 Ursula Koch-Straube: Fremde Welt Pflegeheim. Eine ethnologische Studie, Bern 1997, S. 80.
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Therapeutische Atmosphären
Erlebniswelten der Betroffenen gerecht wird. In der Idee des Schwellenraums kommt der amorphe Wesenszug von Atmosphären zum Tragen, der sowohl in Richtung der Gestaltbildung als auch der Gestaltauflösung weist und die Dialektik von Atmosphären zwischen Erscheinen und Vergehen ausmacht. Angesichts der Unabwendbarkeit des Todes und der Präsenz unheilbarer, chronischer und fortschreitender Erkrankungen formuliere ich als Handlungskonzept für die Kultivierung des Schwellenraums die Ausbildung Therapeutischer Atmosphären. 19 Diesen Begriff präge ich mit Blick auf benigne Atmosphären, insofern ihr Entstehen durch gekonntes und reflektiertes Handeln befördert wird. Ich definiere Therapeutische Atmosphären als resonanzgebenden Raum, der ermöglicht, sich ohne Handlungsund emotionalen Druck in spürbarer Anwesenheit anderer selbst zu erleben. Therapeutische Atmosphären als Schwellenraum ermöglichen Momente des Auftauchens aus demenzieller Versunkenheit ebenso wie den Rückzug in demenzielle Selbst- und Weltferne. 20 Sie stellen die Bedingungen für Lebensqualität und Bezogenheit auf demenzbedingt postreflexivem Niveau her und dienen der Gestaltung einer dynamischen, haltgebenden und entlasteten Umwelt. Wo das versiegende Vermögen, sich verbal zu artikulieren, häufig Beziehungsabbrüche und sozialen Tod zur Folge hat, spannen Therapeutische Atmosphären einen Raum auf, in dem sich Leben und Zusammenleben weitgehend unabhängig von kognitiven Kompetenzen wie Sprache oder Gedächtnis vollziehen kann. Die Therapeutische Atmosphäre im demenziellen Da- und Miteinandersein zeichnet sich durch große Offenheit und Vieldeutigkeit aus, die aber gleichzeitig nicht beliebig ist, sondern Anknüpfungspunkte bietet. In dieser Doppelfigur zwingt sie nicht in eine Ordnung, sondern gibt Strukturangebote, die Einladungscharakter haben. Verwechslungen dürfen stattfinden, Ungenau19
Sonntag (2016), S. 177 ff. Jan Sonntag/Martina Brixel/Stefanie Trikojat-Klein: »Momente des Auftauchens. Musiktherapeutische Reflexionen zu Apathie bei Menschen mit Demenz«, in: Musiktherapeutische Umschau 29/4, 2008, S. 325–336.
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igkeiten werden nicht bewertet, schroffe Gegensätze ausgeglichen und Lücken des Unvermittelten geschlossen. Atmosphäre wird als Umraum erfahrbar, der flexibel auf die Bedürfnisse und Lebenslagen von Menschen mit Demenz abgestimmt ist. Dadurch wirkt sie inklusiv, vermag Menschen unterschiedlicher kognitiver Niveaus einzubeziehen und Unterschiede zu integrieren: Irrationales, Unerwartetes, starke Gefühle, seichtes Dahinplätschern, bizarre Verhaltensweisen und ganz normales Miteinander. Einen solchermaßen sorglos geteilten Raum beschreibt folgende Szene aus der stationären Betreuung Demenzbetroffener, in der die Anwesenden ein Miteinander ohne Handlungs- oder Interaktionsdruck erleben: Vor dem Kaffeetrinken. Frau Selling liegt rittlings mit herabbaumelnden Füßen auf dem Wasserbett, das in einem Ruheraum steht, der neben dem Tagesraum für jeden jederzeit zugänglich ist. Frau Balke sitzt an der Bettkante und plaudert in unverständlichen Worten. Ich lehne mich an den Bettaufbau und klimpere auf der Gitarre. Herr Runde betritt den Raum, legt sich seitlich aufs Bett, Frau Selling zugewandt. Frau Selling summt mit, wann immer mein Spiel ein Lied andeutet, das sie kennt. Sie faltet die Hände auf dem Bauch und gähnt: »Ach Kinder, morgen geht der Ernst des Lebens wieder los. Da muss ich wieder arbeiten.« Die Tätigkeit des Musiktherapeuten besteht in diesem Beispiel in atmosphärisch moderierendem Spiel, das Anknüpfung zulässt, jedoch nicht in (Inter-)Aktivität zwingt. Wie kein anderes Medium weist Musik atmosphärische Qualitäten auf, was ihre besondere Bedeutung für diejenigen erklärt, die mit gesteigerter Atmosphärensensibilität extrem empfänglich für leiblich-affektiv Ergreifendes werden. Der Neurologe Oliver Sacks behauptet, für Demenzbetroffene sei »Musik kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit und besitzt die einzigartige Macht, ihr Selbst für sie und für andere wiederherzustellen – zumindest eine Zeitlang«. 21 Es folgt nun die Einführung in ein atmosphärebezogenes Musik-
21
Oliver Sacks: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn, Reinbek 2008, S. 377.
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Therapeutische Atmosphären
verständnis, vor deren Hintergrund anschließend wieder in die Demension therapeutischer Praxis übergegangen wird. 7
Musik als Atmosphäre
Eine zentrale Doppelfigur der Musik erfasst Schmitz, wenn er sie gleichermaßen zeitlich wie räumlich versteht: »Die Musik ist eine Zeitkunst, indem sie Dauer und Vergänglichkeit […] in eigenartigen Gestalten integrierend ausformt und dem Hören darstellt. Ebenso ist sie eine Raumkunst, die sich in der intensiven Weite des flächenlosen Schallraums dynamisch entfaltet und darin ergossene Atmosphären des Gefühls präsentiert«. 22 Da der Aspekt des Räumlichen in herkömmlichen Konzepten aus der Musikwissenschaft eine untergeordnete Rolle spielt, er aber gleichzeitig Musik dem Atmosphärischen besonders nahebringt, stelle ich ihn hier prioritär dar. Musik umgibt den Menschen wie Raum und hat durch synästhetische Charaktere und Bewegungssuggestionen einen starken Bezug zu leiblichen Regungen. 23 In dieser Hinsicht ist Musik Atmosphären zum Verwechseln ähnlich, ja wird nachgerade zur »Heimstätte« ihrer Präsenz. 24 Aus musiktherapeutischer Sicht äußert sich das so: »Das Umhülltsein, das Drinnen-Sein im umgebenden Raum der Wahrnehmung kennzeichnet das Erleben von Atmosphären, und es bestimmt auf vergleichbare Weise auch das musikalische Erleben«. 25 Böhme subsumiert Musik in die Kategorie auditiver Atmosphären, die seiner Auffassung nach Hauptfaktoren für die Herausbildung von Atmosphären an sich sind. 26 »Das Charakteristische von Stimmen, Tönen, Geräuschen ist, dass sie von ihren 22
Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg/München 2014, S. 90. Schmitz (2014), S. 87. 24 Schmitz (2014), S. 88. 25 Martin Deuter: »Atmosphären – Wahrnehmungseinstellungen und Wirkungen in der musiktherapeutischen Behandlung«, in: Musiktherapeutische Umschau 26/3, 2005, S. 222–235 (S. 223). 26 Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre München 2006. 23
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Ursprüngen getrennt werden können bzw. sich selbst von ihnen trennen, den Raum füllen und ihn quasi wie Dinge durchwandern«. 27 Konsequent phänomenologisch betrachtet besteht demnach keinerlei Verbindung zwischen Schallquelle und auditivem Eindruck, was auditive Phänomene gleichsam ortlos erscheinen lässt. Erst durch das Einsetzen mentaler Identifikationsvorgänge wird diese Verbindung hergestellt. Als Spezialform auditiver Phänomene ist Musik besonders geeignet, Atmosphäre erlebbar zu machen, da sie – auf nichts verweisend – im handlungsentlasteten Raum das Hören als solches (nicht das Hören von etwas) zu thematisieren vermag. 28 Bestimmte musikalische Werke und Konzepte stellen den räumlichen Aspekt von Musik in besonderem Maße dar. 29 Exemplarisch sei Ligetis Stück für großes Orchester »Atmosphère« genannt, das nicht nur aufgrund seines Titels quasi programmatisch für das hier behandelte Musikverständnis steht. Der Komponist selbst charakterisiert es mit einer Fülle aus synästhetischen Charakteren und Bewegungsbegriffen: »Klingende Flächen und Massen, die einander ablösen, durchstechen oder ineinander fließen – schwebende Netzwerke, die zerreißen und sich verknoten – nasse, klebrige gallertartige faserige, trockene, brüchige und kompakte Materialien«. 30 Finden sich atmosphärebezogene Ausdrucksformen – kulturhistorisch einhergehend mit dem sogenannten spatial turn – eher in den zeitgenössischen Künsten, so ist die Ähnlichkeitsbeziehung von Musik und Atmosphäre doch nicht an bestimmte Musikstile oder aufführungspraktische Rituale gebunden. Jegliche Musik verfügt über atmosphärische Qualitäten, sobald sie sich von ihrer Schallquelle löst und dynamisch den Raum erfüllt. Besonders erreicht sie dabei diejenigen, die sich einer Form des Hörens jenseits von kognitiver Analyse entweder bewusst hingeben oder ihr qua Demenz zugeneigt sind. 27 28 29 30
Böhme (2006), S. 82. Böhme (2006), S. 82. Sonntag (2016), S. 165 ff. Ligeti zit. n. Weymann (2005), S. 243.
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Therapeutische Atmosphären
Diese Form des Hörens, die der vorgestaltlichen Erlebensform von Atmosphären entspricht, nenne ich Klangerleben. 31 Klang verstehe ich als Subjektseite von Schall und betrachte ihn wie Atmosphäre als Zwischenphänomen. Im Klangerleben wird die Summe aller Geräusche, musikalischen Töne und Sprachlaute als subjektiver Gesamteindruck unteilbar, also als intensive Größe erfahren. 32 Wenn der Hörer in auditive Atmosphären eintaucht, sich von ihnen ergreifen und mitreißen lässt, befindet er sich in diesem Wahrnehmungsmodus: »Wer so hört, ist gefährlich offen, er lässt sich hinaus in die Weite und kann deshalb von akustischen Ereignissen getroffen werden. Liebliche Weisen mögen ihn entführen, Donnerschläge niederschlagen, sirrende Geräusche bedrohen, ein schneidender Ton verletzen. Hören ist ein Außersich-sein, es kann gerade deshalb das beglückende Erlebnis sein zu spüren, dass man überhaupt in der Welt ist«. 33 Wie jedoch kann Musik als Spezialform auditiver Phänomene helfen, Therapeutische Atmosphären in der Begleitung Demenzbetroffener zu erzeugen? In den abschließenden Abschnitten stelle ich ausgewählte Aspekte einer handlungsleitenden Konzeption für die Anwendung von Musik in Bezug auf die Gestaltung des Miteinanders als personenbezogene Praxis vor. 34 8
Therapeutische Musizierpraxis
Musik spielt eine wesentliche Rolle in dem Unterfangen, die Entstehung Therapeutischer Atmosphären in zwischenmenschlichen Begegnungen zu begünstigen. Auf der Grundlage von Resonanz 31
Sonntag (2016), S. 170 ff. Schmitz (2014), S. 78 f. 33 Böhme (2006), S. 82. 34 Ein weiteres Anwendungsfeld, die milieubezogene Praxis, soll hier nur angedeutet werden: Die Gestaltung auditiver Milieus zielt auf die Verbesserung von Pflege- und Wohnumgebungen ab. Konzeptionelle Grundlagen betreffen nicht nur die Einsatzmöglichkeiten von Musik, sondern auch die Qualität und Quantität von Geräuschen, die Raumakustik sowie auditive Aspekte des Personalverhaltens, vgl. Sonntag (2016), S. 276 ff. 32
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stellt sie einen von reflexivem Vermögen unabhängigen Raum bereit, der die Dynamik hinter oder zwischen den Fakten hör- und somit spürbar macht. Durch Verdichtung, Vermischung, Verzerrung, zeitliche Dehnung oder Raffung können Atmosphären in der Musik erlebbar gemacht werden. Musik kann bedingungsloses Dasein vermitteln und gleichzeitig Möglichkeiten zu Kontakt, Begegnung und Entwicklung eröffnen. Fachkundig angewandt ist sie in besonderem Maße in der Lage, Begegnungen und Umgebungen zu befördern, die Wohlbefinden und Lebensqualität unter demenziellen Bedingungen ermöglichen. Eine therapeutische Musizierpraxis, die sich dem Atmosphärischen verschreibt, weist bestimmte Charakteristika auf und erfordert eine spezifische Haltung (besser: Zurück-Haltung) des Spielers. Sie zeichnet sich durch Offenheit und Vieldeutigkeit aus, die aber gleichzeitig nicht beliebig ist, sondern Anknüpfungspunkte bietet. »Zwischen diesen beiden Ausrichtungen […] ergibt sich ein Raum, der auf paradoxe Weise nach zwei Richtungen hin offen bleibt: zur Bedeutung und zur Nicht-Bedeutung, zu Zusammenhang und Beliebigkeit, zu Beziehung und Für-sich-Sein«. 35 Diese Form therapeutischer Musizierpraxis hält sich an der Schwelle zum Ungeformten auf, drängt nicht zur Form, sondern bereitet ein Milieu für natürliche Gestaltbildungstendenzen. Einer Amöbe gleich verwandelt der Klang beständig seine Form, schmiegt sich an die auditiven Lebensäußerungen der betroffenen Personen an, korrespondiert mit ihren Stimmungen und macht sie erfahrbar. Dabei geht es nicht darum, die Musik von sämtlichen narrativen und semiotischen Bezügen zu »bereinigen« und eine rein atmosphärische Musik zu kreieren. Vielmehr gilt es, den Blick auf das Atmosphärische in jedweder Musik zu richten, etwa die Wirkung eines im Lied auftauchenden Landschaftsbildes zu verstärken oder die affektive Dynamik herauszustreichen. Dadurch, dass die Musik nicht in erster Linie auf Interaktion abzielt, mindert sie Handlungs- und Aufforderungsdruck demenzbetroffener Menschen und entlastet auch Therapeut.innen von dem Druck, in Beziehung treten zu müssen. Durch Resonanzen, die 35
Deuter (2005), S. 226.
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Therapeutische Atmosphären
die Eigenarten der Person verstärken, begünstigt sie gleichwohl Momente des Auftauchens zu sich und zur Welt: Ich betrete den Gemeinschaftsraum. Frau Hansen sitzt allein mit gebeugtem Rücken an einem Tisch, hält die Augen geschlossen und summt selbstvergessen die Melodie des »Hamburger Veermaster«. Ihr Kopf schaukelt und wippt kaum merklich im Takt des Liedes. Mich zu ihr setzend nehme ich ihre Bewegungen auf und stimme in die Melodie ein. Sie richtet sich auf, wendet mir den Blick zu und ruft überrascht: »Das bin ja ich!« Im gemeinsamen Musizieren entwickelt die als Teilhabe an einer gemeinsamen Wirklichkeit erlebte Musikwirkung kommunikative Züge, die ich gemeinschaftsbildend verstehe. Indem die Anwesenden eine Erfahrung, nämlich die des Klanges, teilen, hebt sich ihre Isolation auf. Ein gemeinsam geteilter Raum entsteht, in den Stimmungen gleichsam hineingegeben werden und aus dem Stimmungen entnommen werden können. Wie dadurch regelrecht kollektive Atmosphären entstehen können, zeigt eine Szene, in der sich sämtliche Mitglieder einer Wohngemeinschaft in einer gefühlsstarken Stimmung synchronisieren – ein Erlebnis, das sich in vergleichbarer Intensität nicht häufig ereignet: Nachdem mit Rasseln und Trommeln die Melodie eines schwungvollen Wanderliedes begleitet wurde, verebbt die Musik und eine Stille tritt ein. Ich fühle, wie sich diese Stille allmählich in Nachdenklichkeit, dann in Traurigkeit verwandelt, und mir kommt das Lied »Am Brunnen vor dem Tore« in den Sinn. Es leise, aber ausdrucksvoll singend, habe ich den Eindruck, alle Anwesenden im Raum, ja der gesamte Wohnbereich teilt eine intensive gemeinsame Stimmung. Plötzlich sehe ich, wie Servicemitarbeiterin Monika ihre Arbeit in der angrenzenden Küche unterbrochen hat, an der Durchreiche steht und sich Tränen vom Gesicht wischt. 9
Schluss
Die Perspektive von Atmosphären steht für eine im Kern ästhetische Auffassung der Musiktherapie mit Menschen mit Demenz, von der die Betroffenen als besonders atmosphäresensible Per361 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Jan Sonntag
sonen unmittelbar profitieren können. Das hier anhand ausgewählter Aspekte vorgestellte Konzept ermöglicht das bewusste Einbeziehen von Musik als Atmosphäre in die Begleitung Demenzbetroffener und ist auf angrenzende Tätigkeitsfelder wie Pflege, soziale Betreuung und Seelsorge übertragbar. Trotz der begründeten Annahme allerdings, dass durch bewusste und gekonnte Mitgestaltung Therapeutische Atmosphären begünstigt werden können: Im Grunde genommen sind Atmosphären immer ein auf die gegenwärtige Situation bezogenes Zusammenspiel vieler Einflussfaktoren und entziehen sich so dem steuernden Zugriff. In diesem Sinne möchte ich schließen mit der Äußerung einer 92-jährigen demenzbetroffenen Heimbewohnerin, die sich in einer musiktherapeutischen Begegnung mit folgender Äußerung an mich wandte: »Ich mag es, wenn Dinge auf Schönheit gegründet sind. Wenn sie zueinander passen und zu den Menschen passen. Das kann man aber nicht heranziehen, das muss man finden. Und manchmal findet es sich, und dann löst es sich wieder auf. Ob das stimmt, was ich sage, weiß ich nicht, aber ich hoffe es.«
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Die Wirkung von Atmosphären. Über den Umgang mit Attacken aus dem Prädimensionalen Raum »Dieses Haus hat Atmosphäre« denkt man, beziehungsweise denkt das eher im Nachhinein, wenn man beim Eintreten mit einem Schlag höchst angenehm berührt wurde. Und zwar noch bevor man sich über die Einzelheiten im Klaren ist, die diese Wirkung hervorrufen. Es wird einem spürbar weit ums Herz, die Augen weiten sich, man ist ganz hingegeben an dieses angenehme Gefühl. In der Umgangssprache umschreibt der Begriff ›Atmosphäre‹ also meist eine positive Ausstrahlung, von der man erfasst wird. Die gegenteilige Situation erlebte eine meiner Patientinnen kürzlich in einem Kaufhaus: erwartungsvoll war sie eingetreten, wollte sich ein schickes neues Kleidungsstück zulegen, ging zwischen all den anderen Suchenden hin und her und fand aber, trotz überwältigender Fülle, lange nichts, was ihr gefällt. Als sie an einem Spiegel vorbeikommt und unvermittelt plötzlich ihrem Gesicht begegnet, erschrickt sie. Sie sieht sich wie eine Fremde, sieht in ein versteinertes Gesicht, alles, Mund, Augen, zusammengekniffen. Offenbar versuchte sie sich gegen etwas zu verschließen, was sie bis dahin gar nicht bewusst wahrgenommen hatte. Als sie über dieses ›Monstergesicht‹ lachen muss, ist sie wieder bei sich, hat ihre Mitte wieder, die ihr verloren gegangen war. Vermutlich wollte sie sich durch ihr unwillkürliches ›Zusammenziehen‹ schützen gegen eine Atmosphäre verwirrender, maßloser Fülle, in der die Details alle verschieden sind und doch irgendwie immer gleich. Beim Beginn der ›Shopping-Tour‹ hatte ihr vitaler Antrieb (»Der vitale Antrieb ist ein Dialog von Engung und Weitung, die als Spannung und Schwellung einander sowohl hemmen 363 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Gabriele Marx
als eben dadurch antreiben.« 1) noch ein Ziel, das aber verloren ging in diesem Überangebot, das sich beliebig und quasi grenzenlos darbietet und eine ungute Art der Ausleibung provozierte, wogegen sich schließlich alles in ihr wehrte. »Ausleibung ist leibliche Kommunikation mit maßloser Weite durch Abspaltung privativer Weitung aus der Schwellung im vitalen Antrieb, … ein Zustand des Versinkens und der Versunkenheit.« 2 Hätte rechtzeitig etwas ihr Interesse geweckt, dann hätte sich der vitale Antrieb dem zuwenden können, Engung und Weitung hätten sich dann via Einleibung leibübergreifend aufgespalten in der gemeinsamen Situation mit dem Kleidungsstück, und dann vielleicht noch mit einer Verkäuferin. »Diese Dialogstruktur [zwischen Engung und Weitung, s. o.] lässt sich auf allen Kontakt mit dem Begegnenden übertragen. Der Antrieb wird dann zum gemeinsamen Antrieb«. 3 Jede Art der Faszination, der unwillkürlichen, selbstvergessenen Hingabe an etwas oder an jemanden, setzt voraus, dass man zur Ausleibung fähig ist, an sich also ein positiver Zustand. In Situationen, in denen dies, wie oben, von Nachteil sein kann, sollte man sich aber vorab darauf gefasst machen, so zum Beispiel bei längeren Autofahrten, um sich vor der sogenannten ›AutobahnTrance‹ zu schützen. Aber nicht nur Räume lassen Atmosphären entstehen, die einen ergreifen und auf die eine oder andere Art überwältigen können. Nach Hermann Schmitz sind auch alle Gefühle randlos und ortlos ergossene Atmosphären, die einen flächenlosen, also prädimensionalen Raum besetzen, und sich »(mindestens dem Anspruch oder der Tendenz nach) auf den ganzen Bereich dessen erstrecken, der jeweils als anwesend erlebt wird«. 4 Das bedeutet, dass wir nicht nur für uns allein von Gefühlen ergriffen, auch gequält werden können wie von Scham, Eifersucht oder Neid, sondern dass immer dann, wenn wir einem Menschen begegnen und 1
Hermann Schmitz: Wie der Mensch zur Welt kommt, Freiburg/München 2019, S. 67. 2 Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin 2011, S. 50. 3 Schmitz (2019), S. 67. 4 Schmitz (2011), S. 89.
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mit ihm in wechselseitiger Einleibung (das heißt mit fluktuierendem Wechsel der Dominanzrolle 5) eine gemeinsame Situation 6 bilden, auch oft in eine solche, ganz ohne Absicht, einfach hineingeraten, dass dann auch die Gefühle, die Atmosphären sind, sich in der gemeinsamen Situation ausbreiten und sich wechselseitig beeinflussen. Das kann in unterschiedlicher Intensität ablaufen. Wenn zum Beispiel der andere gerade traurig ist, dann kann ich dessen Traurigkeit zwar wahrnehmen, aber vielleicht mehr als Beobachter, 7 ohne selbst tiefergehend betroffen zu sein. Es sei denn, es ist ein mir nahestehender Mensch, den eine heftige, frische Trauer umweht; dann können auch mir Tränen aufsteigen, weil ich durch seine Trauer ›aus tiefstem Herzen‹ mit ergriffen werde. Es kann aber auch der Fall eintreten, dass mir jemand mit ausgelassener Fröhlichkeit begegnet, deren Vermögen anzustecken jedoch daran scheitert, dass ich selbst gerade in einem niederdrückenden Problem befangen bin. Dies Problem, meine Sorge, mein Gram, füllt mich völlig aus, macht mich gegen die fremde Atmosphäre immun, setzt sich möglicherweise als Atmosphäre nach und nach gegen die Fröhlichkeit des anderen durch und beherrscht schließlich die gemeinsame Situation. Manchmal jedoch ist die Sachlage komplizierter. So zum Beispiel dann, wenn ein ›Fröhlicher‹ mich nicht ansteckt, sondern mich eher verlegen macht. Oder ich mich während seines munteren Geredes allmählich leer und vielleicht etwas verwirrt fühle. Hier soll das bloß zur Schau gestellte Gefühl offenbar ein anderes Gefühl oder Programm überdecken, das dem Betreffenden selbst vielleicht gar nicht bewusst ist, in seiner persönlichen Situation aber eine dominierende Rolle einnimmt. Diese latenten Programme und damit einhergehenden Gefühle beeindrucken und ergreifen das Gegenüber oft noch intensiver und nachhaltiger als die manifesten, da man sich gegen Verborgenes schlechter wappnen 5
Schmitz (2011), S. 32 ff. Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003, S. 38 ff. 7 Wenn nicht speziell eine Frau gemeint ist, verwende ich die männliche Form, im Sinne von ›der Mensch‹. 6
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kann. Man wird gleichsam ›angesteckt‹, und weiß nicht recht wovon. Vielleicht haben Sie folgende Situation schon erlebt: Sie tun jemandem einen Gefallen, schauen anschließend aber in dessen leidendes, angestrengtes Gesicht, nehmen vielleicht noch die dazu passende, etwas fahrige Gestik wahr, und auf Ihre Frage, was denn los ist, ernten Sie ein mühsames Lächeln, ein hingehauchtes »ach nichts, geht schon«, und vielleicht noch einen verhaltenen Seufzer. Dies könnte ein Beispiel sein für passive Aggression, 8 die sich hinter Leiden versteckt und dadurch das Gegenüber entmachten und gleichsam einsaugen kann. Was immer man sagt oder tut, man läuft ständig Gefahr zum Täter zu werden, zumal man von der verborgenen, hintergründigen Atmosphäre zunehmend aggressiv aufgeladen wird. Aber offene Aggression mag man sich einem offenkundig leidenden Gegenüber nicht erlauben, muss sie also unterdrücken, was oft nicht gelingt, und schließlich muss man sich an anderer Stelle Luft machen. Wolf Haas hat dieses Zusammenspiel in seinem Roman ›Der Brenner und der liebe Gott‹ etwas überspitzt vielleicht, aber doch, wie ich finde, sehr treffend skizziert. Er schreibt dort: »[…] seufzende Aggression immer am schlimmsten, und altbekannte Tatsache: Hinter jedem Massenmörder steht eine Massenseufzerin«. 9 Damit ist eben dies gemeint, dass die unter einer leidenden Fassung versteckte Aggression das Gegenüber mit Macht ergreifen kann, umso mehr, aber nicht nur, wenn man von klein auf mit einer ›Massenseufzerin‹ aufwächst. Unter Fassung versteht Schmitz den »Entwurf, wodurch sich die sonst viel zu labile und ambivalente Person absichert, indem sie sich darauf festlegt, etwas zu sein, das eindeutiger ist als das, was sie wirklich ist«. 10 Problematisch wird der Kontakt dann, wenn jemand ungeachtet der jeweiligen Situation zu starr an einer bestimmten Fassung festhält. Auf eine besondere Variante der passiven Aggression stieß ich kürzlich bei einer Patientin: Wann immer ihr etwas Ungeschick8
Vgl.: Jody E. Long, Nicholas J. Long, Signe Whitson: The angry smile. The psychology of passive aggresive behavior, Austin (Texas) 2009. 9 Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott, Hamburg 2009, S. 10. 10 Schmitz (2003), S. 145.
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Die Wirkung von Atmosphären
tes, irgendein unbedeutender Fehler unterläuft: etwas verschütten, stolpern, etwas vergessen o. ä., schickt sie als allererste Reaktion ihrem Mann einen eindringlich ängstlichen Blick. Den macht diese Reaktion prompt wütend, und wenn er schließlich schimpft, ist sie, nun ›mit gutem Grund‹, verletzt. Diesen Blick hat sie sich bei ihrer sehr dominanten Mutter angewöhnt, die tatsächlich schnell ausrastete, hin und wieder aber auch, weil sie sich von diesem Blick in die Enge getrieben fühlte. Die Patientin hatte also als Kind eine, ihr bislang nicht bewusste, Möglichkeit gefunden, selber den dominanten Part zu übernehmen in einer Beziehung, in der sie in einer offen aggressiven Auseinandersetzung stets den Kürzeren gezogen hätte. In der therapeutischen Situation bin ich jedoch gerade auf diese latenten, dem Patienten selbst nicht gewärtigen Programme und Gefühle vorbereitet, die er in seiner persönlichen Situation mit sich führt. In meiner psychotherapeutischen Fassung stelle ich eben dafür meine Antennen zur Verfügung, so dass ich möglichst viel von meinem Gegenüber aufnehmen kann, um aus meinem Wissen zu gegebener Zeit hilfreiche Interventionen zu schöpfen. Ich habe diese spezielle Fassung einmal als therapeutisches Vorgefühl benannt. 11 Man begibt sich dazu in einen Zustand »gesammelter Zurückhaltung, die als Engung Weite freigibt und zwar durch privative, von der Engung losgelassene Weitung«. 12 In dieser von der besonnenen Konzentration abgespaltenen Weite richtet sich meine Wachsamkeit auf alles, was mich in der gemeinsamen Situation stutzen lässt. Dazu gehören nicht nur Worte, Darstellungen, Verhalten des Patienten, sondern auch Gefühle, Impulse, Verhaltensweisen, die mir selbst unterlaufen und mir nahelegen, dass ich vermutlich etwas vom Patienten aufgefangen habe. Das entspringt in der Regel dann jenen Anteilen in seiner persönlichen Situation, die ihn latent beherrschen und bisher ge-
11
Gabriele Marx: »Leiblichkeit und Personalität in der psychotherapeutischen Situation«, in: Dirk Schmoll/Andreas Kuhlmann (Hrsg.): Symptom und Phänomen, Freiburg/München 2005, S. 232. 12 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1990, S. 480.
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hindert haben, weiter zu reifen und sich zu dem zu entwickeln, was in diesem Leben für ihn vorgesehen ist. Wenn ich mich auf diese Weise meinem Gegenüber öffne, muss ich aber darauf achten, wann ich mich, und auch den Patienten, schützen muss. Zum Beispiel muss ich gewahr werden, wenn ich im Kontakt mit einem, wie eben beschrieben, passiv leidenden, aggressiven Patienten drohe, selber von Aggression überwältigt zu werden. Oder ich in anderer Art das Gefühl bekomme, neben mir zu stehen, quasi selber ›verrückt‹ zu werden. Dann ist es an der Zeit, in der gemeinsamen Situation selbst wieder »Quelle der Richtungen im gemeinsamen Antrieb« 13 zu werden und die Atmosphäre zu bestimmen. Am besten gelingt das, wenn ich mein Gegenüber mit irgendetwas verblüffe, etwa indem ich etwas frage, womit er nicht gerechnet hat, vielleicht ein Wort von ihm aufgreife, dem er selbst zuvor keine Bedeutung beigemessen hat. Die oft verblüffende, vom Patienten ausstrahlende atmosphärische ›Ansteckung‹ kann schon beim ersten Telefonat einsetzen. Ich erinnere eine telefonische Verabredung zu einem ersten Vorgespräch: Die Patientin am anderen Ende hört sich klar und freundlich an, ich hingegen veranstalte ein merkwürdiges Terminchaos, schlage im Kalender erst die falsche Woche auf, dann bringe ich Tage durcheinander, es dauert, bis wir einen Termin zustande bringen. Danach bin ich kurz erschüttert, frage mich, was mit mir los ist. Doch bald erwacht in mir die Erkenntnis, dass das Ganze nicht zu mir, nicht in meine persönliche Situation gehört. Ich besinne mich nochmals, was soeben abgelaufen ist, wie da gerade die Tage und Uhrzeiten sich plötzlich meinem Zugriff entzogen haben, sich quasi nur noch als ›Zeitbrei‹ darboten, in dem ich mehrmals danebengriff, obwohl ich meinen Kalender vor mir liegen hatte – und ich werde neugierig auf die Patientin. Und dann lernte ich eine Frau kennen, die eigentlich eine erfolgreiche Karriere als Journalistin durchlaufen hatte, sich aber immer wieder zu Fall brachte, sich finanziell ruinierte, durch ihren unglaublich chaotischen Umgang mit alltagspraktischen Dingen. Briefe, 13
Schmitz (2011), S. 40.
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Die Wirkung von Atmosphären
Rechnungen blieben ungeöffnet liegen, sammelten sich zu einem Schuldenberg, bis Freunde ihr halfen, diesen diffusen ›Berg‹ zu vereinzeln und abzuarbeiten. Ihre Mutter beschrieb die Patientin als eine über die Maßen fleißige Hausfrau, die stets für geradezu zwanghafte Ordnung und Sauberkeit sorgte. Als einzigen ›Genuss‹ gönne sich die Mutter Zigaretten und Süßigkeiten, und das in Mengen. Ich gewann den Eindruck, dass die Mutter mit ihrem Ordnungszwang möglicherweise das eigene Chaos abwehrt, das dadurch aber umso gründlicher, weil unerkannt, von der Tochter aufgesogen wurde. Und auf mich schon am Telefon abfärbte, als ich noch nicht darauf gefasst war. Die nächste Attacke erlebte ich, als ich einmal etwas erkältet war, und, längst gesund, zu Beginn der nächsten beiden Sitzungen von ihr gefragt wurde, ob es mir jetzt besser ginge. Eigentlich ja eine nette Frage, aber in der Wiederholung und in diesem Kontext verwirrend. Ich fühlte mich, als sollte ich eingefangen werden, oder als sei ich womöglich bereits gefangen in einer Situation, in der das Gegenüber die Kontrolle hat. Auch hier wurde ich in der therapeutischen Situation ergriffen von Atmosphärischem, lebensgeschichtlich Geprägten aus der persönlichen Situation der Patientin. Und wieder ging es für mich darum, die Verwirrung kurz zu spüren, also ernst zu nehmen, und dann selber wieder die Initiative zu ergreifen. Das hieß voller Interesse mein Stutzen kundzutun und die Patientin zu fragen, was ihr meine kurze ›Schwäche‹ und ihr wiederholtes Nachfragen bedeuteten. Sie ließ sich zunächst nur zögernd darauf ein, aber schließlich stießen wir dabei auf eine ihr höchst unangenehme Konkurrenz mit der Mutter, bei deren manchmal sichtbar werdenden Schwächen sie es genoss, endlich einmal ›die Stärkere‹ sein zu können, was sie danach aber, zur Strafe quasi, mit erneuten ›Schusseligkeiten‹ wiedergutmachen musste. In der psychotherapeutischen Situation gehört es also zu den wichtigsten Aufgaben, mit ›Attacken aus dem prädimensionalen Raum‹ umzugehen, d. h. die Atmosphären, die Situationen, die der Patient mit sich führt, aufzunehmen und damit zu arbeiten. Dabei schützt mich die psychotherapeutische Fassung, denn dass ich mich zur Weite hin öffne, geschieht mit Bedacht, es bleibt 369 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Gabriele Marx
immer eine beobachtende Position im Hintergrund erhalten, auf die ich schnell zurückgreifen kann. Bereits das von mir schon mehrfach beschriebene Stutzen ist schon der Absprung aus der bloßen Ergriffenheit von etwas. Wie aber sieht es im Alltag aus? Im Alltag ist man in der Regel ungeschützter, selbst wenn man zu jenen Menschen gehört, die ihre Fassung so starr festhalten, dass sie zum Beispiel beim Einkaufen im Supermarkt sich so rücksichtslos und stur durch die Gänge bewegen, dass sie unwillkürlich eine Bugwelle von Aggression um sich verbreiten. Da hilft dann nur Ausweichen, räumliche Distanz halten, den eigenen, dadurch ausgelösten Aggressionsschub wahrnehmen und ihn, wenn es gelingt, in vielleicht erst amüsiertes, also immer noch aggressives, und dann mitleidiges Beobachten umwandeln. Derjenige selber, zur Rede gestellt, würde vielleicht erklären, dass es zu voll ist, die Gänge zu eng sind, die Wurstverkäuferin sich absichtlich dumm angestellt hat, nur um ihn zu ärgern, und so fort. Die ihn umgebende Wolke von Aggression speist sich also aus seinem Erleben der Welt, die ihn beengt, behindert, verachtet. Vermutlich die Atmosphäre seiner Kindheit, in der er immer noch befangen ist, gegen die er sich mittels seiner starr festgehaltenen Fassung zu schützen versucht, sie aber gerade dadurch immer wieder herstellt. Ist ein Mensch anders aufgewachsen, dann geht er idealerweise durch die Welt eingehüllt in eine Atmosphäre der Geborgenheit, des Vertrauens, und ist trotzdem auch wachsam für anderes, vielleicht Feindseliges, das ihm begegnen kann. Er ist also, wenn es sein muss, auch in der Lage seine Fassung der Situation entsprechend zu wechseln, ohne ständig in Misstrauen verharren zu müssen. Ein zu ausschließliches Vertrauen, ein zu langes Festhalten an illusorischer Idealisierung einer Situation, eines Menschen, auch der eigenen Person, schützt vielleicht eine Zeitlang vor Angst, Wut, Trauer, Enttäuschung, der fast immer unvermeidliche Sturz aus dieser Illusion wird jedoch umso schmerzhafter geraten. Die ungeliebten Gefühle ergreifen dann umso heftiger; bei entsprechend starker Abwehr treten bei manchen Menschen auch, als ›Vorhut‹ der Gefühle sozusagen, erst einmal Angstattacken auf. Oder eine ›Frohnatur‹, die von sich sagt: »ich war doch immer 370 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Die Wirkung von Atmosphären
gut drauf«, weint plötzlich immer wieder ohne ihr ersichtlichen Grund, denkt »das bin ich doch gar nicht«, fühlt sich »verrückt«. Um mit den eigenen Gefühlen gut umgehen zu können, muss man sie zunächst akzeptieren, sollte versuchen, den Zensor auszuschalten, der trennen will in Gefühle, die man haben darf, und solche, die man nicht haben darf. Mit einer solchen Akzeptanz auch für die unangenehmen Gefühle ist es viel eher möglich, sich darauf zu besinnen und im rechten Moment distanzierende Maßnahmen zu ergreifen. Der aktuelle Zeitgeist setzt allerdings eine andere Norm, die die Bandbreite zulässiger Gefühle einengt und ein starres Festhalten an einer heiteren Fassung propagiert. Das hat zur Folge, dass derjenige sich hilflos ausgeliefert erlebt, wenn eine Atmosphäre mit Autorität diese Fassung zum Einstürzen bringt. Diese kulturelle Norm, die alles ›Unglücklichsein‹ am besten ganz ausgrenzen möchte, schlägt sich sogar nieder im DSM 5 (Diagnostic and statistical Manual of Mental Disorders), dem neuesten weltweit geltenden Diagnostikhandbuch für psychische Störungen. Dort wird zum Beispiel als ›behandlungsbedürftige Trauer‹ diagnostiziert, wenn jemand nach Verlustereignissen wie dem Tod eines Angehörigen, schweren Erkrankungen, oder nach materiellen Verlusten durch Naturkatastrophen länger als zwei Wochen trauert. ›Zwei Wochen‹ : das ist, wenn überhaupt, vielleicht mit starken Psychopharmaka zu schaffen. Und es scheint keinerlei Vorstellung davon zu geben, dass sich eine Situation erst einmal entfalten muss, dass die Person diese durchlaufen und durchleiden muss und erst so die Chance hat, daran zu wachsen und zu reifen, indem das Durchlittene einheilen kann in die persönliche Situation. Diese Kultur der ›Coolness‹ verhindert jedoch nicht, dass nach wie vor ganze Gruppen von einer Atmosphäre der Wut und des Hasses belebt und aktiviert werden können. Das daraus resultierende Gehabe kann einem außenstehenden Beobachter verrückt erscheinen, auch im Sinne von ›nicht ernst zu nehmen‹. So erging es mir zumindest, als ich die ersten Bilder sah von einer der »Merkel muss weg«-Demonstrationen, wie sie vor einiger Zeit in mehreren Städten stattfanden. Inzwischen denke ich jedoch, man muss ernst nehmen, was da an Hass und Menschenverachtendem 371 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Gabriele Marx
anscheinend so ganz offen wieder gezeigt werden darf. Und gerade dieses Auseinanderklaffen von Anziehung für die Einen und Abstoßung für die Anderen – dazwischen gibt es nichts – bildet den Nährboden für eine besonders intensive Ausprägung der Faszination. Hier hat die Neue Phänomenologie vielleicht eine wichtige Aufgabe, nämlich mit ihrer sachlich explikativen Methodik die Grundlagen für die Entstehung und Ausbreitung solcher Atmosphären zu untersuchen. Ich möchte nun aber zurückkommen zum persönlichen Erleben und der Frage, wie wir uns gegen peinigende Atmosphären, gegen plötzliche Attacken oder sich einschleichende Einflüsse schützen beziehungsweise davon wieder distanzieren können. Bei Hermann Schmitz habe ich gelesen: »Für Personen leistet die Begegnung mit der Fläche enorme Hilfe zur personalen Emanzipation. Von der Fläche kann man sich zurückziehen und die Verstrickung in Einleibung damit lockern.« 14 Und wie kommt die Person, kamen schon unsere Urahnen aus der ganzheitlichen, binnendiffusen Situation zur Fläche? Indem sie »… die eigene glatte Haut an den beiden freien Armen vielfach betasteten, um störende Parasiten abzuwehren«. 15 Das klingt erst einmal sehr simpel, aber mir kam dazu in den Sinn, ob sich so vielleicht die Wirkung mancher spontanen Geste erklären lässt: Wenn zum Beispiel ein in Verlegenheit Geratener sich spontan am Kopf kratzt, ungeplant, unwillkürlich. Vielleicht hilft ihm dann der Kontakt mit der Hautfläche, und auch die durch das Kratzen sich bildende Leibesinsel, dass er wieder zu sich findet und nach möglichen Auswegen aus der peinlichen Lage suchen kann (Ausreden finden, etwas ›richtig stellen‹, oder eben einsehen: »wie dumm von mir«). Oder jemand schlägt bei einer Schreckensmeldung beide Hände vors Gesicht. Das ist dann ebenfalls Haut-, also Flächenkontakt, und überdies eine haltende, tröstende Berührung. Werden dabei noch die Augen geschlossen, schafft dies zusätzlich einen konzentrativen Schutz vor den ergreifenden Atmosphären der Schreckensbotschaft. Diese Gesten sind Hilfsmittel, die sich von selbst 14 15
Schmitz (2011), S. 126. Schmitz (2011), S. 127.
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Die Wirkung von Atmosphären
entfalten, vor jeder Reflexion, und verlieren möglicherweise einen Teil ihres Zaubers, wenn man sie als ›Rezept‹ verwenden wollte. Natürlich kann man versuchen daran zu denken, durch irgendwelche Maßnahmen – wie Drücken, Streichen, Kratzen – Hautkontakt oder eine Leibesinsel herzustellen, um einer ganzheitlich leiblich ergreifenden, bedrohlichen Atmosphäre zu entkommen. Aber dieses ›Daran Denken‹ setzt voraus, dass man sich des affektiven Ergriffenseins bereits bewusst geworden ist, den ersten distanzierenden Schritt also schon getan hat. Das geht am besten, wenn man vorab schon mit einem Überfall von bedrängenden Gefühlen rechnen kann. Wenn man also zum Beispiel weiß, dass man gleich in der U-Bahn, oder im voll besetzten Kino, eine Angstattacke erleben wird, mit der zugehörigen, kaum zu bändigenden Fluchttendenz. Eine solche Angst wird nur weiter angestachelt, wenn man sie bloß unterdrücken möchte. Sie wird begleitet von Gedanken wie: »ich kann hier nicht weg« oder »oh Gott, gleich sehen alle, wie ich umfalle«. Man will verschwinden und phantasiert sich gleichzeitig als Mittelpunkt beschämender Aufmerksamkeit. Wenn man weiß, dass diese Not auf einen zukommt, dann kann man sich vornehmen, in der Situation etwa sich selbst zu umarmen, oder beide Hände auf seine Wangen zu legen, oder die Bauchdecke mehrere Male nacheinander kurz einzuziehen, oder abwechselnd die Sitzhöcker o. ä. Der Hautkontakt oder die durch Anspannen entstehenden, aktiv hervorgerufenen Leibesinseln können die ganzheitlich ergreifende Angst meist gut aufheben, zumindest für eine Zeit – vorausgesetzt allerdings, dass die ›Angst vor der Angst‹ vorab schon gemildert werden konnte. Denn übereifriges, weil panisches Anspannen irgendwelcher Körperpartien kann die Angst auch weiter befeuern. Also sollte die Angst zuvor schon möglichst entdämonisiert sein. Zu diesem Zweck fordern Verhaltenstherapeuten ihre Patienten auf, ihre Angst auf einer Skala von 0–10 einzuordnen, ebenfalls ein Weg, der aus der Einleibung in eine Situation zu einer Konstellation führt. Oder ein Therapeut stellt Fragen wie »Was genau spürst du, wenn du Angst hast; wie erlebst du das, beschreibe mir das so genau wie möglich.« Solche Fragen lenken die Aufmerksamkeit auf die bloß leiblichen Regungen, die es leichter machen, eine Be373 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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obachter-Position einzunehmen und sich von da aus der Verstrickung in die vermeintlich bedrohliche Situation zu lösen. Und das ist prinzipiell auch die Lösung, wenn man sich in ungute Einleibung mit einem anderen Menschen verstrickt findet. Dazu erzählte mir ein Kollege ein Beispiel. Er war als Junge immer der Kleinere und Schwächere, wenn es um Auseinandersetzungen ging. Heute ist er ein erfahrener Unternehmensberater, aber wenn ihm bei seiner Arbeit ein »großer Mann mit voluminöser Stimme« begegnet, dann kann es passieren, dass ihm alle Kompetenz entgleitet, er nur noch von dem Gedanken beherrscht ist: »der löscht mich aus«. Nachdem er das kurz durchlitten hat, diese Not wahrgenommen und sie nicht vor sich selbst verleugnet hat, kann er sich über die Situation erheben, indem er sich fragt: »Moment mal, was ist hier los?« Und noch während er als Beobachter das vertraute Muster identifiziert, hat er seine gesammelte Kompetenz wieder zur Verfügung. Man darf sich also nicht scheuen, auch als gestandener Therapeut, Arzt, Professor, oder was auch immer, solche Gefühle der Angst oder der Unzulänglichkeit wahrzunehmen. Erst so kann man darüber stutzen, die Situation aus der Vogelperspektive betrachten und die (hoffentlich nur) scheinbar bedrohlichen Aspekte aus der binnendiffusen Situation explizieren und entscheiden, was davon in die Gegenwart und was in die Vergangenheit gehört. Gerade mit Menschen, die eigene Unzulänglichkeit aus ihrer Wahrnehmung ausklammern und sie ersatzweise beim Gegenüber unterbringen, kann man in ungute gemeinsame Situationen geraten. Ist man Kind solcher Eltern, kann man nur alles falsch machen, man ist einfach nicht richtig, wie man ist. Verstrickt man sich als Erwachsener mit einem solchen Menschen in wechselseitiger Einleibung, kann man von diesem zunächst sogar einen ganz positiven Eindruck haben. Aber im wiederholten Kontakt schleicht sich allmählich ein leises Unbehagen ein, man fühlt sich irgendwie vage schuldig, immer leicht angestrengt, weil man es gerade demjenigen recht machen möchte, was aber irgendwie nicht gelingen will. Auch hier hilft Stutzen, die Atmosphäre, die eigene Anspannung zur Kenntnis nehmen, und dann versuchen, die Richtung in der gemeinsamen Situation umzukehren: also 374 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Die Wirkung von Atmosphären
selber etwas Überraschendes zu inszenieren, anzustoßen, selbst zur Quelle der leiblichen Richtung zu werden, anstatt nur zu reagieren. An sich weiß das jedes Kind, das im unheimlichen, dunklen Kellerraum zu singen beginnt. Das ist auch Erwachsenen erlaubt, und auch innerliches, bloß gedachtes Singen kann helfen, zu einem zunächst nur vagen Unwohlsein Distanz aufzubauen, um dann sortieren zu können: »Was ist hier los?« Abschließend möchte ich jedoch bemerken, dass alle ›Tricks‹ uns glücklicherweise nicht davor bewahren können, uns immer wieder von atmosphärischen Attacken, auch als subtil heranschleichenden Einflüsterungen, betreffen zu lassen. Eine meiner Patientinnen wundert sich derzeit, dass sie sich viel öfter und heftiger als früher über andere Menschen ärgert. Allerdings bemerkt sie auch, dass sie zum Beispiel ein Konzert oder auch alltägliche Freuden jetzt viel intensiver genießen kann. Das gehört also zusammen, und vor der Therapie hatte sie sich gewohnheitsmäßig zu sehr über alle Situationen erhoben, war quasi wie auf Stelzen durch die Niederungen des Lebens gegangen. Und zu einer solchen Lebenstechnik wollte ich mit meinem Beitrag keineswegs auffordern.
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Cornelia Diebow
Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären. Fallbeispiele aus der Prosopiatrie von prenzlkomm Wenn ein Mensch in einer schweren psychischen Krise ist, in einer Art und Weise psychisch erkrankt ist, dass er ohne Hilfe nicht allein leben kann, wenn nach einem Psychiatrieaufenthalt noch weitere Unterstützung nötig ist, wird er/sie* bei Prenzlkomm ambulant betreut und behandelt. Entweder er lebt in seiner eigenen Wohnung (wenn das noch möglich ist) oder in unserer Therapeutischen Wohngemeinschaft (TWG genannt). Prenzlkomm ist ein psychiatrischer Verbund mit vielen Projekten in Berlin und Brandenburg – unter anderem einem Institut für Prosopiatrie. Unter Prosopiatrie verstehen wir die Heilkunde vom Menschen als Person in seiner persönlichen Welt, die auch eine Situation ist, 1 jedoch mit Dingen bestückt ist – z. B. Möbeln in einer Therapeutischen Wohngemeinschaft. Wir wollen mit der prosopiatrischen Sichtweise besser verstehen, was und wie genau etwas in der persönlichen Welt 2 des jeweiligen Klienten zu behandeln ist. Dann beginnt die individuelle Einzelbehandlung mit Interventionen, die hier nicht thematisiert werden können.
* Ich werde in diesem Aufsatz der Kürze halber zumeist die männliche Form verwenden, schließe damit alle anderen Geschlechter mit ein. 1 Robby Jacob: »Psychiatrie ohne Psyche«, in: Heinz Becker (Hrsg.) Zugang zu Menschen, Freiburg/München 2013, S. 175–176. 2 Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 2007, S. 171: »Die persönliche Welt einer Person ist die Zusammenfassung ihrer persönlichen Eigenwelt und persönlichen Fremdwelt. Hieraus ist ersichtlich, dass für jeden Menschen unendlich viele Sachverhalte (namentlich Tatsachen) und Sachen nicht zu seiner persönlichen Welt gehören, die also nur einen Teil der Welt umfasst.«
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Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären
Die Therapeutische Wohngemeinschaft (TWG) für psychisch erkrankte Erwachsene liegt im beliebten Stadtbezirk Prenzlauer Berg in einem Wohnhaus mit Neubau-Charakter. Die TWG zieht sich über drei Etagen, die voneinander getrennt sind – auf jeder Etage wohnen drei Personen mit unterschiedlichen Diagnosen und Geschlechtern. Die Flure der einzelnen Etagen sind farblich warm gehalten, aber dekorativ ungestaltet, denn wenn die Klienten aus ihrem Zimmer herauskommen, werden sie sofort mit Unerwartetem konfrontiert, nämlich den Mitbewohnern, zeitweise auch den Betreuern, Praktikanten, die alle nicht selbst gewählt sind, sondern in ihrer jeweiligen Situation agieren. Der Flur in der TWG ist so wie in einem Mietshaus der Hausflur – nur viel belebter und kleiner. Grenzen können schnell überschritten werden – in alle Richtungen. Ich bin Behandlungsleiterin in dieser Therapeutischen Wohngemeinschaft und unterstütze unser Institut für Prosopiatrie durch praktische Beiträge aus der therapeutischen Behandlung unserer Klientinnen und Klienten. Ich habe gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen des Instituts für Prosopiatrie Beispiele für die Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären gesammelt. Ergebnis des gemeinsamen Nachdenkens über das Thema Die Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären sind drei Umgangsvarianten: 1. Meide die Atmosphäre! Das heißt, man kann sich bemühen, nicht unter die Macht der Atmosphären zu geraten, weil sie uns in unserer Arbeit behindern. 2. Toleriere die Atmosphäre – halte sie aus – das ist dein Beruf! 3. Wünsche dir Atmosphären! Wir schaffen Konstellationen, die die Wahrscheinlichkeit für die Ansiedlung von uns gewünschten Atmosphären erhöhen. Es ist davon auszugehen, dass nur Konstellationen verfügbar sind, Atmosphären jedoch nicht! Ziel ist es, dass Menschen gesund werden können. Ich werde in diesem Text für jede dieser drei Dimensionen Beispiele anführen: 377 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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Meide die Atmosphäre
Gerade in einer TWG begegnet man Atmosphären, die einen sofort arbeitsunfähig machen: War man eben noch frisch und voller Zuversicht und betritt man das Zimmer des Klienten fühlt man sich plötzlich wahlweise leer, konfus, überfordert, verzweifelt oder ratlos. Daher vermeiden wir es, die Klienten dort zu behandeln, wo sie wohnen, weil sie genau das nicht können: Das Wohnen als Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum 3. Woran liegt das? Grundsätzlich liegt bei den Klienten, die bei uns betreut und behandelt werden, eine Störung der Subjektivität 4 vor, die viele verschiedene Facetten haben kann. Viele unserer Klienten haben Lebenstechniken entwickelt, die affektives Betroffensein von etwas verhindern. Sie erleben täglich die Unverfügbarkeit der Atmosphären und geben sich Gefühlen möglichst nicht preis. Das ist ein anstrengender Kampf. Verschiedene Arten der Lähmung der Persönlichkeit 5 verhindern das 3
Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg/München 2014, S. 53. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, Bonn 1995, S. 6 ff.: »Subjektiv sind zunächst einmal die Sachverhalte (Tatsachen) des affektiven Betroffenseins, darüber hinaus aber alle Tatsachen des Soseins irgend welcher Subjekte (d. h. Bewußthaber) […] denn es handelt sich dabei um sie selber, und niemand ist sich selbst ganz gleichgültig, als ob sein affektives Betroffensein ausfallen könnte, wenn es um sein Sosein geht. Subjektiv für jemand sind darüber hinaus viele Sachverhalte, die nicht sein eigenes Sosein betreffen, sondern etwas, woran er hängt (andere Menschen, Familie, Volk, mathematische Probleme oder technische Projekte für den engagierten Mathematiker oder Erfinder, usw.). Subjektiv sind außer Sachverhalten auch Programme (z. B. Zwecke, Wünsche) und Probleme (z. B. Hoffnungen, Sorgen), überhaupt alles, was für jemand seine Sache ist, […]. Diese Nuance an Sachverhalten, Programmen und Problemen bezeichne ich als deren Subjektivität für jemand.« 5 Hermann Schmitz: selbst sein. Über Identität, Subjektivität und Personalität, Freiburg/München 2015, S. 96 f. »Dabei handelt es sich um den Verlust der Elastizität im Spielraum von personaler Emanzipation und personaler Regression […]. Der normale Mensch, der eine leichte oder schwere Erschütterung erleidet, eine personale Regression, kann sich anschließend wieder fassen, den Eindruck – ebenso, wenn es ein bedrückender wie wenn es ein erhebender war – verarbeiten, sich in personale Emanzipation irgendwie distanzieren. Der Schizo4
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Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären
Schwingen zwischen personaler Regression 6 und Emanzipation 7. Diese Menschen sitzen oft in ihren Zimmern und tun entweder gar nichts (rauchen) oder spielen diverse Computerspiele. In diesen Zimmern herrscht oft Chaos (Unordnung und Lieblosigkeit im Arrangement der Dinge). Freiwillig geputzt wird nie. Es befallen den Betretenden Trost- und Hoffnungslosigkeit. 2
Toleriere die Atmosphäre
Auf jeder Etage unserer TWG wohnt im Durchschnitt eine Person (meist Männer) mit schwerer Lähmung der Person – unter anderem vom schizophrenen Typus 8. Diese Menschen haben durch das sog. Messie-Syndrom oder durch totale Verwahrlosung ihre Wohnung verloren – fast immer durch Zwangsräumungen. Der flächenlose Raum des Gestanks mit seinen möglichen Brückenqualitäten »stechend« oder »dumpf-muffig« lässt einen olfaktorisch erschrecken – vor dem Klienten direkt oder seinem Zimmer. Es befällt uns als Atmosphäre mit höchster Autorität Ekel und Abscheu – man möchte sich zurückweichend in Sicherheit bringen und darf es nicht – Es ist unser Berufsethos, genau diesem Impuls zur Abstandnahme nicht zu folgen und die persönphrene steckt fest, erstarrt gleichsam in der Haltung, in der ihn die Betroffenheit erwischt hat, hat keinen Spielraum zur Stellungnahme, keine Fähigkeit der Verarbeitung. Daraus geht ebenso die affektive Steifigkeit hervor, wie die Bahnung entweder verhärtender oder im Gegenteil aufweichender Reaktionen: […]. Die beiden anderen Quellen sind die Explikationsstörung und das Versagen der Objektivierung. Die Störung der Explikationsfähigkeit, geordnet einzelne Bedeutungen aus der binnendiffusen Bedeutsamkeit von Situationen abzurufen, lässt sich leicht aus der Lähmung der Persönlichkeit erklären, wenn sie, wie überwiegend, bei stark mit Subjektivität für den Kranken beladenen, ihn intim betreffenden Themen auftritt, […] sich abzugrenzen, das Eigene vom Fremden zu scheiden, ist ein naheliegendes, beinahe selbstverständliches Derivat der Lähmung der Persönlichkeit.« 6 Schmitz (1995), S. 156 ff. 7 Schmitz (1995), S. 155. 8 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band IV: Die Person, Bonn 2005, S. 441.
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liche Welt dieses Klienten wieder in Ordnung zu bringen, das ist im wahrsten Sinne des Wortes gemeint. Hier heißt es: Toleriere die Atmosphäre (so gut es dir in einer professionellen Fassung möglich ist)! Betrachtet man das Phänomen im Einzelfall, kann man zum Beispiel feststellen, dass es diesen Menschen nicht gelingt, Dinge zu verwahren und zu verorten. Daher scheint der Begriff Verwahrlosung zu kommen. Die Klienten spüren nichts, oder nur Scham, und können oft gar nicht explizieren. Ihre persönliche Eigenwelt ist entweder verschmutzt oder leer. Diese Klienten hausen eher, als dass sie wohnen. Pädagogisches Eingreifen z. B. durch Aufräumenlernen ist in diesen Fällen sinnlos! Hier sind in der Behandlung Fragen zu stellen, die dem Klienten bei der Explikation von subjektiven Bedeutungen helfen: Was nehme ich wahr, wenn ich mich auf die Ergriffenheit von Gefühlen einlasse? Was ist Fall welcher Gattung? 9 Wo hat etwas seinen Platz? Was ist meins (persönliche Eigenwelt 10)? Was kann weg (persönliche Fremdwelt 11)? Was erzeuge ich bei anderen, wenn ich sie an meiner Verwahrlosung teilhaben lasse? Was spüre ich, wenn sich meine Umgebung ändert? Kann ich auf etwas stolz sein, so dass sich der Richtungsraum meiner leiblichen Regungen ändert? Hier nenne ich nur einige Beispiele. An dieser Stelle gibt es noch eine andere Variante von Atmosphären, deren Macht man tolerieren muss, wenn man seine Arbeit machen möchte: Es gibt Klienten, meist (sexuell) misshandelte, traumatisierte Frauen, die unter chronischem Fassungsverlust leiden und permanent von der Atmosphäre ihrer Ängste affektiv betroffen sind – Dies hat mit der aktuellen Situation 12 oft gar nichts zu tun, sondern es bezieht sich auf Vergangenes oder Störungen in der Eindrucksverarbeitung von aktuellen Situationen. Die Zimmer dieser Bewohnerinnen sind manchmal so überfrachtet mit Din9
Schmitz (1995), S. 104. Schmitz (1995), S. 170. 11 Schmitz (1995), S. 171. 12 Schmitz (1995), S. 65. 10
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Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären
gen, Bildern, Sprüchen, Erinnerungsstücken und Kitsch, dass einem schier der Atem stockt. Es sind so viele Bewegungssuggestionen vorhanden, dass man sich gar nicht konzentrieren kann. Unruhe und Diffusion machen sich breit, wenn ich in einem solchen Zimmer bin. Auch in dieser Atmosphäre kann man nicht vernünftig arbeiten. Andere Klienten sitzen in Zimmern, die im schlimmsten Fall karg wie eine Gefängniszelle eingerichtet sind – mitunter gibt es nicht einmal einen Stuhl für den Betreuer. Im günstigen Fall sieht es aus wie in einem Showroom vom Möbelhaus, aber ohne Dekoration. Die Reizarmut wird gewählt, um nicht noch mehr affektivem Betroffen-Sein ausgesetzt zu sein. Es wird versucht, durch das Wenige die Kontrolle über die persönliche Welt behalten zu können, so beschreiben es die Klientinnen selbst. Hier wiederum fühlt man sich von der Macht der Atmosphäre der Leere ergriffen. Es fällt einem nichts mehr ein. Es bedarf höchster Anstrengung, diese Atmosphäre zu tolerieren. Rausholen im buchstäblichen Sinne ist die einzige Chance, aber nicht immer möglich, da diese Klienten auch vor dem Abgründigen draußen Angst haben, zu Panikattacken neigen und sehr empfindlich sind. Diese, meist komplex traumatisierten Klientinnen sind oft dankbar, wenn man sie durch solidarische oder antagonistische Einleibung ablenkt, rausholt aus ihrer privativen Engung und der daraus resultierenden Atmosphäre des Grauens. Sie brauchen Hilfe bei der Objektivierung und Neutralisierung ihrer Gefühle, sind aber ohne wirksame Behandlung nicht in der Lage, aus sich selbst heraus dafür zu sorgen. Verlässt man die gemeinsame Situation, rutschen sie sehr schnell wieder in ihre ursprüngliche, lebensgeschichtlich bedingte Gefühlslage. Sich aus einer bestimmten personalen Regression 13 wieder in ein anderes Niveau zu bringen, ist Bestandteil der Einzelbehandlungen. In der Einzelbehandlung muss die persönliche Welt der Betroffenen in Ordnung gebracht werden. Die individuelle Behandlung der Klienten geschieht möglichst an einem von mir gewählten Ort. Wir haben wahlweise sehr schöne, große, aber auch gemütliche Räume bei 13
Schmitz (1995), S. 156 ff.
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Prenzlkomm. Dort kann ich die Macht der Atmosphären besser nutzen. Ich kann die mir zur Verfügung stehenden Konstellationen einrichten, bestimme den Rahmen und bin nicht einer Übermacht der Atmosphären ausgeliefert. Wenn die Behandlung der persönlichen Welt der Klienten einzeln geschieht, stellt sich natürlich die Frage, warum so schwer psychisch kranke Menschen in einer TWG zusammen wohnen sollen und wie da überhaupt jemand gesund werden kann. Es ist ein Resultat der 68er-Bewegung, dass man es für gut befand, dass Menschen in Kommunen und Gemeinschaften zusammen leben sollen. Im Zuge der Psychiatrie-Enquete sollten alle Patienten aus den psychiatrischen Kliniken wieder in die Gesellschaft integriert werden. So entstanden gemeinde- bzw. sozialpsychiatrische TWGs, die bis heute gut finanziert erhalten blieben, auch wenn niemand davon ausging, dass dort Menschen gesund werden. Die dort lebenden erkrankten Menschen sollen in Sicherheit, warm und beschützt sein. Was kann man darüber hinaus daraus machen? Es gibt einige gute Gründe, warum eine TWG aus meiner Sicht Sinn macht: Erreichbarkeit: Die Klienten sind da und immer erreichbar. Wir holen die Klienten da ab, wo sie sich befinden und das ist wörtlich zu nehmen. Wir müssen sie zum Teil aus dem Bett holen. Wir haben die Schlüssel zu einer gemeinsamen Situation und bestimmen die geltenden Normen – nämlich die der TWG! Wir begleiten die Klienten von der TWG zu Orten, wo wir in einer uns angenehmen Atmosphäre arbeiten können. Eine so vollständige Diagnostik subjektiver Tatsachen, 14 Lebenstechniken, 15 Stimmungen, 16 leiblicher Dispositionen, 17 Atmosphären des Gefühls 18 jenseits von Sprechstunden und Krankenhaus-Situationen gelingt keinem niedergelassenen Arzt oder Psychologen. 14 15 16 17 18
Schmitz (1995), S. 7. Hans Thomae: Das Individuum und seine Welt, Göttingen 1968, S. 329–400. Schmitz (1995), S. 297. Schmitz (1995), S. 127 ff. Schmitz (2014), S. 8 ff.
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Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären
Auch Hausbesuche genügen nicht, die Person in allen zur Verfügung stehenden Konstellationen zu erleben – vor allem in leiblicher Kommunikation mit anderen. Die Störung der leiblichen Kommunikation mit anderen ist oft ein prägnantes Zeichen psychiatrisch diagnostizierter Erkrankungen. Erst im Zusammensein mit anderen wird deutlich, dass etwas nicht stimmt. Allein lebend, einsam dahinvegetierend oder in oberflächlichem Als-obLeben in merkwürdigen Beziehungskonstellationen spüren die Menschen mehr oder weniger diffus, dass mit ihrer persönlichen Situation 19 etwas nicht in Ordnung ist, wissen aber nicht, was genau. In der TWG können wir es in gemeinsamen Situationen herausfinden. Ein Beispiel: Es kam eine junge Frau mit den Diagnosen »Depression und soziale Phobie« zu uns. Sie kam als Kind mit ihrer Mutter von einem anderen Kontinent, lebte aber schon viele Jahre in Deutschland und sprach sehr gut Deutsch. Ihre Schullaufbahn in Deutschland machte sie unzufrieden: Sie hatte nur einen Deutsch-Kurs in einer kleinen Klasse geschafft. Mehrere Versuche, ihren mittleren Schulabschluss zu schaffen, scheiterten. Berichtete sie über Schulbesuche und Mitschüler, wurde sie immer sehr aufgeregt und wütend. Ihre Mitschüler seien immer so laut und störend gewesen, sie konnte nicht lernen, die Klassen wären so groß und zu undiszipliniert, so klagte sie. Sie sagte zwar, sie wolle ihren mittleren Schulabschluss nachmachen, sprach man sie aber auf konkrete Schritte zur Umsetzung an, umwölkte sich ihr Gesicht, sie wurde einsilbig und erstarrte förmlich. Parallel dazu berichteten mir meine Kollegen aus der TWG, dass sie mit ihren Mitbewohnern sehr aufgeschlossen und fröhlich sei, auch in Gruppenveranstaltungen, tolle Ideen habe und von sozial-phobischem Gebaren nichts erkennbar sei. Im Einzelgespräch fragte ich detailliert nach: Was genau stört sie an der Schule? Wer und wie genau? War sie ein ehemaliges Mobbing-Opfer? Es stellte sich heraus, dass sie nie gemobbt wurde, sondern einen Glaubenssatz hatte, der sie ihre Mitschüler so hassen ließ: 19 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band IV: Die Person, Bonn 1980, S. 287–415.
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Cornelia Diebow
Sie glaubte, dass man sich für seine Mitschüler interessieren müsse, und es störte sie, was und wie sie kommunizierten. Sie war also überfordert – weil man sich ja schließlich nicht 25 bis 30 Mitschülern gleichzeitig zuwenden konnte – und hasste ihre Mitschüler dafür, dass sie sie beim Lernen störten. Ich fragte nochmal nach: »Sie glauben also, man müsse sich für seine Mitschüler interessieren?«. »Ja!«, sagte sie voller Inbrunst. Darauf holte ich tief Luft, schaute auf die beisitzende Praktikantin und fragte rhetorisch: »Glauben Sie, dass ich mich für meine Praktikantin interessiere? Sie soll hier ihr Praktikum machen und halbwegs in Form sein, um hier zu sein, aber ansonsten ist mir völlig egal, was sie gern isst, wo sie shoppen geht und ob sie einen Freund hat, selbst Kollegen frage ich nur, wie ihr Urlaub war, um ihnen ein gutes Gefühl zu geben oder wenn ich selbst vorhabe, dahin zu reisen, wo sie waren. Aber ansonsten interessiere ich mich höchstens für einige Themen meiner Freundinnen …«. Die Praktikantin war geschockt (ich tröstete sie nach der Sitzung); die Klientin war glücklich. Sie lächelte erleichtert und man konnte spüren, wie sich etwas veränderte. Ich schob dann noch nach, dass das Einzige, was einen in der Schule wirklich zu interessieren habe, der Stoff sei, den der Lehrer vermittelt. Alles andere ist Beilage. Drei Tage später hospitierte sie an einer Schule für Sozialassistenten mit mittlerem Schulabschluss, lobte die Freundlichkeit ihrer Mitschüler, es seien viele Mädchen, da könne man auch mal ein bisschen »miteinander quatschen«, schrieb sich dort zum Schulbesuch ein, erledigte alle Formalitäten schwungvoll und selbständig und sagte mir neulich, dass sie sich allmählich fragt, ob sie denn überhaupt krank sei. Hier fand also eine komplette Veränderung der persönlichen Welt statt, die nur darauf basierte, dass wir in der TWG gesehen haben, dass die Klientin gemeinsame Situationen durchaus genießen konnte. Durch das Explizieren ihrer individuellen Variante der Störung der Subjektivität kamen wir auf einen Glaubenssatz, der sich in einer Minute auflösen ließ und als objektiviert und neutralisiert in die persönliche Fremdwelt 20 entlassen werden konnte. 20
Schmitz (1995), S. 171.
384 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären
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Wünsche dir Atmosphären!
Nun kommen wir zum letzten, gewagtesten Punkt: Der Arbeit mit der Macht der Atmosphären in der TWG. Wir arbeiten in einem Atmosphären-Biotop! Das heißt: Wir wünschen uns bestimmte Atmosphären, gestalten gemeinsame Situationen und agieren so, dass sich in »professionell betriebener« leiblicher Kommunikation die Wahrscheinlichkeit für die Ansiedlung von bisher für die Klienten unbekannten Atmosphären erhöht. Hier bietet sich eine Veranschaulichung an: Oberflächlich nehmen wir Ruhe war, wenn wir die Flure der TWG betreten, aber diese Ruhe ist keine satte, friedliche, sondern sie ist gespeist von Leere, Rückzug, Isolation, Einsamkeit und fehlender Zuwendungsfähigkeit. Der fehlende vitale Antrieb 21 mit und ohne Lähmung der Person 22 zeigt sich oft in kollektiver »Null-Bock-Stimmung«, übler Laune, gereizter Atmosphäre, Trübsal und Ablehnung, schlechten Gerüchen, Unordnung, Schmutz, aber auch der Kultur, der Norm der eigenen Diagnose zu entsprechen. Unter jedem Dach ein Ach, hinter jeder Tür eine Atmosphäre … Hier gilt es, das, was mir entgegenschlägt oder mich richtungslos erfasst, auszuhalten als Profi die Fassung zu bewahren, das, was ich als Atmosphäre wahrnehme, in seiner leiblichen Dimension als Information zu nutzen und gleichsam nicht zu sehr in die persönliche Eigenwelt zu lassen ist die Aufgabe. Ich toleriere und utilisiere die Atmosphäre zur Diagnostik. Das sind alles Dinge, die ein Außenstehender gar nicht wahrnimmt, wenn er uns bei der Arbeit beobachten würde, und auch ich selbst wundere mich manchmal, warum ich nach einem Tag Sitzen und Reden so erschöpft und müde bin. Es ist das Spiel aus Widerstand und Preisgabe der mir begegnenden Atmosphären. Je nach Tagesfassung (wir Profis haben ja auch eine persönliche Welt mit Atmosphären zu bewältigen!) muss ich prüfen: Wie viel affektives Betroffensein ist nötig, um genug Empathie zu haben? Wie lange kann ich mich in gemeinsamen Situationen aufhalten, die 21 22
Schmitz (1995), S. 127 ff. Schmitz (2015), S. 96 f.
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Cornelia Diebow
geprägt sind von personalen Störungen? Wie viele Kolleginnen sind in welchem Zustand nötig, um die Konstellationen zu verändern? Wer braucht was, um die für die jeweilige Aufgabe richtige Fassung 23 zu finden? Welche Situation ist wie zu arrangieren, so dass etwas Ergreifendes die Übermacht bekommt, was unseren Klienten hilft? In Team- und Fallbesprechungen und regelmäßigen Visiten der Behandlungsleiter müssen wir uns immer wieder von eigener Ergriffenheit befreien lassen und gemeinsam explizieren, welche Konstellation in der persönlichen Welt, der eigenen oder der des Klienten, so verändert werden kann, dass eine gesunde Entwicklung möglich ist. Bedenkt man, dass wir als Personal nur anlassbezogen und somit die meiste Zeit nicht in der TWG sind, kann man sich leicht vorstellen, wie die vorherrschenden Atmosphären zur zuständlichen gemeinsamen Situation werden. Die Klienten berichten davon, dass ja nichts los sei. Fragt man: »Was machen Sie denn so den ganzen Tag?«, sagen sie: »Nichts« oder »Keine Ahnung!« Das ist eine sehr beliebte Antwort bei jungen Leuten. Überlassen wir die Klienten der Macht dieser Atmosphären, werden sie auf keinen Fall gesund – das wissen wir inzwischen sicher. Wir, die Mitarbeiter der TWG, tun alles dafür, um die Macht der uns beim Betreten der TWG und der Begegnung mit ihren Bewohnern vorherrschenden Atmosphären so gut es geht, professionell gefasst wahrzunehmen, zu explizieren, was genau ich erlebe und daraus abzuleiten, welche Konstellation nötig ist, um eine hilfreiche Einflussnahme wahrscheinlich werden zu lassen. Es ist das wirklich Herausfordernde an unserem Beruf, Menschen dabei zu unterstützen, gesund zu werden und die Übermacht der Atmosphären – die sie daran hindern – mit allen uns zur Verfügung stehen Mitteln zu überwinden. Dabei brauchen wir als Mitarbeiter eine Fassung 24 des Widerstands gegen das Leere, Drückende, oft auch die Ekel erzeugende Unsauberkeit. Das wichtigste Element unserer Arbeitsfähigkeit – 23
Heinz Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen. Angewandte Philosophie in zehn Berufsfeldern, Freiburg/München 2013, S. 250. 24 Becker (2013), S. 250.
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Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären
d. h. des Widerstands gegen die Macht der Atmosphären – ist die Haltung der Zuversicht, Großzügigkeit, Toleranz, Solidarität, aber auch Ernsthaftigkeit und Konsequenz. Diese Haltung und der Glaube an die Chance zur Veränderung (gesund werden ist möglich!) befördern das Entwickeln und das Aufrechterhalten einer Fassung, die Fülle, Freude, Spaß und Lebendigkeit Autorität verschafft. Dafür müssen wir bei uns sorgen, bevor wir in die TWG kommen. Es ist von Vorteil, wenn man gute Laune hat – am besten als Gesinnung. Gelingt es, unsere Klienten mitzureißen in eine Situation, die als Köder einseitiger Einleibung Gefühle enthält, die eine Atmosphäre entstehen lässt, die ihnen gut tut, folgen sie uns gern und können gesund werden. Der Focus der Betreuung in der TWG liegt also darin, dafür zu sorgen, dass »etwas los« ist, etwas, das so anders, wohltuend, schön und interessant ist, dass es irgendwann wie von selbst als prospektive Attraktion angestrebt wird. Wir können Atmosphären nicht bestimmen, aber Situationen anrichten: Beim Gruppenangebot »Schöner Kochen«, beim »Mit Vergnügen«-Nachmittag. Hier gibt schon die Bezeichnung an, welche Atmosphäre wir gern ansiedeln würden. Aber auch bei verschiedensten Gelegenheiten, die sich in der gemeinsamen Arbeit und der Begegnung in der TWG ergeben, gibt es viele, viele Möglichkeiten, Köder der Einleibung auszuwerfen, die für die Klienten wichtige Gefühle als Atmosphären enthalten. Wer »gewinnt«, ist nicht immer vorauszusagen, manchmal kommt alles anders – so wie im folgenden Beispiel: Alle TWG-Bewohner, Betreuer und Praktikanten sitzen am Weihnachtstisch, die Kerzen flackern, der Duft nach Weihnachtsgänsebraten und köstlichem Rotkohl durchzieht den Raum, ein alkoholfreier Punsch verströmt lieblichen Zimtduft und Frau Z. schlägt mit dem Kopf auf den Tisch und sagt »Ich will nichts!«. Sie verharrt in dieser Position. Es ist dann davon auszugehen, dass bei ihr durch die Konstellation, die wir zur Verfügung gestellt haben, lebensgeschichtlich bedingt, andere Gefühle als Atmosphären geweckt wurden, als wir es uns wünschten. In einer der nächsten Einzelsitzungen kommt auf, wie Weihnachten früher in der Familie ablief: Geschenke der Eltern, die schwere Alkoholiker 387 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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waren, wurden Heiligabend unverpackt in die Kinderzimmer geworfen – daran erinnerte sie sich und war auf unangenehme Art subjektiv ergriffen. Hier muss man dranbleiben – neue Möglichkeiten von Preisgabe und Widerstand eröffnen, das Gespürte vom Wahrgenommenen trennen, trösten und etwas Neues (du hast die Gestaltungsmacht für dein Weihnachtsfest!) in die persönliche Situation 25 implementieren. 4
Prosopiatrie in einer Therapeutischen Wohngemeinschaft
»Wenn ein Nährboden aus Konstellationen einer Atmosphäre Raum bietet, die der Klient normalerweise nicht bei sich ansiedelt, dann besteht die Möglichkeit, dass der Klient betroffen ist. Wenn die Belegschaft das für gut erachtet, unterstützt man diese Atmosphäre weiter … so lange, bis sich in der persönlichen Welt des Klienten etwas verändert.« 26 Wir sorgen also in der TWG durch personale Übermacht mit einer bestimmten Haltung und Fassung für Konstellationen, die in Kombination mit den im Mietvertrag verankerten Normen einer TWG Chancen für Folgendes bieten: • Die Bereitstellung eines gemeinsamen vitalen Antriebs 27 (als eine Art Außenbord-Motor) bei leiblichen Störungen der Subjektivität (z. B. Depression). • Die Möglichkeit zum Objektivieren und Neutralisieren und damit der Veränderung des affektiven Betroffenes-Seins. • Die Explikation von subjektiven Bedeutungen (Sachverhalten, 28 Programmen 29 und Problemen 30), die der gestörten Subjektivität der Person zugrunde liegen.
25 26 27 28 29 30
Schmitz (1980), S. 287–415. Robby Jacob, 2017, persönliche Mitteilung. Schmitz (1995), S. 127 ff. Schmitz (1995), S. 59. Schmitz (1995), S. 323. Schmitz (1995), S. 6.
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Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären
• In der leiblichen Kommunikation bieten wir unseren Klienten neue Varianten des affektiven Betroffen-Seins und Fassungen 31 zum Umgang damit an. • Ermutigung zur Preisgabe im affektiven Betroffen-Sein, Finden neuer Fassungen im therapeutischen Rahmen und Erproben selbiger. • Die Implikation neuer Normen. • Die Veränderung der Art und Weise, wie sich der Klient den Aspekten seiner persönlichen Welt widmet. • Die Entwicklung attraktiverer Lebenstechniken – sei es durch Beobachtung anderer Verhaltensweisen, spielerische Identifikation 32 oder Erprobung im geschützten Rahmen. Die TWG reizt. Es gibt ein Zusammenspiel zwischen Diagnostik und Intervention. Die therapeutisch bewirkten Veränderungen in der persönlichen Welt können in der TWG überprüft und stabilisiert werden. Dies kann an folgendem Beispiel veranschaulicht werden: Es handelt sich um die Geschichte der Veränderung des vitalen Antriebs 33 durch die Veränderung der räumlichen Konstellationen. In unserer WG wohnte eine vierunddreißigjährige Frau mit einer schweren Störung im Bereich der personalen Regression 34 und Emanzipation, 35 von Schulmedizinern Schizophrenie genannt. Sie war in der Lage, schreckliche Bilder zu sehen und bekam große Angst. Sie sah Leichen vom Himmel fallen und fürchtete sich vor dem schwarzen Mann. Schon seit ihrer Kindheit war sie immer wieder in depressive Zustände gefallen, denen man mit Medikamenten und diversen Gruppen- und Einzeltherapien begegnete. Sie hatte ihr Abitur geschafft und einige Semester Rehabilitations-Pädagogik studiert. Zwei Jahre hat sie selbst in einer Wohneinrichtung für geistig und körperlich Behinderte gearbeitet. Dort wurde sie paranoid-psychotisch. 31 32 33 34 35
Becker (2013), S. 250. Schmitz (1995), S. 175. Schmitz (1995), S. 127 ff. Schmitz (1995), S. 156 ff. Schmitz (1995), S. 156.
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Als wir sie kennenlernten, befand sie sich in einer Lebenssituation, in der sie jedes affektive Betroffensein zu vermeiden versuchte. Von ihrem drogensüchtigen Mann schon länger räumlich getrennt, traute sie sich nach ihrer letzten Psychose nicht mehr zurück in ihre eigene Wohnung wegen der Atmosphäre der Bedrohung, die sie dort wahrgenommen hatte. Auch in ihren Job wollte sie nicht zurück, da sie glaubte, beruflicher Stress habe ihre Psychose ausgelöst. Sie wollte sich ausruhen und schonen. So kam sie in unsere TWG. Sie war oft sehr erschöpft und traurig und zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie saß dort meist auf der Couch, starrte die Wand an und rauchte. Die Couch, die gleichzeitig als Bett diente, stand mit dem Rücken zum Fenster, ein großer Schrank, auf dem Tüten und Kisten bis zur Decke gestapelt waren, verstellte den Blick zur Zimmertür. Die Klientin hielt sich oft übergangslos vom Schlafen zum Wachen auf dem Sofa auf, ohne das Bettzeug wegzuräumen. Die Regale, Tische und Schränke im Zimmer waren vollgestellt mit kleinen Figuren und Bildchen – Erinnerungsstücke aus einer vergangenen Zeit. An einer Wand stand ein sehr teurer, für das kleine Zimmer zu großer Kamin-Nachbau, der, wie alles im Raum, mit einem grauen Schleier von Staub überzogen war. Die weiß gestrichenen Wände waren durch das Rauchen gelblich geworden. Geschmackvolle Möbel und die Liebe zur Gestaltung waren sichtbar, aber verschüttet unter einer Staubschicht. Betraten wir das Zimmer, erfasste uns ein Gefühl der Beklommenheit und Traurigkeit, wie im Haus einer Verstorbenen, das über Jahre unverändert geblieben war und mit Eindrücken aus dem Leben einer Fremden überladen war. Diese Atmosphäre schien uns sehr geeignet, die personale Lähmung aufrechtzuerhalten. Wir holten die Klientin regelmäßig aus ihrem Zimmer, machten mit ihr Sport und andere Aktivitäten. Im Verlauf von zwei Jahren therapeutischer Interventionen, die wir üblicherweise bei Menschen mit dieser Art von Störung der Subjektivität durchführen, veränderte sich leider wenig. Sie saß auf ihrer Couch, starrte 390 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
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die Wand an und rauchte. Auch ihre Medikamentendosis war opulent. Bewegungssuggestionen 36 zur Stimulation des vitalen Antriebs 37 waren gefragt. Es musste etwas gefunden werden, das sie wieder in die Welt außerhalb der TWG zieht. Ich hatte die Idee, die Zimmereinrichtung so zu verändern, dass die Frau ihren Blick nach draußen in die Weite richten könnte und dass sich auch der Blick zur Tür als mögliche Verlockung anböte. Eines Tages kam eine hochmotivierte Architektin in unser Team, die sich darauf spezialisiert hatte, Menschen bei der Gestaltung ihrer Wohnung zu unterstützen, so dass eine Situation entsteht, bei der die Wahrscheinlichkeit für Gesundheit steigt. Die Ressource der Klientin, dass sie schon immer eine große Begeisterung für Raumgestaltung und Dekoration hatte und dass sie schon früher ihre Wohnungen liebevoll ausgestattet hatte, wollten wir nutzen: Es ging darum, dass durch Einrichtung und Farbgestaltung ein von ihr gewünschtes Klima des Gefühls mit Zuwendung des vitalen Antriebs gefördert werden könnte. Wir schickten unsere Kollegin zu der Klientin, die ihren Auftrag verschleierte damit die Klientin nicht gleich wieder Angst bekommt und sagte: »Ich habe gehört, Sie interessieren sich für geschmackvolle Inneneinrichtung und hätten hier ein sehr schönes Zimmer. Möglicherweise kann ich Ihnen bei der Umgestaltung behilflich sein. Und wer weiß, vielleicht geht es Ihnen danach sogar besser …«. Die Klientin war ganz begeistert von dem Vorschlag unserer Kollegin, das Zimmer umzugestalten. Sie hatte sofort erstaunliche Kraft und Motivation und arbeitete tatkräftig mit. Sie besorgte die Farbe und trug, ohne Auto, ohne Hilfe, den schweren Farbeimer in die WG. Die Interventionen waren relativ einfach: Das Sofa wurde gedreht und an die Wand gestellt, so dass der Blick nach Draußen in die Weite des Himmels und auf eine 36 37
Schmitz (1995), S. 140 ff. Schmitz (1995), S. 127 ff.
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Grünfläche frei war. Wenn sie nach rechts schaute, sah sie ihre Zimmertür. Das Schlafsofa wurde tagsüber zum Sofa umgebaut und das Bettzeug weggeräumt, so dass sich personale Regression 38 und Emanzipation 39 deutlich unterscheiden konnten, was die Stellungnahme zur leiblichen Regung Müdigkeit betraf. Durch Möblierung und Farbgestaltung wurden in dem Raum zwei Bereiche gestaltet, um durch die unterschiedlichen synästhetischen Charaktere 40 eine Ergriffenheit von verschiedenen Gefühlen zu ermöglichen. Es ging darum, dass mindestens zwei Qualitäten vorhanden sind, so dass, wenn man durch den Raum geht, sich auch das personale Niveau von Regression und Emanzipation ändern kann. Die Auswahl der Farbe geschah, indem wir eine gewünschte Situation kreiert und diese an eine Farbe gebunden haben. Die prospektiven Anteile der gewünschten Situation beinhalteten unter anderem eine eigene Wohnung, die von ihr geschmackvoll eingerichtet und farblich gestaltet war. Der Klientin wurden Farbkarten gezeigt und es gelang ihr, zielsicher die passende Farbe der gewünschten Situation zu benennen. Die Wand hinter dem Sofa und dem Kamin wurde in dieser ausgewählten Farbe gestrichen: ein zart-pastelliges Blau-Grün. Diese verlieh dem Raum sofort eine verlockende Frische. Der zweite Bereich blieb weiß und war durch die Möblierung mit geraden Linien klarer und strukturiert. Die Schränke wurden aufgeräumt. Dadurch entstanden mehr freie Flächen. Es wurde von ihr nun regelmäßig Staub gewischt. Nach der Veränderung der Konstellationen des Raums zeigte sich schnell, dass der vitale Antrieb 41 der Patientin wieder in Schwung kam. Die Klientin hatte sich deutlich verändert. In dem, was sie tat und was sie erlebte, wirkte sie fluider. Sie hatte mehr Energie und keine Angst mehr, sich im Alltag zu überanstrengen. 38
Schmitz (1995), S. 156 ff. Schmitz (1995), S. 156. 40 Hermann Schmitz: System der Philosophie, Band III: 5. Teil: Die Wahrnehmung, Bonn 1989, S. 47–69. 41 Schmitz (1995), S. 127 ff. 39
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Sie hat sich ihrer gewünschten Situation zugewendet: Innerhalb eines Jahres hörte sie auf zu rauchen und ist einige Zeit später wieder in eine eigene, selbst gestaltete Wohnung gezogen. Die Wohnungssuche und den Umzug hatte sie weitgehend selbst bewältigt. Als letzte Veränderung der persönlichen Situation 42 gab ich ihr für angsterzeugende Explikation der subjektiven Tatsache »Ich muss mich vor Stress schützen, sonst werde ich wieder psychotisch!« eine neue Gattung: Nach Gesprächen und genauer Exploration ihres affektiven Betroffenseins vor und während ihrer Psychose konnten ich ihr voller Überzeugung sagen: »Nicht der Arbeitsstress hat Sie wahnhaft werden lassen, sondern das binnendiffus wahnhafte Erleben, die sog. Wahnstimmung hat sie in Stress versetzt.« Diese Neutralisierung 43 eines für sie dramatischen Sachverhalts sorgte für eine Änderung des Programms, z. B. Berge von Medikamenten zu nehmen. Wir waren sehr stolz, dass diese an Depression und Schizophrenie erkrankte Frau in unserer Behandlung gesund geworden ist. Heute lebt sie zufrieden als Frührentnerin. Sie hat Freunde und eine Familie, um die sie sich kümmert. Eine andere Atmosphäre hatte die Macht. 5
Atmosphären, Macht und Normen
Wenn es darum geht, welche Atmosphären wir in der TWG gern ansiedeln lassen, möchte ich sagen, dass es sich um eine Mischung von Aufgeschlossenheit und Anpassung, aber auch kritische Auseinandersetzung in gemeinsamen Situationen handelt. Das Credo ist: »Wir wollen es gut miteinander haben. Jeder soll die Chance haben, gesund zu werden«. Dazu ist ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit wichtig, aber auch Anpassung nötig, weshalb die Nicht-Duldung von Aggressionen als Norm unabdingbar ist. Es 42
Schmitz (1980), S. 287–415. Hermann Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie, Band 2, Freiburg/ München 2007, S. 685.
43
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ist so, dass wir sehr früh intervenieren, wenn wir bemerken, dass Leute aggressiv sind. Wir warten nicht, bis es eskaliert. Es reicht schon eine verbale Aggression, um als Team sofort alle Register der Grenzsetzung zu ziehen und mit den Klienten zu thematisieren, was hinter ihrem Verhalten steckt. Wir trainieren, Feedback zu geben, ohne zu zerstören – auch gegenüber den Mitarbeitern. Im Mietvertrag sind Normen verankert, die uns dabei unterstützen, uns mit unbedingtem Ernst darum zu kümmern, dass Wertschätzung, Wohlwollen, also wirklich ein »Füreinander- und Miteinander-Sein«, die gemeinsame Haltung ist. Wir Mitarbeiter bieten uns als »Beobachtungsobjekte« an, sorgen für ein gutes Klima und bringen den Klienten das nötige Knowhow bei, selbst dafür zu sorgen, dass angenehme Atmosphären eine Chance haben, sich um sie herum anzusiedeln. Wir bieten in der TWG eine neue Fassung 44 für die Lösung von Problemen des Wohnens und ermöglichen den Bewohnern die Utilisierung einer neuen Haltung, die, wenn sie geeignet ist für das, was die Person für sich erreichen will (z. B. in einer eigenen Wohnung zu leben), in die persönliche Situation 45 einwachsen kann. Ein Bewohner kann davon ergriffen werden, dass Widerstand gegen Hausarbeit anstrengend, unnütz und mürrisches Tun unangenehm ist. Etwas Neues: »Ich mach das jetzt einfach!« kann in die persönliche Situation einschmelzen. Mit zunehmender Verweildauer der Bewohner wird aus der aktuellen Situation 46 eine zuständliche. Es ist tatsächlich so, dass dieser Geist, der durch die gemeinsame Situation in unserer TWG entsteht, z. B. »Mensch, das machen wir jetzt einfach für einander/miteinander«, dann auch tatsächlich im Laufe der Zeit die Bewohner ergreift. Es entsteht eine neue Kultur des Wohnens. Der Umgang miteinander ist fröhlicher, toleranter, zugewandt. Die kollektive Null-Bock-Atmosphäre weicht einem offenen, freundlichen Miteinander. Auch wenn wir nicht da sind, machen die Leute etwas zusammen und unterstützen einander. Manchmal entstehen Freundschaften oder gar 44 45 46
Becker (2013), S. 250. Schmitz (1980), S. 287–415. Schmitz (1995), S. 65.
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Arbeit mit und unter der Macht von Atmosphären
Liebesbeziehungen. Unsere Klienten sind dann ganz schön mitgenommen – von einer neuen Atmosphäre! Das Wohnen als die Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum 47 kann gelingen, wenn im therapeutischen Einzel- oder Gruppensetting die Aspekte der persönlichen Situation mit den möglichen Fassungen für ein gesundes Leben ausgestattet werden. Die Konstellationen und gemeinsamen Situationen so zu verändern, dass das geschehen kann und die Fassung wieder zu finden, wenn wir vom Unverfügbaren einer Atmosphären affektiv betroffen sind, ist das, was unseren Beruf so anstrengend, aber auch so unglaublich spannend und schön macht. Die Atmosphären haben die Macht – machen wir das Beste daraus!
47
Schmitz (2014), S. 28.
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Barbara Wolf
Diversität schafft Atmosphären. Machtvolle Momente inklusiver Pädagogik
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Einleitung
Atmosphären bilden ein ubiquitäres Phänomen in der Schule, das bisher in seiner Wirkmächtigkeit häufig unterschätzt wurde. Seit dem Body Turn werden in den Sozialwissenschaften das Subjekt, sein affektives Betroffensein und die daraus resultierenden Sinnund Bedeutungshorizonte zunehmend ernst genommen. 1 Im Schulkontext werden für die Wahrnehmung von intersubjektiven Vorgängen nicht nur den Sinnesorganen, sondern auch dem spürenden Hinachten und Aufmerken von feinen Nuancen zwischenmenschlicher Interaktion eine hohe Relevanz zugeschrieben. Längst wird die Person – also auch Lehrer*innen und Schüler*innen – nicht mehr als stets rational handelnde Akteure verstanden, 2 sondern zugleich als Patheure, die von dem sie umgebenden Schulklima affiziert werden 3. Dabei kann das leibliche Betroffensein von Atmosphären als ein Apriori von Sozialität betrachtet werden. 4 Mit der Überwindung der Innen-Außenwelt-Dichotomie Ende des 19. Jahrhunderts beginnt der wissenschaftliche Diskurs 1
Michael Uzarewicz: Der Leib und die Grenzen der Gesellschaft. Eine neophänomenologische Soziologie des Transhumanen, Stuttgart 2011, S. 156 ff. 2 Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt/New York 1988, S. 56. 3 Jürgen Hasse: Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen, Freiburg 2015, S. 45. 4 Robert Gugutzer: »Leib und Situation. Zum Theorie- und Forschungsprogramm der neophänomenologischen Soziologie«, in: Zeitschrift für Soziologie 46 (3), 2017, S. 147–166, hier S. 150.
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Diversität schafft Atmosphären
über Atmosphären und die Frage, wie Menschen tatsächlich zu den Dingen kommen. 5 Es wurden verschiedene Konzepte entwickelt, die räumliche 6 und personale 7 Dimensionen des Atmosphärenbegriffes betrachten. Eine Verknüpfung räumlicher und persönlicher Aspekte nimmt unter anderen Gernot Böhme mit der Vorstellung von »gestimmten Räumen« vor, aber auch durch die Einflussnahme von Personen durch Verhalten, Reden, Gestik und Mimik. 8 Auf der Grundlage von Heidegger, Dürckheim und Tellenbach entwickelt Hermann Schmitz ein differenziertes und auf Situationen basiertes Atmosphärenkonzept. 9 In Abgrenzung zur psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Denktradition unterscheidet er zwischen dem physikalisch vermessbaren Ortsraum und dem gespürten flächenlosen Raum. 10 Atmosphären bezeichnet er als »umfassende Besetzung eines flächenlosen Raumes« (z. B. Leib, Gefühle, Atmosphären) im Bereich dessen, was »als anwesend erlebt wird«. 11 Dabei differenziert er zwischen drei Formen von Atmosphären als »leiblich ergreifende Mächte«: leibliche Regungen (wie Mattigkeit, Wohlbehagen), Atmosphären des Gefühls (z. B. Trauer, Freude, Zorn) und 5
Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare: gefolgt von Arbeitsnotizen, 2. Aufl., München 1994; Helmuth Plessner: Condition Humana. Gesammelte Schriften VIII., 2. Aufl., Frankfurt 2015; Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt 1983/ 1929; Hermann Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, Rostock 2003. 6 Martin Heidegger: Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen 2006, S. 56; Karlfried von Dürckheim: »Untersuchungen zum gelebten Raum. Erlebniswirklichkeit und ihr Verständnis. Systematische Untersuchungen II«, in: Ders.: Untersuchungen zum gelebten Raum, Frankfurt a. M. 2005, (11–108) S. 14. 7 Otto Friedrich Bollnow: Die pädagogische Atmosphäre. Untersuchungen über die gefühlsmäßigen zwischenmenschlichen Voraussetzungen der Erziehung, Heidelberg 1964, S. 11; Hubert Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre. Medien menschlichen Elementarkontaktes, Salzburg 1968, S. 48. 8 Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, 2. korr. Aufl., München 2013, S. 38. 9 Barbara Wolf: »Methoden phänomenologischer Sozialisationsforschung«, in: Sociologia Intenationalis – Europäische Zeitschrift für Kulturforschung, Berlin 2019, 55. Band, 2017, S. 167–189, hier S. 173. 10 Hermann Schmitz, Atmosphären, Freiburg 2014, S. 14. 11 Schmitz (2014). S. 19.
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Barbara Wolf
weitere Atmosphären (z. B. Wetter, Stille). 12 Kollektive Atmosphären (in der Schulklasse, in der Lehrerkonferenz, beim Schulfest) werden über wechselseitige Einleibung durch Bewegungssuggestionen wahrgenommen, die in gemeinsamen Situationen entstehen. 13 Soziologisch betrachtet kann atmosphärisch aufgeladenen gemeinsamen Situationen in der Schule eine weitreichende Bedeutung zugesprochen werden, da das affektive Betroffensein Auswirkungen auf das Handeln in Folgesituationen hat. 14 Atmosphären bilden den bedeutsamen Hintergrund dessen, was in der Schule erlebt, erlernt und erfahren wird und im Folgenden im Hinblick auf das Thema Inklusion genauer betrachtet werden soll. Zunächst werden in aller Kürze die Begriffe Diversität, Integration und Inklusion definiert. Dann werden wesentliche Argumente von Befürwortern und Gegnern aus dem Inklusionsdiskurs im Schulsystem benannt. Danach werden in Rekurs auf Christian Julmis Typologie der Atmosphären mächtige Atmosphären im Kontext der Inklusionsdebatte beschrieben, und zwar auf der Ebene des öffentlichen Diskurses, auf der institutionellen Ebene der Schule und anhand von Beispielen aus dem konkreten Unterricht. Schließlich wird eine Synthese aus den unterschiedlichen Perspektiven entwickelt und die Wirkmächtigkeit der Atmosphären beleuchtet. 1
Diversität, Integration und Inklusion
Dass in Bildungsinstitutionen Menschen mit unterschiedlicher Kultur, Herkunft, Religion, Alter, Geschlecht und Bildungshintergrund aufeinandertreffen, ist kein neuer Gedanke, der jedoch bisher unter dem Begriff Heterogenität im Sinne von Urie Bronfenbrenners ökosystemischem Modell verwendet wurde. 15 Diver12 13 14 15
Schmitz (2014). S. 30. Schmitz (2014). S. 56. Gugutzer (2017), S. 150. Vgl. Urie Bronfenbrenner: Ökologische Sozialisationsforschung, Stuttgart 1976.
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Diversität schafft Atmosphären
sität berücksichtigt zusätzlich die Intersektionalität, was die Überschneidung von unterschiedlichen möglichen Diskriminierungsformen bedeutet, und fordert eine neue Wissenschafts- und Fachkultur, die nach Bettina Jansen-Schulz inter- und transdisziplinär ausgerichtet ist und eine Ko-Evolution von Wissenschaft und Gesellschafft mitdenkt, 16 was ein anspruchsvolles gesamtgesellschaftliches Projekt darstellt. Um Diversität als Vielfaltskultur der höchst unterschiedlichen Ausgangslagen von Lernenden im Bildungswesen gerecht zu werden, wurde das Konzept der Inklusion entwickelt. Der Begriff der Inklusion muss deutlich unterschieden werden von dem der Integration. Der Integrationsdiskurs der 70er Jahre befasste sich laut Sierck vor allem mit der Eingliederung von Behinderten ins deutsche Bildungssystem aus der Perspektive von nichtbehinderten Eltern, Lehrern und Wissenschaftlern. »Sie bestimmen, welche behinderten Kinder oder Erwachsenen, wann, wo, warum (…) integriert werden. Sie sind es selbstverständlich auch, die beurteilen, ob diese Versuche als gelungen oder fehlgeschlagen gelten«. 17 Das Konzept der Inklusion ist jedoch deutlich weiter gefasst und gelangte durch die 2008 in Kraft getretene UN Behinderten-Rechts-Konvention zu breiter Beachtung. Die UN-Konvention geht vom Diversity-Ansatz aus, der »Behinderung als Bestandteil menschlicher Normalität, Vielfalt und Bereicherung betrachtet«. 18 Die uneingeschränkte Zugänglichkeit für beeinträchtigte Menschen zu allen geeigneten Bildungsinstitutionen und die Rücksicht auf ihre Bedürfnisse wird zum Menschenrecht. Das Konzept der Inklusion geht dabei über die Personengruppe der als »Behinderte« Bezeichneten hinaus. Inklusion bedeutet für allgemeine Schulen die bestmögliche Förderung von Kindern mit 16
Bettina Jansen-Schulz: »Veränderung der Fach- und Lehrkultur durch GenderDiversity«, in: Ingrid Rieken/Lothar Beck (Hrsg.), Gender – Schule – Diversität. Genderkompetenz in der Lehre in Schule und Hochschule, Marburg 2014, S. 8. 17 Udo Sierck: Die Wohltäter-Mafia: vom Erbgesundheitsgericht zur humangenetischen Beratung, Frankfurt 1989, S. 9. 18 Georg Theunissen: »Die UM-Konvention, Artikel 24, ein Kommentar«, in: Klaus Metzger/Erich Weigl (Hrsg.), Inklusion – eine Schule für alle, Berlin 2010, S. 24.
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heterogenen Merkmalen des Geschlechts, der sozialen Herkunft, der Ethnie und ihrer Lernmöglichkeiten. 19 Katharina Willems propagiert das »angemessene, nicht hierarchische und damit demokratische Eingehen auf die vorhandene Heterogenität der Schüler*innen«. Alle Formen der Benachteiligungen, welcher Art auch immer, sollen berücksichtigt werden, um Barrieren für Teilhabe abzubauen. 20 Dennoch müssen Kinder oder Lernende zunächst durch unterrichtsbegleitende Diagnostik und formale Testverfahren unterschiedlichen Syndromen oder Förderbedarfen zugeordnet werden, um entsprechend Fördermittel und spezialisiertes Personal beantragen zu können. 21 Damit bleibt die Bedingung der Möglichkeit von Inklusion in gewisser Weise voraussetzungsvoll und hierarchisch und im Sinne Foucaults ein Dispositiv der Macht. 22 2
Einige Argumente im Inklusionsdiskurs
An dieser Stelle sollen nun in groben Zügen die Argumente der Inklusionsdebatte dargestellt werden, was nur einen kursorischen Einblick gewähren kann. Ausgehend vom Inklusionsbegriff der UN-Konvention im Sinne einer »inklusiven Gesellschaft« sollen beeinträchtigte Kinder im allgemeinen Bildungssystem mit nicht beeinträchtigten Schüler*innen lernen. Die Bundesländer stellten ein 24-Punkte-Programm auf, aus dem hier einige wenige Schlagworte genannt werden: Stärkung der allgemeinen Schule, per19
William Middendorf: »(K)eine Angst vor Inklusion? Herausforderungen und Chancen gemeinsamen Lernens in der Schule – eine Einführung«, in: Christian Fischer (Hrsg), (Keine) Angst vor Inklusion. Herausforderungen und Chancen gemeinsamen Lernens in der Schule, Münster 2015, S. 9. 20 Katharina Willems: »Reflexive Inklusion – Perspektiven schulischer Fachkulturen«, in: Ingrid Rieken/Lothar Beck (Hrsg.), Gender – Schule – Diversität. Genderkompetenz in der Lehre in Schule und Hochschule, Marburg 2014, S. 127–145, hier S. 129. 21 Middendorf (2015), S. 10. 22 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 2015, S. 146 ff.
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sonenbezogene statt institutionsbezogene Förderung, frühkindliche Prävention, Stellenwert der Förderschulen, Lehrerbildung, Partizipation aller Beteiligten am Förderprozess, Übergang ins Berufsleben, Inklusion zur solidarischen Gesellschaft. 23 Dies stellt ein ambitioniertes Programm dar, das von vornherein auf Separation verzichtet. 24 Für die praktische Umsetzung existiert umfangreiche Ratgeberliteratur, die eine Reflexion der Lehrerrolle vorsieht 25 und Bausteine einer inklusiven Methodik und Didaktik beschreibt, die von Haltungen über Multiprofessionalität bis hin zu Elternarbeit reichen. 26 Ines Boban und Andreas Hinz entwickelten gar einen Index für Inklusion, der als Konzeptualisierungs-Instrument den sicheren Übergang zur inklusiven Schule ermöglichen soll. 27 Häufig wird die gebundene Ganztagsschule als institutionelle Grundlage der Inklusion betrachtet, da alternative Lernrhythmen möglich werden. 28 Auf der anderen Seite steht das etablierte dreigliedrige Schulsystem mit seinen soziologisch-gesellschaftspolitischen Dimensionen. Schule sorgt als gesellschaftliche Institution mit spezifischen zeitlichen, räumlichen, sachlichen und personellen Verfahren für Qualifikation, Selektion, Allokation und Kontrolle kindlicher Lebensläufe. 29 Das Leistungsprinzip soll dabei feudale Statusvererbung ersetzen und prinzipiell jedem die gleichen Bildungschancen zugestehen. Das Zensurengeben gilt – mit Ausnahme der 23
Erich Weigl: »Der bayerische Weg der Inklusion durch Kooperation«, in: Klaus Metzger/Erich Weigl (Hrsg.), Inklusion – eine Schule für alle, Berlin 2010, S. 31 ff. 24 Anton Nuding: Herausforderung: Schulische Inklusion, Hohengehren 2016, S. 18. 25 Gundula Dechow/Komstanze Reents/Katja Tews-Vogler: Inklusion Schritt für Schritt. Chance für Schule und Unterricht, Berlin 2013, S. 9. 26 Vgl. Kersten Reich: Inklusive Didaktik. Bausteine für eine inklusive Schule, Weinheim/Basel 2014. 27 Vgl. Ines Boban/Andreas Hinz (Hrsg.): Arbeit mit dem Index für Inklusion, Bad Heilbrunn 2016. 28 Reich (2014), S. 186. 29 Herbert Schweizer: Soziologie der Kindheit. Verletzlicher Eigensinn, Wiesbaden 2007, S. 98.
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ersten Grundschuljahre – als konstitutiv für Lehrerhandeln und zwingt die Lehrkraft, »sich mit dem einzelnen Schüler zu befassen und ihn zu vergleichen«. 30 Dieses Bewertungssystem ist durch streng ritualisierte Verfahren gesichert. Gute Leistungen führen zu Schulerfolg, einem guten Abschluss und eröffnen Karrieren. Schwache Leistungen werden im »Systemgedächtnis« kategorial unter »schlechter Schüler« gespeichert und führen in letzter Konsequenz zu der Entscheidung: ›Versetzung – Nichtversetzung‹. 31 Dies geschieht deshalb, da Bildungsabschlüsse und Zensuren in westlichen Gesellschaften einen erheblichen statusverleihenden Stellenwert besitzen. Curricula sind politisch und ökonomisch selektiert, um spezifisches Handlungswissen zu vermitteln, das über Chancen oder Benachteiligungen beim sozialen Aufstieg entscheidet. 32 Dabei spielen bekanntlich der primäre und sekundäre Herkunftseffekt nach Boudon eine entscheidende Rolle. 3
Ideologische Dimensionen der Inklusionsdebatte
Neben objektiven Sachverhalten wird der Diskurs um Inklusion begleitet von einer ideologischen Dimension, die von heftigen Gefühlen geleitet ist. Menschen sind zutiefst affektiv betroffen, in einem Ausmaß, als wenn es um ihr Leben bzw. das ihrer Kinder ginge. Soziale Akteure werden zunehmend zu Patheuren, die an den Verhältnissen des Schulwesens zu leiden beginnen. 33 Es entstehen machtvolle Atmosphären, die sich auf zwei Ebenen darstellen lassen, erstens auf der Ebene des Fachdiskurses und zweitens auf der Ebene der pädagogischen Interaktion. Ich verwende den Begriff Atmosphären hier im Sinne von Hermann Schmitz als »räumlich ergossene Atmosphären und 30
Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt 2002, S. 64. Luhmann (2002), S. 66. 32 Matthias Grundmann: »Sozialisation – Erziehung – Bildung: Eine kritische Begriffsbestimmung«, in: Becker, Rolf (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie, Wiesbaden 2009, S. 71. 33 Jürgen Hasse: Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen, Freiburg 2015, S. 45. 31
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leiblich ergreifende Mächte«. 34 Diese werden pathisch erfahren, können aber auch aktiv durch Personen beeinflusst werden, im Sinne Böhmes durch »ihr Verhalten, ihr Reden, Gestikulieren, (…) durch ihre pure leibliche Anwesenheit, durch ihre Stimme und vieles mehr«. 35 Atmosphären sind durch personale Einflüsse geprägt, wie Bollnow am Beispiel von Haltungen wie Geduld, Hoffnung und Heiterkeit eindrucksvoll expliziert hat. 36 Weiterhin spielt die räumliche Dimension als »gelebter Raum« 37 oder wie Schmitz es nennt, als »flächenloser Raum« eine bedeutsame Rolle. 38 Dem Atmosphärenkonzept liegt das Prinzip der Zwischenleiblichkeit als Vermittler zwischen Ich und Welt zugrunde. 39 Das Spüren und Wahrnehmen gilt als erkenntnisgenerierendes Orientierungsmuster, wobei das leibliche Betroffensein von Atmosphären als ein Apriori von Sozialität betrachtet wird. 40 Die Frage ist nun, welche Atmosphären sich auf der Diskursebene ausbilden. Im Fachdiskurs wird mit Bourdieu aus einem tief im eigenen Leib liegenden Gespür für Differenzen ein Habitus generiert, der durch Exteriorisierung der Interiorität den Akteuren eine konstruierende und einteilende Macht ermöglicht. 41 Zunächst einmal handelt es sich bei dem Projekt »inklusive Schule« nicht etwa um eine bescheidene pädagogische Maßnahme zur Förderung des individuellen Kindes. Das Ziel inklusiver Pädagogik ist nicht weniger als die »inklusive Gesellschaft«. 42 Dies ge34
Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg 2014. S. 30. Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, 2. korr. Aufl., München 2013, S. 38. 36 Bollnow (1964), S. 56. 37 Vgl. Karlfried Dürckheim: »Untersuchungen zum gelebten Raum. Erlebniswirklichkeit und ihr Verständnis. Systematische Untersuchungen II«, in Ders.: Untersuchungen zum gelebten Raum, Frankfurt a. M. 2005, S. 11–108. 38 Hermann Schmitz: Atmosphären, Freiburg 2014, S. 19. 39 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare: gefolgt von Arbeitsnotizen, 2. Aufl., München 1994. 40 Gugutzer (2017), S. 150. 41 Norbert Ricken: Die Ordnung der Bildung, Wiesbaden 2006, S. 108. 42 Georg Theunissen: »Die UN-Konvention, Artikel 24, ein Kommentar«, in: Klaus Metzger/Erich Weigl (Hrsg.), Inklusion – eine Schule für alle, Berlin 2010, S. 25. 35
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schieht aus dem Bedürfnis heraus, endlich globale Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu ermöglichen. Es handelt sich somit um einen affektiv besetzten normativen Auftrag, der emphatisch vertreten wird. Als ideologischer Leuchtturm steht die Aussicht, das real existierende mehrgliedrige Schulsystem zu überwinden, indem es in eine Einheitsschule mündet. 43 Nach gescheiterten Bewegungen zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsform bietet Inklusion nun womöglich ein neues gesellschaftliches Ziel an: Schule als diskriminierungsfreier Raum, als Keimzelle einer neuen Gesellschaft. 44 Inklusion wird zu einer charismatischen Bewegung gegen Ausgrenzung und für die Gleichstellung von Randgruppen und diskriminierten Personen. Eltern nimmt die Inklusionsschule das Stigma des nicht-normalen Kindes von den Schultern. 45 Die Hoffnung auf eine glücklich erlebte Kindheit scheint erreichbar. Akademiker werden von individuellen Schuldgefühlen gegenüber den »armen Anderen« entlastet und betrachten die Schulreform als eine Lösung der sozialen Frage. 46 Die Inklusionsdebatte beinhaltet somit übergeordnete gesellschaftliche, emotional besetzte Ziele, die ein gewisses Heilsversprechen in sich tragen und im Diskurs zeitweise eine ideologische Ausrichtung von religionsersetzendem Charakter annehmen, wie die Spaltung in Gläubige und Häretiker zeigt. 47 4
Typen von Atmosphären in der Inklusionsdebatte
Im Sinne von Christian Julmis Typologie der Atmosphären entsteht eine einladend-weitende Atmosphäre, welche den Blick auf ein neues Zeitalter eröffnet, in dem alle ihren Platz finden, »an dem sie sich in harmonischer Koexistenz mit den anderen entfal-
43
Michael Felten: Die Inklusionsfalle, Gütersloh 2017, S. 102. Vgl. Christoph Türcke: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, Wetzlar 2016 und Felten (2017), S. 104. 45 Felten (2017), S. 108. 46 Felten (2017), S. 109. 47 Felten (2017), S. 106. 44
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ten können«. 48 Der Reformer wird leiblich ergriffen von der Freude, die Welt zu verbessern, was etwa durch »strahlende Augen, zufriedenes Lächeln (…) und helle Stimme« gekennzeichnet ist. 49 Die Euphorie des Weltverbesserns kann im Diskurs in antagonistischer Einleibung den Engepol stärken und Dominanz erzeugen. Sie kann damit jedoch auch einen totalitären Charakter entwickeln, da das Sendungsbewusstsein Andersdenkende ignoriert und unter Berufung auf die UN-Konvention eine radikale Umwälzung des Schulsystems fordert. 50 Unterschwellig schwingt der Vorwurf mit: Wer Unterprivilegierte nicht unterstützt, muss sich schämen. Schmitz beschreibt Scham als »reine Atmosphäre, die von ihrem Verdichtungsbereich, wo der schamlose Unverschämte sich beschämend benimmt, zur Peripherie hin abnimmt, aber immer noch als peinliches Berührtsein spürbar ist«. 51 Die moralische Überlegenheit der Inklusionsbefürworter wird somit zur Waffe, welche die Inklusionsgegner in die Defensive treibt und ein gewisses Aggressionspotential herausfordert. Hier wirken atmosphärische Mächte, die über die Kraft reiner Argumente hinausgehen. Die Kritiker der inklusiven Reform fahren entsprechend ebenfalls starke Geschütze auf. So kritisieren sie, dass ein Übersetzungsfehler des Terminus »general education system« (UN-Konvention) als »allgemeine Schulen« dazu führte, dass Förderschulen durchweg als diskriminierend betrachtet wurden, statt als Teil des »allgemeinbildenden Schulsystems« als ein wesentlicher Baustein der Inklusion betrachtet zu werden. 52 Die Förderschule wurde damit als exkludierende Institution betrachtet, die Beeinträchtigte von vornherein aussortiert, was bei Lehrer*innen und Fachpersonal dieser Schulen eine strake Empörung auslöste. Weiterhin wird die unterschiedliche Vorgehensweise in den Bundesländern kritisiert: In Bayern gelten Regelschule und Förderschule als ge48 49 50 51 52
Christian Julmi: Atmosphären in Organisationen, Bochum 2015, S. 211. Schmitz (2014), S. 36. Felten (2017), S. 107. Schmitz (2014), S. 43. Felten (2017), S. 64.
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eignete Maßnahmen für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf. Dagegen wurde in Nordrhein-Westfalen seit 2013 das gemeinsame Lernen in der allgemeinbildenden Schule zum Regelfall erklärt. 53 Wie gut diese Schulen zur Bewältigung von Inklusion mit zusätzlichen Räumen, Material und Personal ausgestattet sind und Lehrer durch Fortbildungen gestärkt wurden, bildet sich dabei sehr heterogen ab. Unter Pädagog*innen und Lehrer*innen kommt die Frage auf, ob Schule wirklich allein eine solche grundlegende und umfangreiche gesellschaftspolitische Umwälzung leisten kann. Aufgrund der nicht ausreichend angepassten Rahmenbedingungen führt das Inklusionsdiktat vielerorts zu Skepsis, Überforderung oder auch Wut auf die Inklusionsbefürworter*innen. Für den Sonderpädagogen Otto Speck wirkt die Reform eher wie ein neoliberaler Sparkurs, da der intensive Betreuungsbedarf an der Regelschule nicht gegenfinanziert sei. 54 Der bildungspolitische Kritiker Christoph Türcke betrachtet Inklusion als ein Programm optimaler Einbeziehung aller in die Dynamik des globalen flexibilisierten Kapitalismus. 55 Luc Boltanski spricht bei der Umsetzung des Inklusionsparadigmas von einer Herrschaftsverschleierung. Die Kritiker lassen sich von der Atmosphäre reformerischer Begeisterung nicht einfangen, sondern erleben sie als Affront. In ihrem Diskurs entsteht eine eher ausladend-engende Atmosphäre, »die mit einer unangenehmen Spannung« verbunden ist. 56 Es wird eine potentielle Bedrohung durch die Reformer*innen erfahren, die sich in der Diskussion niederschlägt. Diese Bedrohung resultiert aus einem als beklemmend wahrgenommenen Disstress, weil die »empfundenen Anforderungen durch die Umgebung höher sind als die (…) verfügbaren Ressourcen«. 57 Ausladend-engende Atmosphären sind auch durch ein Ausgeliefertsein charakterisiert, auf das man, wie in diesem Fall, wenig Einfluss hat. Der Diskurs um 53 54 55 56 57
Felten (2017), S. 63 ff. Felten (2017), S. 97. Türcke (2016), Felten (2017), S. 105. Julmi (2015), S. 212. Julmi (2015), S. 213.
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Diversität schafft Atmosphären
Inklusion schafft somit machtvolle Atmosphären, die politische Entscheidungen, aber auch die Situation Unterricht beeinflussen. Damit sind in aller Kürze die ideologischen Demarkationslinien mit ihren entsprechenden Atmosphären der beiden Lager gezeichnet. Im Folgenden soll nun betrachtet werden, wie solche aus Konstellationen des Diskurses entstandenen Prozesse in gemeinsamen Situationen der Schule verkörpert, eingeleibt und habitualisiert werden und Atmosphären hervorbringen, deren machtvolles Wirken phänomenologisch beschrieben werden kann. 5
Atmosphären in der Institution Schule
Atmosphären der Schule entstehen meist in gemeinsamen Situationen. Als zuständliche Situation bezeichnet Schmitz solche mit einem längerfristigem Verlauf, etwa ein Lebenskreis wie die Familie oder auch eine soziale Einrichtung. 58 Die Schule wäre eine solche zuständliche gemeinsame Situation, die als konkrete Institution eigene Atmosphären entwickeln kann. Christian Julmi beschreibt, wie eine Organisation Atmosphären ausbildet, die durch Artefakte wie Architektur, Mythen, Rituale und Verhaltensweisen repräsentiert werden. 59 In der herkömmlichen Schule wären solche Artefakte etwa das Klingelzeichen zu Beginn und Ende der Stunde, das seit der Zeit der Klosterschule den Tagesablauf rhythmisiert. Weiterhin eine bestimmte Kommunikationsweise wie Begrüßung, Wortmeldung mittels Finger heben oder das Notensystem. 60 Damit verbunden sind bestimmte Normen und Rituale, etwa die Verteilung von Hausaufgaben oder die Notengebung. Ein Mythos wäre etwa: wer fleißig ist, kommt zum Erfolg. Die räumliche Aufteilung besteht aus Lehrerzimmer, Klassenräumen und Schulhof – prinzipiell ohne persönliche Rückzugsräume. »Die Organisationskultur wird vermittelt, erneuert und erzeugt, indem die Organisationsmitglieder die Konventionen at58 59 60
Schmitz (2014), S. 54. Julmi (2015), S. 186. Julmi (2015), S. 190.
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mosphärisch entfalten«. 61 Dazu müssen diese Konventionen zunächst am eigenen Leib erfahren, verinnerlicht und im Sinne Bourdieus habitualisiert werden. 62 Neue Schüler*innen müssen in leiblicher Kommunikation mit den Mitschülern umgehen, sich in die vorgelebte Atmosphäre einfinden, die sich in einer gewissen Vorgeschichte eingespielt hat. In antagonistischer Einleibung 63 fluktuiert die Dominanzrolle zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen hin und her, um sich einzubringen, sich durchzusetzen oder sich zurückzunehmen. Atmosphären des Unterrichts werden im Spannungsfeld von Blicken, Symbolen und Haltungen verhandelt, welche Anerkennung, Abwertung, Bewunderung oder Ignoranz transportieren. Der ständige Vergleich, wer bessere oder schlechtere Zensuren hat als man selbst, bildet eine konstitutive Erfahrung des Schullebens. Gute Noten steigern die Anerkennung bei Lehrer*innen, Eltern und Mitschüler*innen. So erleben sich Schüler*innen mit guten Zensuren als kompetent und selbstwirksam. Sie erfahren Schule als einladend-engende Atmosphäre, die durch vielseitige Kontakte, positive Erwartungen und offene Handlungsoptionen gekennzeichnet ist. Schwächere Schüler*innen dagegen fühlen sich zunehmend unfähig und unterlegen. Worte der Kritik durch die Lehrkraft wirken wie eine schwere Last, die niederdrückt. Man gerät in personale Regression, ein Zurückgeworfensein auf die eigenen Affekte und fühlt sich momentan unfähig, sich weiter anzustrengen. Von manchen Kindern werden schwache Leistungen als persönliches Versagen empfunden, was sich in Scham niederschlägt. 64 Diese Schüler erleben Schule als ausladend-engende Atmosphäre, als eine kontrollierende, bedrohliche und aufdringliche Umgebung ohne Möglichkeit des Rückzuges. 65 Durch solche widerstreitenden Gefühle entstehen machtvolle, spannungsreiche Atmosphären in der gemeinsamen Situation Unterricht. 61 62 63 64 65
Julmi (2015), S. 190. Vergl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Hamburg 2015. Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin 2011, S. 14. Barbara Wolf: Kinder lernen leiblich, Freiburg/München: 2016, S. 193. Julmi (2015), S. 213.
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Diese wirken sich auch auf die Beziehungen der Schüler*innen aus. Zwar können in einer Schule auch kollektive Atmosphären von Zugehörigkeit und Geltung entstehen, aber auch von Demütigungen und Ausgestoßensein. 66 Nicht selten wird eine unterlegene Person systematisch und von mehreren Personen über einen längeren Zeitraum herabgesetzt, angegriffen und ausgegrenzt. 67 Mobbing lebt von leiblichen Signalen, die das Opfer in Engung versetzen. Scheinbar harmloses Grinsen, Ignorieren oder hinterrücks Zeichengeben verunsichert das betroffene Kind und vermittelt gleichzeitig ein stillschweigendes Einverständnis darüber, dass es eigenartig, anders und unerwünscht ist. Diese Atmosphären von Angst und Erniedrigung führen zu Einsamkeit und Exklusion. Solche Szenen kommen nicht immer und überall vor, aber häufiger dort, wo nur Leistung zählt und jeder eine perfekte Fassade präsentieren muss und dennoch oder gerade deshalb die Fassung verliert. 6
Wohlfühl-Atmosphären in der inklusiven Schule
Demgegenüber möchte die Schule der Inklusion all das überwinden, was das herkömmliche mehrgliedrige Schulsystem an Nachteilen bietet. In der inklusiven Schule werden von Hochbegabten bis hin zu Kindern mit besonderem Förderbedarf alle gemeinsam unterrichtet. Die gemeinsamen Bedürfnisse nach Akzeptanz, Geborgenheit, Lob und Anerkennung, sozialen Kontakten und Verantwortung sowie das Bedürfnis zu lernen sollen optimal befriedigt werden. 68 Dies scheint geradezu ein Ideal von einladendweitender Atmosphäre zu ermöglichen, in der Kinder solidarisch gemeinsame Situationen in inspirierenden und begeisternden Stimmungen erleben. Die durch John Hattie rehabilitierte Lehr66
Grundmann (2009), S. 180. Imène Belkacèm: Cyber-Mobbing. Der virtuelle Raum als Schauplatz für Mobbing unter Kindern und Jugendlichen. Problemlagen und Handlungsmöglichkeiten, Hamburg 2012, S. 16. 68 Cornelia Rehle: »Inklusiver Unterricht – (wie) geht das?«, in: Klaus Metzger/ Erich Weigl (Hrsg.), Inklusion – eine Schule für alle, Berlin 2010, S. 42. 67
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person entfaltet Eigenschaften wie Gerechtigkeit, Güte oder Konsequenz, die ein konstruktives Lernklima fördern. 69 In der Inklusionsliteratur sind Beispiele von tanzenden Chemielehrern aufgeführt, die auf Strickleitern die Helixform der DNS erläutern. 70 Da ist die Rede von fröhlicher, gelöster Stimmung im Chemieunterricht in ausgeglichener, ja befreiender Atmosphäre. Die Lernziele sollen stärker der individuellen Schüler*in angepasst, Lernthemen stärker an ihren Interessen orientiert sein. Insgesamt sollen gemeinsame Erfahrungen, Beobachtungen und Ängste der Kinder kommuniziert und ernst genommen werden. 71 Natürlich sollen auch die Eltern stärker beteiligt werden in einer neuen Willkommenskultur, in der Eltern und Lehrer*innen partnerschaftlich zusammenarbeiten. 72 Die DVD »Inklusion im Klassenzimmer« (Medienprojekt Wuppertal) zeigt solidarisch aufeinander einschwingende Jugendliche, die im Morgenkreis auf dem Boden des Klassenzimmers – ohne jeglichen Zeit- und Leistungsdruck – ihre Befindlichkeiten und Ziele für den Tag austauschen. Otto Kernberg beschreibt solche Vorgänge wie folgt: »Ein neues Zeitalter der Pädagogik« soll anbrechen. 73 »Für alle Kinder, so unterschiedlich sie auch sein mögen, soll in einem gemeinsamen Raum ein persönlich wohltuender und pädagogisch adäquater Rahmen entstehen. Eine Optimierung ihrer personalen Entwicklung wird angestrebt in einem Klima gegenseitiger Akzeptanz und Achtung, das nicht durch ein beliebiges Nebeneinander geprägt ist, sondern durch aktive Zuwendung zum Anderen. Auf der Leistungsebene sollen begabte wie unbegabte Schüler profitieren, auch dadurch, dass sie sich gegenseitig zum Lernen anregen«. 74 69
Anton Nuding: Herausforderung: Schulische Inklusion, Hohengehren 2016, S. 45. 70 Nuding (2016), S. 47. 71 Nuding (2016), S. 65 ff. 72 Bettina Plenz: »Inklusionsabende in der Schülerschule – Mitarbeiter*innen und Eltern arbeiten gemeinsam mit dem Index«, in: Ines Boban/Andreas Hinz (Hrsg.), Arbeit mit dem Index für Inklusion, Bad Heilbrunn 2016, S. 113. 73 Otto Kernberg: »›Gute‹ und ›schlechte‹ Menschen«, in: Bernd Ahrbeck, Inklusion – Eine Kritik, Stuttgart 2016, S. 116–139, hier S. 117. 74 Kernberg (2016), S. 118.
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Dies klingt nach idealen Lernbedingungen, die kaum noch zu steigern sind. Schließlich soll die Abschaffung der Ziffernzensur zugunsten einer Lernbeobachtung in einem Verbalbericht die ganzheitliche Sicht auf Schüler*innen noch ergänzen. Diese scheinbar idealen Lernbedingungen könnten tatsächlich zu einer grundlegenden Veränderung des Schulsystems führen. Doch letztlich besteht in der Leistungsgesellschaft dennoch ein Selektionszwang der Schule, der spätestens am Ende der Grundschule zur Ausdifferenzierung der Bildungswege führt. 7
Beispiele aus dem Schulalltag
Nach diesen deutlich differierenden institutionellen Atmosphären werden nun als Fallbeispiel zwei reale und typische Situationen an einer inklusiven privaten Schule in Baden-Württemberg vorgestellt. Die Schule verfügt über gute Rahmenbedingungen für inklusive Erziehung und Bildung: Jeweils zehn körperlich und geistig beeinträchtigte Kinder, »normale Kinder« sowie Kinder mit besonderen Verhaltensdispositionen werden in einem Klassenraum mit zusätzlichem Gruppenraum unterrichtet. Das Personal besteht aus einer Lehrerin und bis zu 4 Spezialkräften (Sonderpädagogen, Logopäden, Ergotherapeuten). Studierende der SRH Hochschule Heidelberg arbeiteten in einem mehrwöchigen Projekt mit den Schüler*innen zusammen, in dem sie das Modell eines idealen Klassenraumes erstellten, der dann später auch architektonisch so umgesetzt werden soll. 75 Bei der Beobachtung der Gruppenarbeiten wurde deutlich, dass die unterschiedlichen Gruppen von starker Diversität geprägt waren. Obgleich das Raum-Projekt aus intrinsischer Motivation der 12- bis 13-jährigen Schüler*innen entwickelt wurde, hatten einige 75
Das Partizipationsprojekt erstreckte sich über zwei Monate (2018). Die Schüler wurden durch Studierende in dem Prozess begleitet, Modelle ihres Klassenraumes mit neuen Möbeln, Sitzgruppen, Pflanzen und Deko aus Pappe, Schachteln, Dosen etc. zu gestalten, der ihnen ein besseres Lernen ermöglichen soll. Die Modelle wurden auf einer Vernissage präsentiert und später durch die Schulleitung zur Umsetzung gebracht.
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Mitglieder der ersten Gruppe aktuell keine Lust, blieben passiv oder verweigerten sich. Sie entfalteten eine Atmosphäre von Schwere, Trägheit und Initiativlosigkeit, die als ausladend-weitend beschrieben werden kann. Die Studierenden wurden innerhalb weniger Minuten davon ergriffen. Ihre anfangs fröhliche, motivierte und bewegliche Haltung erlahmte rasch. Die Bewegungen gerieten weniger energisch, die Stimmen wurden leiser, die Haltung schlaff und defensiv. Das anwesende Lehrpersonal entfernte sich sukzessive aus dem Raum. Niemand traute sich, die Kinder zu konfrontieren, da man niemanden kompromittieren oder bloßstellen wollte. Der Bau des Raummodells gestaltete sich als schwerfällige Aktion, in der einzelne detailliert aufgefordert werden mussten, bestimmte Handgriffe zu tätigen, damit am Ende Tische, Stühle, Lampen, usw. ein Modell ergaben. Eine monotone Trägheit besetzte den Raum, und der Situation fehlten der Impuls, der Schwung und der Engepol. 76 Die Studierenden wurden von der machtvollen Atmosphäre dieser gemeinsamen Situation ergriffen, der sie sich nicht entziehen konnten und die sie später als erdrückend, überfordernd und lähmend beschrieben. In der zweiten Gruppe gestaltete sich die gemeinsame Situation mit Schüler*innen der Orientierungsstufe zunächst als diffus, unruhig und unbestimmt, aber die Studierenden gaben klare Strukturen in Form eines Begrüßungskreises, Aufgabenstationen und Anleitungen vor. Die Kinder beteiligten sich entsprechend ihren Fähigkeiten an dem Angebot. Es waren angeregte Gespräche, konzentrierte Aufmerksamkeit und eine fröhliche Stimmung zu bemerken, in der das Raummodell Gestalt annahm. Hier gaben die Studierenden mit klarer Haltung, fester Stimme und ruhiger Gelassenheit die Richtung vor und nahmen bewusst Einfluss auf die diffuse Stimmung von sehr unterschiedlichen Kindern. Das Lehrpersonal assistierte im Hintergrund und passte sich in die gegebenen Strukturen ein. Den Studierenden gelang es, eine einladend-engende Atmosphäre herzustellen, in der klare Handlungsoptionen, gemeinsame Aktivität und Entschlossenheit zu spüren war. Die Studierenden beschrieben die Atmosphäre 76
Julmi (2017), S. 217 ff.
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Diversität schafft Atmosphären
später als konzentriert, geordnet und anregend, wobei sie selbst das Ganze als sehr anstrengend erlebten. Beide Atmosphären wurden an der gleichen Schule erlebt und man kann einen winzigen Eindruck davon erhalten, wie vielfältig sich gemeinsame Situationen in einem von Diversität und Inklusion geprägten Umfeld darstellen. Weder waren paradiesische Zustände wohlwollender Anteilnahme, vollkommener Selbstentfaltung und heiterer Gelassenheit zu beobachten, in der die Anwesenden in einladend-weitender Atmosphäre aufgingen. Noch bestimmten nur ausladend-engende Atmosphären rein hierarchischrestriktiver Maßnahmen das Geschehen, die Kinder unter Druck setzten, kontrollierten und Leistung um jeden Preis verlangten. Der durch das Raumprojekt immerhin aufgelockerte Schulalltag generierte Atmosphären, die grundsätzlich in gemeinsamen Situationen von höchst unterschiedlichen Kindern entstehen können. Schüler*innen gehen offen, neugierig, interessiert, skeptisch, verwirrt, ängstlich, ablehnend, aggressiv, träge oder gelangweilt in die Situation hinein. Das Konglomerat an Gefühlen schafft mächtige Atmosphären, die erduldet und ertragen oder aufgegriffen, gewendet und überwunden werden können. Auf der Ebene der Konstellationen, also der Konzepte und Strukturen, hat die Schule den Anspruch, inklusiv zu sein. 77 Die gemeinsamen Situationen werden aber durch Atmosphären geprägt, die teils durch räumliche, teils durch persönliche Aspekte entstehen und jeweils aktuell ausgehandelt werden müssen. 78 Es konnte festgestellt werden, dass weder Diversität noch Inklusion als Konzept per se für mehr Lernerfolg, Akzeptanz, Solidarität sorgen, sondern gemeinsame Situationen gelebt, ausgehalten und ausgehandelt werden müssen. Dabei können, wie im zweiten Beispiel, Atmosphären von Offenheit und wechselseitiger Bereicherung entstehen, aber auch, wie im ersten Beispiel, von unerträglicher Trägheit, Leere und Überforderung. 77
Hermann Schmitz: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie der totalen Vernetzung, Freiburg/München 2005, S. 9. 78 Barbara Wolf: Atmospheres of Learning. How They Affect the Developement of Our Children, Mailand 2019, S. 136.
413 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Barbara Wolf
8
Fazit
Das Thema Inklusion ist von zwei mächtigen Atmosphären geprägt, die im Schulwesen sowohl im theoretischen Diskurs, auf institutioneller Ebene in der Schule als auch in der praktischen Unterrichtsgestaltung aufeinandertreffen. Tenorth spricht von einer Frontenbildung zwischen herkömmlichem und inklusivem Schulsystem. Kernberg beschreibt, wie eine hohe affektive Beteiligung und der Anspruch moralischer Überlegenheit den Inklusionsdiskurs bestimmen. 79 Mit nahezu an religiöse Inbrunst erinnernden Verhaltensweisen werden unterschiedliche Positionen verfochten. Dadurch wird deutlich, wie sehr der Diskurs atmosphärisch aufgeladen ist und wie rasch sich Gefühle als Atmosphären über Diskussionsteilnehmern aufspannen. Auf der einen Seite steht das mehrgliedrige Schulsystem, das in jahrhundertealten habitualisierten Ritualen, strukturierenden Normen, verkörperten Verhaltensweisen und werteschaffenden Artefakten mächtige Atmosphären von Leistungsanforderung und Konkurrenz entwickelt hat, die sich im Sinne Julmis selbst hervorbringen und aufrechterhalten. 80 Dieses steht für ein Leistungs- und Konkurrenzprinzip, das konstitutiv ist für eine funktional ausdifferenzierte Gesellschaft, in der durch Selektion die Allokation und Enkulturation des Einzelnen generiert wird und das Kind nicht wie in der stratifizierten Gesellschaft des Mittelalters den Beruf und die soziale Position der Eltern einfach übernimmt. Damit steht die Schule für das Leistungsprinzip als Errungenschaft der Moderne, das in seinen Artefakten und verkörperten Strukturen noch leiblich von jedem einzelnen Schüler in affektivem Betroffensein erfahren wird, im Guten wie im Schlechten: denn Wettkampf kann prinzipiell nicht nur als ausladend-engende, also belastende, sondern auch als einladend-engende Atmosphäre, also anspornend erlebt werden. Auf der anderen Seite steht die inklusive Schule, die Gleichheit und Gerechtigkeit für alle, eine neue Schulform und die Vision 79 80
Kernberg (2016), S. 117. Julmi (2015), S. 190.
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Diversität schafft Atmosphären
einer inklusiven Gesellschaft erreichen möchte. Sie verspricht Kindern und Eltern individuelle Entfaltung ohne zwingende Verpflichtungen und befreit von der Last gesellschaftlicher Zumutungen. 81 Es ist der Traum von der Überwindung der zerrissenen und brüchigen Gesellschaft, der sozialen Ungleichheit und Diversität, die immer schon gegeben ist. 82 Diese Ziele versprechen einen Kommunismus für die Schule, der das Streben nach Differenz, eigenem Willen, dem eigenen Vorteil häufig ausblendet. Inklusive Schule hat zum Ziel, eine einladend-weitende Atmosphäre von voraussetzungsloser Akzeptanz, Solidarität und Gleichheit zu schaffen, die mit geeigneter Methodik, Didaktik und Haltung des Lehrkörpers bis zu einem gewissen Grade hergestellt werden soll. Dennoch kann dies, wie gezeigt, auch in ausladend-weitende Atmosphären von Leere und Unlust münden. Doch Schule existiert nicht neben, sondern in der Gesellschaft. Sowohl Schüler*innen als auch Lehrer*innen erfahren kontrastierende Atmosphären, die durch Diversität auch geschaffen werden. Im Praktikum, bei der Berufsfindung oder im Transitionsprozess zwischen Bildungssystem und Berufsarbeit bekommen sie gesellschaftliche Anforderungen zu spüren, die klar selektieren und Unterscheidungen treffen, welche die Abschlussnote und andere messbare Leistungskriterien (Intelligenztests, Rechtschreibung etc.) in den Vordergrund stellen. Dies können auch neue Begriffe und Konzepte der Inklusion nicht ausblenden und vor allem nicht überwinden. Daher warnen Gregor Hensen und Annika Beck auch vor einer oberflächlichen und kurzsichtigen political correctness auf sprachlicher Ebene, die alte Begriffe nur gegen ›weichgespülte‹ austauscht und soziale Tatsachen verschleiert. 83 Inklusion und Exklusion stehen in einem dialektischen Verhältnis. Luhmann selbst kennt zwei Perspektiven auf Inklusion. 81
Kernberg (2016), S. 132. Brodkorb (2013), https://bildung-wissen.eu/wp-content/uploads/2013/05/ brodkorb_warum_inklusion_unmoeglich-ist.pdf (Zugriff 30. Juli 2019) 83 Gregor Hensen/Annika Beck: Inclusive Education, Internationale Strategien und Entwicklungen Inklusiver Bildung, Weinheim/Basel 2019, S. 19. 82
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Barbara Wolf
Inklusion als kategoriale gesellschaftstheoretische Bestimmung kennt ihrer eigenen Logik nach keine Exklusion. »Es gibt außer der Gesellschaft nichts gesellschaftliches, also auch keinen Ausschluss aus der Gesellschaft«. 84 Doch Pongratz warnt vor einem solch naiven Vertrauen in die Autopoiesis des Systems und entdeckt auch Widersprüche in Luhmanns Theoriegebäude. 85 In seinem Spätwerk räumt Luhmann ein: »Funktionssysteme schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark, dass dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen«. 86 Inklusion konfrontiert nach Luhmann immer mit den sozialen Systemen, in denen der Einzelne sich sozialisiert. 87 Das Schulsystem kann individuelle Leistungsdifferenzen in Leistungsdefizite verwandeln und damit auch zur Entstehung sozialer Ungleichheit beitragen, anstatt sie abzubauen. 88 Die eigene Erziehung hat jede Person zutiefst eingeleibt, inkorporiert und habitualisiert als geronnene Erfahrung, die frohe Erinnerung oder schmerzvolle Narbe sein kann. Dies ist wohl auch der Grund, warum Eltern, Pädagogen und Wissenschaftler so vehement über die »richtige Erziehung« streiten, weil hier Enttäuschungen geheilt, Hoffnungen geschürt und der Wunsch nach einem besseren Leben, einer besseren Welt euphorisch verteidigt wird. Diese Gefühle bilden machtvolle Atmosphären in gemeinsamen Situationen, die nicht immer zugunsten des Kindes wirken. Wenn vollständige Inklusion genauso unmöglich ist wie vollständige Exklusion, 89 wäre es womöglich sinnvoll, die emotional 84
Georg Vobruba: Alternativen zur Vollbeschäftigung. Die Transformation von Arbeit und Einkommen, Frankfurt am Main 2000, S. 119. 85 Vgl. Ludwig A. Pongratz, Untiefen im Mainstream. Zur Kritik konstruktivistisch-systemtheoretischer Pädagogik, Wetzlar 2005. 86 Niklas Luhmann: »Jenseits von Barbarei«, in: Miller M., Soeffner H.-G. (Hrsg.), Modernität und Barbarei, Frankfurt 1996, S. 219–230, hier S. 228. 87 Luhmann (1996), S. 64 ff. 88 Grundmann (2009), S. 76. 89 Vgl. Karsten Exner: Kritik am Integrationsparadigma im »Behindertenbereich«, Bad Heilbrunn 2007; Rudolf Stichweh, Paul Windolf: Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Berlin 2009; Bernd Ahrbeck: Inklusion – Eine Kritik, Stuttgart 2016, S. 27.
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Diversität schafft Atmosphären
geführten Kämpfe einzustellen und stattdessen im Schulalltag achtsamer mit der Wirkung von Atmosphären umzugehen. Denn die Ergriffenheit von Gefühlen durch mächtige Atmosphären bedeutet immer auch einen gewissen Grad an personaler Regression, die angemessenes Handeln womöglich beeinträchtigt. Daher sollten Verantwortliche und Pädagogen beim Fühlen von Atmosphären auf beiden Seiten des Diskurses womöglich eine wichtige Fähigkeit ausbilden: eine Atmosphäre zunächst bloß wahrnehmend zu beobachten, wie das Hermann Schmitz beschreibt, 90 um dann in personaler Emanzipation ihre Wirkung auf sich und andere zu reflektieren und bedacht zu handeln, statt sich bloß mitreißen zu lassen. In einer solchen Reflexion kann dann erwogen werden, wie man in einem zweiten Schritt Atmosphären so beeinflussen kann, dass sie das Lernen unterstützen, anstatt es zu behindern. Dabei muss man womöglich die Ebene ideologischer Konstellationen verlassen und sich mit den profanen Situationen des pädagogischen Alltags befassen: ein unerschöpflicher Gegenstand! Abschließend muss die Frage erlaubt sein, ob die Schule überhaupt dazu in der Lage ist, Gesellschaft zu verändern. Dazu sagt Kaube: »Soziologisch betrachtet ist es unwahrscheinlich, dass eine Organisation, die über wenig mehr verfügt als Unterrichtsstunden, auszugleichen vermag, was je nach Deutung, der Kapitalismus, die Klassengesellschaft, die Medien oder Familien angerichtet haben. Vermutlich wäre viel gewonnen, wenn man sie tun ließe, was sie kann, anstatt sie ständig im Hinblick auf etwas zu reformieren und zu kritisieren, was ohnehin nicht in ihrer Macht steht«. 91
90
Schmitz (2014), S. 35. Jürgen Kaube: »Soziologiekolumne. Bildung, Schule«, in: Merkur 65/11, S. 1054–1058, hier S. 1058.
91
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Petra Seibert
Wie kommt die Atmosphäre in die Atmosphäre? Das neue dreiteilige Wahrnehmungsmodell – Logos-Auge-Leib – als Leitfaden Atmosphäre entsteht immer und überall, ob wir etwas tun oder lassen, ob draußen in der Landschaft oder drinnen im Raum. Sie wird über Gegenstände (Kleidung, Möbel, Kunst, Architektur) visuell aufgeladen und hängt in der Luft als Geruch, Geräusch oder Spannung. Unzählige kleine Ausstrahlungen – auch jene, die von lebendigen Akteuren ausgehen – führen zu einer deutlich spürbaren Atmosphäre. Was wir da spüren, äußert sich als Gefühl, das Sprache nur unzureichend beschreiben kann. Die Atmosphäre greift, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, durch Einleibung auf uns über. 1 Das Spüren der Atmosphäre ist die erste unbewusste gesamtheitliche Information, die uns aus der Umgebung zuteil wird, und ist damit sehr wichtig und machtvoll. Sie entscheidet darüber, ob wir uns wohlfühlen oder nicht, ob wir bleiben oder gehen. Da wir mit unserem Tun oder Nicht-Tun immer etwas bewusst oder unbewusst zur Atmosphäre beitragen, liegt die Frage auf der Hand – wie kommt die Atmosphäre in die Atmosphäre? Schließlich wollen wir alle in einer guten Atmosphäre leben, sei es in unserer Wohnung, deren Umgebung, am Arbeitsplatz oder in der Gesellschaft. Wie können wir also den richtigen Beitrag leisten, so dass die gewünschte Atmosphäre entsteht? Wenn Hermann Schmitz Atmosphäre analysiert, tut er dies von einem rein leiblichen Standpunkt aus und das ist auch richtig, denn das Spüren der Atmosphäre ist eine Spezialfähigkeit des Leibes. Leiblich gesehen ist die Atmosphäre bereits das im Raum schwebende Gefühl, das uns ergreift, also von außen auf uns über1
Hermann Schmitz: Der Leib, Berlin 2011, S. 29.
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Wie kommt die Atmosphäre in die Atmosphäre?
geht. Was uns da ergreift kann beeindruckend angenehm aber auch abstoßend unangenehm sein. Niemand will aber bewusst eine unangenehme Atmosphäre erzeugen, dennoch entsteht sie zum Beispiel in der industriellen Landwirtschaft, wo etwas aus dem Ruder gelaufen zu sein scheint, im Gesundheitswesen, wo wir uns trotz engagierter Ärzte in der von Geräten dominierten Medizin häufig allein gelassen fühlen, aber auch in unseren Städten und Dörfern, wo beziehungslose Gebäude den Gesamteindruck stören. Was ist dort passiert? Weil die menschlichen Beiträge zur Atmosphäre von drei sehr verschiedenen Wahrnehmungsarten herrühren, so meine These, reicht es eben nicht, sich nur den leiblichen Anteil genau anzusehen. Im Kunstunterricht – besonders beim Zeichnen – tritt Wahrnehmungsverhalten so klar wie sonst nirgends zutage, denn weder Zweck noch Maschine verstellen die Sicht. Dort entdeckte ich, dass es drei sehr unterschiedliche Arten sind, wie wir einerseits die Welt wahrnehmen und andererseits sie gestalten. Aus diesen Entdeckungen entwickelte ich über zehn Jahre hinweg ein dreiteiliges Wahrnehmungsmodell, das von Laien leicht zu verstehen ist und Orientierung im bis dahin unübersichtlichen Wahrnehmungs- und Gestaltungsgeschehen gibt. 2
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Abbildung 1
Diese drei Modi – Logos, Autonomes Auge und Leib – besitzt jeder sehende Mensch unabhängig von Begabung. Allein die Werkzeuge (Worte, Bilder, Gefühle) sorgen für eine komplett andere Wahrnehmung, weshalb wir für Atmosphären durchaus unterschiedlich empfangsbereit sind. Gefühle beinhalten in meinem 2
Petra Seibert: Logos . Auge . Leib: Das neue Wahrnehmungsmodell für künstlerisches Gestalten, Husum 2020, Abb. 1 S. 24.
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Petra Seibert
Modell auch alle sonstigen leiblichen Regungen – Hermann Schmitz differenziert hier stärker. Allerdings verwenden wir die Wahrnehmungsarten in sehr unterschiedlichen Dosierungen. Allein durch die Benutzung von Worten versachlichen wir die Welt und schaffen Distanz zum Gefühl und zum Bild. Hermann Schmitz nennt das Überwechseln zur Erklärung in Worten personale Emanzipation, während die direkte Ergriffenheit von Gefühlen in personaler Regression passiert. 3 Auch er unterscheidet hier, jedoch deutlich differenzierter, als ich es hier wiederzugeben vermag. Mit dem Wort wird sowohl das Originalgefühl als auch das Originalbild zu einer verschwommenen Wort-Kopie, denn so konkret das Wort auch ist (Stuhl), es ist immer eine Verallgemeinerung (aller Stühle dieser Welt). Die Wirkungsweisen der Wahrnehmungsarten treten gerade deshalb in der Kunst so deutlich zutage, weil im Kunstprodukt durch die dichte Gestaltung eine grundlegende Wahrheit extrahiert wird, die tiefgreifender sein kann als jedes echte Erleben im Alltag (bigger than life). Der Mensch muss nicht alles am eigenen Leib erfahren. Er kann durch den Abstand zum Geschehen Genuss, Erkenntnis und Erleichterung erfahren, und zwar so konzentriert und kompakt, wie es im normalen Leben gar nicht möglich wäre. Hier drei Bildbeispiele aus der Kunstgeschichte im jeweils dominierenden Modus, die die Unterschiede sofort sichtbar machen. Der Logos liebt die Konstruktion wie im Seiltänzer von Paul Klee (Abb. 2) und bevorzugt die Gerade, das Autonome Auge mag subtile Linien wie hier im Beispiel die Falten des Gesichtes (Abb. 3), also visuell Kompliziertes, der Leib hingegen bringt sein Fühlen auf den Punkt (Abb. 4), jenseits von sachlicher (Logos) und visueller Richtigkeit (AA). Die Dominanz einer Wahrnehmungsart bedeutet nicht hundertprozentige Reinheit, im Gegenteil, die kleine Prise einer anderen Wahrnehmungsart sorgt für hohe Qualität, wie das Salz in der Suppe, die sonst fade wäre. Die menschlichen Sinne (Sehen, Tasten, Hören, Riechen, Schmecken) arbeiten den drei Wahrnehmungsarten zu. Das klingt zunächst logisch, ist aber revolutionär, 3
Schmitz (2011), S. 76, 79.
420 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Wie kommt die Atmosphäre in die Atmosphäre?
Abbildung 2: Paul Klee, Seiltänzer, 1923 (Logos. Denk-Modus)
denn damit besitzen wir drei grundverschiedene Kanäle, welche die Rohdaten, die uns die Sinne liefern, verarbeiten. Jede Wahrnehmungsart färbt die Sinneseindrücke auf ihre Weise – eine Ursache für Missverständnisse, denn jeder hält seine Färbung für die richtige! So kann es durchaus drei verschiedene Arten von Logik geben, drei Arten von Intelligenz, drei Arten von Kreativität, z. B. Logos-Kreativität beim Jonglieren mit Zahlen, Autonome Auge-Kreativität bei bildlicher Vorstellung und Leib-Kreativität im sozialen Miteinander. Das leibliche Spüren ist also kein sechster Sinn, wie man vielleicht meinen könnte und wie es z. B. 421 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Petra Seibert
Abbildung 3: Albrecht Dürer, Bildnis der Mutter, 1514 (Autonomes Auge. Bild-Modus)
von Friederike Keller 4 vorgeschlagen wird, sondern eine Wahrnehmungsart. Wenn nun eine Wahrnehmungsart eine Aufgabe übernimmt, für die sie nicht geeignet ist, kann sie dem Erlernen einer Fertigkeit wie dem dokumentarischen Zeichnen stark im Weg stehen. Um so etwas zu vermeiden, ist es von Vorteil, die Wahrnehmungsarten mit ihren Stärken und Schwächen näher zu kennen. Häufig werden sie sowohl über- als auch unterschätzt und nicht in 4
Heinz Becker (Hrsg.): Zugang zu Menschen, Freiburg/München 2013, S. 232.
422 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Wie kommt die Atmosphäre in die Atmosphäre?
Abbildung 4: Ernst Ludwig Kirchner, Drei Frauen, 1913 (Leib. Spür-Modus)
ihrer Komplexität verstanden – denken wir nur an den Leib und dessen weitgehend unbekannte Theorie von Hermann Schmitz. Beim Autonomen Auge verhält es sich ganz ähnlich. Damit Sie sofort die Allgemeingültigkeit erkennen, hier drei Beispiele, die ebenfalls im dominanten Modus gestaltet wurden und von denen eine jeweils unterschiedliche Ausstrahlung ausgeht. Bepflanzt der Logos ein Beet, bevorzugt er eine aufgeräumte, geometrische, sehr streng bemessene Ordnung (Abb. 5). In den Beeten im Emil Nolde-Garten in Seebüll (Abb. 6) legte der Logos den geometrischen Grundriss an, die Bepflanzung folgt einer lo423 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Petra Seibert
Abbildung 5: Logos-Ordnung (Foto: Petra Seibert)
sen Leib-Ordnung und das Autonome Auge kombiniert die ungewöhnlichsten Farben und Formen. Aber nur durch die starke Dominanz des Autonomen Auges erhält dieser Garten eine ansonsten nicht zu erreichende ästhetische Qualität, die täglich Besucher aus aller Welt anzieht. Das Leib-Beet (Abb. 7) offenbart ein wildes, eher natürliches Chaos, an dem wir uns kaum sattsehen können. Wahrscheinlich spüren Sie schon jetzt den Einfluss der Wahrnehmungsarten auf die Atmosphäre. Wir besitzen also drei grundverschiedene Wahrnehmungsarten und je nachdem, in welcher Dosierung sie auftreten, färben sie unsere Sicht der Welt. Welches Auge gerade hinsieht, bestimmt, für welche Atmosphäre wir empfänglich sind. Dabei lassen Schlüsselreize, die ich im Einzelnen noch vorstelle, bevorzugt eine der drei Wahrnehmungsarten anspringen. Für dominant wahrnehmende Menschen haben wir bereits Begriffe: Der Bauchmensch sieht die Welt bevorzugt durch die Brille des Gefühls, der Kopfmensch sieht sie bevorzugt durch die Brille seines Wissens und der Autonome Auge-Mensch sieht sie sehr neutral und 424 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Wie kommt die Atmosphäre in die Atmosphäre?
Abbildung 6: Autonome Auge-Ordnung (Foto: Petra Seibert)
Abbildung 7: Leib-Ordnung (Foto: Petra Seibert)
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Petra Seibert
präzise. Ihn nennen wir stillen Betrachter, neutralen oder kühlen Beobachter. Die Adjektive still und kühl zeigen an, dass dieses Sehen von Worten und Gefühlen befreit ist. Diese Sichtweise auf die Welt erwarten wir z. B. von Journalisten, die dokumentarisch berichten. Sie übersetzen ihre neutralen Beobachtungen in Sprache und machen sie dadurch kommunizierbar. Unsere Sprache hat also bereits Worte für diese Wahrnehmungsphänomene, aber erst das dreiteilige Wahrnehmungsmodell sorgt für eine bisher nicht gekannte Übersicht. Mit der Dreikreise-Grafik (Abb. 8) löste ich in meinem Unterricht das ursprüngliche Hemisphärenmodell ab, ein populärwissenschaftliches Modell, das im Kunstunterricht immer noch verwendet wird. Ich verabschiedete mich von Hirnfunktionen und konzentrierte mich auf die sichtbaren Auswirkungen. Außerdem versteckte sich in diesem ohnehin veralteten Modell der Leib hinter dem Autonomen Auge, was so nicht bleiben konnte, denn diese beiden Modi haben, was das Sehen anbelangt, nichts gemeinsam. Die Drei-Kreise-Grafik 5 ist nicht nur ein zuverlässiger Stadtplan im unübersichtlichen Gelände der Wahrnehmung, sie zeigt auch, dass die Wahrnehmungsarten über die Schnittstellen beständig miteinander verbunden sind. In ihnen stecken die kleinen Gemeinsamkeiten, die die Wahrnehmungsarten zu Teamplayern werden lassen, statt zu streiten. Logos und Autonomes Auge sind gerne sachlich objektiv und misstrauen den Gefühlen/Instinkten des Leibes. Autonomes Auge und Leib lieben das Hier und Jetzt und lassen sich nicht gern durch Worte stören. Leib und Logos vereinfachen unsere visuelle Welt, der eine durch Wissen, der andere durch Fühlen, um die Komplexität unseres Alltags zu meistern, und das wird durch ein gründlich sehendes Autonomes Auge empfindlich gestört. Wahrnehmung wird also nicht in drei Teile zergliedert, sondern ganzheitlich verbunden, wobei das die Zusammenarbeit erleichtert. Diese drei grundverschiedenen Kräfte erzeugen, wenn sie dominant auftreten, deutlich unterschiedliche Atmosphären. Da die Wahrnehmungsarten sowohl im Team arbeiten, aber sich auch 5
Petra Seibert (2020), Grafik S. 28.
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Abbildung 8: Die Drei-Kreise-Grafik
zeitlich überlagern können, wie im Nolde-Garten, wo von dem logosdominanten Grundriss kaum noch eine nennenswerte Ausstrahlung ausgeht, gibt es neben diesen drei Grundatmosphären eine unüberschaubare Anzahl verschiedenster Mischformen. Dennoch sind die Grundtendenzen gut ablesbar. Wir spüren die Abwesenheit des Leibes sofort als Kälte, die Abwesenheit des Logos als Verzettelung oder Verwirrung, die Abwesenheit des Autonomen Auges als visuelle Monotonie bzw. Hässlichkeit. Das spüren wir in einer Ausstellung genauso wie in einer Situation oder beim Betrachten unserer Umgebung. Die Kreise verändern also je nach Schlüsselreiz ihre Größe. 6 Stellen Sie sich die Kreise als Luftblasen vor, die größer und kleiner werden (Abb. 9). Die Luft ist unsere Aufmerksamkeit und mit 100 % begrenzt. Wird ein Kreis größer, muss also ein anderer kleiner werden. Obwohl die Wahrnehmungsarten ständig ihre Dosie6
Petra Seibert (2020), Grafik S. 27.
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Abbildung 9: Die drei Wahrnehmungsarten in dominierender Dosierung
rungen ändern, treten sie doch gern dominant auf, weil sie dabei den Gegenkräften ausweichen, und das gibt uns die Chance, sie im Einzelnen mit ihren Vor- und Nachteilen kennen zu lernen. Womit haben wir es also zu tun? Beginnen wir mit dem Logos. Sein Spezialgebiet ist das genaue Erfassen von Fakten und das Ziehen logischer Schlüsse. Dabei stützt er sich auf sein bisheriges Wissen. Durch das Wort neigt er zur Abstraktion und Verallgemeinerung. Alles wird in Wortkategorien erfasst, wobei bereits beim Sehvorgang nur typische Eigenschaften wahrgenommen werden. Er registriert, was da ist und wie es heißt. Das Erkennen und Benennen ist Grundlage für eine schnelle Kommunikation. Steht nun eine logosdominant wahrnehmende Person vor einer atmosphärisch atemberaubenden Landschaft, kann sie sich und andere mit dem Aufzählen von Einzelheiten (dort drüben liegt jener Ort und da unten verläuft die B10) dieser Atmosphäre durchaus berauben. Logosdominanz schwächt bzw. stört das leibliche Spüren von Atmosphäre. 428 https://doi.org/10.5771/9783495823781 .
Wie kommt die Atmosphäre in die Atmosphäre?
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1978