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German Pages 521 [524] Year 2011
Nietzsche ⫺ Macht ⫺ Größe
Nietzsche Heute
De Gruyter
Nietzsche ⫺ Macht ⫺ Größe Nietzsche ⫺ Philosoph der Größe der Macht oder der Macht der Größe
Herausgegeben von
Volker Caysa und
Konstanze Schwarzwald
Im Auftrag der Nietzsche-Gesellschaft e.V.
De Gruyter
ISBN 978-3-11-024571-4 e-ISBN 978-3-11-024572-1 ISSN 2191-5733 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Nietzsche-Kongress (2009 : Naumburg, Saxony-Anhalt, Germany) Nietzsche ⫺ Macht ⫺ Grösse : Nietzsche, Philosoph der Grösse der Macht oder der Macht der Grösse / herausgegeben von Volker Caysa und Konstanze Schwarzwald. p. cm. ⫺ (Nietzsche heute) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-024571-4 (hardcover : alk. paper) 1. Nietzsche, Friedrich Wilhelm, 1844⫺1900 ⫺ Congresses. 2. Power (Philosophy) ⫺ Congresses. 3. Spectacular, The ⫺ Congresses. I. Caysa, Volker. II. Schwarzwald, Konstanze, 1977⫺ III. Title. B3318.P68N54 2009 193⫺dc23 2011021715
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Dem heiteren Marxisten und Existentialisten Hans-Martin Gerlach in tiefer Verehrung gewidmet.
Vorwort Vom 27. bis 30. August 2009 fand in Naumburg an der Saale der internationale philosophisch und knstlerisch hochgradig besetzte NietzscheKongress zum Thema „Nietzsche – Macht – Grçße“ mit ber 300 Teilnehmern statt. Wir kçnnen hier nur einen Teil der gehaltenen Referate und Diskussionsbeitrge in diesem Band dokumentieren. Das ist umso bedauerlicher, insofern doch Nietzsche international zur Drehscheibe eines modernen Gesellschafts- und Kulturverstndnisses geworden ist. Man sehe uns also nach, dass wir manchen Beitrag nicht drucken konnten, ganz einfach, weil es uns an Druckkapazitten fehlte, und wir auswhlen mussten und da schon die Grenzen des Mçglichen weit berschritten haben. Auch sei angemerkt, dass die Beitrge thematisch angeordnet wurden und nicht in chronologischer Reihenfolge. Ziel dieses Kongresses war es nicht, Nietzsche als Großmachtphilosophen zu rehabilitieren, sondern die Grçße seines Denkens im Kleinen zu zeigen. Es geht nicht darum, Nietzsche zur Missionierung der Welt zu benutzen. Das haben schon Nationalsozialisten versucht; das haben Stalinisten schon mit Marx versucht und Christen mit Jesus Christus. Es geht gerade darum zu zeigen, dass Nietzsche der Denker einer alternativen Globalisierung ist, der das Große im Regionalen erkennt und das Provinzielle im Globalen. Dieser Ansatz hngt zutiefst zusammen mit dem Geist der Wendezeit von 1989/90, in der die Nietzsche-Gesellschaft gegrndet wurde. Der Kongress war nicht rein angelegt als Kongress nur fr NietzschePhilologen bzw. nur fr Nietzsche-Forscher, sondern vor allem fr Nietzsche-Interessierte, die mit Hilfe Nietzsches ber die Fhrung ihres Lebens nachdenken mçchten. Mit den großen Erzhlungen scheinen auch die großen Nietzsche-Interpretationen obsolet geworden zu sein. Man gefllt sich im kleinteiligen Nietzsche-Rezipieren. Wie schçn ist es doch die Interpretation einer Interpretation zu interpretieren. Mit Nietzsche kann man ber Alles und Nichts reden. Gigantischer war die Nietzsche-Rezeption nie, kleinlicher aber auch noch nie. Zu viele Zwerge stehen auf den Schultern eines Riesen, sodass er nun abermals unter Wasser gedrckt wird. Man hat sein Nietzschchen fr den Tag und sein Nietzschchen fr die Nacht – aber man
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Vorwort
vermeidet das Extreme. Man hat ihn rund gelutscht. Zum Schluss wird er noch liberaler Demokrat. Einst wollte man Nietzsches Grab schleifen lassen, verschwinden sollte es aus dem kulturellen Gedchtnis der Menschheit. Das hat sich nun erbrigt. Nietzsches Denken hat man so glatt geschliffen, so demokratisiert, dass sich dabei keiner mehr etwas denken muss. Die Verniedlichung Nietzsches ist vollendet. Dagegen gilt es, den existentiellen Ernst in Nietzsches Denken modern zu rehabilitieren. Der hier dokumentierte Kongress wandte sich in diesem Sinne gegen die Enteignung Nietzsches durch die postmodernen Nietzscheanisten. Nietzsche ist der Denker, in dem die Moderne neben Karl Marx sich selbst klassisch zum Problem wird. Darin begrndet sich seine anhaltende Wirkung. Er ist neben Marx Stichwortgeber einer sich selbst bei ihm oft in metaphorischer Form problematisch werdenden Moderne und darum wird man ohne die Arbeit des Begriffs Nietzsche nicht verstehen. Eine Nietzsche-Interpretation ohne begriffliche Arbeit ist blind. Eine NietzscheRezeptionsforschung getrennt von echter systematischer Forschung wird konzeptionell schnell am Ende sein. Die Diskursmaschine Nietzsche luft. Das mag viele freuen, hat aber auch einige unangenehme Nebeneffekte. Nicht nur Nietzsche-Interpreten reden ber Nietzsches Philosophie, sondern die Reflektionsmaschine Nietzsche wird nun selbst reflexiv. Sie funktioniert wie ein Luhmannsches selbstreferentielles System: NietzscheInterpreten interpretieren Nietzscheinterpretationen von Nietzsche-Interpreten. Aber bekanntlich ist das Reden ber die Philosophie noch kein Philosophieren. Und so stellt sich auch die Frage, ob das Reden ber eine originelle Nietzsche-Rezeption schon eine originelle Nietzsche-Interpretation ist. Auf jeden Fall entsteht in diesem selbstreferenziellen Interpretationssystem ein neuer Nietzsche, nicht nur ein ber-Nietzsche, sondern ein ber-ber-Nietzsche, ein Nietzsche zum Quadrat, ein Nietzsche hoch drei, ein Nietzsche hoch vier gar. Man fragt sich: wo schwebt er eigentlich, der Nietzsche? Wohin ist er entschwunden? In welche Interpretationssphre ist er geraten? Fr uns ist Nietzsche ein Denker der Grçße und des Elends des Menschen. Er ging zurck zu den Quellen humanen Existierens. In diesem Sinne wollte er zu den Sachen selbst zurck. Dagegen versucht man Nietzsche immer wieder politisch klein zu machen. Aber er bleibt trotzdem ein großer existenzieller Denker. Darauf aufmerksam gemacht zu haben, nach Jahrzehnten der Kriminalisierung, Pathologisierung, Marginalisierung, Vermittelmßigung und Pluralisie-
Vorwort
IX
rung ist das zentrale Anliegen dieses Bandes: Nietzsche ist tot; es lebe Nietzsche. Der Kongress versuchte Nietzsches Wunschtraum, sein Leben nach den Maßen der Kunst zu formieren, zu rekonstruieren. Er stellte sich damit gegen die Absicht Nietzsches Werk als totales Gesamtkunstwerk zu inszenieren, wie es seine Schwester Elisabeth versucht hat. Es wurde der Versuch unternommen, Nietzsche nicht als konservatives geschlossenes Gesamtkunstwerk, sondern alternativ dazu, als modernes offenes Lebenskunstwerk zu begreifen. Die Idee des Lebenskunstwerkes geht im Anschluss an Nietzsche vom Primat der Kunst gegenber der Politik aus. Nietzsche gehçrt der Kunst, nicht der Politik. Auch deshalb sind wir darauf stolz, junge talentierte Knstler fr diesen Kongress gewonnen zu haben, die denkerisch und sthetisch im Sinne Nietzsches arbeiten. (Dies wird in einem 2012 in einem anderen Verlag erscheinenden Band dokumentiert werden. Informationen finden Sie dazu unter www.empraxis.net/nietzsche) Die Grçße der Macht Nietzsches besteht darin – und wir hoffen der Kongress konnte das zeigen – den Willen zum Leben in Nietzsches Werk in all seinen Facetten darzustellen. Bedanken mçchten wir uns fr die finanzielle und organisatorische Untersttzung durch die Nietzsche-Gesellschaft bzw. durch das Kulturministerium des Landes Sachsen-Anhalt. Auch bedanken mçchten wir uns fr die Geduld des Lektorats Philosophie des Verlags de Gruyter, insonderheit bei Herrn Christoph Schirmer. Sehr bedanken mçchten wir uns auch fr die grndliche Redaktion des Bandes durch Herrn Harko Benkert. Wir hoffen, all die Mhen waren es wert, Nietzsche in all seinem Glanz, aber auch in seinem Elend in einem zeitgemßen Lichte darzustellen. Volker Caysa und Konstanze Schwarzwald im August 2011
Inhalt Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Volker Caysa Nietzsche – Großmachtphilosoph oder Philosoph der Macht des Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Große Aufklrung – Aufklrung des Großen Renate Reschke „[…] so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Grçße“. Grçße in philosophischer, sthetischer und kulturkritischer Sicht bei Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
Marco Brusotti Spannung. Ein Begriff fr Groß und Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Annemarie Pieper Das grçsste Ereignis. Nietzsches narrative Dekonstruktion der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
Christoph Trcke Macht und Widerstand. Zwischen Nietzsche, Freud und Foucault
89
Barbara Neymeyr Abenteuer-Reisen in „eine tiefere Welt der Einsicht“. Der Psychologe Nietzsche als „Freund der ,grossen Jagd“ . . . . . .
101
Rogrio Lopes Der normative Minimalismus als die verteidigungsfhigste Version von Nietzsches Amoralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
Vanessa Vidal Mayor Theodor W. Adornos Wertschtzung der Grçße Nietzsches . . . . .
145
Pietro Gori Small moment and individual taste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
XII
Inhalt
II. Großes Leben Andreas Urs Sommer Große Menschen zchten? Nietzsche anti Darwin . . . . . . . . . . . . .
171
Sçren Reuter Vom Embryo zum bermenschen? Zur Bedeutung entwicklungsbiologischer Denkmodelle fr Nietzsches Begriff der individuellen Grçße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
Nicola Nicodemo Das große Leben als Verklrungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Nikolaos Loukidelis Die „grosse Vernunft“ des Leibes und das ber-sich-hinaus-Schaffen. Eine Interpretation zur vierten Rede Zarathustras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
Pia Daniela Schmcker Die „große Gesundheit“ als Salutogenese oder Krankheit als Stimulanz des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225
III. Große Gefhle Konstanze Schwarzwald Die Sehnsucht nach dem Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Karolina Sidowska Rausch – Macht – Gefhl. Zur Funktion des Ekels nach Nietzsche
259
Chiara Piazzesi Das Spannungsfeld von „großer Liebe“ und Moral der Selbstverkleinerung: „verachtende“ Liebe vs. Nchstenliebe und Mitleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Camille Legrand Nietzsches Sinn fr das Kleine: eine Kritik des Mitleids . . . . . . . .
287
Gocha Mchedlidze Leiden, Macht, Grçße. Zum moralkritischen Perfektionismus des spten Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
Inhalt
XIII
IV. Große Geschichte Udo Tietz Aufstieg, Grçße und Fall. berlegungen ber den historischen Fortschritt im Anschluss an Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319
Thomas Kater Frieden oder Krieg – Nietzsche und die „grosse Politik“: Zwei Collagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
355
Jutta Georg und Helmut Heit Erinnern, Vergessen und das Große in der Geschichte bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
367
Knut Ebeling Der Kampf ums Monument. Reprsentationskritik der Geschichte bei Nietzsche und Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
379
V. Sinn fr das Kleine und Sprachspiele Elisabetta Mengaldo Rechtschaffenheit des Kleinen. Nietzsches sthetische Auffassung zwischen „großem Stil“ und kurzer Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
395
Jakob Dellinger „Allzuklein der Grçsste“? Zum Problem des „Kleinen“ in Nietzsches „Anspruch auf das Wort Grçsse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
409
Dennis Sçlch Produktives Denken – Das große Sprachspiel bei Emerson und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
421
Christian Niemeyer Große Dichtung? Zu einigen Fragwrdigkeiten der nur sthetischen Perspektive auf Nietzsches Zarathustra . . . . . . . . . . .
441
VI. Große Projekte Herman Siemens und Paul van Tongeren Das Nietzsche-Wçrterbuch: Anatomy of a “großes Projekt” . . .
451
XIV
Inhalt
Christian Niemeyer „Lexica schreiben ist keine Wollust“– oder etwa doch? Eine These und ihre berprfung am Beispiel des neuen Nietzsche-Lexikon
467
Anhnge Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Siglenverzeichnis Werkausgaben Werkausgaben nach den Kritischen Werk-/Briefausgaben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York 1967 ff. und 1980. KGW Kritische Gesamtausgabe, Werke KGB Kritische Gesamtausgabe, Briefe KSA Kritische Studienausgabe, Werke sowie nach der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe Werke bzw. Briefe, Mnchen 1933 ff. HKGW Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Werke HKGB Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Briefe Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS
Der Antichrist ber die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fnf Vorreden zu fnf ungeschriebenen Bchern Dionysos-Dithyramben David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemße Betrachtungen 1) DW Die dionysische Weltanschauung EH Ecce homo FW Die frçhliche Wissenschaft GD Gçtzen-Dmmerung GG Die Geburt des tragischen Gedankens GM Zur Genealogie der Moral GMD Das griechische Musikdrama GT Die Geburt der Tragçdie HL Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben (Unzeitgemße Betrachtungen 2) IM Idyllen aus Messina JGB Jenseits von Gut und Bçse M Morgenrçthe MA Menschliches, Allzumenschliches (I und II)
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Siglenverzeichnis
MD NF NH
Mahnruf an die Deutschen Nachgelassene Fragmente Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift Im neuen Reiche NW Nietzsche contra Wagner PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen SE Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemße Betrachtungen 3) SGT Sokrates und die griechische Tragçdie ST Sokrates und die Tragçdie VM Vermischte Meinungen und Sprche WA Der Fall Wagner WB Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemße Betrachtungen 4) WL ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne WS Der Wanderer und sein Schatten WzM Wille zur Macht Za Also sprach Zarathustra Abkrzungen fr Nietzsche-Periodika Nietzsche-Studien – Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzscheforschung, begrndet von Mazzino Montinari, Wolfgang Mller-Lauter, Heinz Wenzel, hg. von Gnter Abel, Josef Simon, Werner Stegmaier, Berlin, New York: Walter de Gruyter Verlag Nietzscheforschung – Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, hg. von Volker Gerhardt und Renate Reschke, Berlin: Akademie Verlag
Nietzsche – Großmachtphilosoph oder Philosoph der Macht des Großen Volker Caysa
I
Vorbemerkung
Die Frage, ob die Linke von Nietzsche etwas lernen kçnnte, wre noch vor dreißig Jahren keine diskutierbare Frage fr viele Linke gewesen, gilt doch Nietzsche fr viele von ihnen nach wie vor als der Vordenker faschistoidimperialen Denkens und antisemitischen Rassenwahns. Dabei hat die Forschung lngst klar nachgewiesen, dass Nietzsche kein imperialer Nationalist war, dass er kein biologischer Rassist, und dass er Anti-Antisemit war. Davon abgesehen stellt sich nun aber die Frage, wie weit Linke thematisch an Nietzsche anschließen kçnnen, wenn es um die Frage der Macht, der Gestaltung und des Umgang mit der Macht, wenn es um eine neue Politik des Lebens, wenn es um die Fhrung des eigenen Lebens geht. Zentral fr eine moderne, neue Philosophie der Linken sind nicht nur die Fragen nach dem Verhltnis von Philosophie und Politik, Revolution und Reform, Sozialismus und Demokratisierung, sondern auch die von Freiheit und Lebensfhrung. Gerade aber die letztere hatte die alte Philosophie der Linken all zu oft unterthematisiert oder gar falsch politisiert, in dem die „richtige“ Lebensform mit der des vermeintlich „klassenbewussten“ Proletariats der ersten industriellen Moderne dogmatisch gleichgesetzt wurde, was sich all zu oft selbst als romantisches Konstrukt elitrer Intellektueller erwies. Selbst Lukcs, Bloch und Brecht waren von dieser Art von Proletkult nicht ganz frei. Wenn es nun aber nicht mehr die eine erlçsende Klasse und Partei gibt und in diesem Sinne, wie Herbert Marcuse schon 1964 feststellte, es „an nachweisbaren Trgern und Triebkrften des gesellschaftlichen Wandels fehlt“, gibt es dann tatschlich keinen Boden mehr, „auf dem Theorie und Praxis, Denken und Handeln zusammenkommen“ kçnnen?1 1
Vgl. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Frankfurt am Main 1970, S. 15.
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Volker Caysa
Eine linke, tolerante Philosophie einer vernnftigen Lebenspraxis2 erkennt diese Mçglichkeit auch in der Revolutionierung der Lebensform des Einzelnen, was der dogmatische Marxismus fatalerweise vernachlssigt hat. Ein konkretes emanzipatorisches Telos kann nur eine dauerhafte Wirklichkeit haben, wenn es in der Lebensfhrung endlich-leiblicher Individuen realisiert wird, der Traum der Verwirklichung von einem anderen Leben beginnt in der vernderten Lebensfhrung im Alltag der Einzelnen, das revolutionre Feld des Handelns sind die Lebensformen der Einzelnen, die Hoffnung besteht in der Vernderung unserer Lebensfhrung, in unserer Kunst zu leben. Es gilt daher die Besinnung auf die Lebensfhrung des Einzelnen nicht mehr mit Marx als den Rckzug in das „Lampenlicht des Privaten“3 abzutun, sondern gerade mit Marx als Bedingung der Mçglichkeit einer Assoziation zu begreifen, in der die „freie Entwicklung eines jeden die Bedingung fr die freie Entwicklung aller ist“.4 Die Grundlagen einer radikalen Gesellschaftskritik haben sich folglich nach 1968 und 1989 radikal gendert: ein ganz anderes Wir wird erst dauerhaft mçglich, wenn Ich meine Lebensfhrung ndere. Damit wird auch der schwchste Punkt des kritischen Marxismus von Georg Lukcs aufhebbar: sein all zu oft apokalyptischer Blick auf den real existierenden Kapitalismus, die Unterschtzung seines Selbstreformierungspotenzials und das damit verbundene mangelnde Vermçgen emanzipatorische Potenziale innerhalb der bestehenden modernen Gesellschaft aufzuweisen, die gerade Gegenstand einer kritischen Kulturphilosophie im Anschluss an Marx und Nietzsche sein mssen. In dem aber das Verhltnis von Marxismus und Lebenskunst thematisiert wird, wird auch das Verhltnis von Marx und Nietzsche problematisiert, weil die Lebenskunst ein Zentralthema der Philosophie Nietzsches ist. In diesem Kontext stellt sich die Frage, in wie weit eine moderne Philosophie der Linken Elemente des Experimentaldenkers Nietzsche in ihrem Denken aufheben kann.
2 3 4
Siehe Helmut Seidel, Philosophie vernnftiger Lebenspraxis, Leipzig 2000. Vgl. Karl Marx, Hefte zur epikurischen, stoischen und skeptischen Philosophie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Ergnzungsband I, Berlin 1956 ff., S. 219. Vgl. Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1956 ff., S. 482.
Nietzsche – Großmachtphilosoph oder Philosoph der Macht des Großen
II
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Vorurteile
Das Denken Friedrich Nietzsches gilt gemeinhin als der Inbegriff (insonderheit des deutschen) Großmachtchauvinismus. In ihm scheint der Wille zur Macht im Sinne eines repressiven, kolonialisierenden Imperialismus zu triumphieren, wie es den in der Geschichte der Philosophie und des politischen Denkens vor ihm anscheinend nur bei Machiavelli gegeben hat. Die Grçße der Macht und die Macht der Grçße spreizt und bumt sich in seiner Philosophie auf wie bei keinem Denker vor ihm. Nietzsche ist der Umwerter par exellance aller Vorstellungen von „Grçße“ und „Nichtigkeit“. Kein Denker vor ihm feierte und kritisierte das Große mit solch einem Pathos der Distanz. Nietzsches Denken, das in der Lukcs-Habermas-Nachfolge immer noch als antimodern und reaktionr verurteilt wird,5 ist die Aufgipfelung der auf Grçße eingestellten Moderne – aber eben nicht im Sinne ihres sportiv-sexuellen Imperativs, der da lautet: Schneller-Schçner-Geiler. Diesem Urteil steht gegenber, dass Nietzsche der Stichwortgeber einer sich selbst skeptisch betrachtenden Moderne, der Postmoderne, ist. Wir leben anscheinend nicht nur in der Epoche der Vergrçßerung des ohnehin schon Großen, der Globalisierung der europisch-nordamerikanischen Moderne, sondern diese Globalisierung des einen Großen erzeugt auch die Gegentendenz: die Epoche der Selbstverkleinerung und Abschaffung des einen Großen, an das man glauben kann, weil es die eigene Existenz trgt. Seit Gott tot ist, leben wir anscheinend in der großen Epoche der Abschaffung des Großen, in der Epoche der Abschaffung dessen, wozu wir noch Ja sagen kçnnten. Dieses Ja-Sagen meint aber nicht das Glckseligkeitsstreben der letzten Menschen, die zu allem Ja-Sagen, wenn es nur Glck verheißt. Nietzsche ging es um ein „heiliges“ Ja-Sagen (vgl. Za, KSA 4, 31), das uns eine neue Hoffnung ermçglicht, es ging ihm um anderes als Glcklich-Sein, es ging ihm um das Wesentlich-Sein, das er bermensch nannte. Existierte bei Nietzsche noch das klare Bewusstsein, dass jeder Abschaffung eine Neuschaffung folgen muss, so wurde das nach 1989 in der Postmoderne gnzlich vergessen: man war endlich bei sich angekommen – in der alleinigen Vorherrschaft der anscheinend alle Weltprobleme lç5
Dieser Rezeptionslinie folgt im Grunde auch der monumentale Anti-Nietzsche von Domenico Losurdo, Nietzsche der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, Berlin 2009.
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senden liberalen Demokratie – sogar die çstlichen Konkurrenten hatten sich ihr, fast kampflos ergeben: die „großen Erzhlungen“ waren am Ende. Aber sind die großen Erzhlungen wirklich am Ende? Vielleicht zeigen sie sich anders, vielleicht werden sie nur anders von anderen erzhlt, als wir es gewohnt sind, vielleicht ereignen sie sich dort, wo wir es nicht vermuten? Das Problem des Großen betrifft uns Deutsche nun in besonderer Art und Weise. Kein Volk hat in der bisherigen Geschichte der Menschheit die in allen Kulturen der Weltgeschichte vorhandenen Großmachtphantasien so aggressiv, kalkuliert und technisch-gekonnt umgesetzt wie wir Deutsche. Wir haben das Große an uns und unserer Kultur nicht nur groß gemacht, sondern wir haben auch das Kleine, Nichtige, Elende an uns groß gemacht. Heraus kam ein politischer Extremismus, der von uns als großem Volk der Dichter und Denker nichts mehr brig ließ und die Welt bis heute angewidert fasziniert mit der tatschlich realisierten Grçße der Barbarei. Das Problem von uns Deutschen war (und ist vielleicht immer noch), dass wir alles zur Perfektion bringen wollen oder altertmlich gesagt: „rein“ haben wollen. Die Folge dieses Reinheitsstrebens war und ist, dass wir nicht nur das Große unserer Kultur, sondern auch das Kleine, Elende unserer Kultur ins Extreme steigern. Wir sind deshalb ein in seiner Grçße sich selbst gefhrdendes Volk, das gerade, weil es sich seiner Grçße nicht selbstgewiss war, andere Kulturen in ihrer Existenz bedrohte. Nietzsche ist der Denker der Grçße und des Elends der Deutschen. Er gab sich nicht damit zufrieden, dass der Extremismus der Perfektion bzw. der Reinheit zwar geschichtlich gewachsen, aber anscheinend unsere unheilbare mentale Krankheit und unser unabwendbares Schicksal sein soll. Das Problem von uns Deutschen ist, und das erkannte Nietzsche klar, alles Große noch grçßer, noch reiner, noch perfekter zu machen und folglich auch das Deutsche noch deutscher machen zu wollen. Dagegen hilft aber nach Nietzsche nur eines: das Große kleiner zu machen und die Deutschen zu entdeutschen, damit sie lernen mit der Grçße ihrer Kultur im rechten Maße umzugehen. Unser Reinheits- bzw. Perfektionierungswahn hat, in Verbindung mit dem Prinzip Sicherheit und Ordnung, aus dem Volk der Dichter und Denker nicht nur das Volk der Dichter und Henker gemacht, sondern das Volk der Spießer und Lenker: alles kann, alles muss geregelt, verregelt werden. Selbst die spießige Mittelmßigkeit haben wir auf die, natrlich rechtlich geregelte, Spitze getrieben. Was eigentlich das Extrem ausschließt, nmlich das rechte Maß, die Mitte, haben wir zum Extremismus der Mittelmßigkeit ausgebildet. Auch im Mkeln an jedem und im Kleinreden von allem haben wir es zur Grçße gebracht: „Sagt, ist noch ein
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Land außer Deutschland, wo man die Nase eher rmpfen lernt als putzen?“ – fragte schon Lichtenberg. Die Krankheit der postmodernen Hermeneutik des Kleinmachens, der Entschrfung, der Verdurchschnittlichung, der Vermittelmßigung hat lngst die Nietzsche-Auslegung erreicht, ja, die Hermeneutik der Verniedlichung Nietzsches ist der Mainstream der postmodernen Nietzscheforschung. Manche wollen ihn sogar zum Aufklrer machen, aber als Aufklrer der Aufklrung, als Radikalaufklrer, ist er konsequenterweise und selbstbewusst Antiaufklrer – so kçnnte man Losurdos Anti-Nietzsche auch positiv lesen. Der Triumph des zweifelsohne großen Willens zur Macht im Denken Nietzsches meint nicht den Sieg eines wie auch immer gearteten fanatischen, fundamentalistischen, imperialen Herrschaftsanspruches. Nietzsche denkt groß, aber nicht imperial. Nietzsche ist kein Verherrlicher rassistisch-biologistischen Herrschaftsdenkens, wie es ihm von den Nationalsozialisten und dogmatischen Marxisten unterstellt wurde und immer noch wird. Wenn in Nietzsches Denken der Wille zur Macht triumphiert, dann bedeutet das, dass das Leben zur Sprache kommen soll. Denn der Wille zur Macht ist fr Nietzsche im Kern der Wille zum Leben. Die Grçße des Willens zur Macht bemisst sich daran, wieweit er Leben, anderes Leben, als das der letzten Menschen, ermçglicht, wieweit er uns hilft unser Leben in all seiner Tragik zum Gesamtkunstwerk des Lebenskunstwerkes aufzuheben. Der Wille zur Macht ist fr Nietzsche nicht allein das Streben nach institutioneller politischer oder wirtschaftlicher (Vor-)Herrschaft, sondern vor allem die Mçglichkeit etwas ber die bloß geglckte Selbsterhaltung Hinausgehendes zu bewirken und das Leben selbst zu steigern, zu intensivieren. Nietzsches Wille zur Macht ist nicht zu verwechseln mit einem totalitren Willen zur Vorherrschaft einer Großmacht. Sicher ist Nietzsches Wille zur Macht auch herrschaftlich verfasst, aber er bedeutet nicht die Apologetik totaler Herrschaft ber das Leben, die paradigmatisch im nationalsozialistischem Denktyp verkçrpert ist. Nietzsches Denken kennt sehr wohl die Denkfigur des Herrn, aber deshalb ist er kein Vordenker des Herrn Hitler. Gerade einem Willen zur Herrschaft im Sinne imperialnationalsozialistischer und rassistisch-antisemitischer Repression ist sein Konzept des Willens zur Macht entgegengesetzt. Dass Nietzsche ein Anti-Rassist, ein Anti-Antisemit, ein Anti-Imperialist, ein Anti-Deutschnationaler war, muss in der Nietzsche-Forschung als lngst bewiesen und belegt betrachtet werden. Aber trotzdem sind die
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Volker Caysa
wirkungsgeschichtlichen Vorurteile, dass Nietzsche wenn auch nicht ein Vordenker, so doch ein Vorlufer rassisch-antisemitischen, imperial-nationalsozialistischen Denkens war, bis heute nicht aus einer breiteren ffentlichkeit verschwunden und anscheinend auch nicht mit noch so subtilen Argumenten zu widerlegen. Man fragt sich allerdings doch, warum von verschiedenen intellektuellen und politischen Kreisen das vor allem von Georg Lukcs in der „Zerstçrung der Vernunft“ geprgte Feindbild Nietzsche, wenn auch in modernisierter Form, weiter gepflegt wird. Welche ideologischen Herrschaftsinteressen stecken eigentlich dahinter? Aber um die Sachlage doch noch einmal zusammenzufassen: Theodor Fritsch schrieb (vgl. NF, KSA 12, 205) Nietzsche am 23. Mrz 1887: „Mit keinem Menschen umgehen, der an dem verlogenen Rassen-Schwindel Anteil hat.“ Die „verfluchte Antisemiterei“ hat ihn mit Richard Wagner, seinem Verleger Schmeitzner, seiner Schwester Elisabeth und dessen Mann Bernhard Fçrster, der ein bekannter antisemitischer Agitator war, verfeindet. Die „antisemitischen Schreihlse“ wollte er des Landes verweisen. (Vgl. JGB, KSA 5, 194) Dem „unverbesserlichen Europer und AntiAntisemiten“, wie er sich selbst gegenber Elisabeth bezeichnete, waren die Antisemiten, die unverschmteste und stupideste Bande, die es in Deutschland gibt, gegen dessen Instrumentalisierung seiner Ideen es sich massiv wandte. (Vgl. NF, KSA 12, 321) Sein Ekel gegenber den Antisemiten ging soweit, dass er sich selbst noch im Wahne gegenber Franz Overbeck zu einer nahezu visionren Erwiderung auf den kommenden Genozid der Juden verstieg: „Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen…“ – schrieb er am 4. 1. 1889 (An Franz Overbeck in Basel, KGB III/5, Bf. 1249). Nietzsche war vielleicht der am wenigsten Deutsche unter den deutschen Denkern und Dichtern: „Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen.“ (Vgl. MA, KSA 2, 511) Selbst der militrische Sieg ber Frankreich und die folgende Reichsgrndung 1871 drohte fr ihn in der „Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen Reiches“ zu enden (Vgl. DS, KSA 1, 160). Und die Rede von der „blonden Bestie“ meint nicht die Verherrlichung blonder, blauugiger Germanen, die fr hin nicht hart wie Stahl, flink wie Windhunde und zh wie Leder, sondern „Schwerfssler“ waren und die „Alkohol-Vergiftung Europa s“ verkçrperten (Vgl. AC, KSA 6, 248; GM, KSA 5, 392). Die „blonde Bestie“ ist eine bersetzung von „flava bestia“ und meint den Lçwen. Der Lçwe gehçrt aber, wie die listige Schlange, der stolze
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Adler und das geduldig er-tragende Kamel zu den Tieren Zarathustras und ist Symbol des freien Geistes, der mutig, aber auch freilich ruberisch umherschweift in der Wste des Nihilismus, die alten Werte nieder-reißt, um sich die Freiheit zu „neuem Schaffen“ zu schaffen (Vgl. Za, KSA 4, 30). Natrlich steht in Ecce homo unter der nicht gerade bescheidenen berschrift „Warum ich ein Schicksal bin“ der Satz: „es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an gibt es auf Erden grosse Politik.“ (KSA, EC, 6, 366) Ist das bloß der Grçßenwahn eines Kriegstreibers und Imperialisten? Oder wre es nicht eine Frage intellektueller Redlichkeit, jene Rede von der „grossen Politik“ nicht als seinsollende Forderung nach dem großen Krieg, nicht als Wunsch nach imperialer Vorherrschaft einer Großmacht, sondern analytisch-visionr zu deuten, mit der Nietzsche die heraufkommenden Gefahren des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts andeutete? Man muss bei der Auslegung dieses Satzes endlich schlußmachen mit einer Verdchtigungs- und Kriminalisierungs-Hermeneutik, die den Hermeneuten, also den Boten erschlgt, weil einem die Analyse moralisch widerstrebt. Der Diagnostiker eines Phnomens, darf nicht zu seiner Ursache gemacht werden, was ja eine beliebte Methode der Gefahrenwarnerhermeneuten ist. Nietzsche war kein Vordenker eines imperialen, militanten Großmachtchauvinismus, sondern er sah klar, welches Gewaltpotential in der sich am Ausgang des 19. Jahrhunderts neu formierenden kapitalistischimperialistischen Gesellschaft enthalten war, das dann bekanntlich im 20. Jahrhundert voll ausbrach. Nietzsche also fr die imperialen Weltbrgerkriege des 20. Jahrhunderts verantwortlich zu machen, ist ebenso abenteuerlich wie Marx Kapitalismusanalysen fr die Krisen des Kapitalismus. Nietzsche ahnte mit seiner Rede von der „großen Politik“ welche Gefhrdungen von einer ungebremsten Globalisierung der kapitalistischen Moderne ausgehen und zugleich erahnte er visionre Metaphern einer alternativen, çkologischen Erdpolitik, wenn er uns beschwçrt, der Erde treu zu bleiben und nicht in berirdischen Machbarkeitswahn zu verfallen.
III Positive Problematisierung von Macht In der Umgangssprache werden Macht, Kraft, Strke, Autoritt, Herrschaft, Gewalt, das Vermçgen, ber etwas zu verfgen, oft nicht unterschieden und miteinander alltglich identifiziert. Diese mannigfaltige
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Bedeutung des Begriffs Macht im Alltag knpft an die Bedeutungsvielfalt des griechischen Wortes dynamis bzw. des lateinischen potentia an, die bis heute die philosophischen Theorien ber Macht im Sinne von Vermçgen, Mçglichkeit, Kraft im menschlichen und außermenschlichen Bereich oder auch nur als politische Macht bestimmen. Der Begriff der Macht ist demzufolge, und dem folgt auch Nietzsche, weder auf zwischenmenschliche Beziehungen, noch auf die Staats- und Regierungsgewalt zu reduzieren wie er auch kein rein anthropologischer Begriff ist. Auf einer allgemein-ontologischen Ebene ist Macht als eine „Erscheinungsform von Mçglichkeit“6 zu analysieren. Macht ist aber nicht nur eine bloße Mçglichkeit, sondern als reales Vermçgen schließt sie das Kçnnen sowie die Fhigkeiten und Fertigkeiten ein, etwas konkret zu verwirklichen. Macht kann daher als eine Kraft oder ein Vermçgen bestimmt werden, das Mçgliche wirklich zu machen.7 Von dieser ontologisch-allgemeinen Bestimmung des Machtbegriffs sind dann systematisch die verschiedenen anderen, anthropologischen, sozialen und politischen Bedeutungsvarianten des Machtbegriffs ableitbar, die sich teilweise schon mit den Bedeutungsfeldern wie Herrschaft, Gewalt, Kraft, Autoritt berlappen. Als weitere Bedeutungsschwerpunkte des Machtbegriffs sind daher zu nennen: –
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Macht ist das, was ein Mensch bzw. eine Gruppe von Menschen kann, was sie physisch und psychisch zu leisten vermçgen. Die Macht ist ihr Leistungsvermçgen, ihre Kraft, ihre geistige und kçrperliche Strke; Macht ist die erworbene, jemandem zustehende und/oder ausgebte Befugnis: sie ist ein Kçnnen, eine Fhigkeit und Fertigkeit ber etwas oder ber andere zu bestimmen; Macht ist die existente Wirtschafts-, Staats-, und Regierungsgewalt; Macht bezeichnet die herrschende wirtschaftliche und politische Klasse oder Clique und die mit ihnen verknpften Institutionen. Insofern umfasst der Machtbegriff die in Wirtschaft und Staat Herrschenden und deren Apparate, deren Macht aber eben nicht mit der Macht berhaupt identisch ist; Macht bezeichnet die (bewussten und unbewussten) Wirkungen und Wirkungsmçglichkeiten von Menschen, Handlungen, VerhaltensweiVgl. Kurt Rçttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg i. Br./Mnchen 1990, S. 50. Vgl. Kurt Rçttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg i. Br./Mnchen 1990, S. 53.
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sen, Strukturen, Ereignissen wie z. B. die Macht der Gewohnheit, der Liebe, der Tradition, der Politiker, der Revolutionen.8
IV Die Selbstperspektivierung der Macht – Wie sich Hoffnung formiert oder: Wie aus Latenz Tendenz wird Nietzsches Begriff der Macht darf nicht auf den Begriff der dynamis, wie er bei Platon und Aristoteles zu finden ist, reduziert werden, sondern muss in Verbindung mit Spinozas Kraft- und Affektenlehre und Schopenhauers Willensbegriff analysiert werden. Konsequenterweise redet Nietzsche nicht einfach von der Macht, was nicht gleichgesetzt werden darf mit dem Streben nach irgendeiner Form institutioneller, politischer oder wirtschaftlicher Herrschaft, sondern vom Willen zur Macht. Sicher ist fr Nietzsche Macht im elementaren Sinne die Mçglichkeit, etwas zu bewirken. (Vgl. JGB, KSA 5, 55) Aber diesem Mçglichkeitsfeld ist nach Nietzsche ein ber die bloße Selbsterhaltung hinausgehendes Streben nach Selbststeigerung eigen, denn fr lebendige Wesen gilt, dass alle Wesen „Etwas ber sich hinaus“ schufen. (Vgl. Za, KSA 4, 14) Macht als Wille zur Macht ist daher nach Nietzsche nicht vom Leben zu trennen, das nicht auf bloße Selbsterhaltung reduziert werden darf: „,Nur, wo Leben ist, da ist auch der Wille: aber nicht der Wille zum Leben, sondern – so lehre ich s dich – Wille zur Macht!“ (Za, KSA 4, 149) Macht ist fr Nietzsche ein inneres Vitalstreben, das weder rein physikalisch noch rein biologistisch, sondern vor allem kulturalistisch zu verstehen ist, das es uns ermçglicht, dass uns zugngliche Leben in seinem inneren, „schçpferischen Trieb“ zu verstehen: „Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle ,Erscheinungen, alle ,Gesetze nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen.“ (NF, KSA 11, 563) Macht als Wille zur Macht wirkt nach Nietzsche nicht nur bloß im Leben, sondern er ist das Leben. (JGB, KSA 5, 208) Das heißt, der Wille zur Macht ist der vorgngige Grund des Lebens und als solcher Bedingung der Mçglichkeit allen konkreten Lebensformen immanent vorgngig, was wiederum zur Konsequenz hat, den Willen zur Macht nicht monolinearzentristisch zu deuten, sondern, wie das Lebendige selbst, in seinen vielfltigen Ausgestaltungen und Verwirklichungsformen konkret zu analy8
Vgl. Art. Macht/Herrschaft/Gewalt, in: Hans-Jçrg Sandkhler (Hrsg.), Enzyklopdie Philosophie und Wissenschaften, Bd. 3, Hamburg 1990, S. 114 ff.
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sieren. Es gibt also nach Nietzsche nicht „den“ Willen zur Macht oder „die“ Macht, sondern immer nur die vielen anderen Willen zur Macht und die mannigfaltigen Mchte, deren chaotisches, sich gegenseitig durchstreichendes Wirken erst im Resultat den Anschein der Vorherrschaft einer Macht und eines Willens zur Macht erzeugt. (Vgl. JGB, KSA 5, 31 ff.; NF, KSA 13, 36 f.) Macht als Wille zur Macht meint also nach Nietzsche nicht bloß das Verfgen ber Mçglichkeiten, sondern das im sich verwirklichenden Mçglichen innerliche Streben des Lebendigen, das sich seiner nicht bewusst sein muss, sich in seinen wirklichen Mçglichkeiten selbst zu transzendieren auf eine Mçglichkeit hin, die noch nicht oder nicht mehr ist. Selbst die noch nicht seiende, anscheinend rein fiktive Vorwegnahme von noch gar nicht faktisch vorhandener Macht, ist schon eine faktische Macht, die durch ihr anscheinendes Noch-Nicht-Sein das Werden eines anderen und neuen Seins ermçglicht. Macht ist fr Nietzsche die Urkraft allen lebendigen Seins, das sich aus sich selbst heraus bewegt, insofern causa sui ist, und in dieser Selbstbewegung sich selbst selbst perspektiviert: „,Vieles ist dem Lebenden hçher geschtzt, als Leben selber; doch aus dem Schtzen selber heraus redet – der Wille zur Macht!“ (Za, KSA 4, 149) Das Leben als Wille zur Macht verstanden, ist also immer je schon wertschtzend, abschtzend und insofern perspektivierend und normierend. Das Leben perspektiviert sich selbst als Leben, in dem es sich schtzt und wie das Leben sich schtzt, sich selbst abschtzt, so perspektiviert es sich und normiert es sich. Die Macht des Lebens ist also nicht von seiner Macht zu trennen, sich aus sich heraus eine Perspektive zu geben und durch diese innerliche Selbstperspektivierung vermag sich das Leben diesseitig zu transzendieren. Mit der Macht ist fr Nietzsche eine Selbstschtzung, eine Selbstwertsetzung, d. h. eine Eigenwertsetzung und Selbstperspektivierung alles fr uns Daseienden verbunden. Diese Idee ist sowohl in Lukcs wie auch in Blochs Denken grundlegend: das Proletariat kann erst seine historische Mission erfllen, wenn es Selbstbewusstsein, wenn es Klassenbewusstsein entwickelt und sich dadurch selbst seine Perspektive vorgibt – erst wenn das Proletariat die Tendenz der Latenz erkennt, wird aus der mçglichen Tendenz eine wirkliche. Der Macht ist nach Nietzsche ein inneres Telos eigen, das sich auf dem Grund seines Eigenseins entfaltet und als solches Vermçgen des DurchSich-Selbst-Seins bezieht es sich selbst auf etwas anderes, das es selbst noch nicht ist. Insofern nach Nietzsche Macht prinzipiell teleologisch verfasst ist,
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ist sie als diesseitige innere Triebkraft des Lebens auf das Leben im Sinne einer erneuerten Kultur ausgerichtet: einer „Cultur als einer neuen und verbesserten Physis“ (HL, KSA 1, 334) und steht fr Nietzsche im Dienste jener „neue(n) Partei des Lebens, welche die grçßte aller Aufgaben, die Hçherzchtung der Menschheit in die Hnde nimmt“ (EH, KSA 6, 313).
V Die empraktische Macht der Stimmungen Die Wahrnehmung der Macht als das innere Streben nach Selbsterhaltung durch Selbststeigerung bewegt sich nach Nietzsche im Spannungsfeld von Lust und Unlust, von Unbewusstem und Bewusstem, von Affektivitt und Pathos und ist nicht von Stimmungen im Sinne von Machtgefhlen und einer Kultur der Macht zu trennen. (Vgl. M, KSA 3, 173 – 176; JGB, KSA 5, 32) Wir nehmen nach Nietzsche Macht ber Machtgefhle war, die unser Handeln innerlich perspektivieren und selbst organisieren und dazu fhren, dass Macht nie bei sich stehen bleibt, sondern immer ber sich hinausstrebt. Die Macht als ein Seinkçnnen fr uns, ist nicht zu trennen, von der gefhlten Wahrnehmung dessen, was auf uns zu kommt, was von diesem Sein-Kçnnen erwartet wird und wie dieses zu Erwartende durch Machtgefhle vermittelt interpretiert wird. Macht ist demzufolge nicht von den Erwartungsstimmungen Angst und Hoffnung zu trennen. Wo Macht ist, ist immer auch je schon Angst und Hoffnung. Das Prinzip Hoffnung ist also nach Nietzsche nicht vom Prinzip Macht zu trennen und beide sind vermittelt durch die gefhlte Macht der „grossen Vernunft“ des Leibes. Die immer je schon positiv oder negativ auf das auf uns Zukommende gerichtete praktische Vernunft, also die auf Handeln bezogene Vernunft, wird in Nietzsches Praxisbegriff, dessen Kern der Wille zur Macht ist, immer je schon als in sich gerichtetes Begehren der durch Stimmungen wahrgenommen grossen Vernunft des Leibes begrndet. Durch das innere Getriebensein des Leibes kommt nach Nietzsche die (theoretische) Vernunft zum Handeln und zwar in empraktischer Form. Der Wille zur Macht besteht demzufolge in einem vernnftigen Begehren, das sich grndet in der Selbstmacht des Leibes. Dem Willen zur Macht ist eine innere, in sich gerichtete Energie eigen, die durch Einbung, durch einen vernnftigen Umgang mit der gefhlten Leiblichkeit und den leiblichen Stimmungen geformt werden kann. Der Wille zur Macht meint daher nicht vorrangig die taktisch-strategische Durchsetzung eines Herrschaftsplanes, sondern er zielt auf die Begrndung des Handelns nicht in einer reinen, von Trieben, Begierden, Wn-
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schen und Stimmungen abstrahierenden theoretischen Vernunft, sondern in der immer je schon begehrenden Vernunft und einem vernnftigen Begehren, die sich immer in der Vermittlung durch sich widerstrebende Affekte und Leidenschaften durchsetzen. Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht ist demzufolge nicht von seiner Affektenlehre zu trennen, die im Kern auf folgenden Thesen beruht: – – – –
„Morphologie der Affekte: Reduction derselben auf den Willen zur Macht“ (NF, KSA 12, 244); „die Ableitung aller Affekte aus dem Einen Willen zur Macht: wesensgleich“ (NF, KSA 12, 490); dass „der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form ist, daß alle anderen Affekte nur seine Ausgestaltungen sind“ (NF, KSA 13, 300); dass „die Moralen […] auch nur eine Zeichensprache der Affekte“ sind (JGB, KSA 5, 107).
Aufgrund der konkreten Identitt von Wille zur Macht und Machtgefhl ist fr Nietzsche alles gut, „was das Gefhl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst am Menschen steigert“ und alles schlecht, „was aus der Schwche stammt“ (AC, KSA 6, 170). Zum Willen zur Macht gehçrt fr ihn „der Wille zur Accumulation von Kraft“, wobei er sich fragt, ob dieser sogar kosmisch zu deuten sei (NF, KSA 13, 260 f.). Macht ist daher fr Nietzsche nicht von „Aneignung, Herr-werden-, Mehr-werden-, Strkerwerden-wollen“, und in diesem Sinne von Grçßer-Werden-Wollen zu trennen (NF, KSA 13, 261), was fr ihn einschließt Widerstnde zu berwinden: „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerstnden ußern.“ (NF, KSA 12, 424) Machtgefhle, „die Lust als Gefhl der Macht“ (NF, KSA 13, 260), bestehen daher in der berwindung von Widerstnden und das ist fr Nietzsche Glck: „Das Gefhl davon, dass die Macht wchst, dass ein Widerstand berwunden wird.“ (AC, KSA 6, 170)
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Machtpotenzierung
Die Rede vom Glck als wachsende Macht, darf nun allerdings nicht quantitativ-hedonistisch missverstanden werden, wie das all zu oft geschehen ist. Machtwachstum ist bei Nietzsche qualitativ-asketisch bestimmt und das heißt, sie meint Machtsteigerung durch Selbststeigerung, durch Selbstbeherrschung, durch Selbstbestimmung, durch Selbstperspektivierung im Gegensatz von Machausdehnung durch Fremdbeherrschung, Fremdbestimmung, Fremdperspektivierung. Das „Mehr“ an
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Macht, durch das sich der Wille zur Macht reproduziert, meint nicht die quantitative Ausdehnung des Willen zur imperialen Herrschaft, sondern gerade die Selbstberwindung dieses Willen zur Herrschaft, um die Macht ber sich selbst, die Selbstmacht zu behalten, zu steigern, zu intensivieren. Die Machtsteigerung besteht nach Nietzsche nicht nur in der Machtverneinung, im Brechen von Macht, in der berwindung von Widerstnden, in der Befreiung von der Macht, sondern Machtsteigerung meint vor allem die Machtbejahung nicht nur im Sinne des Freiseins von etwas, sondern im Sinne des Freiseins fr etwas. Macht ist fr Nietzsche nicht nur die Macht der Verneinung, sondern vor allem die Macht der Bejahung, Macht ist nicht nur negative Freiheit, Befreiung von etwas, sondern vor allem positive Freiheit: Freisein fr etwas. Wille zur Macht das bedeutet also bei Nietzsche weder Staats-, Wirtschaft- oder Geldomnipotenz, der Wille zur Macht ist nicht der Wille zum starken Staat, er ist nicht der Wille zum globalisierten Kapitalismus und er ist auch nicht der Wille zur ungebremsten Geldakkumulation: „Dort, wo der Staat aufhçrt, da beginnt erst der Mensch, der nicht berflssig ist … Seht mir doch diese berflssigen! Reichthmer erwerben sie und werden rmer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld, – diese Unvermçgenden“, heißt es im Zarathustra (Vgl. Za, KSA 4, 63).
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Die Macht des Bçsen
Wie fr Nietzsche Macht nicht bloß repressiv, sondern produktiv ist, so ist fr ihn aber auch Macht nicht an sich gut, sondern als geschtztes Gut ist sie notwendig bçse. Nietzsches Feier des Willens zur Macht ist nicht von seiner Feier der Macht des Bçsen zu trennen, wie sie paradigmatisch in seiner Hochschtzung Machiavellis und Cesare Borgias zu finden ist. Das Hauptwerk Machiavellis, Il Principe, galt in der ffentlichkeit Jahrhunderte hindurch als das „klassische“ Handbuch einer tyrannischen Machtpolitik und amoralischen Machstrebens. Gerade in diesem Verstndnis hat Nietzsche Machiavelli geschtzt. Konsequenterweise bernimmt er von Machiavelli auch die Hochschtzung Cesare Borgias, diesem skrupellosen Machtmenschen, den Nietzsche als „Raubmenschen“ feiert (JGB, KSA 5, 117), der das Bçse tut, weil er eine schamlose Lust an gewaltiger und gewaltttiger Bosheit hat. Nietzsche wnschte sich Cesare Borgia als Papst, denn das wre der Sieg gewesen, den er sich herbeisehnte: die Abschaffung des Christentums, die Luther verhinderte. (Vgl. AC, KSA
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6, 251) Diese Bewunderung des amoralischen Machtstrebens Machiavellis (und in dessen Nachfolge fr Cesare Borgia) durch Nietzsche erklrt sich aus seiner Opposition gegen Platon und seinem davon abgeleiteten Kampf gegen das Christentum. Fr Nietzsche ist Machiavellis Konzept des Principe in der Nachfolge Thukydides ein Gegenentwurf zu Platons moralistischem Politikverstndnis, das wie das Christentum durch eine falsche Moral lebensfeindlich und Leben verhindernd wirkt, und durch diese Politik des Bçsen wird es mçglich in Bezug auf die Politik umzulernen und den Politikbegriff im Sinne der „Großen Politik“ umzuwerten. Folglich lobt Nietzsche an Machiavelli gemeinsam mit Thukydides deren Illusionslosigkeit und politischen Realismus: Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonismus war zu jeder Zeit T h u k y d i d e s . Thukydides und, vielleicht der principe Macchaivell s sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der R e a l i t t zu sehen, – n i c h t in der „Vernunft“, noch weniger in der „Moral“. (GD, KSA 6, 156)
Machiavelli (wie auch Cesare Borgia) sind fr Nietzsche typische Reprsentanten der Renaissance, die fr ihn wesentlich der Versuch war, die fr ihn kulturzerstçrerischen, weil (zivilisierenden) christlichen Werte umzuwerten: der Versuch mit allem Mitteln, mit allen Instinkten, mit allem Genie unternommen, die G e g e n -werthe, die v o r n e h m e n Werthe zum Siege zu bringen … Es gab bisher nur d i e s e n grossen Krieg, es gab bisher keine entscheidenere Fragestellung als die der Renaissance, – m e i n e Frage ist ihre Frage. (AC, KSA 6, 250)
Nietzsche knpft hier an die Hochschtzung der Renaissance durch Jacob Burckhardt in dessen Kultur der Renaissance in Italien (1860) an, feiert aber gerade, entgegen Burckhardt, fr den die Macht „an sich“ bçse war, das immoralische Lob der Macht und den damit verbundenen Machtdmonismus Machiavellis als „Tugend im Renaissance-Stile, virt , moralinfreie Tugend“ (AC, KSA 6, 170), die fr ihn die Vitalitt und Erneuerung der Kultur ermçglichen. Diese Feier des Machtdmonismus ist nicht von der Feier des großen dmonischen Einzelnen zu trennen, der alles Recht auf seiner Seite hat: vor allem das Recht, ja die Pflicht, wenn nçtig, Bçses zu tun, das durch ein Gewaltrecht des Guten legitimiert ist. Zum Jasagen zur Macht des Bçsen gehçrt das Nein-Tun: „die Umwertung aller Werte, der große Krieg – die
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Heraufbeschwçrung eines Tags der Entscheidung. Hier ist eingerechnet der langsame Umblick nach Verwandten, nach solchen, die aus Strke heraus zum Vernichten mir die Hand bieten wrden.“ (KSA, JGB. 6, 350) Fr diesen Helden großer und das heißt immer auch bewusst bçser Macht ist alles und jeder nur Mittel zum Zweck der Vergrçßerung der Macht. Zeichen ihrer Grçße ist ihr Machtwahn, der Wahnsinn, die Macht immer weiter wachsen, steigern zu wollen, nie mit der erreichten Macht zufrieden zu sein, der Wahnsinn, die Macht immer weiter zu vergrçßern, der Grçßenwahn der Macht, der sich durchaus des Mittels der Religion bedienen darf, die fr ihn nur ein Mittel mehr ist, „um Widerstnde zu berwinden, um herrschen zu kçnnen“ und folglich selbst Ausdruck des Willens zur Macht ist, indem Religion erzieht, zivilisiert, diszipliniert, befriedet, verklrt, selektiert, zchtigt, zchtet, veredelt, verschçnert: kurzum die Macht des Bçsen mit dem Anschein des Guten deckt. (Vgl. JGB, KSA 5, 79 f.) Das Schauspiel des Guten in der Religion dient so der Inszenierung des Bçsen in der großen Politik der grossen Mnner. Fr die Letzteren sind die Massen nur „als Widerstand gegen die Grossen“ und „als Werkzeuge der Großen“ relevant; „im brigen hole sie der Teufel und die Statistik“ (Vgl. HL, KSA 1, 320). „Grosse Mnner“ sind fr Nietzsche aber nicht die politischen Anfhrer der utilitaristischen Massengesellschaft, die er als pçbelhafte Agitatoren der Menge bezeichnete (vgl. NF, KSA 13, 497 f.), diese „grossen“ Mnner sind fr ihn nicht nur „Schauspieler des eignen Ideals“ (vgl. JGB, KSA 5, 90), sondern die „Affen ihres Ideals“ (Vgl. GD, KSA 6, 65). Nietzsche dagegen geht es um die bçsen, „hçhere(n) Natur(en)“ unter den grossen Mnnern, die im „Anderssein“, nicht im Massesein, die in der „Unmittelbarkeit“, nicht in der Verstellung, die in der „Rangdistanz“ und nicht im sich Sich-Gleichmachen besteht (Vgl. JGB, KSA 5, 90).
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Gerechtsein und Lebenskunst
Dass Nietzsche kein biologischer Rassist ist, ist selbst bei orthodoxen Marxisten inzwischen angekommen. Aber er ist auch kein kultureller Rassist oder „transversaler Rassist“, sondern ein Kulturaristokrat, der die Gerechtigkeit liebt. Kultur ist fr ihn eine Tugend und die Tugendhaften zeichnet die Kultur der Gerechtigkeit aus: jede Lebensform muss in ihrem Eigenwert verstanden und verortet werden. Nicht Besitz, Geburts- oder Geldadel zeichnet Nietzsches „Vornehme“ aus, sondern Tchtigkeit und Verantwortlichkeit: „Zeichen der Vornehmheit: nie daran denken, unsre
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Pflichten zu Pflichten fr Jedermann herabzusetzen; die eigene Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen; seine Vorrechte und deren Ausbung unter seine Pflichten rechen.“ (JGB, KSA 5, 227) Wrde, und in diesem Sinne Grçße, hat der fr Nietzsche, der sich selbst gestaltet, der an sich arbeitet. Selbstgestaltung, Selbstformung ist das Maß der Gerechtigkeit. Wrde hat der, der Macht ber sich hat, der an sich arbeitet, der sich beherrscht: Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mchtigen, auch den, welcher Macht ber sich hat, der zu reden, zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Hrte gegen sich bt und Ehrerbietung vor allem Strengen und Harten hat. (JGB, KSA 5, 210)
Wie jeder Mensch, so braucht auch und gerade der Vornehme, etwas, das grçßer ist als er, um sich daran selbst zu orientieren und zu transzendieren. Dies was grçßer ist als er selbst, dies, was ihn grçßer macht durch sich selbst, sprt er in seiner Selbstmacht. Die Selbstmacht ist die Grçße, die ihn grçßer macht, und durch diese Selbstmacht vermag er das zu realisieren, was Grçße ist: sich selbst diesseitig zu transzendieren. Wenn nun methodisch, wie es Nietzsche vordenkt, jede Lebensform in ihrem Eigensein begriffen und verortet wird, dann bedeutet dies nicht Gleichheit, sondern Ungleiches als Ungleiches zu behandeln und folglich jede Lebensform dort hinzustellen, wohin sie gehçrt. Aber auch, wenn nach dem Grundsatz verfahren wird, dass jeder das Seinige hat und haben sollte, ist nach Nietzsche darin Gleichheit eingeschlossen, in dem jeder nach dem gleichen Maßstab beurteilt wird, wo er zu stehen hat. Die Gleichheit in der Gerechtigkeit besteht nmlich nach Nietzsche darin, dass jeder nach dem Maß der Selbstmacht, ber die er verfgt, beurteilt wird. Demzufolge drfen in seiner zweifelsohne hierarchisierten Gesellschaft nur die andere beherrschen, die zu aller erst bewiesen haben, dass sie sich selbst beherrschen kçnnen. Diese Hierarchisierung ist aber eben nicht traditionell-konservativ im Sinne der Fixierung der Individuen auf die soziale Herkunft, in die sie hineingeboren wurden, sondern agonal-durchlssig zu verstehen: jeder kann in dieser Hierarchie auf- und absteigen, wenn es ihm gelingt, sein Leben selbstregiert zu fhren und seine Position in dieser agonalen, beweglichen und nicht statischen Hierarchie ist abhngig von den Fhigkeiten und Fertigkeiten der Selbstregierung. Gleichheit beruht demzufolge nicht auf einer Politik der Nivellierung und des Herabziehens, was Nietzsche immer wieder an der demokratischen Massengesellschaft kritisiert, sondern auf einer Politik der Gerechtigkeit, die jedem das Seine
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ermçglicht nach dem Maß seiner Selbstregierungsfhigkeit. Nach diesem gleichen Maßstab wird ein jeder in seinen Fhigkeiten und Fertigkeiten respektiert und anerkannt, erhlt er seine Position in der Gesellschaft, die aber nicht ein fr allemal fixiert ist, sondern nach dem Maß der eigenen Selbstgestaltungsfhigkeit und der mit ihr verbundenen Selbstverantwortlichkeit verndert werden kann. Aristokratie und Demokratie, Elitismus und Egalitarismus, Einsamsein und Gemeinsamsein, Ich-Sein und Wir-Sein, Rangordnung und Toleranz, Autoritt und Pluralitt, Exklusivitt und Offenheit der Gesellschaft sind so vereinbar.9
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Macht und Selbstregierung
Nietzsche wollte die Welt verndern und deshalb reichte es ihm nicht aus einfach pauschal gegen jede Form von Macht und Herrschaft zu sein, sondern es ging ihm darum, wenn nun einmal Macht und Herrschaft conditio humana sind, mit ihnen anders umzugehen und andere Macht und Herrschaftsformen zu etablieren. Slogans wie „Die Welt verndern, ohne die Macht zu bernehmen“ waren fr ihn, wie brigens auch fr Marx, intellektuell sowie politisch unredlich und Ausdruck von Ressentiment gegenber der Macht und sind immer noch oder schon wieder in der Repressionshypothese gegenber der Macht befangen, die bekanntlich reduktionistisch behauptet, das Macht nur zerstçrt und unterdrckt und nicht auch produktiv ist und als produktive Zerstçrung Neues ermçglicht. Man kann nach Nietzsche und Marx die Welt nur verndern, wenn man den Willen hat, es nicht nur mit der Macht aufzunehmen, sondern wenn man zufçrderst den Willen hat, die Macht auf sich zu nehmen, damit andere, alternative Macht- und Herrschaftsformen entstehen kçnnen: Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenstndliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit ber die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von (der Macht; VC) der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.10
9 Vgl. auch Vanessa Lemm, Nietzsches Vision einer „neuen Aristokratie“, in: DZPh 56 (2008), S. 3. 10 Karl Marx, Thesen ber Feuerbach, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1956 ff., S. 5.
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Gegen die unrealistische Utopie einer Gesellschaft der Macht- und Herrschaftsfreiheit entwickelte Nietzsche seine pragmatische Utopie der Selbstregierung, in deren Zentrum ein neues Konzept von Kritik steht, das von uns fordert: Wenn Du die Welt verndern willst, dann bernimm die Macht. Voraussetzung dafr aber ist, Macht ber sich zu haben; Macht haben beginnt damit, seines Selbst mchtig zu sein. Seit Kant besteht die Macht der Kritik in der Philosophie wesentlich darin, die Vernunft daran zu hindern, die Grenzen des durch Erfahrung Gegebenen zu bersteigen. Die Philosophie wird durch diese Begrenzung in den Kfig der „kleinen“ Vernunft, des Verstandes, eingesperrt und nimmt sich demzufolge nach Kant selbst nur ernst, wenn sie sich als Wissenschaft, am besten als Wissenschaft im strengen mathematischphysikalischen Sinne erweist. Nun soll hier nicht abermals behauptet werden, dass Wissenschaft nicht denkt, zweifelsohne kann man mit Wissenschaft auch die Welt denken, indem man sie (kausal) erklrt, aber kann man mit Kausalittsdenken die Welt als Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit verstehen, angesichts der Tatsache, dass es doch soviel andere Grnde des Weltgeschehens gibt, die jenseits von eindeutigen UrsacheWirkungs-Beziehungen liegen? Philosophie ist auch Wissenschaft. Dem htte auch Friedrich Nietzsche nicht widersprochen, aber sie ist auch mehr als Wissenschaft – nmlich Religion und Kunst – keiner hat daran – paradoxerweise nach Hegel – strker erinnert als Nietzsche. Die Philosophie nach Nietzsche geht daher nicht nur den Weg von der Utopie zur Wissenschaft, sondern auch den Weg von der Wissenschaft zur Utopie, nmlich in dem die Philosophie auch Religion und Kunst ist, hat sie einen utopischen berschuss immer in sich und verweist daher auch ber die Wissenschaft hinaus auf die mçgliche konkrete Utopie. Die Kritikform der Philosophie ist daher viel umfnglicher zu verstehen, als die der Kritik durch den wissenschaftlichen Verstand, sie ist mit den existenziellen Wissensformen der Kunst und Religion wesentlich verbunden und daher selbst praktisch-existenziell und nicht bloß theoretisch-wissenschaftlich zu begreifen. Nach Nietzsche (und Marx) besteht die Macht der Kritik der Philosophie wesentlich darin, die Missbruche kultureller, politischer, moralischer und sprachlicher Macht zu analysieren und am Maßstab der Wahrung und Ermçglichung von Autonomie neue kulturelle, politische und ethische Machtformen zu etablieren. Freilich ist an Nietzsches neuer Kritikform selbst ihr çkonomisches Defizit zu kritisieren und hier wre Nietzsche mit Marx çkonomischem
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Kritikmodell, das im Gegensatz zu Nietzsche die Eigentumsfrage stellt, zu ergnzen, das aber allzu oft reduktionistisch verfhrt, weshalb Marx çkonomisch-soziologischer Kritikansatz mit Nietzsches Machtbegriff zu erweitern ist, der auch und gerade auf die Macht des Leibes, des Geschlechts, der Gefhle, der Moral und der sthetik hinweist, die Marx all zu oft vernachlssigt. Wobei nur angemerkt sei, dass es um die radikale Kritik gesellschaftlicher Mchte erst dann wieder gut stehen wird, wenn nicht nur Friedrich Nietzsche den Karl Marx gelesen hat, sondern wenn Karl Marx endlich Friedrich Nietzsche konzeptionell zur Kenntnis nimmt. Eine einseitige zur Kenntnisnahme wre auch hier fehl am Platze. Nietzsche und Marx gemeinsam aber ist, dass sie Philosophien der Freiheit entworfen haben, in denen, freilich je unterschiedlich, der Wille zur Macht grundlegend fr die Erlangung von Autonomie ist. Nietzsches Kulturaristokratismus erweist sich in unserem Kontext weder als horizontaler oder transversaler Rassismus, auch geht es in ihm nicht um soziale oder kulturelle Apartheid, sondern um einen aristokratischen Radikalismus in dessen Zentrum ein revolutionrer Individualismus steht, dessen Maßstab der Wille zur Selbstmacht ist, der auf Selbstbejahung in dem Sinne zielt, so zu handeln, als ob dasselbe wiederkehren kçnnte. (Vgl. FW, KSA 3, 570; Za, KSA 4, 274 ff.) Dieser hypothetische Iterativ ist nicht zu trennen von Nietzsches „Formel fr die Grçße am Menschen“ – „amor fati: dass man nichts anders haben will, vorwrts nicht, rckwrts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Notwendigen –, sondern es lieben…“ (Vgl. EH, KSA 6, 297).
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Positiver Begriff der Avantgarde
Der hypothetische Iterativ ist bei Nietzsche untrennbar mit seinem aristokratischen Radikalismus verbunden und ist daher das Maß des Ethos eines neuen Adels. (Za, KSA 4, 254) Die Rede von einem neuen Adel ist aber weder soziologistisch-çkonomisch, wie es Georg Lukcs nahelegte, noch biologistisch-rassistisch im Sinne des Chefideologen der Nationalsozialisten Alfred Rosenberg gemeint, dem es bekanntlich um die „Hochzucht des uralten Bluts“ ging, sondern sie meint den Typ, das Ideal des schçpferischen Menschen, dem Nietzsche den Namen „bermensch“ gab, der bekanntlich der „Sinn der Erde“ und Keim der „hçchsten Hoffnung“ des Menschen ist (Vgl. Za, KSA 4, 14, 19). Das Prinzip Selbstbe-
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stimmung, das Prinzip der Individualitt und das Prinzip Hoffnung werden im neuen Ethos des Willens zu einem neuen Menschen, der der eigentliche Triumph des Willens zur Macht und das eigentlich Große in Nietzsches Denken ist, verknpft. Der Begriff des Adligen, Vornehmen, Starken darf demzufolge nicht, wie es immer wieder geschehen ist, irrefhrend soziologisiert und dadurch falsch politisiert werden. Die Vornehmen, das meint nicht die herrschende Oberschicht, sondern das Ethos der Selbstregierung des Einzelnen, das Nietzsche eher in den neuerdings so genannten bildungsfernen (Unter-) Schichten findet als in den brgerlichen Mittel- und Oberklassen. (Vgl. NF, KSA 12, 493) In der Welt der Bauern findet Nietzsche „mehr relative Vornehmheit des Geschmacks und Takt der Ehrfurcht“, als „bei der zeitungslesenden Halbwelt des Geistes, den Gebildeten“ (vgl. JGB, KSA 5, 218), in den Arbeitern entdeckt er die Mçglichkeit eines neuen vornehmen, soldatischen Ethos, die fr ihn keine bloßen Lohnsklaven wie Geschftsleute und Akademiker sind, die nur Leistung fr Bezahlung erbringen, sondern die das Hçchste und Notwendende tun, weil es getan werden muss, das allerdings durch Honorar oder Gehalt anerkannt werden sollte. (Vgl. NF, KSA 12, 493) Echte Demokratie zielt nach Nietzsche nicht auf die „Herde“, nicht auf die Vermassung der Individuen durch quantitative Lust- und Glckssteigerung, sondern auf eine nach dem Prinzip der Gerechtigkeit gestaltete „Panaristokratie“, die auf der Selbstbestimmung der Individuen beruht. Es geht entsprechend dem hypothetischen Iterativ nicht darum, die Individuen per Gleichheitsideal auf das Niveau der Masse zu drcken, sondern alle auf das Niveau der „Vornehmen“ zu heben; es geht um eine Gemeinschaft, in der die Selbstbestimmung eines jeden, die Bedingung der Mçglichkeit fr die Selbstbestimmung der Gemeinschaft ist. Das große Ziel einer solchen demokratisch-panaristokratischen Gesellschaft ist es, „die Einzigartigkeit oder Singularitt (oder das ,Genie) jedes Einzelnen zu erhçhen, jeden einzelnen Menschen zu veredeln, statt ihn gleich und gemeiner zu machen.“11 Dazu ist aber notwendig, dass der Einzelne befhigt wird, sein Leben selbstbestimmt zu fhren und dafr auch die existenziellen Voraussetzungen hat.
11 Vgl. Vanessa Lemm, Nietzsches Vision einer „neuen Aristokratie“, in: DZPh 56 (2008), S. 369.
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XI
Menschliche Moral
Die vornehmste Aufgabe der Philosophie: ist nach Nietzsche, es dem Einzelnen zu ermçglichen, dass er ein bejahenswertes und in diesem Sinne schçnes Leben zu fhren vermag. Das „Grçßte“, was Philosophie vermag, ist bei der Gestaltung des Kleinen, Nichtigen zu helfen: den Menschen zu helfen, ihre alltglichen Katastrophen zu bewltigen, zu ber-leben und zu lernen, ein anderes Leben zu leben als bisher, Leben zu lernen. Wenn Aristoteles meinte, der Weise „sei der, welcher sich nur mit dem Wichtigen Wunderbaren Gçttlichen beschftige“, dann ist das fr Nietzsche schon der Geburtsfehler der ersten Philosophie, der alten Metaphysik: „Gerade das Kleine Schwache Menschliche Unlogische Fehlerhafte wird bersehn und doch kann man nur durch sorgfltigstes Studium desselben weise werden.“ (NF, KSA 8, 404 f.) Sein Leben selbstbewusst fhren zu lernen bedeutet, zu begreifen, wie etwas aus einem Gegensatz entstehen kann: „Vernnftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesselose Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben fr Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthmern.“ (MA, KSA 2, 23) Mit dem Widersprchlichem am Menschen umgehen zu kçnnen, hat zur Voraussetzung das widersprchliche und all zu oft widerliche Ungeheuer, das der Mensch ist, sein Minotaurus-Sein, in Schçnheit zu sublimieren, wodurch der große Stil am Menschen entsteht. Der dionysische Ungehorsam muss ein apollinischer Ungehorsam werden, soll er eine dauerhafte und in diesem Sinne große Macht sein: Wenn Schçnheit nicht ungeheuerlich ist, wird sie nicht treiben, wenn Ungeheuerlichkeit nicht schçn ist, wird sie nicht bleiben.
XII
Exemplarisch Leben
Philosophie ist nach Nietzsche wesentlich als Askese im Leben fr das Leben. Zur Freiheit der Askese gehçren grundlegend außerordentliche Einbungen in das Sinnliche, darunter die Lust an außerordentlichen Bußbungen. Durch eine radikale Askese wird der Traum von einem anderen, selbstbestimmten Leben wirklich und sie ist es, die unsere Angst vor der Zukunft aufhebt und die uns auf die Zukunft hoffen lsst. Philosophie als Philosophie der Zukunft ist als Einbung in das auf uns Zukommende ein Vorschein der Zukunft. Der Philosoph ist daher ein „nothwendiger Mensch des Morgens und bermorgens“, der
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sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befinden musste: sein Feind war jedesmal das Ideal von Heute. Bisher haben alle diese ausserordentlichen Fçrderer des Menschen, welche man Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern eher als unangenehme Narren und gefhrliche Fragezeichen fhlten –, ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grçsse ihrer Aufgabe darin gefunden, das bçse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tugenden der Zeit das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eigenes Geheimnis war: um eine n e u e Grçsse des Menschen zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrçsserung. Jedes Mal deckten sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und Sich-fallen lassen, wie viel Lge unter den bestgeehrten Typus ihrer zeitgençssischen Moralitt versteckt, wie viel Tugend b e r l e b t sei; jedes Mal sagten sie: „wir mssen dorthin, dorthinaus, wo ihr am wenigsten zu Hause seid…“ Angesichts einer Welt der „modernen Ideen“, welche Jedermann in eine Ecke und „Spezialitt“ bannen mçchte, wrde ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben kçnnte, gezwungen sein, die Grçsse des Menschen, den Begriff „Grçße“ gerade in seine Umfnglichkeit und Vielfltigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu setzen: er wrde sogar den Werth und Rang darnach bestimmen, wie weit einer seine Verantwortlichkeit spannen kçnnte. (JGB, KSA 5, 145 f.)
Zu dieser not-wendigen Neubestimmung des Begriffs der Grçße „gehçrt das Vornehm-sein, das Fr-sich-sein-wollen, das Anders-sein-kçnnen, das Allein-stehn und auf-eigene-Faust-leben-mssen“ (JGB, KSA 5, 147). Nach Nietzsche soll der der Grçsste sein, „,der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichenste, der Mensch jenseits von Gut und Bçse, der Herr seiner Tugenden, der berreiche des Willens“ (JGB, KSA 5, 147). Dieser Einsame ist der „erlçsende Mensch der großen Liebe und Verachtung, dessen Einsamkeit vom Volk mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei – : whrend sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist“ (GM, KSA 5, 336). Dieser große Einsame und durch Einsamkeit Große ist der „Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlçsen wird als von dem, was aus ihm wachsen musste, vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus“, er macht den Willen wieder frei fr den „Glockenschlag“ „der großen Entscheidung“, er gibt der „Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung“ zurck. (GM, KSA 5, 336) Nur der lebt vornehm, der einsam im Verborgenen anders lebt als die anderen. Diesem Einsamen ist „eine vornehme und gefhrliche Nachlssigkeit“, „die Nachlssigkeit der berreichen Seele eigen, die sich nie um Freunde bemht hat, sondern nur die Gastfreundschaft kennt“: „Herz und Haus offen fr jedermann, der eintreten will, seien es nun Bettler oder
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Krppel oder Kçnige. Dies ist die echte Leutseeligkeit: wer sie hat, hat ,hundert Freunde, aber wahrscheinlich keinen Freund.“ (NF, KSA 12, 67) Ein solches Leben ist ein wirkliches Leben im Geiste der Armut wie es Meister Eckhart und Georg Lukcs gelehrt und gelebt haben. Wie aber ist Grçsse, wie ist Widerstand angesichts von Feigheit, ngstlichkeit, Misstrauen, dummen Ntzlichkeitsdenkens, Selbsterniedrigung, bettelender Schmeichelei, Unaufrichtigkeit und Lge, die die Welt des Menschen-Gewrms, die Welt der letzten Menschen beherrschen mçglich? Durch die Verhaltensrevolte, durch den Verhaltensaufstand, durch das Gegen-Verhalten einzelner. Nietzsche denkt nicht, wie MAN denkt, er betrgt sich nicht, wie MAN sich zu betragen hat, er ist kein konformer Nonkonformist. Jede Verhaltensrevolte beginnt aber im Denken; abenteuerlich Denken ist der Grund fr abenteuerliches Handeln, die Verhaltensrevolte beginnt mit der Denkrevolte. Jedes Sich-nicht-Betragen, wie es sich-gehçrt, beginnt damit, nicht so zu denken, wie es sich-gehçrt. Ein systematisches Zuwiderhandeln beginnt mit einem systematischen Zuwiderdenken. Genau darin besteht die große Methode, die methodische Grçße Nietzsches: systematisch Zuwiderdenken, in dem mit dem Leib gedacht wird und nicht bloß mit dem Hirn.
XIII
Neue Utopie
In der radikalen Verhaltensrevolte jener Einzelnen, die Nietzsche die „Vornehmen“ nennt, offenbart sich die neue Grçsse des Menschen, in ihr triumphiert der Wille zur Macht und zugleich wird der Wille zur Macht der angeblich Großen, der sogenannten Eliten, der bloß Vorherrschenden kritisiert. Der aristokratische Rebell, der ebenso als Zyniker wie auch als Kyniker auftreten kann, ist die noch anwesende oder erst werdende Utopie in einer hedonistischen Massengesellschaft, indem er sich als Heterotopie entwirft, die freilich als Skandal wahrgenommen wird. So ist es nicht verwunderlich, dass Nietzsches Philosophie gerade als „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ nach wie vor als Skandal gilt, weil sie alle bisher geltenden Denk- und Wertformen umwertet. Nietzsches Denken ist und bleibt ein skandalçses Denken, das sich deshalb gegen alle Kanonisierungs- und Akademisierungsversuche immer erfolgreich wehren wird. Das Große an Nietzsches Philosophie ist, dass sie eine Philosophie des Skandals
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und der Provokation ist und gerade dadurch wird sie wie der vornehme Mensch wertebestimmend und wertschaffend wirken. Wie der vornehme Mensch ist die mit ihm verbundene Verhaltensrevolte und Philosophie des Skandals vom Ethos selbstbewusster Selbstverherrlichung getragen, in dessen Mittelpunkt „das Gefhl der Macht, die berstrçmen will, das Glck der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichtums, der schenken und abgeben mçchte“ steht. (Vgl. JGB, KSA 5, 209) Der vornehme Mensch ist wie das Genie „notwendig ein Verschwender“, dass er „sich ausgibt, ist seine Grçße“ (Vgl. GD, KSA 6, 146). Wie der vornehme Mensch, so hilft auch seine skandalçse Philosophie „dem Unglcklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus dem Drang, den der berfluss von Macht erzeugt“ (Vgl. JGB, KSA 5, 209).
XIV
Was die Linke nicht von Nietzsche lernen kann
Damit aber Nietzsches aristokratischer Radikalismus nicht reaktionr und inhuman wird, muss Nietzsches Konzept des Willens zur Macht entschieden korrigiert werden in bezug auf seine Apologetik der Vernichtung der Schwachen und der Verewigung von Ausbeutung. Freilich ergreift auch unser Wille zur Macht die „Partei des Lebens“ (vgl. EH, KSA 6, 313), aber eben auch in einem ganz anderen Sinne als es Nietzsche in seinem Sptwerk fordert, weil es eben nicht um die Naturalisierung des Menschen im Sinne einer barbarischen Dionysierung des Lebens gehen kann, die der frhe Nietzsche selbst kritisierte, (vgl. GT, KSA 1, 31 f.) und der damit verbundenen Apologetik von Sklaverei, Ausbeutung, Rebarbarisierung und Vernichtung von Leib und Leben, (vgl. GT, KSA 1, 117, 767; FW, KSA 3, 400; JGB, KSA 5, 208; AC, KSA 6, 170, 313 f.)12 sondern vor allem um die Humanisierung unserer eigenen Natur: das ist die eigentliche Grçße des Menschen, die nicht nur darin besteht Brcke, bergang und Untergang zu sein, sondern sich selbst Zweck als bermensch zu sein. Sicher, wenn wir von Werten reden, reden wir „unter der Optik des Lebens: das Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst 12 Diesen Aspekt vernachlssigt der bereits erwhnte Artikel von Vanessa Lemm zu Nietzsches Vision einer neuen Aristokratie zu stark, wodurch das antidemokratische und antihumane Potential des Kulturaristokratismus Nietzsches irrefhrend verkleinert wird. Hier setzt Losurdo berechtigt an.
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werthet durch uns, wenn wir Werthe ansetzen“ (GD, KSA 6, 86). Wenn wir handeln, schtzen wir immer je schon ab. Daraus ergibt sich aber die Frage, welche Art von Leben bringen Nietzsches Werturteile ber das Leben zum Ausdruck? Feiern sie ein Leben in Ausbeutung bis hin zur Vernichtung imperfekten Lebens oder feiert er mit seinem „Zurck zur Natur“ ein Hinaus ber die bisherige barbarische Menschennatur, in dem der Mensch nicht nur der Erde, sondern auch dem Menschlich-Allzumenschlichen und dem Leiblichen treu bleibt? Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen ist mit Nietzsche hier nicht mçglich, weil er in seinem Werk beide Tendenzen zum Ausdruck gebracht hat. Wir mssen also selbst erfinden, was es heißen kçnnte, der Erde, dem Menschen, dem Leben und dem Leib treu zu bleiben. Nietzsche sah seine Aufgabe so: „die Entmenschlichung der Natur und dann die Vernatrlichung des Menschen, nachdem er den reinen Begriff der ,Natur gewonnen hat.“ (NF, KSA 9, 525) Unsere Aufgabe aber heute ist und bleibt: Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen. Das wre der eigentliche Triumph des Willens zur Macht und die wahrhafte Auflçsung des Widerstreits zwischen den Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflçsung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenstndlichung und Selbstbesttigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.13
Ein solcher vollendeter Naturalismus wre als vollendeter Humanismus das „aufgelçste Rtsel der Geschichte“ und das Ende der Geschichte, mit der die Geschichte als menschliche erst beginnt.14 Aber selbst wenn man die „Rtsel der Geschichte“ glaubt lçsen zu mssen, sollte man sich vor messianistischem berschwang hten und sich mit Nietzsche auf die „D i e g u t e n D r e i“ besinnen: „Ruhe, Grçsse, Sonnenlicht“: diese drei umfassen alles, was ein Denker wnscht und auch von sich fordert: seine Hoffnungen und seine Pflichten, seine Ansprche im Intellectuellen und Moralischen, sogar in der tglichen Lebensweise und selbst im Landschaftlichen seines Wohnsitzes. Ihnen entsprechen einmal erhebende Gedanken, sodann beruhigende, drittens aufhellende, – viertens aber Gedanken, welche an allen drei Eigenschaften Anteil haben, in denen alles Irdische 13 Karl Marx, konomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Ergnzungsband I, Berlin 1956 ff., S. 536. 14 Karl Marx, konomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Ergnzungsband I, Berlin 1956 ff., S. 536.
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zur Verklrung kommt: es ist das Reich, wo die grosse Dreifaltigkeit der Freude herrscht. (MA, KSA 2, 697 f.)
Und vielleicht ist das die grçßte Macht, die wir im Leben erfahren kçnnen: Freude an ihm zu haben.
I.
Große Aufklrung – Aufklrung des Großen
„[…] so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Grçße“ Grçße in philosophischer, sthetischer und kulturkritischer Sicht bei Friedrich Nietzsche
Renate Reschke
Prolog ber Grçße denkt Friedrich Nietzsche in unterschiedlichsten Zusammenhngen nach. Zuerst im Kontext antiker Philosophie und Kultur, um die Außerordentlichkeit und Unverwechselbarkeit der Griechen herauszustellen und zu begrnden. Anthropologische, philosophische, religiçse, erkenntniskritische, historische, kulturgeschichtliche, sthetische, naturwissenschaftliche, psychologische, physiologische Momente treten zunehmend in den Gesichtswinkel dessen, was Grçße bedeutet. Immer wieder fragt Nietzsche nach dem Maßstab fr Grçße, nach denen, die ihn bestimmen, woher das Recht auf diese Bestimmbarkeit stammt, ob es menschliches Recht ist, ob der Mensch zum Maß aller Grçße prdestiniert ist. So macht er sich gedanklich auf den Weg, nach denen Ausschau zu halten, die in der Lage sind, dem Begriff nicht nur seine Inhalte zu formulieren, sondern diese auch gesetzgebend zu kommunizieren als Bestandteil eines geistigen Instrumentariums zur Sicherung von sozialen Hierarchien und Herrschaftsansprchen politischer, kultureller, wissenschaftlicher, knstlerischer Eliten, die den Begriff der Grçße nicht nur zum Vehikel der eigenen Machtsicherung einsetzen, sondern ebenso zur grundstzlichen Kritik bestehender Zustnde. Ganz fokussiert auf die seit der Antike favorisierte Rolle von Philosophie und Philosophen spricht Nietzsche diesen die Kompetenz zu, Sachwalter von großen Gedanken ber die Grçße zu sein und durch ihr Leben unter Beweis zu stellen. Im folgenden geht es daher (1) um das Selbstverstndnis des Philosophen in diesem Kontext, (2) um sthetisch-knstlerische Momente, (3) um kulturelle und kulturkritische Implikationen von Grçße, um (4) skizzenhaft auf den Anspruch Nietzsches auf den Begriff von Grçße zu verweisen.
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Renate Reschke
I Seit dem Sommer 1888 experimentierte Nietzsche mit Titelentwrfen fr eine Sammlung von Gedichten, fr die er immer wieder gedanken- und sprachspielerische Notizen aufgezeichnet hat. In diesem Umfeld, an dessen Ende die Dionysos-Dithyramben stehen, taucht in virtuoser Engfhrung mit den Liedern Zarathustras, der Begriff der Grçße aus den Tiefen der Zarathustra-Texte zurck und auf, um dem Gedicht-Zyklus Namen, Rang und Richtung zu geben: „Der Weg zur Grçsse. Lieder Zarathustras“, „Die Lieder Zarathustras. Erster Theil: Der Weg der Grçsse. Von Friedrich Nietzsche“ und „Die Lieder Zarathustra’s. Erster Theil: Der Weg zur Grçsse“ (NF, KSA 13, 576 f.). Im dritten Teil des Zarathustra (Kapitel Der Wanderer) sind ein Teil der Konnotationen zu finden, die fr Nietzsche den Begriff der Grçße bestimmen. Zarathustra, auf dem Weg ber die Berge, sieht sich als Wanderer und Bergsteiger, der vor der Bezwingung seines letzten, hçchsten Gipfels steht, angekommen an einem Punkt, von dem aus nur noch der Weg aufwrts, ganz nach oben mçglich ist. Dies schon wrde den Begriff der Grçße rechtfertigen. Doch Nietzsche will mehr: Er setzt Zarathustra der furchtbarsten, grçßten, tiefsten Erkenntnis aus: „Jetzo erst gehst du deinen Weg der Grçsse! Gipfel und Abgrund – das ist jetzt in Eins beschlossen!“ (Za, KSA 4, 194) Der In-Eins-Fall der Gegenstze offenbart sich nur dem, der den letzten Gipfel erreicht. Der Kontext legt zwar nahe, dass die Idee der ewigen Wiederkunft fr den Gipfelstrmer zum Greifen nahe ist1, doch das Panorama der Reflexion ist weiter gespannt. Es ist Zarathustra selbst, der sich bewusst wird, dass, wer „aller Dinge Grund schaun“, die Hintergrnde vergewissert, sich bersteigen muss: „Ja, Hinab auf mich selber sehn und noch auf meine Sterne: das erst hiesse mir mein Gipfel, das blieb mir noch zurck als mein letzter Gipfel!“ (Za, KSA 4, 194) Dieser letzte Gipfel ist zugleich der Weg in die Tiefe, in das eigene Selbst: „man erlebt endlich nur noch sich selber“ (Za, KSA 4, 193). „Aus dem Tiefsten muss das Hçchste zu seiner Hçhe kommen“ (Za, KSA 4, 195): der grçßte Schmerz, tiefste Einsamkeit, grçßte Ungeheuer. Das ist der Weg zur Grçße. Viel Antikes scheint durch. Heraklit vor allem. Dessen Gedanken spiegeln sich in den Augen Nietzsches. Am Bruder im Geiste begeistert ihn nicht nur die Erkenntnis, alles existiere durch und in seinen Gegenstzen; 1
Wolfram Groddeck, Friedrich Nietzsche. „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2: Die „Dionysos-Dithyramben“. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, Berlin/New York 1991, S. 327.
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es ist Heraklits Wissen um den spielerischen Charakter ewigen Bauens und Zerstçrens, den ein Kind/ Gott zu verantworten hat2, den sich Nietzsche nicht nur zu eigen macht, sondern ihn mit einer Vorstellung von Grçße verbindet, die ihn veranlasst, den ,Weg der Grçße sprachlich zu verlassen und die Formulierung ,Weg zur Grçße einzusetzen. Es ist tatschlich nicht der Weg der Grçße, den er meint und der seinem philosophischen Impetus entspricht, sondern der Weg zur Grçße, weil so das Moment der internen Dynamik in das Verstndnis von Grçße involviert ist. Man ist nicht, man wird, der man ist. Man ist nicht groß, man wird es: Grçße bedarf einer Reihe von Voraussetzungen. Erst im Prozess ihres Werdens, der bewussten Formierung erhlt sie die Auszeichnung einer qualitativen Werteschtzung. Heraklits epochemachender Akt intellektueller Selbsterforschung und seine bestrzende Erkenntnis, man kçnne die Grenzen der Seele nicht erreichen, so sehr man in die Tiefe gehe, stehen in unmittelbarem Zusammenhang zu Nietzsches Verstndnis von menschlicher und philosophischer Grçße. Der ,gçttliche Blitzschlag Heraklits rhrt mit der „hçchste[n] Kraft der intuitiven Vorstellung“ (PHG, KSA 1, 823) an das Hçchste und Tiefste zugleich, was dem Menschen zu erkennen mçglich ist: das Weltengesetz, nach dem immer „andere Welten ins Leben“ (PHG, KSA 1, 831) gerufen werden. Darin das freie Spiel der Notwendigkeit zu sehen und die Mçglichkeiten des Menschen abzuleiten, damit hat Heraklit der Grçße von Philosophie Gestalt und Richtung gegeben. Sich nicht der Meinung und dem Beifall der Vielen zu ergeben, zeigt nicht nur Stolz und „kçnigliche Selbstachtung“ (PHG, KSA 1, 834): „Solche Menschen leben in ihrem eignen Sonnensystem.“ (PHG, KSA 1, 834) Der Apotheose Heraklits ist aber mehr eingeschrieben: Man muss sich aller Hçhen und Tiefen des eigenen Selbst vergewissert und sich ihnen ausgesetzt haben, um auf dem Wege zur Grçße zu sein. Man muss im Grçßten und Kleinsten das Weltengesetz erkannt haben: „Unter Menschen war Heraklit, als Mensch, unglaublich; und wenn er wohl gesehen wurde, wie er auf das Spiel lrmender Kinder Acht gab, so hat er jedenfalls dabei bedacht, was nie ein Mensch, bei solcher Gelegenheit bedacht hat: das Spiel des großen Weltenkindes Zeus.“ (PHG, KSA 1, 834) Er habe er den delphischen Satz
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Nietzsche hat in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen eine Interpretation des Frg. B 52 gegeben, nachdem es ein Knstler-Gott-Kind sei, dem das Spiel (mit) der Welt in die Hnde gegeben und dieses mithin genuin sthetisch zu deuten sei (Vgl. PHG, KSA 1, 830 ff., 835).
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,Erkenne dich selbst gelebt. Apollon lsst grßen und wirft seine Schatten auf Zarathustra und den letzten Jnger des Dionysos. Der weiß um die Dramatik solchen Selbstvollzuges, macht sie zum Thema der Dionysos-Dithyramben. Von der Geburt der Tragçdie an ber den Versuch einer Selbstkritik und den Zarathustra zieht sich der Gedanke von Grçße. An dem Punkt, von dem aus das Hçchste und Tiefste ihm gleich erscheinen musste, konnte er von sich behaupten, er habe mehr als jeder andere, einen „Anspruch auf das Wort Grçsse“ (EH, KSA 6, 296): Wer mich in den siebzig Tagen dieses Herbstes [1888 – R. R.] gesehn hat, wo ich, ohne Unterbrechung, lauter Sachen erstes Ranges gemacht habe die kein Mensch mir nachmacht – oder vormacht, mit einer Verantwortlichkeit fr alle Jahrtausende nach mir, wird keinen Zug von Spannung an mir wahrgenommen haben, um so mehr eine berstrçmende Frische und Heiterkeit […] Ich kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel: dies ist, als Anzeichen der Grçsse, eine wesentliche Voraussetzung. (EH, KSA 6, 296 f.)
Die ausgehaltene Spannung der Gegenstze, die tnzerische Leichtigkeit gegen den furchtbarsten Gedanken, versammelt sich in einem Grçße-Bild, dem die ephesische Signatur signifikant ist. In Zwischen Raubvçgeln gibt Nietzsche eine dazu perspektivisch verschobene Sicht. Heißt es in Ecce homo, er habe nie unter der Einsamkeit, eher unter der ,Vielsamkeit gelitten, es sei ihm ein Leichtes gewesen, das Schwerste von sich zu verlangen, er habe frh schon gewusst, dass ihn nie jemand wirklich verstehen wrde, gibt er jetzt den Blick auf die tiefen Wunden frei, die als Preis fr diese werdende Grçße zu zahlen sind. Das Wagnis der Einsamkeit fordert das ußerste, grausamer Hohn fllt aus den Vogelschnbeln, man wird Jger und Gejagter in einem, nur noch auf sich zurckgeworfen, sich selbst Spiegel und Spiegelbild zugleich: „Du suchtest die schwerste Last:/ da fandest du dich – ,/ du wirfst dich nicht ab von dir…“ (DD, KSA 6, 391). Und: „Jetzt – / einsam mit dir,/ zwiesam im eignen Wissen,/ zwischen hundert Spiegeln/ vor dir selber falsch,/ […] in eignen Stricken gewrgt,/ Selbstkenner!/ Selbsthenker!“ (DD, KSA 6, 390). Das ist keine Beschreibung Zarathustras, das zielt auf den Zustand des Schreibers, ist fast wortgleich dem Entwurf einer Briefpassage an den Freund Franz Overbeck vom 1. 1. 1889: […] seit der Zeit, wo ich meinen Z auf dem Gewissen habe, bin ich wie ein Thier, das auf eine unbeschreibliche Weise fortwhrend verwundet wird. Diese Wunde besteht darin, keine Antwort, keinen Hauch von Antwort gehçrt zu haben […] Ich wehre mich gegen eine Art Schlinge, die mich erwrgen will – das ist die Vereinsamung – ich verstehe es andererseits aus aller
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Tiefe, warum mir Niemand ein Wort sagen kann, das mich noch erreicht… Die Moral ist: man kann daran zu Grunde gehen etwas Unsterbliches gemacht zu haben: man bßt es hinterdrein in jedem Augenblick ab […] Ich wehre mich, wie Du denken kannst, mit viel Erfindsamkeit gegen diesen Excess des Gefhls […] Ich bin außerdem Artist genug, um einen Zustand festhalten zu kçnnen, bis er Form, bis er Gestalt wird. (An Franz Overbeck, KGB III/5, Bf. 1067)
Den Anspruch auf Grçße grndet Nietzsche in einem Doppelten: Zum einen darauf, sich dem Furchtbarsten, dem eigenen Selbst ausgesetzt und es akzeptiert zu haben, zum anderen darauf, diesem Selbst-Erkennen leidenschaftlich-nchtern eine wort-adquate Gestalt, eine sthetische Form gegeben zu haben. Weder der „Einsiedler ohne Gott“, noch der „Zweisiedler mit dem Teufel“ oder der „scharlachne Prinz jedes bermuths“, vielmehr ein „Fragezeichen“ geworden zu sein, ein „Rthsel“ (DD, KSA 6, 292): darin besteht der Weg zur Grçße, der seine Bestimmungsmomente aus antiken literarischen und biographischen Vorlagen reklamiert. Heraklit und Nietzsche, Nietzsche und Zarathustra changieren, verwischen ihre getrennten Konturen: der Philosoph macht aus sich und ihnen Projektionsfiguren fr ein Verstndnis von Grçße, das, mit griechischen Attributen, moderner Reflexion Ausdruck verleiht, sich genuin modern buchstabiert. Intellektuelle Grçße versteht Nietzsche, so sie berhaupt festzulegen ist, darin, sich dem Leben auszuliefern und mit allen Anmutungen anzunehmen, sich seinem Gesetz zu verschreiben gegen alle fremden und eigenen Widerstnde: so weit ist ihr das heraklitische Gewand umzuhngen. Dass nicht-antike Subjektivitt ihr intellektuelles Vermçgen auf die Reflexion nach innen richtet und sich an ihr sthetischgedanklich abarbeitet, dadurch verliert das antike Kleid seine Tragbarkeit, wandelt sich zum Kostm, das diesen Charakter nicht verbergen kann und will. Aus dem „Orakel“ (PHG, KSA 1, 835) Heraklits, was weder aussagt, noch verbirgt, sondern „deutet“ (PHG, KSA 1, 835), wird die moderne Vater-Sohn-Figur Nietzsche-Zarathustra, der an der hçchst-tiefsten SelbstErkenntnis zugrunde zu gehen droht und diesem Untergang eine sthetische Form zu geben in der Lage ist. Das ,Sentimentalische, um Friedrich Schiller zu bemhen, wird zum Bestimmungsmoment moderner intellektueller Grçße. Nietzsche sieht sich als ihr Meister und seine DionysosDithyramben als voraussetzungslose Solire: „Dergleichen ist nie gedichtet, nie gefhlt, nie gelitten worden: so leidet ein Gott, ein Dionysos.“ (EH, KSA 6, 348) Der moderne Philosoph als deren Erfinder und als moderner Dionysos. Die Steigerung, die er in einem Briefentwurf an Catulle Mend s vom 1. 1. 1889 ausprobiert, ist symptomatisch: „Nietzsche
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Caesar Dionysos“.3 ,Caesar wird wieder gestrichen, um der direkten Identifikation mit dem Gott Raum zu geben. Grçße bestimmt sich auf dem Weg und in der Rangfolge zum Gçttlichen.
II Jacob Burckhardt hatte im Wintersemester 1870/71 in Basel seine Vorlesungen zu den Weltgeschichtlichen Betrachtungen gehalten und den berlegungen zur historischen Grçße4 breiten Raum gegeben. Am meisten drften Nietzsche Burckhardts Gedanken angesprochen haben, historische Grçße sei eine superlativische Qualitt, kme in ihrem innersten Wesen einem Mysterium5 gleich und ließe sich immer nur in Annherung erfassen. Der große Kulturhistoriker hat Distanz-Denken angemahnt; es war ihm selbstverstndlich, nicht Macht und Grçße zu verwechseln oder gleichzusetzen: Nicht eine Erklrung, sondern nur eine weitere Umschreibung von Grçße ergibt sich […]: Einzigkeit, Unersetzlichkeit. Der große Mann ist ein solcher, ohne welchen die Welt uns unvollstndig schiene, weil bestimmte große Leistungen nur durch ihn innerhalb seiner Zeit und Umgebung mçglich waren und sonst undenkbar sind; er ist wesentlich verflochten in den großen Hauptstrom der Ursachen und Wirkungen.6
Burckhardt faltet die ganze Palette der großen Mnner auf, von denen des Geistes bis zu den Politikern, großen Erfindern, großen Verbrechern; aber es ist kein Zufall, an erster Stelle und am ausfhrlichsten werden Knstler, Dichter und Philosophen vorgestellt: „Sie haben fr sich das hier allgemeine Zugestndnis, daß Kunst, Poesie und Philosophie und alle großen Dinge des Geistes unleugbar von ihren großen Reprsentanten leben und 3
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Mp XVIII 1 b (Wolfram Groddeck, Friedrich Nietzsche. „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 1, Berlin/New York 1991,1, Tafel 92). Giorgio Colli und Mazzino Montinari verzichten auf den gestrichenen Einschub des „Caesar“ (KGB III,7/3.1, S. 555). Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Geschichtliche Fragmente, Leipzig 1985, S. 198 ff. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Geschichtliche Fragmente, Leipzig 1985, S. 199. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Geschichtliche Fragmente, Leipzig 1985, S. 200. In den großen Individuen konzentriert sich die Weltbewegung (Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Geschichtliche Fragmente, Leipzig 1985, S. 198).
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die allgemeine zeitweilige Erhçhung des Niveaus nur ihnen verdanken“: Sie geben ihrer Epoche den inneren Gehalt, bringen ihn ideal zur Anschauung, „weil das Weltganze mit [ihrer – R. R.] Individualitt eine Verbindung eingeht, welche nur diesmal so existierte und dennoch ihre Allgltigkeit hat.“7 Ausnahme-Existenz, Exorbitanz des Willens, Herrschaftsbewusstsein, Machtstreben: Merkmale von Grçße, die Burckhardt definitorisch und kritisch zugleich hervorgehoben hat. Sie erfahren aus der Perspektive Nietzsches seit der Zweiten Unzeitgemßen Betrachtung kontinuierliche Aufmerksamkeit. Ihm kommt es darauf an, die Frage der Rangunterschiedenheit, der Distanz direkt in den Kontext von gesetzgebender Macht und Grçße zu stellen. Wie Burckhardt geht es ihm um den Horizont von Grçße, auch ihn interessieren Philosophen, Knstler, Heerfhrer, Politiker, Weltherrscher und Weltverbrecher, sieht er Kriterien in der Dialektik von Individualitt und Gemeinschaft/Allgemeinem, nicht in moralischen Wertekonstellationen. Wie Burckhardt stellt auch er Geistesarbeiter in den obersten Rang. Anders jedoch als der Baseler Großmeister der Weltgeschichte setzt er den Maßstab ausschließlicher in die Individualitt des Einzelnen, nimmt er als konstitutiv fr seine Vorstellungen von Grçße, was Burckhardt nur wie nebenbei genannt hat: „Einwirkungen der Weltpotenzen aufeinander“8 : Das Stichwort Potenz assoziiert das natur- und willenbezogene, physikalisch aufgeladene Moment von Grçße. Erst bei Nietzsche aber erhlt es den Grundton von Kampf und Wille zur Machtsteigerung, geben sich diese Potenzen als die „Machtquanten“ (NF, KSA 13, 273) zu erkennen, die um Neuregelungen von Rangordnungen ringen. Das stand allerdings im Winter 1870 noch jenseits nietzschescher Denkprojekte. Nietzsche hat sehr genau verstanden, es gehçre zur Grçße, „Auffinder von Lebensgesetzen ersten Rangs“9 zu sein. Er wird das Auffinden radikalisieren, ins Gesetzgeberische wenden. In Korrespondenz zu Burckhardts Satz: Mit den großen Philosophen erst beginnt das Gebiet der eigentlichen Grçße […] Sie bringen die Lçsung des großen Lebensrtsels, jeder auf seine Weise, der Menschheit nher; ihr Gegenstand ist das Weltganze, von allen seinen Seiten, den Menschen nota bene mit inbegriffen, sie allein bersehen und 7 8 9
Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Geschichtliche Fragmente, Leipzig 1985, S. 202 f. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Geschichtliche Fragmente, Leipzig 1985, S. 198. Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Geschichtliche Fragmente, Leipzig 1985, S. 204.
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beherrschen das Verhltnis des Einzelnen zu diesem Ganzen und vermçgen daher den einzelnen Wissenschaften die Richtungen und Perspektiven anzugeben10,
ist das Spektrum angezeigt, in dem sich sein Nachdenken ber Philosophie und Philosophen bewegen und an denen er Kriterien von Grçße formuliert, die das Fundament bilden bis zu Ecce homo und den Dionysos-Dithyramben. An den vorsokratischen Philosophen geht Nietzsche auf, was Philosophie ist, sein muss, um diesen Namen zu verdienen. In Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen von 1873 formiert sich das Bild der Grçße im Kontext einer Philosophie-Apotheose, die ohnegleichen ist. Sie lesen sich ganz in der Spur von Burckhardts Vortrag: das philosophische Denken sei stets auf der Fhrte der wissenswrdigsten Dinge, der großen und wichtigen Erkenntnisse […] so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Grçße, ein Namengeben ist mit ihr verbunden. ,Das ist groß sagt sie und damit erhebt sie den Menschen ber das blinde ungebndigte Begehren seines Erkenntnißtriebes. Durch den Begriff der Grçße bndigt sie diesen Trieb: und am meisten dadurch, daß sie die grçßte Erkenntniß, vom Wesen und Kern der Dinge, als erreichbar und als erreicht betrachtet […] er ahnt die letzte Lçsung der Dinge […] Der Philosoph sucht den Gesammtklang der Welt in sich nachtçnen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen. (PHG, KSA 1, 816 f.)
Er weiß die Verzauberung, die von diesem Klang ausgeht, festzuhalten durch Intuition und Dialektik und der Dramatik einen Namen zu geben, quasi gesetzgebend zu wirken. Nietzsche lsst die großen Denker aus Milet und Ephesus, aus Elea und Athen Revue passieren, um an ihnen zu demonstrieren, was es heißt, Philosoph zu sein. In der Geburt der Tragçdie kommt Sokrates hinzu: der gescholtene Denker wird fr ihn der gesetzgebende Philosoph par excellence. An ihm demonstriert er, unter der Optik von Grçße, die gesetzgebende Dimension der Philosophie bis zu dem Punkt, an dem sie sich in die Einseitigkeit ihrer selbst bersteigt. Um den Preis des Verlustes, gesetzgebendes Moment des lebendigen Weltbezuges zu sein, fr den problematischen Preis der Gewinnung eines weltbegrifflichen Gebudes theoretischer Reflexion und Kultur. Aber auch, um durch das Persçnliche einzigartig, unwiderlegbar zu werden, durch das Persçnliche zu legitimieren, worum es der Philosophie geht: gesetzgebend zu 10 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Geschichtliche Fragmente, Leipzig 1985, S. 205.
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wirken, den großen Menschen (hier: den theoretischen Kulturmenschen) hervorzubringen als mçgliches Ideal und als reale Mçglichkeit. Burckhardts Vorgaben schlagen zu Buche, wenngleich die Differenz beider Positionen schon mitzulesen ist. An Heraklit wird sie augenscheinlich: Grçße liegt in der Fhigkeit, sich gegen das Urteil der Gemeinschaft, des Allgemeinen durchsetzen zu kçnnen und zu mssen. Der Mann aus Ephesus hat nicht nur die Opferkçnigswrde ausgeschlagen und seine Gedanken im Artemis-Tempel vor den Zugriffen der Unvernnftigen in Sicherheit gebracht: er hat vor allem ,Ich gesagt, gegen die çffentliche Meinung, gegen opportunistische Entscheidungen der Volksversammlung zum vermeintlichen Wohl der Polis-Gemeinschaft. Der Gegenimpuls zum Allgemeinen ist das Salz der Grçße, zumal der philosophischen. Nietzsche war es ernst damit. Bereits im Brief an Carl von Gersdorff, der von der Burckhardt-Vorlesung berichtet, hieß es: Es ist mitunter recht schwer, aber wir mssen Philosophen genug sein, um in dem allgemeinen Rausch besonnen zu bleiben – damit nicht der Dieb komme und uns stehle oder verringere, was fr mich mit den grçßten militrischen Thaten, ja selbst mit allen nationalen Erhebungen nicht in Vergleichung kommen darf. Fr die kommende Culturperiode sind Kmpfer von Nçthen: fr diese mssen wir uns erhalten. (An Carl von Gersdorff, KGB II/1, Bf. 107 – Gemeint ist der geistige Kampf, der mit den Mitteln des Philosophen.)
Gesetzgebend zu wirken meint in Nietzsches Lesart, im Geiste weltordnend zu wirken. Dem Chaos die Ordnung geben, dem Strom des Lebens eine Richtung absehen, das eigene Leben unter das ihm inhrente Werdensgesetz stellen, es anerkennen zu lernen: Darin besteht die Grçße der Philosophen. Thales, der die Welt unter die Ordnung des Wassers stellt, Pythagoras, dem die Zahl das Weltprinzip ist, Anaxagoras Nous, der den Kosmos ordnet, ein Weltkonzept von genialer Einfachheit und Grçße in Nietzsches Augen: „Jene Conception hat ihre Grçße und ihren Stolz darin, daß sie aus dem bewegten Kreis den ganzen Kosmos des Werdens ableitet […] so ist alle Ordnung Gesetzmßigkeit und Schçnheit der Welt die natrliche Folge jenes ersten Anstoßes.“ (PHG, KSA 1, 866) Immanuel Kant zustimmend zitierend, verweist Nietzsche auf die intellektuelle Grçße: „,Mich dnkt, man kçnnte hier, in gewissem Verstande, ohne Vermessenheit sagen: gebt mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen!“ (PHG, KSA 1, 867) Der Philosoph als Weltenschçpfer und ihr Gesetzgeber zugleich. Auf den historisch richtigen Moment des Anfanges kommt es dabei an. Die Griechen, so Nietzsche, haben um die Bedeutung dieses Zeitpunktes gewusst. Daher die Grçße ihrer Philosophie. Sie haben es verstanden, „zur
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rechten Zeit anzufangen, und diese Lehre, wann man zu philosophieren anfangen msse, geben sie so deutlich, wie kein anderes Volk“ (PHG, KSA 1, 805). In einer Phase des Glckes, „mitten heraus aus der feurigen Heiterkeit des tapferen und siegreichen Mannesalters“ (PHG, KSA 1, 805) liege die Geburtsstunde ihrer Philosophie. Das sollte der Moderne zu denken geben, die ihre Philosophien aus dem Geiste der Trbsal fließen lasse. Die Leidenschaft der richtigen Zeit war bei ihnen so groß, dass sie, als andere Seite der Medaille, vergaßen, „zur rechten Zeit auf[zu]hçren“ (PHG, KSA 1, 805). Dies aber wçge wenig angesichts dessen, was ihre Philosophie vermocht hat. Vielmehr gehe es darum, den gesetzgeberischen Geist daran zu messen, ob und wie es ihm gelingt, den zerstçrerischen, weil unersttlichen, durch keine Kontrollinstanz regulierten Wissenstrieb zu bndigen. „Gesetzgebung der Grçße“ ist in den siebziger Jahren fr Nietzsche synonym mit der „Bndigung des Wissenstriebes“ (NF, KSA 7, 544). Weil die Griechen „als Menschen der Kultur mit den Zielen der Kultur philosophiert“ (PHG, KSA 1, 807) haben, ist ihnen, so Nietzsche, eine Erfindung gelungen, deren Kulturwert unvergleichlich ist: „Sie erfanden nmlich die typischen Philosophenkçpfe, und die ganze Nachwelt hat nichts Wesentliches mehr hinzu erfunden.“ (PHG, KSA 1, 807) Der Namenskatalog, ein Who is who antiken Denkens, umfasst die ganze „so wunderbar idealisirte Philosophengesellschaft“, die wie „ganz aus einem Stein gehauen“ (PHG, KSA 1, 807) erscheint und sich auszeichnet durch eine zwischen ihren Charakteren und Denkweisen herrschende „strenge Nothwendigkeit“ (PHG, KSA 1, 807), die sich keiner Konvention zu unterwerfen hatten, weil es noch keinen Gelehrtenstand gab und jeder Philosoph nur fr die Erkenntnis lebte: „Sie alle besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Spteren bertreffen, ihre eigene Form zu finden und diese bis ins Feinste und Grçßte durch Metamorphose fortzubilden.“ (PHG, KSA 1, 807) Es gehçre zu den vornehmsten Merkmalen griechischer Kultur, dass die Philosophen in einer Art „Genialen-Republik“ (PHG, KSA 1, 808) leben, in der sie ihrer grundlegenden Aufgabe nachkommen konnten: der Welt ihre Legitimation zu geben, Ordnungskriterien, nach denen zu leben war, Grenzen zu ziehen zwischen Gçttern und Menschen, um Schaden abzuwenden, kurz: das von ihnen Erwartete zu tun. Dies ist ihre entscheidende Grçße: dass in ihnen sich das Ganze einer Kultur konzentriert. So identifiziert Nietzsche sie als „Hauptgestirn im Sonnensysteme der Kultur“ der Griechen (PHG, KSA 1, 809) und gibt damit den entscheidenden Fingerzeig fr ihre Verwandtschaft mit den großen Knstlern der Zeit, den Tragçdiendichtern vor allem. Als sie im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. auftauchen, in einer Zeit
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kultureller ppigkeit, großer Kriege, großer Entdeckerlust und dem „Reichthum und [der] Sinnlichkeit der griechischen Kolonien“ (PHG, KSA 1, 808), geben sie mit ihren gesetzgebenden Gesprchen und Gesten vor, wie in dieser Welt zu leben ist. Weil sie das Leben „in einer ppigen Vollendung vor sich hatten“ (PHG, KSA 1, 809), ihnen der Dualismus von Freiheit und Leben kein Thema war, konnten sie von dieser Vollendung aus ihren Anspruch auf intellektuelle Herrschaft formulieren und das Bild des Lebens als Ganzes deuten. Dazu gehçren Abgrund, Tiefe, Grausamkeit des Daseins. Philosophie ist eine Strategie, damit umzugehen und nicht daran zugrunde zugehen. An Empedokles zeige sich, dass seinem Urteil ber den Wert des Daseins der Charakter des Gesetzmßigen zukomme (SE, KSA 1, 361). An sich habe kein Ereignis Grçße (WB, KSA 1, 431), der Mensch, der es kommen sieht erst verleiht ihm Grçße, indem er ausspreche: das Ereignis sei groß. Dies tun Philosophen. Ihr Wort ist Gesetz. Doch erst im Kontext der Zeitkonstellationen wird es Realitt. – Was Nietzsche nicht explizit betont: viele waren unmittelbar Gesetzgeber, bezogen daraus Wirkmchtigkeit und Grçße. Als Koloniengrnder, Politikberater, Diplomaten oder Militrs, als Rhetoren und Staatslehrer hatten sie maßgeblich Einfluss auf die allgemeinen Belange der Poleis; diese Erfahrungen schlugen sich in ihren Philosophien nieder. Wenn auch Platon von Nietzsche als der Beginn eines ganz anderen Philosophentums gesehen wird, in einem setzt er die Linie der frhen Philosophen fort: im gesetzgeberischen Anspruch, mit dem alle Philosophie beginnt. Ihn fhrt er zum uneingeschrnkten Hçhepunkt und Abschluss, in dem er ihn mit der Utopie eines Philosophenkçnigtums krçnt. Der Philosoph als der Hçchste in der Hierarchie der kulturell-politischen Ordnung, gegrndet auf den Primat der Idee und den realen Erfahrungen oligarchischer oder tyrannischer Selbstherrlichkeiten. Auch Platon bezeugt seine philosophische Grçße mit seiner Persçnlichkeit. Auf ihn, den großen „philosophischen Mischcharakter[]“ (PHG, KSA 1, 810), trifft zu, was in Menschliches, Allzumenschliches zu lesen ist: „Grçsse heisst: Richtung geben. – Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflsse aufnimmt und fortfhrt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grçssen des Geistes.“ (KSA, MA-1, 2, 324) Die Griechen sind dadurch ausgezeichnet, dass sie sich ohne Skrupel fremde Gedanken, Ideen, Formen, Gçtter zu den ihrigen, zu ganz unverwechselbar griechischen gemacht haben: „Die Formen aus der Fremde entlehnen, nicht schaffen, aber zum schçnsten Schein umbilden – das ist griechisch: nachahmen, nicht zum Gebrauch, sondern zu knstlerischer Tuschung.“ (KSA, MA-2, VM, 2, 474) Antike Philosophie ist daher nicht ohne sthetische dynamis: „Daß
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die Welt der Vorstellungen realer ist als die Wirklichkeit, ist ein Glaube, den Plato theoretisch aufgestellt hat, als Knstlernatur.“ (NF, KSA 7, 110) Die Philosophen zhlen zu den grçßten, die dem sthetischen Kern der Welt nahekommen (Beispiel Heraklit). So hat Grçße stets fr ihn eine sthetische, eine knstlerische Komponente und Dimension. Zwischen sthetik und Philosophie gibt es keinen notwendigen Gegensatz.
III Geht man von der frh formulierten und grundlegend bleibenden philosophischen Prmisse Nietzsches aus, nur als sthetisches Phnomen seien die Welt und das Dasein zu rechtfertigen (GT, KSA 1, 47), sieht sie vor dem Hintergrund seiner Bestimmung griechischer Mythologie und Tragçdie, sie legen vor dem furchtbaren menschlichen Dasein den Schleier des Ertrglichen durch dessen Anerkennung, aus der Erkenntnis des Furchtbaren selbst, verwundert es nicht, dass den Knsten und Knstlern, wie der Philosophie und den Philosophen, im Kontext von Grçße ein vergleichbar hoher Stellenwert zukommt. Ihre gemeinsame Schnittmenge sieht Nietzsche in der Rechtfertigung des Daseins; ihre Grçße misst sich daran, inwiefern sie in der Lage sind, ihr formgebenden Ausdruck zu verleihen. Auch den Knsten steht es als Aufgabe zu, dem Chaos zu begegnen, gewaltsam zu sein und unerbittlich: Die Grçße eines Knstlers bemißt sich nicht nach den ,schçnen Gefhlen, die er erregt […] Sondern nach dem Grade, in dem er sich dem großen Stile nhert, in dem er fhig ist des großen Stils. Dieser Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmht zu gefallen; daß er es vergißt zu berreden; daß er will … ber das Chaos Herr werden daß man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden; Nothwendigkeit werden in Form: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik werden; Gesetz werden. (NF, KSA 13, 247)
Kunst als „Wille zur Macht“, der Knstler als Form-Gesetzgeber, mit einem Herrschaftspotential, das allen Schaffenden eigen ist. So im Frhjahr 1888. Wenig spter gilt die Bestimmung auch fr die Grçße eines Musikers; seine Grçße misst sich „nach der Sicherheit, mit der das Chaos seinem knstl Befehl gehorcht und Form wird“ (NF, KSA 13, 502). Die militrische Wortwahl bringt auf den Punkt, dass es auch fr die Knste und Knstler um Herrschaft, Gesetzgebung, hierarchische Ordnungsprinzipien, Rangfolgenbestimmung geht.
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Die Inhalte freilich buchstabieren sich gegenber der Philosophie verschoben. Es geht um sinnlich erfahrbare Ordnungen, deren Logik den Prinzipien von Vereinfachung und Schçnheit folgt, es geht um die „Erdichtung und Zurechtmachung einer Welt, bei der wir selbst in unseren innersten Bedrfnissen uns bejahen“, es geht um „Vereinfachen, Hervorheben des Typischen – Genuß an der berwltigung durch Hineinlegen eines Sinnes“ (NF, KSA 12, 226 f.). Und darum, dass der sthetische Zuschauer dieses berwltigen nicht nur gestattet, sondern genießt und an der Hçhe des Genusses die Grçße der Kunst und Meisterschaft, die Grçße des Knstlers misst. Inwieweit er ein Vereinfacher ist, darin liegt die Messlatte seiner Grçße. Dieser Gedanke ist keiner des spten Nietzsche. Bereits in der vierten Unzeitgemßen Betrachtung hat er fr Richard Wagners Kunst festgehalten: Die Kmpfe, welche sie zeigt, sind Vereinfachungen der wirklichen Kmpfe des Lebens; ihre Vereinfachungen sind Abkrzungen der unendlich verwickelten Rechnung des menschlichen Handelns und Wollens. Aber gerade darin liegt die Grçsse und Unentbehrlichkeit der Kunst, dass sie den Schein einer einfacheren Welt, einer krzeren Lçsung der Lebens-Rthsel erregt. Niemand, der am Leben leidet, kann diesen Schein entbehren […] Je schwieriger die Erkenntnis von den Gesetzen des Lebens wird, umso inbrnstiger begehren wir nach dem Scheine jener Vereinfachung, wenn auch nur fr Augenblicke. (WB, KSA 1, 452 f.)
Diese Grçße zu erreichen, hat der Knstler nur ein „bestimmtes Maass von Kraft“ (MA, KSA 2, 421): inwieweit er die Ganzheit seiner Krfte auf sein Werk setzt, ihre Verausgabung in ihm konzentriert, das allein ist der Maßstab des Knstlertums. Die Grçße eines Knstlers zeigt sich an seinen Werken. William Shakespeares Grçße ist fr Nietzsche unumstritten. Weil Shakespeare an den Rçmer Brutus geglaubt habe, er dem Csarenmçrder bis in die letzten Tiefen gefolgt sei und dem Attentter ein Denkmal gesetzt habe, weil er seine Tragçdie „dem furchtbarsten Inbegriff hoher Moral“ (FW, KSA 3, 452) geweiht und der „Melancholie des Brutus“ (FW, KSA 3, 452) Wort und Gestalt gegeben habe, darum sei er groß zu nennen. Weil er in der Erhçhung Csars11 dessen Mçrder erhçht habe, denn er wusste oder ahnte dessen geheime Verzweiflung: weil Brutus der Unabhngigkeit der Seele den Freund, das Vorbild, geopfert habe, weil die 11 „Wenn ich meine hçchste Formel fr Shakespeare suche, so finde ich immer nur die, dass er den Typus Csar concipirt hat. Dergleichen errth man nicht, – man ist es oder man ist es nicht. Der grosse Dichter schçpft nur aus seiner Realitt – bis zum Grade, dass er hinterdrein sein Werk nicht mehr aushlt.“ (EH, KSA 6, 287)
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Freiheit einer großen Seele eben diese Freiheit in Gefahr gebracht habe, greift Brutus zur Waffe: „derart muss Shakespeare gefhlt haben! Die Hçhe, in welche er Csar stellt, ist die feinste Ehre, die er Brutus erweisen konnte: so erst erhebt er dessen inneres Problem in s Ungeheure und ebenso die seelische Kraft, welche diesen Knoten zu zerhauen vermochte!“ (FW, KSA 3, 452). Weiter ließ sich die Apotheose kaum treiben: „vor der ganzen Gestalt und Tugend des Brutus warf Shakespeare sich auf den Boden und fhlte sich unwrdig und ferne: – das Zeugniss dafr hat er in seine Tragçdie hineingeschrieben“ (FW, KSA 3, 452). An der Gestalt eines Poeten in der Tragçdie entldt sich denn auch des Dichters ganze Verachtung ber das nicht hinreichende Poetentum, so dass es fr Nietzsche wie „wie ein Schrei klingt – wie der Schrei der Selbstverachtung“ (FW, KSA 3, 453). Ehrlichkeit gegen sich ist jeder Grçße eigen: hier ist der Punkt doppelten Betroffenseins erreicht. Shakespeare sei betroffen, weil ihm klar geworden war, wie weit er selbst von der eigentlichen Grçße eines solchen Menschen entfernt sei, Nietzsche muss erkennen, wie nahe er an die unterirdischsten Motivationen Shakespeares fr die Tragçdie gekommen ist, die diesem selbst verborgen geblieben waren oder zu seinen finstersten Stunden gehçrten. Ihnen dramatische Gestalt gegeben zu haben, deswegen sei Shakespeare groß. In der Metamorphose des Existentiellen in die Tragçdie, der Anverwandlung des problematisch Sittlichen an seine sthetische Gestalt, sieht Nietzsche die Grçße dieser Kunst. Weil den Knstler die hohe Moralitt, die in der Tat des Brutus liege, sthetisch affiziert habe, darum sah Nietzsche in ihm einen Verwandten im Geiste. Dass die Suche nach Grçße nicht groß sei, hat er seinen Zarathustra mehrfach verknden lassen (Za, KSA 4, 319 f.), dass Menschenkenntnis ein notwendiges, aber kein hinreichendes Moment von Grçße sei und zur seelischen Grçße die geistige gehçren (NF, KSA 11, 277), war ihm ebenso bewusst. Deshalb habe Shakespeare die ,Unmoralitt der Handelnden sthetisch ausgezeichnet, ihnen ihren Stellenwelt in der Geschichte gegeben: das hat knstlerische Grçße. Htten die Menschen nach den Moralsystemen gelebt, sie htten keine berlebenschance gehabt: die Grçßten haben fortgelebt „vermçge der tiefsten und grndlichsten ,Unmoralitt […], so wenig [ihnen – R. R.] dieselbe ins Bewusstsein getreten ist“ (NF, KSA 9, 636). Die Beispielnamen sind illuster und symptomatisch in einem: Buddha, Zarathustra, Epiktet, Jesus. Alle großen heroischen Menschen waren ungerecht und auf ihre Weise gewaltsam, weil sie ohne die berschtzung ihrer Gedanken und ihres Wollens „nicht zu ihrer Grçße gekommen wren“ (NF, KSA 9, 634). Die Grçße einer Seele „hat nichts Romantisches an sich. Und leider
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gar nichts Liebenswrdiges!“ (NF, KSA 12, 496) und zeigt sich den Zeitgenossen selten. Daher Nietzsches Resum: „Wie lange (wie viel Jahrhunderte) dauert es, bis eine Grçße den Menschen als Grçße sichtbar wird und leuchtet – ist mein Maaßstab der Grçße. Bisher sind wahrscheinlich die Grçßten gerade verborgen geblieben.“ (NF, KSA 10, 31) Shakespeares Licht war ihm aufgegangen: er sah dessen knstlerische Grçße in der Fhigkeit, den tiefsten Kern des Menschlichen sichtbar zu machen und dafr den richtigen Zeitpunkt der eigenen Meisterschaft zu whlen. Die meisten beginnen mit der Darstellung eines Ganzen, ehe sie in der Lage sind, dessen Einzelheiten zu erfassen. Indem Shakespeare in einer einzelnen Seele, an einem einzelnen Charakter die zum Zerreißen zugespitzte Spannung der Gegenstze herausstellt und ihn so jeder Mittelmßigkeit entreißt, vollzieht er in Nietzsches Augen das, was nach seiner Auffassung die vornehmste Aufgabe des Knstlers ist: den Menschen zu erhçhen, indem er ihn in seiner Ganzheit zeichnet: „Die Meisten stellen den Menschen als Stcke und Einzelheit dar: erst wenn man sie zusammenrechnet, so kommt ein Mensch heraus.“ (NF, KSA 12, 520) Zum Menschen gehçrt das Bçse, das Gefhrliche, das Fragwrdige: „mit jedem Wachsthum [muß] auch seine Kehrseite wachsen, daß der hçchste Mensch […] der Mensch wre, welcher den Gegensatz-Charakter des Daseins am strksten darstellte, als dessen Glorie und einzige Rechtfertigung […] Daß der Mensch besser und bçser werden muß, das ist meine Formel“ (NF, KSA 12, 519 f.). Der große Knstler muss Immoralist sein: sthetik ist Immoralitt par excellence. Nur als solche kann sie die Grçße von Kunst erkennen und ihr eine wertesetzende Macht zusprechen.
IV Hier berhren sich sthetik und Kulturkritik der Moderne. Der moderne Knstler ist nach Nietzsche weit entfernt von den Hçhen seiner Aufgabe, hat sich eingerichtet in der Erfolgswelt seiner von einem mittelmßigen Publikum anerkannten mittelmßigen Werke. Von Grçße keine Spur, sie hngt nicht vom Erfolg ab. Man kann Grçße besitzen, ohne Erfolg zu haben. Victor Hugo als negatives Beispiel: „reich und berreich an pittoresken Einfllen, […] ohne Geschmack und Zucht, flach und demagogisch, sklavisch vor allen klingenden Worten auf dem Bauch, ein VolksSchmeichler, mit der Evangelisten-Stimme fr alle Niedrigen, Mißrathenen […] ohne eine Ahnung von intellektuellem Gewissen und vornehmer Grçße“ (NF, KSA 11, 271). Man habe bei der Lektre seiner Werke das
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Gefhl, ein „betubendes Geschwtz“ lasse die Ohren klingen, man leide, wie wenn „ein Eisenbahn-Zug uns durch einen dunklen Tunnel fhrt“ (NF, KSA 11, 271). Diese Hugo-Schelte vereinigt alle Kritikpunkte, die Nietzsche gegenber der Moderne in Sachen mangelnder Grçße vorzutragen hat. Zunchst der Generalverdacht gegenber den Knstlern, sie wrden Anmaßung mit Grçße verwechseln und ber eine bloße „Schauspielerei der Grçße“ (NF, KSA 9, 401) nicht hinauskommen. Schon Platon hat die Tuschungen antiker Poeten bloßgelegt, aber erst ihre modernen Nachfolger haben daraus eine Lebens- und Kunsthaltung gemacht. Wie es zur Attitde der Moderne gehçre, sich mit vermeintlicher Grçße zu dekorieren, so bedienen die Knste diese Bedrfnisse mit geflligen Tuschungen, um die tatschliche Leere zu kaschieren. Weil sie selbst Menschen sind, die nach Grçße streben, geben sie dem Trend nach Grçße eine sthetische Legitimation. Nietzsche sieht in diesem Streben den wesentlichen Kern einer sich an der Mediokritt orientierenden Kultur, die wirkliche Grçße nicht kennt und nicht hervorbringen kann. Wie die Kultur, so ihre Kunst. So ihre Knstler. Burckhardt hat seine Kritik an der Kultur des 19. Jahrhunderts in einem Satz formuliert: „Grçße ist, was wir nicht sind.“12 Er hat niemanden ausgenommen. Nietzsche hat, den Satz im Gedchtnis, seine Kritik der deutschen Nachkriegs-berheblichkeit von 1870/71 in punkto Kulturanmaßung gegenber Frankreich damit verbunden: „Die Deutschen sind unfhig jedes Begriffs von Grçsse.“ (EH, KSA 6, 286) Doch die Deutschen-Kritik trifft tiefer. Sie geht auf den Kern der Moderne: „das grosse Ziel wird preisgegeben (abgeirrte Cultur)“ (NF, KSA 7, 806), was nichts anderes heißt, als: die moderne Kultur ist ohne einen Maßstab von Grçße, sie hat ihren Mittelpunkt verloren, ist ohne Rangordnung, ohne Wertehierarchie, lebt im Verzicht, sich den großen Menschen als Ziel zu setzen, lebt im Dunstkreis der Masse, ist nichts als ein bloßes Massenzeitalter. Masse entbehrt vom Kern her jeglicher Grçße. Was in ihr gilt, das verantwortet die çffentliche Meinung: sie legt die Rangordnungen fest, in dem sie falscher Grçße zu Ruhm und Ehren verhilft: „Jetzt ist es erst der Widerhall, durch den die Ereignisse ,Grçße bekommen – der Widerhall der Zeitungen.“ (NF, KSA 10, 83) Sie legen fest, was als groß anzusehen ist; es sind die Zeitungen, durch die der Leser erfhrt, wer zu den Großen der Zeit zu zhlen ist; sie sind Multiplikatoren kultureller Vermittelmßigung, der nicht nur der große Einzelne geopfert wird: kulturelle Rangfolgen werden 12 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Geschichtliche Fragmente, Leipzig 1985, S. 198.
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missbilligend zur Schau gestellt. Weil „die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen“ ist (GT, KSA 1, 144), hat ein Prozess der Grçßenverkehrung den Verfall aller bisherigen Kultur in Gang gebracht, der in die Zukunft offen zu sein scheint. Es ist die Kultur der falschen Grçße(n), die sich durchgesetzt hat. Das Problem des 19. Jahrhunderts sei, nicht nur die Verflachung als Gegenteil von Grçße, sondern, dass es keine Kraft gefunden hat, Widerstand zu leisten. Bis es dem Druck der falschen Grçße(n) nachgegeben und sie zu ihren neuen Gçtzen gemacht habe. Lautstark besetzen sie alle Orte der Kultur mit dem Lrm ihrer pçbelhaften Anfeindungen gegen alles wirklich Große, weil sie dieses als Angriff auf ihre Anmaßungen verstehen. Der Sieg des Ressentiments gegenber der Kultur lsst, so Nietzsche, fr die Zukunft Schlimmes ahnen. Des Bildungsphilisters Beweihruchern oder Verdammen ist beredter Ausdruck dafr. Sogar Wagners Musik, Wagner als Knstler gibt ein subtiles Zeugnis fr die inhrente Barbarei einer solchen Kultur: Sein Publikum ist der gebildete Pçbel, der, durch ihn zu falscher Grçße verfhrt, sich dem Verfhrer bedingungslos ergeben hat, weil dieser in großartiger, aber gefhrlicher Schauspielerei zu sich, zu einer verkehrten Grçße der Kultur, verfhrt. Bequemlichkeit, Trunkenheit, Sinnverwirrung, WerteIrritation: darin war Wagner groß: „Sein Charakter liebt […] die grossen Wnde und die verwegene Wandmalerei“ (NW, KSA 6, 418), bersteigt sich ins Virtuose, in die Vermischung der Sinne bis zur besinnungslosen Sinnlichkeit, mit unheimlichen Zugngen zu Allem, was verfhrt, lockt, zwingt, umwirft […], begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren […] Im Ganzen eine verwegen-wagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfliegende und hoch emporreissende Art von Knstlern, welche ihrem Jahrhundert […] den Begriff ,Knstler erst zu lehren hatte. Aber krank. (NW, KSA 6, 428)
Groß sein in der Krankheit, das ist Wagners Grçße. Indem er der Moderne eine Musik und eigene sthetik gegeben hat, ist er der Spiegel ihrer kranken Grçße, ist zum Maßstab geworden, hat Rangordnungen neu festgelegt, ist er ein verkehrter Gesetzgeber und erfllt in dieser Negation paradox die Bestimmung von Grçße. An Wagner demonstriert Nietzsche, wie weit die „Falschmnzerei“ (NW, KSA 6, 434) der Werte in der modernen Kultur fortgeschritten ist. Ihn und sein Werk anzubeten, wie in Bayreuth, zeige, dass Grçße nur aus der Distanz von unten sich zeige. Der Berg hat seine Grçße vom Tale her; ihn zu besteigen hieße, seine Grçße zu entzaubern.
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Dem aufgeregten Zeitalter, das von Ereignis zu Ereignis hetzt, das seine Grçßen auf Zeit produziert, in einem einzigen Selbstbetrug lebt, traut der Philosoph keine wirkliche Grçße zu. Ihre Abwesenheit ist das Kennzeichen der Epoche: „Ich glaube nicht an die Grçße aller dieser ,großen Ereignisse, von denen ihr sprecht.“ (NF, KSA 10, 83) Es sei verrterisch, nach Grçße zu streben: „Wer nach Grçße strebt, hat Grnde in der Quantitt seine Vollendung und Befriedigung zu haben“ (NF, KSA 10, 26) und Zarathustra zu dem Bezauberer: „Es ehrt dich, daß du nach Grçße strebst, aber es verrth dich auch: du bist nicht groß.“ (NF, KSA 11, 355) Eine vernichtende Kulturkritik: Sie sieht in der modernen Kultur das Streben in den Untergang. Untergehende Kulturen besitzen eine eigene Grçße: „Eine untergehende Welt ist ein Genuß, nicht nur fr den Betrachter […] es giebt Grçße, Erhabenheit aller Art bei untergehenden Welten. Auch Sßigkeiten, auch Hoffnungen und Abendrçthen.“ (NF, KSA 11, 266 f.) Die Renaissance, in ihrer Dekadenz und aufgeheizten Kreativitt ist der historische Modellfall. Sie lebt ein rasantes Tempo zum Tode, zum Untergange und hat darin ihre Grçße. Weil ihre Protagonisten in der Flle des Lebens agieren, sie das Leben als Ganzes nehmen, weil sie Macht- und Ausnahme-Menschen sind, die den geltenden Moralgesetzen Hohn sprechen und eine eigene Art von sthetik kultivieren. Die Adelsfamilien der Medici, der Borgia, die Ppste und ihre Knstler waren die „grossen Virtuosen des Lebens“ (NF, KSA 13, 72) mit einem bermaß an Vitalitt, an dem sie zugrunde gingen. Aber: Ihren Akteuren kam ein Prdikat der Grçße zu, dem der moderne Mensch nicht mehr gewachsen ist, das er nicht aushalten wrde: „Was Wrze ehedem des Lebens war, fr uns wre es Gift.“ (GD, KSA 6, 137) Der Niedergang der Moderne ist ein anderer als der der Renaissance. Ging diese an einem bermaß an Kraft zugrunde, so die Moderne an einem Mangel derselben, an der zerstçrenden Kraft des Alltglichen, die alles zunichte macht. Weil der wirklich große Mensch ein Ende ist, konnte die Renaissance zu solcher Abendrçte europischer Kultur werden. Leo X., Alexander VI., Cesare Borgia, Michelangelo, Raffael waren ihre großen Mnner: wie „Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehuft ist […] Der grosse Mensch ist ein Ende […] Das Genie – in Werk, in That – ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine Grçsse“ (GD, KSA 6, 145 f.). Danach kam Reformation und Schwche. Fr Nietzsche ist die Renaissance-Kultur der Gegenpol zur Niedergangs-Kultur der Moderne. Diese ist ein Siechtum ohne Ende, ohne große Mnner. Da ist nur Aufgeblasenheit und Draperie, keine Steigerung von Macht und die „strksten Typen des Lebens“ (NF, KSA 12, 226) fehlen, sind lngst von der „lebensfeindliche[n] Tendenz“
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(NF, KSA 12, 226) der Moral berwltigt. Effektvoll, laut, mit falscher Grçße. Dieser begegnet Nietzsche mit einem Pldoyer fr alles Schlichte: „[…] der Grosse legt Frsprache fr die schlichten Dinge ein“ (M, KSA 3, 267). Das geht gegen die Stillosigkeit einer Kultur, die sich mit allem dekoriert, wenn es nur den Schein von Grçße ausstellt, gegen die Buffonerie der Moderne, die von sich meint, sie habe Grçße. Der Psychologe argwçhnt, dass darin eine Flucht liege kçnne. Eine Flucht vor der Anstrengung zum wirklich Großen. Was nicht schmeichelhaft ist fr die Kulturdiagnose der Moderne: Es signalisiert Unfhigkeit, Unvermçgen zum Großen: „Die Menschen der Qualitt streben nach Kleinheit.“ (NF, KSA 10, 26) Darin steht in nuce Nietzsches Kulturkritik der Moderne zu lesen. Kleinheit buchstabiert sich als Gegenmodell zur Zeitkultur, als Ideal, das aus sich heraus Werte umstellend ist. Indem es aufnimmt, was gegen gewohnte Konnotationen geht, gelingt der Entwurf eines Verstndnisses von Kleinheit und Grçße, in dem das jeweils Andere dialektisch-gegenstzlich aufgehoben ist und zum Argument wird, moderne Kultur danach zu hinterfragen und zu messen. Fr die Moderne gert dies zum Desaster. Zur Schlichtheit und Kleinheit gesellt sich last but not least in Nietzsches Kulturkritik das Moment des Leisen, sich unmerklich Vollziehenden. Mit Taubenfßen kommen wirklich große Vernderungen: „ein Wort, das auf Taubenfßen kommt, leitet den Willen dieser Wilden – ein Wort vom Werthe: und von den Stillsten her kommen solche Worte gegangen“ (NF, KSA 10, 426) und: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfssen kommen, lenken die Welt“ (Za, KSA 4, 189). Taubenfße: Tritte in sthetischer Ordnung. Leise hinterlassen sie filigrane Spuren. Assoziationen zu christlichen Konnotationen drngen sich auf, halten sich angesichts der von Nietzsche vorgegeben Denkrichtung aber in Grenzen: Zarathustra spreche in halkyonischem Ton, er verlange keinen Glauben: „aus einer unendlichen Lichtflle und Glckstiefe fllt Tropfen fr Tropfen, Wort fr Wort, – eine zrtliche Langsamkeit ist das tempo dieser Reden“ (EH, KSA 6, 260). Als er beklagt, ihm fehle die Stimme des Lçwen, spricht ein Flstern zu ihm. Es ist der halkyonische Ton: Lautlosigkeit, Gewaltlosigkeit, Langsamkeit, Ruhe. Ein Denker braucht „Ruhe, Grçsse, Sonnenlicht“ (WS, KSA 2, 697): beruhigende, aufhellende Gedanken als Kriterium der Grçße. Lautlosigkeit gegen Lçwen-Gebrll, Befehlsgewalt qua Flstern: Sprachlogisch eine contradictio in adiecto, kulturkritisch eine Aufforderung zur friedlichen Rebellion gegen das Dilemma moderner Kultur. Die grçßte Wirkung verndernder Worte und Taten geht von ihrer leisen Bewegtheit aus.
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bersetzt auf Kriterien fr den großen Menschen, heißt dies: „Er redet nicht nur anders, er ist auch anders.“ (WS, KSA 2, 697) Der moderne Mensch ist nicht in der Lage, Langsam- und Lautlosigkeit als kulturelle Verhaltensmuster anzunehmen und zu akzeptieren. Ihre Werte sprengende Kraft sanfter Vernderung vertrgt sich nicht mit dem Beschleunigungswahn der Kulturprozesse. Sie anzuerkennen, wrde die meisten Zeitgenossen hoffnungslos berfordern. Nur ausgewhlten Naturen sei dies zuzumuten. Ihnen msste eine Grçße eigen sein, die der Werte umstrzenden Sanftheit gewachsen wre. Wo aber sind sie zu finden? Nicht bei der Masse, den Gelehrten, modernen Wissenschaftlern, umtriebigen Ingenieuren, Journalisten, Wirtschaftsmanagern oder Politikern, die fr Nietzsche alle Pçbel sind. Auch nicht bei den Philosophen, die sich lngst von der Weisheit verabschiedet und ein Leben eingerichtet haben, das mit Philosophie im Sinne Nietzsches nicht zu vereinbaren ist.
Epilog Im Zarathustra heißt es: „Weisst du nicht, wer Allen am nçthigsten thut? Der Grosses befiehlt.“ (Za, KSA 4, 189) So schließt sich der Kreis zum Anfang hin: Die Hoffnung liegt wieder bei den großen Geistern, den philosophischen Naturen. Ihnen allein ist der Spagat zwischen Grçße und Redlichkeit (NF, KSA 9, 328) zuzumuten, jenseits der scheinbar großen Leistungen, deren Schauspielerei sich nur schlecht verhehlen lsst. Philosophen werden „Gesetzgeber der Zukunft“ (NF, KSA 11, 258) sein. Ihre Grçße besteht darin, zu ihrer Zeit im Widerspruch zu stehen. Als Vernichter kulturfeindlicher Krfte çffnen Philosophen die tiefen Grnde des Daseins. Mitte der achtziger Jahre fragt Nietzsche: „Ist heute solche eine Grçße mçglich?“ und er gibt die Antwort: „vielleicht morgen, vielleicht bermorgen. – Ich sehe neue Ph heraufkommen“ (NF, KSA 12, 78 f.). Sie mssen anders, keine Epigonen sein. Als Vorbereitende bedrfen sie heroischer Grçße. Sie sind keine Idealisten, sind furchtlos Erkennende aus „intellektuelle[m] Pessimismus“ (NF, KSA 11, 259), stehen vor einer Aufgabe, Gesetzgeber der Werte „in furchtbarer Grçße“ (NF, KSA 11, 259) zu sein: dieses Ansinnen bersteigt fast menschliches Maß, da alle Rckversicherungen fehlen, sie in absoluter Selbstverantwortlichkeit stehen. Als diejenigen, die „befehlen und sagen: so soll es sein!“ (NF, KSA 11, 259). Wertegeber und Richtungsweisende in einem. Nietzsche sieht solche Philosophen als Mçglichkeit aus der desolaten Kultursituation selbst erwachsen: Die kulturelle Krankheit der Moderne,
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die sich in allem, was den Menschen angeht, zeigt, kann selbst zum Grund werden, aus dem neue geistige Grçße entsteht: „Dieselben Grnde, welche die Verkleinerung der Kleinlichen hervorbringen, treiben die Strkeren und Selteneren bis hinauf zur Grçße.“ (NF, KSA 11, 497) Woher sollen sie die Kraft nehmen zum Widerstand gegen die Zeit und zur Herausbildung eines Gegenbildes?: „Wir mssen die Grçße des Menschen dort suchen, wo wir am wenigsten zu Hause sind.“ (NF, KSA 11, 520) Wo ist der moderne Mensch zu Hause? Im Spezialistentum, in demokratischen Staatsgebilden, die den Bedrfnissen der Massen Ausdruck und Macht verleihen. Ergo: ein neuer Begriff der Grçße des Menschen muss sich vom gegenlufigen Blick ableiten. Seine Horizontlinie verluft da, wo die Ideale der Moderne kippen: „also ist heute Grçße das Universal-sein […] also ist Strke des Willens heute Grçße […] also gehçrt Alleinstehn und Auf-eigene-Faustleben heute zur Grçße“ und „Der umfnglichste Mensch, allein gehend, ohne Heerden-Instinkte, mit einem unbezwinglichen Willen, welcher ihm erlaubt, viele Verwandlungen zu haben und unersttlich in neue Tiefen des Lebens zu tauchen“ (NF, KSA 11, 520). Nietzsche konturiert den Menschen der Zukunft als Philosophen. In ihm findet der neue Mensch seine Gestalt als ideale Projektion fr die hçchsten Exemplare der Menschheit. Auf der Liste derer, die dazu prdestiniert sind, hat Nietzsche sich konkurrenzlos als Spitzenkandidat eingetragen. In Ecce homo gibt er Zeugnis von seinem Werden, macht klar, warum er den Anspruch erhebt, sich als Philosoph in neuer Dimension zu prsentieren. Als Gçtzenzertrmmerer, als Dionysos-Jnger sei er ein Gegensatz-Typ, habe er im philosophischen Showdown der letzten Jahrhunderte die Rolle des advocatus diaboli gespielt und die dunklen Seiten der Philosophien, ihre grundlegende Metaphysik, Idealbildungen und Gçtzenanbetungen durchschaut, ihm seien sie nur der Ablehnung wrdig gewesen. Das Imperium philosophischer Grçße wird so erstaunlich klein: es luft auf Nietzsche selbst zu, logisch und unerbittlich. Bereits in den Unzeitgemßen Betrachtungen sei ihm klar geworden, er habe mit ihnen einem „Weg zur Grçsse und zu welthistorischen Aufgaben“ (EH, KSA 6, 319) den ersten Ausdruck verliehen und in sich die Strke der seltenen Naturen gesprt: Was ich heute bin, wo ich heute bin – in einer Hçhe, wo ich nicht mehr mit Worten, sondern mit Blitzen rede – , oh wie fern davon war ich damals noch! – Aber ich sah das Land – ich betrog mich nicht einen Augenblick ber den Weg, Meer, Gefahr – und Erfolg! Die grosse Ruhe im Versprechen, dies glckliche Hinausschaun in eine Zukunft, welche nicht nur eine Verheissung bleiben soll! – Hier ist jedes Wort erlebt, tief, innerlich; es fehlt nicht am Schmerzlichsten, es sind Worte darin, die geradezu blutrnstig sind. Aber ein
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Wind der grossen Freiheit blst ber Alles weg; die Wunde selbst wirkt nicht als Einwand. (EH, KSA 6, 320)
Das ist die Kontur des Philosophen, der weiß, dass alles, worber er schreibt, nur von ihm handelt. So wie er vor dem Zusammenbruch glaubt, in allen großen Gestalten der Weltgeschichte sich selbst zu erkennen: „daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin“ (An Jacob Burckhardt, KGB III/5, Bf. 1256), ist die Zusammenfassung von Grçße, fr die der Philosoph Gesetzgeber ist. In dem er sich als Ausnahme-Mensch konzipiert, macht er deutlich, es gehçre zur Philosophie, den Menschen mit all seinen Widersprchen zu entwerfen: „damit erst kann der Mensch Grçsse haben“ (EH, KSA 6, 370). So steht am Ende der neue Anfang: Die Philosophie als Gesetzgeberin der Grçße, der Philosoph als der, dieses Mal durch Umstellung, der Werte formuliert. Mit dem unwiderleglich-problematischen Anspruch, dem Kanon der Philosophie zu entsprechen, dem der Wahrheit (Vgl. EH, KSA 6, 258 f.).
Spannung Ein Begriff fr Groß und Klein
Marco Brusotti In Ecce homo schreibt Nietzsche, man kçnne an ihm „keinen Zug von Spannung“ wahrnehmen, er habe berhaupt „keine Nerven“ und „kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel“; er sieht darin ein „Anzeichen“ seiner Grçße (EH, KSA 6, 297). In anderen Texten wiederum erscheint „der große Mensch“ gerade als „der Bogen mit der großen Spannung“ (NF, KSA 11, 515); „die Vielfachheit der Elemente und die Spannung der Gegenstze“ sind demnach „die Vorbedingung fr die Grçße des Menschen“ (NF, KSA 12, 520). Gibt es also keine Grçße ohne Spannung? Oder zeigt sich jene gerade in der Freiheit von dieser? Die zitierten ußerungen mssen einander nicht unbedingt widersprechen. Vielmehr geben sie Anlass, bei Nietzsche unterschiedliche Figuren von Spannung zu unterscheiden. Nun ist das Begriffsfeld mit seinen vielen Komposita (Spannkraft, Spannweite), Synonymen und Antonymen (Spannung, Entspannung und berspannung) eigentlich zu weit, um es in einem Aufsatz zu kartographieren. „Spannung“ (altgr. t|mor, vgl. auch t\nir) ist ein alter philosophischer Begriff,1 aber auch hier herrscht eine gewisse Polyphonie. In den Naturwissenschaften steht „Spannung“, abgesehen von diachronischen Unterschieden, fr unterschiedliche physikalische Grçßen, z. B. fr mechanische Spannung oder fr elektrische; es handelt sich um streng umgrenzte Begriffe, aber eben um jeweils andere.2 Die Varietten mechanischer Spannung (Schub-, Druck- oder Zugspannung) – an elastischen Kçrpern (Saiten und Bogensehnen), bei Flssigkeiten (der Druck aufgestauter Wassermassen) oder bei Gasen (das „Expansionsvermçgen“ 1
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Vgl. Sabine Mainberger, Spannung II, in: Joachim Ritter, Karlfried Grnder (Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1971 ff., Bd. 9, Sp. 1284 – 1290. Zum Spannungsbegriff in der Geschichte der Wissenschaften sowie zum Begriff ,Spannkraft vgl. Tobias Trappe, Spannung I, in: Joachim Ritter, Karlfried Grnder (Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1971 ff., Bd. 9, Sp. 1282 – 1284, hier: Sp. 1283.
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von Dmpfen) – aber auch elektrische Spannung (u. a. der Blitz als plçtzliche Entladung einer elektrisch aufgeladenen Wolke) kçnnen abwechselnd, aber auch einander berlagernd und durchkreuzend, Metaphern liefern, etwa fr Psychophysisches beim Menschen. In der Physiologie des neunzehnten Jahrhunderts wird „Nervenspannung“ als physische, messbare Grçße verstanden. Sie dient als Bild fr „psychische Spannung“, worunter wiederum Heterogenes zu verstehen ist: „Stress“ natrlich, aber auch „gespannte“ Erwartung oder Aufmerksamkeit (z. B. in der sthetik). Die Vieldeutigkeit und die unhintergehbare Metaphorik macht die Semantik von „Spannung“ ußerst unbersichtlich, nicht erst heute, nicht nur alltagssprachlich und auch nicht ausschließlich bei Philosophen und Schriftstellern. Um Ordnung in das Dickicht zu bringen, muss ich ußerst selektiv verfahren, kann also keineswegs alle auffindbaren Stellen anfhren.3 Um dem metaphorischen Aspekt des Begriffs gerecht zu werden, werden hier drei Bilder erlutert, die zugleich kognitive Modelle fr die „Statik“ und „Dynamik“ von Spannung darstellen: Bogen, Gewitter und Sprengstoff. Dabei soll nicht nur die Bedeutung von „Spannung“ in Nietzsches Philosophie deutlich werden, sondern auch die enge Verbindung zum Begriff der „Grçße“. Spannung spielt nmlich eine zentrale Rolle in der Darstellung der Großen und ihrer Grçße; die Schwierigkeiten der Großen, im Umgang mit den Kleinen die eigene Spannung zu bewahren, werden wortreich beschrieben; und die Kleinen verraten sich je nachdem durch zu viel oder zu wenig Spannung. „Der Mensch“ selbst kommt Nietzsche einmal als „eine kleine berspannte Thierart“ vor (NF, KSA 13, 488).
Der Bogen des Lebens „Denn zuletzt, lieber Herr,“ – schreibt Nietzsche 1881 an Ferdinand Laban – sind wir Beide doch wohl Einer Meinung, ber diesen Einen Punkt: daß sich auch jetzt noch der Bogen des Lebens so straff spannen lasse, daß die Sehne der Begierde singt und pfeift? daß wir auch jetzt noch so stolz und darberhinsehend leben kçnnen, wie jener herrliche rçmische Kaiser, in dessen 3
So kçnnen hier eine Reihe von Themen nur kursorisch oder gar nicht behandelt werden: Dazu gehçren die sthetik der Tragçdie und im allgemeinen die Zeit vor Menschliches, Allzumenschliches, die Auffassung des Willens zur Macht als „dynamische Quanta, in einem Spannungsverhltniß zu allen anderen dynamischen Quanten“ (NF, KSA 13, 259) oder die „Fhigkeit zum großen Stil“ als „Spannkraft“ des Willens, an der die „Grçße eines Musikers“ (NF, KSA 13, 502) zu messen ist. Noch selektiver wird die Quellenlage dargestellt.
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Verehrung wir Beide einmthig sind (lesen Sie doch zum Beweise dafr meine jngst erschienene ,Morgenrçthe […]). (An Ferdinand Laban, KGB III/1, Bf. 130)
Jener „herrliche rçmische Kaiser“ ist der Stoiker Marc Aurel, und „Spannung“ wird erst bei den Stoikern zu einem philosophischen Begriff. Aber der „Bogen des Lebens“, von dem hier die Rede ist, ist der bos/bis des Heraklit, und das Gleichnis des Bogens geht auf den locus classicus zurck, auf den sich die antike Reflexion ber Spannung immer wieder bezieht: Heraklits Fragment ber die „pak_mtomor "qlom_g djyspeq t|nou ja· k}qgr“, d. h., ber die „rckgespannte Fgung wie die des Bogens und der Leier“,4 die Nietzsche als spannungsvolle Harmonie widerstrebender Gegenstze interpretiert. „Fr den contuitiven Gott […] luft alles Widerstrebende in eine Harmonie zusammen, unsichtbar zwar fr das gewçhnliche Menschenauge, doch dem verstndlich, der, wie Heraklit, dem beschaulichen Gotte hnlich ist.“ (PHG, KSA 1, 830) Die Heraklit-Paraphrase der Philosophie im tragischen Zeitalter verwendet das Wort „Spannung“ nicht und nimmt auch Heraklits „apollinische“ Bilder, Bogen und Leier, nicht auf. Aber dem Bogen als Hauptgleichnis fr Spannung begegnet man bei Nietzsche immer wieder. Mit diesem Topos preist Nietzsche den stoischen Kaiser und indirekt sich selbst: Wer noch heute so „stolz und darber-hinsehend“ wie Marc Aurel leben kann, spannt den Bogen seines Lebens und bringt die „Sehne der Begierde“ zum Pfeifen und – wie die Saite einer Leier – sogar zum Singen. Dass gerade ein Stoiker fr die weiter bestehende Mçglichkeit zeugt, die „Sehne der Begierde“ zum ußersten zu spannen, klingt merkwrdig: nicht wegen der Spannung, sondern wegen der „Begierde“. Das Wort ist hier aber nicht ohne Absicht gewhlt. Es kommt schon in der Stelle der Morgenrçthe vor, auf die Nietzsche Laban hinweist.5 Nietzsche nimmt stoische Denkfiguren zwar immer wieder auf, interpretiert sie çfter jedoch um und kehrt sie manchmal geradezu in ihr Gegenteil: So geht die Spannung, zu der er sich in seinem Brief bekennt, auf eine extreme Leidenschaft zurck, und jene „Begierde“ ist seine passio nova, die Leidenschaft der Erkenntnis. 4
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Nach Sabine Mainberger, Spannung II, in: Joachim Ritter, Karlfried Grnder (Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/Stuttgart 1971 ff., Bd. 9, Sp. 1284. Vgl. M, KSA 3, 273 und dazu Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 225.
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Das Bild des Bogens suggeriert, dass der normale, gesunde, ja, ideale Zustand ein hohes Maß an Gespanntheit, Tonizitt beinhaltet. Man darf den Bogen weder ab- noch berspannen: Er wre dann funktionsunfhig; und im letzteren Fall kçnnte er sogar brechen.6 Den Stoikern zufolge kann der Geist dank der ihm eigenen Spannung dem Leiden widerstehen und die Leidenschaften bezwingen. Spannung steht aber auch in der Antike nicht immer fr seelische Strke. Erstens unterscheidet der Stoiker Epiktet zwischen gesunden, eingebten Spannungen und krankhaften, verrckten. Zweitens prgt gespannte Wachsamkeit zwar das Selbstbild der Stoiker, Entspannung aber dasjenige der Epikureer, und diese kritisieren die stoische Haltung als eine berspannte.7 Dass auch bei Nietzsche unterschiedliche Verwendungen von „Spannung“ und mit ihnen unterschiedliche Wertungen anzutreffen sind – und zwar ebenso in seinen Urteilen ber die Stoiker wie ohne Bezug auf sie –, wird also nicht berraschen. Immer wieder ist ihm Spannung eine Kraft oder ein Zeichen derselben. So sieht er in der Spannung der Seele, die dem Leiden widersteht, ein Anzeichen von Grçße – nicht zuletzt an sich selbst.8 Er nimmt aber nicht nur die Gleichnisse wieder auf, mit denen die Stoiker Spannung und Seelenstrke fr sich beanspruchen, sondern auch die Argumente, mit denen gerade diese stoische Haltung als eine berspannte zurckgewiesen wird. Und, wie heute und auch zu Nietzsches Zeit blich, fllt bei ihm „Spannung“, 6
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Elisabeth Nietzsche befrchtet, dass bei ihrem Bruder „der Bogen leicht einmal berspannt sein kçnnte“ (Elisabeth an Franziska Nietzsche, 8. Oktober 1884, NF, KSA 15, 142). Anders als in den klassischen Quellen wird das Gleichnis des Bogens alltagsprachlich eher fr berspannung verwendet. Zu beiden Punkten vgl. Sabine Mainberger, Spannung II, in: Joachim Ritter, Karlfried Grnder (Hrsg.), Historisches Wçrterbuch der Philosophie, Basel/ Stuttgart 1971 ff., Bd. 9, Sp. 1285. – Nicht Marc Aurel allein ist bei Nietzsche ein Vorbild von Spannung: Morgenrçthe bewundert beim „Epiktetische[n] Mensch[en]“ „[d]ie stete Spannung seines Wesens“, die zu den „Merkmale[n] der strengsten Tapferkeit“ (M, KSA 3, 316) zhlt. Zu Nietzsches Kritik der stoischen Wrde als berspannt siehe weiter unten. „Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens“, hat „alle Erhçhungen des Menschen bisher geschaffen“; Geschenke „des grossen Leidens“ sind die „Grçsse“ und die „Spannung der Seele im Unglck, welche ihr die Strke anzchtet“ (JGB, KSA 5, 161). In dieser „Spannung“ in und nach dem Kampf gegen das Leiden sieht Nietzsche die eigene Grçße: Gerade nach viel Not und Entbehrung steht er da, wie er „geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Noth immer nur noch straffer anzieht“; aber gerade „die Verkleinerung und Ausgleichung des europischen Menschen“ stellt seine „grçsste Gefahr“ dar; „denn dieser Anblick macht mde…“ (GM, KSA 5, 278)
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insbesondere sichtbare oder gar zur Schau getragene Spannung, sehr oft keineswegs mit „Spannkraft“ zusammen, sondern weist eher auf eine Unzulnglichkeit derselben hin.
„In der Nachbarschaft des Wahnsinns“ Wenn Menschliches, Allzumenschliches „[s]ehr spannkrftige Mnner, wie zum Beispiel Goethe“ (MA, KSA 2, 224) preist, ist Spannkraft ein Zeichen von Grçße. Die Skizze einer Vorrede fr ein geplantes „Reisebuch unterwegs zu lesen“ gibt als wnschenswerte Wirkung „eine gewisse allgemeine Umstimmung der Ansichten“ an – „und mit ihr jenes allgemeine Gefhl der geistigen Erholung, als ob der Bogen wieder mit neuer Sehne bespannt und strker als je angezogen sei.“ (NF, KSA 8, 474) Damals wird bei Nietzsche diagnostiziert, er leide an „einer hochgradigen berreizung seines Nervensystems“,9 und er befrchtet, dass die durch die moderne Erziehung bedingte gesteigerte „Gehirnthtigkeit“ als Resultat „eine nervçs berreizte, ja verrckte Nachkommenschaft“ haben kçnnte, „eine Nachwelt von Verrckten und berspannten“, die „in das Irrsinnige hineinspielen“ (NF, KSA 8, 459). So stellt die „Spannung des Gefhls“ in einem Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches – der bezeichnende Titel ist „In der Nachbarschaft des Wahnsinns“ – ein gefhrliches Syndrom dar. Die „allgemeine Gefahr“ sei „eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkrfte“, und um diese Gefahr abzuwenden, msse man die „Spannung des Gefhls“ vermindern; denn „die ganze Last der Cultur“ erdrcke „die cultivirten Classen der europischen Lnder“, sie seien „durchweg neurotisch“ und gerieten immer wieder in die „Nachbarschaft des Wahnsinns“: „Nun kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefhls, jener niederdrckenden Cultur-Last vonnçthen, welche, wenn sie selbst mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen Hoffnung einer neuen Renaissance Spielraum giebt.“ (MA, KSA 2, 204) Die „Verminderung jener Spannung des Gefhls“ geht also doch „mit 9
„Nach dem gleichzeitigen Gutachten Massinis zur Entlassung Ns vom Pdagogium leidet N an ,einer hochgradigen berreizung seines Nervensystems.“ (NF, KSA 15, 80) Rudolf Massini (1845 – 1902) war Professor fr Pathologie und Therapie in Basel (vgl. Pia D. Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 317).
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schweren Einbussen“ einher; so ambivalent die Folgen, so eindeutig die Prioritten: berreizung ist die Hauptgefahr. Der „Geist der Wissenschaft“ soll uns deshalb „etwas klter und skeptischer“ machen; er muss jene „Spannung des Gefhls“ senken, fr die das Christentum entscheidend mit verantwortlich ist; denn auch diesem verdankt man die „Ueberflle tief erregter Empfindungen“, die uns nicht „berwuchern“ (MA, KSA 2, 204) drfen, und „den Gluthstrom des Glaubens an letzte endgltige Wahrheiten“, den der Geist der Wissenschaft nun abkhlen soll. Entspannung, Entlastung, Abkhlung sind also die Aufgaben. Dies entspricht der Haltung des ganzen Buches: Es strebt eine Lebensform an, die gleichsam ber sublimierten Leidenschaften schwebt.
Nietzsches Selbstvergleich mit Pascal Nach dem Zyklus von Menschliches, Allzumenschliches ndern sich die Prioritten schnell: berreizung bleibt eine echte Gefahr, das Nachlassen von Spannung scheint aber nicht minder bedenklich. Gemß dem delphischen Gebot „,Nicht zu sehr!“ (lgd³m %cam) wird auch in Morgenrçthe vor einer „allerhçchsten Anspannung“ der eigenen Krfte eindringlich gewarnt: Sie ist eigentlich „zu viel Spannung“.10 Der Mensch darf also keinen unerfllbaren Idealen und unerreichbaren Zielen nachgehen, selbst wenn er nur durch diese seine Leistungsgrenzen erreichen mag. Diese Mahnung, ein bermaß an Spannung zu vermeiden, koexistiert jedoch mit anderen Desiderata: Morgenrçthe kndigt eine neue und unbekannte Leidenschaft an, die Leidenschaft der Erkenntnis, die zur Passion geworden sei oder gesteigert werden solle. Um Abkhlung geht es insofern nicht mehr. Zwar muss Wissenschaft rauschhafte illusorische Machtgefhle bekmpfen und hat insofern eine hnliche Aufgabe wie in Menschliches, Allzumenschliches, sie muss aber zugleich dazu beitragen, eine neue Spannung aufzubauen. 10 „,Nicht zu sehr! – Wie oft wird dem Einzelnen angerathen, sich ein Ziel zu setzen, das er nicht erreichen kann und das ber seine Krfte geht, um so wenigstens Das zu erreichen, was seine Krfte bei der allerhçchsten Anspannung leisten kçnnen! Ist diess aber wirklich so wnschenswerth? Bekommen nicht nothwendig die besten Menschen, die nach dieser Lehre leben, und ihre besten Handlungen etwas bertriebenes und Verzerrtes, eben weil zu viel Spannung in ihnen ist? Und verbreitet sich nicht ein grauer Schimmer von Erfolglosigkeit dadurch ber die Welt, dass man immer kmpfende Athleten, ungeheure Gebrden und nirgends einen bekrnzten und siegesgemuthen Sieger sieht?“ (M, KSA 3, 325 f.)
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Diese Umorientierung hngt auch mit einem neuen Blick auf die christliche „Spannung des Gefhls“ zusammen.11 In seiner Denkwerkstatt, den Notizheften jener Zeit, versucht Nietzsche nmlich, seine neue Leidenschaft in Auseinandersetzung mit historischen Vorbildern fr Spannung schrfer zu konturieren – und insbesondere mit Pascals „unerhçrtesten Spannungen“ (NF, KSA 9, 372). Er sieht nun in der christlichen Spannung zwar weiterhin ein pathologisches Syndrom, zugleich aber auch einen „der grçßten Kraftversuche der Menschheit“ und damit etwas, was er sogar bei den geliebten Griechen zu vermissen scheint: Die Spannung zwischen dem immer reiner und ferner gedachten Gott und dem immer sndiger gedachten Menschen – einer der grçßten Kraftversuche der Menschheit. Die Liebe Gottes zum Snder ist wundervoll. Warum haben die Griechen nicht eine solche Spannung von gçttlicher Schçnheit und menschlicher Hßlichkeit gehabt? Oder gçttlicher Erkenntniß und menschlicher Unwissenheit? […]. (NF, KSA 9; 287 f.)
Diese Fragen werden an anderer Stelle beantwortet. Auch die Griechen weisen eine extreme Spannung auf, jedoch nicht dieselbe: „Der Christ lebt zwischen der grçßten Spannung von Selbstverachtung u. Stolz – der Grieche zwischen der grçßten Spannung von Neid u. Freundschaft (Achill).“ (KGW, V 3, 76) „Spannung“ beinhaltet hier wie dort (auch) ein Moment wirklicher Kraft und Energie: „Die Energie der Spannung (zwischen Liebe und Haß) nie grçßer als bei Chr ihr Haß odium generis humani mehr als alles M.“ (NF, KSA 9, 205) Gerade wegen dieser „Energie“ muss Nietzsche zur Zeit der Morgenrçthe den Gegensatz zwischen freiem Geist (sich selbst) und Christentum neu formulieren; dabei muss er die eigene berlegenheit in Frage stellen. „Unsere Maaßstbe nach dem Christenthum: nach jenem unerhçrten Sich-ausspannen aller Muskeln und Krfte unter dem hçchsten Stolze sind wir alle verurtheilt, die Schwcheren Geschwchteren darzustellen.“ (NF, KSA 9, 375) Auf die eigene Schwche schließt Nietzsche hier vor allem deshalb, weil er sich mit Pascal vergleicht: „Freilich: ein Ideal, die Menschen der Welt und sich selber entreißen, macht die unerhçrtesten Spannungen, ist ein fortgesetztes Sichwidersprechen im Tiefsten, ein seliges Ausruhen ber sich, in der Verachtung alles dessen, was ,ich heißt.“ (NF, KSA 9, 372) Nietzsche sieht die Quelle von Pascals Kraft in dem (imaginren) Verhltnis zwischen hassenswrdigem Ich (moi hassable) und 11 Dieser Abschnitt beruht auf Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, insbes. S. 201 ff.
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liebenswertem Gott. Nietzsche, der etwa die Erfahrung einer Vereinigung mit Gott als berhçhtes Selbstwertgefhl auffasst, deutet die Spannung von „menschlicher Hsslichkeit“ und „gçttlicher Schçnheit“ (NF, KSA 9, 288) als „Spannung von Selbstverachtung und Stolz“ (M, KSA 3, 68). So ist auch Pascals Spannung zwischen „der Verachtung alles dessen, was ,ich heißt“, und dem seligen „Ausruhen ber sich“ (NF, KSA 9, 372) eine zwischen Selbstverachtung und „dem hçchsten Stolze“ (NF, KSA 9, 375).12 Zumeist allerdings deutet Nietzsche 1880 den bergang vom „Sndenund Verworfenheitsgefhl“ zur „Wiederherstellung eines ungeheuren Hochmuthes“ nicht als Spannung, sondern als „Sprung von der Tiefe in die Hçhe“ (NF, KSA 9, 143) mit einem unweigerlichen Rckfall von der Hçhe rein illusorischer, rauschhafter Machtgefhle in ein noch tieferes Gefhl der Ohnmacht: Der spte Nietzsche sieht hier ohne Umschweife „eine 12 Nietzsches Beschreibung der Pascalschen Spannung entspricht der Gliederung der Gedanken in der von ihm benutzten Ausgabe, die Elend und Seligkeit des Menschen jeweils einen Teil widmet: „Elend des Menschen ohne Gott oder daß die Natur durch die Natur selbst verderbt ist“ und „Seligkeit des Menschen mit Gott oder dass es eine Erlçsung durch die Schrift gibt“ (Blaise Pascal, Gedanken, Fragmente und Briefe nach der Ausgabe P. Faug re s. Deutsch von Dr. C. F. Schwartz, 2. Aufl., 2 Bde., Leipzig 1865 (BN), Bd. 2, S. 23, 93). Zur Grçße heißt es hier etwa: „Es bedarf Gedanken der Niedrigkeit, nicht der natrlichen, sondern einer solchen, welche aus der Reue stammt, um von ihnen zur Grçße berzugehen.“ (Blaise Pascal, Gedanken, Fragmente und Briefe nach der Ausgabe P. Faug re s. Deutsch von Dr. C. F. Schwartz, 2. Aufl., 2 Bde., Leipzig 1865 (BN), Bd. 2, S. 76). Nietzsche liest Pascal, bei dem die „Widersprche“, „die zwei Naturen in uns“, Grçße und Elend des Menschen wirklich ein zentrales Thema sind, gegen den Strich. Pascal warnt vor Hochmut und Verzweiflung. Er spielt sie gegeneinander aus: Die (stoischen) Philosophen, die nur an die eigene Hçhe denken und sich selbst berschtzen, will er an das Elend des Menschen erinnern, die libertins, die nur das Niedrige sehen, an die ,Grçße des Menschen. Mit dem Hochmut fllt bei Pascal nur die philosophische Gotteserkenntnis zusammen, die das Elend des Menschen ausblendet, nicht die christliche, der die menschliche Unzulnglichkeit klar bewusst ist. Anders als Nietzsche strebt der franzçsische Denker hier keine Spannungssteigerung an, sondern will auf eine richtige Mitte hinweisen und auf die Mçglichkeit, beiden Extremen zu entgehen: Christus ist der Vermittler, im Verhltnis zu dem der Mensch weder hochmtig sein darf noch verzweifeln muss. (Nach den „vermittelnden Brcken zwischen zwei solchen Klften“ fragt brigens der Schluss des zitierten Notats (NF, KSA 9, 288)). „La connaissance de Dieu sans celle de sa mis re fait l orgueil. La connaissance de sa mis re sans celle de Dieu fait le dsespoir. La connaissance de Jsus-Christ fait le milieu, parce que nous y trouvons et Dieu et notre mis re.“ (Blaise Pascal, Penses, Texte tabli par Lon Brunschvicg, Paris 1976, S. 192 f.) „Jsus-Christ est un Dieu dont on s approche sans orgueil et sous lequel on s abaisse sans dsespoir.“ (Blaise Pascal, Penses, Texte tabli par Lon Brunschvicg, Paris 1976, S. 193)
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folie circulaire zwischen Busskrampf und Erlçsungs-Hysterie!“ (EH, KSA 6, 374; vgl. AC, KSA 6, 230 ff.; NF, KSA 13, 365). Anders als hier scheint das Verhltnis von Selbstverachtung und Stolz, wenn es wie Pascals „fortgesetztes Sichwidersprechen im Tiefsten“ unter den Spannungsbegriff subsumiert wird, auch ein Moment echter Kraft, Energie, vor allem Selbstbeherrschung zu beinhalten. „Vergleich mit Pascal: haben wir nicht auch unsere Strke in der Selbstbezwingung, wie er? Er zu Gunsten Gottes, wir zu Gunsten der Redlichkeit?“ (NF, KSA 9, 372) In diesem Vergleich will Nietzsche seine Leidenschaft der Redlichkeit mit Pascals Passion messen und im Allgemeinen mit dem christlichen Ideal. Alles dreht sich um das Problem der Selbstbeherrschung, weil hier zwei passions dominantes im Sinne Stendhals (aber schon der franzçsischen Moralistik und noch Taines) verglichen werden sollen. Der Vergleich soll entscheiden, ob auch Nietzsches neue Leidenschaft, die Redlichkeit, wirklich im selben Grad ber die anderen Affekte herrscht wie Pascals Passion fr Gott. Nun, eine herrschende Leidenschaft – Strke und Selbstbezwingung – schreibt er auch sich selbst zu, aber er muss eingestehen: „[U]nsere Kraft auf einmal ist geringer“ (NF, KSA 9, 372). Allerdings soll dies durch Nietzsches „Kraft der Dauer“ (NF, KSA 9, 372) ausgeglichen werden. Pascals Passion, meint Nietzsche, tritt momentan in hçchster Intensitt auf und verbraucht sich schnell, das Machtgefhl ist hier auch illusorisch, die Strkung durch die christliche Religion auch ein „Phantasie-Effekt“ (NF, KSA 9, 376). Der Vergleich fllt also alles in allem nicht unbedingt zu Gunsten Pascals aus. Es scheint Nietzsche nicht unmçglich, den Vergleich mit dem Christentum durch „etwas berbietendes […] eine Entsagung und Strenge“ (NF, KSA 9, 376) fr sich, fr seine neue und unbekannte Leidenschaft zu entscheiden. Die „nachchristlichen“ Generationen sind ihm zufolge dazu verurtheilt, die Schwcheren Geschwchteren darzustellen: es sei denn, daß wir eine unerhçrte Art von Mnnlichkeit gewinnen, welche diesen Zustand der menschlichen Erniedrigung noch stolzer als das Christenthum zu tragen wßte. Kann hierzu uns nicht die Wissenschaft dienen? Wir mssen dem Phantasie-Effekt des Christenthums fr die edelmthigen Naturen etwas berbietendes entgegenstellen – eine Entsagung und Strenge! (NF, KSA 9, 376)
Worin soll also die erhoffte neue Spannung bestehen? Die Polaritt ist nicht neu, es geht weiterhin um Selbstverachtung und Stolz. Die Wissenschaft fgt dem Menschen die bekannten „narzisstischen Krnkungen“ zu. Die Frage ist also vor allem, ob sie dem Menschen ein neues Selbstwertgefhl vermitteln kann, damit wir diesen „Zustand der menschlichen Er-
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niedrigung“ „stolzer“ tragen kçnnen. Schon in seinem „Evangelium“ von 1875 sah Nietzsche in der Synthese von Selbstverachtung und Selbstliebe nicht nur Christus Lebensform, sondern auch ein mçgliches zeitgemßes skulares Ideal.13 Der Vergleich mit Pascal Anfang der 80er Jahre, der also eher eine Auseinandersetzung mit dem eigenen frheren Ideal und dessen Abwandlung ist als eine vertiefte Pascal-Exegese, dreht sich weiterhin um dieses Verhltnis von Selbstherabsetzung und Stolz – sowohl im historischen Christentum als auch in der knftigen Wissenschaft. Nietzsche, und das unterscheidet diese Reflexionen von dem „Evangelium“, versteht jenes Verhltnis nun aber nicht mehr schopenhauerianisch, sondern als energetische Spannung. So dreht sich hier die Auseinandersetzung mit Pascal im besonderen und mit dem Christentum im allgemeinen um die Frage nach der Kraft, nach der Spannung der Seele. Der Kraftvergleich wird hier erstmals zentral, eine Entscheidung ist offenbar noch nicht gefallen, und von der eigenen berlegenheit kann Nietzsche nun nicht mehr ausgehen. Der Vergleich mit Pascal ist nicht nur ein persçnlicher, es geht um ein allgemeines historisches Ereignis: Wollen die „nachchristlichen“ Generationen nicht „die Schwcheren Geschwchteren“ darstellen, mssen sie reagieren, d. h., ihre Kraft steigern. hnliches wird dann auch Die frçhliche Wissenschaft verknden und hier insbesondere der ,tolle Mensch: Diese Vorarbeiten zu Morgenrçthe bilden den ursprnglichen Kern und enthalten bereits die Absicht von dessen Botschaft „Gott ist tot“.14
Die Kunst, den Bogen abzuspannen Noch einige Jahre spter beruft sich Nietzsche auf Pascal, in dem er weiterhin „das herrliche Anzeichen“ einer „furchtbaren Spannung“ (NF, KSA 11, 475) sieht.
13 Vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/ New York 1997, insbes. S. 3 ff. und Marco Brusotti, Kern und Schale. Wissenschaft und Untergang der Religion bei Nietzsche, in: Carlo Gentili / Cathrin Nielsen, Der Tod Gottes und die Wissenschaft. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches, Berlin/New York 2010, S. 67 – 81. 14 Vgl. Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/ New York 1997, S. 385 ff.
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Als Noth empfand ihn [den Geist; MB] zum Beispiel Pascal: aus seiner furchtbaren Spannung heraus erfand dieser tiefste Mensch der neueren Zeit sich jene mçrderische Art von Lachen, mit welcher er die Jesuiten von damals todt lachte. Vielleicht fehlte ihm nichts als Gesundheit und ein Jahrzehend von Leben mehr […] um sein Christenthum selbst todtzulachen. (NF, KSA 14, 346)
Pascal wre, htte er lnger und ,sdlicher gelebt, gleichsam zu Nietzsche geworden! Aus seiner furchtbaren Spannung heraus htte auch er gelernt, ber sich selbst und ber das Christentum im Ganzen zu lachen, nicht nur ber die Jesuiten. Mit diesem Hinweis auf Pascal schließt noch in dem Druckmanuskript die Vorrede zu Jenseits von Gut und Bçse. Diesen Schluss hat Nietzsche jedoch spter gestrichen. Die endgltige Fassung weist weiterhin auf Pascals Gegner, auf die Jesuiten, hin, erwhnt Pascal jedoch nicht. Nietzsche selbst tritt nun an seine Stelle. […] Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verstndlicher und fr s ,Volk zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden […] hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europische Mensch empfindet diese Spannung als Nothstand; und es ist schon zwei Mal im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch den Jesuitismus, zum zweiten Mal durch die demokratische Aufklrung: Aber wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir guten Europer und freien, sehr freien Geister – wir haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel….. (JGB, KSA 5, 12 f.)
In der frheren Fassung sieht Nietzsche in sich selbst den Erben Pascals, des Denkers, der fr ihn die hçchste Spannung verkçrpert. Hier dagegen beansprucht er fr sich und seine freien Geister ein anderes Erbe: nicht Pascals Spannung, sondern diejenige, die aus dem Kampf gegen das Christentum hervorgegangen ist. Aber Pascals Kampf gegen die Jesuiten, auf den die Vorrede noch im Druckmanuskript hinauslief, ist – immer unter dem Vorzeichen der Spannung – weiterhin das Vorbild. Wie Pascal die „Jesuiten von damals“ will Nietzsche nun den zeitgençssischen gelehrten „Jesuitismus der Mittelmssigkeit“ angreifen, welcher an der Vernichtung des ungewçhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber! – abzuspannen sucht. Abspannen nmlich, mit Rcksicht, mit schonender Hand natrlich –, mit zutraulichem Mitleiden abspannen: das ist die eigentliche
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Kunst des Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens einzufhren. – (JGB, KSA 5, 134)15
Der Jesuitismus, in wçrtlichem und in bertragenem Sinn, steht also fr die „versuchten Entspannungen“ (NF, KSA 11, 475), fr die Versuche, „jeden gespannten Bogen […] abzuspannen“, d. h. den großen Menschen zu verhindern oder um seine Grçße zu bringen.
Die „hçchste Spannung der Vielheit von Gegenstzen“: das Schçne und das Erhabene „Das, was ich Pathos der Distanz nenne, ist jeder starken Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur hnlichkeit.“ (GD, KSA 6, 136 ff.)16 Im Pathos der Distanz, dem leidenschaftlichen Zustand einer „starken Zeit“, bewltigt die „Spannkraft“ die „Spannweite“ zwischen weit auseinander liegenden Extremen. Heute aber nehmen Spannkraft und Spannung/Spannweite synchron ab. Ist diese allgemeine Abspannung die Gefahr? Oder eher, dass die Spannungen die Spannkraft berfordern, also berspannung? Wesentlich ist fr Nietzsche, dass die „Spannkraft“ abnimmt. Dem Missverhltnis zwischen Spannkraft und Spannungen soll nun weniger durch den Abbau von Spannungen als vielmehr durch Erhçhung der Spannkraft abgeholfen werden; die Spannungen der Gegenstze, die diese Spannkraft dann „zur Einheit“ fhren soll, nehmen dabei eher zu. Zur Zeit der Morgenrçthe hatte sich Nietzsche jeweils auf einzelne kulturell vorgegebene Gegenstze konzentriert: vor allem auf die Spannung zwischen Selbstverachtung und Stolz im Christentum, aber auch auf diejenige zwischen Neid und Freundschaft in der griechischen Antike. Eher als um derlei einfache Polaritten geht es ab dem „Zarathustra“Nachlass um Spannung im Plural: „Das Wesentliche ist: die Grçßten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegenstze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegenstze, und aus deren Gefhle, gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht.“ (NF, KSA 11, 515) So ist „die Spannung der Gegenstze“ „die 15 Zur „Spannung der Seele“ vgl. JGB, KSA 5, 160 f.; vgl. auch NF, KSA 12, 1, 50. 16 Ein Notat hatte wiederum festgestellt: „[D]ie kritische Spannung: die Extreme kommen zum Vorschein und bergewicht.“ (NF, KSA 12, 410)
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Vorbedingung fr die Grçße des Menschen“: Die Großen kçnnen die „Vielfachheit der Elemente“ und die wachsende „Spannung der Gegenstze“ aushalten, an der die „gewçhnlichen Menschen“ „zu Grunde“ gehen (NF, KSA 12, 520). Nicht zuletzt Nietzsches Eingestndnis des eigenen Scheiterns kann man entnehmen, dass nur derjenige, der dieser Spannung Herr wird, die ewige Wiederkehr bejahen kann: „Ich will keinen Tag von den 3 letzten Jahren zum zweiten Male durchleben, Spannung und Gegenstze waren zu groß!“17 Spannkraft, Spannung und Gegenstze nehmen nicht nur in der „Zarathustra“-Zeit die Zge des Extremen, bermenschlichen an. Nietzsches ambitioniertes „Ziel“ ist, „die hçchste Spannung der Vielheit von Gegenstzen zur Einheit zu bringen“ (NF, KSA 10, 547).18 Da die Spannweite zwischen den Gegenstzen extrem sein muss, reicht es nicht, zwischen Ab- und berspannung ein richtiges Maß zu finden. Wenn es ein richtiges Maß an Spannung gibt, dann nur fr sehr spannkrftige Menschen, weil die gewçhnlichen, und nur sie, entweder keine Spannweite zwischen den Gegenstzen aufweisen oder an den Gegenstzen zerbrechen. Ist aber die Spannung, die große Menschen aushalten, nur insofern eine extreme, als sie die gewçhnlichen berfordern wrde? Whrend die Großen keine fr sie extreme Spannung auszutragen haben? Sollen ihre Kraft zwar „in Spannung“ gehalten,19 ihre Grenzen 17 Nietzsche an Franz Overbeck, Anfang Dezember 1885 (KGB III/3, Bf. 649). 18 „Spannung der Gegenstze ist fr die Entstehung jeder strkeren Empfindung nçthig.“ (NF, KSA 8, 143) In diesem Exzerpt vom Sommer 1875 aus dem Werth des Lebens geht es wie bei Dhring v. a. um den bergang von einem Gefhl zum anderen, denn „[e]s wird wesentlich nur die Vernderung empfunden“, und „[n]ach den Vernderungen trachtet die Lust am Leben“ (NF, KSA 8, 143). Dhrings Bekenntnis zur „gegenstzlichen Spannung“ als Vorbedingung „jeder strkeren Erregung“ (Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung, Breslau 1865, S. 30) hat zuletzt eine antipessimistische, antischopenhauersche Valenz: Die „Differenz“ ist „das Grundgesetz jeder Bewußtseinssteigerung“ (Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung, Breslau 1865, S. 30), und es geht um die „Vernderungen […], die das Bewusstsein zu jener hçhern Energie steigern, nach welcher die Lust am Leben trachtet.“ (Eugen Dhring, Der Werth des Lebens. Eine philosophische Betrachtung, Breslau 1865, S. 28) Nietzsche beschrnkt sich beim Abschreiben des Satzes im wesentlichen auf eine stilistische Korrektur, aber er bekennt sich damals noch zu Schopenhauer, und die Spannung der Gegenstze wird bei ihm erst spter zu einem Hauptthema. – Zu den Gegenstzen bei Nietzsche vgl. Wolfgang MllerLauters klassische Monographie, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegenstze und die Gegenstze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971. 19 „Alle großen Menschen waren durch die Strke ihrer Affekte groß. […] Große Affekte concentriren und halten die Kraft in Spannung.“ (NF, KSA 9, 469)
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jedoch nicht wirklich ausgetestet werden? Gesetzt, „die hçchste Spannung der Vielheit von Gegenstzen“ wird endlich „zur Einheit“ (NF, KSA 10, 547) gebracht, wie viel Spannung darf dann letztere kennzeichnen? Zeigt noch diese „Einheit“ „die hçchste Spannung“? Nietzsches sthetik verlangt eher, dass die Spannung dann so weit berwunden bzw. gebndigt ist, dass sie aus der Sichtbarkeit verschwindet. „Schçnheit“ ist deshalb fr den Knstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schçnheit Gegenstze gebndigt sind, das hçchste Zeichen von Macht, nmlich ber Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: – daß keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswrdigste Miene macht – das ergçtzt den Machtwillen des Knstlers. (NF, KSA 12, 258)
Nietzsche knpft an die traditionelle Verbindung des Erhabenen mit Spannung und des Schçnen mit Entspannung an. Sichtbare Spannung kennzeichnet das Erhabene im Unterschied zum Schçnen und die Wrde im Unterschied zur Anmut. (Die „Schçnheit“ trgt in der zitierten Aufzeichnung Zge der „Anmut“.) Nietzsche trennt Ethik und sthetik nicht: Dieselben Argumente sollen das Erhabene als sthetische Kategorie und die Ethik der „Erhabenen“ treffen. Wie erlutert, nimmt Nietzsche die Argumente wieder auf, mit denen in der Antike die stoische Haltung als eine berspannte zurckgewiesen wird. Whrend er in der Beschreibung der Großen antike, etwa stoische Bilder z. T. bersteigert, variiert seine Darstellung der nicht so Großen, etwa der „hçheren Menschen“, oft die klassische Kritik stoischer berspanntheit. Getroffen werden unterschiedliche, auch entgegengesetzte Typen: wrdevolle Weise und tragische Helden, stoische Selbstbeherrschung und romantische Schwrmerei. Die „Erhabenen“, die „gespannten Seelen“, die Zarathustra nicht mag, sind wiederum eher die „Bsser des Geistes“, deren Zge nicht zuletzt an den Nietzsche der „mittleren Periode“ erinnern. Wie ein Tiger steht er immer noch da, der springen will; aber ich mag diese gespannten Seelen nicht, unhold ist mein Geschmack allen diesen Zurckgezognen. […] Mit lssigen Muskeln stehn und mit abgeschirrtem Willen: das ist das Schwerste euch Allen, ihr Erhabenen! […] Diess nmlich ist das Geheimniss der Seele: erst, wenn sie der Held verlassen hat, naht ihr, im Traume, – der ber-Held. (Za, KSA 4, 150 ff.)
Diesen berspannten, beranstrengten „Erhabenen“ fehlt also die Fhigkeit, „[m]it lssigen Muskeln [zu] stehen“, die gçttliche Leichtigkeit und Gelassenheit. So verstanden ist schon hier wie dann in Ecce homo gerade die Freiheit von Spannung, das Fehlen jeder Nervenanspannung, das Spielerische, ein Anzeichen von Grçße. Wie in Morgenrçthe der Apho-
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rismus „Nicht zu sehr!“ dem souvernen Sieger gegenber dem (noch) kmpfenden Athleten den Vorzug gibt, so Zarathustra dem „ber-Held[en]“ (dem Gott) gegenber dem „Helden“, dem Schçnen gegenber dem Erhabenen und dem Komischen (der Parodie) gegenber dem Tragischen.
Explosive Spannungen Mit dem Bild des Bogens ist eine zweifache Metaphorik verbunden: Neben den Zustand – der Bogen kann abgespannt, straff, berspannt sein – tritt die Verwendung; mit einem straffen Bogen kann man „nach den fernsten Zielen“ schießen (JGB, KSA 5, 13). Da der „letzte Mensch“, der auch der kleinste ist, ein endgltig abgespannter Bogen ist, warnt Zarathustra vor der „Zeit, wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht ber den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat, zu schwirren!“ (Za, KSA 4, 19). Der Schtze spannt zuerst den Bogen, baut also eine Spannung auf, und entldt sie dann auf ein Ziel hin. An sich wrde sich das Schießen dadurch von eher richtungslosen Ereignissen wie „Gewitter“ und „Explosion“ unterscheiden, aber Nietzsche ist weit davon entfernt, die Richtungslosigkeit letzterer immer zu betonen (vgl. etwa AC, KSA 6, 169), vor allem wenn es um die Großen geht. Auch „Gewitter“ und „Explosion“ sind Gleichnisse fr die Entladung von Spannung, fr die „Auslçsung“ von Krften, wie es bei Nietzsche heißt. Vor dem Sturm steigt die Spannung, die Natur verfinstert sich (d. h., man wird verstimmt, missmutig, melancholisch), bis endlich das erlçsende Gewitter kommt, d. h., bis endlich die gestauten Krfte „in Blitzen und Thaten explodieren“ (NF, KSA 13, 20).20 Ihr Explodieren zeigt, dass das Gewitter- eine Variante des Explosions-Modells ist, mit dem Nietzsche es vielfach kombiniert. In beiden wird Spannung auf akkumulierte Krfte zurckgefhrt: Sie harren gleichsam einer Entladung, einer manchmal explosiven „Auslçsung“ durch einen oft zuflligen Reiz, der im Vergleich zu der von ihm „,ausgelçsten“ Wirkung verschwindend klein sein kann. So werden auch kulturelle Phnomene gedeutet: Dem spten Nietzsche kommt es darauf an, wie durch seine vorbereitenden Schriften „eine 20 „Zu gross war die Spannung meiner Wolke: zwischen Gelchtern der Blitze will ich Hagelschauer in die Tiefe werfen.“ (Za, KSA 4, 107; vgl. NF, KSA 10, 415 f.) „Meine Weisheit sammlet sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller und dunkler. So thut jede Weisheit, welche einst Blitze gebren soll. –“ (Za, KSA 4, 360)
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wirkliche Spannung geschaffen“ (An Constantin Georg Naumann, KGB III/5, Bf. 1139) werden kann, und er beschreibt Modernitt, Nihilismus, Gefhl der Sinnlosigkeit als einen Spannungszustand, fr den es noch keine absehbare Entladung zu geben scheint (vgl. AC, KSA 6, 169). Jede Lehre ist berflssig, fr die nicht Alles schon bereit liegt an aufgehuften Krften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwerthung von Werthen wird nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedrfnissen, von Neu-Bedrftigen da ist, welche an der alten Werthung leiden, ohne zum Bewusstsein zu kommen, – – –. (NF, KSA 12, 375 f.)
Auf diese Spannung wirkt die neue Lehre wie ein auslçsender Reiz: „Aus dem Druck der Flle, aus der Spannung von Krften, die bestndig in uns wachsen und noch nicht sich zu entladen wissen“, „die bis zur Qual zusammengedrngt und gestaut“ sind, befreit eine Lehre, die „Kraft auslçst“, eine Lehre, durch die „den aufgehuften Krften ein Weg, ein Wohin gezeigt wird“, „so daß sie in Blitzen und Thaten explodieren“ (NF, KSA 13, 20). Wenn diese Spannung zu einer Umwertung aller Werte wirklich nçtig ist, ist die Lehre selbst dann nicht bloß ein unbedeutender, zuflliger Auslçser? Und mit ihr der entsprechende Philosoph, also Nietzsche selbst? Das Auslçsungstheorem scheint diese unwillkommene Folgerung zu enthalten. 1881, als Nietzsche sich fr Julius Robert Mayers AuslçsungsModell zu interessieren beginnt, benutzt er die Idee eines Missverhltnisses zwischen (geringfgigem) Reiz und (gewaltiger) Reaktion auch, um vermeintliche Grçße zu entlarven. „Religionsstifter“ etwa kçnnen „unbedeutende […] Menschen“ gewesen sein; aber „die Kraft war angesammelt und lag zur Explosion bereit!“ Unter dieser Bedingung musste es auch bei einem unbedeutenden, zuflligen Reiz notwendig zu „großen KraftAuslçsungen“ kommen (NF, KSA 9, 492; Vgl. etwa auch NF, KSA 11, 121 ff.). Der Religionsstifter selbst muss also nicht unbedingt eine ungeheure Kraft besessen haben, er war gleichsam der zufllige auslçsende Reiz, er setzte aufgestaute Krfte frei, die irgendwann irgendwie explodieren mussten. Wenn man ihn einen großen Menschen nennt oder ihm ungeheure Krfte attestiert, verwechselt man das Streichholz mit dem Pulverfass. Nietzsche macht die (boshafte und ungerechte) Nutzanwendung auf Mayer selbst, den Dhring als den Galilei des neunzehnten Jahrhunderts gefeiert hatte. Mayers „Entdeckung“ sei wie „vorbereitet“ gewesen, und sein „Talent“ sei „zufllig“ gerade an jenem Punkte „thtig“
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geworden: Dass er „zu ungemeinen Resultaten“ gekommen sei, sei also „noch kein Beweis fr ungemeine Kraft“ (NF, KSA 9, 492).21 Der einzelne, auch wenn er große Wirkungen hervorbringt, setzt lediglich Krfte frei, die in seiner Umgebung, in seiner Zeit bereitliegen; weder muss er besondere Krfte haben noch sich der prgenden Einwirkung seiner Zeit entziehen oder widersetzen. (Wiederum bleibt mçglicherweise gerade „der Große“ wirkungslos, weil er mit „den vorhandenen zur Explosion bereiten Elementen“ nicht zeitlich zusammentrifft und so „auf die Zeit keinen ,Reiz ben“ kann (NF, KSA 9, 542).) Damit gert das Argument, mit dem Nietzsche 1881 vermeintliche Grçße hinterfragen mçchte, in gefhrliche Nhe zu einer Theorie, die er 1888 als „eine wahre Neurotiker-Theorie“ strikt zurckweist, und zwar zu der im franzçsischen Naturalismus hçchst populren „Theorie vom milieu“, die im Individuum bzw. im Kunstwerk das Resultat seiner historischen, kulturellen und sozialen Umgebung erblickt. In einem Aphorismus der Gçtzendmmerung setzt Nietzsche jedoch das Auslçsungsmodell gerade gegen diese Theorie ein: Auch hier geht es darum, die ungeheure welthistorische Wirkung eines einzelnen zu erklren. 1881 kam es aber gerade darauf an, dass ein an sich nicht besonders 21 Zum „großen Erkennenden“ gehçre anderes, etwa „das Beherrschen“ und „das Unificiren“ „großer Massen“ von Wissen sowie „das mit neuem Auge Ansehn des Alten“ (Za, KSA 4, 360). Mit der Bemerkung, Mayer sei „ein grosser Spezialist – und nicht mehr“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 213), distanziert sich Nietzsche von Dhring, aber auch von Kçselitz, der bei einem negativen Urteil ber Dhrings Buch sich zu Mayers Schriften sehr positiv ußert (vgl. KGB, III/2, Bf. 57), und von seiner eigenen frheren Stellungnahme. Gerade in der Wrdigung von Mayers Werk hatten vielleicht zum ersten Mal die Ausdrcke ,frçhlich und ,wissenschaftlich zueinander gefunden: In diesem „herrlichen schlichten und frçhlichen“ Buch gebe es „eine Harmonie der Sphren zu hçren: eine Musik, die nur fr den wissenschaftlichen Menschen bereitet ist“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 103). – In Mayers „ber Auslçsung“ kommt der Spannungsbegriff nicht vor. Dhring verwendet ihn, wenn er von Mayers Einlieferung in verschiedene psychiatrische Heilanstalten berichtet und in diesem Zusammenhang das Ressentiment als krankhafte Auslçsung deutet (vgl. Eugen Dhring, Robert Mayer, der Galilei des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Einfhrung in seine Leistungen und Schicksale, Chemnitz 1880). – Nietzsche verwendet den Auslçsungsbegriff bereits vor der Mayer-Lektre (vgl. dazu Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 56 ff. und zu einer Bibliographie, Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, Anm. 56.).
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bedeutender Mensch, der zufllig im richtigen Augenblick am richtigen Ort war, mit einem großen Menschen verwechselt wurde. Im Aphorismus „Mein Begriff vom Genie“ will Nietzsche dagegen das umgekehrte Missverstndnis abwehren: Es geht hier nmlich um den echten Grossen, und dieser muss mehr sein als lediglich ein Auslçser, als ein gleichsam zuflliger Reiz. Gegen die Theorie des Milieus muss das Auslçsungsmodell anders angewendet werden. Der Unterschied zu den Betrachtungen von 1881 besteht in einer scheinbar kuriosen Idee: Der große Mensch ist nicht lediglich das Streichholz, sondern der Sprengstoff selbst. Die ungeheure Kraft, die er zum Explodieren bringt, liegt nicht irgendwie herum, in seiner Umgebung oder in seiner Zeit, sondern ist in ihm selbst „aufgehuft“. Mein Begriff vom Genie. – Grosse Mnner sind wie grosse Zeiten ExplosivStoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehuft, gespart und bewahrt worden ist, – dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so gengt der zuflligste Reiz, das „Genie“, die „That“, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an „Zeitgeist“, an „çffentlicher Meinung“! […]. (GD, KSA 145)
Race, milieu und moment sind die drei Faktoren, durch die Taine historische Tatsachen und Persçnlichkeiten wissenschaftlich erklren will. Bei Taine bilden sie den ußeren Druck, gegen den die innere Veranlagung Widerstand leisten muss: Historische Individuen sind gleichsam die Resultante dieser zwei entgegengesetzen Krfte, der „pression du dehors“ und des „ressort du dedans“. Allerdings tendiert die Bedeutung des letzteren fr Taine gegen Null, und Individuen scheinen letzten Endes eher mechanische Aggregate jener drei zusammenwirkenden Faktoren. Pointiert kann man sagen, dass der Aphorismus „Mein Begriff vom Genie“ das „Erbgut“ des großen Menschen, insbesondere des von Taine erforschten Napoleon, gegen seine soziale „Umgebung“ und gegen den aktuellen „Zeitgeist“ ausspielt. Von Taines drei determinierenden Faktoren werden also vor allem zwei – die „Umgebung“ und der „Zeitgeist“ – als externe verstanden und in ihrer Bedeutung gegenber der „internen Kraft“ des genialen Individuums relativiert. Nietzsche fhrt das Individuelle, Eigenartige am Großen (Individuum oder Zeit) v. a. auf das zurck, was ihm „historisch und physiologisch“ vererbt wird bzw. er sich von innen her
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angeeignet hat und so als in ihm aufgehufte ungeheure Kraft verstanden werden kann.22 Nietzsches Aphorismus setzt sich stillschweigend mit Taine auseinander, auf den die Theorie des Milieu letztlich zurckgeht, aber nicht nur mit ihm, sondern auch mit anderen, in Henri Jolys Psychologie des grands hommes dargestellten Positionen.23 Im 5. Kapitel „Le grand homme et le milieu contemporain“ betont Joly die „aide puissante que le grand homme sait trouver dans son milieu“,24 die „coopration constante qui unit les efforts du grand homme ceux de ses contemporaines“, kurz ihre langoder mittelfristige bereinstimmung („accord“).25 Nietzsche will nicht erst seit den Unzeitgemssen gerade auf das Gegenteil hinaus. Joly zieht hier als Kontrastfolie, auf der er seine eigene Position profiliert, zwei „thories dterministes“26 heran, die er gleichermaßen ablehnt: Francis Galtons Nietzsche auch anderweitig bekannte Theorie des here-
22 Nietzsche richtet gegen diese „dcadence-Theorie“ (NF, KSA 13, 468), „heute die Pariser Theorie par excellence“ (NF, KSA 13, 468), ein lamarckistisch klingendes Argument: Ihm kommt es darauf an, gegenber den „ußeren Ursachen“ (NF, KSA 12, 154) „die innere Kraft“ aufzuwerten: „Vieles, was wie Einfluß von Außen aussieht, ist nur ihre Anpassung von Innen her.“ (NF, KSA 12, 154) „Gegen die Theorie vom ,milieu. Die Rasse unsglich wichtiger. Das milieu ergiebt nur ,Anpassung; innerhalb derselben spielt die ganze aufgespeicherte Kraft.“ (NF, KSA 12, 306) In diesem Notat wird der erste von Taines drei Faktoren, die race, gegen das milieu ausgespielt. Taine, der Metaphern aus den verschiedensten Naturwissenschaften bereinanderlagert, verwendet alle drei Ausdrcke (race, milieu, moment) ziemlich eigensinnig; und die damalige Rezeption hlt sich oft nicht an die Bedeutung, die er ihnen gibt. Bei Nietzsche steht Taines race fr „die ganze aufgespeicherte Kraft“ (ebd). Diese „ungeheure Kraft“ (GD, KSA 6, 145) wird dann im publizierten Aphorismus Taines weiteren zwei Faktoren gegenbergestellt: dem milieu und dem als „Zeitalter“, „Zeitgeist“ gedeuteten moment. Die biologisch-historisch-kulturelle Vergangenheit (wie bei Taines race gibt es bei Nietzsche zwischen biologischem und historischem keine feste Grenzlinie) wird als den ußeren Faktoren entgegenwirkende innere Kraft gedeutet. 23 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN). Zu Joly als Quelle einiger Fragmente Nietzsches aus dem Herbst 1887 vgl. NF, KSA 14, 741, sowie Giuliano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, Paris 2001, S. 32 f. Campioni macht auch darauf aufmerksam, dass Joly ber James und Galton berichtet. Zu Nietzsches direkter Galton-Lektre vgl. Marie-Luise Haase, Friedrich Nietzsche liest Francis Galton, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 633 – 658. 24 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 113. 25 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 114. 26 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 105.
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ditary genius und interessanterweise William James darwinistisch inspirierte Theorie der Auslese des Genies durch das Milieu. Zu den impliziten Zielscheiben von Nietzsches Aphorismus gehçrt also eine Reihe von Theorien: Das Genie ist durch das Milieu determiniert (Taine), wird durch dieses selektiert (James) oder harmoniert mit ihm (Joly). William James denkt die kulturelle Selektion in Analogie zu Darwins natrlicher Auslese spontaner, individueller Variationen. Das große Individuum stellt eine zufllige Variation dar, deren Schicksal vom Milieu abhngt: „Le milieu l adopte ou le rejette, le prserve ou le dtruit, en un mot le slige.“27 Das Milieu selektiert, d. h., es kann den Großen entweder akzeptieren (und sich ndern) oder ihn ablehnen. In der Gçtzendmmerung ist der Große, das Genie, dagegen weit strker als sein Milieu. James Theorie drfte also kaum Nietzsches Zustimmung gefunden haben. James zufolge sind die großen Menschen zufllige Variationen, die Selektion durch das Milieu dagegen ein Gesetz, also eine harte Notwendigkeit. Nietzsche kehrt James Position in ihr Gegenteil um: „Die grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufllig.“ (GD, KSA 6, 145) Damit nhert sich Nietzsche der anderen von Joly abgelehnten Option: der Gegnerschaft zwischen dem strkeren hereditary genius und seinem schwcheren Milieu. In Jolys Referat gilt fr Galton, „le milieu est indifferent“; „le grand homme“ „fait[] violence aux circonstances“, er „vergewaltigt“ (violente) seine Epoche.28 Der hereditary genius „est forc, […] de se manifester au dehors […]: il clate donc au milieu des vnements contemporains avec cette imptuosit et ce mpris des conditions ordinaires du succ s, que lui attribuaient gnralement les croyants de la Providence ou les partisans de la fatalit.“29 Auch bei Nietzsche „explodiert“ („clate“) das Genie, und die Zge des Ungestmen, Gewaltsamen, Unwiderstehlichen teilt es mit Galtons hereditary genius. Das im 5. Kapitel der Psychologie des grands hommes vorgestellte Theorien-Spektrum – bereinstimmung (Joly), Selektion (James) und Gegnerschaft (Galton) – bildet den Hintergrund: Die Gegnerschaft zwischen dem Genie und seiner Zeit steht bei Nietzsche schon lange fest, und so nimmt seine Theorie den Platz derjenigen Galtons ein. Selbst wenn die Anklnge unberhçrbar sind, darf die inhaltliche bereinstimmung jedoch nicht berschtzt werden: Eher 27 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 109. 28 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 110. 29 Henri Joly, Psychologie des grands hommes, Paris 1883 (BN), S. 106; von Nietzsche an- und unterstrichen.
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als die Familiengeschichte betont Nietzsche – diesmal mit Joly und gegen Galton – die Erbschaft einer ganzen „Civilisation“, und gerade dieser Aphorismus bleibt zwischen physiologischer Vererbung und kulturellem Erbe auffallend zweideutig. Die hier erzhlte Geschichte klingt irgendwie bekannt: Man hat „lange“ „gesammelt, gehuft, gespart“ – Krfte natrlich –, nun kommt der große Mensch, das Genie, und bringt alles mhsam Zusammengesparte zum Explodieren: Er „ist nothwendig ein Verschwender“. Also: Sparen – Spannung – Explosion. Nietzsche findet, es gebe zu wenig Verstndnis fr diese „grosse[] konomie“ – z. B. bei seinem Gewhrsmann, dem konomen Emanuel Herrmann.30 Nietzsche hatte seine Auseinandersetzung mit Herrmann mit der berlegung begonnen, der „Kampf gegen die großen Menschen“ sei „aus çkonomischen Grnden gerechtfertigt“, weil sie „gefhrlich“ seien, gleichsam „Unwetter“; „Grundinstinkt der civilisirten Gesellschaft“ sei deshalb, „[d]as Explosive nicht nur unschdlich zu entladen, sondern womçglich seiner Entstehung vorbeugen“ (NF, KSA 12, 413). Nietzsche will jedoch letzten Endes darauf hinaus, dass in einem spten Zustand, „wenn Kraft genug vorhanden ist“, eine „Cultur der Ausnahme“ doch ihre Berechtigung hat, weil „nunmehr selbst die Verschwendung çkonomisch“ wird (NF, KSA 13, 484 f.). Die Starken verschwenden sich, weil bei ihnen „die bertriebene Spannung“ zu „Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit“ fhrt; dadurch will Nietzsche erklren, „[w]arum die Schwachen siegen“ (NF, KSA 13, 365). Den Zusammenhang zwischen Spannung und Erschçpfung glaubt er Charles Frs ,psychomechanischem Modell entnehmen zu kçnnen: Wenn sich eine bermßige Spannung bildet, ergibt sich eine Entladung, die zuletzt jedoch zu physischer und nervçser Erschçpfung fhrt.31 Nicht 30 Emanuel Herrmann, Cultur und Natur. Studien im Gebiete der Wirtschaft, 2. Auflage, Berlin 1887 (BN). Zu Nietzsches Herrmann-Lektre vgl. Wolfgang Mller-Lauter, ber Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II, Berlin/ New York 1999, S. 173 ff.; zu NF, KSA 13, 365 vgl. Wolfgang Mller-Lauter, ber Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II, Berlin/New York 1999, S. 209 ff. Zu Nietzsches Idee, dass „nunmehr selbst die Verschwendung çkonomisch“ werden kann, vgl. Wolfgang Mller-Lauter, ber Freiheit und Chaos. NietzscheInterpretationen II, Berlin/New York 1999, S. 210, S. 218 ff. 31 „[L]orsque la tension de l nergie potentielle est devenue excessive, il se produit une dcharge […] dterminant un puisement“ (Charles Fr, Sensation et mouvement, Paris 1887, S. 130). Fr konstatiert eine Kurve der Anspannung: „[L]e premier effet de toutes ces excitations sensorielles tait une exagration gnralise de la motilit“, sie fhrt dann aber zur Erschçpfung bis zum hypno-
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nur Frs Patienten sind betroffen, die „Haushaltsprobleme“ sind weit allgemeiner. So auch fr den spten Nietzsche: Bei den Schwachen und bei den Starken mag die tiologie entgegengesetzt sein, aber die Wirkung ist hnlich: Die „bertriebene Spannung“ der Starken hat als Ergebnis „die geistige Stçrung“; „alle großen Zeiten werden bezahlt…“ (NF, KSA 13, 370). Um ein solches „Problem der konomie“ (NF, KSA 13, 370), um den çkonomischen Sinn der Verschwendung, geht es zuletzt auch in „Mein Begriff vom Genie“. Die Gefahr, die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausserordentlich; die Erschçpfung jeder Art, die Sterilitt folgt ihnen auf dem Fusse. Der grosse Mensch ist ein Ende; die grosse Zeit, die Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie – in Werk, in That – ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine Grçsse …. (GD, KSA 6, 145 f.)32
Der Aphorismus fhrt neben der Renaissance ein einziges Beispiel an, ein Genie „in That“, Napoleon, aber es geht auch um das Genie „in Werk“; und Nietzsche sieht in sich selbst ein derartiges unzeitgemßes Genie, das die eigenen Krfte – sich selbst – ausgibt und verschwendet. Auch der Philosoph ist ein „Explosionsstoff“ (EH, KSA 6, 320): „Unser Fatum – das war die Flle, die Spannung, die Stauung der Krfte.“ (AC, KSA 6, 169) Diese Spannung gestauter Krfte wartete auf eine Entladung, deren Zeit jetzt – so gibt das erste Kapitel des Antichrist zu verstehen – mit der Umwertung aller Werte auch gekommen ist.
tischen Schlaf (dazu und zur tension vgl. Charles Fr, Sensation et mouvement, Paris 1887, S. 144). Zu Nietzsches Exzerpten (z. B. NF, KSA 13, 218) vgl. Hans Erich Lampl, Ex oblivione: das Fr-Palimpsest. Noten zur Beziehung Friedrich Nietzsche – Charles Fr (1857 – 1907), in: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 225 – 264; Bettina Wahrig-Schmidt, ,Irgendwie, jedenfalls physiologisch. Friedrich Nietzsche, Alexandre Herzen (fils) und Charles Fr 1888, in: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 434 – 464. Auf den Zusammenhang zwischen den Ergebnissen der Fr- und denjenigen der Herrmann-Lektre weisen weder Lampl und WahrigSchmidt noch Mller-Lauter hin. 32 Der Aphorismus will ein weiteres Missverstndnis bekmpfen: Wer die „Aufopferung“, den „Heroismus“ des Grossen rhmt, bersieht die Unfreiwilligkeit des Geschehens. – Im Nachlass wird der Spannungsbegriff in die Kritik der Willensfreiheit immer wieder einbezogen. Vgl. etwa NF, KSA 10, 268 f.; NF, KSA 13, 54.
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Schluß Im spten Briefwechsel beklagt Nietzsche immer wieder „eine unertrgliche Spannung und Verletzbarkeit“ (An Malwida von Meysenburg, KGB III/5, Bf. 1078); „die schmerzhafte Spannung und Melancholie“ (An Franz Overbeck, KGB III/5, Bf. 998); er fhlt sich „in einem Zustande eines bis zum Springen gespannten Bogens“ (An Franz Overbeck, KGB III/5, Bf. 984). Dieser Befund widerspricht der Selbstdarstellung in Ecce homo, der zufolge er „keinen Zug von Spannung“ aufweist (EH, KSA 6, 297), aber den kontrren Diagnosen liegt derselbe Spannungsbegriff zugrunde, ein negativer, pathologischer. Die Spannung jenes „bis zum Springen gespannten Bogens“ erinnert an den Zustand, vor dem bereits Menschliches, Allzumenschliches gewarnt hatte. „In der Nachbarschaft des Wahnsinns“ hatte Nietzsche eine bedrohliche allgemeine berreizung konstatiert und einen Spannungsabbau fr nçtig befunden, bei dem schwere Einbussen wohl unvermeidlich waren. Der Spannungsabbau schien also ein ambivalenter Prozess, die Prioritten waren jedoch eindeutig. Nach Menschliches, Allzumenschliches ndern sie sich: Die allgemeine berspanntheit bleibt eine echte Gefahr, das Nachlassen von Spannung scheint nun aber nicht minder bedenklich. Die zwei in Menschliches, Allzumenschliches gegenbergestellten Tendenzen – berreizung und Spannungsabbau – scheinen in den spteren Schriften zusammenzuwirken: eine berreizte Zeit, in der Spannung merklich nachgelassen hat. So wird die Erkenntnis nun zwar weiterhin mit Spannungsreduktion im Sinn von Menschliches, Allzumenschliches betraut, aber zugleich soll eine neue Spannung befrwortet und aufgebaut werden. Daher wird es nçtig, unterschiedliche Figuren von Spannung zu unterscheiden. Die Idee einer neuen Spannung zeigt immer wieder die Zge des Extremen, bersteigerten, und jene Figuren werden oft holzschnittartig entweder den Großen/Starken oder den Kleinen/Schwachen zugeschrieben, werden gepriesen oder angeprangert, gefçrdert oder bekmpft. Nietzsches Denkweg nach Menschliches, Allzumenschliches besteht in immer neuen Anlufen, die entsprechenden Mçglichkeiten zu ergrnden. Der vorliegende Beitrag ist diesen Versuchen, ihren Anregungen und Aporien, aber auch ihren Brechungen nachgegangen.
Das grçsste Ereignis Nietzsches narrative Dekonstruktion der Metaphysik
Annemarie Pieper Die Gegenstnde der klassischen Metaphysik haben keinen Ereignischarakter, weil ihnen bergeschichtliche Bedeutung und ewige Prsenz zugesprochen wurde. Was sich ereignet hingegen, wird der Etymologie des Wortes zufolge erugt, ist demnach ein raum-zeitliches, sinnlich erfassbares Geschehen. Um diesen Unterschied zu przisieren, ziehe ich als Beispiel die Sonnenmetapher heran, wie sie einerseits von Nietzsche, andererseits von Platon verwendet wurde. Zarathustra begrßt morgens nach dem Verlassen seiner Hçhle die aufsteigende Sonne mit den Worten: Du grosses Gestirn! Was wre dein Glck, wenn du nicht die httest, welchen du leuchtest! / Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Hçhle: du wrdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange. / Aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen berfluss ab und segneten dich dafr. (Za, KSA 4, 11)
Zieht man zum Vergleich Platons Hçhlengleichnis heran,1 so fllt als erstes die unterschiedliche Lokalisierung der Hçhle auf. Whrend sich Platons Hçhle unter der Erde, in der Tiefe des Erdinneren befindet, hat Zarathustras Hçhle ihren Ort hoch oben im felsigen Gestein des Hochgebirges. Daher muss er nicht wie die platonischen Hçhlenbewohner zur Sonne hinaufsteigen, sondern kann warten, bis sie zu ihm herauf kommt aus der Tiefe. Sie kommt auf ihn zu, und sie will etwas von ihm. Zehn Jahre lang hat er erlebt, dass sie zuverlssig jeden Morgen erschienen und am Abend untergegangen ist. Dabei ist ihm die Vollkommenheit einer Bewegung bewusst geworden, die in regelmßigen Bahnen verluft: ein Bewegungsablauf, in welchem Aufgang und Untergang einander abwechseln, doch nicht linear, sondern zyklisch. Die stndige Wiederholung eines immer gleichen Prozesses sprengt die Vorstellung einer starren Identitt, mit welcher Platon die Sonne als Reprsentantin der Idee des Guten
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Platon, Politeia, 514a ff.
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ausstattete, verflssigt sie gleichsam in einem zeitlichen Nacheinander, das in jedem Augenblick dazu nçtigt, wieder von neuem um Einheit zu ringen. Einen zweiten Unterschied zwischen Platon und Nietzsche bemerkt man, wenn man darauf achtet, wie Zarathustra das Glck der Sonne anspricht. Wird Glck als Vollkommenheit eines gelungenen, in sich geglck-ten Ganzen umschrieben, so ist Platons Sonne ein Ganzes, das von sich aus perfekt ist, in sich vollendet und in seiner Qualitt durch nichts – weder in positiver noch in negativer Hinsicht – zu beeintrchtigen. Diese Sonne ist eine statische, erhabene, unvernderliche Grçße, als solche zwar eine Quelle von Licht und Wrme, die sie jedoch absichtslos verstrçmt, gleichgltig gegenber allem, was an ihrem Licht und ihrer Wrme teilhat. So wie der in seine Selbstbetrachtung versunkene aristotelische Gott sich selbst gengt und der Gott Spinozas in seiner Selbstliebe aufgeht, ohne der Liebe der Menschen bedrftig zu sein. Ganz anders Nietzsches Sonne. Ihr Glck resultiert aus der Beziehung zu denen, die von ihrem Licht und ihrer Wrme profitieren. Ihre Flle wrde ihr zur Last, wenn es nichts gbe, das die Sonne von ihrem Licht und ihrer Wrme befreit. Um abends untergehen zu kçnnen, muss sie, gleichsam entleert und verausgabt, kalt und dunkel werden, an Erdenschwere zulegen und damit an Gewicht, das sie in die Tiefe zieht. Indem sie sich ber Nacht neu aufldt, kann sie am Morgen wieder aufsteigen und ihre Helligkeit und Wrme denjenigen anbieten, die danach verlangen, so wie die Sonne ihrerseits auf lebendige Wesen angewiesen ist, weil sie ohne Wrmeaustausch verglhen wrde. Die Idee des Guten htte keinen Sinn ohne Menschen, die sie zur Grundlage ihres Menschseins machen. Ein dritter Unterschied zwischen Platon und Nietzsche wurde implizit schon mit angesprochen: nmlich wie die Sonne aus der Perspektive der Menschen erscheint. Bei Platon ist zwar mit dem Begriff der Methexis, der Teilhabe, ein zentrales Bindestck zwischen den Ideen und den Menschen benannt, aber es handelt sich dabei nicht um eine Wechselbeziehung. Der Mensch hat teil an den Ideen, indem er sie in einer Art intellektuellen Anschauung vergegenwrtigt, sobald er den beschwerlichen Weg aus der Hçhle heraus gemeistert hat und auf der oberen Erdoberflche angelangt nach und nach die Urmuster zu jenen Gegenstnden erkennt, die er im Innenbereich der Hçhle nur schattenhaft wahrgenommen hat. Diese Urmuster prgen sich ihm ein und ermçglichen ihm nach der Rckkehr in die Hçhle eine klarere und deutlichere Sicht der Dinge. Aber die Urmuster selber und ihr durch die Sonne symbolisiertes Prinzip bleiben starre, unbezgliche Grçßen außerhalb des menschlichen Lebensbereichs. Die
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Teilhabe spielt also nur als Beziehung des Menschen zu den Ideen, die an sich selber von dieser Beziehung unberhrt bleiben. Bei Nietzsche hingegen bemht sich die Sonne geradezu in ihrem ureigensten Interesse um die Menschen, speziell um Zarathustra und seine Tiere, die auf sie warten, um sich von ihr beschenken zu lassen und ihr ausdrcklich fr ihre Leben spendende und Leben erhaltende Anstrengung zu danken. Diese Form von Teilhabe ist fr beide Seiten segensreich. Anders als bei Platon, wo die Idee des Guten unverndert bleibt, untangierbar durch die an ihr Teilhabenden, setzt sie bei Nietzsche Fleisch an, sobald die an ihr Teilhabenden sie in ihr Leben aufnehmen. Da dieses Leben sich unter empirischen Bedingungen vollzieht, greifen Raum- und Zeit-Verhltnisse ber den Menschen als Bindeglied auf die Idee ber. Im Bild der Sonne gesprochen: Naturwissenschaftlich gesehen steht die Sonne still, und die Welt bewegt sich um sie herum. Aus Zarathustras Sicht jedoch wird die Sonne durch ihre Beziehung zu den Lebewesen in Bewegung gesetzt. Diese erfahren sich als von der Sonne umkreist, die ihnen signalisiert, dass aller Sinn, alles Glck dieser Erde in einer zyklischen Bewegung beschlossen liegt, also weder im Stillstand noch in einer linearen Folge, an deren Ende das große Glck winkt. Zarathustra und seine Tiere haben die Kreisbewegung lngst internalisiert. Die Tiere bersetzen das Sonnenprinzip in ihrem Lebensraum, indem sie sich in ihrem jeweiligen natrlichen Revier kreisfçrmig fortbewegen: Der Adler kreist in der Luft, die Schlange ringelt sich am Boden. Dies ist ihr kçrperlicher Ausdruck von Teilhabe an der Sonne, der sie damit ihren berfluss abnehmen. Bei Zarathustra spielt der Kreis zum einen als Reflexionsfigur eine Rolle, als dialektisches Beziehungsgefge zwischen Gegenstzen, und zum anderen – was fr Nietzsche der wichtigere Aspekt ist – begrndet das Kreismodell eine Existenzdialektik, um einen Ausdruck Kierkegaards zu gebrauchen. Es gibt keine absoluten, sondern nur polare Gegenstze. Beide Pole existieren nur als Resultat der Spannung zwischen ihnen. Sonnenuntergang und Sonnenaufgang bedingen sich wechselseitig wie Hçhe und Tiefe. Der Mensch als das Zwischenwesen schlechthin verhlt sich zu den Gegenstzen dialektisch, indem er sich wie ein Seiltnzer zwischen ihnen bewegt und die Spannung ausbalanciert. Der Pol, welchem er sich zuwendet, geht vor seinen Augen auf, whrend jener, den er im Rcken hat, aus seinem Blick verschwunden, mithin untergegangen ist, durch eine Kehrtwendung aber wieder ins Gesichtsfeld rckt.
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Die existentielle Seiltnzerkunst2 besteht darin, den Kreis zu verkçrpern, ihn gesamthaft so in das Leben zu integrieren, dass es aus sich heraus seinen eigenen Sinn produziert. Diesen Sinn bezeichnet Zarathustra als den Sinn der Erde, weil es ihn nur als empirisch eingewurzelten, durch menschliche Anstrengungen hervorgebrachten Sinn gibt, nicht jedoch wie in den metaphysischen Denkmodellen als abgehobene berirdische Grçße. Gelebter Sinn konkretisiert sich im großen Individuum, letztlich in der Gestalt des bermenschen, dessen Name darauf hinweist, dass das alte metaphysische Menschenbild mitsamt seiner Trennung zwischen Kçrper und Geist berwunden ist. Der bermensch verkçrpert die Idee des Guten und macht sie dadurch als Idee berflssig. Um das metaphysische Menschenbild und den ihm zugrunde liegenden Dualismus zu berwinden, muss die Sonne in Bewegung versetzt werden, das heißt: Sobald die Idee des Guten als eine Projektion des Menschen in ein ungeschichtliches, den Bedingungen von Raum und Zeit enthobenes Jenseits durchschaut ist, kann sie wieder zurckgeholt werden in den Bereich des Irdischen, aus dem sie ursprnglich stammt. Deshalb spricht Zarathustra vom Sinn in zweifacher Hinsicht: „Der bermensch ist der Sinn der Erde.“ Und: „Der bermensch sei der Sinn der Erde!“ (Za, KSA 4, 14) Seinen Ursprung, seine Wurzeln hat der bermensch im Hier und Jetzt, in den großen Individuen, die nicht nur in ihren Selbstentwrfen, sondern unter Anspannung ihrer Leiblichkeit danach trachten, ber sich hinaus zu wachsen. Genealogisch betrachtet ist demnach der bermensch der Sinn der Erde, eben ein irdischer Sinn seiner Herkunft nach. Nachdem jedoch die antike ebenso wie die christliche Metaphysik ihre Sinnkonstrukte aus der Empirie ausgelagert hat, mssen die Menschen erst einmal an die Herkunft dieser vorgeblich bergeschichtlichen Ideen erinnert werden, bevor an den Willen appelliert werden kann: Der bermensch sei der Sinn der Erde. Er soll wieder der Sinn der Erde sein, aus welcher er als lebendiges ber-sich-hinaus hervorgegangen ist. Die beiden Formulierungen machen noch einmal aus einer anderen Perspektive auf den Unterschied zwischen Platon und Nietzsche aufmerksam, der sich am Wechsel vom ontologischen zum mentalistischen Paradigma festmachen lsst. Platon htte Mhe mit dem Appell „Die Idee des Guten sei der Sinn der Erde“, denn sie ist der Inbegriff von Sinnhaftigkeit. Dieses ,ist muss man nicht, wie es das ontologische Paradigma nahelegt, als ein Sein erster Klasse deuten, als ewige Prsenz von We2
Vgl. Annemarie Pieper, „Ein Seil geknpft zwischen Tier und bermensch“. Nietzsches erster „Zarathustra“, Stuttgart 1990. Nachdruck Basel 2010.
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senheiten, sondern man kçnnte es auch normativ als ein „ist absolut gltig“ lesen. Die Idee des Guten ist aus sich und durch sich selber schlechterdings gltig. Zwar schickt Platon alle, die den Aufstieg aus der Hçhle geschafft und den Anblick der Sonne genossen haben, wieder in die Hçhle zurck, mit dem Auftrag, dort fr bessere Verhltnisse zu sorgen. Aber nicht einmal die als Philosophenkçnige vorgesehenen Regenten kçnnten mit dem Satz ,Die Idee des Guten sei der Sinn der Erde etwas anfangen, weil dieses „sei“ in der Bedeutung von „soll sein“ sich an den Willen richtet. Man soll wollen, dass die Idee des Guten den Mangel an Gerechtigkeit und den damit verbundenen Sinnverlust in der Hçhle beseitigt. Doch diese Kluft zwischen Einsicht und Wollen, zwischen Sein und Sollen kennt Platon nicht. Wer das Gute als das schlechthin Gltige erkannt hat, will es auch. Er kann gar nicht anders, denn er ist als Vernunftwesen außerstande, es nicht zu wollen, sonst hat er es nicht richtig erkannt. Nietzsche wollte die Hçhle, unsere Lebenswelt, aufwerten und den Alleinvertretungsanspruch der Vernunft in Sachen Sinngenerierung abweisen. Anstatt sich verchtlich ber das Empirische zu erheben, soll die Vernunft sich auf das Hier und Jetzt einlassen, sich in die Netzwerke der Geschichte verstricken, deren Verknpfungen sichtbar machen und genealogische Sinnzusammenhnge herstellen. Die Vernunft bleibt, was sie ist, Instanz frs Allgemeine; aber sie verliert sich nicht mehr im AbstraktAllgemeinen, sondern entwickelt Konzepte eines Allgemeinen fr ein Besonderes, an dessen Widerstndigkeit sie sich abarbeitet. Eingebunden in individuelle Lebensformen ist die Vernunft gençtigt, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, fr welche sie sich als reine Vernunft nicht interessiert, die jedoch fr ein endliches Lebewesen von existentieller Bedeutung sind: Probleme wie Geburt und Tod, Schuld, Angst, Verzweiflung, Scheitern und Kontingenz. Nietzsche hat die Vernunft in den Bereich individuellen Existierens zurckgeholt. Dort ist sie dafr verantwortlich, dass der Lebensgeschichte eines Einzelnen trotz ihres narrativ-autobiographischen Charakters exemplarische Bedeutung zugesprochen werden kann. Das Allgemeine der Vernunft durchbricht das Individuell-Besondere und macht es fr fremde Personen nicht nur lesbar, sondern auch erlebbar, nachvollziehbar im eigenen Existieren. Fr die traditionelle Vernunft bedeutet die Anbindung an das aus ihrer Sicht Unvernnftige eine Autorittseinbuße und damit einen Imageschaden, der einen Verlust an Grçße nach sich zieht. Sie soll das Andere ihrer selbst als gleichwertigen Partner respektieren, was sie als Zumutung empfindet. Nietzsche reduziert den metaphysischen Vernunftbegriff auf
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die „kleine Vernunft“ (Za, KSA 4, 39), auf die intellektuelle Funktion des ego cogito, das alle menschlichen Verrichtungen als Ttigkeiten eines Bewusstseins kennzeichnet. Nietzsche bindet die kleine Vernunft in die große Vernunft des Leibes ein, in einen organischen Gesamtzusammenhang, der sich dem komplexen Zusammenspiel smtlicher Antriebskrfte im Menschen verdankt – dem intellektuellen ebenso wie dem emotionalen und dem affektiven Strebevermçgen. Der Leib als Sinn generierende Instanz ist jener unhintergehbare Ursprung, dessen flexible Verhltnisstruktur in jedem Lebensvollzug wiederholt und wiedergeholt wird. Insofern ist das Voranschreiten in die Zukunft immer zugleich ein Heraufholen der Vergangenheit, die zugleich berschritten wird, insofern der zurckgelegte Weg als eine bereits berwundene Epoche der Selbstwerdung aufscheint. Die tierischen Vorformen des Menschen in Gestalt des Kamels, das gehorsam niederkniet, um sich mit den Geboten eines fremden Willens beladen zu lassen; in Gestalt des Lçwen, der die Last des Kamels erbeutet und vernichtet; schließlich die Gestalt des Kindes, das mit der Geburt des eigenen autonomen Willens die eigentliche Menschwerdung anzeigt (Vgl. Za, KSA 4, 29 ff.) – alle diese Stufen vom Tier zum Menschen als bertier und vom Menschen zum bermenschen durchluft die Freiheit jedes Mal von neuem, in einem Kreislauf, der ebenfalls ber sich hinauswchst, in Form einer Spirale. Der Kreis verluft nicht in einer stets identischen Spur, sondern in berkreisen. Das Modell einer spiralfçrmigen Fortbewegung kann daher durchaus von einem Fortschritt sprechen, der allerdings nicht horizontal, im Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfolgt, sondern vertikal in der Erzeugung sich in die Hçhe schraubender Kreisfiguren. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen auf diese Weise in jedem gelebten Augenblick zusammen. Und genau dies ist das große Ereignis individueller Menschwerdung. ber Nietzsches These von der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist viel geschrieben worden. Ohne darauf im Einzelnen einzugehen, mçchte ich folgendes feststellen: (1) Nietzsche spricht von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, nicht des Selben. Im Bild der Spirale ausgedrckt: Was sich wiederholt, ist die Kreisbewegung, jedoch auf unterschiedlichen Niveaus oder Stufen, so dass die Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit eines Ereignisses auch in diesem nicht linearen Modell gewhrleistet ist. (2) In Zarathustras Reden ist verschiedentlich vom Ja-Sagen die Rede, von der Bejahung des eigenen Lebens. Diese Texte werden oft als Beleg fr Nietzsches Fatalismus herangezogen: Man msse sein Schicksal bejahen, weil man eh keine Wahl und keinen Einfluss auf das Geschehen habe.
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Ich neige eher zu folgender Lesart. Man muss bei jeder Entscheidung, die man trifft, bei jeder Handlung, die man ausfhrt, sich vorstellen, dass diese Entscheidung und diese Handlung mitsamt ihren Folgen ewig wiederkehren. hnlich wie Kants kategorischer Imperativ ist der Gedanke der ewigen Wiederkehr so verstanden ein ethisches Prfinstrument: Alles, was ich zu tun beabsichtige, muss ich grundstzlich bejahen kçnnen, das heißt: Ich muss mich fragen, ob ich die geplante Handlung auch dann noch wollen kann, wenn sie sich in alle Ewigkeit auf die gleiche Weise wiederholen wrde. Trotz dieser scheinbaren Nhe zu Kant kann man Nietzsches Philosophie nicht pauschal dem mentalistischen Paradigma zuordnen, obwohl er durchaus die Kopernikanische Wende mit vollzogen hat, indem er einen Perspektivismus vertrat, der dazu zwingt, jede An-sich-Aussage durch den Rckbezug auf den Sprecher zu relativieren. Der Satz „Der Stein ist hart“ schreibt dem Stein zwar Hrte als objektive Eigenschaft zu, behauptet aber nur, dass er hart ist fr mich. Welche Eigenschaften dieser Stein an und fr sich, unabhngig von mir, gleichsam als Ding an sich besitzt, kann ich prinzipiell nicht wissen.3 Dennoch argumentiert Nietzsche nicht im Fahrwasser Kants, sondern bt vehemente Kritik an dessen Transzendentalphilosophie, die aus seiner Sicht dem empirisch Besonderen zu wenig Gewicht beimisst und wieder zur Platonischen Zweiweltenlehre tendiert. Dadurch wird Grçße wieder einseitig der Vernunft als der absoluten Sinninstanz zugeschlagen, anstatt dem von Nietzsche als Leib bezeichneten Ensemble smtlicher, in Kopf, Herz, Hand und Bauch angesiedelten Strebevermçgen, deren vielfltige Aktivitten es zu bndeln gilt, damit ihre Sinn erzeugende Kraft unter Raum-Zeit-Bedingungen je und je optimal wirksam werden kann. An dieser Sinnproduktion haben die Sinne einen nicht minder bedeutenden Anteil als Verstand und Vernunft. Wahre Grçße zeigt sich darin, wie gut es gelingt, den Leib als in sich flexible Verhltniseinheit zu gestalten, nicht einmal und fr immer, sondern immer wieder. Leib ist fr Zarathustra im Unterschied zu den christlichen Metaphysikern nicht der vom Geist abgetrennte Kçrper, sondern der komplette Mensch in individuo. Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort fr ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug 3
Vgl. den frhen Aufsatz Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne (WL, KSA 1, 873 – 890).
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deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft […], die du ,Geist nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft. ,Ich sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grçssere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich. (Za, KSA 4, 39)
Der Leib ist ein dynamisches, ein ttiges Apriori, das sich selbst als große Vernunft organisiert. Indem sie sich als Leib ausspannt zwischen den Welt erfhlenden Sinnen und der Begriffswelt des Verstandes, der kleinen Vernunft, deren Aufgabe darin besteht, Ordnungs- und Sinnkonstrukte fr das vielfltige, durch die Sinne beigebrachte Material zu erfinden, prsentiert sie sich als ein vollendetes – als „leibhaftiges“ – Ganzes, in welchem sich wie in einem Kunstwerk Materie und Form so durchdringen, dass sie weder eine hierarchische noch eine statische, sondern eine flexible, bis aufs ußerste angespannte Einheit bilden, die im Leib und durch den Leib zusammengehalten wird. „Ein Verhltnis, das sich zu sich selbst verhlt“, war Kierkegaards Formel fr Nietzsches „große Vernunft“, die „Ich thut“.4 Nietzsches narrative Dekonstruktion der Metaphysik qua Ontologie, wie ich sie im Rckblick auf Platon umrissen habe, lsst sich auch aus ethisch-praktischer Perspektive beschreiben. Die Kantische Willensmetaphysik und ihr Konzept einer autonomen praktischen Vernunft werden hierzu den Vergleichspunkt abgeben. Der Wille ist bei Nietzsche die wertende Instanz schlechthin. Wollen heißt nmlich, das dem Leben Zutrgliche abzuschtzen und einzuschtzen, zwar nicht unter Ignorierung von Vernunftansprchen, doch ohne sich durch die Vernunft im Wollen von vornherein Grenzen setzen zu lassen. In Jenseits von Gut und Bçse findet sich der berhmte Satz: „Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter hin bestimmt und bezeichnet – sie wre eben ,Wille zur Macht und nichts außerdem.“ (JGB, KSA 5, 55) Diese These ist nicht ontologisch im Sinne der alten Metaphysik zu verstehen, sondern gemß Nietzsches Perspektivismus als eine Aussage, wie sich unserer auf Klarheit und Transparenz bedachten Vernunft die Welt zeigt, wie also die Welt fr uns (und nicht wie sie an sich) ist, wenn wir organischen Vernderungen und Funktionen auf den Grund gehen. Wir finden dort, im Ursprung alles Lebendigen, laut Nietzsche einen Willen, genauer: eine Vielzahl von Willen am Werk, ein Strebepotential und Krftespiel, das die Lebewesen dazu antreibt, aus sich herauszugehen und sich selbst zu berschreiten. Dieser von Nietzsche als Wille zur Macht bezeichnete Triebkomplex drngt auf Weiter- und Hçherentwicklung, weil 4
Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Dsseldorf 1957, S. 8.
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der Wille aus sich heraus nach Autonomie, nach Unabhngigkeit, nach Selbstmchtigkeit strebt und nicht weil ein Gott ihm Sinnerfllung verheißt. In der 1886 verfassten Vorrede zur Morgenrçthe (1881) charakterisiert Nietzsche sein moralkritisches Vorgehen als eine radikale Methode, die wortwçrtlich zu den Wurzeln der herkçmmlichen Moral fhren soll (M, KSA 3, 11 f.). Dem Moralkritiker kommt dabei seine Blindheit zugute, denn er agiert als Maulwurf, der das Erdreich durchwhlt und sich dabei vor allem auf seinen Tastsinn verlassen muss. Wurde in der Philosophie seit der Antike der Gesichtssinn als Modell fr das Vernunftorgan herangezogen, so vertraut (der selber stark sehbehinderte) Nietzsche dem Tastsinn. Der Sonnen- und Lichtmetaphorik einer aufklrerischen Vernunft setzt er die Dunkelheit der fr die Augen undurchdringlichen Region des Untergrundes entgegen, welche der Moral als Nhrboden dient. Dieses Bild eines sich unterirdisch durch die Erde Whlenden, die Wurzeln der Moral Antastenden, symbolisiert, dass Nietzsche die Prinzipien der Moral untersuchen will, indem er sie anfasst und daran rttelt. Nicht moralisches Verhalten als solches ist ihm zweifelhaft geworden, sondern dessen Legitimation durch die klassische Ethik. So verbindet er die Legitimationsfrage mit der Frage nach der Herkunft der Moral. Wer meint, Nietzsche hier einen naturalistischen Fehlschluss unterstellen zu kçnnen, bersieht, dass Nietzsche in seiner genealogischen Rekonstruktion des Stammbaums der Moral nicht auf ein wie auch immer geartetes Sein oder Seiendes als Ausgangspunkt rekurriert, um daraus Sollensansprche herzuleiten. Vielmehr zielt die Hypothese, dass die Urwurzel der Moral in einem Wollen zu suchen ist, in Organismen, deren Vitalfunktionen sich im Schtzen und Werten artikulieren, auf einen Ursprung, der alles Sollen generiert. Doch was unterscheidet Nietzsches Vorgehen von der Kantischen Kritik der praktischen Vernunft? Auch Kant wollte ja, wie vor ihm schon Descartes, dogmatische Geltungsansprche in die Schranken weisen, indem er das Fundament erschtterte, auf dem das traditionelle Moralgebude errichtet worden war. Auch Kant wollte die Prinzipien und damit die Anfnge, die normativen Ursprnge von Moralitt erforschen. Nietzsche wendet jedoch gegen Kant ein, er habe unter einer Kritik der praktischen Vernunft eine Selbstkritik der Vernunft verstanden. Um als reine Vernunft den Willen moralisch bestimmen zu kçnnen, unterzieht sie sich einer Katharsis, sie reinigt sich gleichsam von allen außervernnftigen, insbesondere von den sinnlichen Einflssen. Dabei bleibt jedoch das Apriori der Vernunft selber unangetastet, und genau dies ist fr Nietzsche unannehmbar, denn fr ihn stehen auch die
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ethischen Vernunftprinzipien und damit die praktische Vernunft als solche ebenso unter Generalverdacht wie der Rekurs auf einen gçttlichen Willen als hçchste Legitimationsinstanz fr die Moral insgesamt. Alle diese Wurzeln, aus denen die Moral- und Rechtssysteme gewachsen sind, mssen gleichfalls daraufhin geprft werden, ob sie berhaupt berechtigt sind, moralische Geltungsansprche zu legitimieren oder nicht. Das von Nietzsche fr die Ttigkeit des Moralkritikers verwendete Bild des Maulwurfs signalisiert Blindheit und Nacktheit und damit die Unvoreingenommenheit und Vorurteilslosigkeit des „Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden“ (M, KSA 3, 11 f.). Er lsst im Wurzelbereich nichts unberhrt, es gibt keinerlei Tabu. Der einzige Kompass, den dieser Maulwurf-Kritiker benutzt, ist seine Moralitt. Er kndigt der Moral das Vertrauen auf „aus Moralitt“ (M, KSA 3, 16). Diese Einstellung macht ihm allerdings schwer zu schaffen, wie die Rede von der Licht- und Luftnot des Maulwurfs signalisiert. Schließlich hat die Moral ja auch ihn geprgt, er hat ihrer Sinnhaftigkeit vertraut und entsprechend gehandelt. Sie außer Geltung zu setzen, heißt, die Vergangenheit und die eigene Geschichte ihres Wertgersts zu berauben, um ohne jede Orientierungshilfe gnzlich auf sich selbst gestellt einer dem Menschen als ganzen vielleicht angemesseneren Moral auf die Spur zu kommen. Man kçnnte sogar die Metapher des Maulwurfs aus dem Spionagemilieu heranziehen, um das Bengstigende der moralkritischen Ttigkeit nachzuempfinden. Dieser Maulwurf unterwandert nicht nur fremdes Land, um sich Informationen ber die Gesinnung der Feinde zu verschaffen, sondern nistet sich quasi als Doppelagent auch bei sich selber ein, spioniert das, was fr gut und richtig zu halten er gelernt hat, aus, um das gefundene Material an eine unbestechliche Instanz zu verraten, die dann das Urteil fllt: Dein Glaube an das Gute ist irregeleitet durch fremde Autoritten; du musst berlaufen – zu dir selbst. Es ist das neu sich herausbildende Gewissen, das so spricht, ein Gewissen, das nicht mehr wie das alte infiltriert ist von tradierten Norm- und Wertvorstellungen, sondern sich auf seine eigentliche Aufgabe besinnt: nmlich vorurteilsfrei und unideologisch ber Absichten, Motive, Rechtfertigungen, Grnde fr das eigene Handeln zu urteilen. Die Ablçsung von der herkçmmlichen Moral ist ein schmerzlicher Prozess, denn sie verlangt, dass man das Apriori aufgibt, das Prinzip des Guten, das bisher unangefochten der Willensbildung die Ziele vorgab. Man schneidet sich von den Wurzeln ab, aus denen sich das moralische Selbstverstndnis seit zwei Jahrtausenden speiste. Nietzsche hat die Verzweiflung des Moralkritikers verschiedentlich eindringlich geschildert.
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Der tolle Mensch zum Beispiel, den er in Die frçhliche Wissenschaft als jemanden vorfhrt, der sich toll gebrdet in doppelter Hinsicht: als ein Waghalsiger und als ein Verrckter, total Verwirrter. Der tolle Mensch also schreit die verheerenden Konsequenzen aus sich heraus, die eine Trennung von Gott als Wurzel der christlichen Moral nach sich zieht. Es klingt wie ein Endzeitszenario, das der tolle Mensch heraufbeschwçrt. Mit der Tçtung Gottes haben wir den ganzen Horizont weggewischt, wir haben die Erde von ihrer Sonne losgekettet (FW, KSA 3, 481) – lauter Bilder, die auf eine vçllige Orientierungslosigkeit und Haltlosigkeit hinweisen: „Strzen wir nicht fortwhrend? Und rckwrts, seitwrts, vorwrts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?“ (FW, KSA 3, 481) hnlich ergeht es auch dem Moralkritiker, der die alte Moral mitsamt ihrer Wurzel – der Idee des Guten oder dem christlichen Gott – ausgerissen hat. Wie der Lçwe in Zarathustras Rede von den drei Verwandlungen findet er sich in einer Wste vor, in einem vollstndig wertbereinigten Raum, den er anfangs mangels wegweisender Zeichen richtungs-, bindungs- und ziellos durchstolpert. Und doch birgt diese Wste, der jede Grçße abgeht, die Chance eines Neuanfangs, einer anderen, großartigeren Geschichte menschlichen Existierenkçnnens, einer Freiheitsgeschichte. Der Tod bzw. die Tçtung Gottes wird von Nietzsche als das „grçsste neuere Ereignis“ bezeichnet (FW, KSA 3, 573). Der Ereignischarakter macht das Ungeheuerliche dieses Geschehens offenbar. Was metaphysisch undenkbar ist, nmlich dass Gott sterben kann und sich damit als ebenso vergnglich erweist wie organische Wesen, das wird mit dem Satz „Gott ist tot“ behauptet. Dass Gott keinen natrlichen Tod starb, sondern zu Tode gebracht wurde, getçtet von rangmßig weit unter ihm stehenden endlichen Lebewesen, liegt vçllig außerhalb des antiken Vorstellungsvermçgens. Nun ist allerdings dem christlichen Gott genau dies passiert: Jesus Christus wurde hingerichtet. Aber sein Tod war nur vorbergehend, er blieb nicht auf Dauer tot, sondern ist wieder auferstanden von den Toten und erneut in sein Gottsein eingerckt, das nicht wirklich in den Zustand der Verwesung bergegangen ist. Fr Nietzsche gewinnt der Tod Gottes erst echten Ereignischarakter und damit Grçße, wenn er einen radikalen Neubeginn ermçglicht, ein Menschsein ohne Gott. […] wir Philosophen und ,freien Geister fhlen uns bei der Nachricht, dass der ,alte Gott todt ist, wie von einer neuen Morgenrçthe angestrahlt; unser Herz strçmt dabei ber von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht
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hell ist, endlich drfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ,offnes Meer. (FW, KSA 3, 574)
Die große Freiheit, die sich dem zum Freigeist mutierten Moralkritiker erçffnet, nachdem er das Gngelband des christlichen Glauben durchgeschnitten und eben dadurch Gott aus seinem Weltbild eliminiert hat, ermçglicht ihm einen unverstellten Blick auf die Zukunft und macht ihn autonom. Er, sein Wille, bestimmt von nun an ber seine Ziele und die Wege dorthin. Und diese Ziele und Wege sind irdischer Natur; sie kreisen den Sinn der Erde ein, was keine Einengung bedeutet. Die Peripherie des Kreises kann stndig ausgedehnt und weiter in die Hçhe vorangetrieben werden, der Weg vom Alten zum Neuen fhrt ins Offene, ins nicht Festgelegte. Der Mensch als das „noch nicht festgestellte Thier“ (JGB, KSA 5, 81) erweitert seinen Horizont, indem er seine Sicht der Dinge immer wieder berschreitet und experimentell ber die gezirkelten Grenzen hinaus treibt. Alles Ereignishafte hat den Charakter des Vorlufigen. Auch der bermensch wird nicht endgltig angekommen sein, sondern untergehen und sich auf eine Weise neu erfinden, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen kçnnen. Nietzsche pldiert deshalb dafr, dass der Metaphysiker wieder zum Physiker wird, der sich nicht fr eine Meta-Dimension interessiert, fr ein ewig prsentes spekulatives Jenseits, sondern fr die natrlichen Prozesse des Entstehens und Vergehens in unserer Lebenswelt. Im 4. Buch der Frçhlichen Wissenschaft fhrt er hierzu aus: Beschrnken wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschtzungen und auf die Schçpfung neuer eigener Gtertafeln […]. Wir […] wollen Die werden, die wir sind, – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden! Und dazu mssen wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden: wir mssen Physiker sein, um, in jenem Sinne, Schçpfer sein zu kçnnen, – whrend bisher alle Werthschtzungen und Ideale auf Unkenntniss der Physik oder im Widerspruch mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! (FW, KSA 3, 563 f.)
Was fr Aristoteles nur die zweite Philosophie war, die Physik als Lehre vom Werden, vom Entstehen und Vergehen, muss nach Nietzsche an die erste Stelle rcken. Die Metaphysik wird dadurch nicht auf den zweiten Platz verdrngt, sie wird auch nicht berflssig, sondern zu einem Teil der Physik. Das große Individuum als der eigentliche Sinnschçpfer und Werturheber ist Physiker. Er lotet seine Natur im Selbstexperiment aus
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und erfindet sich immer wieder neu – so wie der zerstckelte Dionysos sich aus seinen Bruchstcken immer wieder neu zusammensetzt zu einem Ganzen, das den vorangegangenen Identitten gleicht und doch vçllig verschieden ist, weil es sich einer anderen Geschichte verdankt. Ein kurzes Resmee. Grçße ist keine objektive Eigenschaft, die ein Gegenstand ohne eigenes Zutun besitzt. Groß ist etwas nur durch sein Werden, durch die Geschichte seiner Selbstwerdung und die dabei berwundenen Hindernisse. Diese Geschichte muss man erzhlen, in die Abfolge der Ereignisse einen roten Faden flechten, der die bisher zurckgelegten Etappen miteinander verknpft, ohne die Geschichte nach vorn hin abzuschließen. Die Metaphysik hingegen favorisiert das System. Das System kann man nicht erzhlen. Die dem System immanente Logik zwingt dazu, es als einen in sich geschlossenen Begriffszusammenhang darzulegen, und die Grçße, die es sich selbst attestiert, besteht darin, dass es alles umfasst. Fr Nietzsche ist dieses Verstndnis von Grçße unzulnglich. Denn das System existiert nur in der Vernunft und fr die Vernunft. Es schließt den Zufall, die Individualitt, die Not und das Glck des Existierens aus, um eines Ganzen willen, das ber die Wechselflle des Lebens erhaben ist. Gerade der Umgang mit Risiken und Unwgbarkeiten, mit der Erkenntnis, dass alles nur vorlufig und nichts endgltig ist, entscheidet ber die existentielle Grçße. Deshalb schreibt Nietzsche frçhlich gegen das System an, zerlegt es aphoristisch und macht aus den Fragmenten mit Hilfe mythisch und metaphorisch angereicherter Erzhlformen ein großes Ereignis.
Macht und Widerstand Zwischen Nietzsche, Freud und Foucault
Christoph Trcke Bei Neurotikern und Primitiven, sagt Freud, gibt es das merkwrdige Phnomen der „Allmacht der Gedanken“, „das heißt nur das intensiv Gedachte, mit Affekt Vorgestellte ist bei ihnen wirksam, dessen bereinstimmung mit der ußeren Realitt aber nebenschlich“. Solche „berschtzung der seelischen Vorgnge gegen die Realitt“1 soll in der frhesten Menschheitsphase sogar der allgemeine Standard der Weltwahrnehmung gewesen sein. „Im animistischen Stadium schreibt der Mensch sich selbst die Allmacht zu.“2 Primitive seien, wie Kinder, noch ganz mit sich selbst, den eigenen Wnschen und Gefhlen beschftigt. Sie verhielten sich, „als wre[n] sie in sich selbst verliebt“3, und seien in ihrer Selbstbezogenheit noch unfhig, den Anforderungen der ußeren Realitt Rechnung zu tragen. Stimmt das? Nun, Primitive schreiben sich schon deshalb keine Allmacht zu, weil sie noch gar nicht wissen, was das ist. Macht verspren sie zwar gelegentlich durchaus. Sie zelebrieren sie sogar, wenn sie Jagd- oder Kriegsglck in ein Fest mnden lassen. Dabei erleben sie allerdings bloß einen sporadischen Triumph, keine Allmacht; dafr ist die Macht, die sie genießen, immerhin eine handgreiflich errungene, nicht nur die von Gedanken. Die berschtzung der seelischen Vorgnge hingegen hat noch kaum begonnen, denn sie haben noch kaum gelernt, von der Welt, die sie umgibt, etwas „Seelisches“ zu unterscheiden. Wunschwelt und wirkliche Welt sind fr sie noch so wenig auseinander getreten, dass sie die beiden auf Schritt und Tritt verwechseln. Dafr zahlen sie bitteres Lehrgeld. Ihre Wnsche stoßen sich an der ußeren Realitt so lange wund, bis sie mer1 2 3
Sigmund Freud, Totem und Tabu, in: ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1974, S. 375. Sigmund Freud, Totem und Tabu, in: ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1974, S. 376. Sigmund Freud, Totem und Tabu, in: ders., Studienausgabe, Bd. 9, Frankfurt am Main 1974, S. 377.
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ken, dass Wunsch und Wirklichkeit nicht dasselbe sind. Nur durch den Widerstand, den die ußere Realitt ihren Wnschen entgegensetzt, der sie begrenzt, also buchstblich definiert und dabei stndig korrigiert, lernen sie diese Wnsche berhaupt als eine eigene Sphre kennen. Bei modernen Neurotikern liegt der Fall etwas anders. Sie sind ja von klein auf in die Standards moderner Rationalitt und Weltanschauung eingebt worden, und nur bestimmte Wnsche, die auf traumatische Weise unerfllt blieben, vermçgen sie von der ußeren Realitt, die ihnen die Erfllung versagte, nicht gengend zu unterscheiden. Jener gebildete Patient, von dem Freud die Formel „Allmacht der Gedanken“ bernahm, verband sie mit der Episode, wie er im Kurhaus das gewnschte Zimmer nicht bekam, weil „ein alter Professor“ es bereits bezogen hatte, worauf er ausrief: „Dafr soll ihn aber der Schlag treffen.“ 14 Tage spter traf den Professor der Schlag, was der Patient prompt auf seinen Ausruf zurckfhrte.4 Hier wie bei einem weiteren Todesfall, den er ebenfalls herbeigewnscht zu haben glaubte, berschtzte er zwar seine inneren Regungen gegenber der ußeren Realitt, die er sonst ja durchaus davon zu unterscheiden wusste. Schwerlich aber fhlte er, wie er vorgab, Allmacht, sondern vor allem Schuld. Er hatte einen Wunsch versprt, der gegen das Gebot „Du sollst nicht tçten“ verstieß, und dieser Wunsch hatte sich erfllt. Der Patient nahm seinen verbotenen Wunsch zwar als Macht wahr, aber als eine bedrohliche; er genoss sie durchaus nicht so selbstverliebt, wie er es nach dem Theorem von der „Allmacht der Gedanken“ eigentlich htte tun mssen. Dass Freud hier nicht stutzte, die Formel seines Patienten vielmehr bereitwillig bernahm, hat mit einem eigenen Kindheitserlebnis zu tun. Freud war der Erstgeborene seiner Mutter, und als er, eineinhalbjhrig, einen Bruder bekam, der ihm einen großen Teil der mtterlichen Zuwendung abspenstig machte, hat er furchtbar gelitten und sich den Bruder weggewnscht. Wenige Monate spter starb der Bruder. Scheinbar beilufig gesteht Freud in einem Brief an Fließ, „dass von seinem [sc. des Bruders] Tod der Keim zu Vorwrfen in mir geblieben ist“5. Eine krasse Untertreibung, wie Franz Maciejewski erst krzlich in einer detektivischen
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Sigmund Freud, Bemerkungen ber einen Fall von Zwangsneurose, in: ders., Studienausgabe, Bd. 7, Frankfurt am Main 1973, S. 92 f. Sigmund Freud, Aus den Anfngen der Psychoanalyse 1887 – 1902, Frankfurt am Main 1950, S. 189.
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Studie gezeigt hat.6 Dem kaum zweijhrigen Sigmund hat sich die Beisetzung des Bruders und das Gefhl, daran schuldig zu sein, zutiefst eingeprgt. Sein Lebtag laborierte er daran, aus Selbstliebe seinem Bruder den Tod gewnscht und gebracht zu haben. Allgemeiner gesagt: Er laborierte an der Macht und Schuld des Wnschens. Es kann keine Rede davon sein, dass kleine Kinder die ußere Realitt noch nicht wahrnehmen. Vielmehr stecken sie so tief darin, dass sie sie noch gar nicht als ein ußeres zu erleben vermçgen, genauso wenig wie ihr Wnschen als ein Inneres. Jenes kindlich selbstverliebte Ich, das, versponnen in die Allmacht seiner Gedanken, sich um die ußere Realitt noch nicht kmmert, ist ein nachtrgliches Verschleierungskonstrukt. Bei Freud hat es den Status einer Unschuldsbeteuerung. Sie will sagen: Die Primitiven der animistischen Phase kçnnen noch nichts fr ihre Wunschvorstellungen, wie auch ich unschuldig war, als ich meinen Bruder wegwnschte. Ich habe seinen Tod nicht verursacht. Empfunden hat Freud freilich gerade das Gegenteil. Des eigenen Wnschens wurde er, wie alle kleinen Kinder der Hochkultur, am Verbot inne, das dem Wunsch Grenzen setzt und ihn dadurch berhaupt erst definiert. Nur dass sich in Freuds Fall der Wunsch zugleich ber seine Grenzen hinweg zu setzen schien. Das Gewnschte trat ein. Und so konnte er seinen Wunsch berhaupt nicht wahrnehmen, ohne ihn krass zu berschtzen, sowohl in seiner Reichweite als auch in seiner Verwerflichkeit. Es grauste ihn vor der Macht dessen, was er als seinen Wunsch kennen lernte. Auch Nietzsche war ein Erstgeborener und hatte einen jngeren Bruder. Zunchst hatte er vierjhrig erleben mssen, wie sein „geliebter Vater gemtskrank“ wurde und starb; ein Vater, „den alle, die ihn kannten, mehr zu den ,Engeln als zu den ,Menschen gerechnet haben“7, wie der Sohn 1884 an Overbeck schreibt. Und ein halbes Jahr nach dem Vater starb zweijhrig der Bruder. In der Nacht zuvor aber hatte der fnfjhrige Friedrich einen Traum, den er neun Jahre spter so notiert: Ich hçrte in der Kirche Orgelton wie beim Begrbnis. Da ich sah, was die Ursache wre, erhob sich plçtzlich ein Grab und mein Vater im Sterbekleid entsteigt demselben. Er eilt in die Kirche und kommt in kurzem mit einem kleinen Kinde im Arm wieder. Der Grabhgel çffnet sich, er steigt hinein und die Decke sinkt wieder auf die ffnung. Sogleich schweigt der rauschende Orgelschwall, und ich erwache. – Den Tag nach dieser Nacht wird plçtzlich Josephchen unwohl, bekommt Krmpfe und stirbt in wenigen Stunden. 6 7
Franz Maciejewski, Der Moses des Sigmund Freud. Ein unheimlicher Bruder, Gçttingen 2006. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 1, Mnchen 1981, S. 44.
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Unser Schmerz war ungeheuer. Mein Traum war vollstndig in Erfllung gegangen.8
Ist der Verdacht abwegig, dass fr den kleinen Friedrich der Schmerz deshalb so „ungeheuer“ war – also nicht nur tief und heftig –, weil sein Traum „vollstndig in Erfllung gegangen“ war und ihm das grausige Gefhl bescherte, seinen Bruder buchstblich tot getrumt zu haben? Nirgends verliert er darber ein weiteres Wort, wie auch Freud keines ber den Tod seines Bruders. Aber der Ausruf „wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller ›guten Dinge‹!…“ (GM, KSA 5, 297), der in der Genealogie der Moral aus Nietzsche fçrmlich hervorbricht, gibt schwerlich bloß Angelesenes wieder. Er klingt ganz wie ein Seufzer aus der tiefsten Schicht eigener Erfahrung. Doch worauf spielt er an? Auf Nietzsches geradem Weg zum Musterschler und Jungprofessor sind zwar reichlich Heimweh und Kopfschmerzen aktenkundig. Aber Blut und Grausen? Wie jedoch, wenn diese beiden Worte sich so auf seinen Werdegang reimen, dass den Fnfjhrigen, als sein Traum in Erfllung ging, das Grausen einer Blutschuld berfiel, deren Gefhl ihn nie wieder losließ und ihn zu einem lebenslangen erfolglosen und doch ungemein produktiven Kampf gegen das schlechte Gewissen nçtigte, von dem er sich auf infame Weise niedergedrckt empfand, weil es nicht aufhçrte, ihn eines Mordes zu bezichtigen, den er nicht begangen hatte? Vom Vater verlassen, vom Bruder verworfen: War das die Keimzelle jener Einsamkeit, der Nietzsche zeitlebens zu entfliehen suchte, die proportional mit seinen geistigen Fhigkeiten bis zur Berufsunfhigkeit wuchs und aus der er spter seine immer aphoristischer und schriller werdenden Botschaften wie Leuchtsignale in die Welt hinaus sandte? Freuds Lebenswerk ist zweifellos vom Willen bestimmt, ber die Macht und Schuld des Wnschens hinweg zu kommen, und was Nietzsche „Wille zur Macht“ nennt, stammt aus einer tiefen Ohnmachtserfahrung. Es ist die verallgemeinerte Formel fr ein ganz persçnliches Bedrfnis, ber „Blut und Grausen“ Herr zu werden. Macht ist etwas anderes als Strke. Das sagt schon Homer. Achill war der Strkste im griechischen Heer, Agamemnon aber der Mchtigste. Ihm leisteten alle griechischen Stammeshuptlinge Gefolgschaft. Dagegen kam Achill nicht auf. Man muss nicht unbedingt stark sein, um mchtig zu sein; man muss nur mit Strke umgehen kçnnen: Krfte zu beschwichtigen wissen, die strker sind als man selbst; ebenbrtige Krfte so gegeneinander ausspielen, dass sie einem nicht schaden; und Krfte, denen man sich 8
Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 1, Mnchen 1981, S. 47.
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berlegen weiß, mit einer ausgewogenen Dosis von Lockungen und Drohungen zur Gefolgschaft bewegen. Kurzum, man muss weniger stark sein als zh, ausdauernd, geistesgegenwrtig und verschlagen – was nach Nietzsche lauter typische Priestereigenschaften sind. Nicht von ungefhr haben menschliche Machtverhltnisse denn auch im Kraftfeld des Kults begonnen. Das so genannte Heilige ist der Naturschrecken, der als sein Gegenteil halluziniert wird: als Schutzmacht vor den Schrecknissen der Natur. Dahinter steht die lang gewachsene altsteinzeitliche Erfahrung, dass man den Schrecken betuben, mildern, herunterspielen kann, wenn man ihn nur oft genug auf eigene Faust wiederholt, ihn in rituellen Schlachtungen zusammendrngt, die man in seinem Namen veranstaltet, so dass er selbst dabei zum imaginren Adressaten von Blut und Grausen wird. Das Heilige ist der zur Schutzmacht gewendete Schrecken, und alle politische Macht ist im Bann und auf den Kredit einer hçheren Schutzmacht erstarkt. Kein antiker Herrscher, der sich nicht als Abkçmmling einer Gottheit verstanden und prsentiert htte. Und die modernen Machthaber? Auch sie suchten und suchen etwas Hçheres zu reprsentieren: Friedrich II. die Aufklrung, Napoleon den Code civil, Lenin die vereinigte Arbeiter- und Bauernmacht, Hitler die arische Rasse, Saddam Hussein Panarabien, Obama die globale Hoffnung, dass sich die globalen Zentrifugalkrfte bndigen lassen. Nicht dass die genannten Machthaber auch nur annhernd auf gleichem kulturellen und moralischen Niveau stnden. Aber ein strukturelles Merkmal haben sie gemeinsam. Macht ist nie nur sie selbst. Stets reklamiert sie etwas Hçheres, oder nietzschesch gesprochen: Sie ist mit einem Ideal berwçlbt. Und Ideale kaschieren Schwche: die Unfhigkeit, fr sich selbst einzustehen und gerade heraus, ohne Hinterhalt und Verstellung, in spielerischer Souvernitt sein Dasein zu meistern. Wenn es gelnge, sagt Nietzsche, „unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklren – nmlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist; […] so htte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht“ (JGB, KSA 5, 55). Nietzsche schlgt hier einen Ton an, als verknde er die Weltformel, und dennoch formuliert er im Konjunktiv, als wsste er, dass er einen strikten Beweis fr seinen „Satz“ nie erbringen werde. Dabei spricht allerlei fr ihn. In der Tat kçnnen Organismen nicht leben, ohne sich anderer Stoffe als Beute und Nahrung zu bemchtigen. Der Haken ist lediglich die Folgerung, Leben sei nichts anderes als Bemchtigung. Zeugen, Gebren, Brutpflege etwa sind schwerlich ganz auf Bemchtigung reduzierbar.
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Nietzsches Satz hat allerdings noch einen Haken. Er kommt nicht nur wie ein Naturgesetz daher, sondern reklamiert auch Geltung fr alle Kultur. In der Spezies Mensch aber, so Nietzsche, hat der Wille zur Macht eine singulre Wendung vollzogen. Er hat sich gegen sich selbst gekrmmt und ist damit zur Hemmung, Schwchung, Verstellung seiner selbst geworden. Gedanken sind reflektierte Triebe, im Klartext, zurckgebogene, nach innen gewendete, verkrmmte, verwachsene Triebe. Schon deshalb kann es fr Nietzsche keine „Allmacht der Gedanken“ geben. Der mentale Raum ist das erbrmliche innere Auffanglager des „in sich selbst zurckgescheuchten Thiermenschen“ (GM, KSA 5, 332). Er ist das Resultat einer krummen Tour. Seine miese Seite ist die Moral. Sie plustert die Erbrmlichkeit zur Tugend auf. Seine glnzende Seite ist die Kunst, der schçne Schein, den die in sich verkrmmte Menschennatur gleichwohl um sich zu verbreiten weiß, ein Schein, der dazu steht, bloß Schein zu sein, und gerade dadurch etwas Aufrichtiges, etwas Aufrechtes hat. Das macht seine relative Grçße aus. Doch auch die grçßte Kunst bleibt ein Feigenblatt der Schwche. Auch wenn sie in bewunderungswrdiger Weise Widerstnde berwindet – nie gewinnt sie so viel Macht, dass sie zur Strke wird. Starke Menschen, wo gibt es die? Laut Nietzsche nur in ferner Vergangenheit, wie etwa bei den Wikingern, oder in raren Sternschnuppen, die ber der dekadenten Moderne aufleuchten, wie Napoleon. Doch das Schicksal der Starken ist der Untergang. Das Genie – in Werk, in That – ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine Grçsse… Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehngt; der bergewaltige Druck der ausstrçmenden Krfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das ›Aufopferung‹; man rhmt seinen ›Heroismus‹ darin, seine Gleichgltigkeit gegen das eigene Wohl seine Hingebung fr eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland: Alles Missverstndnisse… Er strçmt aus, er strçmt ber, er verbraucht sich, er schont sich nicht. (GD, KSA 6, 146)
Sehr zweifelhaft, dass das auf Napoleon oder gar auf den hoffnungslos berschtzten Cesare Borgia (GD, KSA 6, 146) zutrifft – und dennoch verblffend, wie Nietzsche ausgerechnet den Untergang der Starken zum Hoffnungstrger, zum Vorzeichen umwendet fr jenen buchstblichen Untergang, den er seine große Kunstfigur Zarathustra vollziehen lsst. Aus dem Gebirge, wo er zehn Jahre „seines Geistes und seiner Einsamkeit“ genoss, geht Zarathustra hinunter zu den Menschen mit den Worten: „Ich bin meiner Weisheit berdrssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hnde, die sich ausstrecken, ich mçchte
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verschenken und austheilen“, wie der „Becher, welcher berfliessen will“ (FW, KSA 3, 571). Zarathustra will nicht zur Macht. Er ist bereits dort angelangt, wo der Wille zur Macht hin will und nie ankommt. Das heißt aber umgekehrt: Der Wille zur Macht hat nicht das letzte Wort. Seit er sich im Menschen verkrmmt hat, weist er auch ber sich selbst hinaus auf einen Menschentypus, der Macht nicht mehr nçtig hat, weil er die Flle genießt und mit der Gesamtheit seiner Lebensbedingungen spielt. Er hngt den Willen zur Macht nach Belieben ein und aus. Der so genannte bermensch wre gerade kein Machtmensch mehr. Nietzsches Pointe ist allerdings, dass sich das bermenschentum nicht direkt ansteuern lsst. Niemand kommt am Willen zur Macht vorbei. Er ist sowohl die Krankheit als auch die Rosskur, die rckhaltlos durchmachen muss, wer genesen will. Und Nietzsche selbst beginnt die Kur damit, dass er das menschliche Streben nach Wahrheit gnadenlos als verkappten Willen zur Macht bloßlegt. Wo die Menschen vorgeben, die Welt zu erkennen, wie sie ist, legen sie sie sich bloß zurecht, wie es ihnen passt. Sie bertragen Nervenreize in Bilder, formen Bilder in Lauten nach, verflchtigen diese optisch-akustischen Metaphern sodann zu Schemata, also Bilder zu Begriffen, und verwechseln schließlich ihre Metaphernwelt, wenn sie ihnen zur Gewohnheit geworden ist, mit dem getreuen Abdruck der wirklichen Dinge, die darin allenfalls ein fernes und verzerrtes Echo finden. (WL, KSA 1, 879, 881) Wo im angeblichen Wahrheitsstreben unerbittlich das Machtstreben aufgedeckt wird, wchst der Wille zur Macht allerdings auch ber sich hinaus. Er sagt ber sich selbst – die Wahrheit. „Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen und kçnnen diess erkennen: diess ist eine der grçssten und unauflçsbarsten Disharmonien des Daseins.“ (MA, KSA 2, 52) Hier tritt das Denken nicht in einen simplen Selbstwiderspruch wie bei dem Kreter, der sagt, dass alle Kreter lgen. Ebensowenig tritt es aus seiner Metaphern bildenden Ttigkeit hinaus, um wie ein Schiedsrichter von einem neutralen Standpunkt aus Gedanken und Dinge zu vergleichen. Es wird lediglich seiner prinzipiellen Schwche und Unzulnglichkeit inne in Bezug auf das, was es nicht ist: die objektive Welt. Dass es eine objektive Welt gibt, leidet fr Nietzsche keinen Zweifel. Nur wissen wir nicht, was sie an sich ist; nicht nur, weil wir sie uns in verzerrter Weise zurechtlegen, sondern auch, weil sie nicht einfach ruhig da liegt. Nicht nur in uns steckt Bemchtigungswille, auch in ihr. Sie hçrt nicht auf zu bedrohen. Nirgends wird gewisser, dass es eine objektive Welt gibt, als in traumatischen Erfahrungen. Die erfinden wir nicht. Sie suchen uns heim.
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Wohl aber muss erfinderisch werden, wer an ihnen nicht zugrunde gehen will. Er muss Bilder, Tçne, Worte aushecken, die sie ertrglich machen. „Objektiv“ ist nicht mit „neutral“ zu verwechseln. Obiectum heißt wçrtlich „das Entgegenstehende“, der Widerstand. Der Wille zur Macht lernt sich nirgends kennen als an seinen Widerstnden. Sie bescheren ihm die Erfahrung des Glcks, wo er sie berwindet, und die der Schwche, wo ihm das misslingt. Aufs Ganze gesehen bleibt er schwach. Nie gelangt er zu der ungehemmten Strke, die er ersehnt. Stets bleiben mehr Widerstnde als er zu berwinden vermag. Sie sind die Wahrzeichen seines Ungengens, und der Wille zur Macht wchst dort ber sich hinaus, wo er in den Widerstand gegen sich selbst umschlgt, wo seine Selbstverkrmmung sich derart rundet, dass er seiner selbst ganz inne wird, inne hlt, sich ber sich selbst ein Licht aufsteckt und so den Funken der Wahrheit entzndet, die ihm fehlt. In solchen Momenten wird er selbst zum Wahrzeichen seines Ungengens und zu jenem Hoffnungsschimmer, von dem alle politischen Widerstandskmpfer nicht aufhçren zu zehren: dass es einen Widerstand gibt, der nicht sogleich wieder darin aufgeht, Machtwille zu sein. Ein solcher Widerstand ist in der realen Geschichte nie mehr gewesen als ein sporadisches Aufleuchten, aber er ist, nietzschesch gesprochen, um nicht zu sagen, nietzschesch-blochisch, der einzige Vorschein des bermenschen in der Dekadenz, und Nietzsche hat sich um so mehr als dessen Fackeltrger gefhlt, je einsamer er in jener Welt wurde, deren Wille zur Macht er geradezu seismographisch anzeigte. Die Dimension von Wahrzeichen und Vorschein ist dem Nietzscheaner Foucault fremd geblieben. Er hat dem Verhltnis von Macht und Wahrheit eine diskurstheoretische Wendung gegeben. „[N]och bei den griechischen Dichtern des 6. Jahrhundert war der wahre Diskurs“ derjenige, „vor dem man Achtung und Ehrfurcht hatte und dem man sich unterwerfen musste, weil er der herrschende war“, „der Diskurs, der Recht sprach und jedem sein Teil zuwies“, „der die Zustimmung der Menschen herbeifhrte und sich so mit dem Geschick verflocht. Aber schon ein Jahrhundert spter lag die hçchste Wahrheit nicht mehr in dem, was der Diskurs war, oder in dem, was er tat, sie lag in dem, was er sagte“. Sie hatte sich vom „Akt der Aussage weg und zur Aussage selbst hin verschoben: zu ihrem Sinn, ihrer Form, ihrem Gegenstand, ihrem referentiellen Bezug. Zwischen Hesiod und Platon hat sich eine Teilung durchgesetzt, welche den wahren Diskurs und den falschen Diskurs trennte“.9 Bei Platon mochte es noch den Status einer bloßen Rationalisierung haben, wenn er von dem, was blicherweise fr 9
Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, S. 14.
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schçn, gut und wahr gehalten wurde, ein Schçnes, Gutes, Wahres an sich absonderte. In der Neuzeit wurde daraus eine „gewaltige Ausschließungsmaschinerie“10. Im Namen der Wahrheit, gesttzt durch wissenschaftliche Experimente, wurde Krankheit von Gesundheit, Wahnsinn von Vernunft, Kriminalitt von Rechtmßigkeit strikt getrennt. Die als krank, wahnsinnig oder kriminell Gebrandmarkten wurden auf ganz hnliche Weise kaserniert und diszipliniert. Der Diskurs, dem es angeblich um nichts als die Wahrheit geht, geht es faktisch um Ausschließung und Disziplinierung des fr „falsch“ Erklrten. Der Diskurs der griechischen Dichter hatte laut Foucault den Vorzug, offen dazu zu stehen, dass wahr so viel heißt wie zur Macht gekommen, whrend der platonische es verleugnet, um diese Macht um so unbarmherziger durchzusetzen. Die Frage allerdings, ob es wahr ist, dass Wahrheit nichts als eine Machtfrage sei, stellt sich Foucault berhaupt nicht. Nietzsche sah darin, dass wir „von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen“ sind und dies erkennen kçnnen, immerhin „eine der grçssten und unauflçsbarsten Disharmonien des Daseins“. Fr Foucault ist das einfach so. Es gehçrt zum Diskurs wie die Rundung zum Kreis. „Diskurs“ ist sein Zauberwort. Jede Gesellschaft „kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert“ „die Produktion des Diskurses“ „durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Krfte und die Gefahren des Diskurses zu bndigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialitt zu umgehen“: „seine Verbindung mit dem Begehren und der Macht“; „er ist die Macht, deren man sich zu bemchtigen sucht.“11 Macht und Diskursmacht laufen auf dasselbe hinaus. „Man muss den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun“; „man muss dem Diskurs seinen Ereignischarakter zurckgeben“, denn „es sind die Dinge selbst und die Ereignisse, die sich unmerklich zu Diskursen machen“. „Alles kann schließlich die Form des Diskurses annehmen“.12 Damit aber wird das Wort „Diskurs“ derart inflationiert, dass es jede spezifische Bedeutung verliert. Discurrere heißt wçrtlich „auseinanderlaufen“. Vorstellungen, Gedanken lassen sich nicht als kompakte Pakete bermitteln, sondern nur diskursiv: auseinandergelegt in Worte und Stze. Wo Diskurs ist, ist Sprache. Nicht notwendig nur verbale Sprache; auch Gestik und Mimik gehçren dazu. Von der Materialitt des Diskurses zu reden ist durchaus 10 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, S. 17. 11 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, S. 11. 12 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, S. 34, 33, 32.
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sinnvoll, wenn man damit sagen will: Ein Diskurs ist kein Gespenst. Er materialisiert sich stets in Stimme, Schrift oder Kçrperbewegungen, in Interaktionen, Ritualen und Gewohnheiten, die sich wiederum in Machtverhltnissen und Institutionen niederschlagen. Machtverhltnisse und Institutionen funktionieren nicht ohne Sprache. Man sagt mit Recht, dass die Darbringung des Opfers, die Tçtung des Feindes, die Ausbeutung der Unterworfenen oder die Zeugung von Nachwuchs diskursiv erfolgt, wenn man damit meint: sprachgesttzt. Aber es ist nicht der Diskurs, der das Opfer schlachtet, den Feind tçtet, den Sklaven fesselt, die Fortpflanzung besorgt; es sind Faust, Waffe, Kette und Geschlechtsorgane. Wenn Foucault die Materialitt des Diskurses beschwçrt, dann betreibt er faktisch das Umgekehrte; er verflchtigt Materie, Naturgewalt, Stoffwechsel, Trieb, Begehren in Diskursivitt. Natur wird Diskurs. Schein und Sein, Irrtum und Wahrheit, Subjekt und Objekt sind nur noch diskursive Zuschreibungen. Und wer schreibt zu? Der Diskurs hçchstselbst. Indem er aber als derjenige reklamiert wird, der zuschreibt, ausschließt, konstituiert, ritualisiert, institutionalisiert, wird er unversehens wie eine unermessliche Person gedacht, die sich selbst erzeugt, mit sich selbst spielt, berall und nirgends anzutreffen ist und so die Zge eines ins Ungreifbare verflchtigten bersubjekts annimmt, gegen das sich Nietzsches bermensch geradezu winzig ausnimmt. Und so kehrt am Ende, nur wenig vermummt, die Figur wieder, mit der mein Vortrag begonnen hat: die „Allmacht der Gedanken“. Bei Freud hatte sie den marginalen Status einer Unschuldsbeteuerung. Bei Foucault ist sie zum gesellschaftstheoretischen Konstruktionsprinzip geworden. Die Verflchtigung von Materie in Diskurs ist nichts anderes als ihre Spiritualisierung; allerdings eine sehr undeutliche. Nervenreize, ihre bertragung in Bilder und Laute sowie deren Verflchtigung zu begrifflichen Schemata, also alles das, was der junge Nietzsche bei der Nachzeichnung des Abstraktionsvorgangs so klar auseinander zu halten wusste, verschwimmt dabei in einem diskursiven Brei. Die Allmacht des Diskurses ist eine trbe Allmacht der Gedanken, aber eindeutig ein Fall von „berschtzung der seelischen Vorgnge gegen die Realitt“. Objektive Realitt kommt gar nicht mehr vor. Alles, was der Diskursmacht Widerstand leisten kçnnte, wird ausgeblendet. Und so mndet die berschtzung der seelischen Vorgnge in die der menschlichen Organisationsstrukturen und Produktivkrfte, als wren sie fhig, die Natur wie eine widerstandslose Wachsmasse nach Belieben so oder auch anders zu kneten. Unversehens teilt der mit Allmacht aufgeladene Diskursbegriff den Machbarkeitswahn der fortschrittsglubigsten Techniker und Industriel-
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len. Das ist umso irritierender, als Foucault denen ja gerade den Kampf angesagt und Einsichten in die neuzeitlichen Gewaltverhltnisse erçffnet hat, hinter die keine kritische Gesellschaftstheorie mehr zurck kann. Seine Analysen des Wahnsinns, der Klinik, des Gefngnisses und der „Biomacht“ haben Herrschafts- und Unterdrckungsmechanismen bloßgelegt, die auf der Landkarte der von Marx inspirierten Gesellschaftskritik noch kaum eingezeichnet waren. Er prangerte diese Mechanismen und ihre spezifischen Ausschluss-, Disziplinierungs- und Kasernierungsverfahren heftig an, nahm Partei fr deren Opfer, setzte sich fr die franzçsische Gefangenenbewegung ein, und es war gerade der konstruktivistische Machbarkeitswahn, der ihn dabei beflgelte: der Impuls, dass „eine andere Welt machbar“ sei. Natrlich hat er die andere Welt als die bessere ersehnt. Aber in seiner Diskurstheorie hat eine bessere Welt keinen Ort. Da ist die andere Welt immer nur eine andere Form derselben. Die Kritik an der bestehenden Ausschließungsmaschinerie kann nur zu einer andern Ausschließungsmaschinerie fhren. Auch in seiner eigenen Widerstandshaltung vermochte Foucault nur eine Variante jenes Willens zur Macht wahrzunehmen, den er bekmpfte. Der Wille zur Macht bekommt bei ihm, was er bei Nietzsche gerade nicht hatte: das letzte Wort. Es gibt keinen Blick darber hinaus. Nirgends wird der Wille zur Macht zum Wahrzeichen fr etwas anderes. Er setzt sich immer nur neue diskursive Masken auf, aber er treibt sich dabei in einer geschlossenen Diskurswelt umher. Nietzsche hingegen hatte gerade in der Einsamkeit seiner spteren Jahre ausgiebig Gelegenheit zu lernen, dass der Diskurs nur ein „Durchschnittliches, Mittleres“ (GD, KSA 6, 128) ist. An das Tiefste und Hçchste reicht er nicht heran: namenloses Grauen und unaussprechliches Glck. Das reflektiert sich in Nietzsches Sprache. Es macht ihre unverwechselbare Kraft aus, dass in ihr stets mitschwingt, woran sie nicht heranreicht. Ihre aphoristischen Bocksprnge und Purzelbume sind Abgesandte des Unsagbaren. Zugegeben: Nicht wenige von ihnen kommen halsbrecherisch daher, treten fehl oder verunglcken ganz. Doch gegen eine geschlossene Diskurswelt gibt es kaum eine frischere Widerstandsbewegung als ihre Unbndigkeit.
Abenteuer-Reisen in „eine t i e f e r e W e l t der Einsicht“ Der Psychologe Nietzsche als „Freund der ,grossen Jagd“
Barbara Neymeyr Aspekte des ,Großen finden sich nicht allein in Nietzsches Schriften. Auch bekannte Reprsentanten der literarischen Moderne, die Nietzsches avantgardistische Bedeutung fr wichtige Diskurse des 20. Jahrhunderts erkannten, whlten Formulierungen, die bis zu emphatischen Proklamationen der ,Grçße reichten. So bezeichnet Gottfried Benn den Philosophen in seiner Rede Nietzsche nach 50 Jahren sogar superlativisch als „das grçßte Ausstrahlungsphnomen der Geistesgeschichte“, als „Erdbeben der Epoche“ und als „das grçßte deutsche Sprachgenie“ seit Luther.1 Benn vertritt die These, in Nietzsches Werk htten alle damals aktuellen Diskussionsthemen bereits ihre „definitive Formulierung gefunden“2, und spezifiziert sie durch die Feststellung, Nietzsche habe das Konzept „der Triebpsychologie“ sowie „die ganze Psychoanalyse“ und den „ganze[n] Existentialismus“ antizipiert, so dass sich die Aktivitten der folgenden Generationen auf bloße „Exegese“ htten beschrnken mssen.3 Andere Akzente als Gottfried Benn setzt Robert Musil bei seiner Nietzsche-Rezeption. Whrend Benn neben dem weiten Spektrum von Nietzsches Wirkungsgeschichte die psychologischen und artistischen Dimensionen seines Werkes betont4, konstatiert Musil mit offenkundigem 1
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Gottfried Benn, Nietzsche nach 50 Jahren, in: ders., Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, Bd. 3: Essays und Reden, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt am Main 1989, S. 495 – 504, hier: S. 496. Gottfried Benn, Nietzsche nach 50 Jahren, Frankfurt am Main 1989, S. 495. Gottfried Benn, Nietzsche nach 50 Jahren, Frankfurt am Main 1989, S. 495. Allerdings verkennt Benn Nietzsches philosophischen Anspruch, wenn er ihm attestiert, er habe den „Weg vom Inhalt zum Ausdruck“ vollzogen, gedankliche „Substanz“ durch artistische „Expression“ ersetzt (Gottfried Benn, Nietzsche nach 50 Jahren, Frankfurt am Main 1989, S. 501) und „Inhalte ohne Sinn“ inszeniert (Gottfried Benn, Nietzsche nach 50 Jahren, Frankfurt am Main 1989, S. 500). Vgl. dazu Barbara Neymeyr, Artistik und Vitalismus: Zur Nietzsche-Rezeption bei Benn und Brecht, in: Achim Aurnhammer, Werner Frick und Gnter
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Bedauern: „Wir Deutschen haben – außer dem einen großen Versuch Nietzsches – keine Bcher ber den Menschen; keine Systematiker und Organisatoren des Lebens.“5 Seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften konzipiert Musil als anthropologisches Experimentierfeld. Dabei folgt er Auffassungen Nietzsches, der in der Frçhlichen Wissenschaft den „Gedanke[n], dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein drfe“, als den „grosse[n] Befreier“ apostrophiert (FW, KSA 3, 552) und sogar von sich selbst behauptet, dass er eine „solche Experimental-Philosophie […] lebe“ (NF, KSA 13, 492). Musil gestaltet seinen unkonventionellen, vom Mçglichkeitssinn motivierten ,Mann ohne Eigenschaften , der „hypothetisch [zu] leben“ versucht6, als scharfsinnigen Diagnostiker. In seinem Roman greift er nicht nur auf Nietzsches Konzept des ,freien Geistes zurck, sondern auch auf Strategien seiner subversiven Entlarvungspsychologie, die er als Methode der Kulturkritik einsetzt.7 Schon diese exemplarischen Zeugnisse aus Nietzsches facettenreicher Wirkungsgeschichte8 zeigen seine avantgardistische Position sowohl in philosophischen als auch in kulturpsychologischen Diskursen. Nietzsche
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Saße (Hrsg.), Gottfried Benn – Bertolt Brecht: Das Janusgesicht der Moderne, Wrzburg 2009 (Klassische Moderne Bd. 11), S. 153 – 188, hier: S. 157 – 162. Kurzfassung: Barbara Neymeyr, Das „grçßte Ausstrahlungsphnomen der Geistesgeschichte“. Stationen der Nietzsche-Rezeption im Werk Gottfried Benns, in: Andreas Urs Sommer (Hrsg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin/ New York 2008. S. 477 – 496, hier: S. 477 – 482. Robert Musil, Anmerkung zu einer Metapsychik, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2: Prosa und Stcke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik, hrsg. v. Adolf Fris, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1015 – 1019, hier: S. 1019. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, hrsg. v. Adolf Fris, Reinbek bei Hamburg 1978S. 249. Vgl. dazu Barbara Neymeyr, Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften, Heidelberg 2005 (Beitrge zur neueren Literaturgeschichte Bd. 218). Vgl. hier insbesondere S. 315 – 329, 390 – 420. Vgl. auch Barbara Neymeyr, Identittskrise – Kulturkritik – Experimentalpoesie. Zur Bedeutung der Nietzsche-Rezeption in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: Thorsten Valk (Hrsg.), Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne, Berlin/New York 2009 (Klassik und Moderne. Schriftenreihe der Klassik Stiftung Weimar Bd.1), S. 163 – 182. Wichtige Aspekte der extrem heterogenen Nietzsche-Rezeption in der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts beleuchtet Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, aus dem Englischen von Klaus Laermann, Stuttgart/Weimar 1996.
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selbst antizipiert die Einschtzungen seiner Rezipienten, wenn er in Ecce homo prononciert feststellt: „ – Dass aus meinen Schriften ein P s y c h o l o g e redet, der nicht seines Gleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser gelangt“ (EH, KSA 6, 305), – jedenfalls der idealtypische Leser, der gemß Nietzsches Wunschvorstellung mit philologischer Akribie zu lesen versteht (M, KSA 3, 17). In einer spteren Passage von Ecce homo spitzt Nietzsche diese Selbstcharakterisierung mit der rhetorischen Frage zu: „Wer war berhaupt vor mir unter den Philosophen P s y c h o l o g und nicht vielmehr dessen Gegensatz ,hçherer Schwindler, ,Idealist?“ (EH, KSA 6, 371), um anschließend unmissverstndlich seinen Priorittsanspruch zu markieren: „Es gab vor mir noch gar keine Psychologie. – Hier der Erste zu sein kann ein Fluch sein, es ist jedenfalls ein Schicksal“ (EH, KSA 6, 371) – durch die Gefahr der Misanthropie (EH, KSA 6, 371), die mit dem Habitus „des Verdachts“ (MA, KSA 2, 13) einhergeht. Im folgenden werde ich zunchst Nietzsche als Psychologen profilieren, der mit aufklrerischem Impetus die traditionelle Philosophie kritisierte, um dann im Schlussteil knapp zu skizzieren, welche Aspekte der spteren Psychoanalyse bereits von Nietzsche antizipiert wurden. – Die enge Korrelation zwischen Philosophie und Psychologie betont Nietzsche, wenn er „die psychologische Beobachtung“ als den „gelehrtere[n] Ausdruck“ fr „das Nachdenken ber Menschliches, Allzumenschliches“ bezeichnet (MA, KSA 2, 57). Im letztlich anthropologischen Aufklrungsanspruch von Nietzsches Reflexionen – so meine These – konvergiert die Zielsetzung philosophischer Vorurteilskritik (JGB, KSA 5, 15 – 39) mit der subversiven Grundtendenz einer Entlarvungspsychologie.9 9
Schon Prinzhorn konstatiert: „E n t l a r v u n g d e r m e n s c h l i c h e n S e l b s t t u s c h u n g e n , das ist Nietzsches Anliegen als Psychologe“ (Hans Prinzhorn, Nietzsche und das XX. Jahrhundert, Heidelberg 1928, S. 90). Zugleich betont er zu Recht, dass Nietzsche selbst „den Begriff der Entlarvung“ noch nicht verwendet hat, und sieht ihn erst durch Klages geprgt (Hans Prinzhorn, Nietzsche und das XX. Jahrhundert, Heidelberg 1928, S. 92.) Allerdings irrt sich Prinzhorn, wenn er behauptet, auch „das Wort Selbsttuschung“ sei „bei Nietzsche nicht gebruchlich“ (Hans Prinzhorn, Nietzsche und das XX. Jahrhundert, Heidelberg 1928, S. 92.). In der KSA lassen sich immerhin sieben Belege nachweisen. – Klages schreibt ber Nietzsche: „Er hat keine Theorie der Selbsttuschungen entwickelt; aber er hat die von ihm gefundenen Hilfsmittel, um der Selbsttuschung in jeder Form auf die Spur zu kommen, dermaßen weitausgreifend, erfolgreich und eindringend angewandt, daß den ihn beerbenden Forschern in der Beziehung nicht sonderlich mehr zu tun bliebe, als die grundstzlichen Befunde herauszuholen und sie thematisch einheitlich miteinander zu
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Indem Nietzsche seine avantgardistische Position als erster Psychologe „unter den Philosophen“ (EH, KSA 6, 371) durch den Kontrast zur idealistischen Philosophie „hçherer Schwindler“ definiert (EH, KSA 6, 371), erklrt er den philosophischen Idealismus implizit zu einer contradictio in adjecto. Denn der Erkenntnisanspruch, der sich schon mit dem Begriff der ,Philo-sophia als ,Liebe zur Weisheit verbindet, wird in den idealistischen Spekulationen „hçherer Schwindler“ suspendiert. Dass Nietzsche bei seiner Polemik insbesondere die Tradition der philosophischen Metaphysik im Visier hat, erhellt sich aus seiner Schrift Menschliches, Allzumenschliches. Hier fhrt er die Aktivitten der „Metaphysiker“ schon mithilfe einer Paraphrase ad absurdum: „Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker“ (MA, KSA 2, 384). Dieses Verdikt hat fundamentale Konsequenzen fr den Wahrheitsanspruch der philosophischen Metaphysik, bedeutet doch der altgriechische Begriff ,Aletheia bekanntlich ,Un-verborgenheit im Sinne einer Ent-schleierung des Wesens der Dinge.10 Genau gegenlufige Tendenzen sind laut Nietzsche fr den fragwrdigen Obskurantismus idealistischer „Schleier-Philosophen und WeltVerdunkler“ (MA, KSA 2, 384) charakteristisch. In diesem Sinne wird der Aphorismus „L i c h t - F e i n d s c h a f t“ aus Menschliches, Allzumenschliches zum Ausdruck einer subversiven Entlarvungspsychologie. Hinter der positiven Reaktion auf philosophische Skepsis vermutet Nietzsche fragwrdige Motive: L i c h t - F e i n d s c h a f t . – Macht man Jemandem klar, dass er, streng verstanden, nie von Wahrheit, sondern immer nur von Wahrscheinlichkeit und deren Graden reden kçnne, so entdeckt man gewçhnlich an der unverhohlenen Freude des also Belehrten, wie viel lieber den Menschen die Unsicherheit des geistigen Horizontes ist und wie sie die Wahrheit im Grunde ihrer Seele wegen ihrer Bestimmtheit h a s s e n . – Liegt es daran, dass sie Alle insgeheim selber Furcht davor haben, dass man einmal das Licht der Wahrheit zu hell auf sie fallen lasse? Sie wollen etwas bedeuten, folglich darf man nicht genau wissen, was sie s i n d ? Oder ist es nur die Scheu vor dem verknpfen.“ (Ludwig Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Bonn 1977, S. 48 – 49.) 10 Diese Etymologie bildet letztlich die Basis fr Platons problematische Korrespondenztheorie der Wahrheit (vgl. Platon, Phaidon, 65b-67b): Platon charakterisiert ,Wahrheit im Sinne von ,Deutlichkeit und versteht sie damit als quantifizierbar. Dieses Konzept wirkt bis in die Philosophie Heideggers weiter, der „Aletheia“ przise durch Unverborgenheit (statt durch „Wahrheit“) bersetzte. Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tbingen 1979, S. 212 – 230 (=§44), insbesondere S. 219.
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allzuhellen Licht, an welches ihre dmmernden, leichtzublendenden Fledermaus-Seelen nicht gewçhnt sind, so dass sie es hassen mssen? (MA, KSA 2, 383)
Die kritische Doppelperspektive, in der Nietzsche hier moralische und psychophysische Defizite gleichermaßen als Ursachen fr die „L i c h t F e i n d s c h a f t“ in Betracht zieht, bleibt im Ergebnis letztlich zwar hypothetisch. Aber indem Nietzsche eine Lichtscheu der Menschen konstatiert, die der des philosophischen Obskurantismus hnelt, betont er eine symptomatische Problematik – gleichviel, welches der erwogenen Motive ausschlaggebend gewesen sein mag. Zugleich erçffnet Nietzsche mit der charakteristischen Hell-DunkelMetaphorik den gedanklichen Horizont einer philosophischen Aufklrung, deren Ethos ber die Epochengrenzen des historischen si cle des lumi res weit hinausreicht. Nach der Abkehr vom Antirationalismus seiner Artistenmetaphysik in der Geburt der Tragçdie richtet sich Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, in der Morgenrçthe und der Frçhlichen Wissenschaft zusehends an aufklrerischen Zielsetzungen aus (M, KSA 3, 171 – 172). Programmatisch erklrt er in Menschliches, Allzumenschliches: „Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des knstlerischen.“ (MA, KSA 2, 186) Allerdings reflektiert er auch bereits Aspekte einer ,Dialektik der Aufklrung11, indem er den Wissenszuwachs in der Moderne mit dem Verlust eines genuinen Naturbezugs verbunden sieht: „Ueberstolzer Europer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest! Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tçdtet nur deine eigene.“ (HL, KSA 1, 313) Fr naiv hlt Nietzsche die Hybris des „modernen Menschen“, der „auf der Pyramide des Weltprozesses“ zu stehen whnt und sich selbst als „die vollendete Natur“ fhlt (HL, KSA 1, 313). Mehrmals betont Nietzsche aber auch die Grenzen der historischen Aufklrung, die er fr nicht hinreichend radikal hlt. In entschiedener Abkehr von den demokratischen Egalittsprinzipien zugunsten der „Heerde“, die „die alte“Aufklrung propagierte (NF, KSA 11, 295), entwirft er 1884/85 ein Projekt mit dem Titel „D i e n e u e A u f k l r u n g. Eine Vorbereitung zur ,Philosophie der ewigen Wiederkunft“ (NF, KSA 11, 228, 346), zu dem sich allerdings nur nachgelassene Notizen finden (NF, KSA 11, 86, 228 – 229, 294 – 295, 346). Hier manifestiert sich Nietzsches elitrer Individualismus in der Absicht, „den herrschenden Naturen den 11 Zu diesem Themenkomplex vgl. auch Henning Ottmann, Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklrung, in: Josef Simon (Hrsg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 2, Wrzburg 1985, S. 9 – 34.
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Weg [zu] zeigen“ (NF, KSA 11, 295). Ein wichtiges Ziel der „n e u e [ n ] A u f k l r u n g“ sieht er in der „Aufdeckung der G r u n d i r r t h m e r “ (NF, KSA 11, 294). Vor dem Horizont der modernen Skularisierung und eines Fortschrittsoptimismus, der auf dem Erkenntnispotential wissenschaftlicher Rationalitt und empirischer Forschung basiert, ist auch die aufklrerische Vorurteilskritik zu verstehen, die Nietzsche zur Aufgabe des ,freien Geistes erklrt: Der ,freie Geist emanzipiert sich von der Autoritt der traditionellen Religion und Moral, ist von einem radikalen Willen zur Desillusionierung motiviert, will Irrtmer widerlegen und stellt auch die bloße Scheinsicherheit der etablierten Metaphysik in Frage, indem er sich „den ersten und letzten Dingen“ zuwendet (MA, KSA 2, 23) und sie auf ihr „Menschliches, Allzumenschliches“ hin transparent macht. Im Zuge seiner Entlarvungs- und Demaskierungsstrategien macht der ,freie Geist nicht einmal vor sich selbst Halt – anders als die obskurantistischen „SchleierPhilosophen und Welt-Verdunkler“ (MA, KSA 2, 384), die dem schçnen Schein ihrer Selbstinszenierung verhaftet bleiben. Schon in Menschliches, Allzumenschliches erscheint der Freigeist durch die rckhaltlose Konsequenz seiner Reflexion als zukunftsweisende Ausnahmeexistenz: „Der wahrhaft Freie im Geiste wird auch ber den Geist selber frei denken“ (MA, KSA 2, 384) und bei seiner Abgrenzung von obsoleten Denkkonventionen „die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Grnde, die Anderen Glauben“ (MA, KSA 2, 190). Kritisch gegenber allen „dogmatischen Bestrebungen“ (JGB, KSA 5, 60) und traditionellen „Vorurtheil[en]“ (JGB, KSA 5, 62) und berzeugt von der „Perspektiven-Optik des Lebens“ (JGB, KSA 5, 26), sind die ,freien Geister nach Nietzsches Darstellung in Jenseits von Gut und Bçse „neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit“ und „bereit zu jedem Wagniss“ (JGB, KSA 5, 62). So agieren sie als „Herolde und Vorlufer“ (JGB, KSA 5, 60) der „n e u e n Philosophen“ (JGB, KSA 5, 63), die – hnlich wie „der n e u e Psycholog“ (JGB, KSA 5, 27) – auch die konventionellen Vorstellungen von ,Seele, ,Ich und ,Wille verabschieden. Das „Ich“ erklrt Nietzsche „zur Fiktion, zum Wortspiel“ (GD, KSA 6, 91).12 Den „Aberglauben“ von der „S e e l e n - A t o m i s t i k“ er12 Nietzsche vertritt die These, dass „unsere Conception des Ich-Begriffs nichts fr eine reale Einheit verbrgt“ (NF, KSA 13, 258 – 259). Und er betont die „Klugheit meines ganzen Organismus, von dem mein bewußtes Ich nur ein Werkzeug ist“ (NF, KSA 11, 434).
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setzt er durch das Konzept der „Seele als Subjekts-Vielheit“13 und „als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ (JGB, KSA 5, 27). Und „Wollen“ bezeichnet er als „etwas C o m p l i c i r t e s“, das „nur als Wort eine Einheit ist“ (JGB, KSA 5, 32).14 Der permanente Erkenntnisprozess der ,freien Geister, die „das Perspektivische in jeder Werthschtzung begreifen lernen“ (MA, KSA 2, 20), wird zu einer psychologischen Entdeckungsreise mit aufklrerischem Anspruch, die von Vorurteilen befreien soll und auf Autonomie zielt. Damit ist die Bereitschaft des Menschen zu fortwhrender Selbsttranszendierung verbunden (MA, KSA 2, 21 – 23). Dem Projekt einer „Philosophie der Zukunft“ widmet sich Nietzsche nicht erst in seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse, der er den bezeichnenden Untertitel Vorspiel einer Philosophie der Zukunft gab (JGB, KSA 5, 9), nachdem er zuvor den Untertitel „Selbstgesprche eines Psychologen“ erwogen hatte (NF, KSA 12, 84). Schon sein Werk Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch fr freie Geister weist ber den philosophischen Status quo der Gegenwart hinaus. Hier rumt Nietzsche gleich zu Beginn ein, er habe „die ,freien Geister e r f u n d e n“ – als Surrogat fr fehlende Freunde (MA, KSA 2, 15). Unmissverstndlich konstatiert er: „dergleichen ,freie Geister giebt es nicht, gab es nicht“ (MA, KSA 2, 15). Und doch begreift Nietzsche seine eigene Erfindung als Antizipation einer mçglichen Zukunft. Denn die aus seiner Phantasie entsprungene Fiktion will er in Realitt berfhren. Die Voraussetzungen fr die Entstehung der ,freien Geister versucht er zu eruieren, „um ihr Kommen zu beschleunigen“ (MA, KSA 2, 15). Im Zentrum von Nietzsches Reflexionen steht die berzeugung, dass es zur Autonomie „einer g r o s s e n L o s l ç s u n g“ (MA, KSA 2, 15) von Denkkonventionen und etablierten Normen bedarf. Nur so vermag der ,freie Geist gemß dem Anspruch philosophischer Aufklrung den „Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung“ (MA, KSA 2, 16 – 17) zu entfalten und seiner „gefhrliche[n] Neugierde nach einer unentdeckten Welt“ zu folgen (MA, KSA 2, 16). Das „Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes“ liegt laut Nietzsche darin, „a u f d e n V e r s u c h hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu drfen“ (MA, KSA 2, 18).
13 Vgl. auch NF, KSA 11, 650. 14 Vgl. auch NF, KSA 9, 85 – 86 sowie NF, KSA 11, 64 und NF, KSA 12, 391. Den „I r r t h u m v o m f r e i e n W i l l e n“ erklrt Nietzsche durch die „Psychologie alles Verantwortlichmachens“ und den „Instinkt des S t r a f e n u n d R i c h t e n - W o l l e n s“ (GD, KSA 6, 95).
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Den eigentlichen Fokus seiner Experimentalphilosophie bildet eine psychologisch akzentuierte philosophische Anthropologie. Schon in der nachgelassenen Frhschrift Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne bringt Nietzsche ein fundamentales Desiderat durch die rhetorische Frage zum Ausdruck: „Was weiss der Mensch eigentlich von sich selbst!“ (WL, KSA 1, 877). Und in einer Nachlassnotiz von 1875 formuliert er die programmatische Absicht: „D i e K e n n t n i s s d e s M e n s c h e n vorwrts zu bringen!“ (NF, KSA 8, 45). Diese Zielsetzung verbindet er zugleich mit einer pdagogischen Intention: „Es wird irgendwann einmal gar keinen Gedanken geben als E r z i e h u n g“ (NF, KSA 8, 45). Im Sinne seines anthropologischen Zukunftsprojekts bestimmt Nietzsche die „freien Geister“ in Menschliches, Allzumenschliches metaphorisch als „Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die ,Mensch heisst“ (MA, KSA 2, 21). Dem spekulativen Dogmatismus konventioneller Philosophen steht die Entdeckerlust und Experimentierfreude der „freien Geister“ diametral gegenber. Zwar formulierten schon wichtige Reprsentanten der philosophischen Tradition Fragen von anthropologischer Relevanz. So ließ Kant die Trias philosophischer Orientierungsfragen „1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen?“ bekanntlich in der abschließenden Frage kulminieren: „4) Was ist der Mensch?“15. Aber zugleich sind Differenzen zu den Konzepten Nietzsches zu erkennen. So entschieden er bereits im Untertitel seiner Schrift Jenseits von Gut und Bçse das Projekt einer „Philosophie der Zukunft“ propagiert (JGB, KSA 5, 9), so radikal bt er an Fehlhaltungen und Irrtmern der philosophischen Tradition Kritik. In Menschliches, Allzumenschliches bezeichnet Nietzsche den „Mangel an historischem Sinn“ als fundamentales Defizit, ja als den „Erbfehler aller 15 Immanuel Kant s Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hrsg. von Gottlob Benjamin Jsche. Berlin 1923, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unvernderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 9, Berlin 1968, S. 1 – 150, hier: S. 25. Den Primat der anthropologischen Fragestellung markiert Kant, indem er fortfhrt: „Die erste Frage beantwortet die M e t a p h y s i k, die zweite die M o r a l, die dritte die R e l i g i o n und die vierte die A n t h r o p o l o g i e. Im Grunde kçnnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen.“ (Immanuel Kant s Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, Bd. 9, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unvernderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 9, Berlin 1968, S. 25)
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Philosophen“ (MA, KSA 2, 24). Dieses Manko hat seines Erachtens auch fr den Bereich der Anthropologie problematische Konsequenzen, weil sich die Philosophen vorschnell auf „eine Analyse“ des „gegenwrtigen Menschen“ festlegen, dessen Charakteristika sie „als eine aeterna veritas“ hypostasieren. Damit setzen sie voraus, „der Mensch“ kçnne als Stabilisierungsfaktor „in allem Strudel“ und als „sicheres Maass der Dinge“ fungieren (MA, KSA 2, 24). Dabei verkennen die Philosophen nach Nietzsches Auffassung nicht nur die Bedeutung der phylogenetischen Entwicklungsgeschichte des Menschen generell, sondern auch deren Relevanz fr „das Erkenntnissvermçgen“ speziell (MA, KSA 2, 24), das mithin ebenfalls historisch zu relativieren ist. In Menschliches, Allzumenschliches attestiert Nietzsche den traditionellen Philosophen eine prekre Unbelehrbarkeit: „Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermçgen geworden ist; whrend Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermçgen sich herausspinnen lassen.“ (MA, KSA 2, 24) Der Neigung, den Menschen und seinen Intellekt zur „aeterna veritas“ zu stilisieren (MA, KSA 2, 24), entspricht die Tendenz der Philosophen zu Projektionen. Sie fhrt zur Annahme von „e w i g e n T h a t s a c h e n“ und „absoluten Wahrheiten“ (MA, KSA 2, 25). Nietzsche hlt solchen verfehlten Prmissen die lapidare Feststellung entgegen: „Alles aber ist geworden.“ (MA, KSA 2, 25) Aus ihr leitet er die methodische Konsequenz ab: „Demnach ist das h i s t o r i s c h e P h i l o s o p h i r e n von jetzt ab nçthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.“ (MA, KSA 2, 25) Explizit korreliert er auch die Geschichte mit dem Projekt „A u f k l r u n g“, das es „weiterzufhren“ gilt (M, KSA 3, 172), und zwar mit dem Ziel einer „f o r t s c h r e i t e n d e n E n t w i c k e l u n g“ (MA, KSA 2, 299).16 16 Vgl. dazu MA, KSA 2, 41 – 42, 299 und M, KSA 3, 171 – 172. In der Morgenrçthe kritisiert Nietzsche die „F e i n d s c h a f t d e r D e u t s c h e n g e g e n d i e A u f k l r u n g“ (M, KSA 3, 171). Sie zeigt sich im „Cultus des Gefhls […] an Stelle des Cultus der Vernunft“ (M, KSA 3, 171) und beinhaltet, wie Nietzsche hellsichtig diagnostiziert, „k e i n e g e r i n g e a l l g e m e i n e G e f a h r“ (M, KSA 3, 172). Ausdrcklich postuliert er: „Diese Aufklrung haben wir jetzt weiterzufhren.“ (M, KSA 3, 172) Gegen „leidenschaftliche Thorheiten“ und den „Aberglaube[n] Rousseau s“, der an „eine wundergleiche, ursprngliche, aber gleichsam v e r s c h t t e t e Gte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener Verschttung beimisst“ (MA, KSA 2, 299), empfiehlt Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, den „G e i s t d e r A u f k l r u n g u n d d e r f o r t s c h r e i t e n d e n E n t w i c k e l u n g […] wieder
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In der Gçtzen-Dmmerung setzt Nietzsche diese historische Argumentation in polemisch verschrfter Form fort: „Gehirnleiden kranker Spinneweber“ (GD, KSA 6, 76) attestiert er hier den Philosophen, die sich als „Begriffs-Gçtzendiener“ der Illusion hingeben, „einer Sache eine E h r e anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie aeterni“ (GD, KSA 6, 74). Infolge ihrer spezifischen Defizite haben diese pathologischen Philosophen laut Nietzsche „seit Jahrtausenden“ bloße „Begriffs-Mumien“ hervorgebracht, weil sie „Wandel […] und Wachsthum“ als reale Gegebenheiten nicht akzeptieren kçnnen: „Sie tçdten, sie stopfen aus […], wenn sie anbeten.“ (GD, KSA 6, 74) Die Sinne hingegen diffamieren sie als verlogen (GD, KSA 6, 74), weil diese „das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen“ (GD, KSA 6, 75). Diese Einschtzung begrnden die „Begriffs-Gçtzendiener“ so: Die Sinne „betrgen uns ber die w a h r e Welt“ (GD, KSA 6, 74). Im berhmten Abschnitt der GçtzenDmmerung „Wie die ,wahre Welt endlich zur Fabel wurde“ entwirft Nietzsche kritische Perspektiven auf wichtige Stationen der Philosophiegeschichte seit Platon (GD, KSA 6, 80 – 81).17 Durch ihre „Idiosynkrasie“ (GD, KSA 6, 76) gegenber der sinnlichen Dimension berauben sich die traditionellen Philosophen wichtiger „Werkzeuge der Beobachtung“ (GD, KSA 6, 75). Nietzsche hingegen betrachtet die Bereitschaft, „das Zeugniss der Sinne a n z u n e h m e n“, als conditio sine qua non von Wissenschaft (GD, KSA 6, 76). Auf empirischer Beobachtung basiert auch die „Kunst der psychologischen Zergliederung“ (MA, KSA 2, 57), die Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches darstellt und zugleich selbst realisiert. Nach seiner berzeugung kann „der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen […] der Menschheit nicht erspart bleiben“ (MA, KSA 2, 59). – Die damit verbundene Desillusionierung stellt das Gegenextrem zu jener geradezu ins Phantastische reichenden philosophischen Hybris dar, die Nietzsche in seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne kritisiert. Hier macht er die verzurckzurufen“ (M, KSA 3, 172). Aufschlussreich ist Nietzsches ideologiekritische berlegung, das Ziel der Aufklrung bestehe nicht allein darin, „aberglubische und religiçse Begriffe und Aengste“ (MA, KSA 2, 41) zu berwinden, vielmehr sei es auch notwendig, die historische und psychologische Relevanz solcher Vorstellungen fr die Entwicklung der Menschheit mitzureflektieren (MA, KSA 2, 41 – 42). 17 Vgl. auch die Nachlass-Notate in NF, KSA 12, 327 – 328, 364 – 368 und NF, KSA 13, 350 – 354.
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kehrte Optik der Philosophen evident, indem er die Szenerie bis in kosmologische Dimensionen weitet: In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmthigste und verlogenste Minute der ,Weltgeschichte: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzgen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. (WL, KSA 1, 875)
Zuerst suspendiert Nietzsche das schon durch Kopernikus obsolet gewordene geozentrische Weltbild und folgt damit modernen naturwissenschaftlichen Paradigmata. Dabei verliert die Erde ihre singulre Bedeutung als angebliches Zentrum des gesamten Kosmos, die ihr einst die Theologen zugeschrieben haben. Wenn sie zu einem beliebigen Planeten in „irgend einem abgelegenen Winkel“ des Weltalls marginalisiert wird (WL, KSA 1, 875), dann erscheint sie zugleich entwertet. Auch der Sonderstatus des Menschen, der nach der biblischen Tradition als ,Krone der Schçpfung galt, wurde durch die moderne biologische Forschung in Frage gestellt. Indem Nietzsche die Menschen als „kluge Thiere“ in den Bereich der Fauna integriert, greift er auf die tradierte anthropologische Bestimmung als animal rationale zurck und trgt zugleich der Evolutionslehre Darwins Rechnung. Infolgedessen erfhrt die grundstzlich animalische Natur des Menschen durch das Epitheton ,klug lediglich eine Spezifikation. Diese Depotenzierung lsst an Freuds Darlegungen zu den drei großen narzisstischen Krnkungen denken, welche die Menschheit durch die astronomischen Entdeckungen des Kopernikus, die biologischen Forschungen Darwins und schließlich durch die von ihm selbst begrndete Psychoanalyse erlitten hat.18 18 Vgl. dazu Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einfhrung in die Psychoanalyse (1916 – 1917), in: ders., Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt am Main 1982, S. 33 – 445, hier: S. 283 – 284. Freud schreibt: „Zwei große Krnkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden mssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Grçße kaum vorstellbaren Weltsystems“, und die zweite, als die „Abstammung“ des Menschen „aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur“ durch Darwin, Wallace und ihre Vorgnger gezeigt wurde. „Die dritte und empfindlichste Krnkung aber soll die menschliche Grçßensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf krgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht.“
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Einen Gegenentwurf zur Tendenz traditioneller Philosophen, den Menschen und seine Erkenntnis zu einer „aeterna veritas“ zu hypostasieren, um diese als Konstante „in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge“ in Anspruch nehmen zu kçnnen (MA, KSA 2, 24), formuliert Nietzsche ebenfalls in seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne. Hier beschreibt er die Phylogenese des Intellekts und legt sie auf ein temporales Minimum fest, nmlich auf „eine Minute“ (WL, KSA 1, 875). Schon die Punktualitt dieses Ereignisses relativiert seine Bedeutung, und dies um so mehr, als es nur ber einen Zeitraum von „wenigen Athemzgen“ wirksam bleibt. Nach der von Nietzsche spielerisch-hypothetisch inszenierten kosmologischen Metaperspektive jedenfalls folgt der Entstehung des Intellekts schon bald der Tod der „klugen Thiere“ (WL, KSA 1, 875). Angesichts der rumlichen und zeitlichen Unermesslichkeit des Kosmos verrt die Hybris des Menschen eine geradezu groteske Selbstberschtzung. Indem Nietzsche die kurze Zeitspanne menschlicher Existenz auf dem Planeten Erde, die zur ,Erfindung des Erkennens fhrte, sogar superlativisch als „die hochmthigste und verlogenste Minute der ,Weltgeschichte“ bezeichnet (WL, KSA 1, 875), diskreditiert er das animal rationale durch den Vorwurf intellektueller Unredlichkeit. Die Hybris der „klugen Thiere“ fhrt Nietzsche ad absurdum, indem er betont, „wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben“ (WL, KSA 1, 875). In satirischer Absicht analogisiert Nietzsche das anthropozentrische Weltbild des Menschen mit der Perspektive der Mcke: Nur der Mensch nimmt seinen Intellekt „so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Kçnnten wir uns aber mit der Mcke verstndigen, so wrden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Centrum dieser Welt fhlt“ (WL, KSA 1, 875). Nachdem Nietzsche die Makroperspektive auf die Erdgeschichte mit der Mikroperspektive des Insekts kontrastiert hat, beendet er den Abschnitt mit einer fulminanten polemischen Pointe: „und wie jeder Lasttrger seinen Bewunderer haben will, so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, von allen Seiten die Augen des Weltalls teleskopisch auf sein Handeln und Denken gerichtet zu sehen“ (WL, KSA 1, 875 – 876). So wenig vermag ausgerechnet der Philosoph die spezifischen Voraussetzungen seines Erkennens und dessen perspektivischen Charakter zu reflektieren, dass er weder zu methodischer Selbstrelativierung noch zu einer realistischen Einschtzung der Welt in der Lage ist. Und mehr noch:
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Indem Nietzsche die erkenntnistheoretische Relevanz subjektiver Bedrfnisse betont, formuliert er bereits Anstze zu einer „Psychologie der Philosophen“ (NF, KSA 12, 236), die er spter noch ausdifferenziert (NF, KSA 13, 285). Der Topos von einem besonnenen und weisen Philosophen jedenfalls wird durch die naive Egozentrik konterkariert, mit der er einem geradezu ridiklen Narzissmus verfllt. In diesem Sinne ist „der stolzeste Mensch, der Philosoph“ (WL, KSA 1, 875), zugleich der realittsfernste, weil die fr den Menschen generell charakteristische Tendenz zur anthropomorphen berformung der Wirklichkeit ausgerechnet bei ihm ein fatales Maximum erreicht. Diese habituelle Selbstberschtzung inszeniert Nietzsche hier gleichsam als ,Berufskrankheit des Philosophen. Durch die Metapher vom teleskopischen Blick der „Augen des Weltalls“ auf „sein Handeln und Denken“ (WL, KSA 1, 876) gibt er ihr eine groteske Zuspitzung. Auch in Jenseits von Gut und Bçse reflektiert Nietzsche psychologische Rahmenbedingungen des Philosophierens. Mit einer halb skeptischen, halb spçttischen Perspektive auf die Philosophen stellt er fest, „wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren“ (JGB, KSA 5, 18) – aufgrund einer spezifischen Mischung aus Naivitt und Unehrlichkeit. Nietzsche konstatiert: „das meiste bewusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich gefhrt und in bestimmte Bahnen gezwungen“ (JGB, KSA 5, 17). Fehlende intellektuelle Redlichkeit attestiert er den Philosophen, indem er sie als „verschmitzte Frsprecher ihrer Vorurtheile“ beschreibt, die sie zu Unrecht als „Wahrheiten“ ausgeben (JGB, KSA 5, 19). Wenn sie suggerieren, ihre Theorien seien das Produkt einer „kalten, reinen […] Dialektik“, dann kaschieren sie die Tatsache, dass dabei oft bloß ein abstrahierter „Herzenswunsch“ mit nachtrglich „gesuchten Grnden vertheidigt wird“ (JGB, KSA 5, 18 – 19). Als exemplarische Flle betrachtet Nietzsche Kants „kategorischen Imperativ“ und Spinozas „Hocuspocus von mathematischer Form“ (JGB, KSA 5, 19). Die Annahme, die Philosophie entspringe einem „Trieb zur Erkenntniss“ (JGB, KSA 5, 20), hlt Nietzsche angesichts derartiger Beispiele aus der Philosophiegeschichte fr einen fatalen Irrtum. Und wenn er sich in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral von „der gefhrlichen alten Begriffs-Fabelei“ distanziert, die ein „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss“ voraussetzt (GM, KSA 5, 365), dann bt er implizit Kritik an Schopenhauer.19 Nietzsche zufolge gibt 19 Im Dritten Buch seines Hauptwerks Die Welt als Wille und Vorstellung schreibt Schopenhauer in § 34 ber den „bergang von der gemeinen Erkenntnis ein-
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es „n u r ein perspektivisches Sehen, n u r ein perspektivisches ,Erkennen“ (GM, KSA 5, 365). Whrend Schopenhauer den Philosophen wie den Knstler durch eine Haltung willenloser Kontemplation, durch reine interesselose Objektivitt ausgezeichnet sieht, charakterisiert Nietzsche „jede grosse Philosophie“ als subjektives „Selbstbekenntnis ihres Urhebers“ (JGB, KSA 5, 19). In der Frçhlichen Wissenschaft vertritt er die Auffassung, dass individuelle Faktoren die philosophischen Konzepte auf sehr unterschiedliche Weise prgen: „Bei dem Einen sind es seine Mngel, welche philosophiren, bei dem Andern seine Reichthmer und Krfte. Ersterer hat seine Philosophie n ç t h i g , sei es als Halt, Beruhigung, Arznei, Erlçsung, Erhebung, Selbstentfremdung; bei Letzterem ist sie nur ein schçner Luxus.“ (FW, KSA 3, 347) Entschieden bt Nietzsche Kritik an der Autosuggestion der Philosophen, es sei „die reine Geistigkeit“, die „ihnen die Probleme der Erkenntniß und Metaphysik vorlege“ (NF, KSA 13, 285). Diese Fehleinschtzung korrigiert er mit seiner „P s y c h o l o g i e d e r P h i zelner Dinge zur Erkenntnis der Idee“, er geschehe „plçtzlich, indem die Erkenntnis sich vom Dienste des Willens losreißt“, so dass „ebendadurch das Subjekt aufhçrt, ein bloß individuelles zu sein, und jetzt reines, willenloses Subjekt der Erkenntnis ist“. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, in: ders., Smtliche Werke, Bd. 1, hrsg. v. Wolfgang Frhr. von Lçhneysen, Darmstadt 1976 – 1982, S. 256.) Und im Kontext dieser Stelle heißt es mit einer Formulierung, die Nietzsche implizit wçrtlich zitiert (GM, KSA 5, 365): Der „in dieser Anschauung Begriffene […] ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, in: ders., Smtliche Werke, Bd. 1, hrsg. v. Wolfgang Frhr. von Lçhneysen, Darmstadt 1976 – 1982, S. 257). – Zu Schopenhauers sthetik der Willenlosigkeit entwirft Nietzsche ein Gegenkonzept: Seiner „P s y c h o l o g i e d e s K n s t l e r s“ zufolge verdankt sich die Kunst dem „R a u s c h“ als „physiologische[r] Vorbedingung“ (GD, KSA 6, 116). „Das Wesentliche am Rausch ist das Gefhl der Kraftsteigerung und Flle. Aus diesem Gefhle giebt man an die Dinge ab, man z w i n g t sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, – man heisst diesen Vorgang I d e a l i s i r e n“ (GD, KSA 6, 116). Und Nietzsche fhrt fort: „Man bereichert in diesem Zustande Alles aus seiner eignen Flle: was man sieht, was man will, man sieht es geschwellt, gedrngt, stark, berladen mit Kraft. Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht wiederspiegeln, – bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies Verwandelnm s s e n in s Vollkommne ist – Kunst“ (GD, KSA 6, 116 – 117). – Vgl. hierzu eine vergleichende Analyse der sthetischen Konzepte Kants, Schopenhauers und Nietzsches im Ausgang von Heideggers Nietzsche-Vorlesungen: Barbara Neymeyr, sthetische Autonomie als Abnormitt. Kritische Analysen zu Schopenhauers sthetik im Horizont seiner Willensmetaphysik, Berlin/New York 1996 (Quellen und Studien zur Philosophie Bd. 42), hier insbesondere S. 215 – 251.
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l o s o p h e n“ (NF, KSA 13, 285), deren geistige Autonomie er durch physiologische Prgungen und Instinktdetermination in Frage gestellt sieht (NF, KSA 13, 285). Und den „p h i l o s o p h i s c h e [ n ] habitus des menschlichen Geistes“, der seine „gesetzmßige Gymnastik“ in Ursachenforschung sowie „in Raum- und Zeit-Vorstellungen“ vollzieht, fhrt Nietzsche auf eine „psychologische Nothwendigkeit“ zurck, die aber historisch „g e w o r d e n“ ist (NF, KSA 11, 449), also keineswegs berzeitliche Allgemeingltigkeit beanspruchen kann. Die spezifischen Defizite von „kranken Denkern“ spiegeln sich nach Nietzsches Vermutung auch in der Philosophiegeschichte wider, und zwar in den Gedanken, die „unter den D r u c k der Krankheit gebracht“ werden (FW, KSA 3, 347). So avancieren sie zu einem aufschlussreichen Forschungsobjekt fr philosophisch interessierte Psychologen. Auch auf der Basis seiner eigenen Leidensbiographie konstatiert Nietzsche in der Frçhlichen Wissenschaft: „Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach dem Verhltniss von Gesundheit und Philosophie.“ (FW, KSA 3, 347) Einen rein projektiven Charakter attestiert Nietzsche philosophischen Spekulationen ber „Gott“ als „Ursache an sich, als ens realissimum“ (GD, KSA 6, 76). Entsprechendes gilt fr die Annahme: „Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle hçchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne – das Alles kann nicht geworden sein, m u s s folglich causa sui sein.“ (GD, KSA 6, 76) Indem Nietzsche philosophische Konzepte dieser Art polemisch als „Gehirnleiden kranker Spinneweber“ bezeichnet (GD, KSA 6, 76), pathologisiert er sie. Als symptomatisch betrachtet er aber nicht nur solche problematischen Sonderflle, vielmehr gilt laut Nietzsche prinzipiell: Wer „Person“ ist, hat „nothwendig auch die Philosophie seiner Person“ (FW, KSA 3, 347) – entweder als Halt und Palliativmittel oder aber als Luxusphnomen, als Ausdruck eines Kraftberschusses. Dieser kann sich sogar in einem euphorischen Exzess entladen: in der „Wollust einer triumphirenden Dankbarkeit, welche sich zuletzt noch in kosmischen Majuskeln an den Himmel der Begriffe schreiben muss“ (FW, KSA 3, 347).20 In psycholo20 Auf analoge Weise beschreibt schon Heinrich Heine im Buch der Lieder einen hybriden Gestus der Entgrenzung als Ausdruck erotischer Leidenschaft. Im Gedicht Erklrung seines Nordsee-Zyklus heißt es: „Und mit starker Hand, aus Norwegs Wldern, / Reiß ich die hçchste Tanne, / Und tauche sie ein / In des tnas glhenden Schlund, und mit solcher / Feuergetrnkten Riesenfeder / Schreib ich an die dunkle Himmelsdecke: / ,Agnes, ich liebe dich!“ (Heinrich Heine, Erklrung , in: ders: Smtliche Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Klaus Briegleb. Mnchen/
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gischer Hinsicht ist ein solcher Hybris-Anfall, wie Nietzsche ihn in der Frçhlichen Wissenschaft beschreibt, nicht weniger aufschlussreich als Versuche, mithilfe der Philosophie Defizite zu kompensieren. Offenkundig von eigenen Leidenserfahrungen ausgehend, propagiert Nietzsche in der Frçhlichen Wissenschaft „das Experiment“ als aussichtsreiche Methode (FW, KSA 3, 347). Durch rigorose „Selbst-Befragung, Selbst-Versuchung“ gewinnt der Leidende Einblick in die physiologischen Bedingtheiten seines Denkens und vermag zu erkennen, „wohin unbewusst der kranke L e i b und sein Bedrfniss den Geist drngt, stçsst, lockt – nach […] Arznei, Labsal in irgend einem Sinne“ (FW, KSA 3, 348). So erlaubt eine Tendenz zu Friedensideologien oder negativ definierten Glcksidealen, zu religiçser Jenseitssehnsucht oder zu sthetischen Gegenwelten psychologische Rckschlsse auf die subjektiven Wnsche des Denkenden: „Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedrfnisse unter die Mntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit.“ (FW, KSA 3, 348) Daher kommt philosophischen „Welt-Bejahungen oder Welt-Verneinungen“ (FW, KSA 3, 348), so spekulativ sie auch sein mçgen, doch eine symptomatische Bedeutung zu: „Historiker und Psychologen“ kçnnen sie als Indizien fr die Strke oder Schwche des Leibes bewerten (FW, KSA 3, 349). In Jenseits von Gut und Bçse erklrt Nietzsche dezidiert, er betrachte „Psychologie“ als „Morphologie und E n t w i c k l u n g s l e h r e d e s W i l l e n s z u r M a c h t“ (JGB, KSA 5, 38). Mit seinem Konzept will er die „gesammte Psychologie“ berbieten, die bisher „an moralischen Vorurtheilen und Befrchtungen hngen geblieben“ ist, weil sie „sich nicht in die Tiefe gewagt“ hat (JGB, KSA 5, 38). Die traditionelle Psychologie Wien 1976, S. 187 – 188, hier: S. 187.) Sowohl auf diese lyrische Ekstase als auch auf Nietzsches hyperbolisch inszenierte Vorstellung scheint in der Dcadence des Fin de si cle Thomas Mann mit seiner frhen Venedig-Erzhlung Enttuschung anzuspielen. Hier formuliert der Protagonist seine radikale Sprachkritik, die er vor allem gegen Rhetorik und Poesie richtet, u. a. folgendermaßen: „Ach, ich habe gelernt, sie zu hassen, diese Dichter, die ihre großen Wçrter an alle Wnde schreiben und sie mit einer in den Vesuv getauchten Zeder am liebsten an die Himmelsdecke malen mçchten, – whrend doch ich nicht umhinkann, jedes große Wort als eine Lge oder als einen Hohn zu empfinden!“ (Thomas Mann, Enttuschung, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 8: Erzhlungen, Frankfurt am Main 1990, S. 62 – 68, hier: S. 65). Vgl. dazu Barbara Neymeyr, Der Traum von einem Leben ohne Horizont. Zum Verhltnis zwischen Realittserfahrung und Sprachskepsis in Thomas Manns Erzhlung Enttuschung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 217 – 244, hier: S. 227.
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kritisiert Nietzsche hier also mit hnlichen Argumenten wie die etablierte Philosophie. Da es sowohl der psychologischen Beobachtung als auch der philosophischen Reflexion an diagnostischer Tiefenschrfe und analytischer Przision fehlte, verkannte man laut Nietzsche bislang, dass Gefhle wie „Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte“ wirken kçnnen (JGB, KSA 5, 38). Diese Erfahrung zhlt er in Jenseits von Gut und Bçse zum „ungeheuren fast noch neuen Reiche gefhrlicher Erkenntnisse“ (JGB, KSA 5, 38) fr Psychologen mit Entdeckergeist, die zugleich ber den Mut verfgen, unkonventionelle Wege außerhalb etablierter Moralsysteme zu beschreiten. Emphatisch weist Nietzsche auf die besonderen Erkenntnismçglichkeiten fr Psychologen hin: „Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden und Abenteurern eine t i e f e r e W e l t der Einsicht erçffnet.“ (JGB, KSA 5, 39) Den fundamentalen Anspruch dieses Forschungsprojekts, das exzeptionelle Anforderungen an die Psychologen und Philosophen der Zukunft stellt, markiert Nietzsche, indem er die Erkenntnisperspektive nicht nur in horizontaler, sondern auch in vertikaler Richtung erweitert: Einerseits postuliert er fr Psychologen und Philosophen den Wagemut und die Risikobereitschaft eines Seefahrers, der „mit seinem Schiffe […] die Hand fest am Steuer! […] geradewegs ber die Moral w e g“ fhrt (JGB, KSA 5, 38). Andererseits vergleicht er die tiefschrfende Arbeit eines Denkers im „Schacht seines Wesens“ (SE, KSA 1, 340) mit der des Bergmanns. Bereits in der Literatur von Novalis, Tieck und E.T.A. Hoffmann hat das Bergwerk als Symbol romantischer Innerlichkeit eine symptomatische Bedeutung.21 Konsequenzen aus diesen prgnanten metaphorischen Vorstellungen zieht Nietzsche in der Vorrede der Morgenrçthe, die mit der Erklrung beginnt: „In diesem Buche findet man einen ,Unterirdischen an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden.“ (M, KSA 3, 11) Nietzsche selbst betreibt solche subversive Tiefenforschung, indem er die dogmatischen Prmissen der etablierten Philosophie kritisch hinterfragt und das „V e r t r a u e n z u r M o r a l zu untergraben“ beginnt (M, KSA 3, 12). In Ecce homo beschreibt er „den Philosophen“ mit expressiver Theatralik als „einen furchtbaren Explosionsstoff, vor dem Alles in Gefahr ist“ (EH, KSA 6, 320). Der Untertitel der Gçtzen-Dmmerung lautet: Wie man mit dem Hammer philosophirt. Entgegen dem ersten Eindruck, hier sei eine Brachialgewalt der Zerstçrung am Werke, schließt die Vorstellung 21 Dies gilt fr Novalis Roman Heinrich von Ofterdingen ebenso wie fr Ludwig Tiecks Erzhlung Der Runenberg und fr E.T.A. Hoffmanns Fantasiestck Die Bergwerke zu Falun.
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dieses Werkzeugs allerdings auch die diagnostische Funktion des medizinischen Perkussionshmmerchens als Bedeutungsaspekt mit ein (GD, KSA 6, 57 – 58). Das Kapitel „von den Vorurtheilen der Philosophen“ in Jenseits von Gut und Bçse beendet Nietzsche prononciert, indem er der Psychologie eine singulre Bedeutung zuspricht: Er erklrt sie zur „Herrin der Wissenschaften“, in deren Dienst sich „die brigen Wissenschaften“ zu stellen haben, weil sie den „Weg zu den Grundproblemen“ erçffnet (JGB, KSA 5, 39). Seine Schrift Nietzsche contra Wagner versieht er mit dem symptomatischen Untertitel Aktenstcke eines Psychologen (NW, KSA 6, 413).22 Die drei Abhandlungen der Genealogie der Moral charakterisiert Nietzsche in Ecce homo retrospektiv als „entscheidende Vorarbeiten eines Psychologen fr eine Umwerthung aller Werthe“ (GM, KSA 6, 353). Und fr die Gçtzen-Dmmerung, die ursprnglich Gçtzen-Hammer hieß, erwog er im Herbst 1888 mehrere Untertitel-Versionen, die alle einen Primat der Psychologie signalisieren: „Heiterkeiten eines Psychologen“, „wie ein Psycholog Fragen stellt“ sowie „Mssiggang eines Psychologen“ (NF, KSA 13, 586). Soll demzufolge also auch die Philosophie in Zukunft nur noch propdeutische Funktion fr die Psychologie haben – als bloße ancilla psychologiae? – In dieser Hinsicht bezieht Nietzsche letztlich keine eindeutige Position: Einerseits weist er der Philosophie einen hnlichen Primat zu wie der Psychologie in Jenseits von Gut und Bçse. Nur ein Jahr spter schreibt er in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral: „A l l e Wissenschaften haben nunmehr der Zukunfts-Aufgabe des Philosophen vorzuarbeiten“, und zwar in dem Sinne, „dass der Philosoph das P r o b l e m v o m W e r t h e zu lçsen hat, dass er die R a n g o r d n u n g d e r W e r t h e zu bestimmen hat – “ (GM, KSA 5, 289). Andererseits jedoch konstatiert Nietzsche schon in einer Nachlass-Notiz von 1877: „Der Fehler fast jeder Philosophie ist ein Mangel an Menschen-Kenntniss, eine ungenaue psychologische Analyse.“ (NF, KSA 8, 399) Dieses Defizit fhrt er auf die verbreitete „Unterschtzung der psychologischen Beobachtung“ zurck (NF, KSA 8, 443). Daher betrachtet Nietzsche selbst die psycho22 Im Vorwort erklrt Nietzsche seine Polemik Nietzsche contra Wagner zu einem „Essai fr Psychologen“ (NW, KSA 6, 415). Sich selbst attestiert er einen geschrften Blick fr verfehlte Rckschlsse, den er „vor allen Psychologen voraus habe“ (NW, KSA 6, 426). Exemplarisch nennt er den Rckschluss „vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thter, vom Ideal auf Den, der es n ç t h i g hat“ (NW, KSA 6, 426).
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logische Detailarbeit als unentbehrliche Basis „fr alles zuknftige Philosophiren“ und setzt voraus, dass sie fr „eine sptere Generation“ wertvolles Material bereitstellen kann (NF, KSA 8, 444). In Menschliches, Allzumenschliches begrndet er den Sonderstatus der Psychologie damit, dass sie sich mit „Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen“ auseinandersetzt (MA, KSA 2, 59 – 60), also mit einem zentralen Thema, dessen Vernachlssigung fundamentale „Irrthmer der grçssten Philosophen“ zur Folge hatte (MA, KSA 2, 60). Sie entstanden durch die „Oberflchlichkeit der psychologischen Beobachtung“, die zur „falschen Erklrung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen“ fhrte (MA, KSA 2, 60).23 Laut Nietzsche manifestiert sich die „Rechtschaffenheit“ des differenzierten Psychologen darin, „dass er der schndlich v e r m o r a l i s i r t e n Sprechweise widerstrebt“ (GM, KSA 5, 385). Infolgedessen sind Nietzsches Perspektiven auf Philosophie und Psychologie gleichermaßen durch einen aufklrerischen Anspruch auf Desillusionierung bestimmt. Außer einer „P s y c h o l o g i e d e r P h i l o s o p h e n“ (NF, KSA 13, 285) will er auch eine „Psychologie des P s y c h o l o g e n“ (NF, KSA 13, 230) entwickeln. In einer nachgelassenen Notiz von 1888 scheinen Philosophie und Psychologie sogar zu koinzidieren. Nietzsche schreibt: „Wir haben fast alle psychologischen Begriffe, an denen die bisherige Geschichte der Psychologie – was heißt der Philosophie! – hing, annullirt.“ (NF, KSA 13, 414) Indem er die Philosophie als Resultat physiologischer Zustnde und durch sie bedingter psychischer Bedrfnisse betrachtet, spricht er ihr die Aura „reine[r] Geistigkeit“ ab (NF, KSA 13, 285). Als eine „Kunst der Transfiguration“ unterschiedlicher gesundheitlicher Zustnde (FW, KSA 3, 349) spiegelt sie auch die Leidensfhigkeit des Philosophen wider. In der Frçhlichen Wissenschaft erklrt Nietzsche: Wir sind keine denkenden Frçsche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, – wir mssen bestndig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebren und mtterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von 23 Vgl. auch eine aufschlussreiche Nachlass-Notiz von 1876/77: „Erwgt man, wie die Irrthmer großer Philosophien gewçhnlich ihren Ausgangspunkt in einer falschen Erklrung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben […], so sieht man ein, wie unbillig die gewçhnliche Unterschtzung der psychologischen Beobachtung ist: whrend eben die Oberflchlichkeit der psychologischen Beobachtung, also das Resultat jener Unterschtzung, dem menschlichen Denken und Urtheilen die gefhrlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwhrend von Neuem legt.“ (NF, KSA 8, 443)
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Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhngniss in uns haben. Leben – das heisst fr uns Alles, was wir sind, bestndig in Licht und Flamme verwandeln. (FW, KSA 3, 349 – 350)24
„Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes“, und zwar „als der Lehrmeister des g r o s s e n V e r d a c h t e s“, der „uns Philosophen“ dazu zwingt, „in unsre letzte Tiefe zu steigen“ – so Nietzsche in der Frçhlichen Wissenschaft (FW, KSA 3, 350). Auf diese Weise wird eine neuartige Radikalitt des Fragens mçglich. In Ecce homo versteht Nietzsche „Philosophie“ als „das Aufsuchen alles Fremden und Fragwrdigen“ (EH, KSA 6, 258). Aus dieser Einschtzung zieht er die Konsequenz, indem er die Frage „Wie viel Wahrheit e r t r g t , wie viel Wahrheit w a g t ein Geist?“ zum Kriterium seines Wertes erklrt (EH, KSA 6, 259). Vom spekulativen Idealismus traditioneller Philosophen unterscheidet sich die experimentelle Haltung fundamental, die Nietzsche in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral propagiert: „wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben wrden, und schlitzen uns vergngt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf“ (GM, KSA 5, 357).25 In Jenseits von Gut und Bçse empfiehlt er explizit: „treibt Vivisektion […] an e u c h !“ (JGB, KSA 5, 153).26 Mut, Neugier, Abenteuerlust und Hrte
24 Diese Prmissen bestimmen auch Nietzsches Gedicht Ecce homo: „Ja! Ich weiss, woher ich stamme! / Ungesttigt gleich der Flamme / Glhe und verzehr ich mich. / Licht wird Alles, was ich fasse, / Kohle Alles, was ich lasse: Flamme bin ich sicherlich.“ (FW, KSA 3, 367). – Das dezidierte Bekenntnis zu sinnlicher Flle und emotionaler Intensitt wirkt auch in Nietzsches Argumentation gegen die radikale Affekt-konomie des Stoizismus hinein. Kritisch reflektiert Nietzsche die „Gleichgltigkeit und Bildsulenklte gegen die hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten“ (JGB, KSA 5, 118). Mit dem Pldoyer, das ganze Spektrum emotionaler Erlebnismçglichkeiten auszuloten, wendet sich Nietzsche gegen eine Tendenz, den Menschen „klter, statuenhafter, stoischer zu machen“ (FW, KSA 3, 384), und gegen die Option, „die feine Reizbarkeit einzubssen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen“ (FW, KSA 3, 544). Vgl. dazu Barbara Neymeyr, „Selbst-Tyrannei“ und „Bildsulenklte“. Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit der stoischen Moral, in: Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 65 – 92. 25 In der Frçhlichen Wissenschaft schreibt Nietzsche: „wir Anderen, VernunftDurstigen, wollen unseren Erlebnissen so streng in s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde fr Stunde, Tag um Tag! Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein.“ (FW, KSA 3, 551) Und in der Morgenrçthe heißt es: „Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!“ (M, KSA 3, 274). 26 Zur „Vivisektion“ vgl. auch JGB, KSA 5, 106, 166.
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sind nçtig, um den „grausame[n] Anblick des psychologischen Secirtisches“ zu ertragen (MA, KSA 2, 59). Um die experimentelle Forschung psychologisch ambitionierter Philosophen zu beschreiben, verwendet Nietzsche wiederholt medizinische Metaphern. Dass er die empirischen Methoden physischer Sektion auf die Seelenanalyse bertrgt, zeigen Textpartien, in denen von „Vivisektion“ (JGB, KSA 5, 153) oder vom „Mikroskopiker der Seele“ (JGB, KSA 5, 258) die Rede ist. Evidenz gewinnt diese Metaphorik auch angesichts von Nietzsches berlegung, ob nicht „Philosophie bisher berhaupt nur […] ein M i s s v e r s t n d n i s s d e s L e i b e s gewesen ist“, ja ob nicht sogar „den hçchsten Werthurtheilen“ physiologische Faktoren zugrunde liegen (FW, KSA 3, 348). In diesem Sinne erhofft sich Nietzsche, „dass ein philosophischer A r z t“ den Mut zu der Hypothese findet, „bei allem Philosophiren handelte es sich bisher gar nicht um ,Wahrheit, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben …“ (FW, KSA 3, 349). Damit gert erneut der philosophische Wahrheitsbegriff in den Fokus psychologischer Analyse, die in Verbindung mit Sprachreflexion27 und
27 In der Gçtzen-Dmmerung reflektiert Nietzsche das Problem einer „SprachMetaphysik“; er sieht es dadurch bedingt, dass die Sprache „in der Zeit der rudimentrsten Form von Psychologie“ entstand (GD, KSA 6, 77). Und in seiner nachgelassenen Frhschrift Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne beleuchtet er weitere Aspekte der Wahrheit: die soziale Funktion, die der Wahrheit im Rahmen menschlicher Vergesellschaftung zukam, und ihren metaphorischen Charakter. Dabei bildet die prinzipielle Arbitraritt der Wahrheit die Basis fr die in der Gesellschaft erforderliche Festlegung der Konvention, „was von nun an ,Wahrheit sein soll“ (WL, KSA 1, 877). Mit erkenntniskritischer Prgnanz stellt Nietzsche den verbindlichen Charakter der Wahrheit in Frage, indem er zeigt, dass sie nur scheinbar ein Korrelat zur Gegenstandswelt bietet: „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, bertragen, geschmckt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dnken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind.“ (WL, KSA 1, 880 – 881) – Nietzsches Vorliebe fr einen anschaulichen, oft sogar metaphorischen Sprachgebrauch kçnnte – vor diesem Hintergrund – auch der Intention entspringen, die tuschende Selbstverstndlichkeit der allgemein verbindlichen Sprachkonventionen aufzubrechen und der gedanklichen Suchbewegung des geistigen Abenteurers Rechnung zu tragen: durch Bilder und Metaphern, die dem Leser die Differenz zwischen Gegenstand und Bezeichnung immer wieder neu vergegenwrtigen. Indem Nietzsches metaphorische Annherung an das Sujet
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Moralkritik den „schreckliche[n] Grundtext homo natura“ unter „dem alten Lgen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewussten menschlichen Eitelkeit“ freilegen soll (JGB, KSA 5, 169). In Jenseits von Gut und Bçse schreibt Nietzsche: „Es sind schçne glitzernde klirrende festliche Worte: Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung fr die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, – es ist Etwas daran, das Einem den Stolz schwellen macht“ (JGB, KSA 5, 169). Indem Nietzsche die ornamentale Funktion solcher Ausdrcke betont, macht er das von den Philosophen in Anspruch genommene Ethos der intellektuellen Redlichkeit auf narzisstische Motive hin transparent und dekuvriert das tiefreichende Bedrfnis des Menschen nach Selbstinszenierung. Dabei wird sogar der Begriff der ,Philosophie selbst fragwrdig: Hinter der angeblichen ,Liebe zur Weisheit verbirgt sich letztlich nichts anderes als ein sublimierter Wille zur Macht. In der Gçtzen-Dmmerung reflektiert Nietzsche verschiedene Aspekte einer „P s y c h o l o g i e d e s I r r t h u m s“ (GD, KSA 6, 95). Er konstatiert, dass grndliche Ursachenforschung oft bereits durch „G e w ç h n u n g an eine bestimmte Ursachen-Interpretation“ beeintrchtigt wird (GD, KSA 6, 92), und gibt dafr die folgende „P s y c h o l o g i s c h e E r k l r u n g“: „Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurckfhren, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein Gefhl von Macht.“ (GD, KSA 6, 93)28 Dies gilt wohl gleichermaßen fr philosophische und psychologische Begrndungsversuche. Auf Prmissen von Schopenhauers Willensmetaphysik29 greift Nietzsche zurck, den Anthropomorphismus reprsentiert und ihn zugleich sprachlich vermittelt, wird sie zum konsequenten Ausdruck eines erkenntnistheoretisch und sprachkritisch reflektierten Bewusstseins. 28 Vgl. dazu auch nachgelassene Reflexionen von 1886/87: „Was ist ,erkennen? Zurckfhren von etwas Fremdem auf etwas B e kanntes, Vertrautes. Erster Grundsatz: das, woran wir uns g e w ç h n t haben, gilt uns nicht mehr als Rthsel, als Problem. Abstumpfung des Gefhls des Neuen, Befremdenden: alles, was r e g e l m ß i g geschieht, scheint uns nicht mehr fragwrdig“ (NF, KSA 12, 187). Die „F u r c h t v o r d e m U n b e r e c h e n b a r e n“ deutet Nietzsche als „H i n t e r - I n s t i n k t der Wissenschaft“ (NF, KSA 12, 188). 29 Bereits Schopenhauer vertritt in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung die These von einer essentiellen Instrumentalitt des Intellekts, der lediglich als „Willens-Werkzeug“ fungiere (Schopenhauer, Smtliche Werke, Bd. 2: WWV II, hrsg. v. Wolfgang Frhr. von Lçhneysen, Darmstadt 1976 – 1982, S. 823). Als „ein bloßer Sklave und Leibeigener des Willens“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, in: ders., Smtliche Werke, Bd. 2, hrsg. v. Wolfgang Frhr. von Lçhneysen, Darmstadt 1976 – 1982, S. 274) ist der Intellekt
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wenn er die Auffassung vertritt: „Die Erkenntniß arbeitet als W e r k z e u g der Macht“ (NF, KSA 13, 302); „alle treibende Kraft“ ist „Wille zur Macht“ (NF, KSA 13, 300).30 In Jenseits von Gut und Bçse spezifiziert er diese These durch eine psychologisch subversive Perspektive auf die Philosophie: „jeder Trieb ist herrschschtig: und als s o l c h e r versucht er zu philosophiren“ (JGB, KSA 5, 20). Mit einer aufschlussreichen Analyse zum „Grundwillen des Geistes“ zeigt Nietzsche, dass dessen „Absicht“ auf eine „Einverleibung neuer ,Erfahrungen“ zielt und dadurch letztlich „auf das Gefhl der vermehrten Kraft“ (JGB, KSA 5, 167). Dabei berlagern die Interessen des „herrschschtigen und wirklich herrschaftlichen Willen[s]“ die Intention auf objektive Erkenntnis so sehr, dass er sogar Aspekte des ,Fremden „zurecht flscht“, indem er „das Neue dem Alten“ assimiliert und „das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gnzlich Widersprechende zu bersehen oder wegzustossen“ versucht (JGB, KSA 5, 167). Der „Selbstgenuss an der Willkrlichkeit aller dieser Machtusserungen“ entzndet sich laut Nietzsche nicht nur am eigenmchtig „Vergrçsserten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschçnerten“ der Objekte allein (JGB, KSA 5, 168). Von Bedeutung sind darber hinaus die „Proteusknste“ des Geistes, der seine „Masken-Vielfltigkeit und Verschlagenheit“ genießt und lustvoll seinem „Willen zum Schein“ folgt (JGB, KSA 5, 168). Diametral entgegengesetzt ist solchen narzisstischen Inszenierungen das von einer „Grausamkeit des intellektuellen Gewissens“ bestimmte Ethos des Denkers, der „die Dinge tief, vielfach, grndlich nimmt“ (JGB, KSA 5, 168). Er widersteht der Versuchung, sich mit „moralischen Wort„aus eigenen Mitteln gar keiner Ttigkeit fhig, sondern schlft in Dumpfheit, sooft der Wille (das Interesse) ihn nicht weckt und in Bewegung setzt“ (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, in: ders., Smtliche Werke, Bd. 2, hrsg. v. Wolfgang Frhr. von Lçhneysen, Darmstadt 1976 – 1982, S. 491). Vgl. dazu auch Barbara Neymeyr, sthetische Autonomie als Abnormitt. Kritische Analysen zu Schopenhauers sthetik im Horizont seiner Willensmetaphysik, Berlin/New York 1996 (Quellen und Studien zur Philosophie Bd. 42), hier vor allem §5, §7, §12. – Nietzsche teilt zunchst die Grundtendenz von Schopenhauers Willensmetaphysik, hlt allerdings dessen Prmisse, Wille sei eo ipso Wille zum Leben, fr eine Tautologie und glaubt sie mit seinem Konzept berbieten zu kçnnen, Wille sei prinzipiell Wille zur Macht. 30 In diesem Sinne deutet Nietzsche die artistische, wissenschaftliche, religiçse und moralische Welt-Betrachtung als symptomatisch fr den jeweils dominierenden Trieb (NF, KSA 12, 256 – 257). Und er betont eine fundamentale Gemeinsamkeit: „die herrschenden Triebe wollen auch als h ç c h s t e W e r t h - I n s t a n z e n“ gelten (NF, KSA 12, 257).
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Flittern“ wie „Liebe zur Weisheit“ oder „Heroismus des Wahrhaftigen“ auszustaffieren, weil er sie als „Lgen-Putz“ der „menschlichen Eitelkeit“ durchschaut (JGB, KSA 5, 169). Die „Aufgabe“ eines psychologisch versierten ,freien Geistes erblickt Nietzsche in illusionsloser Selbsterkenntnis jenseits euphemistischer Fehlurteile; sie ermçglicht es ihm, „die vielen eitlen und schwrmerischen Deutungen“ des Menschen zu suspendieren und den „schreckliche[n] Grundtext homo natura“ freizulegen (JGB, KSA 5, 169). In Jenseits von Gut und Bçse exponiert Nietzsche mit Nachdruck den universellen Anspruch eines solchen Projekts, das die Kraft eines einzelnen Forschers bei weitem bersteigt: „Die menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher berhaupt erreichte Umfang menschlicher innerer Erfahrungen“ mitsamt ihren „Hçhen“ und „Tiefen“, die „ganze b i s h e r i g e Geschichte der Seele und ihre noch unausgetrunkenen Mçglichkeiten“: das ist das Terrain „fr einen geborenen Psychologen und Freund der ,grossen Jagd“ (JGB, KSA 5, 65). Die dritte seiner Unzeitgemssen Betrachtungen, die Schrift Schopenhauer als Erzieher, bezeichnet Nietzsche selbst in seinem Sptwerk Ecce homo retrospektiv als „ein herbes Stck Psychologie des Gelehrten“ (EH, KSA 6, 320). Hier entwirft er eine brillante Gelehrtensatire: Dem Typus des Wissenschaftlers schreibt er ein Konglomerat unterschiedlicher Motive zu, darunter auch „die Sucht nach Abenteuern der Erkenntniss“ (KSA, SE 1, 394), nach dem Faszinosum „des Neuen und Seltnen“, die sich mit einem „dialektischen Spr- und Spieltrieb“ verbinden kann, mit einer „jgerische[n] Lust an verschmitzten Fuchsgngen des Gedankens“ (KSA, SE 1, 394). Dann wird anstelle der „Wahrheit“ „das Suchen“ selbst zum Ziel, „der Kampf“ selbst „zur Lust“, so dass „der Hauptgenuss im listigen Herumschleichen, Umzingeln, kunstmssigen Abtçdten besteht“ (SE, KSA 1, 394 – 395). Schon hier dominiert ein Wille zur Macht ber den „Kampf um die Wahrheit“ (SE, KSA 1, 395). In einer Nachlass-Notiz von 1884 versteht Nietzsche den „ganze[n] Erkenntniß-Apparat“ bezeichnenderweise als einen „Abstraktions- und Simplifikations-Apparat“, der „nicht auf Erkenntniß“ zielt, sondern „auf B e m c h t i g u n g der Dinge“ (NF, KSA 11, 164). Diese fundamentale Erkenntnisskepsis setzt sich im Aphorismus „W a s h e i s s t e r k e n n e n“ in der Frçhlichen Wissenschaft fort, wo Nietzsche die Heterogenitt gedanklicher Prozesse auf einen „Kampf“ von einander „widerstrebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen-, Verwnschen-wollens“ (FW, KSA 3, 558) hin transparent macht, deren Konflikt er schließlich in einen Kompromiss mnden sieht (FW, KSA 3, 558 – 559).
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Weil dem Denkenden dabei aber jeweils bloß die letzte Phase dieses Prozesses bewusst wird, liegt fr ihn – laut Nietzsche – der Irrtum nahe, das „intelligere“ (FW, KSA 3, 558) sei „etwas wesentlich den Trieben Entgegengesetztes“ (FW, KSA 3, 559). In diesem Kontext gewinnt die bereits zitierte These aus Jenseits von Gut und Bçse erneut einen symptomatischen Charakter: „jeder Trieb ist herrschschtig: und als s o l c h e r versucht er zu philosophiren“ (JGB, KSA 5, 20). Vor diesem Hintergrund ist auch das Selbstverstndnis Nietzsches zu betrachten, der seine Schriften als eine „Schule des Verdachts“ bezeichnet (MA, KSA 2, 13) und „gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden“ glaubt ankmpfen zu mssen (EH, KSA 6, 365 – 366). Den Psychologen (und damit implizit auch sich selbst) beschreibt Nietzsche als „Freund der ,grossen Jagd“ (JGB, KSA 5, 65). In dieser Mentalitt manifestiert sich ein singulrer Wille zur Macht, den sich Nietzsche brigens in Ecce homo auch selbst ausdrcklich attestiert. Hier verbindet er eine symptomatische Selbstdiagnose mit einer ambivalenten Perspektive auf Wagner: „Selbst psychologisch sind alle entscheidenden Zge meiner eignen Natur in die Wagners eingetragen – das Nebeneinander der lichtesten und verhngnissvollsten Krfte, der Wille zur Macht, wie ihn nie ein Mensch besessen hat, die rcksichtslose Tapferkeit im Geistigen.“ (EH, KSA 6, 314) Abschließend soll ein skizzenhafter Ausblick Thesen Nietzsches beleuchten, die sptere Erkenntnisse der Psychoanalyse antizipieren.31 Affinitten zu Freuds Konzepten sind schon in Nietzsches Nachlass-Notiz von 1870/71 evident: „Alle Erweiterung unsrer Erkenntniß entsteht aus dem Bewußtmachen des Unbewußten.“ (NF, KSA 7, 116)32 Hinzuweisen ist auf 31 Vgl. zu diesem Themenfeld zwei differenzierte Abhandlungen: Margret KaiserEl-Safti, Der Nachdenker. Die Entstehung der Metapsychologie Freuds in ihrer Abhngigkeit von Schopenhauer und Nietzsche, Bonn 1987. Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Bd. 38). 32 In der Morgenrçthe finden sich aber auch erkenntniskritische Thesen, die den Versuch, berhaupt definitive Aussagen ber mentale Prozesse zu machen, fast schon als methodisch fragwrdig erscheinen lassen. Hier vertritt Nietzsche die These, dass „all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar ber einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefhlten Text ist“ (M, KSA 3, 113). An spterer Stelle beschreibt Nietzsche den „Irrthum“, es „sei zum Beispiel methodisch geboten, von der ,inneren Welt, von den ,Thatsachen des Bewusstseins auszugehen, weil sie die u n s b e k a n n t e r e Welt sei! Irrthum der Irrthmer! Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu ,erkennen, das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd, als fern, als ,ausser uns zu sehn …“ (FW, KSA
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das programmatische Postulat Freuds, der die Zielsetzung im psychoanalytischen Prozess so beschreibt: „Wo Es war, soll Ich werden.“33 Mit Auffassungen Nietzsches lsst sich außerdem Freuds berhmte These korrelieren, nach den gravierenden Krnkungen ihrer Eigenliebe durch Kopernikus und Darwin habe die Menschheit die dritte narzisstische Krnkung „durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf krgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht.“34 Nietzsche konstatiert in der Frçhlichen Wissenschaft: „das b e w u s s t werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon“ (FW, KSA 3, 592). Auch die fr Freuds Schriften konstitutive Infragestellung einer homogenen Ich-Instanz findet sich schon bei Nietzsche, der einen Aphorismus der Morgenrçthe mit dem Titel „D a s s o g e n a n n t e ,I c h “ versieht (M, KSA 3, 107). In Jenseits von Gut und Bçse prsentiert er seine provokative These von der „Seele als Subjekts-Vielheit“ und „als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“, die sich gegen den „Aberglauben“ von der „S e e l e n - A t o m i s t i k“ richtet (JGB, KSA 5, 27). Mit einer
3, 594). hnlich argumentiert er in NF, KSA 11, 99 und NF, KSA 12, 26. In der Gçtzen-Dmmerung konstatiert Nietzsche eine Art von ,blindem Fleck, wenn er die Problematik psychologischer Introspektion reflektiert: „Der Psychologe muss von s i c h absehn, um berhaupt zu sehn“ (GD, KSA 6, 65). Und in einer Nachlaß-Notiz, die Nietzsche der „Psychologie des P s y c h o l o g e n“ widmet, heißt es: „Wir Psychologen der Zukunft – wir haben wenig guten Willen zur Selbstbeobachtung: wir nehmen es fast als ein Zeichen von Entartung, wenn ein Instrument ,sich selbst zu erkennen sucht: wir sind Instrumente der Erkenntniß und mçchten die ganze Naivett und Prcision eines Instrumentes haben; – folglich drfen wir uns selbst nicht analysiren, nicht ,kennen.“ (NF, KSA 13, 230) Sein Misstrauen gegenber „allen Nabelbeschauern“ begrndet Nietzsche damit, dass „uns die Selbstbeobachtung als eine E n t a r t u n g s f o r m des psychologischen Genies gilt“ – analog zur Perversion des „Maler-Auge[s]“, „hinter dem der W i l l e steht, zu sehn, um zu sehn“ (NF, KSA 13, 231). 33 Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einfhrung in die Psychoanalyse (1933 [1932]), in: ders., Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt am Main 1982, S. 447 – 608, hier: S. 516. – Das Zitat findet sich am Ende der 31. Vorlesung. Sie trgt den Titel „Die Zerlegung der psychischen Persçnlichkeit“. 34 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einfhrung in die Psychoanalyse (1916 – 1917), in: ders., Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt am Main 1982, S. 33 – 445, hier: S. 284.
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impliziten Kritik am Cartesianismus35 verabschiedet Nietzsche „jenes alte berhmte ,Ich“ und substituiert das „ich […] denke“ durch „es denkt“ (JGB, KSA 5, 31). Dabei vermutet er sogar, dass „schon mit diesem ,es denkt zu viel gethan“ ist (JGB, KSA 5, 31). In einer Nachlass-Notiz konstatiert er, dass dem „alte[n] Sittengesetz“ zufolge eine Bereitschaft zur „Asketik“ und „die bestndige Herrschaft der Furcht ber die Begierde […] den sittlichen Menschen“ kennzeichnet (NF, KSA 9, 84). Hier scheint bereits das Instanzenmodell der Freudschen Psychoanalyse prfiguriert zu sein36, nach dem das Ich die Ansprche von ber-Ich und Es auszubalancieren hat. Schon Nietzsche fhrt die „hçhere Cultur“ in Jenseits von Gut und Bçse auf die „Vergeistigung und Vertiefung der G r a u s a m k e i t“ zurck (JGB, KSA 5, 166) und geht davon aus, dass „jenes ,wilde Thier […] gar nicht abgetçdtet worden“ ist, sondern in verfeinerter Form weiterlebt (JGB, KSA 5, 166). Den Ursprung der Zivilisation begrndet er hier mit einem Prozess der Triebsublimierung – hnlich wie spter auch Freud in seinem Essay Das Unbehagen in der Kultur. 37 Das „V e r l a n g e n 35 Indem Nietzsche bestreitet, dass die Vorstellung des ,Ich denke als „unmittelbare Gewissheit“ gelten kann (JGB, KSA 5, 31), kritisiert er implizit das Prinzip ,Cogito, ergo sum (,Ich denke, also bin ich), das Descartes als ,fundamentum inconcussum der Erkenntnis exponierte. Vgl. auch Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus in Nachlass-Notizen von 1885 (NF, KSA 11, 637 – 641). Eine implizite Descartes-Kritik findet sich bereits in Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, in der er den problematischen Zustand eines Menschen beschreibt, der zur „unlebendige[n] und doch unheimlich regsame[n] Begriffs- und Wort-Fabrik“ degeneriert ist und „vielleicht noch das Recht“ hat, von sich „zu sagen cogito, ergo sum, nicht aber vivo, ergo cogito“ (HL, KSA 1, 329). Einem sterilen Rationalismus hlt Nietzsche schon in diesem Frhwerk vitalistische Prinzipien entgegen. 36 Vgl. dazu Christian Niemeyer, Nietzsches andere Vernunft. Psychologische Aspekte in Biographie und Werk, Darmstadt 1998, S. 287. 37 Schon Walter Kaufmann vertritt die Auffassung, Nietzsche habe den Freudschen Begriff der Sublimierung antizipiert (Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, aus dem Amerikanischen bersetzt von Jçrg Salaquarda, Darmstadt 1982, S. 254). Freud schreibt in seinem Essay Das Unbehagen in der Kultur: „Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es mçglich, daß hçhere psychische Ttigkeiten, wissenschaftliche, knstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen.“ (Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930 [1929]), in: ders., Studienausgabe, Bd. 9, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt am Main 1982, S. 227) Dezidiert formuliert er die These: Es ist „unmçglich zu bersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist“ (Sigmund Freud: Das Unbehagen in der
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n a c h K u n s t u n d S c h ç n h e i t“ leitet Nietzsche letztlich aus sublimierter Sexualitt her (NF, KSA 12, 325 – 326). Allerdings fasst er seinen Begriff der ,Sublimierung oft weniger spezifisch als Freud, etwa wenn er notiert: „S u b l i m i r u n g d e r G r a u s a m k e i t : Mitleid erregen […].“ (NF, KSA 9, 404) Auch das psychoenergetische Erklrungsmodell zur Entstehung des ,schlechten Gewissens findet sich bereits in Nietzsches Schrift Zur Genealogie der Moral: „Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, w e n d e n s i c h n a c h I n n e n“ (GM, KSA 5, 322). Laut Nietzsche schuf eine solche Hemmung der Instinktentladung im Prozess der Zivilisation die Voraussetzungen fr „die V e r i n n e r l i c h u n g des Menschen“ (GM, KSA 5, 322). Und die Entfaltung und Ausdifferenzierung seiner Innerlichkeit wurde zum Ursprung der „Seele“ und des „schlechten Gewissens“ (GM, KSA 5, 322 – 323). Auf Theorien der Psychoanalyse weist auch Nietzsches These voraus, „dass es zwischen Wachen und Trumen keinen w e s e n t l i c h e n Unterschied giebt“ (M, KSA 3, 113). Mehr als ein Jahrzehnt vor Freuds Traumdeutung konstatiert Nietzsche bereits in Jenseits von Gut und Bçse: „Was wir im Traume erleben, vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehçrt zuletzt so gut zum Gesammt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas ,wirklich Erlebtes“ (JGB, KSA 5, 114). Und analog zu Schopenhauers These, dass „jeder der heimliche Theaterdirektor seiner Trume ist“38, betont Nietzsche in der Morgenrçthe die „V e r a n t w o r t l i c h k e i t“ des Menschen fr seine Trume: „Nichts ist m e h r euer Eigen, als eure Trume! Nichts mehr e u e r Werk! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer, – in diesen Komçdien seid ihr Alles ihr selber!“ (M, KSA 3, 117). Verschiedene Ausdrucksformen von Verdrngung reflektiert ebenfalls bereits Nietzsche, wenn er in seiner Sptschrift Der Antichrist erklrt: „,Glaube heisst Nicht-wissen-w o l l e n , was wahr ist“ (AC, KSA 6, 233). Kultur (1930 [1929]), in: ders., Studienausgabe, Bd. 9, hrsg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Frankfurt am Main 1982, S. 227). – Nietzsche geht auch in Menschliches, Allzumenschliches auf Strategien der Sublimierung ein (MA, KSA 2, 130 – 131). Vgl. außerdem Nachlass-Notizen von 1881 (NF, KSA 9, 477). 38 Schopenhauer formuliert diese These in seiner Schrift Transzendente Spekulation ber die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des einzelnen, die er in seinen Parerga und Paralipomena I publizierte. Vgl. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena I, in: ders., Smtliche Werke, Bd. 4, hrsg. v. Wolfgang Frhr. von Lçhneysen, Darmstadt 1976 – 1982, S. 243 – 272, hier S. 267.
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Wenig spter konstatiert er: „Die gewçhnlichste Lge ist die, mit der man sich selbst belgt; das Belgen Andrer ist relativ der Ausnahmefall.“ (AC, KSA 6, 238) In diesem Kontext findet sich die symptomatische Feststellung: „Ich nenne Lge Etwas n i c h t sehn wollen, das man sieht.“ (AC, KSA 6, 238) Hinzuweisen ist auch auf Nietzsches bekannten Aphorismus aus Jenseits von Gut und Bçse, den Freud39 mit emphatischer Zustimmung zitiert: „,Das habe ich gethan sagt mein Gedchtniss. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedchtniss nach.“ (JGB, KSA 5, 86) – Ein derartiger Verdrngungsakt erscheint als Ergebnis von Abwehr und Verleugnung. Zugleich exemplifiziert er Nietzsches Auffassung, das Erkenntnisvermçgen des Menschen fungiere als interessegeleiteter „Abstraktions- und Simplifikations-Apparat“ (NF, KSA 11, 164), der keineswegs primr auf Wahrheit, sondern vor allem auf Macht ziele. Seiner berzeugung zufolge ist „L e b e n“ nur aufgrund „eines solchen F l s c h u n g s - A p p a r a t e s mçglich“ (NF, KSA 11, 506). Die markanten Analogien zwischen den Konzepten Freuds und Nietzsches sind natrlich auch der ,Zunft der Psychologen und Psychoanalytiker im 20. Jahrhundert nicht verborgen geblieben. So schreibt Klages dem Philosophen in seiner Schrift Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches eine singulre Bedeutung fr die Psychologie zu und konstatiert, sein „Grundthema“ sei „die Selbsttuschung“ des Menschen, dessen „Seelenmaskerade“ er als Entlarvungspsychologe par excellence mithilfe seiner subversiven „Enttuschungstechnik“ durchschaut habe.40 Auch zahlreiche sptere Forscher wrdigten mit Nachdruck die tiefen39 Freud nimmt zum „Beitrag […], den das Abwehrstreben gegen Unlust zum Vergessen leistet“, folgendermaßen Stellung: „Keiner von uns allen hat aber das Phnomen und seine psychologische Begrndung so erschçpfend und zugleich so eindrucksvoll darstellen kçnnen wie N i e t z s c h e in einem seiner Aphorismen.“ Im Anschluss daran zitiert Freud die Stelle mit Beleg. (Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, hrsg. v. Anna Freud et al., Frankfurt am Main 1969, S. 162) Vgl. dazu auch Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Bd. 38) S. 43 – 44, 57. Gasser geht in seiner substantiellen Arbeit auch auf die Diskussionen ber Nietzsche in der sogenannten „Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft“ und auf Freuds eigene Stellungnahmen zu Nietzsche ein (Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 4, hrsg. v. Anna Freud et al., Frankfurt am Main 1969, S. 48 – 57). 40 Ludwig Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, Bonn 1977, S. 29, 62, 65.
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psychologischen Pionierleistungen Nietzsches und fhlten sich durch das gedankliche Potential seiner Reflexionen angeregt.41 Alfred Adler apostrophiert Nietzsche sogar als „Fhrer im weiten Land der Seele“.42 Der Philosoph Hans-Georg Gadamer vertritt die These, Nietzsche sei „ein genialer Psychologe, der die Oberflche durchdringt und dahinter Verborgenes, Geheimes, Verstelltes, Ungesagtes gewahrt.“43 Und Jahrzehnte zuvor erblickte bereits Freud selbst in Nietzsche einen Philosophen, „dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mhsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken“.44
41 So vertritt etwa Paul Federn die Auffassung, dass „Nietzsche […] uns so nahe [stehe], dass man nur fragen msse, wie weit er nicht gekommen sei. Er habe eine Reihe der Funde Freuds intuitiv erkannt; er habe die Bedeutung des Abreagierens, der Verdrngung, der Flucht in die Krankheit, der Triebe als erster entdeckt; sowohl die normalsexuellen als auch die sadistischen Triebe.“ (Hermann Nunberg und Ernst Federn (Hrsg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, 4 Bde., Frankfurt am Main 1976, Bd. 1, S. 337.) Aus Freuds Reaktion auf diese Einschtzung schließt Gasser: „Offenbar mußte er sich von Federns Bemerkung tief gekrnkt fhlen, wie anders ist sonst zu erklren, daß er, der deklarierte Nietzsche-Laie, die bisher an den Tag gelegte Zurckhaltung aufgibt und in Nietzsches Gedanken plçtzlich schwere Lcken entdeckt?“ Vgl. Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997, S. 50. Zu Recht konstatiert Gasser (Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997, S. 54 – 55), dass Freuds emphatische Hommage an Nietzsche, dessen „Introspektion […] bei keinem Menschen vorher erreicht“ worden sei, „in einer eigentmlichen Diskrepanz“ zu seiner eigenen Erklrung steht, „daß er Nietzsche nie zu studieren vermochte: zum Teil wegen der hnlichkeit, die seine intuitiven Erkenntnisse mit unsern mhseligen Untersuchungen haben, und zum anderen Teil wegen des inhaltlichen Reichtums seiner Schriften, der ihn bei Versuchen zur Lektre nie ber 12 Seite hinauskommen ließ.“ (Hermann Nunberg und Ernst Federn (Hrsg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, 4 Bde., Frankfurt am Main 1976, Bd. 2, S. 28.) Zur Priorittsproblematik vgl. auch Margret Kaiser-ElSafti, Der Nachdenker. Die Entstehung der Metapsychologie Freuds in ihrer Abhngigkeit von Schopenhauer und Nietzsche, Bonn 1987. Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997. 42 Alfred Adler, Der nervçse Charakter (1913), in: ders., Carl Furtmller, Heilen und Bilden. Ein Buch der Erziehungskunst fr rzte und Pdagogen, Mnchen 1928, S. 130 – 139, hier: S. 130. 43 Hans-Georg Gadamer, Das Drama Zarathustras, in: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 1 – 15, hier: S. 3. 44 Sigmund Freud, Selbstdarstellung (1925), in ders., Gesammelte Werke, Bd. 14, Frankfurt am Main 1963, S. 86.
Der normative Minimalismus als die verteidigungsfhigste Version von Nietzsches Amoralismus Rogrio Lopes
I. Normativer Minimalismus ist eine in der zeitgençssischen praktischen Philosophie weder verbreitete noch festgelegte Bezeichnung. Der Ausdruck selbst ist im Kontext der Wiederbelebung des Interesses an Vertragstheorien erstmals aufgetreten. Der Ausdruck wurde von Autoren ausgeprgt, die sich mit der begrifflichen Schwierigkeit auseinandergesetzt haben, zwischen verschiedenen Versionen von Neo-Kontraktualismus unterscheiden zu mssen. Die folgende Stelle aus dem Buch von Jody Kraus, The Limits of Hobbesian Contractarianism betitelt, enthlt eine der prgnantesten Beschreibungen der Fhigkeit dieses Begriffes, innerhalb der vertragstheoretischen Tradition eine klassifikatorische Funktion zu erfllen: Within the contractarian tradition, theories range from those which presuppose highly controversial and complex normative premises (i. e., normatively idealistic theories employing idealistic constructionism in the design of their hypothetical setting), to those which presuppose relatively uncontroversial and theoretically simple normative premises (i. e., normatively minimalistic theories employing realistic construction in the design of their hypothetical setting).1
Was wird nun unter dem Begriff ,normativer Minimalismus verstanden? An der oben zitierten Stelle wird der Ausdruck ,normatively minimalistic theories dazu benutzt, diejenigen Vertragstheorien zu bezeichnen, die sich dem methodischen Gebot unterworfen haben, demzufolge bei der theoretischen Konstruktion der hypothetischen Ausgangssituation fr den Vertrag nur unstreitige und theorieneutrale normative Prmissen vorausgesetzt werden sollten. Diese methodische Entscheidung ist fr die 1
Jody S. Kraus, The Limits of Hobbesian Contractarianism, Cambridge 1993, S. 311.
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neohobbesianischen Varianten der Vertragstheorien sehr typisch. Am meisten wurde sie als Waffe gegen die Vertragstheorien kantianischer Provenienz eingesetzt, insbesondere gegen die heute schon klassisch gewordene Formulierung von John Rawls. Worin diese Prmissen bestehen, lsst sich leider nicht so einfach sagen. Nach den Neohobbesianern beschrnken sie sich auf die menschliche Fhigkeit, von den Regeln einer bloß moralfrei kalkulierenden Zweck-Mittel-Rationalitt und aus rein egoistischen Grnden auf die praktische Notwendigkeit zu schließen, nach den Gerechtigkeitsnormen zu handeln, welche wiederum durch den Vertrag als System in die Gesellschaft eingefhrt werden. Lassen Sie mich noch ein paar kurze Bemerkungen zu den Voraussetzungen der Vertragstheorien machen: Die zeitgençssischen Vertragstheorien gelten als Versuche, nach dem Modell der Theorie der rationalen Entscheidungswahl eine Theorie der Gerechtigkeit zu entwickeln. In dieser Hinsicht ist die rawlssche Variante als bahnbrechend anzusehen. Die Grundannahme der Vertragstheorien verschiedener Provenienzen ist die theoretische berzeugung, eine rationale Handlung sei durch das selbstinteressierte Verhalten und das Prinzip der Nutzenmaximierung zu bestimmen, das heißt, rationale Handlungstheorie sei auf çkonomische Handlungstheorie reduzierbar. Unter bestimmten Informationsbeschrnkungen, die fr das Gedankenexperiment des Schleiers des Nichtwissens bezeichnend sind, ist das rawlssche Maximin-Prinzip fr rationale und wechselseitig aneinander nicht-interessierte Akteure dasjenige Handlungsprinzip, das es am besten ermçglicht, die eigenen Interessen zu fçrdern und grçßere Risiken zu vermeiden.2 Was die Neohobbesianer in der Theorie der Gerechtigkeit von Rawls fr inakzeptabel halten ist nicht die Idee, die mit den Regeln der Verteilungsgerechtigkeit verbundene moralische Normativitt auf rationales und selbstinteressiertes Verhalten zurckzufhren, was als gemeinsames Projekt gelten kçnnte, sondern es sind die normativen und ihrer Ansicht nach unrealistischen Prmissen, die bei der Gestaltung der rawlsschen Ausgangssituation eine entscheidende Rolle spielen und die Informationsbeschrnkungen als ein methodisch gerechtfertigtes Verfahren erscheinen lassen. Aus einer neohobbesianischen Perspektive gesehen bedrfen solche Prmissen einer nicht- oder außermoralischen Begrndung; denn sonst steht die ganze Theorie unter dem Verdacht, eine Petitio Principii zu begehen. Die von Rawls vorgeschlagene Methode eines reflexiven Gleichgewichts zwischen moralischen 2
Vgl. John Rawls, A Theory of Justice, Revised Edition, Cambridge 1999, Abschnitte 24 – 26.
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Intuitionen und theoretischen Prinzipien erscheint den Neohobbesianern als ein Verstoß gegen das methodische Gebot des normativen Minimalimus. Zusammenfassend kann man sagen, dass der normative Minimalismus als argumentative Strategie folgende Ziele verfolgt: a) die moralische Normativitt auf die durch Vertragskonventionen gewonnenen Gerechtigkeitsnormen zu beschrnken; b) letztere von den Regeln der rationalen Normativitt abzuleiten; c) diese rationale Normativitt wiederum auf ein moralfrei kalkulierendes Vermçgen zu reduzieren; d) die kalkulierende Rationalitt in der egoistischen Natur des Menschen zu grnden (Letzteres gilt als Rckfhrung des Normativen auf das Deskriptive). Ausschlaggebend fr diese Strategie ist erstens der Glaubensartikel, nach dem die deskriptive Komponente einer jeden praktischen Theorie notwendigerweise einfacher und weniger kontrovers sein sollte als ihre normative Komponente; und darber hinaus, dass der praktische Philosoph immer fhig sein sollte, eine deutliche Grenze zwischen den beiden Komponenten zu ziehen. Zweitens die Voraussetzung, die Hauptaufgabe einer philosophischen Begrndung der moralischen Normativitt bestehe darin zu zeigen, dass ein Konflikt zwischen altruistischer und egoistischer Handlungsweise erst ausgelçst wird, wenn die Akteure aus kognitiven oder volitiven Grnden nicht in der Lage sind, ihre eigenen Interessen richtig zu identifizieren. In dieser Hinsicht lohnt es sich zu bemerken, dass auch die neohobbesianische, realistische Variante der Vertragstheorien sich nach der Dichotomie von Egoismus und Altruismus richtet. Ihr unleugbares Unbehagen an der moralischen Normativitt ist wahrscheinlich allein durch theoretische Grnde hervorgerufen. Die Notwendigkeit, diese Dichotomie selber praktisch sowie theoretisch zu berwinden, ist erst aus einer anderen realistischen Perspektive ber die Moral wahrzunehmen.
II. Nun kommen wir zu unserer zweiten Frage: ist normativer Minimalismus als Begriff auf den Amoralismus Nietzsches anwendbar? Wir sind versucht, diese Frage mit einem entschiedenen Nein zu beantworten. Das wre sicherlich die einzige richtige Antwort, wenn bei diesem Vergleich nur die Grundannahmen der Vertragstheorien auf dem Spiel stehen wrden. Es kann auch instruktiv sein, diese kurze Darstellung der Vertragstheorien mit einer treffenden Einschtzung Ernst Tugendhats abzuschließen. Tugendhat zufolge ist der klassische Kontraktualismus wie auch
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der Neokontraktualismus als eine Quasi-Moral zu verstehen, indem er die Verbindlichkeit der Gerechtigkeitsnormen auf der goldenen Regel beruhen lsst, ohne sie zu einem Begriff des moralisch Guten weiterzuentwickeln.3 Gerechtigkeitsnormen sind nicht gleichbedeutend mit moralischen Normen, wenn deren Verletzung nicht automatisch von internen Sanktionen begleitet wird, was doch am hufigsten geschieht. Daraus folgt, dass die Konzeption der Normativitt, die die Vertragstheorien mit der Befriedigung der Gerechtigkeitsnormen verknpfen, zu schwach ist, um der moralischen Normativitt Rechnung tragen zu kçnnen. Wir mssen dazu eine strkere Konzeption hinzufgen, die das ganze Gebiet der moralischen Gefhle einschließt. Ohne eine philosophische Auseinandersetzung mit diesem ganzen Gebiet ist es nicht plausibel, die moralische Normativitt kritisieren zu wollen. Was diese Kritik an der vertragstheoretischen Konzeption der moralischen Normativitt angeht, wre Nietzsche mit Tugendhat einig. Das bedeutet aber nicht, dass es zwischen Nietzsches Amoralismus und den Neohobbesianern keine Berhrungspunkte gbe. Meiner Ansicht nach sind beide daran interessiert, ber die Frage nach der Normativitt ohne direkte Bezugnahme auf die Moralitt nachzudenken. Sie sind aber gleichermaßen voneinander getrennt, wenn es darum geht, die Grnde zu bestimmen, warum man die moralische Lçsung fr das Normative im allgemeinen und fr das Rechtliche im besonderen zurckweisen sollte. Dass man es aus theoretischen Grnden tun muss, ist bei Nietzsches Amoralismus nur ein Teil der Geschichte. Ebenso sicher ist, dass bei Nietzsches Ablehnung der moralischen Auffassung der Normativitt die These des psychologischen Egoismus keine wichtige Rolle gespielt hat. Was bei den Neohobbesianern einen Glaubensartikel ber das Menschliche, allzu Menschliche ausmacht, gilt bei Nietzsche hçchstens als eine regulative und provisorische Gegenhypothese, die aber meistens von ihm lediglich als ein ad-hominem-Argument gegen moralische Ansprche ausgenutzt wird. Nietzsche ist jedenfalls weit davon entfernt, aus dieser These eine der Grundannahmen seiner Anthropologie gemacht zu haben. Es ist vielleicht nicht berflssig in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass die Kritik Nietzsches an der moralischen Auffassung der Normativitt auf keinen Fall einem Verzicht auf die normative Aufgabe der Philosophie gleichkommt. Gerade das Umgekehrte sollte hervorgehoben werden, nmlich dass seine Kritik an der moralischen Auffassung der Normativitt von Anfang an durch seine normative Auffassung der Auf3
Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen ber Ethik, Frankfurt am Main 1993, S. 76 ff.
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gabe der Philosophie grundstzlich motiviert war. Das gilt auch schon fr das von Nietzsche in seinem Erstlingswerk vertretene philosophische Programm einer sthetischen Rechtfertigung des Daseins, wie es dies Nietzsches Versuch einer Selbstkritik besttigt: Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst – und nicht die Moral – als die eigentlich metaphysische Thtigkeit des Menschen hingestellt; im Buche selbst kehrt der anzgliche Satz mehrfach wieder, dass nur als sthetisches Phnomen das Dasein der Welt gerechtfertigt ist. […] diese ganze Artisten-Metaphysik mag man willkrlich, mssig, phantastisch nennen –, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist verrth, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die moralische Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird. (GT, KSA 1, 17)
Die These, die ich in diesem Aufsatz nur teilweise entwickeln und verteidigen kann, ist vor dem Hintergrund dieses dauerhaften normativen Engagements zu sehen. Sie kçnnte so formuliert werden: Nietzsches Nachdenken ber eine außer- oder nicht-moralische Auffassung der Normativitt schwankt stndig zwischen zwei Tendenzen, die man maximalistische und minimalistische nennen kçnnte. Die maximalistische Tendenz taucht in Nietzsches Werk insofern auf, als er die philosophische Reflexion ber die Normativitt mit Ansprchen auf politische und institutionelle Reformen verknpft. Da es hierbei nur um eine Frage der Bezeichnung geht, ist es relativ gleichgltig, ob solche Reformen im denkbar weitesten Sinne verstanden werden mssen. Die maximalistische Tendenz fllt mit dem zusammen, was Mller-Lauter Nietzsches Aktivismus genannt hat.4 Im Anschluss an Laurence Lampert5 wrde ich vorschlagen, diese Tendenz mit seinem immer latenten politischen Platonismus zu verbinden. Moralphilosophiegeschichtlich kann diese Tendenz als eine perfektionistisch-konsequenzialistische Betrachtungsweise beschrieben werden. Wenn eine anthropologische These bei Nietzsche zu finden ist, dann ist eine der ernstzunehmenden Kandidatinnen sicherlich diejenige, die behauptet, der Mensch sei das eigentliche normative Tier. Ich zitiere zwei aus verschiedenen Schaffensperioden entnommene Textstellen, wo diese These sich paradigmatisch ausgedrckt findet. Die erste ist aus MA, I, 32 entnommen:
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Vgl. Wolfgang Mller-Lauter, ber Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999, §18, S. 266 ff. Vgl. Laurence Lampert, Leo Strauss and Nietzsche, Chicago 1996.
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Wenn man aber nur leben kçnnte, ohne abzuschtzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! – denn alles Abgeneigtsein hngt mit einer Schtzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefhl davon, dass man das Fçrderliche wolle, dem Schdlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschtzung ber den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht. (MA, KSA 2, 52)
Die zweite Textstelle befindet sich in der zweiten Abhandlung der Zur Genealogie der Moral: Preise machen, Werthe abmessen, quivalente ausdenken, tauschen – das hat in einem solchen Maasse das allererste Denken des Menschen proccupirt, dass es in einem gewissen Sinne das Denken ist: hier ist die lteste Art Scharfsinn herangezchtet worden, hier mçchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefhls in Hinsicht auf anderes Gethier zu vermuthen sein. Vielleicht drckt noch unser Wort „Mensch“ (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefhl aus: der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das „abschtzende Thier an sich“. (GM, KSA 5, 306)
Die beiden oben angefhrten Textstellen erlauben es uns zu behaupten, dass die normative Aufgabe der Philosophie, so wie sie von Nietzsche bestimmt wird, nichts anderes ist als eine Fortsetzung und Steigerung derjenigen Ttigkeit, die die Menschen im Lauf ihrer Vorgeschichte von anderen Tierarten differenziert und zu der Entwicklung ihrer erkennenden Fhigkeiten in wesentlicher Weise beigetragen hat. Auf diesen Differenzierungsprozess hat Nietzsche sich sehr hufig mit dem Ausdruck „Sittlichkeit der Sitte“ bezogen. Normative Ttigkeit ist also eine unter bestimmten sozialen Bedingungen ausgefhrte und mit dem Erkennen vermischte natrliche Ttigkeit. Worin besteht nun das Spezifische der normativen Ttigkeit, die Nietzsche der echten philosophischen Ttigkeit zuzuschreiben beabsichtigt? Eine immer wiederkehrende Antwort Nietzsches darauf steht in enger Verbindung zu seinem oben erwhnten politischen Platonismus. Was demnach die maximalistische Tendenz bei den berlegungen Nietzsches ber das Normative auszeichnet, ist einfach die These, dass die Gesetzgebung der Grçße die eigentliche Beschftigung des Philosophen ausmachen sollte. Diese These wird in einer Aufzeichnung aus Sommer 1872 – Anfang 1873 von Nietzsche erstmals deutlich formuliert: Das philosophische Denken ist spezifisch gleichartig mit dem wissenschaftlichen, aber bezieht sich auf große Dinge und Angelegenheiten. […] Es ist eine Gesetzgebung der Grçße, ein „Namengeben“ mit der Philosophie verbunden: „das ist groß“ sagt er und dadurch erhebt er den Menschen. Es
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beginnt mit der Gesetzgebung der Moral: „das ist groß“ […]. (NF, KSA 7, 447 f.)
Was ber das Philosophische in der eben angefhrten Textstelle gesagt wird ist eine fast wçrtliche Vorwegnahme dessen, was dreizehn Jahre spter im Aphorismus 211 von Jenseits von Gut und Bçse fr die echten Philosophen als ihre genuine Aufgabe beansprucht wird: „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen ,so soll es sein! , sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen […].“ (JGB, KSA 5, 145) Trotz dieser Vorwegnahme drfen wir aber die wichtigen Unterschiede nicht verkennen, die zwischen dem Programm einer sthetischen Rechtfertigung des Daseins und der nur spter von Nietzsche im Rahmen seines politischen Platonismus vorgetragenen Version der maximalistischen Auffassung der philosophischen Normativitt bestehen. Die erste Version des Amoralismus Nietzsches hngt mit der These der anthropologischen Unentbehrlichkeit einer metaphysischen Rechtfertigung des Daseins zusammen, deren Annahme und Verteidigung die Zugehçrigkeit eines Philosophen zum praktischen Idealismus verraten. Nietzsche hat in der ersten Periode seiner Philosophie Friedrich Albert Langes Standpunkt des Ideals durch die Optik der anthropologischen These Schopenhauers eines unberwindbaren metaphysischen Bedrfnisses des Menschen interpretiert. Diese These, in ihrer ursprnglichen Formulierung, geht auf die Frage zurck, die Kant in der Einleitung der Kritik der reinen Vernunft (KrV, Einleitung (B), §VI) aufgeworfen und in der Transzendentalen Dialektik beantwortet hat. Diese Frage lautet so: „Wie ist Metaphysik als Naturanlage mçglich?“. Kant zufolge begrndet sich das metaphysische Streben des Menschen im Wesen der Vernunft selber. So wie sie in der ersten Schaffensperiode Nietzsches aufgefasst wird, nmlich als eine Gesetzgebung, die Mittels einer Reform der gesamten Kultur die gnstigen Bedingungen fr die Erhçhung und Selbstberwindung des Menschen veranlasst, ist die philosophische Ttigkeit in der Terminologie F. A. Langes am besten zu bestimmen, d. h., als eine erbauende Begriffsdichtung, die aus praktischen Grnden eine unserer hçheren geistigen Ttigkeiten zu einer metaphysischen Ttigkeit stilisiert. Die Tatsache, dass diese metaphysische Bedeutsamkeit der sthetischen Ttigkeit zugesprochen wird, ist dadurch zu erklren, dass der junge Nietzsche der berzeugung war, dass im Vergleich zu der Kunst die Philosophie nur eine bescheidene bzw. negative Rolle in einer Reform der Kultur spielen kçnnte.
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Mit der Verçffentlichung von Menschliches, Allzumenschliches kommt es zu einer entschiedenen Zurckweisung dieser These, die Nietzsche in Schopenhauers vereinfachter Version darstellt und seinem eigenen genealogischen Programm gegenberstellt. Gegen die Position Kant-Schopenhauer, derzufolge das metaphysische Bedrfnis in der menschlichen Natur begrndet ist, weshalb sie dessen Befriedigung durch eine religiçse oder moralische Rechtfertigung des Daseins in die Aufgabe der praktischen Philosophie im Fall Kants, der spekulativen Philosophie im Fall Schopenhauers einbezieht, hat Nietzsche im Sinne der historischen und psychologischen Relativitt dieses Bedrfnisses argumentiert, was wiederum mit einer Reform unseres moralischen Selbstverstndnisses zusammenhngt. Von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Frçhlichen Wissenschaft hat Nietzsche ein philosophisches Programm durchzufhren versucht, das als Philosophie des freien Geistes zumindest provisorisch ihre erbauende Dimension außer Betracht lsst. Stattdessen wird Nietzsche die Aufgabe seiner Philosophie in zweierlei Hinsicht charakterisieren: einerseits ist die Philosophie nach dem therapeutischen Modell der hellenistischen Schule als individuelle Ethik und als Experimentieren mit philosophischen Lebensformen aufzufassen6, andererseits als Versuch, die naturalistische, historische, psychologische, an den Einzelwissenschaften orientierte Tendenz des Programms von F. A. Lange in seinen allgemeinen Linien weiter zu entwickeln und als Waffe gegen das angeblich unberwindbare metaphysische Bedrfnis des Menschen zu verwenden. Als Genealogiker glaubt Nietzsche da triumphieren zu kçnnen, wo die konventionelle Kritik vor ihm zum Scheitern verurteilt war. Dieses zugleich naturalistische und an philosophischer Lebensgestaltung orientierte Programm geht Hand in Hand mit einer Auffassung der Normativitt, die als normativer Minimalismus bezeichnet werden kann und die sich aus verschiedenen Grnden gegen die moralische Deutung der Welt und des Lebens richtet. Die moralische Auffassung der Normativitt im Kontext des normativen Minimalismus zurckzuweisen bedeutet: erstens die These abzulehnen, derzufolge eine metaphysische Begrndung der Normativitt theoretisch unproblematisch und praktisch unentbehrlich sei; zweitens die These zu verteidigen, die Natur und das durch wissenschaftlich strenge Methode gewonnene Wissen ber unsere natrliche 6
Vgl. Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also Sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997.
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Anlagen seien die einzigen Quellen der Normativitt; drittens die Autoritt des Herkommens als eine philosophisch nicht-gerechtfertigte und niemals zu rechtfertigende Quelle der Normativitt darzustellen; viertens durch eine genealogische Untersuchung sich die moralischen Gefhle abzugewçhnen; fnftens die Gleichgltigkeit gegenber den metaphysischen Fragen hervorzubringen, den nchsten Dingen eine gebhrende Aufmerksamkeit zu schenken und fr die philosophische Beschftigung mit ihnen das gute Gewissen wiederzugewinnen. Die Stelle, an der dieses Programm paradigmatisch zur Sprache gebracht wird, ist der Aphorismus 16 aus Der Wanderer und sein Schatten, dessen Titel lautet: Worin Gleichgltigkeit noth thut. Dieser Aphorismus gilt als eine Zusammenfassung dieses Programms und gleichzeitig als Nietzsches persçnliche Abrechnung mit dem praktischen Idealismus.
III. Im dritten und letzten Teil meines Aufsatzes geht es darum, in aller Krze die These darzulegen, dass dem mit der normativen minimalistischen Tendenz verknpften Programm einer berwindung der moralischen Auffassung der Normativitt, das die mittlere Periode von Nietzsches Werk charakterisiert, eine Version des Amoralismus entspricht, die berzeugender ist als seine maximalistische Variante. Die oben aufgelisteten Bedingungen fr die Zurckweisung der moralischen Auffassung von Normativitt lassen sich auf drei philosophische Grundmotive zurckfhren. Diese Grundmotive sind kognitiver, philosophisch-ethischer und therapeutischer Natur. Wie Brusotti gezeigt hat, lsst Nietzsche diese letzten Motive, die dem Ideal der Seelenruhe entsprechen, hinter sich, sobald er sich auf das Gefhl der Macht konzentriert.7 Nietzsche zufolge sind die Kategorien der abendlndischen Philosophie durch die Verpflichtung der Philosophen auf eine moralische Weltanschauung bestimmt worden. Die interne Logik dieses Prozesses hat dazu gefhrt, eine Auffassung von Normativitt zu entwickeln, die langfristig ihre eigene Grundlage dadurch untergrbt, dass sie sich systematisch gegen die Natur wendet. Dem Amoralismus der mittleren Periode entspricht der Anspruch, zu zeigen, dass die moralische Auffassung der Normativitt von 7
Vgl. Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also Sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 93 ff.
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metaphysischen Irrtmern abhngt, z. B. dem Glauben an die Willensfreiheit, die durch eine genealogische Untersuchung allmhlich zu beseitigen sind. Diese Irrtmer haben dazu beigetragen, die Menschen von den anderen Lebewesen zu entfernen. Es geht nun um die Frage, ob der Sinn fr die Wahrheit und die Gerechtigkeit der Erkenntnis, die aus der auf diesen Irrtmern basierenden Moralitt entstanden sind, vçllig einverleibbar sind, so dass „die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln kçnne“ (MA, KSA 2, 105). Aufgabe der freien Geister ist nicht, die gnstigen Bedingungen fr das Entstehen dieser weisen Menschheit zu schaffen, sondern vielmehr versuchsweise diese Menschheit in sich selbst vorwegzunehmen. Dafr sind zwei Bedingungen erforderlich: erstens mssen die freien Geister sich von der moralischen Normativitt befreien; zweitens mssen sie der logischen oder theoretischen Normativitt verpflichtet bleiben. Das Verstehen der Aufgabe des Philosophen als eine Vorwegnahme des weisen Menschen schließt die konsequentialistische Interpretation aus, die im Kontext der maximalistischen Tendenz unumgnglich zu sein scheint. Darin besteht mein erstes Argument fr die berlegenheit der minimalistischen Tendenz des Amoralismus: er ist nicht konsequentialistischer Natur. Was wrde es bedeuten, im Rahmen einer perfektionistischen Ethik, wie die von Nietzsche, Konsequentialist zu sein? Erstens die Menschheit durch çkumenische Ziele einer Gesamtverwaltung zu unterwerfen, Ziele, die von philosophischen Gesetzgebern festgelegt werden mssten; und zweitens durch diese philosophische Gesetzgebung die gnstigen Bedingungen zu schaffen, unter welchen die strkeren Typen der Menschen entstehen und zur Herrschaft kommen kçnnten. Nietzsche war der berzeugung, ein solches Projekt sei im Prinzip mit Hilfe unserer fortgeschrittensten Wissenschaften durchfhrbar. Mller-Lauter hat uns in Bezug auf die Durchfhrbarkeit dieses Projektes gezeigt, dass Grçsse und Dauer Werte darstellen oder Lebensbedingungen fordern, deren Kompatibilitt keine Selbstverstndlichkeit ist. Die Schwierigkeit besteht in der Tatsache, dass die strkeren Menschen auch die verschwenderischeren gewesen sind. Wie es von Mller-Lauter formuliert wurde, „Jedenfalls scheint ,der menschliche Durchschnitt die Erhaltung des ,Typus Mensch zuverlssiger zu garantieren als die ,großen Ausnahmen“8. Man muss darber hinaus in Betracht ziehen, was sich hinter diesem Projekt versteckt. Es geht um den Versuch, die Zuflligkeit in der Entstehung und 8
Wolfgang Mller-Lauter, ber Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II, Berlin/New York 1999, S. 134.
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Herrschaft der hçheren Menschen durch Zchtung und Planung zu ersetzen. Hierbei geht es nicht nur um die grçsste Gefahr, dass die Ausnahme sich als Regel darstellt (Vgl. FW, KSA 3, 431 f.), sondern auch, und noch schlimmer, um den Kompromiss mit einem wesentlichen Merkmal der moralischen Normativitt selber. Der Moralitt liegt eine grundstzlich verneinende Einstellung zu Grunde, weil sie u. a. unfhig ist anzuerkennen, dass Verdienste und Werte auf dem Zufall und der Notwendigkeit, bzw. auf der Natur fußen mssen. Die Zuflligkeit programmatisch umgehen zu wollen ist mit einer bejahenden Philosophie nur schwer zu vereinbaren, weil dies zu tun eben die Aufgabe der moralischen Auffassung der Normativitt ist. Es steht aber außer Zweifel, dass Nietzsche eine Rehabilitierung der Zuflligkeit in sein philosophisches Programm mit einbezogen hat, um fr das Gesamtgeschehen die Unschuld wiederzugewinnen. Beispiel dafr ist der Aphorismus 13 von Morgenrçthe, Zur neuen Erziehung des Menschengeschlechts betitelt, den ich nur teilweise wiedergebe: Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen hat man ihn [den Begriff der Strafe, RL] gelegt – und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon diess, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen! – aber man hat mehr gethan und die ganze reine Zuflligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des StrafBegriffs […]. (M, KSA 3, 26)
Mein zweites Argument fr die These, dass die minimalistische Version des Amoralismus Nietzsches vertretbarer ist als die mit ihr in gewissem Sinne konkurrierende Version, besteht in zwei Schritten, die ich hier nicht ausfhren, sondern nur andeuten kann: erstens geht es darum, zu zeigen, dass das mit der maximalistischen Tendenz zusammenhngende philosophische Projekt Nietzsches, den Wert der Wahrheit, bzw. der Wahrhaftigkeit oder, um es noch genauer auszudrcken, der gesamten epistemischen Tugenden als problematisch anzusehen und sie als die raffinierteste Figur des asketischen Ideals in Frage zu stellen, nur als Gedankenexperiment zu interpretieren ist. Fr das Programm einer Umwertung aller Werte, so wie es im Antichrist zum Ausdruck gebracht wird, ist ein solches Gedankenexperiment sogar als kontraproduktiv zu bewerten; der zweite Schritt dieses Arguments besteht darin, zu zeigen, dass die zumindest scheinbar vollkommene Versçhnung Nietzsches mit der Fçrderung der epistemischen Tugenden im Kontext des Antichrist Hand in Hand mit einer Wiederaufnahme des Ideals einer guten Nachbarschaft zu den nchsten Dingen geht, wie es in Ecce Homo wieder auftaucht:
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An dieser Stelle thut eine grosse Besinnung Noth. Man wird mich fragen, warum ich eigentlich alle diese kleinen und nach herkçmmlichem Urtheil gleichgltigen Dinge erzhlt habe; ich schade mir selbst damit, um so mehr, wenn ich grosse Aufgaben zu vertreten bestimmt sei. Antwort: diese kleinen Dinge – Ernhrung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht – sind ber alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen, umzulernen. Das, was die Menschheit bisher ernsthaft erwogen hat, sind nicht einmal Realitten, blosse Einbildungen, strenger geredet, Lgen aus den schlechten Instinkten kranker, im tiefsten Sinne Schdlicher Naturen heraus – […]. (EH, KSA 6, 295 f.)
Der erste Schritt des Arguments besagt, dass die Frage nach dem Wert der Wahrheit, bzw. der Wahrhaftigkeit keine Rolle in der letzten Philosophie Nietzsches spielt. Im Gegenteil dazu wird in Jenseits von Gut und Bçse und noch deutlicher in Zur Genealogie der Moral die These vertreten, dass die epistemischen Tugenden, die die kognitiven Werte fçrdern, dem asketischen Ideal unterworfen sind, und dass diese Unterwerfung nicht nur im Sinne der bloß psychologischen Gefahr zu interpretieren sei, durch eine bermßige bung dieser epistemischen Tugenden wieder in die Moral zu geraten, wovor in der mittleren Periode immer wieder gewarnt wird, sondern auch und vornehmlich im Sinne einer unvermeidbaren Schlussfolgerung der inneren Logik eines nihilistischen Prozesses. In einem solchen Szenario wre die Umwertung aller Werte eine Aufgabe, zu deren Erfllung Nietzsche auf keinen historischen Verbndeten zurckgreifen kçnnte. Das ist aber keineswegs der Fall, zumindest im Antichrist. In diesem Werk wird auf die skeptische Tradition zurckgegriffen und der Skeptiker wird zu einem natrlichen Verbndeten im Kampf gegen das Christentum stilisiert. Mit dieser Strategie hngt ein vorbehaltloses Lob der epistemischen Tugenden zusammen, das auf einen nicht zu vernachlssigenden Unterschied zwischen der Genealogie der Moral und dem Antichrist hinweist, wie durch die unten angefhrten Textstellen belegt wird. Die erste, aus der Genealogie entnommene Stelle lautet: Diese Verneinenden und Abseitigen von Heute, diese Unbedingten in Einem, in Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen, alle diese blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten, diese Skeptiker, Ephektiker, Hektiker des Geistes (letzteres sind sie sammt und sonders, in irgend einem Sinne), diese letzten Idealisten der Erkenntniss, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt und leibhaft ward, – sie glauben sich in der That so losgelçst als mçglich vom asketischen Ideale, diese „freien, sehr freien Geister“: und doch, dass ich ihnen verrathe, was sie selbst nicht sehen kçnnen – denn sie stehen sich zu nahe – dies Ideal ist gerade auch ihr Ideal, sie selbst stellen es heute dar, und Niemand sonst vielleicht, sie
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selbst sind seine vergeistigste Ausgeburt, seine vorgeschobenste Krieger- und Kundschafterschaar, seine verfnglichste, zarteste, unfasslichste Verfhrungsform: – wenn ich irgend worin Rthselrather bin, so will ich es mit diesem Satze sein!… Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit… (GM, KSA 5, 398 f.)
Weniger als anderthalb Jahre spter wird Nietzsche sich im Der Antichrist auf eine ganz andere Weise ber die freien Geister und deren epistemischen Tugenden ussern. Ich zitiere: Unterschtzen wir dies nicht: wir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine „Umwertung aller Werthe“, eine leibhafte Kriegs- und Siegs-Erklrung an alle alten Begriffe von „wahr“ und „unwahr“. Die werthvollsten Einsichten werden am sptesten gefunden; aber die werthvollsten Einsichten sind die Methoden. (AC, KSA 6, 179)
Das Programm Nietzsches einer Kritik des Willens zur Wahrheit scheint ausgeklammert worden zu sein. Von der Notwendigkeit einer Rechtfertigung des Willens zur Wahrheit ist in seinen letzten Bchern keine Rede mehr. Stattdessen hat Nietzsche in Ecce Homo die positive Einstellung gegenber der Wahrheit als den eigentlichen Probierstein eines Geistes vorgeschlagen: „Wie viel Wahrheit ertrgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde fr mich immer mehr der eigentliche Werthmesser.“ (EH, KSA 6, 259) Zum Schluss zitiere ich zustimmend eine Passage von einem Aufsatz von Bernard Williams, wo er die minimalistische Methode Nietzsches beschreibt und zugleich eine Bedingung fr ihre erfolgreiche Anwendung festlegt: Such an approach can indeed be said to involve, in Paul Ricoeur s well-known phrase, a „hermeneutics of suspicion“. As such, it cannot compel demonstratively, and does not attempt to do so. It invites one into a perspective, and to some extent a tradition […], in which what seems to demand more moral material makes sense in terms of what demands less. The enterprise can work, however, only to the extent that the suspicion it summons up is not a suspicion of everything.9
Ein verallgemeinerter Verdacht ist zwar methodisch nicht vielversprechend; als ein Gedankenexperiment ist er aber ein wirksames und manchmal sogar unentbehrliches Werkzeug des Philosophierens.
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Bernard A. O. Williams, Making sense of humanity and other philosophical papers, Cambridge 1995, S. 68.
Theodor W. Adornos Wertschtzung der Grçße Nietzsches Vanessa Vidal Mayor1 Adornos Wertschtzung der Grçße Nietzsches ist auf Grund der politisch und ideologisch verwickelten Rezeptionen beider Denker vor allem in Deutschland lange Zeit unterschtzt worden. Dank des Einflusses der franzçsischen und italienischen Rezeption Nietzsches und dem Beginn der eigentlichen philosophischen Rezeption Adornos jenseits ihrer politischen Wirkung ist in den letzten Jahren die Anzahl der Abhandlungen ber die hnlichkeit beider Philosophen gewachsen.2 Es sind darunter jedoch bis jetzt immer noch recht wenige Autoren zu finden, die sich ausfhrlich mit der Forschung ber die historische Nietzsche-Rezeption Adornos befassen. Und die endlich aktuell gewordene Frage nach einer expliziten oder latenten Prsenz Nietzsches in der Philosophie Adornos kann nur Anspruch auf eine ernsthafte Beantwortung erheben, indem zuvor historisch untersucht wird, wie Adorno, gerade in den schwierigen Jahren vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, die Philosophie Nietzsches deutet und darber hinaus in sein eigenes Werk aufnimmt. Dieser Beitrag mçchte deshalb, ausgehend von einer bislang noch nicht erforschten Radiosendung des Hessischen Rundfunks aus dem Jahre 1950, eine zeitgemße Antwort hinsichtlich dieser Frage der Prsenz Nietzsches in den Schriften Adornos vorschlagen.3 Die Hçrfunksendung wurde 1989
1 2
3
Ich mçchte mich bei Andreas Mauer herzlich fr die Korrekturen in deutscher Sprache bedanken. Zu nennen wren beispielsweise Rdiger Snner, sthetische Szientismuskritik – Zum Verhltnis von Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche und Adorno, Frankfurt am Main 1986; Konstadinos Maras, Vernunft und Metaphysik bei Adorno und Nietzsche, Tbingen 2003 und Michaela Homolka, Topographie des Mçglichen. Macht und Ohnmacht bei Adorno und Nietzsche, Mnchen 2005. Die Radiosendung wurde am 31. 07. 1950 aufgenommen. Die Erstausstrahlung erfolgte am 19. 09. 1950. Zugang zu der Sendung bekam ich im Th. W. Adorno Archiv in Berlin dank Michael Schwarz. Es handelt sich um die Tonaufnahme 150 (TA150).
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in den Gesammelten Schriften Horkheimers verçffentlicht.4 In ihr sprechen Th. W. Adorno sowie Max Horkheimer und Hans-Georg Gadamer anlsslich des 50. Todestages von Nietzsche ber die Aktualitt seiner Philosophie. Und es ist in der Tat erstaunlich, dass bisher noch kein Forscher der schriftlichen Fassung Beachtung geschenkt hat. Die Sendung ist wohl als Zeitgeist-Zeugnis zu bewerten, da in ihr, zu Zeiten einer in Deutschland problematischen Rezeption Nietzsches, drei verschiedene bedeutende Wertschtzungen ber ihn zum Ausdruck gebracht werden: zum einen die des Heidegger-Schlers Gadamer und zum anderen die von Adorno und Horkheimer als Vertreter der kritischen Theorie. Dieses Radiogesprch ist meiner Auffassung nach in besonderer Weise fr die Rekonstruktion der Rezeption Nietzsches bei Adorno geeignet5, da er sich darin außerordentlich deutlich und systematisch ber Nietzsche ußert und beraus klar zum Vorschein kommt, welche Stellung Adorno schon damals, in den fr Deutschland schwierigen Nachkriegsjahren, zu Nietzsche einnimmt und wie hoch und unabhngig von der verbreiteten Rezeption er den Wert Nietzsches in der ffentlichkeit ansetzt. Ausgehend von der in dieser Radiosendung vermittelten Wertschtzung, werde ich einigen Spuren Nietzsches in den damaligen Schriften Adornos nachgehen. Ich werde Konstellationen um das Denken beider großer Philosophen herum bilden, in denen die hnlichkeit beider Denkweisen immanent erkennbar wird.
„ber Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen“ (1950) Zu Beginn des Rundfunkgesprchs, „ber Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen“ stellt Horkheimer Adorno und Gadamer folgende Frage: „Warum sind wir eigentlich beieinander?“6. Eine Frage, die hier und jetzt eigenartigerweise immer noch Gltigkeit besitzt, die wir uns 4
5 6
Theodor W. Adorno / Max Horkheimer / Hans-Georg Gadamer, ber Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Nachgelassene Schriften 1949 – 1972, Frankfurt am Main 1989, S. 112 – 120. Dies gilt gleichermaßen fr Horkheimer und Gadamer. Ich muss mich an dieser Stelle jedoch auf Adornos Rezeption beschrnken. Theodor W. Adorno / Max Horkheimer / Hans-Georg Gadamer, ber Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Nachgelassene Schriften 1949 – 1972, Frankfurt am Main 1989, S. 112.
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also auch heute noch stellen mssen, sobald Nietzsche in den Mittelpunkt gerckt wird. Die Antwort von Adorno ist eindeutig: „Ich wrde darauf antworten, daß uns nichts anderes hier beschftigen kann als der bescheidene Versuch, wenigstens einiges von den Verzerrungen zu beseitigen, deren Nietzsche im çffentlichen Bewusstsein heute unterliegt.“7 Die dringlichste Aufgabe, die Adorno fr notwendig erachtet, besteht demnach darin, das in den damaligen Rezeptionen verzerrte Bild Nietzsches gerade zu rcken. Es handelt sich also zuallererst um eine kritisch-genealogische Aufgabe, welche die Voraussetzungen schaffen soll, um mit der eigentlichen philosophischen Rezeption Nietzsches jenseits ihrer ideologischen Verunstaltungen anfangen zu kçnnen. Adorno zufolge haben diese Verzerrungen ihren Ursprung in zwei zeitgençssischen Rezeptionsrichtungen: einerseits der nationalsozialistischen und andererseits innerhalb der Lebensphilosophie. Auf der einen Seite ist Nietzsche von den Nationalsozialisten beschlagnahmt worden, und man hat aus ihm im buchstblichen Sinn den Anwalt der blonden Bestie, den Anwalt des deutschen Imperialismus gemacht, man hat geglaubt, aus ihm ableiten zu drfen, daß Macht, der Wille zur Macht, das einzige sei, was als Norm menschlichen Verhaltens gelte, und man hat schließlich geglaubt, aus ihm jede Art von Willkr und Gewalt rechtfertigen zu drfen. Dem gegenber steht der Versuch, Nietzsche zu nivellieren, ihn zu einem eben jener offiziellen Denker zu machen, die er ebenso wie sein Meister Schopenhauer sein Leben lang aufs leidenschaftlichste befehdet hat, man hat ihn verharmlost und hat ihn buchstblich unter die großen Philosophen eingereiht, whrend sein ganzes Werk eine einzige Absage an die offizielle Tradition der Philosophie im Namen dessen ist, was er selber Leben nannte.8
Adorno ist sich voll bewusst, dass die vorrangige Aufgabe der damaligen Zeit darin liegt, diese Verformungen genealogisch zu kritisieren, um dadurch ein „befreites“ Bild von Nietzsche zu gewinnen. Es ist fr den Zeitgeist auf jeden Fall erstaunlich, dass Adorno neben die nationalsozialistischen Verzerrungen Nietzsches dessen „akademische“ Verzerrungen setzt, die seinerzeit Nietzsche zu einem offiziellen Denker umformen wollten. Von zentraler Bedeutung fr Adorno ist, dass Nietzsche nicht als „sokratischer“ Philosoph, sondern als Kritiker der Akademie bzw. der 7
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Theodor W. Adorno / Max Horkheimer / Hans-Georg Gadamer, ber Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Nachgelassene Schriften 1949 – 1972, Frankfurt am Main 1989, S. 112. Theodor W. Adorno / Max Horkheimer / Hans-Georg Gadamer, ber Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Nachgelassene Schriften 1949 – 1972, Frankfurt am Main 1989, S. 112.
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universitren Stoa geschtzt wird, und zwar als Verteidiger des Lebens. Und genau das tut Adorno gerade entgegen der Lebensphilosophie, die den Vorrang des Lebens vor der Philosophie bei Nietzsche selbst abschwcht, indem sie das Leben von Nietzsche zum Begriff und dadurch zum offiziellen Denken als akademische Lebensphilosophie umwandelt. Nietzsche ist fr ihn in der Geschichte der Philosophie zweifellos der erste wirklich lebendige Denker. Deswegen soll Nietzsche auf keinen Fall – und vielleicht mache ich in dieser Hinsicht mit diesem Beitrag etwas falsch – „neutralisiert“ werden „zu einem Mitglied jenes Pantheons, in dem die Denker lebendig begraben werden“9. Dass Nietzsche ein lebendiger Denker des Lebens sei, stellt fr uns heute vielleicht keine neue Erkenntnis dar. Wenn man aber diese Behauptung von Adorno im Kontext bewertet und vor allem, wenn man schtzen lernt, inwiefern Adorno gemß Nietzsche sich hier selbst als Verteidiger des Lebens gegen die institutionalisierte Lebensphilosophie prsentiert, so nimmt die Problematik eine ganz andere Tiefe an, Tiefe vor allem in Bezug auf die Philosophie Adornos. Bis jetzt sind kaum Autoren zu finden, die die lebensphilosophische Dimension im Denken von Adorno untersucht haben, eine Lcke, die anhand einer ausfhrlichen Untersuchung ber den Einfluss Nietzsches auf Adorno geschlossen werden sollte. In der in jenen Jahren geschriebenen Minima Moralia10, die im brigen den Untertitel „Reflexionen aus dem beschdigten Leben“ trgt und deren aphoristische Form stark an Nietzsche erinnert, lobt Adorno diese lebensphilosophische, ja lebensknstlerische Seite Nietzsches im Vergleich zur etablierten Philosophie und stellt sich dadurch auf die gleiche Position. In dem Aphorismus aus dem 1945 geschriebenen Zweiten Teil „Stundenplan“ gibt Adorno dem Leben Nietzsches als Modell ein einheitliches Leben, in dem Lust und Arbeit untrennbar sind. Man kçnnte aber Nietzsche so wenig in einem Bro, in dessen Vorraum die Sekretrin das Telefon betreut, bis fnf Uhr am Schreibtisch sich vorstellen, wie nach vollbrachtem Tagewerk Golf spielend. Einzig listige Verschrnkung von Glck und Arbeit lßt unterm Druck der Gesellschaft eigentliche Erfahrung noch offen.11 9 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer / Hans-Georg Gadamer, ber Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Nachgelassene Schriften 1949 – 1972, Frankfurt am Main 1989, S. 112 f. 10 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschdigten Leben, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1997. 11 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschdigten Leben, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main 1997, S. 148.
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Dieser Satz zeigt nicht nur Nietzsche als Vorbild des lebendigen Denkers, sondern erçffnet auch ein unbekanntes Bild von Adorno, welches ihn, dem Nietzsche Modell gemß, als Verteidiger nicht nur der Lebensphilosophie, sondern auch der Einheit von Leben und Denken gegenber der leblosen Theoretisierung des Lebens in der akademischen Philosophie prsentiert. Die Voraussetzung dieser Verteidigung der Einheit von Denken und Leben ist Nietzsches Entdeckung und Betonung der Rolle der Triebe fr die Erkenntnis, was die gesamte abendlndische Philosophie bis Schopenhauer erzittern lsst. Im Jahre 1927 schreibt Adorno in Bezug dazu: Nicht allein hat Nietzsche den Schopenhauerschen Willensbegriff bernommen, positiv gewandt und seine Moraltheorie ausschließlich an der Thesis der schçpferischen Spontaneitt orientiert; auch der Begriff des Lebens im Sinne des modernen Vitalismus bis zu Bergsons lan vital fußt auf der Voraussetzung jener Spontaneitt als transzendenter Ursache der Phnomene, und selbst die Arbeitshypothesen der materialistischen Biologie sind von der Setzung einer solchen Spontaneitt beherrscht, die ganz im Sinne der großen idealistischen Systeme als unbewußte Ttigkeit aufgefaßt wird, nun um die Entstehung der Naturformen begreiflich zu machen.12
Adorno erkennt damit die Erweiterung der Philosophie auf das Irrationale. Der Fund des „Unbewussten bzw. des Schopenhauerschen Willens“ und dadurch des Lebens werden dank Nietzsche zu unverzichtbaren Themen der spteren Philosophie. Dieser Wille macht Adornos Ansicht nach aus Nietzsche jedoch keineswegs einen typischen Irrationalisten oder Gegner der Aufklrung oder gar Nihilisten, sondern, ganz im Gegenteil, einen echten aufklrerischen Denker. Und in diesem Punkt ist die Besonderheit von Adornos NietzscheRezeption gegenber den damals verbreiteten Deutungen zu betonen, die Nietzsches Willen oder Trieb rein irrational verstanden haben bzw. verstehen. Gleichzeitig erhellt diese Deutung der Rolle von Wille bzw. Trieb fr die Aufklrung bei Nietzsche Adornos eigene, so intensiv diskutierte und oft unverstandene Position gegenber der Aufklrung. Nietzsche ist fr Adorno – ich mçchte dafr einen anscheinend widersprchlichen Ausdruck verwenden – als aufklrerischer Irrationalist oder irrationaler Aufklrer zu bezeichnen. Die scheinbare Widersprchlichkeit dieser These, dass nmlich auch der irrationale Wille der Aufklrung dient, lçst sich auf, sobald man Adornos Wertschtzung der Verbindung dieses Wil12 Theodor W. Adorno, Philosophische Frhschriften, Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1997, S. 98 – 99.
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lens mit dem aufklrerischen Denken genauer betrachtet, da Adorno Nietzsches Rolle der Triebe nicht einfltig als Verteidigung der wilden Natur, der Instinkte und des abstrakten „Willens zur Macht“ versteht. In dem Radiogesprch bekrftigt Adorno in dieser Hinsicht: Wir sollten […] es festhalten und uns nicht entreißen lassen, daß Nietzsche ein Aufklrer war und daß er in die Tradition des aufgeklrten Denkens gehçrt. Er hat nicht den Irrationalismus vertreten in dem Sinn, daß er den Mchten des Unbewußten als solchen den Vorrang ber das Denken einrumte, sondern er hat, auch darin, gar nicht unhnlich Freud, vertreten, daß durch Bewußsein der Trieb freizugeben sei, und daß er damit, daß er nicht mehr verdrngt, nicht mehr verleugnet zu werden braucht, das Dmonische eigentlich verliere, und daß das Reich der Erfllung gleichbedeutend sei mit jenem Reich, in dem das Bewußtsein selber zum Trieb sich stellt, anstatt den Trieb zum Schicksal der Unbewußtheit zu verdammen.13
Der Weg zum Irrationalismus ist erçffnet. Man kann ihn jedoch nur aufklrerisch betreten.14 Die kategorische Form, in der Adorno Nietzsche als Aufklrerischen Denker bezeichnet und dies tut, gerade indem er paradox die Triebe zum ersten Mal mit dem Bewusstsein zusammenfhrt, anstatt beide traditioneller Weise gegenber zustellen, ist angesichts der Zeit – man schreibt das Jahr 1950 – und im Vergleich zu den damals beherrschenden Rezeptionen von Nietzsche, aber auch in Bezug auf viele gegenwrtige Deutungen von Adorno wirklich erstaunlich. Dass die Triebe eine wichtige Rolle in der Aufklrung spielen, ist in dieser Nietzsche-Deutung von Adorno selbstverstndlich. Und es ist seiner Meinung nach die Beherrschung dieser Triebe, was die Aufklrung in Nihilismus umwandeln lsst. Bereits in Kierkegaard. Konstruktion des
sthetischen 15, dem nahezu unbekannten Werk, mit dem Adorno 1931 bei dem Theologen Paul Tillich in Frankfurt endlich habilitiert wurde, setzt 13 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer / Hans-Georg Gadamer, ber Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Nachgelassene Schriften 1949 – 1972, Frankfurt am Main 1989, S. 118 f. 14 Ich habe die Prsenz Nietzsches in der Dialektik der Aufklrung bereits in zwei anderen Aufstzen behandelt. Vanessa Vidal, Zweideutigkeit der Aufklrung: Nietzsche und Adorno, in: Renate Reschke (Hrsg.), Nietzsche. Radikalaufklrer oder radikaler Gegenaufklrer?, Berlin 2004. Sowie: Vanessa Vidal, Die Idee der Philosophie als Kritik bei Nietzsche und Adorno, in: Volker Gerhardt / Renate Reschke (Hrsg.), Friedrich Nietzsche – Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment, in: Nietzscheforschung 13 (2006). 15 Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des sthetischen, „Erste Beilage: Kierkegaards Lehre von der Liebe“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, Frankfurt am Main 1997, S. 229 f. „Kierkegaards Lehre von der Liebe“ ist ein Vortrag Adornos von 1940, den er 1966 der zweiten Auflage des Buches beifgte.
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Adorno, hnlich wie Jaspers16, die Philosophie Kierkegaards und Nietzsches hinsichtlich ihrer Behandlung der Herrschaftsmechanismen gleich. Es ist die Beherrschung der Triebe, was die Menschheit in Masse verwandelt, und dadurch die Aufklrung in Nihilismus. Er [Kierkegaard] hat darin eine Tendenz der heutigen Massengesellschaft bezeichnet, die zu seiner Zeit noch sehr latent gewesen sein muß: die Ersetzung spontanen Denkens durch automatisierte Anpassung, wie sie im Zusammenhang mit den modernen Formen der Information sich vollzieht. In Kierkegaards Massenfeindschaft, so konservativ er sich gebrdet, steckt hnlich wie bei Nietzsche etwas von der Einsicht in die Verstmmelung des Menschen durch die Beherrschungsmechanismen, die ihn zur Masse machen.17
Die These der Beherrschung der Triebe als Ursache der Verwandlung der Aufklrung in Nihilismus, die schon im Kierkegaard vollstndig artikuliert ist18, wird zur berhmten These der 1942 – 1944 gemeinsam mit Horkheimer im Exil verfassten Dialektik der Aufklrung 19. Also schon vor der Dialektik der Aufklrung erkennt Adorno – und das hat er vor allem Nietzsche zu verdanken – die Zweideutigkeit der Aufklrung als „fortschreitendes Denken“ und „nihilistische Macht“. Diese beiden Thesen, nmlich die Anerkennung der Rolle der Triebe fr die Aufklrung sowie die zum Nihilismus fhrende Beherrschung solche Triebe, bilden meines Erachtens die Ausgangsthese der Dialektik der Aufklrung. Nietzsche gleichsetzend mit dem großen Hegel schreiben Adorno und Horkheimer in Bezug auf das Denken der Aufklrung: „Nietzsche hat wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklrung erkannt. Er hat ihr zwiespltiges Verhltnis zur Herrschaft formuliert.“20 Das zwiespltige Verhltnis zur
16 Karl Jaspers, Nietzsche. Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens, Berlin 1936. 17 Theodor W. Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des sthetischen, „Erste Beilage: Kierkegaards Lehre von der Liebe“, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, Frankfurt am Main 1997, S. 229 f. 18 Die These ist in der Literatur ber Theodor W. Adorno bis jetzt kaum bekannt. Ich schreibe gerade meine Dissertation ber diese Problematik. 19 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklrung, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt am Main 1997. 20 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklrung, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt am Main 1997, S. 62. Hier wre mit einem weiteren Vorurteil aufzurumen, allerdings innerhalb der Adornoschen Rezeption. Es wird angenommen, dass Adornos Philosophie als Negative Dialektik im Wesentlichen sich einer Kritik an Hegel verdankt. In diesem Zitat drckt
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Herrschaft beruht also auf folgendem: Einerseits sind es die Triebe, welche die Aufklrung in Bewegung setzten. Andererseits ist die absolute Beherrschung solcher Triebe die Ursache der Umwandlung der Aufklrung in Nihilismus. Die Dialektik der Aufklrung wurde im amerikanischen Exil geschrieben, als sich bereits das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland abzeichnete. In ihr verbergen Horkheimer und Adorno den Einfluss Nietzsches nicht, auch wenn die Tatsache, Nietzsche in Zeiten der Emigration explizit zu verwenden, eine gefhrliche, weil mçglicherweise missverstndliche Zumutung darstellte. berraschend ist an dieser Stelle insbesondere die Tatsache, dass dieser explizite Einfluss in der Literatur ber Nietzsche, aber vor allem in der Literatur ber Adorno so lange verborgen geblieben ist. Die Haltung zu Nietzsches Philosophie ist in der Dialektik der Aufklrung jedenfalls explizit und eindeutig. Nietzsches Wert wird frhzeitig, d. h. noch whrend des Zweiten Weltkriegs und unabhngig von der damals verbreiteten nationalsozialistischen Propaganda vom „Willen zur Macht“ sehr hoch angesetzt, wie dem folgendem Zitat aus der Dialektik der Aufklrung zu entnehmen ist: Whrend jedoch Nietzsches Verhltnis zur Aufklrung, und damit zu Homer, selber zwiespltig blieb; whrend er in der Aufklrung sowohl die universale Bewegung souvernen Geistes erblickte, als deren Vollender er sich empfand, wie die lebensfeindliche, nihilistische Macht, ist bei seinen vorfaschistischen Nachfahren das zweite Moment allein briggeblieben und zur Ideologie pervertiert.21
Die These vom „zwiespltigen Verhltnis“ der Aufklrung zur „Herrschaft“ veranschaulicht Adorno im Radiogesprch anhand des immer wiederkehrenden Problems der Einstellung Nietzsches zur Gewalt, dessen Behandlung gerade in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein Tabu darstellte. Die These Adornos ber diese Problematik ist abermals eindeutig und ziemlich durchgreifend. Adorno versteht die Verteidigung der Brutalitt und Gewalt bei Nietzsche als Anerkennung des nihilistischen Moments der Aufklrung, so radikal es auch, vor allem fr Adornos Philosophie, klingen mag. Das Moment der Gewalt hngt notwendigerweise mit der Verdrngung und Rationalisierung solcher Triebe zusammen und bewirkt das nihilistische Moment der Aufklrung. Damit scheint Adorno Adorno aber sehr deutlich aus, dass die Aufklrungskritik von Nietzsche, wenn nicht wichtiger, dann doch zumindest mit der Hegelschen Kritik gleichrangig sei. 21 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer, Dialektik der Aufklrung, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Werke, Bd. 3, Frankfurt am Main 1997, S. 62.
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sogar den Kultus der Gewalt, der bei Nietzsche zu finden ist, zu entschuldigen: Wenn er [Nietzsche] die Brutalitt verherrlichte, dann hat er dabei gedacht, daß, wenn die Menschen einmal aller konventionellen Moral, aller Zgelungen des Instinktes durch Rationalisierung, durch Ausreden […] sich entschlagen haben, dann das Richtige sich herstellen wird, d. h., daß in diesem Augenblick, indem die Menschen sich bekennen werden, dann die zerstçrenden Triebe ihre Gewalt verlieren werden und daß dann anstelle des ressentimenterfllten Menschen, der bçse ist, weil er seinen Trieben nicht folgen darf, der Mensch tritt, der weder mehr im engen Sinne bçse noch gut ist, eben deshalb, weil er nicht mehr zu verdrngen, nicht mehr zu unterdrcken braucht. Mit anderen Worten also, das Leitbild der Freiheit erscheint hinter dem vordergrndigen Kultus der Unterdrckung.22
Der „zwiespltige Charakter der Aufklrung“ reicht bis zu diesem Punkt: nur indem die Aufklrung ihr immanentes nihilistisches Moment anerkennt und ihr bewusst wird, dass die Beherrschung der eigenen Triebe zum Nihilismus fhrt, ist das Bild der Freiheit und damit der Vollendung der Aufklrung mçglich. Nach dieser schematischen Ausfhrung der wichtigsten Ideen der Philosophie Nietzsches, aus denen sich Adornos Werk in bedeutendem Umfang speist, also der Verteidigung einer Philosophie des Lebens, der Betonung der Rolle der Triebe fr die Aufklrung und der Anerkennung der Beherrschung der Triebe als nihilistisches Moment der Aufklrung, d. h. der These der Zweideutigkeit der Aufklrung, sollte nunmehr der große Einfluss von Nietzsche auf Adorno und dessen hohe Wertschtzung Nietzsches deutlicher geworden sein. Doch ist diese Wirkung bisher weder von der Nietzsche- noch von der Adorno-Rezeption in angemessener Weise erforscht worden. Die komplizierte politische Situation in Deutschland, die sowohl Nietzsches als auch Adornos Rezeption aus ganz unterschiedlichen Grnden schwierig gemacht hat, mag in gewisser Weise dafr Verantwortung tragen. Ein sehr anschauliches Beispiel dafr ist, dass sich Adorno immer noch in einer 1963 in Frankfurt gehaltenen Vorlesung ber Probleme der Moralphilosophie fast entschuldigen muss, als er ber Nietzsche sagt: „Es ist aber, und bitte verstehen Sie das nicht falsch, wirklich nicht im leisesten meine Absicht, auf Nietzsche herumzuhacken, 22 Theodor W. Adorno / Max Horkheimer / Hans-Georg Gadamer, ber Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Nachgelassene Schriften 1949 – 1972, Frankfurt am Main 1989, S. 115.
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dem ich, wenn ich aufrichtig sein soll, am meisten von allen sogenannten Philosophen verdanke – in Wahrheit vielleicht mehr noch als Hegel.“23 In der Absicht geschrieben, einen Beitrag zur Forschung ber Nietzsches Einfluss auf Adorno geleistet zu haben, mçchte dieser Aufsatz anspruchslos der kleinen genealogischen Auflçsung einiger „Verzerrungen“ sowohl im Denken von Nietzsche als auch in der Philosophie von Adorno dienlich sein.
23 Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, in: ders., Nachgelassene Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 10, Frankfurt am Main 1997, S. 255.
Small moment and individual taste Pietro Gori
1.
Science and society
The subject of my study is the note 11 [156] from 1881 (NF, KSA 9, 500 f.), a very interesting but neglected page in which Nietzsche deals with the qualities of the individual. What is peculiar of this text is Nietzsche s viewpoint, since his statements on the role played by the scientific knowledge are but the starting point of a consideration on morals and society that he ll carry out during the later years of thought. Furthermore, from the ideas presented in this text one can infer a view on the relationship between the individual and the State which can be compared with Nietzsche s later observations on perspectivism. In particular, in this note Nietzsche highlights that if the single man wants to define himself, then he cannot refer to an “idiosyncratic” perspective, since the basis which he starts from to build up the fiction of his “ego” reveals its being completely impermanent. Thus, the reference point of the process of subjectivization can only be the “normalized” taste peculiar to the herd, which is created by science, religion and society. Before starting with the analysis of the text, let me just consider that these observations take place in an important notebook, since one finds them a few pages after the first presentation of the idea of eternal recurrence and – most notably – of its description as a scientific cosmology. One must not forget it, since even though in this note Nietzsche doesn t refer to his new thought, his talking about the “unendlich kleine Augenblick” and his stating that this is but a “Blitzbild aus dem ewigen Flusse” clearly shows that he s looking at this topic from a quite definite point of view. The starting point of Nietzsche s reasoning is the role played by the scientific knowledge on the creation of a standardized type of man. He directly relates science with society and religion, since they all concern with the definition of the notion of man and subject. Both science and religion are involved in the process of education and growing of single human beings, which they carry on by standardizing their taste, i. e. by establishing a generalized world view. Their main aim is to achieve the uni-
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formity of sensation, a fact that reveals a deep hostility to any individualization. Moreover, the qualities of the common type of man that they create have ever been seen as peculiar to the single human being, and one usually refers to them to define its essence. The role played by the science is not different. According to Nietzsche, one of its aims is to define the essence of the species instead of that of the individual, since science considers the former more important than each single man. Moreover, science works with concepts, that could only be referred to not-existing things (bodies, atoms and substances); thus, the scientific world description presents a “reality” in which everything is reduced to a general form.1 In the first lines of the note 11 [156] Nietzsche deals with his theory of knowledge. Since Human, all too human he thinks that the process of adaptation and selection of our species led to peculiar ways of modifying the sense data, and therefore to the creation of a “reality” that he describes as false and illusory. Then, one must not consider this mere falsification as a knowledge capable of finding the inner qualities of things – i. e. that can be properly seen as true. Nevertheless, despite of its being false and illusory, this image of our world has revealed its usefulness to the preservation of the species – that s why we now call it “true”.2 These ideas are clearly stated in the notebook from 1881, since Nietzsche writes, […] daß mit der Feststellung des Wesenhaften nichts fr die Realitt [zu] beweisen sei als daß die Existenz des Menschen bis jetzt vom Glauben an diese “Realitt” abgehangen hat (wie Kçrper Dauer der Substanz usw.). […] Die erreichte hnlichkeit der Empfindung (ber den Raum, oder das
1
2
This thought rises from the main ideas on human knowledge which Nietzsche dealt with since the 1870 s, and that he developed as a biologic and evolutionary theory of knowledge. In many writings (both published and unpublished) Nietzsche shows his conceiving the cognitive process as based upon the Darwinian selectionist model (see for example MA, KSA 2, 36 ff.; FW, KSA 3, 110 – 11; NF, KSA 13, 336 ff.). In my opinion, one should include Nietzsche in the list of those thinkers who upheld a natural selection epistemology or, as Donald Campbell wrote in his essay devoted to the philosophy of Karl Popper, an evolutionary epistemology (see Donald Campbell, Evolutionary Epistemology, in: Paul A. Schlipp (ed.), The Philosophy of Karl Popper, La Salle 1974, vol. I, pp. 413 – 463). I concerned with this subject in Pietro Gori, The Usefulness of Substances. Knowledge, Science and Metaphysics in Nietzsche and Mach, in: Nietzsche-Studien 38 (2009), pp. 111 – 155. One can read this statement in some of Nietzsche s notes of the same years. See for example NF, KSA 9, 306 and NF, KSA 9, 537.
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Zeitgefhl oder das Groß- und Kleingefhl) ist eine Existenzbedingung der Gattung geworden, aber mit der Wahrheit hat es nichts zu thun.
Despite of these observations, the main subject of this note are not pure theoretical questions. Rather, Nietzsche starts from them to deal with the role that this kind of knowledge plays on the social plane and, most of all, on the definition of the essence (Wesen) of the individual. In fact, Nietzsche writes that the transmission of the standardised world image build up by the science contributes to the education of each single man, and involves significant consequences on how he looks at both himself and the external world. Thus, one can see how close Nietzsche s theory of knowledge and the main questions concerning both the social plane and the anthropological one that he deals with in his later writings are. Science is not only a tool created by human beings to master the nature and become more powerful. Rather, it s part of their cultural background, of their history, and one must admit that the world view that follows from the scientific investigations has many important consequences on human life.
2.
Evaluation of the individual in N V 4 (Autumn 1880)
Both the way of arguing and the topics that Nietzsche presents in this note can be found in the notepad “N V 4” from the autumn of 1880 (group 6, NF, KSA 9, 194 ff.), which one can refer to, to enlighten his later observations. During that year Nietzsche wrote some notes on the common morals, that he contrasted with the idea that one must attribute the highest values to the individual qualities. What he criticised at the most in these pages is the creation of a standardized and indeterminate type of man, a generalization of the human being rose from the removal of its peculiar traits. Thus, in these notes both the society and the State are described as institutions geared to the definition of the homo communis, and therefore opposed to the development of an individual type. Nietzsche doesn t agree with this aim. On the contrary, he wants to give value to the single man with his peculiar view. Therefore he states that the individual taste could be a resource for the society, if one considers its value among other individuals: “Der Fortschritt der Moral bestnde in dem berwiegen altruistischer Triebe ber egoistische und ebenso der allgemeinen Urtheile ber die individuellen? Ist jetzt der locus communis. Ich sehe dagegen das Individuum wachsen, welches seine wohlverstandenen Interessen gegen andere Individuen vertritt.”
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(NF, KSA 9, 238 f.) Of course, the observations that Nietzsche writes in this notepad are related with his ideas on morals and tradition that one can find in the published books, and that constitute one of the most studied topics of Nietzsche s philosophy. Instead of dealing with his statements on the role played by the moral norms, I d like to pay attention to his concerning with the individual and emphasize the fact that in 1880 he relates it with the social plane, arguing that the latter is the basis out of which the essence of the single man arises. In defining his own anthropology Nietzsche gives the higher value to the individual, since he thinks that it s the most relevant subject of an investigation concerning the social structure. One can say that this statement is in compliance with his way of reasoning, since anytime he s to describe something he usually pays attention to what can create development, i. e. to the dynamic elements capable of modifying the whole structure. According to this perspective, what Nietzsche sees on the political plane is hopeless, since the morals of his society is built upon an abstract, fixed and unchanging – i. e. unreal – type of “man”. “Aus den bisher bekannten kann der Begriff [Mensch ] nur so gewonnen sein, daß man das Individuelle abstreift”, writes Nietzsche, stating that this concept of man cannot be found, but one must create it, since there s nothing but individuals (NF, KSA 9, 237). Contrariwise, his morals would be devoted to a development of the qualities of the individual, to let the single man improve his own attributes and thus define himself among the other human beings. Thus, “dem Menschen seinen Allgemeincharakter immer mehr zu nehmen und ihn zu spezialisiren, bis zu einem Grade unverstndlicher fr die Anderen zu machen” (NF, KSA 9, 237). The outcome of these observations, as one can imagine, is the complete rejection of any statement defining a standardized being, which Nietzsche discredits as inferior to each individual nature with its peculiar traits. According to him, the individual trying to assert itself and its taste is the starting point of a way that leads to a higher form of existence, whose main attributes will be defined by the relationship between individuals. Moreover, this single beings would not be erased by the supremacy of one of them; rather, their being different would be useful to an endless change of their own qualities. In the same notepad from 1880 Nietzsche shows his upholding a morals that could make the “individual taste” stand out, a morals that could be understood and rightly developed only by higher natures. One can compare the way in which Nietzsche defines these type of man with the statements on perspectivism that he writes during the later years of thought, since they are the example of
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how individual, not-shared views can be asserted – or the example that there can be a taste peculiar to just one subject. For instance, in the note 6 [175] 1880 (NF, KSA 9, 242 f.) one reads: “ein singulres Werthmaaß im Gefhle haben macht die hçhere Natur”. In contrast to the common natures, the highest nature trusts in the individuals and in their peculiar qualities, since it recognises as “human” this skill of asserting themselves as single beings. An asserting that does not lead to a kind of autarchical isolation, but rather to a relationship with and self-identification among many other human beings stating the same kind of individual values. Thus, the type of man that Nietzsche describes in this notepad is neither the member of an herd, who has lost his human nature, nor an absolute master claming to assert his own taste and overcome the other individuals. On the contrary, the social model capable of recognising the value of the individual as single human being is a society in which anyone can state his own perspective, and compare it with that of the other citizens. As one can read in the note 6 [163] (NF, KSA 9, 238 f.), there could be justice between equals only if each individual promotes other men as individuals (“Gerechtigkeit unter Gleichen, insofern es [das Individuum] das andere Individuum als solches anerkennt und fçrdert”).
3.
The infinitely small moment as the highest truth
If one turns now to the note 11 [156] 1881 and compares it with the observations that Nietzsche states in his notebook from 1880, one can find many correspondences between them, but also a new perspective on the role played by the normal taste in defining the essence of human beings. As stated above, with his evaluation of the role played by the science on the social and cultural plane Nietzsche highlights that it leads human beings to a kind of feeling (taste and see) that is standardized, common. This is what Nietzsche calls the uniformity of sensation, something very useful for creating a social community, but opposite to the identification of single individuals as members of it. With its description of the world (according to Nietzsche, a mere schema, a simplification of the “real” world3), the science carries on the creation of a standardized life, which has no peculiar quality, an thinks it to be a good definition of the essence
3
See FW, KSA 3, 472 f. and JGB, KSA 5, 28 f.
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of human being itself. For this reason Nietzsche judges this knowledge in a negative way: Die Erkenntniß, ruhend auf dem Glauben an das Beharrende, steht im Dienst der grçberen Formen des Beharrens (Masse Volk Menschheit) und will die feineren Formen, den idiosyncrasischen Geschmack ausscheiden und tçdten – sie arbeitet gegen die Individualisirung, den Geschmack, der nur fr Einen Lebensbedingung ist. (NF, KSA 9, 500 ff.)
As one can easily see, Nietzsche contrasts once again a common, standard nature with a living being asserting its individual perspective. In the last part of the note Nietzsche deals with the qualities of this individual being, but he doesn t reveal which is the relationship between each single men and the social community that he s in mind. The basic element of Nietzsche s determination of the individual is the idiosyncratic taste, i. e. the perspective from which anyone sees and interprets the world that should define each single man, since anyone have a different place among the others. According to Nietzsche, the individual, trying to assert itself over the species, “kmpft fr seine Existenz, fr seinen neuen Geschmack, fr seine realtiv einzige Stellung zu allen Dingen – es hlt diese fr besser als den Allgemeingeschmack und verachtet ihn. Es will herrschen” (NF, KSA 9, 501). One can define a human being as an individual just from this attribute, since it s the basis of its characterization and distinction from the generic qualities of the species. That s why the individual gives the highest value to its own taste, and claims that one must see it as different from the normal taste generated by the herd instinct. The individual refers to this element, since it could be the only ground to find a sense of its existence and define its peculiar attributes. But, when it seems to be sure of its being able to assert its own view, the individual finds an upsetting truth, and has to reassess the conditions of defining its attributes. In fact, according to what Nietzsche writes in this note, the single man realizes that his own taste is completely impermanent, i. e. that one cannot take it as basis of any kind of determination. The individual entdeckt, daß es selber etwas Wandelndes ist und einen wechselnden Geschmack hat, mit seiner Feinheit gerth es hinter das Geheimniß, daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nchsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind: der unendlich kleine Augenblick ist die hçhere Realitt und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse. (NF, KSA 9, 502)
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To understand the statements that Nietzsche presents in this note, one must come back to the notebook from 1880. In fact, the observations on the role played by the unendlich klein Augenblick on the individual are strictly related with another topic which Nietzsche deals with many times: the question of the individual substance. Nietzsche criticizes this notion as the sign of a metaphysical view in search of some absolute and unchanging elements to build its own world description. His observations on the ego play a leading role in his whole thought, and follow from his reading many scientific essays published during the second half of the 19th century. For example, one can compare the observations written by Nietzsche during 1880 – 1881 and his claim that the idea of soul rises from the dynamic relation of inner drives with the work of W. Roux4. In the same notebook from 1880 seen upon one can find many interesting observations on this subject, that could be resumed with this statement: Das Ich ist nicht die Stellung Eines Wesens zu mehreren […] sondern das ego ist eine Mehrheit von personenartigen Krten, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego und nach den anderen, wie ein Subjekt nach einer einflußreichen und bestimmenden Außenwelt, hinsieht. Das Subjekt springt herum. (NF, KSA 9, 211 f.)5
This excerpt is written a few pages after another note that could be relevant for the topic I m dealing with, since Nietzsche argues that we feel the external world anytime in different ways “weil sie sich gegen den jedesmal in uns berwiegenden Trieb abhebt” – an ever-changing drive; “so ist im kleinsten Momente unsere Empfindung der Außenwelt immer werdend und vergehend, also wechselnd” (NF, KSA 9, 209). Thus, in 1881 Nietzsche puts the individual in front to the idea of an impermanent ego and tries to imagine what could happen. His conclusion, according to what he writes in the note 11 [156] 1881 is that once the individual realizes this truth it loses its certainties on what it supposed to be the basis of its self-definition. Both its inclination in asserting itself as single subject and its complete rejection of the normalized existence build up 4
5
See on this topic Wolfgang Mller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluss von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, 7 (1978), pp. 189 – 223. The question of the ego is one of the main topics that one can find in Nietzsche s later notebooks. He dealt with it during the 1880 s, and presented some outcomes after a long lasting reflection concerning the conscience (see for example JGB, KSA 5, 29 ff.). A detailed study on this subject has been carried out by Luca Lupo in his Le colombe dello scettico. Riflessioni di Nietzsche sulla coscienza negli anni 1880 – 1888, Pisa 2006.
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by the social institutions (state, religion and science), collide with the inexistence of any ontological ground which it could refer to.
4. Towards a dialectic of the individual The end of the note 11 [156] from 1881 leaves the reader confused. In thinking about the role played by the individual taste as ground of human beings self-determination, Nietzsche realizes that this idea is in contradiction with his early statements concerning the ego, but he doesn t carry his arguing to a solution of this problem. The possible conclusions of this thought could be two: (a) The individual simply does not exist. It comes from the “herd” and cannot be defined on its own. Any description of the essence of human beings, any definition of a subject, must be referred to the normal taste. (b) The individual taste can be taken as basis of the definition of a self, but one cannot overcome the standardized taste, since the former is impermanent. The social community – the place where the relationship between individuals takes place – is the necessary reference point to define the single human beings. Both the conclusions deny the starting claim of the individual. The single man cannot win the struggle for his existence just upholding his own taste against the “normal” one. However, (a) is not in compliance with Nietzsche s observations from 1880, since in that year he stated some ideas in defence of the individual. Even though one year later he enriched his wordlview with some new ideas (one must remember that in the group 11 from 1881 one finds the first notes on the eternal recurrence), it seems not suitable to say that Nietzsche completely rejected the role played by the single subjects presented before. In fact, some pages after the note in which Nietzsche states the disorientation of the individual in realizing that the idiosyncratic taste is not stable and unchanging, one finds some observations that are in compliance with the others written one year before. In 11 [182] 1881 Nietzsche writes that each single man get his own attributes from the State, since he s part of a community. Therefore, only as member of the State he can recognise himself as individual. Only afterwards he becomes an opponent of the State, and looks at it as a menace for his asserting his own qualities – even if he s been created by the State itself.
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Er hat jene anderen Eigenschaften noch nicht und erwirbt sie erst als Organ des Gemeinwesens: als Organ bekommt er die ersten Regungen der smmtlichen Eigenschaften des Organischen. Die Gesellschaft erzieht erst das Einzelwesen, formt es zum Halb- oder Ganz-Individuum vor (…). Der Staat unterdrckt ursprnglich nicht etwa die Individuen: diese existiren noch gar nicht! Er macht den Menschen berhaupt die Existenz mçglich, als Heerdenthieren. Unsere Triebe Affekte werden uns da erst gelehrt: sie sind nichts Ursprngliches!
Thus, Nietzsche doesn t denies the existence of the individuals; he just limits their ontological value. Then, if one wants to complete the observations presented in 11 [156] one should consider (b), and imagine that in 1881 Nietzsche is thinking about a kind of “dialectical” relationship between the individual and the State. This relationship can be summed up in this way: 1. the State generates a normal taste and defines the individuals as single subjects sharing it; 2. the individual develops a taste of its own and tries to get rid of the State, claming that the idiosyncratic taste could be a good basis to define its essence; 3. the individual becomes aware of the ontological lack of content laying under its self-defining as subject opposed to any common being. Thus, it needs someone to recognise it as holder of a peculiar perspective of world-interpretation, since otherwise its singularity must be denied. But the source of this identification can only be the State itself. Therefore, the dialectical relationship: the individual wants its taste to master the standardized view of the State, but it needs the State to make sense of its being individual. This way of arguing – a mere hypothesis on how to complete Nietzsche s observations – is not far from the ideas that he presented in those years, and also later. In fact, even though Nietzsche criticized many time the State for its generating a normalized life being, during the 1880 he admits that it plays a leading role in defining the essence of the single human beings. Moreover, as stated above, is exactly the State that gives sense to the “highest natures” (see NF, KSA 9, 242 f.). But the statements presented in 11 [156] can also be related with another important topic which Nietzsche dealt with during the last years of thought. In fact, some of his reflections concerning the perspectivism are in compliance with this way of looking at the relationship of the mass (from 1881 “herd”) and the individual, so as with the observations on science and knowledge presented in the first part of the note. Even though the idea of a perspectival interpretation is usually related with the statement according to which there are as many viewpoints, as the number of beings (and for that reason one can relate the observations
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written in the notebook from 1880 with it), when Nietzsche talks about the social plane the question seems to be different. Briefly, one can consider what Nietzsche writes in Gay Science 354, where the single viewpoints, the single perspectives of world interpretation are described as less relevant than the wider perspective of the herd. Nietzsche s observation in 11 [156] 1881, his stating “daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nchsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind” (my italic) sounds quite similar to his claim that the subject of the perspectivism is the herd, and not any single human being.6 Of course, the perspective of the State (expressed by science, religion and society) is unnatural, artificial, it s something created by human beings during their history. Nevertheless, it s the only view that could be seen as (relatively) stable, and for that reason one can take it as basis of a world description. As stated above, is the lack of content of the idiosyncratic taste and its being unstable that make impossible a definition of the essence of the individual on its own.
5. Critique and Aufklrung If one accepts (b), then one can sum up Nietzsche s statements in other terms, and say that in 1881 he s arguing that the individual s inclination to be a stateless cannot be developed, since there s no ground out of which it can rise. The final outcome of his thought is therefore to see the State as the only place where human beings could become subjects. The question: “What can help us to solve this dialectic, or at least to de6
In 4 [172] 1882 (NF, KSA 10, 162) one can find this idea, that Nietzsche will present to his readers only five years later: “Es sind nicht unsere Perspektiven, in denen wir die Dinge sehen; aber es sind Perspektiven eines Wesens nach unserer Art, eines grçßeren: in dessen Bilder wir hineinblicken”. In the last part of Frçhliche Wissenschaft 354 (FW, KSA 3, 590 ff.), after some important remarks on conscience, Nietzsche talks about “the true phenomenalism and perspectivism”, claming that there cannot be any individual view, but only a standardized one, which is useful to the preservation of the species. Of course, one must discuss this statement, first of all for its apparently being opposite to other well known notes in which Nietzsche talks about “every centre of force” as holder of a peculiar world view. For further details on this topic see Pietro Gori, Fenomenalismo e prospettivismo in Gaia Scienza, 354, in: Giuliano Campioni, Chiara Piazzesi, Patrick Wotling (a cura di), Letture della Gaia Scienza. Atti del convegno GIRN di Reims (12 – 13 marzo 2009), Pisa 2010, pp. 105 – 118.
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fine it in a better way?” can thus be answered by referring to another author which statements are strictly related to Nietzsche s thought: Michel Foucault. The investigation of the political power as basis of a process of subjectivization is one of the main contributions of Foucault s thought. With regard to the subject of my study, I m interested in the observations that he presents on the notions of Aufklrung (as stated by Kant) and critique. The writing I m referring to is a late lecture in which Foucault deals with this topic: Qu est-ce que la critique? (Critique et Aufklrung) 7. Beyond the question of power, which plays a leading role in Foucault s thought, this lecture concerns another subject that could be related with the observations on the relationship between individual and society – or between individual and form of government – that one finds in Nietzsche s notebooks from 1880 and 1881. What one especially finds in this writing is Foucault s stating the active role that each man should be able to play in the social dimension and that he needs to recognise himself as subject. Foucault considers the relationship between power, truth and subject, and shows that the latter must not be seen as bound by an unchangeable definition of itself. Rather, it can play an active part in the evaluation and renewal of the existing form of government. According to Foucault, the notion of Aufklrung involves a well definite relationship between the citizen and the State. What is peculiar of this relationship is the active role played by the individual, since each single man both checks the State s working and claims his right to call it into question – an even modify it. Moreover, Foucault writes that the questions involving power, truth and subject are all interlinked; thus, “the critique is the starting point of a movement through which the subject claims his right to call into question both the truth as having effects on the development of power and the power as defining what is truth”8. In the Kantian notion of Aufklrung, and of course in his idea of “human being s emergence from his self-incurred minority”, Foucault finds this new way of thinking the relationship between the single man and the 7
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Michel Foucault, Qu est-ce que la critique? (Critique et Aufklrung), in: Bullettin de la Societ FranÅaise de Philosophie, Paris 1990, pp. 35 – 63. Another text in which Foucault deals with some questions related with the subject of this speech is The Subject and Power, in: Hubert L. Dreyfus and Paul Rabinow (eds.), Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, Brighton 1982, pp. 208 – 226. Michel Foucault, Qu est-ce que la critique? (Critique et Aufklrung), in : Bullettin de la Societ FranÅaise de Philosophie, Paris 1990, p. 39.
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Pietro Gori
power. Therefore, the critique is related to the inclination of the subject of being stateless and to its restlessness, which characterize each man even if he accepts to shape his individuality in a new form, as condition to be part of the society.9 Then, the question is: in which way should one conceive the power? Even though one needs it to set up a society, the power can change its forms, together with the other subjects involved in this process. In other words – as one can read in Foucault s lecture – one must not conceive the power as supremacy, as lordship, as a basic and unchangeable ground, which would be the only explicative principle and therefore a necessarily law: on the contrary, one must consider it as one single part of a field of relations, i. e. as gather together with forms of knowledge by a link that cannot be released. One always finds the power into a field of possibilities, therefore of reversion, i. e. it can be modified at any time.10
The critique finds place in this field of possibilities, and its working obviously involves the question of the subjectivization, too, since it s related with the existing power which defines both the society and all its members. If one calls into question the form of government, that involves also his own characterization. According to Foucault, this could be the only possible way of getting rid of the State, since it would promote new forms of subjectivity.11 If it s not possible a complete liberation from the State, the critique is the only tool one can use to claim both the maturity and the independence of the individual. In my opinion, the observations stated by Foucault can be linked with Nietzsche s view to complete the reasoning that the latter outlines in his notebooks. The notion of critique can be useful to define in a better way the dialectical relationship between the individual and the State, since this form of political participation considers both the subjects involved in this relationship, the wider one (the society) and the single one (each individual). Both the necessity of the State and the active role played by each citizen are preserved, without leading the society to a form of static balance. In other words, through the critique one can define a morals that 9 As one can read in Michel Foucault, The Subject and Power, in: Hubert L. Dreyfus and Paul Rabinow (eds.), Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, Brighton 1982, p. 214. 10 Michel Foucault, Qu est-ce que la critique? (Critique et Aufklrung), in: Bullettin de la Societ FranÅaise de Philosophie, Paris 1990 p. 52. 11 Michel Foucault, The Subject and Power, in: Hubert L. Dreyfus and Paul Rabinow (eds.), Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, Brighton 1982, p. 216.
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could account for the value of each single man, who would control the worth and legitimacy of the existing government and find in it the source of his being subject.
II.
Großes Leben
Große Menschen zchten? Nietzsche anti Darwin*
Andreas Urs Sommer Ein großes Individuum muss das, worber es spricht, nicht aus eigener Anschauung kennen. Fr Nietzsche war der Darwinismus eine selbstverstndliche Denkvoraussetzung – eine so selbstverstndliche, dass er Darwins Hauptwerke nicht im Original lesen musste, sondern sich auf die Darstellung in diversen sekundrliterarischen Quellen und kritischen Auseinandersetzungen verließ, aus denen er seine teilweise recht przisen Kenntnisse schçpfte. Darwinismus galt Nietzsche als Epochenphnomen, als herrschende „Schule“. Er zeigte kein Interesse an dem, was der Meister selbst gesagt hatte, und versprte kein Bedrfnis, ihn gegen seine Anhnger und Popularisierer in Schutz zu nehmen. Das Epochenphnomen Darwinismus erwies sich fr Nietzsche als ideale Projektionsflche, um sich selbst, sein eigenes Denken zu konturieren, beispielsweise mit eigenen Entwrfen, was denn die Natur oder was der alles Lebendige bestimmende Kampf sei. Am Beispiel des Darwinismus lsst sich Nietzsches intellektuelle Adaptionsbereitschaft und Adaptionskraft anschaulich machen. Zugleich lsst sich Nietzsches eigene Theorieselektion in den griffigen Begriffen des Darwinismus beschreiben: Welche Konzepte erweisen sich als die angemessensten, die „fittesten“ fr die Beschreibung der Wirklichkeit und fr die Bestimmung unseres Handelns? Das alles sind Grnde, weswegen sich die Nietzsche-Forschung bereits eingehend mit Nietzsches Darwin(ismus)-Rezeption beschftigt und an der Frage abgearbeitet hat, ob er denn ein Darwinist oder vielmehr ein Anti-Darwinist gewesen sei. Allerdings zeigt sich Nietzsche am Darwinismus nur situativ interessiert, insofern er sich dagegen profilieren kann. Der Darwinismus dient ihm nicht als Gesamterklrung der Welt, sondern als Reibungsflche; er muss dazu in kein Bekenntnisverhltnis treten, weder „dafr“ noch „dagegen“ sein. In der einschlgigen Forschungslite*
Eine frhere Version dieses Beitrages erschien unter dem Titel „Nietzsche mit und gegen Darwin in den Schriften von 1888“, in: Nietzscheforschung, 17 (2010), S. 31 – 44.
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ratur fllt auf, dass nicht selten eine Teleologie in Nietzsches langjhrigen Umgang mit Darwinschen berlegungen hineingelesen wird, die den Eindruck erweckt, Nietzsche habe sich zu immer klareren Positionsbezgen im Darwinschen und anti-Darwinschen Krftefeld hochgearbeitet. Da aber gerade Darwin teleologische Betrachtungsweisen problematisiert, wird man aus methodischer Zurckhaltung von solchen Teleologie-Projektionen in Nietzsches eigene Denkentwicklung tunlich absehen. Die hier vorgetragenen Beobachtungen verschreiben sich diesem Abstand-Halten und wollen der retrospektiven Teleologisierung dadurch entgegenwirken, dass sie Nietzsches spteste ußerungen zum Thema, namentlich in Gçtzen-Dmmerung, Antichrist und dem spten Nachlass, einer genauen Lektre unterziehen, um so das Verfahren zu adaptieren, das Nietzsche in Gçtzen-Dmmerung Vorwort „Gçtzen aushorchen“ (GD, KSA 6, 57) nennt, oder, weniger hochtrabennd formuliert, das Verfahren der Auskultation. Dabei geht es exemplarisch um die Frage, was Grçße, große Individuen ausmacht. Rekapituliert man Nietzsches ußerungen zu Darwin und Darwinismus, zu Selektion und Evolution in all seinen Aufzeichnungen, Werken und Briefen, so ergibt sich von seinen Jugend- und Studententagen an ein buntes Spektrum.1 Sptestens mit der ersten Lektre von Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus 1866 setzt eine kontinuierliche Beschftigung mit Schriften ein, die den Darwinismus zum Gegenstand haben. Insbesondere die mittlere Werkphase ab Menschliches, Allzumenschliches wird – auch unter dem Eindruck des darwinistischen Freundes Paul Re – von einem positiven Darwin-Bild bestimmt. Das bçse Wort von Darwins Lehren als einer „Philosophie fr Fleischerburschen“ (NF, KSA 8, 259) scheint vergessen. Im Sptwerk hingegen akzentuiert sich – gerade angesichts der als Konkurrenzmodell zum Darwinschen Naturverstndnis entwickelten ,Lehre des „Willens zur Macht“ – der kritische Ton; der Darwinismus erscheint çfter als eine falsche, zeittypische Ideologie.
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Siehe die quellenkritisch akribische Rekapitulation bei Thomas H. Brobjer, Nietzsche and the „English“. The Influence of British and American Thinking on His Philosophy. Foreword by Kathleen Marie Higgins, New York 2008, S. 235 – 271.
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Gçtzen-Dmmerung. Streifzge eines Unzeitgemßen 14
Der „A n t i - D a r w i n“ betitelte Abschnitt 14 in den „Streifzgen eines Unzeitgemssen“, dem zweitletzten Kapitel im letzten von Nietzsche selbst zum Druck autorisierten Werk, der Gçtzen-Dmmerung, ist hufig als eine Schlsselstelle zur Erhellung von Nietzsches Denkhorizont herangezogen worden. So heißt es etwa in Heinrich Rickerts 1920 erschienener Abrechnung mit der Lebensphilosophie: Dieser „Anti-Darwin“ berschriebene Aphorismus gewhrt klaren Einblick in die biologistischen Motive von Nietzsches Denken. In der Steigerung des Lebenswillens fand er als typischer Vertreter der neuesten Lebensphilosophie schließlich den Sinn des Lebens berhaupt. Dies ließ sich dann gut auch mit seiner frheren, an Schopenhauer und Richard Wagner orientierten „dionysischen“ Weltanschauung vereinigen.2
Rickerts Urteil ist symptomatisch fr ein bei der Nietzsche-Deutung lange vorherrschendes Verfahren – das im brigen seine spiegelbildliche Entsprechung in Nietzsches eigenem Umgang mit seinen Quellen hat – , nmlich das Verfahren, aus einem beliebigen Nietzsche-Passus einen markanten Gedanken hervorzuheben, den Kontext der usserung auszublenden und aus ihr stattdessen den „ganzen“ Nietzsche systematisch zu extrahieren. Es ist nicht ganz klar, ob Rickert Nietzsche „biologistische Motive“ unterstellt, bloss weil er sich mit Darwinischen berlegungen beschftigt und ihnen etwas Eigenes entgegenhlt. Sichtbar ist aber Rickerts Wille, Nietzsche dem Schema „philosophischer Modestrçmungen“ gefgig zu machen, deren Kritik er sich widmet. Fraglich ist, ob sich Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14 fr eine solche Einpassung eignet. Also wenden wir uns dem Kontext des fraglichen Abschnitts zu: „A n t i - D a r w i n“ ist innerhalb der „Streifzge eines Unzeitgemssen“ nur einer von zahlreichen Abgrenzungsversuchen Nietzsches gegen prgende Figuren des zeitgençssischen intellektuellen Lebens, beispielsweise Ernest Renan, Charles-Augustin Sainte-Beuve, George Eliot und Thomas Carlyle. Der Abschnitt gegen Darwin schliesst eine ganze Reihe solcher scheinbar ganz personenbezogener Artikel ab und erhlt als Abschluss eine herausgehobene Stellung. So unterschiedlich die Personen und ihre Werke sind, gegen die Nietzsche hier anschreibt, so deutlich ist doch, dass er berall Verwechslungsgefahr wittert: Renan kçnnte ihm in der Deutung Jesu und des frhen Christentums bedenklich nahe kommen, 2
Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modestrçmungen unserer Zeit, Tbingen 1920, S. 97.
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Sainte-Beuve mit seinem psychologischen Blick, George Eliot mit ihrer Christentumsferne. In Ecce homo Warum ich so gute Bcher schreibe 1 heisst es ber die Rezeption des Gedankens vom bermenschen: „Andres gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Darwinismus verdchtigt; selbst der von mir so boshaft abgelehnte ,Heroen-Cultus jenes grossen Falschmnzers wider Wissen und Willen, Carlyle s, ist darin wiedererkannt worden.“ (EH, KSA 6, 300) Im Falle von Carlyle und Darwin ist die Mçglichkeit der Verwechslung nicht bloss latent, sondern wurde von Nietzsche bereits als Tatsache wahrgenommen. Entsprechend skandiert er sein eigenes Programm: „H ç r t m i c h ! d e n n i c h b i n d e r u n d d e r . V e r w e c h s e l t m i c h v o r A l l e m n i c h t !“ (EH, KSA 6, 257) Die Angst vor dem Verwechselt-Werden ist ein Leitmotiv in Nietzsches spten Schriften (vgl. z. B. auch Warum ich so gute Bcher schreibe 1, EH, KSA 6, 298). Daraus erklrt sich die Notwendigkeit, in den „Streifzgen“ die direkte Konfrontation mit den sehr unterschiedlichen, prgenden Figuren der zeitgençssischen intellektuellen Debatten zu suchen. Freilich ist der Abschnitt 14 der einzige, in dem dem Gegner ein „Anti-“ vorangestellt wird. Das griechische Prfix amti ist fr sich genommen amphibolisch: Es bedeutet nicht nicht nur „gegen“, sondern auch „an Stelle von“. Und tatschlich ist „A n t i - D a r w i n“ ein Abschnitt, der nicht nur widerstrebende Auffassungen zurckweist, sondern etwas an ihre Stelle setzen will, nmlich eine alternative Auffassung von Evolution, ein alternatives Verstndnis von Natur. Nietzsche setzt sich selbst an die Stelle der Metonymie „Darwin“. Was den berhmten „Kampf um s Leben“ betrifft, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme; der Gesammt-Aspekt des Lebens ist n i c h t die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die ppigkeit, selbst die absurde Verschwendung, – wo gekmpft wird, kmpft man um M a c h t … (GD, KSA 6, 120)
Ausgangspunkt ist die darwinistische (nicht: Darwinische) Formel des struggle for life, deren Bekanntschaft Nietzsche bei seinen Lesern ebenso selbstverstndlich voraussetzt wie die in Darwins The Origin of Species explizierte Bedeutung einer Konkurrenz um knappe Nahrungsmittelressourcen, aus der die an ihre Umgebung am besten angepassten Individuen siegreich, d. h. berlebend hervorgehen sollen. Nietzsches erster, wissenschaftsmethodisch nicht zu beanstandender Einwand dagegen lautet, es handle sich dabei um eine Behauptung, die bislang noch nicht bewiesen sei. Der Einwand besagt zunchst nur, dass fr jede Tatsachenbehauptung
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auch Beweise beigebracht werden mssen, und dass wir es bei Darwins struggle for life nicht mit einer Tatsache, sondern mit einer Hypothese zu tun haben. Der nchste Schritt impliziert freilich ein umfassendes Wissen ber die Natur als solche: Der Schreibende formuliert keine Gegenhypothese, sondern verfgt ber die Gewissheit, dass der fragliche Kampf nur als Ausnahme vorkomme und dass das Leben an sich nicht durch Mangel, sondern durch berflle charakterisiert sei, so dass es keinen Grund gebe, um Nahrungsmittel zu konkurrieren. Vielmehr kmpfe man um Macht – womit Nietzsche eine zentrale Kategorie, die er seinem Wirklichkeitsverstndnis zugrundelegt, in die Diskussion bringt. Fr dieses Wirklichkeitsverstndnis und dafr, wie die Natur an sich ist, bedarf es anscheinend keiner Belege, geschweige denn der Beweise – ein Vorgehen, das alle Leser irritieren wird, die eingangs noch gerne bereit waren, der Forderung zu folgen, Darwin und seine Anhnger mssten sich fr ihr Wirklichkeitsverstndnis rechtfertigen. Das billige Ansinnen, auch das sprechende Ich werde sein alternatives Wirklichkeitsverstndnis rechtfertigen, wird stillschweigend bergangen. Freilich ist es keineswegs so, dass Nietzsche hier seine Kritik ganz einfach auf seine divinatorische Privateinsicht in das Wesen der Natur grndet. Vielmehr verlsst er sich, ohne das explizit zu machen, auf die naturwissenschaftlich abgesicherten Einwnde, die William Henry Rolph (1847 – 1883) in seinen von Nietzsche intensiv durchgearbeiteten Biologischen Problemen gegen Darwin vorgebracht hat.3 Bei Rolph hatte sich Nietzsche etwa die folgende Stelle markiert und am Schluss am Rand mit der Notiz: „mehr Leben“ annotiert: Dann aber spielt sich freilich der Daseinskampf nicht mehr um s Dasein ab, er ist kein Kampf um Selbsterhaltung, kein Kampf um die „Erwerbung der unentbehrlichsten Lebensbedrfnisse“, sondern ein Kampf um Mehrerwerb. Dann ist er auch nicht bedingt durch die Existenz von Umstnden, die das Leben des Geschçpfes beeintrchtigen, sondern er ist constant, er ist ewig; er kann nie erlçschen, denn eine Anpassung an die Unersttlichkeit giebt es nicht, selbst nicht bei usserster Abundanz. Dann ist ferner der Daseinskampf kein Vertheidigungskampf, sondern ein Angriffskrieg, der nur unter 3
William Henry Rolph, Biologische Probleme zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik, Leipzig 1884. Der Band ist unter Nietzsches Bchern in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar mit vielen Lesespuren erhalten. Schon Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modestrçmungen unserer Zeit, Tbingen 1920, S. 96 f. macht Rolph als Quelle fr GD, KSA 6, 120 f. namhaft, vgl. auch die genauen Nachweise bei Greg Moore, Beitrge zur Quellenforschung, in: Nietzsche-Studien 27 (1998), S. 535 – 551, hier S. 537 – 540.
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gewissen Umstnden zu einem Vertheidigungskampfe umgewandelt werden kann. Wachsthum aber und Vermehrung und Vervollkommung sind die Folgen jenes erfolgreichen Angriffskrieges, in keiner Weise aber der Zweck desselben oder gar keiner in der Natur liegenden Tendenz. Whrend es also fr den Darwinisten berall da keinen Daseinskampf giebt, wo die Existenz des Geschçpfes nicht bedroht ist, ist fr mich der Lebenskampf ein allgegenwrtiger: Er ist eben primr ein Lebenskampf, ein Kampf um Lebensmehrung, aber kein Kampf um s Leben!4
Nietzsche adaptiert Rolphs Vorlage,5 indem er zum einen seinen eigenen Begriff von Macht und Machtsteigerung in ihn eintrgt und zum anderen das ausblendet, was Rolph eigentlich interessiert, nmlich die Frage der „Vervollkommnung“, die Rolph in eine ethische Maxime ummnzt: „Unsere Lebensvorschrift an alle uns Nahestehende ist: V o r w r t s ! S t r e b e D i c h z u v e r b e s s e r n !“6 Gerade die Vervollkommnung der Gattung als nicht intendiertes Produkt der Entwicklung weist Nietzsche im folgenden ab, indem er ausfhrt, dass in den Fllen, wo der Kampf ums Leben stattfinde, keineswegs die vollkommeneren, strkeren Individuen, sondern vielmehr die Schwcheren triumphieren wrden. Immer danach trachtend, nicht verwechselt zu werden, wendet sich Nietzsche also nicht allein gegen Darwin, sondern – nur fr die Eingeweihten entzifferbar – auch gegen seinen eigenen antidarwinistischen Gewhrsmann Rolph, um so noch in der Adaption von fremdem Gedankengut seine intellektuelle Souvernitt zu beweisen. Angemerkt sei noch, dass Nietzsche auch Rolphs berlegungen zum Altruismus nicht ohne Widerwort lsst. Wo Rolph schreibt: „Das Fortpflanzungsgeschft ist also 4
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William Henry Rolph, Biologische Probleme zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik, Leipzig 1884, S. 97. Die von Nietzsche unterstrichenen Stellen sind kursiviert, seine Durchstreichung durchgestrichen dargestellt. Der ganze Passus ist mit Randstrichen und einem NB markiert. Auch da, wo er behauptet: „Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln.“ (GD, KSA 6, 120) Die Vorlage ist William Henry Rolph, Biologische Probleme zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik, Leipzig 1884, S. 86: Darwin „hat sich offenbar durch das M a l t h u s sche Gesetz etwas zu sehr bestechen lassen; und die Anwendung dieses Gesetzes bedeutet Mangel und immer wieder Mangel.“ Thomas Robert Malthus (1766 – 1834) hat bekanntlich die These zum Gesetz erklrt, ein geometrisches Wachstum der Bevçlkerung stehe einem nur arithmetischen Wachstum der Nahrungsressourcen gegenber, was notwendigerweise zu Hunger und Elend fhren msse. Rolph und Nietzsche gehen hingegen vom berfluss der Ressourcen aus. William Henry Rolph, Biologische Probleme zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik, Leipzig 1884, S. 120.
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gar kein altruistischer Process“, notiert Nietzsche am Blattrand: „so wenig als das Pissen“.7 Interessant ist, dass Nietzsche nach der Exposition seines AbundanzNaturbegriffs nicht bei dessen weiterer Erluterung bleibt, sondern auf den Ausnahmefall des Kampfes ums Leben eingeht, der tatschlich vorkomme, aber umgekehrt als es sich „die Schule Darwin s“ wnsche: Die „Starken“, die „Bevorrechtigten“, die „glcklichen Ausnahmen“ seien nicht etwa die Nutzniesser, sondern die Leidtragenden dieses Kampfes. Und dann wird wie erwhnt implizit gegen Rolph behauptet, die Gattungen wchsen nicht in der Vollkommenheit, weil eben die Schwachen stets ber die Starken Herr wrden. Dafr nennt Nietzsche zwei Grnde, nmlich deren grosse Zahl und deren grçssere Klugheit. Halten wir kurz inne, bevor wir uns dem zweiten Teil des Abschnitts mit seinen Erçrterungen ber den Geistbegriff widmen: Nietzsche lehnt zunchst aus dem Interesse an theoretischer Selbstidentitt heraus die Darwinische Naturauffassung ab und postuliert einen Machtkampf bei Ressourcenberflle anstelle eines Lebenskampfes bei Ressourcenknappheit. Dann aber wird zugestanden, der „Kampf ums Leben“ komme vor, jedoch mit einem anderen Resultat als die Darwinisten annhmen, nmlich auf Kosten der Starken und auf Kosten der Gattungsvervollkommnung. Dazu ist zunnchst zu sagen, dass in der Darwinischen Konzeption auch nicht behauptet wurde, dass die Strksten berlebten, sondern – mit dem Begriff von Herbert Spencer, den Darwin dann in die fnfte Auflage von The Origin of Species (1869) bernehmen sollte – den survival of the fittest, das berleben der am besten Angepassten. Und das sind mit Sicherheit die von Nietzsche als „Schwache“ Gekennzeichneten. Es liegt also nur ein scheinbarer, ein rhetorischer inszenierter Gegensatz zur „Schule Darwin s“ vor. Sodann ist es zumindest nicht unproblematisch, in Darwin selbst eine moralisch-geschichtsteleologische Vervollkommnungsidee hineinzulesen, wo Darwin doch eher von optimaler Anpassung an die jeweiligen Umweltgegebenheiten spricht, die allenfalls situative Vervollkommnungen darstellen.8 Freilich ist der geschichtsphilosophische Fortschrittsglaube mit
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William Henry Rolph, Biologische Probleme zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik, Leipzig 1884, S. 185. Kursiviertes von Nietzsche unterstrichen. Vgl. auch Marie-Luise Haase, Nietzsche und …, in: Nietzscheforschung 10 (2003), S. 17 – 34, hier S. 25. Siehe dazu Werner Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 264 – 287, hier S. 281, sowie aus-
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der Evolutionstheorie bei vielen Darwinisten des spteren 19. Jahrhunderts ein Bndnis eingegangen,9 so dass die „Schule Darwin s“ Nietzsches Vorwurf einer einschlgigen Wahrnehmungstrbung also durchaus trifft. Interessant ist freilich, dass Nietzsche im fraglichen Abschnitt zwar keine Gegenthese zur Nicht-Vervollkommnung formuliert, aber doch nahelegt, man habe die Evolution als eine Verfallsgeschichte zu verstehen, weil sich eben am Ende die „Schwachen“ durchsetzen sollen. Deren Herrschaft zu beklagen wird Nietzsche im Sptwerk nicht mde. Der vermeintlich darwinistischen Evolutionsteleologie wird hier also kein nchterner Evolutionsteleologieverzicht entgegengehalten, bei dem man sich sogar auf den ,eigentlichen Darwin berufen kçnnte, sondern eine Kritik an bestimmten natrlichen Gegebenheiten insinuiert – nmlich eine Kritik daran, dass die Starken la longue den Schwachen unterlegen sind, also eine Teleologie des Niedergangs, der dcadence. Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14 kndigt dem Glauben an den Gattungsperfektibilismus ebenso das Vertrauen auf wie der Hoffnung, der grosse Einzelne werde ber die Masse Herr. In Gçtzen-Dmmerung Streifzge eines Unzeitgemssen 44 (GD, KSA 6, 145 – 146) und 48 (GD, KSA 6, 150 f.) scheint Nietzsche hingegen zu dieser Hoffnung zurckzufinden, so dass sich zwischen diesen Abschnitten und dem Anti-Darwin-Abschnitt eine starke Spannung aufbaut. Daraus folgen bei der Interpretation von „A n t i - D a r w i n“ erhebliche Probleme: Falls es sich beim „Kampf um s Leben“ tatschlich um eine biologische Gegebenheit handeln sollte – wenn auch nur um eine „Ausnahme“ – , dann wird hier implizit ein moralisierender Vorbehalt gegen das Funktionieren der Natur selbst geltend gemacht: Die Natur selbst scheint Nietzsches eigenen Wertprferenzen, die auf einen Triumph der Starken setzen, zu widersprechen. Diese Opposition gegen die Natur entspricht strukturell exakt jener Opposition gegen die Natur, die Nietz-
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fhrlich das Kapitel „Darwin and Teleology“, in: Georg J. Stack, Lange and Nietzsche, Berlin/New York 1983, S. 156 – 194. So heißt es etwa bei Ernst Haeckel, Natrliche Schçpfungsgeschichte. Gemeinverstndliche wissenschaftliche Vortrge ber die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, Berlin 1874, S. 249: „Im Großen und Ganzen beruht der Fortschritt selbst auf der Differenzirung und ist daher gleich dieser eine unmittelbare Folge der natrlichen Zchtung durch den Kampf um s Dasein.“ Zur deutschen Darwinismus-Rezeptionsgeschichte im allgemeinen siehe Alfred Kelly, The Descent of Darwin. The Popularization of Darwinism in Germany, 1860 – 1914, Chapel Hill 1981 (darin spielt Nietzsche nur eine marginale Rolle) sowie Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter Jaeschke (Hrsg.), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert, Bd. 2: Der Darwinismus-Streit, Hamburg 2007.
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sche im Sptwerk beim Christentum diagnostiziert, das die Natur verleugnen wolle. Ist das eine ironische Koketterie? Sodann fragt man sich, wie es denn um den Kampf um Macht bestellt sei, der in der Natur statt des „Kampfes um s Leben“ doch den eigentlichen Normalfall darstelle. Geht es bei den „Schwachen“ und den „Starken“ wirklich um den Ausnahmefall des Lebenskampfes oder doch um den Normalfall des Machtkampfes? Der Bezug bei der Wendung „Gesetzt aber, es giebt diesen Kampf – und in der That, er kommt vor –“ (GD, KSA 6, 120) wird offenbar absichtlich verunklart, so dass manche Interpreten die beiden Kampfformen – im Anschluss an Frçhliche Wissenschaft (FW, KSA 3, 585 f.) – beim spten Nietzsche schlicht identifiziert gefunden haben.10 Bei genauerem Hinsehen lebt „A n t i - D a r w i n“ gerade von solchen systematischen Verunklarungen, die den Autor trotz seines Willens, nicht verwechselt zu werden, nicht auf eine ganz deutlich bestimmte Position festzulegen erlauben. Es ist nicht klar, worum im zweiten Teil des Abschnittes gekmpft wird – ob um knappe Subsistenzressourcen oder um Macht. Verkompliziert wird die Angelegenheit schliesslich noch durch die bewusste Aussparung von Hinweise darauf, ber welche Art von Lebewesen eigentlich gesprochen wird. Sind hier Hominiden gemeint, redet Nietzsche also ber eine menschheitsgeschichtliche Entwicklung in der Terminologie der biologischen Evolution, um sich in die zeitgençssische sozialdarwinistische Debatte einzuschreiben, nicht ohne sie zu modifizieren? Oder kommt diese Form des Kampfes einschliesslich Triumph der Schwachen auch bei beliebigen anderen Lebewesen – bei Tannenbumen, Einzellern, Schabrackentapiren und Papageien vor? Die Pointe des Abschnittes ist, dass Nietzsche „Geist“ nicht etwa den „Starken“ zuordnet, die von einer tumben Masse majorisiert werden, sondern Klugheit, „Geist“ explizit den Schwachen vorbehlt (GD, KSA 6, 121). Darin folgt er seinen berlegungen in der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral, wo es heißt: „Die menschliche Geschichte wre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmchtigen her in sie gekommen ist.“ (GM, KSA 5, 267) In Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14 gilt der Geist als ein Mittel, mit dem die Schwachen sich gegen die Starken durchsetzen – „[m]an muss Geist nçthig haben, um Geist zu bekommen“ (GD, KSA 6, 121). „Geist“ wird – obwohl Darwin vorgeworfen wird, er habe ihn vergessen – ganz im Schema der Evolutionstheorie erklrt, 10 So Werner Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 284.
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nmlich als dasjenige, wodurch die physisch Unterlegenen sich an ihre zunchst von den physisch berlegenen, den „Starken“ bestimmten Umweltbedingungen optimal anpassen und damit schließlich obsiegen. Auch hier unterlsst Nietzsche es nicht, das Ganze in naturwissenschaftliche Terminologie zu kleiden: „Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehçrt ein grosser Theil der sogenannten Tugend).“ (KSA 6, GD, 121) Geist als das Kampfmittel der „Schwachen“ ist evolutionr offensichtlich hochgradig erfolgreich und gerade mit dem Begriff der „grossen Selbstbeherrschung“ nicht (wie vielleicht zu erwarten wre) durchweg negativ belegt. Die berlegung zur evolutionren Unerlsslichkeit des Geistes akzeptiert fr die humane Entwicklung, um die es hier offensichtlich geht (ohne dass dies ausdrcklich gesagt wrde), die eben noch (GD, KSA 6, 120) als allgemeine naturphilosophische These verworfene Malthusische Grundvoraussetzung der Darwinischen Evolutionstheorie: Die Voraussetzung fr die Entwicklung des Geistes als Mittel der Selbstermchtigung der Schwachen ist der Mangel – der Mangel an Macht zwar diesmal, aber was bedeutet dieser Machtmangel anderes als Mangel an Ressourcenkontrolle? Die innere Spannung in Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14 zeigt, wie stark experimentell und begrifflich wenig sedimentiert Nietzsches berlegungen zu Evolution und Geist sind. Seine Explikation von „Geist“ ist wohl vor allem als Provokation des idealistischen Geistbegriffes gedacht und entsprechend physiologisch-evolutionr geerdet.11 11 Der Begriff Mimikry kommt bei Nietzsche erstmals in Morgenrçthe (M, KSA 3, 36) vor, und zwar ebenfalls schon in Relation gesetzt zu menschlichem Verhalten, zu menschlicher Moral, nmlich als Verstellung und Verhehlung der eigentlichen Absichten. Die biologischen Informationen, die Morgenrçthe (M, KSA 3, 36) gibt, sind direkte, teilweise wçrtliche Adaptionen aus Karl Semper, Die natrlichen Existenzbedingungen der Thiere, Leipzig 1880, Theil 1, S. 111 f. und 264 sowie Theil 2, S. 232 – 234 und 251 – 253. Die exakte bertragung auf das menschliche Verhalten ist hingegen Nietzsches Innovation. In Morgenrçthe werden die „Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden“ (M, KSA 3, 36) auf tierische Mimikry zurckgefhrt; am Ende wird „das ganze moralische Phnomen als thierhaft“ (M, KSA 3, 37) bezeichnet. Genealogie der Moral II (GM, KSA 5, 329) engt Mimikry auf das Verhalten der Schwachen, „Sklaven- und Hçrigen-Bevçlkerungen“ ein, was sich schon in Nachlass 1882 – 1884 (NF, KSA 10, 493 und NF, KSA 11, 111) abgezeichnet hatte. Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14 knpft hingegen wieder an den umfassenderen, durchaus nicht abwertenden Sinn in Morgenrçthe an.
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Betrachtet man Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14 isoliert, so ist die Strke der „Starken“ rein physisch. Nietzsches wiederholte Versuche in den Schriften der Achtziger Jahre, den „Starken“ wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, ließe sich dann als ein geistfeindliches Pldoyer fr die Reinstallation der Herrschaft tumber Kraftprotze lesen. Das große Individuum, von dem Nietzsche zu schwrmen pflegt, wre dann also der hnenhafte, geistig minderbemittelte Barbar, der seine Konflikte mit Faust und Keule auszutragen gewohnt ist. Aber das ist nicht das Ende des Liedes. Schon Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14 enthlt einen bislang ausgesparten Passus, der eine solche Einengung verbietet: „Wer die Strke hat, entschlgt sich des Geistes ( – ,lass fahren dahin! denkt man heute in Deutschland – das Reich muss uns doch bleiben …).“ (GD, KSA 6, 121) Dieses Zitat aus der vierten Strophe von Martin Luthers berhmtem, an Psalm 46 angelehntem Kirchenlied Eine feste Burg ist unser Gott (1529) bezieht sich zurck auf das Kapitel Gçtzen-Dmmerung Was den Deutschen abgeht (GD, KSA 6, 103 – 110) und kann als Beleg dafr gelesen werden, dass Nietzsche sich keineswegs schlankweg auf Seiten der „Starken“ schlgt, hatte er dort die Deutschen doch gerade wegen ihrer Geistferne schroff kritisiert: Die Regression der Deutschen in Geistverachtung ist gerade nicht wnschbar – ganz abgesehen davon, dass „Geist“ die Voraussetzung und das Mittel des ganzen gçtzendmmerischen Unternehmens ist. Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14 sprengt mit dieser ironischen Volte selbst bereits die darin scheinbar artikulierte Prferenz fr geistlose Kraftprotze. Auf der Suche nach dem großen Individuum unter der Prambel des Darwinismus wird man sich im Sptwerk weiter umsehen mssen.
2.
„Anti-Darwin“ im Nachlass von 1888
Zunchst ist auf zwei Nachlassaufzeichnungen vom Frhjahr 1888 hinzuweisen, die beide ebenfalls den Titel „A n t i - D a r w i n“ tragen. Die erste dieser Aufzeichnungen (NF, KSA 13, 303 – 305) stellt zunchst heraus, dass die in GD Streifzge 14 gegen Darwin und seine Anhnger gemachte Feststellung, nicht die Strksten, sondern die „mittleren, selbst […] u n t e r m i t t l e r e n Typen“ (NF, KSA 13, 303) setzten sich durch, explizit auf die Menschen bezogen sei. Daraus wird eine allgemeine naturphilosophische Schlussfolgerung gezogen: „Gesetzt, daß man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Creaturen ist, neige ich zum Vorurtheil, daß die Schule Darwins sich berall
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getuscht hat.“ (NF, KSA 13, 303) Direkt folgen moralisch-immoralistische Konsequenzen: Mein Gesammtaspekt der Welt der Werthe zeigt, daß in den obersten Werthen, die ber der Menschheit heute aufgehngt sind, n i c h t die Glcksflle, die Selektions-Typen, die Oberhand : vielmehr die Typen der dcadence – vielleicht giebt es nichts Interessanteres in der Welt als dies u n e r w n s c h t e Schauspiel… So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu bewaffnen gegen die Schwachen; die Glcklichen gegen die Mißglckten; die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich-Belasteten. Will man die Realitt zur M o r a l formuliren: so lautet diese Moral: die Mittleren sind mehr werth als die Ausnahmen, die Decadenz-Gebilde mehr als die Mittleren, der Wille zum Nichts hat die Oberhand ber den Willen zum Leben – und das Gesammtziel ist nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrckt: besser n i c h t sein als sein. Gegen die Formulirung der Realitt zur Moral e m p ç r e ich mich: deshalb perhorrescire ich das Christenthum mit einem tçdtlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebrden schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts der Tugend, der Gçttlichkeit zu geben… (NF, KSA 13, 303 f.)
Nietzsche trgt die berlegungen zum Darwinismus hier explizit in seine dcadence-Analysen ein und bezichtigt die herrschende, christlich kontaminierte Moral eines naturalistischen Fehlschlusses, nmlich aus dem Funktionieren von Selektion unter Menschen, aus einem Faktum etwas Normatives abzuleiten, aus einem Sein ein Sollen. Es ist freilich auffllig, dass Nietzsche diese berlegungen in keinem seiner spten Werke explizit anstellt, denn das wiederum htte unweigerlich Einwnde gegen die normativen Grundlagen seines eigenen Sprechens provoziert: Aus der Opposition gegen die Natur eine normative Grundlage abzuleiten htte ihn selbst in den Geruch idealistischer Metaphysik gebracht, die abzulehnen er sonst nicht mde wird. Die Kontamination von dcadence-Analyse und Darwinismus-Kritik bleibt so in den „Streifzgen eines Unzeitgemssen“ subkutan. Whrend Gçtzen-Dmmerung Streifzge eines Unzeitgemssen 14 sich nach dem ersten Eindruck auf eine vermeintlich naturwissenschaftliche Beschreibung eines Sachverhalts beschrnkt, wird freilich in spteren Abschnitten, insbesondere Gçtzen-Dmmerung Streifzge eines Unzeitgemssen 33 – 36 (GD, KSA 6, 131 – 136), der Eindruck erweckt, man habe sich der physisch Schwachen zu entledigen. Die Frage ist freilich, ob die Schwachen von Gçtzen-Dmmerung Streifzge eines Unzeitgemssen 14 tatschlich mit den dcadents und Lebensverneinern dieser spteren Abschnitte identisch sind, wie es Nachlaß 1888 (NF, KSA 13, 303 f.) nahe legt. Was wre aus einem wissenschaftlichen Sachverhalt oder einer bes-
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seren, antidarwinischen Theorie der Evolution zu gewinnen? Doch offenbar gerade nicht der Ratschlag, sich auf Seiten der „Starken“ zu schlagen (worin immer ihre Strke bestehen mag, sind sie doch gerade nicht strker als die „Schwachen“, die sie besiegen), wenn es doch dem natrlichen Verlauf der Dinge entspricht, dass die Schwachen obsiegen. Dass sie dcadents seien, ist vorerst nur ein unbewiesenes Werturteil, sind sie doch augenscheinlich den evolutionren Erfordernissen, ihren Umweltbedingungen besser angepasst als die Starken. Das zweite „A n t i - D a r w i n“-Notat, nmlich Nachlaß 1888 (NF, KSA 13, 315 – 317) ergnzt das Argument, die Darwinisten imaginierten flschlich eine Vervollkommnung der Gattung noch mit einer Breitseite gegen die „D o m e s t i k a t i o n d e s M e n s c h e n“ (NF, KSA 13, 315) – ein Thema, das Nietzsche beispielsweise in Gçtzen-Dmmerung die „Verbesserer“ der Menschheit (GD, KSA 6, 98 – 102) religionsgeschichtlich exemplifiziert. Die Nachlass-Aufzeichnung hebt hervor, dass es zwischen den Starken und den Schwachen „keine b e r g a n g s f o r m e n“ gebe (NF, KSA 13, 316), dass mithin keine Vervollkommnung vom einen „Typus“ zum anderen stattfinde: „Man behauptet die wachsende Entwicklung der Wesen. Es fehlt jedes Fundament. Jeder Typus hat seine G r e n z e: ber diese hinaus giebt es keine Entwicklung.“ (NF, KSA 13, 316) Mit dieser Behauptung freilich hat Nietzsche die Grundvoraussetzung des Darwinismus kassiert, nmlich die Evolution verschiedener Lebensformen aus einander. Daraus msste in letzter Konsequenz die Leugnung des Werdens selbst folgen – eine Konsequenz, die Nietzsche in den von ihm verçffentlichten oder zur Verçffentlichung prparierten Werke scheut. Es gehçrt vielmehr zu seinen Hauptvorwrfen an die Adresse der bisherigen Philosophen, das Werden zugunsten eines imaginren Seins geleugnet zu haben (vgl. Gçtzen-Dmmerung Die „Vernunft“ in der Philosophie 1 – 2, GD, KSA 6, 74 f.). In den „C o n s e q u e n z e n“, die Nietzsche in Nachlaß 1888 explizit zieht, gehçrt es denn auch nicht, das Werden zu leugnen, sondern nur die Hçherentwicklung. So macht er mit der Antiteleologie ernst, die bei Darwin eigentlich angelegt war: […] der Mensch als Gattung stellt keinen Fortschritt im Vergleich zu irgend einem anderen Thier dar. Die gesammte Thier- und Pflanzenwelt entwickelt sich nicht vom Niederen zum Hçheren… Sondern Alles zugleich, und bereinander und durcheinander und gegeneinander. (NF, KSA 13, 316 f.)
Entscheidend ist nun auch, dass der „hçhere Typus“ nunmehr keineswegs mit dem physisch Starken, dem geistlosen Kraftprotz identifiziert wird:
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Die reichsten und complexesten Formen – denn mehr besagt das Wort „hçherer Typus“ nicht – gehen leichter zu Grunde: nur die niedrigsten halten eine scheinbare Unvergnglichkeit fest. Erstere werden selten erreicht und halten sich mit Noth oben: letztere haben eine comprimittirende Fruchtbarkeit fr sich. – Auch in der Menschheit gehen unter wechselnder Gunst und Ungunst die hçheren Typen, die Glcksflle der Entwicklung, am leichtesten zu Grunde. Sie sind jeder Art von dcadence ausgesetzt: sie sind extrem, und damit selbst beinahe schon dcadents… Die kurze Dauer der Schçnheit, des Genies, des Caesar, ist sui generis: dergleichen vererbt sich nicht. Der T y p u s vererbt sich; ein Typus ist nichts Extremes, kein „Glcksfall“… Das liegt an keinem besonderen Verhngniß und „bçsen Willen“ der Natur, sondern einfach am Begriff „hçherer Typus“: der hçhere Typus stellt eine unvergleichlich grçßere Complexitt, – eine grçßere Summe coordinirter Elemente dar: damit wird auch die Disgregation unvergleichlich wahrscheinlicher. Das „Genie“ ist die sublimste Maschine, die es giebt, – folglich die zerbrechlichste. (NF, KSA 13, 317)
Komplexittsreichtum und Vielfalt sind jetzt statt Muskelkraft das Kriterium zur Unterscheidung des Mittelmaßes vom großen Individuum. Nicht lnger die Schwachen gelten als dekadenzbedroht, vielmehr die großen Individuen selbst. Sie hçren auf den altbackenen Namen „Genies“ – und haben offensichtlich von Seiten der Mittelmßigen nurmehr wenig zu befrchten.
3.
Darwin-Motive im Antichrist
Eine letzte Verarbeitungstufe der darwinischen-antidarwinischen berlegungen findet sich im Antichrist, der „Umwerthung aller Werthe“. Da werden insbesondere die Differenzierungen aus Nachlaß 1888 (NF, KSA 13, 315 ff.) aufgegriffen. Wie selbstverstndlich wird in Antichrist 5 Geistigkeit mit Strke assoziiert – eine Verbindung, die Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14 gerade noch auszuschließen schien. Aber Gefhrdung droht dem berkomplexen, starken Individuum nun nicht so sehr aus seiner eigenen berkomplexitt, sondern von außen: Das Christenthum hat die Partei alles Schwachen, Niedrigen, Missrathnen genommen, es hat ein Ideal aus dem W i d e r s p r u c h gegen die Erhaltungs-Instinkte des starken Lebens gemacht; es hat die Vernunft selbst der geistig-strksten Naturen verdorben, indem es die obersten Werthe der Geistigkeit als sndhaft, als irrefhrend, als V e r s u c h u n g e n empfinden lehrte. (AC, KSA 6, 171)
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In Nachlaß 1888 (NF, KSA 13, 315 ff.) und in Antichrist 3 bis 5 nimmt Nietzsche anstelle von Rolph einen anderen Kritiker des Darwinismus auf – natrlich wieder, ohne ihn zu nennen – nmlich Carl von Ngeli (1817 – 1891) mit seiner Mechanisch-physiologischen Theorie der Abstammungslehre (1884). Dort markiert sich Nietzsche etwa den folgenden Passus: nach D a r w i n ist die Vernderung das treibende Moment, die Selection das richtende und ordnende; nach meiner Ansicht ist die Vernderung zugleich das treibende und richtende Moment. Nach D a r w i n ist die Selection nothwendig; ohne sie kçnnte eine Vervollkommnung nicht stattfinden und wrden die Sippen in dem nmlichen Zustande beharren, in welchem sie sich einmal befinden. Nach meiner Ansicht beseitigt die Concurrenz bloss das weniger Existenzfhige; aber sie ist gnzlich ohne Einfluss auf das Zustandekommen alles Vollkommneren und besser Angepassten. 12
In Antichrist 14 (AC, KSA 6, 180) wird dem Menschen das Privileg aberkannt, „Krone der Schçpfung“ zu sein: „jedes Wesen ist, neben ihm, auf einer gleichen Stufe der Vollkommenheit“. Auch das erinnert stark an Ngeli: Es „entspricht der Grad der Vollkommenheit, zu dem sich jedes Sinneswerkzeug [beim Menschen] ausgebildet hat, genau dem Bedrfnisse, und es giebt keines, in welchem der menschliche Organismus nicht von irgend einer Thierspecies sich weit bertroffen she“.13 „Nicht, was die Menschheit ablçsen soll in der Reihenfolge der Wesen, ist das Problem.“ (AC, KSA 6, 170) Um etwaigen Missverstndnissen vorzubeugen, zu denen namentlich der „bermensch“ in Also sprach Zarathustra Anlass gegeben hatte, wird klargestellt, die Evolution des Menschen zu einer neuen Gattung sei nicht intendiert. Eine Vorarbeit zu Antichrist 3 ist noch expliziter: „Was fr ein Typus die Menschheit einmal ablçsen wird? Aber das ist blosse Darwinisten-Ideologie. Als ob je Gattung abgelçst wurde! Was mich angeht, das ist das Problem der Rangordnung innerhalb der Gattung Mensch.“ (NF, KSA 13, 481) Obwohl der „Geist“ durchaus prsent bleibt, leitet Nietzsche den Menschen nicht mehr vom „Geist“, von der „Gottheit“ ab, wir haben ihn unter die Thiere zurckgestellt. Er gilt uns als das strkste Thier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns anderseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden mçchte: wie als ob der 12 Carl von Ngeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, Mnchen/Leipzig 1884, S. 285. Nietzsche hat den zweiten Satz am Rand markiert; Kursivierungen entsprechen seinen Unterstreichungen. 13 Carl von Ngeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre, Mnchen/Leipzig 1884, S. 567.
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Mensch die grosse Hinterabsicht der thierischen Entwicklung gewesen sei. (NF, KSA 6, 180)
4. Resum Zwei Darwinismus-Kritiker und -Modifikatoren, die sich nicht ohne weiteres unter einen Hut bringen lassen, Rolph und Ngeli, spielen bei Nietzsches spter Auseinandersetzung mit dem Darwinismus eine bestimmende Rolle. Nietzsche adaptiert deren Anstze. Zum einen kritisiert er im Antichrist nach Ngeli die darwinistische Vervollkommnungsrhetorik und will den „hçherwerthigeren“ „Typus“ (AC, KSA 6, 170) nicht als bloßes, womçglich notwendiges Produkt einer menschheitsgeschichtlichen Entwicklung verstanden wissen. Stattdessen postuliert er jetzt, man msse einen solchen Typus „z c h t e n“ – wobei die Frage, wie eine diese Zchtung konkret beschaffen sein soll, unterbelichtet bleibt. Bei diesem großen Individuum handelt es sich ersichtlich nicht mehr um den tumben „Starken“ aus Gçtzen-Dmmerung Streifzge 14, sondern um eine berkomplexe Persçnlichkeit, deren Grçße gerade in der Fhigkeit besteht, die Komplexitt zu synthetisieren, zu einer nicht-dekadenten Einheit zu bringen. Zum anderen grndet die Darwinismus-Kritik in der Gçtzen-Dmmerung wesentlich auf Rolph und wendet sich dort gegen die Identifikation von Natur mit Mangel – stattdessen sei Natur als Abundanz zu begreifen. Hier passt Nietzsche wiederum seine dominanten Macht- oder Wille-zurMacht-Gedanken dem vorgegebenen Schema an und betreibt zugleich eine starke Relativierung des philosophischerseits gemeinhin so hoch gehngten Geist-Begriffs. Diese Relativierung kehrt mit weiteren Spezifikationen in Antichrist 14 wieder. Dennoch lsst sich Nietzsche nicht einfach auf einen dogmatischen Materialismus festlegen – schon in GçtzenDmmerung Streifzge 14 beharrt er darauf, dass man den Geist in die Betrachtung dessen, was Evolution ausmacht, miteinbeziehen msse. Freilich ist es ein metaphysisch ausgenchterter Geist. Wesentlich zum Verstndnis von Nietzsches Verfahren ist die Einsicht in seinen Gestus der berbietung: Er bernimmt nicht einfach Rolphs oder Ngelis Reflexionen, sondern reichert sie mit eigenen berlegungen an, die mitunter in eine zu den Quellen ganz kontrre Richtung laufen. Dabei bleiben interne Spannungen bestehen. So oszilliert Nietzsches Begriff des Starken und des großen Individuums zwischen geistlosem Kraftprotz und berkomplexem Genie. Diese Spannungen abzubauen,
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zeigt Nietzsche wenig Interesse – und ist es wohl auch nicht die Aufgabe seiner Interpreten, sie nachtrglich zu gltten. Nietzsches spter Umgang mit dem Darwinismus-Komplex ist ein Schulbeispiel fr seinen produktiven, oft ruberischen Umgang mit seinen Vorlagen. Immerhin ist festzuhalten, dass Darwin und der Darwinismus in seinen diversen rezeptionsgeschichtlichen Brechungen fr Nietzsche eine anhaltende Inspirationsquelle darstellten. Dabei ist die Frage, ob er nun als Darwinist oder als Anti-Darwinist gelten soll, letztlich irrelevant – wrde sie doch einerseits voraussetzen, dass Nietzsche sich definitiv auf eine Position festgelegt htte, und andererseits, dass man eine genaue Definition davon htte, welche Form von Entwicklungsdenken als „darwinistisch“ gelten darf und welche nicht. Beide Voraussetzungen sind jedoch nicht erfllt. Nietzsches anhaltende Auseinandersetzung mit Darwinschen Themen und Thesen rhrt daher, dass Darwin sowohl zu einem radikal historischen Denken anhlt – alles, was ist, ist geworden – , als auch zu einer radikalen Naturalisierung scheinbarer bernatrlichkeiten. Der Geist, um noch einmal das Beispiel zu nehmen, ist – so viel Darwinismus herrscht auch bei Nietzsche – einerseits ein natrliches Phnomen, andererseits ein historisches Phnomen. Gleiches gilt fr den Menschen, egal, ob im Mittelmaß oder in einsamer Grçße. Diese Grçße wiederum will Nietzsche fr sich selbst in Anspruch nehmen, und zwar nicht, wie wir wissen, als geistloser Muskelprotz, sondern als berkomplexes, nicht auf einen Nenner reduzierbares Genie. Die Anerkennung seiner Grçße will er erreichen durch Unterscheidung, durch Nicht-Identifikation mit dem schon Gesagten und schon Gedachten. Der große Mensch ist groß, weil er anders ist als alle anderen, weil er nicht in der Gattung, im Einerlei aufgeht. In der Einebnung der individuellen Differenz, im Aufgehen des Individuums im Gattungseinerlei besteht denn auch eine, wenn nicht die wesentliche Provokation des Darwinismus fr Nietzsche. Er will vor allem nicht verwechselt werden. Und dazu sind alle Mittel recht.
Vom Embryo zum bermenschen? Zur Bedeutung entwicklungsbiologischer Denkmodelle fr Nietzsches Begriff der individuellen Grçße
Sçren Reuter Seine berzeugung, dass die Menschheit keine „anderen“ Ziele habe als „grosse Menschen und grosse Werke“ (NF, KSA 8, 481) hervorzubringen, vertritt Nietzsche bereits in der Geburt der Tragçdie, wo er behauptet, dass sich Welt und Dasein nur als sthetisches Phnomen rechtfertigen lassen. Bezeichnend fr seine Auffassung ist, dass die Definition der Grçße an das Wesen des Lebens rckgekoppelt wird. In der Tragçdienschrift ist es das Ur-Eine – in Gestalt des Knstlergottes – das leidet, aber aus einem bermaß heraus die Welt erzeugt und in ihren hçchsten Exemplaren rechtfertigt. In den spteren Jahren ist es die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, insbesondere mit der Biologie, die der Selbstvergewisserung des eigenen Standpunktes dient.1 Zur Verdeutlichung der Konsequenzen, die Nietzsche daraus zieht, whle ich ein Fragment aus den Vorbereitungen zum „Willen zur Macht“ aus dem Zeitraum Ende 1886 bis Frhjahr 1887. Im Hinblick auf das „Prinzip des Lebens“ heißt es hier: G r u n d i r r t h m e r der bisherigen Biologen: es handelt sich n i c h t um die Gattung, sondern um s t r k e r a u s z u w i r k e n d e I n d i v i d u e n […] das Leben ist n i c h t Anpassung innerer Bedingungen an ußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr „ußeres“ sich unterwirft und einverleibt […]. Die I n d i v i d u a t i o n , vom Standpunkte der Abstammungstheorie beurtheilt, zeigt das bestndige Zerfallen von Eins in Zwei und das ebenso bestndige Vergehen der Individuen a u f d e n G e w i n n v o n wenig Individuen, die die Entwicklung fortsetzen. Das Grundphnomen: u n z h l i g e I n d i v i d u e n geopfert u m w e n i g e r w i l l e n , als deren Ermçglichung. Man muß sich nicht tuschen lassen: ganz 1
Bereits die Geburt der Tragçdie enthlt eine Reihe von kritischen Gedanken gegenber Darwin, was deutlich wird, wenn man sie vor dem Hintergrund von Hartmanns Philosophie des Unbewussten liest. Vgl. Eduard von Hartmann, Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung, Berlin 1869. Hartmann hat spter selbst ausdrcklich auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Vgl. Eduard von Hartmann, Wahrheit und Irrthum des Darwinismus, Berlin 1875, S. 3 f.
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so steht es mit den V ç l k e r n und R a s s e n : sie bilden den „Leib“ zur Erzeugung von einzelnen w e r t h v o l l e n I n d i v i d u e n , die den großen Prozeß fortsetzen. (NF, KSA 12, 294 ff.)
Man kann gegenber dem Nachlass Nietzsches und seiner Bedeutung stehen, wie man will, offenkundig scheint hier Nietzsche mit dem „Willen zur Macht“ eine Position gefunden zu haben, mit der er glaubt, die durch die Evolutionsbiologie aufgeworfenen Fragen und Probleme beantworten zu kçnnen. Wir finden in seinen Notizen immer wieder berlegungen zum Kernbereich biologischer Fragen- und Themenstellungen dieser Zeit: zur Assimilation, zur Ernhrung, zur Zeugung, zum Protoplasma – dem von Purkinje eingefhrten Elementarbegriff der Zelle –, zur Anpassung, zur Abstammungslehre, zur Variation, zur Selektion und zum vielbeschworenen Begriff des Kampfes ums Dasein. Ungeachtet der Frage, wie Nietzsche sich in diesem komplexen Feld zurechtfindet und wie seine Verwendung biologischer Begriffe zu bewerten wre,2 lassen sich vorab einige signifikante Punkte herausstellen, die den Rahmen dieser Auseinandersetzung prgen und als Stichworte genannt sein mçgen: 1. Diskurskompetenz. Nietzsche beteiligt sich an einem Diskurs unter der fr ihn selbstverstndlichen Voraussetzung, dass er ber berechtigte oder unberechtigte Behauptungen und Argumente der Fachwissenschaftler, namentlich der Biologen ein Urteil fllen kann. Die meisten Aussagen ber Naturwissenschaftlicher stellen Zurechtweisungen dar, auch wenn die wenigsten tatschlich publik gemacht werden. 2. Transfer. Dieser betrifft sowohl den Transfer zwischen den Wissenschaften einerseits als auch den zwischen der Wissenschaft und den gesellschaftsrelevanten Themen andrerseits. Nietzsches Blick auf die Wissenschaften ist nicht vorurteilsfrei, sondern von der Frage bestimmt, was ihre Erkenntnisse fr den Menschen bedeuten. Er hinterfragt jedes empirisch gewonnene Wissen nicht nur auf 2
Z.B. der Begriff der „Auslçsung“, den Nietzsche von Robert Mayer entlehnt oder die These vom „berfluss“, die auf Rolphs Theorie der Abundanz zurckgeht. Vgl. William Henry Rolph, Biologische Probleme zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik, Leipzig 1884. Rolph hatte gegen die Auffassung, dass Variationen die Folge eines Selektionsdruckes darstellen, die These vertreten, dass die Variation sich lediglich vor dem Hintergrund eines berflusses erklren lasse. Auch Nietzsches Begriff der „Monstrositten“, den er auf die menschlichen Kulturbedingungen bertrgt (vgl. JGB, KSA 5, 214), geht auf Rolphs These zurck, dass die Bildung einer Variett in der Natur durch eine Situation des berflusses bedingt ist. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften vgl. Gregory Moore, Thomas H. Brobjer, Nietzsche and Science, Hampshire/Burlingten 2004.
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seine erkenntnistheoretische, sondern auch auf seine moralische Implikation und Bedeutung. 3. Weltanschauung. Nietzsche folgt der allgemeinen Einschtzung, dass der Darwinismus eine Philosophie sei, die eine Weltanschauung vermittle. Vor diesem Hintergrund geht es Nietzsche in der Auseinandersetzung mit dieser Lehre um etwas Prinzipielles, nmlich um die Neuauslotung der Glaubensstze, bedingt durch eine Weltumbruchsituation, die Darwin mit seiner Theorie von der natrlichen Entstehung der Arten hervorgerufen hat.3 4. Individualitt. Nietzsches berlegungen kreisen stets um das Individuum, wobei ihn weniger die Individualitt als solche, als vielmehr das „werthvollere“, das kulturell hçherwertigere Individuum interessiert. Gerade um die Bedeutung des Individuellen geht es Nietzsche in seiner Auseinandersetzung mit den biologischen Wissenschaften. Im Hinblick auf diese mçchte ich im folgenden auf die Gesichtspunkte nher eingehen, die sich aus Nietzsches Beschftigung mit dem Anatomen, Physiologen und Entwicklungsdenker Wilhelm Roux (1850 – 1924) ergeben. In diesem Kontext wird immer wieder ein Aspekt hervorgehoben, nmlich Nietzsches Grundberzeugung, Darwin habe den Einfluss des ußeren, des Milieus bis ins Unsinnige berschtzt. Der berschtzung des ußeren, der Anpassungsleistung, die auf eine berbewertung der reaktiven, passiven, abwartenden Krfte hinausluft, hlt Nietzsche die herausragende Bedeutung der inneren, antreibenden, aktiven Krfte entgegen.4 Ich mçchte an dieser Stelle das Ergebnis von Mller-Lauters5 Roux-Rezeption Nietzsches weder wiederholen noch im einzelnen kommentieren, sondern 3
4 5
Bereits 1875 bezeichnet Nietzsche den Darwinismus als eine „Philosophie fr Fleischerburschen“ (vgl. NF, KSA 8, 259), was deutlich macht, dass es beim Darwinismus um mehr geht als nur um eine biologische Theorie der Evolution. ber den Darwinismus „als Weltanschauung“, vgl. Otto Caspari, Gustav Jger und Ernst Krause (Hrsg.), Kosmos. Zeitschrift fr einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwicklungslehre in Verbindung mit Charles Darwin und Ernst Hckel sowie einer Reihe hervorragender Forscher auf den Gebieten des Darwinismus, hrsg. v. Otto Caspari, Gustav Jger und Ernst Krause (1877), 1. Bd: Prospekt, S. 1. Vgl. auch Otto Caspari, Ueber Philosophie der Darwin schen Lehre, in: Kosmos. Zeitschrift fr einheitliche Weltanschauung auf Grund der Entwicklungslehre in Verbindung mit Charles Darwin und Ernst Hckel sowie einer Reihe hervorragender Forscher auf den Gebieten des Darwinismus, hrsg. v. Otto Caspari, Gustav Jger und Ernst Krause (1877), 1. Bd: Prospekt, S. 277 – 292. Vgl. Dieter Henke, Nietzsches Darwinismuskritik aus der Sicht der gegenwrtigen Evolutionsforschung, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 189 – 210. Wolfgang Mller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluss von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 189 – 223.
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werde mich allein auf den Punkt konzentrieren, der die Voraussetzungen von Roux Individualittsverstndnis in seinem frhen biologisch-philosophischen Entwurf beleuchtet. Ich mçchte zeigen, dass Nietzsche in seiner Auseinandersetzung mit Wilhem Roux, dessen Buch ber den Kampf der Theile im Organismus 6 er in mehreren Etappen liest, auf einen organischbiologisch definierten Begriff von Individualitt aus dem Grunde zurckgreifen kann, weil ein – aus heutiger Sicht – angemesseneres Verstndnis dessen, was biologisch gesehen eine Art ist, fehlt. Das Fehlen eines biologischen Artbegriffs begnstigt 1.) eine berakzentuierung von Individualitt, bestrkt Nietzsche 2.) in der Annahme, dass Individualitt bereits der wesentliche Grundzug evolutionrer Entwicklung sei und ist 3.) der Grund dafr, dass die Grenzen zwischen der kulturellen Sphre des Menschen und seiner biologischen Konstitution zum Verschwinden gebracht werden. Kontrafaktisch formuliert: Ein biologischer Artbegriff, wie ihn Ernst Mayer7 im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, htte Nietzsches Verstndnis von Evolution und damit auch sein Verstndnis von Individualitt womçglich in eine ganz andere Richtung gelenkt.
Roux und die Hintergrnde der Nietzsche-Rezeption Wilhelm Roux studiert in Jena Medizin bei Ernst Haeckel, Carl Gegenbaur und Wilhem Preyer, kurzzeitig bei Rudolf Virchow in Berlin, und ist nach erfolgreicher Promotion zunchst wissenschaftlicher Assistent in Breslau, wo er sich mit dem fr ihn so folgenreichen Gedanken der „Selbstregulation des Organischen“ habilitiert. Im Kampf der Theile im Organismus wird dieser Gedanke dann vor dem Hintergrund der funktionellen Anpassungsfhigkeit der Organismen ausgefhrt. Roux gilt als Begrnder der „Entwicklungsmechanik“ in Deutschland. Hinter diesem leicht missverstndlichen Terminus, der durch den flankierenden Titel „kausale Morphologie“ nicht wirklich an Verstndlichkeit gewinnt, verbirgt sich ein experimentell ausgerichtetes Forschungsprogramm, das die Erklrung einer organischen Funktion mit der Erklrung des Gewordenseins dieser
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Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollstndigung der mechanischen Zweckmssigkeitslehre, Leipzig 1881. Vgl. Ernst Mayr, Artbegriff und Evolution (Animal species and evolution, 1963), aus dem Englischen bertragen von Gerhard Heberer, Hamburg/Berlin 1967.
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Funktion kombiniert.8 Aus heutiger Sicht wird Wilhelm Roux in der Regel in zwei Kontexten genannt: einmal im Hinblick auf das Konzept der Selbstregulationen von Systemen, zum zweiten vor dem Hintergrund seiner umfnglichen Untersuchungen zur Orthopdie, wo diese womçglich den grçßten Anwendungsbereich gefunden haben, nmlich bei der Entwicklung und Herstellung von Prothesen. In seiner Dissertation beschftigt sich Roux zunchst mit einer Analyse der Funktionalitt des Blutgefßsystems. Untersuchungen ber den Knochenbau und die Konstitution der Gelenke folgen. Im Der Kampf der Theile im Organismus erweitert Roux nun seine methodische Fragestellung, indem er nicht nur die Funktionalitt eines Organs erklrt, sondern darber hinaus eine Erklrung fr das Gewordensein seiner Zweckgerichtetheit sucht. Er lsst sich von der Hypothese leiten, dass die Art und Weise, wie die Form und Funktionalitt von Organen sich herausbildet, einem inneren Gestaltungs- und Anpassungsdruck unterliegt, der dem Selektionsprinzip bei Darwin gleichkommt. Fr Roux berlegungen hinsichtlich der „gewordenen Form“ ist nun entscheidend, dass er den Selektionsmechanismus als ein zchtendes Moment der Organbildung, d. h. der „funktionellen Anpassung“ der Organe an ihre Umwelt begreift. Explizit gegen Darwin stellt Roux allerdings heraus, dass die Anpassungsleistungen, die ein Organismus – von der Zelle bis hin zu hochspezialisierten Organen – vollbringt, nicht das zufllige Resultat von „Einzelvariationen“ sein kçnnen, sondern einem elementaren Vermçgen der Selbstregulation entspringen. Roux bestreitet vehement die Vorstellung, dass ein zuflliger Auslesemechanismus eine durchsetzungsfhige Variation hervorzubringen vermag.9 Es sind die organischen Strukturen selbst, die ein dem Leben inhrentes Ausleseverfahren darstellen und zu Vernderungen der Gestalt einschließlich der damit verbundenen Modifikationen von Eigenschaften fhren. Der morphologische und funktionale Wandel einer Gestalt geschieht somit weder zufllig noch folgt er einem bestimmten Zweck, sondern unterliegt einem inneren Widerstreit, den Roux als „Kampf“ bezeichnet, weil er nicht nur den existenziellen Charakter herausstreicht, sondern auch darauf aufmerksam macht, dass vom 8
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Berhmt sind die von Roux ab 1883 durchgefhrten Anstichexperimente am Froschembryo, die Nietzsche allerdings nicht zur Kenntnis nimmt. Vgl. Wilhelm Roux, Ziele und Wege der Entwicklungsmechanik (1892), in: ders., Gesammelte Abhandlungen ber Entwickelungsmechanik der Organismen, Bd. 2, Leipzig 1895, S. 55 – 94. Vgl. Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollstndigung der mechanischen Zweckmssigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 3 f.
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Ausgang dieses Kampfes die gesamte Konstitution des Organismus abhngt. Fr diese Konkurrenzsituation im Organismus ist kennzeichnend, dass sie bis in seine elementarsten Vorgnge, also bis in die Zellen zurckreicht. Wieso kann ein Kampf bereits in den Zellen stattfinden? Aus dem Grunde, weil die Zellen ursprnglich nicht gleich, sondern verschieden sind. Was ihre Verschiedenheit ausmacht, ist ihre unterschiedliche Effizienz in der Bereitschaft und Fhigkeit der Assimilation. Einzelne Zellen kçnnen im Vergleich zu den Nachbarzellen Nhrstoffe effizienter verarbeiten und nutzbar machen, und genau diese Fhigkeit der berproduktivitt, die Roux als „berkompensation“ bezeichnet, wird im Ausleseverfahren – von den Zellen aufsteigend bis hin zu den Organen – begnstigt. Roux erkennt das Wesen des Organismus nicht im Gedanken der Einheit, sondern in zwei Kardinaleigenschaften, die die Voraussetzung darstellen, dass Leben sich selbst zu erhalten vermag: die Fhigkeit der Selbstregulation10 sowie die der berkompensation. Oder anders formuliert: Selbsterhaltung setzt – biologisch gesehen – einen energetischen berschuss voraus, weil es der berschuss an Energiereserven ist, der einem Organismus auch in Krisensituationen das berleben sichert.11 Wirft man einen genaueren Blick auf Roux Argumentation, so fllt auf, dass sein Konzept der funktionellen Anpassung durch zchtende Auslese zwei unterschiedliche Theorieanstze miteinander verbindet. Dadurch erst bekommt sein Erklrungsmodell die Reichweite und philosophische Dimension, die selbst seinem Doktorvater Gustav Schwalbe suspekt war und ihn zur Mahnung veranlasste: „Schreiben Sie nie wieder ein philosophisches Buch, sonst werden Sie nie Ordinarius der Anatomie“.12 Der philosophische Gehalt dieses Buchs ist zunchst sicherlich darin zu sehen, dass die Funktionalitt eines Organs nicht teleologisch, sondern im Zuge eines rein mechanistisch gedachten Ausleseverfahrens erklrt wird13, das aber nicht – gegen Darwin gewendet – zufllig wirkt,
10 Vgl. Wilhelm Roux, Die Selbstregulation. Ein charakteristisches und nicht notwendig vitalistisches Vermçgen aller Lebewesen, Halle 1914. 11 Wilhelm Roux, Die Selbstregulation. Ein charakteristisches und nicht notwendig vitalistisches Vermçgen aller Lebewesen, Halle 1914, S. 217. Es ist offenkundig, dass çkonomische Rationalittsmuster in dieses Selbsterhaltungskonzept einfließen, die aber als solche nicht reflektiert werden. 12 Vgl. Wilhelm Roux, Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. v. Prof. Dr. L. R. Grote, Leipzig 1923, S. 141 – 206, S. 152. 13 Gerade die Definition des Kausalen bzw. Mechanischen bzw. Mechanistischen hat in der Rezeption Roux Missverstndnisse evoziert, die auch Nietzsches Auseinandersetzung mit Roux betreffen. Unter „mechanisch“ versteht Roux nicht die
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sondern auf einem endogenen Lebensprinzip selbst basiert. Ist bereits der Embryo dadurch definiert, dass er aus sich selbst heraus wchst, und wird Leben dadurch prozessural verstanden als etwas, das geschieht und keinen Stillstand duldet, so gehçrt zum intrinsischen Bestandteil dieser Fhigkeit der Selbstregulation allerdings auch die Vorstellung eines inneren, produktiven, die Diversifikation des Lebens vorantreibenden Moments. Roux versteht seinen theoretischen Ansatz im Der Kampf der Theile im Organismus aber nicht nur als ein Modell, das die Selbstregulation des Organischen, sondern darber hinaus auch die Bildung neuer Arten durch Variation zu erklren vorgibt. In dieser Hinsicht fungiert die Selbstregulation oder auch Selbstorganisation14 nicht nur als Erklrungsgrundlage fr das Prinzip der evolutiven Wandlung und Diversifikation des Lebendigen, sondern zugleich als Motor fr die Entstehung neuer Arten. Variationen im Bereich der Morphologie eines Organismus sind die Basis fr die Entstehung einer neuen Art. Der Leser von Roux Buch muss zwangslufig den Eindruck erhalten, dass Selbstregulation ein zentrales Moment der Artenbildung darstellt, insofern das Zchtungsverfahren infolge von „berkompensation“ zu einem immer hçheren, weil auch differenzierteren und komplexeren Typus fhrt. Was also miteinander verwoben wird, ist die Frage, unter welchen Bedingungen ein Organismus die fr ihn zweckmßigste Gestalt und Funktionalitt seiner Organe gewinnt15, mit derjenigen, aufgrund welcher reduktive Variante von mechanisch im Sinne von „Druck und Stoß“. Das wre das Kausalittsverstndnis, das z. B. du Bois-Reymond hat, wenn er behauptet, die Physiologie sei „angewandte Physik und Chemie“. Dieses Verstndnis von Kausalitt liegt auch seinen Ausfhrungen ber die „Grenzen des Naturerkennens“ von 1872 zugrunde. Vgl. Emil du Bois-Reymond, ber die Grenzen des Naturerkennens, in: Siegfried Wollgast (Hrsg.), Vortrge ber Philosophie und Gesellschaft, Hamburg 1974, S. 54 – 78. Roux hingegen orientiert sich vielmehr an einem Begriff der kausalen Erklrbarkeit aller Naturvorgnge, den er glaubt, an Kant festmachen zu kçnnen. Roux Konzept einer „kausalen Morphologie“ ist somit durch die Gegenberstellung von „mechanistisch“ vs. „teleologisch“ nicht adquat zu erfassen, weil es ber diesen Gegensatz hinausgeht. 14 Vgl. in diesem Kontext: Olaf Breidbach, Ontogenese versus Phylogenese. Zum Konzept einer entwicklungsmorphologisch fundierten Evolutionstheorie, in: Selbstorganisation. Jahrbuch fr Komplexitt in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, Bd. 6: Realitten und Rationalitten, hrsg. v. Axel Ziemke und Rudolf Kaehr, Berlin 1995, S. 69 – 86. 15 Vgl. Wolfgang F. Gutmann/Klaus Bonik: Kritische Evolutionstheorie. Ein Beitrag zur berwindung altdarwinistischer Dogmen, Hildesheim 1981. Hier wird der innovative Versuch unternommen, die Zweckmßigkeit einer organischen Form auf der Grundlage der Hydraulik zu erklren.
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Bedingungen eine neue Art entsteht. Diese Verknpfung wird dadurch mçglich, dass Roux den individualistisch zentrierten Artbegriff Darwins unkritisch bernimmt. Fr Darwin bestand eine Art aus einer mehr oder weniger willkrlichen Vereinigung von Individuen. Dieser Artbegriff wurde nicht nur von biologischer, sondern auch von philosophischer Seite adaptiert, was am Beispiel von Otto Caspari (1841 – 1917) kurz verdeutlicht werden soll. Im ersten Band des Kosmos von 1877, den Nietzsche bei Overbeck bestellt16, unterbreitet Caspari – als Mitherausgeber der Zeitschrift – seine eigene Sicht auf das Verhltnis zwischen Darwinismus und Philosophie. Caspari lehnt nicht nur den Artbegriff als solchen ab, weil die traditionelle Annahme eines Urtypus, einer Urform mit der Vorstellung eines ewigen Werdens nicht kompatibel sei. Aus dieser Kritik an einem substantialistischen Artbegriff leitet er seinen individualistischen Begriff einer ,Art ab. Das Interessante ist zudem, dass er bereits Roux These eines Kampfes der Theile im Organismus vorwegnimmt, indem er konsequent seinem individualistischen Denkansatz folgend, zu dem Ergebnis kommt, dass man mit Recht „cum grano salis von einem Kampfe ums Dasein auch der Zellenwelt im Kleinen reden [kçnne]“.17 Unabhngig von der Frage, inwieweit diese berlegung Casparis Roux beeinflusst haben kçnnte, bleibt zweifelhaft, ob das Modell der Selbstregulation des Organischen berhaupt dazu in der Lage ist, die Entstehung einer neuen Art zu erklren. Dieser Zweifel hngt wesentlich mit dem Artbegriff zusammen, den Roux voraussetzt und der aus heutiger Sicht eher als unzureichend zu bezeichnen wre. Der heute allgemein akzeptierte Artbegriff, wie ihn Ernst Mayr, einer der bedeutendsten Evolutionsbiologen des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, versteht sich ausdrcklich als ein biologischer – in eindeutiger Abgrenzung zum typologischen und morphologischen, wie er fr das 19. Jahrhundert blich war. Die Art definiert Mayr als Fortpflanzungsgemeinschaft einer Population, die von anderen, verwandten Arten durch die verschiedensten Mechanismen der Abgrenzung isoliert ist, die vielfach variieren kçnnen: geografische, mechanische, genetische oder auch unterschiedliche Verhaltsweisen. Eine Art entsteht, wenn sich eine Population von einer anderen abspaltet und sukzessive Isolationsmechanismen aufbaut, die sie in der Erzeugung von
16 Vgl. den Brief an Overbeck vom 20./21. August 1881, in: KGB III/1, Bf. 139. 17 Otto Caspari, Ueber Philosophie der Darwin schen Lehre, in: Kosmos (1877), Bd. 1, S. 277 – 292, S. 459 – 485, S. 280 f.
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Nachkommen von verwandten Arten definitiv abgrenzt.18 Die gngige Vorstellung, dass aus einer Variation des Individuums eine neue Art entsteht, wre vor diesem Hintergrund sehr kritisch zu bewerten. Variationen fhren in der Regel zur Wandlung und Vernderung der bestehenden Art, aber nicht zur Herausbildung einer neuen. Diversifikation, so die These Mayrs, lsst sich vor dem Hintergrund des individualistischen Artbegriffs Darwins nicht erklren. Welche Konsequenzen dies fr Nietzsches RouxRezeption hat, soll im folgenden kurz skizziert werden.
Konsequenzen fr Nietzsches Roux-Rezeption Das Fehlen eines biologischen Artbegriffs hat die Evolutionsbiologen im 19. Jahrhundert, namentlich Roux, zu einer unbewussten berbewertung des Individuums verleitet. Seine Auffassung, dass das Individuum das Fundament sowohl fr eine organische Theorie der Selbstregulation als auch die Grundlage fr die Bildung einer neuen Art darstellt, wird von Nietzsche nicht angezweifelt. Das lsst sich zunchst anhand einer signifikanten Notiz kurz erlutern. Im Frhjahr/Sommer 1883 setzt Nietzsches zweite Lektrephase von Roux Buch ein. Die letzte Notiz, die MllerLauter19 diesen Roux-Studien zuordnet lautet: „Das Individuum als Vielheit“. (Vgl. NF, KSA 10, 324) Die Bedeutung dieser Notiz ist weniger darin zu sehen, dass von einer Vielheit die Rede ist, sondern dass Nietzsche hier einen dieser stillschweigenden, fr ihn selbstverstndlichen Transfers vornimmt, die ich eingangs herausgestellt habe. Denn Roux spricht von einem Organismus als Vielheit; Nietzsche setzt gedanklich „Organismus“ mit „Individuum“ gleich bzw. bersetzt die Vielheit des Organischen in eine Vielheit des Individuums. Dass Nietzsches Interpretation durchaus legitim ist, hat seinen Grund darin, dass Roux Begriff des Organischen, wie oben gezeigt, mit dem des Individuums zusammenfllt, obwohl es im
18 Die Migrationstheorie von Moritz Wagner, die die Entstehung einer Art bereits in diesem Sinne zu erklren versucht, wurde im 19. Jahrhundert kaum beachtet oder missverstanden. Vgl. Moritz Wagner, Die Darwin sche Theorie und das Migrationsgesetz der Organismen, Leipzig 1868. Zu den wenigen, die die Bedeutung der Migrationstheorie erkannt haben, gehçrt Georg Seidlitz. Vgl. Georg Seidlitz, Die Darwin sche Theorie. Elf Vorlesungen ber die Entstehung der Thiere und Pflanzen durch Naturzchtung, Dorpat 1871, S. 25 f. 19 Wolfgang Mller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluss von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 189 – 223.
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Hinblick auf die Diversifizierung des Lebendigen immer auch implizit um die Frage nach den Bedingungen der Entstehung einer neuen Art geht. Dass ein biologischer Artbegriff fehlt, ist der entscheidende Grund dafr, dass die Voraussetzung fr die Entstehung des Neuen bei Roux ausschließlich im Begriff der Selbstregulation samt Selbststeigerung gesehen wird. Ein sehr interessanter und aussagekrftiger Aspekt, den Mller-Lauter wohl bersehen hat, ist, dass Roux die Form des inneren Kampfes nicht nur als Moment der Zchtung, sondern im Wesentlichen auch als die der Erziehung begreift.20 Das wird deutlich in seiner Adaption der These Lamarcks ber den Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe, den Roux nicht nur als bung, als ein bestimmtes Ttigsein eines Organs begreift, sondern auch als Zucht, Disziplin und Zwang. Zwang insofern, als Roux davon ausgeht, dass erworbene Eigenschaften sich nicht ohne weiteres vererben lassen, sondern, dass es dazu einer langanhaltenden gleichen Konstellation von Bedingungen bedarf. Anders als Lamarck glaubt Roux nicht an einen inneren Vervollkommnungstrieb, sondern geht davon aus, dass das Ausleseverfahren selbst zu Zustnden hçherer Komplexitt fhrt. In Form einer Gleichung kçnnte man dieses Modell verkrzt so ausdrcken: Selbststeigerung fhrt zur Variation, diese zur Transformation (zur neuen, komplexeren Art) und diese wiederum zur Selbststeigerung usw. Anders als bei Haeckel ist hier im Grunde ein dynamisches Denkmodell angelegt, das als prinzipiell unabgeschlossen zu gelten hat und Evolution nicht als einen geraden Weg vom Einfachen zum Komplexen, sondern als einen mit Umwegen, Brchen oder auch Rckschritten versteht. Roux entwickelt eine Vorstellung der Selbsttransformation des Organischen, die mit dem Begriff des Individuums untrennbar verknpft ist und Nietzsches Auffassung vom Menschen, das sich stetig selbst zu berwinden hat, angesprochen haben drfte. In diesem Kontext wre auch Nietzsches Begriffspaar „Zucht und Zchtung“ (vgl. NF, KSA 12, 63) zu verorten, das Nietzsche immer wieder verwendet (vgl. GD, AC), um herausstellen, wie nçtig die Zchtung eines neuen Typus ist, um die Menschheit vor dem Zustand ihrer Verzwergung zu retten. Hufig wird darauf hingewiesen, dass Nietzsche mit „Zchtung“ nicht ein biologisches Instrumentarium anvisiert, sondern ausschließlich eine pdagogische 20 Vgl. Roux kritische Auslegung von Haeckels„biogenetischem Grundgesetz“, das er versucht, als ein Verhltnis zwischen Lehrer und Schler zu beschreiben. Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollstndigung der mechanischen Zweckmssigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 57 f.
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Vorstellung von Erziehung gehabt habe. Eine Entscheidung ber diese kontrovers diskutierte Frage soll an dieser Stelle nicht gegeben werden. Interpretiert man Nietzsches Begriffspaar „Zucht und Zchtung“ vor dem Hintergrund seiner Roux-Lektre ist jedoch evident, dass es der Begriff des Individuums ist, der die Schnittstelle darstellt, an der die Grenze zwischen der Reflexion biologischer Zusammenhnge einerseits und kultureller Phnomene andrerseits aufgehoben wird, um einen gegenseitigen Transfer von Begriffs- und Assoziationsfeldern erfolgen zu lassen. Biologische Gedanken der Zchtung und kulturell motivierte Gedanken zur Erziehung verfließen und werden hinsichtlich ihres jeweiligen Hintergrundes nicht mehr eigens reflektiert. Was Nietzsche auszeichnet, ist, dass er, wie kaum ein anderer, diese Verschmelzung biologischer und kultureller berlegungen zur Erhçhung und Steigerung des Menschen auf die Spitze getrieben hat.21
21 An zwei markanten Beispielen lsst sich diese wechselseitige Durchdringung von biologischen und kulturellen Sphren deutlich herausstellen, einmal am Aph. 262 von JGB (JGB, KSA 5, 214 ff.), wo es um die Frage nach der Entstehung des Neuen geht, und am „Anti-Darwin“ der Streifzge in der Gçtzendmmerung (Streifzge 14, „Anti-Darwin“, vgl. GD, KSA 6, 120 f.). Dass Nietzsches Gedankenweg hier so widersprchlich erscheint, hat im Wesentlichen damit zu tun, dass zwischen einer Logik biologischer und einer Logik kultureller Phnomene kein Unterschied gemacht wird.
Das große Leben als Verklrungsprozess Nicola Nicodemo Wenig begreift das Volk das Grosse, das ist: das Schaffende. (Za, KSA 4, 65)
ber den Zeitraum seines ganzen Philosophierens hinweg hat Nietzsche in seinen Texten den Ausdruck „das grosse Leben“ dreimal (vgl. NF, KSA 9, 656; Za, KSA 4, 67; GD, KSA 6, 84) verwendet. Obwohl er in diesen Texten nicht „das grosse Leben“ definiert hat, wurde der Ausdruck mit den großen Menschen und ihren schçpferischen Krften verbunden. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Versuch, „das große Leben“ als Verklrungsprozess auszulegen. Der hermeneutische Horizont, von dem aus ich dennoch „das große Leben als Verklrungsprozess“ ausfhren mçchte, ist die von Nietzsche im Laufe seiner Philosophie aufgeworfene Frage nach dem Sinn des Lebens. In meiner Untersuchung werde ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf Menschliches, Allzumenschliches, Morgenrçhte und Die frçhliche Wissenschaft richten. In dieser so genannten mittleren Periode1 gewinnen die berlegungen nicht nur ber eine als kritisch betrachtete Vernunft (so wie es die Nietzsche-Forschung durch die Auseinandersetzung mit Kant und der Aufklrung beleuchtet hat2), sondern auch ber das Verhltnis zwischen Bildung, Grçße, Kunst, Macht, Philosophie und Wissenschaft sowie ber die Sinnerfindung des Lebens wesentlich an Bedeutung. Was Grçße, Kunst, Leben, Philosophie und Wissenschaft verbindet, ist eben die Verklrung.
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ber die in der Nietzsche-Forschung eingebrgerte dreifache Einteilung von Nietzsches Denkens vgl. Karl Jaspers, Nietzsche. Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens, Berlin/New York 1981, S. 42 – 43. Abweichend dazu: Volker Gerhardt, Nietzsche, Mnchen 2006, Kapitel II. Gerhardt geht von einer Zweiteilung aus. In der ersten Phase werden die großen Sinnfragen gestellt, in der zweiten (ab 1881) werden sie experimentalphilosophisch beantwortet. Vgl. Carlo Gentili, Volker Gerhardt, Aldo Venturelli (Hrsg.): Nietzsche. Illuminismo. Modernit, Firenze 2003. Außerdem Renate Reschke (Hrsg.): Nietzsche. Radikalaufklrer oder radikaler Gegenaufklrer?, Berlin 2004.
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Was aber heißt Verklrung? Was kçnnte man unter „großem Leben“ verstehen? Und mit welcher Berechtigung kann „das große Leben als Verklrungsprozess“ bezeichnet werden?
1.
Die Verklrung in Die Geburt der Tragçdie und in Schopenhauer als Erzieher
Das Wort Verklrung kommt in den Nietzscheschen verçffentlichten Werken zwçlfmal und das Wort Transfiguration dreimal vor! Bekanntlich verbindet Nietzsche damit einen fr sein frhes Denken fundamentalen Sinn. Im 4. Paragraphen der Schrift Die Geburt der Tragçdie weist er auf die Transfiguration (vgl. GT, KSA 1, 39 – 40) hin. Es handelt sich dabei um das zwischen 1518 und 1520 gemalte und in der Pinacoteca Vaticana in Rom aufbewahrte berhmte Gemlde von Raffael, dessen Auslegung durch Nietzsche ausschlaggebend ist fr die „sthetische Rechtfertigung der Welt und des Daseins“, fr die Die Geburt der Tragçdie kennzeichnende „Artisten-Metaphysik“ wie auch fr sein Philosophieren in der mittleren Periode. Was fr eine Interpretation dieses Gemldes Nietzsche abgibt, wurde von Paul van Tongeren in seinem Die Kunst der Transfiguration betitelten aufschlussreichen Aufsatz ausgefhrt. Er schreibt: „An der Stelle des verklrten Christus setzt Nietzsche „Apollo […] als die Vergçttlichung des principii individuationis“, oder „als ethische Gottheit“. Die „erhabenen Gebrden“ verweisen wieder deutlich auf Raffaels Christusdarstellung, aber Nietzsche schreibt sie Apollo zu. Die Vision des Erlçsers wird bei Nietzsche zu einer erlçsenden Vision, und der inkarnierte und in diesem Sinne individuierte Gott wird hier zur „Vergçttlichung der Individuation“. Nietzsche transfiguriert Christus zu Apollo. Dieser Apollo ist die Verkçrperung der Notwendigkeit des schçnen Scheins und der Forderung nach Maß (mden agan) und Selbsterkenntnis (gnothi seauton). Das erste verweist auf die Kunst, das zweite auf Moral und Philosophie. Der transfigurierte Christus wird von Nietzsche zum Gott der Kunst und der Philosophie transfiguriert. Transfiguration ist das „Werk der Kunst und der Philosophie.“3 Die Verklrung erweist sich dann als Medium, an dem sich alle Wnsche und Forderungen der Geburt der Tragçdie berschneiden: Die 3
Paul van Tongeren, Die Kunst der Transfiguration, in: Roland Duhamel, Erik Oger (Hrsg.), Nietzsche. Die Sprache der Kunst und die Kunst der Sprache, Wrzburg 1994, S. 91 – 92.
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metaphysische Forderung, das Werden als notwendigen Prozess der Erlçsung des Ur-Einen durch den Schein zu erklren; die gnoseologische, den Erkenntnisprozess als knstlerischen Prozess zu deuten d. h. als Prozess der Erkenntnis der wesentlichen Grausamkeit und Widersprchlichkeit der Welt und des Lebens und zugleich als Bildungsprozess derjenigen Illusion, die im Weiterleben unentbehrlich ist, an dessen Prozess alle Individuen, aber besonders der Knstler, beteiligt sind; des Weiteren die kultur-kritische Forderung, den Prozess der Formung der Kultur als knstlerischen Prozess aufzufassen; schließlich die moralische, Apollo als Gott des Maßes und der Selbsterkenntnis anzusehen. Durch diese Verklrung wird nun einerseits die evangelische Botschaft andersherum gedeutet: Whrend in den Evangelien4 die Verklrung als Offenbarung der Wahrheit gilt, wird sie von Nietzsche in das „Depotenzieren des Scheins zum Schein“ (GT, KSA 1, 39) und zwar in eine durch und durch ausgedachte Illusion umgewandelt. Dies fhrt jedoch auf der anderen Seite nicht zu einer Lebensentkrftung, wohl aber zu einer Lebenssteigerung. Indem die Verklrung „das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ewigkeit der Erscheinung“ (GT, KSA 1, 108) zu berwinden ermçglicht, wird das Leben lebenswert und dementsprechend sind die Welt und das Dasein gerechtfertigt. Die von Nietzsche in Die Geburt der Tragçdie zum Teil „dem dionysischen Untergrund der Welt“ (GT, KSA 1, 155), zum Teil dem apollinischen Knstler – und im allgemeinen unklar dargestellte – zugewiesene „apollinische Verklrungskraft“ (GT, KSA 1, 155; vgl. auch GT, KSA 1, 47 – 48) wird in den Unzeitgemßen Betrachtungen eindeutig dem Genie zugesprochen. In Schopenhauer als Erzieher macht Nietzsche am Ende des 3. Paragraphen deutlich, was einem großen Menschen ermçglicht „frei und ganz er selbst zu sein“ (SE, KSA 1, 362). Aus diesen Aussagen taucht nach wie vor die Verbindung zwischen Philosophie, Kunst und Leben auf. Was aber dabei auffllt, ist der vernderte Hintergrund, aus dem her Nietzsche seine „unzeitgemßen Betrachtungen“ aufstellt. Es handelt sich um „die Metaphysik des Genius“ und zwar was das Genie und sein Werk exemplarisch macht. Es ist die Kunst als Verklrung, welche ihm ermçglicht, diese Leistung zu erbringen. Der Philosoph muss gegen seine Zeit und zugleich gegen sich selbst kmpfen, um das zu beseitigen, „was ihn hindert, gross zu sein“ (SE, KSA 1, 362). Der Philosoph muss sich selbst, seine Zeit und sein Leben hinterfragen, um „Reformator des Lebens“ und „lebendig“ (SE, KSA 1, 362) zu sein. Er hat sich zu fragen: „ist das Leben berhaupt 4
Vgl. den Text im Neuen Testament: Mk. 9 ff.; Matth. 17,1 ff. und Lk. 9,28 ff.
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wert?“ (NF, KSA 1, 809).5 Wie kann man dem Leben einen Sinn, ein Ziel geben? Wie kann man gegenber dem Leben gerecht sein? Das ist lediglich durch die grundlegende Fçrderung einer Kultur als „verklrte Physis“ (NF, KSA 1, 809) mçglich. Wie es Nietzsche zum Schluss der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben zum Ausdruck bringt, ist was das Genie (sowie jedes Individuum) exemplarisch werden lsst, die mit der Fhigkeit zusammenhngende Notwendigkeit, „das Chaos in sich zu organisiren, dadurch dass er sich auf seine chten Bedrfnisse zurckbesinnt“ (HL, KSA 1, 333) und es in eine Kultur als eine neue und verbesserte „Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, [eine, N.N.] Cultur als eine […] Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen“ (HL, KSA 1, 334) zu verklren. Die Kultur als verklrte Physis ist nun also eine neue und verbesserte Physis. Indem Nietzsche aber bei solchen Betrachtungen den Zusammenhang zwischen Kunst, Leben, Moral und Philosophie anstellt und gleichzeitig die Griechen als „Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvçlker“ (HL, KSA 1, 333) vorschlgt, beweist sich auch sein Anspruch, das Philosophieren auf das menschliche Leben zu beschrnken. Die Produktion der Bildung ist deshalb das Resultat eines innerlich kmpferisch sthetischen Prozess jedes großen Menschen sowie „von jedem Einzelnen von uns“ (HL, KSA 1, 334): Bildung ist die Transfiguration der Natur in Kultur und dadurch ein Verklrungsprozess, der Aufgabe jedes großen Menschen und jedes einzelnen Individuums ist. Daher kann man das große, ja exemplarische Leben als Verklrungsprozess interpretieren und zwar als Vorgang der individuellen bzw. kollektiven Steigerung der Lebenskrfte. Das ist aber nur der erste Schritt auf dem Weg zum „großen Leben als Verklrungsprozess“.
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Was die Entstehungsphase der zweiten und dritten Unzeitgemssen angeht, vgl. NF, KSA 7, 425: „Kant hat im gewissen Sinne mit schdlich eingewirkt: denn der Glaube an die Metaphysik ist verloren gegangen. Auf sein ,Ding an sich wird niemand rechnen kçnnen, als ob es ein bndigendes Princip sei. Jetzt begreifen wir die merkwrdige Erscheinung Schopenhauers: er sammelt alle Elemente, die zur Beherrschung der Wissenschaft noch taugen. Er kommt auf die tiefsten Urprobleme der Ethik und der Kunst, er wirft die Frage vom Werthe des Daseins auf.“
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2. Der Verklrungsprozess in der mittleren Phase In Menschliches, Allzumenschliches schlgt Nietzsche einen neuen Weg in seiner Philosophie ein. Er verfolgt den Zweck, die Welt und das Dasein zu erklren, indem er eine psychologische (und historische) Analyse der ererbten Sittlichkeit und Erkenntnisse ausfhrt, und zwar durch eine „Chemie der moralischen, religiçsen, sthetischen Vorstellungen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben“ (MA, KSA 2, 24). Die Chemie ermçglicht dem Denker aufzudecken, dass „alles, was der Philosoph ber den Menschen aussagt, im Grunde [aber, N.N.] nicht mehr [ist, N.N.], als ein Zeugniss ber den Menschen eines sehr beschrnkten Zeitraumes“ (MA, KSA 2, 24). In der Tat sind die Welt und das menschliche Leben nicht teleologisch geprgt, d. h. sie haben von ihrem Anbeginn keine natrliche Richtung. „Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. – Demnach ist das historische Philosophieren von jetzt ab nçthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung“ (MA, KSA 2, 25). Infolgedessen ist es fr Nietzsche schwer einen Sinn im Dasein zu finden. An die Stelle der Sinnfindung kommt fr ihn die Sinnerfindung. Deshalb ist eine der wichtigsten Fragen, die er in Menschliches, Allzumenschliches aufwirft, „die historische Frage in Betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit“ und zwar „wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten?“ (MA, KSA 2, 42). Eine mçgliche Antwort auf diese Frage scheint folgende Behauptung zu sein: Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade bersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab fr çkumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nchsten Jahrhunderts. (MA, KSA 2, 46)
Wie kann aber ein großer Geist die Kenntnis der Bedingungen der Kultur erringen? Dies geschieht meines Erachtens nur mittels eines als Verklrungsprozess angesehenen großen Lebens, zu dessen Bestimmung eine Erwgung des Verhltnisses zwischen Kunst und Wissenschaft d. h. zwischen der schçpferischen und entlarvenden Kraft maßgeblich ist. Im Aphorismus 272 (MA, KSA 2, 224 f.) „Jahresringe der individuellen Cultur“ weist Nietzsche auf das Verhltnis der Kunst zur Wissenschaft hin und erklrt die Kunst fr die scheinbare „Umwandelung“ der Metaphysik,
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welche in ihr eine Weile „als knstlerisch verklrende Stimmung brig bleibt und fortlebt“, whrend „der wissenschaftliche Sinn immer gebieterischer [wird, N.N.] und den Mann hin zur Naturwissenschaft und Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens [fhrt, N.N.]“ (MA, KSA 2, 224). berdies wird der Kunst die unausweichliche Funktion zugewiesen, „den Uebergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung, berzuleiten. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft bergehen“ (MA, KSA 2, 48). Obgleich dies aber zum „Untergang der Kunst“ fhrt, in dem Maße, wie sie noch metaphysisch ist, impliziert es nicht zwangslufig auch ihre Vernichtung. Ihr Untergang bezweckt eine wahre „Beseelung der Kunst“. Um welche Beseelung es sich dabei handelt, wird von Nietzsche hauptschlich im 4. Teil von Menschliches, Allzumenschliches erçrtert. Dort hinterfragt Nietzsche die Kunst und das Genie, um sie von der Metaphysik zu befreien. Indem er die psychologische Beobachtung auch auf „die Seele der Knstler und Schriftsteller“ anwendet, entlarvt er, dass das Cultus des Genius […] sehr hufig noch mit jenem ganz- oder halbreligiçsen Aberglauben verbunden [ist, N.N.], dass jene [grossen, berlegenen, fruchtbaren, N.N.] Geister bermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare Vermçgen besssen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf ganz anderem Wege theilhaftig wrden, als die brigen Menschen. (MA, KSA 2, 154)
Dante Alighieri, Rafael, Michelangelo sowie, laut Nietzsche, die Knstler aller Zeiten [haben, N.N.] in ihrem hçchsten Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklrung hinaufgetragen, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind die Verherrlicher der religiçsen und philosophischen Irrthmer der Menschheit, und sie htten diess nicht sein kçnnen ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. […] Es wird eine rhrende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Knstlerglauben gegeben habe. (MA, KSA 2, 180)
Aus diesem Entlarvungsprozess schließt Nietzsche zwei Ergebnisse. Er bringt zuerst die Gefahr im „Kultus des Genius “ zum Ausdruck: Es hçrt auf, „Kritik gegen sich selbst zu ben […]. Fr grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich ntzlicher, wenn sie ber ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glcksumstnde hinzutraten…“ (MA, KSA 2, 155). In der Tat bekamen Mnner aller Art „Grçße, wurden Genies“ (vgl. MA, KSA 2, 153) durch strengste, unermdliche und andauernde bungen. „Alle Grossen waren grosse Arbeiter, unermdlich nicht nur im Erfinden, sondern auch im
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Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.“ (MA, KSA 2, 147) Zweitens entdeckt Nietzsche einerseits dass, „in der Bndigung der darstellenden Kraft, in der organisierenden Bewltigung aller Kunstmittel die eigentlich knstlerische That“ (MA, KSA 2, 183) besteht, und andererseits, dass „die neue Wendung alter Motive, alter Gedanken die sthetische Stellung zum Kunstwerk, die des Schaffenden, ist“ (vgl. MA, KSA 2, 156). Von diesem Standpunkt aus entwirft Nietzsche im Aphorismus 251 (MA, KSA 2, 208 f.) mit dem Untertitel „Zukunft der Wissenschaft“ sein Projekt zur „hçheren Cultur“. Er stellt fest, dass die Wissenschaft dem Menschen insofern ntzlich sein kann, als neben ihr die „Nicht-Wissenschaft“ bzw. die Kunst liegt. Zu diesem Zweck deutet Nietzsche das Bild eines Doppelgehirns und zwar eines Zweikammer-Systems an und versucht damit, den Zwiespalt zwischen Kunst und Wissenschaft in eine Einheit zu bringen. Dabei ist er stets darauf bedacht, sowohl die knstlerische als auch die wissenschaftliche Kraft zu untersttzen, damit sowohl „die Gefahr eines schwchlichen Auf- und Niederschwankens zwischen verschiedenen Antrieben“ als auch „die absolute Herrschaft der wissenschaftlichen Methode“ (vgl. MA, KSA 2, 209) vermieden wird. Die von Nietzsche anvisierte hçhere Kultur zielt auf eine gleichmßige Ausbildung der Krfte: „Sicherlich ist dem Menschen selber eine gleichmssige Ausbildung seiner Krfte ntzlicher und glckbringender“, als „wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich gleichsam Ein monstrçses Organ macht“ (vgl. MA, KSA 2, 214). Indem ein großer Geist seine inneren Krfte in Einklang bringt, wird er es schaffen, ein Leben nach den „guten Drei“ – laut dem Titel des Aphorismus 332 von Der Wanderer und seine Schatten – zu fhren: Ruhe, Grçsse, Sonnenlicht, – diese drei umfassen Alles, was ein Denker wnscht und auch von sich fordert: seine Hoffnungen und Pflichten, seine Ansprche im Intellectuellen und Moralischen, sogar in der tglichen Lebensweise und selbst im Landschaftlichen seines Wohnsitzes. Ihnen entsprechen einmal erhebende Gedanken, sodann beruhigende, drittens aufhellende, – viertens aber Gedanken, welche an allen drei Eigenschaften Antheil haben, in denen alles Irdische zur Verklrung kommt: es ist das Reich, wo die grosse Dreifaltigkeit der Freude herrscht. (MA, KSA 2, 697)
Ruhe, Grçße und Sonnenlicht werden von Nietzsche als Eigenschaften eingefhrt, denen erhebende, beruhigende und aufhellende Gedanken entsprechen. Auf diese Weise kçnnen sie die Merkmale der großen Geister symbolisieren und stellen folglich den idealen Lebenshorizont dar, den jeder Denker anstrebt, und in dem er seine weise und harmonische Lebensfhrung realisieren kann. Das Medium, an dem alle drei Eigenschaften Anteil haben, ist also die eigentliche Verklrung, die dazu beitrgt, dass
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„alles Irdische“, d. h. die nchsten Dinge so wie jedes menschliche Erlebnis, zur „Verklrung kommt“. Der große Geist kann nur mittels eines vernnftig-sthetischen Verhaltens seine echten Bedrfnisse realisieren und dem Leben einen Sinn geben. Vor diesem Hintergrund kann man den Dichter nach den im Aphorismus 99 von Vermischte Meinungen und Sprche angestellten berlegungen „als Wegweiser fr die Zukunft“ betrachten und seine berbordende dichterische Kraft und seinen Geschmack in der Auswahl und im Hervorheben des Grçßen und des Bedeutsamen als Fhigkeit ansehen, das Leben und die Zukunft zu werten und zu gestalten. Folglich ergibt sich das Verhltnis von Kunst und Wissenschaft, wie Nietzsche in einer Notiz aus dem Jahr 1875 schreibt, aus der „hçchsten Vernunft“, die er „in dem Werk des Knstlers“ sieht (vgl. NF, KSA 8, 36). Die Wissenschaft allein – so lautet eine Notiz aus dem Jahr 1880 – „kann nicht befehlen, Weg weisen: sondern erst wenn man weiß wohin?, kann sie ntzen“ (NF, KSA 9, 403). Sie vermag daher dem Leben keinen Sinn zu geben. Diese Leistung ist nur zusammen mit der „NichtWissenschaft“ d. h. der Kunst zu erbringen. Auf diese Weise gewinnt die Verklrung eine positive Bedeutung im Gegensatz zur „himmlischen Verklrung“ im oben angefhrten Aphorismus 220 (MA, KSA 2, 180) und zur „knstlerisch verklrenden Stimmung“ im oben angefhrten Aphorismus 272 (MA, KSA 2, 225) wieder. Der innerliche Bildungsprozess und dessen agonale Dimension wird von Nietzsche weiterhin in der Morgenrçte anschaulich geschildert. Indem er die Erkenntnis als eine „neue Leidenschaft“ (vgl. M, KSA 3, 264) und zugleich als Experimentieren (vgl. M, KSA 3, 274) bezeichnet, verwirft er nicht pauschal die Vernunft, sondern bringt ans Licht, dass sie sowohl auf unsere Bedrfnisse als auch auf unsere Erlebnisse beschrnkt ist: Unsere Vernunft und unsere Erfahrung sind die zwei in uns innewohnenden Gçtter (vgl. M, KSA 3, 44). Ab Morgenrçte wird der Leib als Ausgangspunkt, Entstehungsort und „Leitfaden“ der Erkenntnis (vgl. z. B. NF, KSA 11, 282) verstanden: Das ist die neue Transfiguration, die Nietzsche im Aphorismus 8 mit Rekurs auf Raffael ankndigt. Wie Nietzsche aber im Aphorismus 109 von der Morgenrçte aussagt, ist es immer zu beachten, dass die „SelbstBeherrschung und Mssigung“ nur durch den Intellekt erreicht werden kçnnen, auch wenn er nur als Werkzeug eines der uns innewohnenden und in uns gegeneinander kmpfenden Triebe erscheint. In diesem Kampf, um „den Sieg ber die Kraft“ zu erringen, ist die Vernunft unentbehrlich: […] und doch ist, wenn der Grad von Verehrungswrdigkeit festgestellt werden soll, nur der Grad der Vernunft in der Kraft entscheidend […] –
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nmlich das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie nicht auf Werke, sondern auf sich als Werk, verwendet, das heisst auf seine eigene Bndigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zustrçmen von Aufgaben und Einfllen. (M, KSA 3, 318 – 319)6
Die Fhigkeit, seine eigene Bndigung zu erreichen, die hnlich der „Bndigung aller Kunstmittel“ die bereits erwhnte „eigentliche[n] knstlerische[n] Tat“ ist, zeigt sich weder bloß rational noch bloß knstlerisch: Sie setzt die Versçhnung der beiden Krfte voraus und ergibt sich daher als auf Maß und Selbsterkenntnis gegrndeter Prozess. Dieser Bildungsprozess impliziert die Beherrschung des Chaos, Disziplin, Selbsterkenntnis, bung, Zielsetzung und Erfahrung wie Nietzsche im Aphorismus 290 in der Frçhlichen Wissenschaft ausdrcklich erklrt: Eins ist Noth. – Seinem Charakter „Stil geben“ – eine grosse und seltene Kunst! Sie bt Der, welcher Alles bersieht, was seine Natur an Krften und Schwchen bietet, und es dann einem knstlerischen Plane einfgt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwche noch das Auge entzckt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stck erster Natur abgetragen: – beidemal mit langer Uebung und tglicher Arbeit daran. Hier ist das Hssliche, welches sich nicht abtragen liess, versteckt, dort ist es in s Erhabene umgedeutet. […] Denn Eins ist Noth: dass der Mensch seine Zufriedenheit mit sich erreiche – sei es nun durch diese oder jene Dichtung und Kunst: nur dann erst ist der Mensch berhaupt ertrglich anzusehen! (FW, KSA 3, 530 – 531).
Diese Aussagen, welche an die von Nietzsche im oben angefhrten Aphorismus 332 aus Der Wanderer und seine Schatten Gedanken erinnern, verweisen ausdrcklich darauf, was Nietzsche mit unverkennbarem Bezug auf den fnften Paragraphen der Geburt der Tragçdie im Aphorismus 107 in der Frçhlichen Wissenschaft ausdrckt: Als sthetisches Phnomen ist uns das Dasein immer noch ertrglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phnomen machen zu kçnnen. (FW, KSA 3, 464)
In der Vorrede zur zweiten Ausgabe von Die frçhliche Wissenschaft erklrt Nietzsche, durch welche „Philosophien und Gesundheiten“ er hindurchgegangen ist, um zu seiner frçhlichen Wissenschaft zu kommen. Dies geschah dadurch, dass ihm „das Leben selbst zum Problem wurde“. Was heißt denn Leben? Das Leben und zwar das große Leben wird von Nietzsche als die Fhigkeit des Philosophen angesehen, „seinen Zustand jedes Mal in die 6
Nietzsche berdenkt dies z. B. in JGB, KSA 5, 95.
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geistigste Form und Ferne umzusetzen, – diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie“ (FW, KSA 3, 349). Von den bisher durchgefhrten berlegungen ausgehend lsst sich nun die Verklrung als innerlicher Bildungsprozess verstehen, durch den der große Geist sowie jedes Individuum sein Temperament dadurch bildet, dass er seine Sinnlichkeit nicht preisgibt und seinen eigenen immer kmpfenden Gefhlsregungen durch die Vernunft eine positive Bedeutung verleiht und damit sie in eine harmonische Einheit bringt. Dadurch kann jedes Individuum seinem Leben eine Form geben und sich einen Lebenshorizont bilden, in welchem sein Leben einen individuellen Sinn gewinnt.7 Der individuelle Prozess der Sinnerfindung des Lebens heißt – mit den Worten Nietzsches – das Leben als Experiment (vgl. M, KSA 3, 274, und M, KSA 3, 324) verstehen, dessen Erfolg aber nicht selbstverstndlich ist. Man kann auch zu Grunde gehen. (Vgl. M, KSA 3, 266)
3. Bildung, Leben und Verklrungsprozess Die „gleichmssige Ausbildung aller Krfte“ kennzeichnet aber nicht nur den Knstler, sondern auch die Gesellschaft und die Kultur. Erstens macht sie den Wesenszug des Prinzips des jeder Gesellschaft zugrundeliegenden vergnglichen Gleichgewichts aus, wie Nietzsche im Aphorismus 92 von Menschliches, Allzumenschliches ausfhrt: Wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schdigen wrde, da entsteht der Gedanke sich zu verstndigen und ber die beiderseitigen Ansprche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfngliche Charakter der Gerechtigkeit. (MA, KSA 2, 89; Vgl. M, KSA 3, 100 ff.)8
Zweitens bildet „die gleichmssige Ausbildung aller Krfte“ die Aufgabe der Kultur, wie Nietzsche im Aphorismus 276 Mikrokosmus und Makrokosmus der Cultur beweist. Laut diesem Aphorismus stellt die Kunst, im Einklang mit der Wissenschaft, eine der zwei wichtigsten „heterogenen Mchte“ des menschlichen Temperaments dar. Jedes Individuum hat „ein 7
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Zu einer Interpretation nietzscheschen Philosophierens im Lichte der Frage nach dem Sinn des Lebens vgl.: Volker Gerhardt, Nietzsche, Mnchen 2006. ber eine allgemeine Interpretation hinsichtlich von Sinn und Wert des Lebens in Bezug auch auf Nietzsche vgl.: Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin/ New York 2008. Vgl. auch dazu Volker Gerhardt, Pathos und Distanz, Stuttgart 1988, S. 98 – 132.
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so grosses Gebude der Cultur aus sich zu gestalten“, damit die zwei „heterogenen Mchte“ der Kunst und der Wissenschaft gemeinsam mit den anderen „versçhnenden Mittelmchten“ ohne Streitigkeit nebeneinander bestehen und in ihm wohnen kçnnen. Auf diese Weise besteht „die Aufgabe der großen Architektur der Kultur“ darin, „die einander widerstrebenden Mchte zur Eintracht vermçge einer bermchtigen Ansammelung der weniger unvertrglichen brigen Mchte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdrcken und in Fesseln zu schlagen“ (MA, KSA 2, 228). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Verklrungsprozess als Prozess der Stilisierung und der Organisation der innerlichen, sich einander widersprechenden Gefhlsregungen – besonders der schçpferischen und wissenschaftlichen Triebe – verstanden werden muss, die mittels der Vernunft zu einer Einheit gebracht und auf ein Ziel gerichtet werden. Ebenfalls wird er auch als gesellschaftlicher Bildungsprozess der Gerechtigkeit und schließlich als Prozess der Transformation der Natur in Kultur aufgefasst. Nur in diesem vieldeutigen Sinne steht meines Erachtens die Verklrung fr „das Reich, wo die grosse Dreifaltigkeit der Freude herrscht“. Durch die Verklrung vermçgen die großen Geister, die Kenntnis der Bedingungen der Kultur auf dem Boden einer unmetaphysischen Gesinnung zu erreichen und infolgedessen çkumenische Ziele der Menschheit zu setzen. „Kunst, Philosophie und Leben sind alle drei: Kunst der Transfiguration.“9 Das kann aber meines Erachtens nur in einer auf dem Prinzip des Gleichgewichts beruhenden – und dies zugleich anstrebenden – Gesellschaft geschehen, in welcher eine Kultur als verklrte Physis gefordert und geschaffen wird, wo alle Werte so wie der Sinn des Lebens jeweils verhandelt und dementsprechend geschaffen werden. Indem das große Leben als Verklrungsprozess die Chance zur Gestaltung, zur Profilierung und damit auch zur Steigerung der Lebenskrfte bietet, erweist es sich als derjenige komplexe Prozess der Sinngebung bzw. der Sinnverhandlung des Lebens, an dem alle Menschen in kleinerem oder grçßerem Maße beteiligt sind. Auf diese Weise kçnnen die Menschen den Tod Gottes (vgl. FW, KSA 3, 480 ff.) bewltigen und ein neues Leben bauen.
9
So lautet die von Paul van Tongeren im oben erwhnten lehrreichen Aufsatz abgeleitete Schlussfolgerung, Paul van Tongeren, Die Kunst der Transfiguration, in: Roland Duhamel, Erik Oger (Hrsg.), Nietzsche. Die Sprache der Kunst und die Kunst der Sprache, Wrzburg 1994, S. 103.
Die „grosse Vernunft“ des Leibes und das ber-sich-hinaus-Schaffen Eine Interpretation zur vierten Rede Zarathustras
Nikolaos Loukidelis Die aktuelle Situation der Nietzsche-Forschung zeichnet sich durch besondere Lebendigkeit aus. Nietzsches Werk und seine Person stehen berall auf der Welt im Zentrum eines regen, vielseitigen und wachsenden Interesses, das sich u. a. in der Erscheinung von hoch spezialisierten Untersuchungen manifestiert. Diese Untersuchungen bauen zwar auf vorherigen auf, die bereits wichtige Sachverhalte geklrt und bemerkenswerte Interpretationen vorgelegt haben, versuchen aber zugleich sie zu ergnzen und – nicht selten – zu widerlegen. Dabei lsst sich auch die Wirksamkeit von verschiedenen Forschungstraditionen bzw. Forschungsgruppen feststellen, die einen spezifischen methodischen Ansatz anwenden und sich oft sogar institutionalisiert haben, indem etwa ihre Resultate in einem eigens zur Verfgung stehenden Rahmen verçffentlicht werden. Ein markantes Beispiel hierfr ist die Quellenforschung, deren Herausbildung Mazzino Montinari viele wichtige Impulse verdankt und deren dynamische Prsenz u. a. in den letzten Bnden der Nietzsche-Studien dokumentiert wird.1 Ihre Aufgabe besteht in der sich historisch-philologischer Mittel bedienenden Rekonstruktion des Dialogs, den Nietzsche mit verschiedenen Autoren und Traditionen gefhrt hat. Dabei kommt dem 19. Jahrhundert besondere Bedeutung zu, da es Nietzsche – trotz seiner Selbstinszenierung als unzeitgemßer Denker – tief geprgt hat. Zwei weitere aktuelle Richtungen sind hier zu nennen. Die erste ist im Rahmen der Verfassung eines Nietzsche-Wçrterbuchs entstanden. Gemeint ist die unter der Leitung von Paul van Tongeren und Herman Siemens stehende Nietzsche Research Group, die in der Form des ersten Bandes des Wçrterbuchs bereits ein fruchtbares Zeugnis ihrer Arbeit
1
Siehe die Rubrik Beitrge zur Quellenforschung, die aus Abhandlungen und Nachweisen besteht.
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Nikolaos Loukidelis
vorgelegt hat.2 Die in Rede stehende Forschungsgruppe wendet primr einen semasiologischen Ansatz an. Dies bedeutet, „dass an erster Stelle nicht der Begriff, sondern der signifiant steht und als Lemma verwendet wird“3, und dass der Akzent auf die „Verschiebungen von Bedeutungen, [die] neue[n] Bedeutungen sowie die Verknpfung von Bedeutungen und Konnotationen“4 in Nietzsches Werk gelegt wird.5 Die zweite Richtung stellt der sich in Vorbereitung befindende Kommentar der Schriften Nietzsches dar, der von Jochen Schmidt, Barbara Neymeyr und Andreas Urs Sommer verfasst wird.6 Dieses Vorhaben widmet sich gezielt vor allem Nietzsches Bchern (und nicht Entwrfen oder literarischen Projekten, die zeit seines Lebens nicht verçffentlicht wurden bzw. fr die Verçffentlichung nicht bestimmt waren) und sein Ziel besteht in der Beleuchtung der Form und des Inhalts dieser Bcher durch eine Kontextualisierung. Der in Rede stehende Begriff wird hier in einem weiten Sinne gebraucht: gemeint ist nicht nur der Kontext des einzelnen Buches, sondern auch der des entsprechenden Nachlasses, der Lektren und Begegnungen Nietzsches und der allgemeinen historischen Situation, in der das jeweilige Buch entstanden ist.7 Wenn man dazu bercksichtigt, dass der Ansatz der Kontextualisierung aktuell durch Werner Stegmaier bestrkt wird, der ein gut fundiertes 2
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Dieser erste Band wurde zu einem bedeutenden Teil von Gerd Schank verfasst, der inzwischen unerwartet verstorben ist. Paul van Tongeren, Gerd Schank, Herman Siemens (Hrsg.), Nietzsche-Wçrterbuch, Bd. 1, Berlin/New York 2004, S. IX. Paul van Tongeren, Gerd Schank, Herman Siemens (Hrsg.), Nietzsche-Wçrterbuch, Bd. 1, Berlin/New York 2004, S. XI f. Paul van Tongeren, Gerd Schank, Herman Siemens (Hrsg.), Nietzsche-Wçrterbuch, Bd. 1, Berlin/New York 2004, S. XII. Insofern durch die Rekonstruktion des semantischen Feldes, „in dem ein Wort seine Bedeutung(en) erhlt“ (Paul van Tongeren, Gerd Schank, Herman Siemens (Hrsg.), Nietzsche-Wçrterbuch, Bd. 1, Berlin/New York 2004, S. XII), diese festgelegt werden, „kommt“ zustzlich zum semasiologischen „ein onomasiologischer Ansatz zum Tragen“ (Paul van Tongeren, Gerd Schank, Herman Siemens (Hrsg.), Nietzsche-Wçrterbuch, Bd. 1, Berlin/New York 2004, S. XII), der zur Erschließung von vielen in Nietzsches Werk vorkommenden Begriffe beitrgt. Das unten folgende Referat ber den von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften getragenen Nietzsche-Kommentar basiert auf einem Vortrag, den Andreas Urs Sommer am 20. Mai 2009 im Berliner Nietzsche-Colloquium gehalten hat. Zum Konzept des Kommentars vgl. auch http://portal.uni-freiburg.de/ ndl/forschung/nietzsche. Nach diesen Ausfhrungen ist es leicht ersichtlich, dass die Quellenforschung als ein selbststndiger Teil des kontextualistischen Ansatzes betrachtet werden kann.
Die „grosse Vernunft“ des Leibes und das ber-sich-hinaus-Schaffen
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Programm fr eine neue Nietzsche-Philologie im 21. Jahrhundert formuliert hat,8 dann kommt man um so natrlicher zu dem Schluss, dass die eben angefhrten Forschungsrichtungen (Quellenforschung, Nietzsche-Wçrterbuch, Nietzsche-Kommentar) eine noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vorherrschende Tradition der Nietzsche-Forschung in den Hindergrund zu verdrngen tendieren. Gemeint ist die systematische Nietzsche-Interpretation, zu der Untersuchungen von Karl Lçwith, Arthur Danto, Jean Granier und Josef Simon – um nur wenige wichtige Interpreten anzufhren9 – zuzuordnen sind. Auch wenn niemand an der Legitimitt und der Notwendigkeit von systematisch orientierten Interpretationen zweifelt und viele Studien dieser Art immer noch erscheinen, gibt es in der Tat gegenwrtig ein Zurckgehen ihrer Zahl, das wenigstens vier Grnde hat. Erstens hat die systematische Nietzsche-Interpretation bereits viele Beitrge vom bleibenden Wert geliefert, so dass oft der Eindruck entsteht, in vielen Themen sei bereits ein befriedigender Konsens erreicht. Ein reprsentatives Beispiel hierfr ist Wolfgang Mller-Lauters Rekonstruktion des Willens zur Macht.10 Zweitens hat der systematische Nietzsche-Interpret des 20. Jahrhunderts nicht wenige Male seine eigenen Interessen und Ansichten in Nietzsche derart hineingelegt, dass dabei Nietzsches Gedankenwelt und Selbstverstndnis aus dem Blick gerieten. Das gilt etwa fr einen großen Teil der klassischen zweibndigen Monographie von Martin Heidegger.11 Drittens ist bei Nietzsche ein durchaus antisystematisches und sogar antitheoretisches Moment vorhanden, das er durch Inhalt und Form 8 Werner Stegmaier, Nach Montinari. Zur Nietzsche-Philologie, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), S. 80 – 94 und ders., Nietzsche im 21. Jahrhundert. Mittel und Ziele einer neuen Nietzsche-Philologie, in: Nietzscheforschung 16 (2009), S. 17 – 26. 9 Exemplarisch sei hier jeweils eine aus der Feder dieser Interpreten stammende Studie erwhnt: Karl Lçwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935), Stuttgart 1956, Jean Granier, Le probl me de la vrit dans la philosophie de Nietzsche (1966), Paris 1969, Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher (1965), New York 1980, Josef Simon, Sprache und Sprachkritik bei Nietzsche, in: Matthias Lutz-Bachmann (Hrsg.), ber Friedrich Nietzsche. Eine Einfhrung in seine Philosophie, Frankfurt am Main 1985, S. 63 – 97. 10 Wolfgang Mller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegenstze und die Gegenstze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, S. 10 ff., 66 ff., 95 ff., Wolfgang Mller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: ders., ber Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999, S. 25 – 95. 11 Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. I/II, Pfullingen 1961. Vgl. auch die entsprechenden Bnde der Heidegger-Gesamtausgabe, Bd. 43 – 44 und 46 – 48, 50.
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seiner Schriften bewusst pflegt und den vorsichtigen Interpreten skeptisch gegenber groß angelegten Rekonstruktionen stimmt. Und viertens sind wichtige Aspekte von Nietzsches Werk wie versteckte Verweise auf von ihm rezipierte Autoren, die verschiedenen Nuancen seiner sorgfltigen Wortwahl und der Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen seines Werkes (z. B. zwischen den Aphorismen der Morgenrçthe) bei weitem noch nicht erschlossen. Es ist deswegen folgerichtig, dass sich viele Forscher primr diesen Themenbereichen zuwenden, und man darf auf die entsprechenden Ergebnisse gespannt sein. Es wre trotzdem einseitig, wenn die NietzscheForschung sich nur auf eine derartige Erschließung von Nietzsches Werk beschrnken wrde, so grundlegend und ertragreich diese Erschließung auch sein mag. Denn Nietzsches „Leidenschaft der Erkenntniss“ (vgl. u. a. M, KSA 3, 265; FW, KSA 3, 479)12 bezieht sich auch auf Inhalte – Inhalte, die ihn im 20. Jahrhundert zu einem wichtigen Gesprchspartner fr Vertreter so unterschiedlicher Disziplinen wie Physik, Biologie, Psychologie, Soziologie, Klassische Philologie, Literaturwissenschaft und Philosophie gemacht haben – und es wre bedauernswert, wenn diese Inhalte in der Nietzsche-Forschung nicht weiter hervorgehoben, rekonstruiert und gegebenenfalls auch kritisiert wrden. Dabei muss man freilich sich besonders davor hten, den inneren und ußeren Zusammenhang des Nietzscheschen Werkes zu vernachlssigen. Vielmehr sollte dieser Zusammenhang bei der Darstellung nicht nur bercksichtigt werden, sondern einer ihrer wichtigsten Sttzpunkte sein. Der vorliegende Beitrag versucht, eine im eben vorgetragenen Sinne systematisch orientierte Interpretation zur vierten Rede Zarathustras zu liefern. Er ist zwar aus der ursprnglichen Absicht hervorgegangen, diesen Text in seiner Ganzheit heranzuziehen und eine umfassende Interpretation von ihm vorzulegen. Da aber die Realisierung einer solchen Absicht den Rahmen dieses Beitrages sprengen wrde, wird hier versucht, an Hand der Kommentierung von nur drei Passagen aus der vierten Rede, die im Laufe der Darstellung zitiert werden, einige bedeutende Aspekte von ihr hervorzuheben.13 Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den Formeln der 12 Zu dieser Formel Nietzsches vgl. Mazzino Montinari, Nietzsches Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis“, in: ders., Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, S. 64 – 78, Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997. 13 Eine umfassende Untersuchung zur vierten Rede sollte sich u. a. mit den folgenden einschlgigen Ausfhrungen auseinandersetzen: Ludwig Giesz, Nietzsche.
Die „grosse Vernunft“ des Leibes und das ber-sich-hinaus-Schaffen
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„grossen Vernunft“ des Leibes und des ber-sich-hinaus-Schaffens geschenkt werden. Schon bei einer ersten Lektre der vierten Rede Zarathustras fllt die Gleichsetzung von Leib und Selbst 14 auf. Am charakteristischsten kommt sie in der folgenden Textstelle zur Sprache: „Hinter deinen Gedanken und Gefhlen, mein Bruder, steht ein mchtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.“ (Za, KSA 4, 40) Bekanntlich gibt es in unserem alltglichen Sprachgebrauch eine klare Unterscheidung zwischen Leib und Seele, die sich auch in vielen philosophischen Theorien (z. B. in der Lehre Descartes ) widerspiegelt. Die Frage die sich also hier erhebt, lautet: Wie kann Nietzsche einem ziemlich fest etablierten Leibverstndnis widersprechen und diesen Begriff mit dem des Selbst gleichsetzen, dem – traditionell der Seele zugeschriebene – Eigenschaften wie Unausgedehntheit und Unsichtbarkeit zukommen? Die Antwort auf diese Frage tritt deutlich zu Tage, wenn man Nietzsches Aufnahme des physiologischen Modells von Wilhelm Roux bercksichtigt, wie es in seinem Werk Der Kampf der Theile im Organismus Existenzialismus und Wille zur Macht, Stuttgart 1950, S. 23 ff., Karl Jaspers, Nietzsche. Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens (1936), Berlin/ New York 1974, S. 218 ff., 314, Friedrich Kaulbach, Friedrich Nietzsches Idee einer Existenzialphilosophie, Kçln/Wien 1980, S. 13 ff., 289 ff., Stephan Grtzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, Stuttgart 1989, S. 118 ff., Gnter Abel, Interpretatorische Vernunft und menschlicher Leib, in: Mihailo Djuric´ (Hrsg.), Nietzsches Begriff der Philosophie, Wrzburg 1990, S. 105 ff., Annemarie Pieper, „Ein Seil geknpft zwischen Tier und bermensch“. Philosophische Erluterungen zu Nietzsches erstem „Zarathustra“, Stuttgart 1990, S. 149 ff, Wolfgang MllerLauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: ders., ber Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999, S. 126 ff., Volker Caysa, Leib/Kçrper, in: Henning Ottmann (Hrsg.), Nietzsche Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2000, 271 ff., Volker Gerhardt, Die „grosse Vernunft“ des Leibes. Ein Versuch ber Zarathustras vierte Rede, in: ders. (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, Christian Schmidt, Kçrper und Leib. Zur phnomenologischen Gegebenheit und Verfgbarkeit des leiblichen Selbst, in: Volker Caysa, Konstanze Schwarzwald (Hrsg.), Experimente des Leibes, Berlin/Mnster/Wien/ Zrich 2008, S. 138 ff., und Eckhard Frick, Psychosomatische Anthropologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch fr Unterricht und Studium, unter Mitarbeit von Harald Gndel 2009, S. 208 ff. Im vorliegenden Beitrag muss darauf – abgesehen von gelegentlichen Bezgen – verzichtet werden. 14 Zu dieser Gleichsetzung vgl. Ludwig Giesz, Nietzsche. Existenzialismus und Wille zur Macht, Stuttgart 1950, S. 23 ff., Karl Jaspers, Nietzsche. Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens (1936), Berlin/New York 1974, S. 27 ff.
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dargestellt wird. Roux eignet sich ein wichtiges Motiv vorsokratischen Denkens, das des Kampfes, an. Auch wenn er dabei die Bedeutung Heraklits anerkennt,15 orientiert er sich vor allem an Empedokles, der annahm, dass der Kosmos insgesamt und die in ihm wirkenden einzelnen Wesen „durch die Krfte der Liebe und des Hasses“16 gestaltet werden: In diesem mit zwei einander entgegenwirkenden Krften versehenen Stoffgemenge musste ein lang dauernder Wechselkampf [Hervorhebung, N. L.] stattfinden, aus welchem blos die dauerfhigen Aggregationen schliesslich allein brig bleiben konnten, da alle gebildeten Gruppirungen so lange immer wieder gelçst werden mussten, so lange in der Wechselwirkung noch strkere Conglomerate sich bilden konnten.17
Empedokles hat auf diese Weise nach Roux als erster das Prinzip des Kampfes fr die „Entstehung sogenannter zweckmssiger Einrichtungen auf rein mechanische Weise“18 fruchtbar gemacht, das viele Jahrhunderte spter Alfred Wallace und Charles Darwin wissenschaftlich fundierten und zur Erklrung der Entstehung der Arten gebrauchten19. Die Wirksamkeit desselben Prinzips behauptet nun Roux auch frs Innere des einzelnen Organismus, und zwar fr die Vorgnge auf der Ebene der Zellteile, der Zellen, der Gewebe und der Organe20. Nietzsche, der sich bekanntlich sowohl fr die Vorsokratiker als auch fr die zeitgençssische Physiologie interessierte, hat sich mit Roux Buch intensiv auseinandergesetzt.21 Im
15 Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollstndigung der mechanischen Zweckmssigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 65. Vgl. auch das berhmte Polemos-Fragment (Geoffrey S. Kirk, John E. Raven, Malcolm Schofield (Hrsg.), The Presocratic Philosophers. A Critical History with a Selection of Texts (1957), Cambridge 1999, S. 193). 16 Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollstndigung der mechanischen Zweckmssigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 1. 17 Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollstndigung der mechanischen Zweckmssigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 1. 18 Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollstndigung der mechanischen Zweckmssigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 2 19 Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollstndigung der mechanischen Zweckmssigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 3 20 Wilhelm Roux, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollstndigung der mechanischen Zweckmssigkeitslehre, Leipzig 1881, S. 64 ff. 21 Dazu ausfhrlich: Wolfgang Mller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: ders., ber Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999, S. 126 ff.
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Umkreis dieser Auseinandersetzung22 ist die folgende nachgelassene Aufzeichnung entstanden: Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kmpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkrlich auch das Ganze bejahen. Unter diesen lebenden Wesen giebt es solche, welche in hçherem Maaße Herrschende als Gehorchende sind, und unter diesen giebt es wieder Kampf und Sieg. Die Gesammtheit des Menschen hat alle jene Eigenschaften des Organischen, die uns zum Theil unbewußt bleiben zum Theil in der Gestalt von T r i e b e n bewußt werden. (NF, KSA 11, 282)
Im eben zitierten Text tritt eine Bedeutung des Leibbegriffes deutlich zu Tage und eine weitere wird impliziert. Es handelt sich zum einen um den Leib als Gegenstand der Physiologie, in dem eine Vielheit von lebenden Wesen, ein Kampf dieser Wesen mit einander und daraus entstehende Gebilde zu beobachten sind. Zum anderen wird behauptet, dass „[d]ie Gesammtheit des Menschen […] [durch, N. L.] alle jene Eigenschaften des Organischen“ (NF, KSA 11, 282) durchtrnkt ist, was bedeutet, dass Phnomene wie Denken, Fhlen und Wollen, die in der Tradition oft fr Akte einer vom Leib klar unterschiedenen Entitt gehalten wurden, nun als Produkt einer im Organischen wurzelnden psychophysischen Einheit aufgefasst werden.23 Diese Einheit ist als „O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l“, als „H e r r s c h a f t s -G e b i l d e, das Eins b e d e u t e t, aber nicht eins i s t “ zu verstehen (NF, KSA 12, 104). Sie stellt das Geschehen, das wir selbst sind, dar, d. h. unser Selbst. Hiermit ist nicht nur die Frage nach der Gleichsetzung von Leib und Selbst beantwortet. Zugleich wird klar, was Nietzsche mit den folgenden in der vierten Rede enthaltenen Worten meint: „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt“ (Za, KSA 4, 39). Die Formel der „grossen Vernunft“ des Leibes weist auf das Geschehen hin, das wir selbst sind und das sich 22 Roux Buch entnimmt Nietzsche wahrscheinlich sogar ein Argument fr folgende Feststellung: „Wir nhern uns heute allen jenen grundstzlichen Formen der Weltauslegung wieder, welche der griechische Geist, in Anaximander, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Demokrit und Anaxagoras, erfunden hat […].“ (NF, KSA 11, 679) 23 Dazu vgl. Nikolaos Loukidelis, Zu Nietzsches Begriff vom menschlichen Leben, in: Simon Springmann, Asmus Trautsch (Hrsg.), Was ist Leben? Festgabe fr Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 37 ff.
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Nikolaos Loukidelis
durch Merkmale wie Pluralitt, Agonalitt, ber- bzw. Untergeordnetsein und Fluktuation auszeichnet. Diese Merkmale sind auch in den Formeln „Vielheit mit Einem Sinne“, „Krieg und Frieden“, „Heerde und Hirt“ wiederzufinden.24 In der vierten Rede begegnet uns sogar ein Versuch, der Grundtriebfeder der großen Vernunft des Leibes auf die Spur zu kommen. Das wird deutlich, wenn man die Stelle bercksichtigt, in der Nietzsche den Verchtern des Leibes attestiert, dass selbst ihre Leibverachtung ein Ausdruck ihres Leibes ist: Noch in eurer Thorheit und Verachtung, ihr Verchter des Leibes, dient ihr eurem Selbst. Ich sage euch: euer Selbst selber will sterben und kehrt sich vom Leben ab. Nicht mehr vermag es das, was es am liebsten will: – ber sich hinaus zu schaffen. Das will es am liebsten, das ist seine ganze Inbrunst. Aber zu spt ward es ihm jetzt dafr: – so will euer Selbst untergehn, ihr Verchter des Leibes. Untergehn will euer Selbst, und darum wurdet ihr zu Verchtern des Leibes! Denn nicht mehr vermçgt ihr ber euch hinaus zu schaffen. (Za, KSA 4, 40 f.)
Bei der oben angedeuteten Grundtriebfeder handelt es sich um das bersich-hinaus-Schaffen. Es stellt einen konkreten Impuls dar, der auf eine Disposition des Leibes zum Schaffen zurckgeht. Dieser Impuls offenbart sich im Akte der Zeugung. Damit sind erstens die geschlechtspezifische Dimension des Terminus gemeint, zweitens Leistungen des Geistes und der Kultur und drittens die Selbstgestaltung des Menschen: „Ein hçheres Wesen als wir selber sind zu schaffen, ist u n s e r Wesen. ber u n s h i n a u s s c h a f f e n ! Das ist der Trieb der Zeugung, das ist der Trieb der That und des Werks“ (NF, KSA 10, 209).25 Das ber-sich-hinaus-Schaffen gehçrt neben dem bermenschen, dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkunft zu den wichtigsten Formeln von Also sprach Zarathustra. 26 24 Die vorliegenden Ausfhrungen zum Verhltnis Nietzsche-Roux haben sich zwar zum großen Teil auf den klassischen Aufsatz von Wolfgang Mller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß von Wilhelm Roux auf Friedrich Nietzsche, in: ders., ber Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999, S. 126 ff., insbesondere S. 105, 111, 127 f. gesttzt. In ihnen sind jedoch die Anlehnung von Roux an Empedokles sowie die Bedeutung der Aufzeichnung 27[27] vom Nachlass 1884 (NF, KSA 11, 282) fr Nietzsches Konzeption des Leibes strker zum Vorschein gekommen. 25 Vgl. ferner Za, KSA 4, 75; Za, KSA 4, 90; Za, KSA 4, 111 f. 26 Zwischen dem ber-sich-hinaus-Schaffen und dem Begriff des bermenschen besteht ein enger Zusammenhang (dazu NF, KSA 10, 209; Za, KSA 4, 40 f.; Za,
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Eine umfassende Befassung mit ihr steht in der Nietzsche-Forschung noch aus. Im Folgenden sollen einige Bausteine zu ihrer Rekonstruktion vorgelegt werden. Was die Entstehung des ber-sich-hinaus-Schaffens betrifft, sind zum einen der Schopenhauersche Willens- und der platonische Erosbegriff von großer Bedeutung27 und zum anderen liegt es nahe, die Wirksamkeit von Impulsen zu vermuten, die von Nietzsches Beschftigung mit der zeitgençssischen Physiologie ausgehen.28 Systematisch betrachtet soll zwar die Bedeutung der menschlichen Sexualitt – im umfassenden Sinne des Wortes – und der Formen ihrer Sublimierung bei Nietzsche herausgearbeitet und betont werden. Eine Heranziehung der entsprechenden Theorien Freuds wrde sich bei der Rekonstruktion der oft bruchstckartig vorgetragenen Thesen Nietzsches als durchaus hilfreich erweisen.29 Wichtiger aber noch ist, dass man alle Antriebe, die Zeichen einer Steigerung des Lebens darstellen, ins Auge fasst,30 ihnen in Nietzsches Werk nachsprt31 und sie ausfhrlich thematisiert. Mit einem Wort kann man das ber-sich-hinaus-Schaffen als das kreative Potenzial im Menschen bezeichnen, das ihm deutliche Signale zur Gestaltung seines Lebens gibt. Eine Verdrngung dieses Potentials resultiert nicht nur in ein Gefhl des Unerflltseins, sondern fhrt oft zu einer
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KSA 4, 111 f.). Arnold Gehlen hlt den mit dem ber-sich-hinaus-Schaffen zum Ausdruck gebrachten Sachverhalt sogar fr die eigentliche Grundlage des bermenschen und des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkunft (Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Wiesbaden 1997, S. 323 f.). Ob diese Auffassung berechtigt ist, muss hier dahingestellt bleiben. Siehe etwa Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, in: ders., Werke, Bd. 1, hrsg. v. Ludger Ltkehaus, Zrich 1988, viertes Buch, § 60 und Platon, Symposion, 201d-212a. Dazu vgl. z. B. das folgende Exzerpt aus Georg Heinrich Schneider, Der thierische Wille. Systematische Darstellung und Erklrung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwickelung und Verbreitung im Thierreiche als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre, Leipzig 1880, S. 58: „,Alle Handlungen der Larven kurz vor der Verpuppung gehen nicht auf die eigene Erhaltung, sondern auf die des fertigen Insektes hinaus, sie entsprechen nicht den Bedrfnissen des Larvenstadiums, sondern denen des vollstndig entwickelten Thiers […]“ (NF, KSA 10, 314). Unter den zahlreichen Studien zum Verhltnis Nietzsche-Freud ragt Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997 heraus. Wertvolle Bemerkungen hierzu findet man in Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Wiesbaden 1997, S. 321 ff. Solche Antriebe werden z. B. in NF, KSA 12, 393 genannt; ein charakteristischer davon ist der Rausch (vgl. auch GD, KSA 6, 116).
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psychosomatisch bedingten Krankheit. Nietzsche wurde mit dieser Tatsache in seinem eigenen Leben mehrmals konfrontiert. Ein charakteristisches Beispiel dafr ist in einem bedeutenden Brief an Wilhelm VischerBilfinger berliefert, in dem sich Nietzsche – damals Professor fr klassische Philologie in Basel – „um die durch Teichmllers Weggang erledigte p h i l o s o p h i s c h e P r o f e s s u r“ (An Wilhelm Vischer(-Bilfinger), KGB II/1, Bf. 118) bewirbt. Seine Bewerbung begrndet er zum großen Teil durch die Schilderung eines Grundproblems seiner Basler Existenz. Er teilt nmlich mit, dass er „in einem eigenthmlichen Konflikt“ lebt, der seinen „Kçrper erschçpft“ und sogar bis zu unertrglichen „Leiden anwchst“ (An Wilhelm Vischer(-Bilfinger), KGB II/1, Bf. 118). Der Konflikt besteht darin, dass er zwar „[v]on Natur auf das Strkste dazu gedrngt [ist], etwas Einheitliches philosophisch durchzudenken und in langen Gedankenzgen andauernd und ungestçrt bei einem Problem zu verharren“, sich aber „durch den tglichen mehrfachen Beruf und dessen Art hin und her geworfen und aus der Bahn abgelenkt“ fhlt, so dass seine „eigentliche Aufgabe“, nmlich die „p h i l o s o p h i s c h e […] zu einer Nebenthtigkeit erniedrigt wird“ (An Wilhelm Vischer(-Bilfinger), KGB II/1, Bf. 118).32 Abgesehen von dieser persçnlichen Mitteilung finden seine Beobachtungen zur Entstehung von psychosomatisch bedingten Krankheiten durchaus Eingang in sein Werk, wie etwa folgende Passage nachweist: Jenes verborgene und herrische Etwas, fr das wir lange keinen Namen haben, bis es sich endlich als unsre A u f g a b e erweist, – dieser Tyrann in uns nimmt eine schreckliche Wiedervergeltung fr jeden Versuch, den wir machen, ihm auszuweichen oder zu entschlpfen, fr jede vorzeitige Bescheidung, fr jede Gleichsetzung mit Solchen, zu denen wir nicht gehçren, fr jede noch so achtbare Thtigkeit, falls sie uns von unsrer Hauptsache ablenkt, ja fr jede Tugend selbst, welche uns gegen die Hrte der eigensten Verantwortlichkeit schtzen mçchte. Krankheit ist jedes Mal die Antwort, wenn wir an unsrem Rechte auf u n s r e Aufgabe zweifeln wollen, – wenn wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen. Sonderbar und furchtbar 32 Nietzsche hat zu jener Zeit unter einer „Magen- und Darmentzndung“ (Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche vom 6. Februar 1871, KGB II/1, Bf. 122) gelitten. Pia Daniela Volz meint, dass diese Entzndung „nicht nur als Reaktion auf die beranstrengung durch die Professur […], sondern auch als Nachwirkung der Dysenterie anzusehen“ ist (Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 120), die infolge einer im September 1870 zugezogenen Infektion auftrat (Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 119 f.).
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zugleich! Unsre E r l e i c h t e r u n g e n sind es, die wir am hrtesten bssen mssen! Und wollen wir hinterdrein zur Gesundheit zurck, so bleibt uns keine Wahl: wir mssen uns s c h w e r e r belasten, als wir je vorher belastet waren … (MA, KSA 2, 373 f.)
Aus den obigen Ausfhrungen geht unmittelbar hervor, dass Nietzsche zu den Vordenkern einer psychosomatischen Anthropologie gehçrt. Sowohl ersterer als auch letztere pldieren fr eine berwindung der traditionellen Trennung zwischen Leib und Seele und betonen zugleich die Bedeutung des ungelebten Lebens fr die Entstehung von Krankheiten.33 Anders jedoch als bei einer einseitigen Orientierung am kranken Menschen, wie sie meistens in der Literatur zur Psychosomatik vorkommt, richtet sich Nietzsches Interesse am Umgang des Menschen mit seiner Kreativitt nicht nur auf Grenzsituationen, sondern auf die Lebensgestaltung berhaupt.34 Die Art und Weise, wie jeder von uns mit den Impulsen des ber-sich-hinaus-Schaffens in sich umgeht, ist fr ein gelungenes Leben von entscheidender Bedeutung.
33 Vgl. hierzu Eckhard Frick, Psychosomatische Anthropologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch fr Unterricht und Studium, unter Mitarbeit von Harald Gndel 2009, S. 52, 224 f. Frick integriert in seiner Konzeption auf interessante Weise den Selbstbegriff der vierten Rede Zarathustras (Eckhard Frick, Psychosomatische Anthropologie. Ein Lehr- und Arbeitsbuch fr Unterricht und Studium, unter Mitarbeit von Harald Gndel 2009, S. 208 ff.). 34 Zu diesem Thema vgl. z. B. Wilhelm Schmid: Uns selbst gestalten. Zur Philosophie der Lebenskunst bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 50 – 62.
Die „große Gesundheit“ als Salutogenese oder Krankheit als Stimulanz des Lebens Pia Daniela Schmcker „Aber lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, dass Herr Nietzsche wieder gesund wurde?…“ – so schreibt der 38-Jhrige Frhpensionr, Philosoph und Altphilolog, 1882 ironisch von sich selbst, in der Vorrede zur Frçhlichen Wissenschaft, um fortzufahren: „Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen wie die nach dem Verhltnis von Gesundheit und Philosophie, und fr den Fall, daß er selber krank wird, bringt er seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in seine Krankheit.“ (FW, KSA 3, 347)
1.
Die Abwertung des Leidens als Krankhaftigkeit
Nietzsche selbst sah seine Krankheiten als klinisch-somatisches Faktum einerseits und als geistige Auseinandersetzung mit dem Leiden andererseits, als Krankheitsgewinn im Sinne einer Transfiguration von Schmerz in Erkenntnis, ein Selbstbekenntnis, wiederholt vorgebracht in der Autobiographie Ecce homo: Mitten in Martern, die ein ununterbrochener dreitgiger Gehirn-Schmerz sammt mhseligem Schleimerbrechen mit sich bringt, – besaß ich eine Dialektiker-Klarheit par excellence und dachte Dinge sehr kaltbltig durch, zu denen ich in gesnderen Verhltnisssen […] nicht raffiniert, nicht kalt genug bin. (EH, KSA 6, 266)
Die große Loslçsung vom Altverehrten fhrt in die Schule des Verdachts, die fr den schçpferischen Akt notwendig zu sein scheint. Der Begriff einer Normal-Gesundheit ist abhanden gekommen, wird von ihm relativiert, individualisiert und sinngebend umgedeutet, denn, so heißt es in der Frçhlichen Wissenschaft: …eine Gesundheit an sich gibt es nicht…es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Krfte, deine Antriebe, deine Irrtmer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, w a s selbst fr deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. …Zuletzt bleibe noch die grosse Frage offen, ob wir der Erkrankung entbehren kçnnten…ob nicht der alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurteil, eine Feigheit, und vielleicht ein Stck feinster Barbarei und Rckstndigkeit sei (FW, KSA 3, 477).
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Die Wertigkeit der brgerlichen Tchtigkeits- und Gesundheitsideologie1 wird von Nietzsche grundstzlich in Frage gestellt zugunsten einer dialektischen Dynamisierung von Gesundheit und Krankheit im Kontext eines physiologischen Perspektivismus, der das Leiden als Chance zur Selbstfindung und zur Hçherentwicklung des Menschen instrumentalisiert. Krankheit als bloße Krankhaftigkeit ohne instinktive Energie wird von Nietzsche als verachtenswerte Schwche bekmpft und gilt ihm als Charakteristikum des Nihilismus. Strke und Schwche, Lebensmangel und Lebenskraft sind denn auch die entscheidenden Kategorien seiner Kulturkritik. Im Unterscheid zum Krisenbegriff ,Krankheit, der die Verfassung der selbstkritischen Reflexion einschließt, bezeichnet ,Krankhaftigkeit eine Eigenschaft und Veranlagung, die genau das ausschließt, was den Kranken als Denker und Selbstberwinder auszeichnet. Der Krankhafte ist bewusst- und perspektivlos, ohne Kraft und Wollen. Inbegriff leiblicher Gesundheit ist es demgegenber, wenn dem Organismus als einer Art Kontrollhierarchie- und Organisationsprinzip die Einigung der Vielheit der Triebe in der Ausrichtung auf ein Ziel glckt. Triebe nennt Nietzsche alle Arten von physiologischen Reizen, die im Leib, dieser hçheren Einheit von Physis und Psyche in einem bestndigen Kampf liegen. So betrachtet ist das organisatorische Prinzip der „großen Vernunft des Leibes“, dieses hçheren Selbst, jenseits des beschrnkten Bewusstseins des Ichs, wesentlich der Wille zur Macht als Ansammlung von Machtquanten, eine Wandelbarkeit in der Vielheit. Durch eine solche Dynamisierung versucht Nietzsche die Konkretheit von Atom- oder Substanz- oder Subjektvorstellungen zu unterlaufen. Fr ihn sind die kleinsten lebenden Wesen in biologischen Systemen autopoietisch, also darauf ausgerichtet, sich selbst zu erneuern, wachsend, sich-vermehrend und wieder-absterbend.
2.
Das Ideal der „großen Gesundheit“
In struktureller Hinsicht herrscht im LEIB eine stndige Umverteilung von Krften: die Selbstorganisationsdynamik wird angetrieben vom Willen zur Einverleibung und zur Umverwandlung von Krften im Dienste der Lebenserhaltung, ja Lebenssteigerung. Von diesem Grundgedanken aus, wird 1
Rudolf Kser, Arzt, Tod und Text, Mnchen 1998 (Darin: Wie man mit dem Hammer philosophiert. Auskultation und Perkussion medizinischer Diskurse bei Nietzsche, S. 179 – 207).
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deutlicher, dass es fr Nietzsche gesunde, d. h. berhçhungs- und entwicklungspotenzierte und kranke, d. h. pathogene, moribunde Krankheit gibt, allerdings nicht in binrer Opposition verstanden, sondern als Pole auf einem Kontinuum von Gesundheit und Krankheit. Zeichen der „großen Gesundheit“ sind Reichtum und Experimentierlust mit einem berschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Krften. Der Maßstab bleibt dabei die Effloreszenz des Leibes, Sprungkraft, Muth und Lustigkeit des Geistes – aber auch, wie viel von Krankhaftem er auf sich nehmen und berwinden kann – gesund machen kann. Das woran die zarteren Menschen zu Grund gehen wrden, gehçrt zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit. Damit kann Nietzsche als Vorlufer gesehen werden des gegenwrtigen Konzeptes der Salutogenese als ressourcenorientierter Ansatz mit der Idee der dynamischen Balance zwischen Risiko- und Schutzfaktoren.2 Die Leitfrage ist dabei, wie Menschen trotz widriger (extremer) Umstnde gesund und leistungsfhig bleiben kçnnen. Antonovsky geht dabei von einem Health-ease-dis-ease-Kontinuum (HEDE-Kontinuum) aus, das sich vom reinen Defizitmodell von Kranksein abwendet. Eine wichtige Ressource ist bei ihm das Kohrenzgefhl (die Orientierung in der eigenen Lebenswelt) mit dem Gefhl der Bewltigbarkeit und Sinnhaftigkeit. Analog steht beim Resilienzparadigma (individuelle Widerstandsfhigkeit gegenber Krankheit) die positive Anpassungsfhigkeit des Einzelnen im Mittelpunkt. Individuell gesehen ist fr Nietzsche Gesundheit wesentlich die Fhigkeit, Krankheit und Leiden der Selbstorganisation und dem eigenen Schaffen dienlich zu machen. berindividuell zielen Gesundungsprozesse gesellschaftlicher Art auf die Optimierung des Natur-Kulturverhltnisses. Diese Selbsterhaltung nennt Nietzsche auch „Wille zum Leben“ oder „Wille zum Glck“. So entwirft die Frçhliche Wissenschaft das Ideal einer „grossen Gesundheit, einer strkeren gewitzteren zheren verwegeneren lustigeren als alle Gesundheiten bisher waren, welche man nicht nur hat, sondern auch bestndig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muß“ (FW, KSA 3, 636). Hinter diesem ersehnten Zustand eines knftigen Menschen taucht noch ein anderes Ideal auf: „das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus berstrçmender Flle und Mchtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberhrbar, gçttlich hiess“ (FW, KSA 3, 637). 2
Aaron Antonovsky, Salutogenese: Zur Entmystifizierung von Gesundheit, Tbingen 1997.
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Nietzsche versteht sich auch hier einmal mehr als Umwerter aller Werte und als gegen die Tradition stehend; galt der leidende Mensch nur allzu oft als der verfehlte Typus einer prstabilisierten Harmonie, so ist in seinen Augen erst der leidende postmetaphysische Mensch in seinem artistisch-sthetischen Transformationsvermçgen befhigt zur Erringung tragisch-dionysischer Lebenslust, zu jenem Orgiasmus eines berstrçmenden Lebens- und Kraftgefhls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulanz wirkt: Die Flle der Arten des Leidens fllt wie ein unendlicher Schneewirbel auf einen solchen Menschen, wie ebenfalls an ihm die strksten Blitze des Schmerzes sich entladen. Allein unter der Bedingung, von allen Seiten und bis ins Tiefste hinein dem Schmerze immer offen zu stehen, kann er den feinsten und hçchsten Arten des Glckes offen stehen; als das empfindlichste reizbarste gesundeste wechselndste und dauerhafteste Organ der Freude. (NF, KSA 9, 641)
Eine solche Teleologisierung des Gesundheitsbegriffes mit der Polaritt der Selbstverschwendung und der Selbstbeherrschung ist auf Nietzsches persçnlichste Erfahrungen maßgeschneidert und wir erahnen, wie viel an Selbsthass auf die eigene Schwchlichkeit und den mehr als mhseligen, immer prekren Alltag abgewehrt werden musste. Um keinen Preis will Nietzsche ein medikalisierter Patient nach den Regeln der brgerlichen Schulmedizin seiner Zeit sein,3 glaubt auch nicht an eine heilsame ArztPatient-Beziehung, eher an die Selbstberwindung, wie er im Fall Wagner 1888 bekennt: „Die Krankheit selbst kann ein Stimulans des Lebens sein: nur muß man gesund genug fr dies Stimulans sein!“ (WA, KSA 6, 22). Von dieser Position aus erhellt sich die eigenartige Dialektik der folgenden Stelle aus Ecce homo, in der Stolz auf die eigene Lebenstapferkeit, der Wille zur Selbstdisziplinierung und illusionre Selbstverkennung nahe beisammen stehen: Abgerechnet nmlich, dass ich ein dcadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafr ist […] dass ich instinktiv gegen die schlimmen Zustnde immer die rechten Mittel whlte: whrend der dcadent an sich immer die ihm nachtheiligen Mittel whlt. Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Specialitt war ich dcadent. Jene Energie zur absoluten Vereinsamung und Herauslçsung aus gewohnten Verhltnissen, der Zwang gegen mich, mich nicht mehr besorgen, bedienen, b e r z t e l n zu lassen – das verrth die unbedingte Instinkt-Gewissheit darber, w a s damals, vor allem noth tat. Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zu3
Rudolf Kser, Arzt, Tod und Text, Mnchen 1998, S. 205.
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geben – ist, dass man im Grunde gesund ist […] ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum L e b e n meine Philosophie. (EH, KSA 6, 266)
3. Nietzsches Leben als Leidensgeschichte Es ist nicht verwunderlich, dass Nietzsche selbst ebenso wie seine zahlreichen rztesich ber die Ursache seiner Erkrankungen letztlich nicht im Klaren waren, blieben doch seiner Zeit, da labormedizinische Nachweise und invasive diagnostische Methoden fehlten, die Krankheitsursachen çfters spekulativ. Nietzsche deutete seine Beschwerden im Sommer 1888 als Ausdruck einer tiefgreifenden extremen Irritabilitt, als Teil einer nervçsen „Gesammt-Erschçpfung“ und zwar hereditr vom Vater her erworben, der auch nur an Folgeerscheinungen des Gesamt-Mangels an Lebenskraft gestorben sei.4 Auch die Autobiographie Ecce homo (1888) beginnt mit der berhmten Gnome: „Das Glck meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhngniss: ich bin, um es in Rthselform auszudrcken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt.“ (EH, KSA 6, 264) Nietzsches Vater, der Pastor Karl Ludwig Nietzsche (1813 – 1849) war ein hochsensibler, musikalisch begabter, von Kindheit an unter Kopfschmerzen leidender Mann von schwacher Konstitution, der an einem Gehirntumor (vermutlich einem Gliom) im Alter von 36 Jahren verstarb. Bisher waren sich alle Biographen einig, dass dieses Trauma des frhen Todes des Vaters, den der Knabe Friedrich im Alter von 4 Jahren elendiglich, erblindet und vor Schmerzen brllend zugrunde gehen sah, Nietzsches Leben berschattet hat und ihn in einem bedeutsamen Entwicklungsfenster, nmlich der çdipalen Phase, entscheidend getroffen hat. Ich mçchte frher ansetzen und bei Nietzsche von einer narzisstischen Stçrung ausgehen. Ich meine damit (in Anlehnung an Heinz Kohut) ein Konzept von Narzissmus5 im Sinne einer Stçrung des Selbst-RegulationsVermçgens, das Ergebnis einer zentralen Liebesversagung in der Kindheit ist – mit der Folge, dass das Ich seine Libido von der Welt abzieht und auf sich zurckfhrt. Ich sehe Nietzsche dabei weniger als Opfer einer an4 5
Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinischbiographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 80. Zit. n. Pia Daniela Schmcker, Nietzsche in psychoanalytischer Sicht, in: Publikationen des Nietzsche-Forums 4 (2008), S. 376 – 396, hier: S. 368.
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geblich kalten, berforderten, bigotten, prden Franziska Nietzsche, sondern vermute, dass eine subtile Interaktions-Stçrung Mutter und Sohn von Geburt an entzweite und bei ihm ein lebenslanges schmerzliches Gefhl des Allein-Seins zurckließ. ber die Grnde des Scheiterns dieses Mutter-Kind-Paar hat der beste Kenner der Kindheitsjahre Nietzsches, der Dortmunder Philosophie-Professor Hermann-Josef Schmidt einige Anhaltspunkte gegeben. Er fand heraus, dass Nietzsche wenige Tage nach seiner Geburt wegen Brustentzndung von seiner Mutter nicht mehr gestillt werden konnte und die mtterliche Brust auch nach Abheilung derselben verweigerte, die einer Naumburger Amme Hanna aber acht Monate lang akzeptierte. Es gibt Hinweise, dass Franziska – neidisch auf die Nebenmutter – diese bald wieder aus dem Haus haben wollte und bei ihren beiden anderen Kindern das Glck betonte, selbst gestillt zu haben. Neuerdings entzifferte Briefe ergeben, dass Nietzsches Vater der Amme nach 8 Monaten abrupt kndigte, um seinen Sohn nicht zu verzrteln. Auf eine atmosphrische Stçrung des Kontakts deutet auch Nietzsches sptes Bekenntnis, er mçge die Stimme seiner Mutter nicht. Nietzsche war ein introvertiertes, melancholisches, hochsensibles Kind, das schon vor dem 10. Lebensjahr zahlreiche Gedichte schrieb, komponierte und von sich bekannte, im Alter von sieben Jahren habe er bereits gewusst, dass ihn nie ein menschliches Wort erreichen wrde. Aufgrund des Sammelfetischismus seiner Schwester Elisabeth gibt es kein anderes namhaftes Kind des 19. Jahrhunderts, von dem derartig viele Kindheitsaufzeichnungen vom 6. Lebensjahr an erhalten sind. In die Zeit zwischen dem 9. und 14. Lebensjahr fallen sechs autobiographische Versuche. Schmidt deutet die Jugenddichtung Nietzsches insgesamt als autotherapeutischen Aufarbeitungsversuch seiner christogenen Neurose, als einen Selbstbefreiungsversuch, der durch die Einweisung in das klçsterliche strenge Internat Schulpforta jh unterbrochen wurde. In der pubertren Schwellensituation, nmlich dem Abschied von Naumburg als Mutterort und der bevorstehenden bersiedlung nach Schulpforta arbeitet der 13-jhrige Nietzsche an seiner Autobiographie Aus meinem Leben (1858). Der Text ist Ausdruck einer Selbstvergewisserung und des Bemhens flchtige Erinnerungen festzuhalten; einige Seiten, die Mutter betreffend, sind herausgerissen und nicht erhalten. Der Grundton ist wehmtig, in die Schilderung der Dorfidylle fllt bald der Schatten des Unheimlichen (eine angsterregende Statue des hl. Georg in der vterlichen Pfarrkirche) und der Schock des Vatertodes. Nietzsches schildert hier erstmals einen Traum, den er als 5 1/4-Jhriger unmittelbar vor dem Tod
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seines 2-jhrigen Brderchens Josef gehabt haben will (Ende Jnner 1850): Im Traum entsteigt der Vater dem Grab, kehrt mit einem kleinen Kinde im Arm wieder und steigt wieder in den Grabhgel. Die Orgel schweigt.6 Der Vater, der als Todesengel den kleinen Bruder entfhrt… – verrt sich darin nicht auch die Kinderangst, selbst geholt zu werden? Im Horizont der Theodizee-Frage mochte Nietzsche durchaus gehadert haben: Warum kann Gott meinen Vater nicht retten? Warum durfte der Bruder und nicht ich mit in den Himmel? Es hier nicht der Ort, um auf die verschiedenen Facetten von Nietzsches Vaterbild nher einzugehen: den frhen Vater der Zaubermacht Musik, des freien Phantasierens am Klavier, den strafenden, zchtigenden Vater … auffllig bleibt jedenfalls Nietzsches Idealisierung des Toten, die – bis hin zur bereits zitierten Stelle des Ecce homo – mit einem traurigen narzisstischen Triumphgefhl des einzigen mnnlichen berlebenden in der Familie einhergeht. Schmidt bezeichnet denn auch die Rekonstruktion, Nietzsche kçnne sich unbewusst als magischer Mçrder seines Vaters und Brderchens verstanden haben als entsetzlichste und modrigste Gruft Nietzschescher Innerlichkeit. Die Wirkung des traumatischen Verlustes kçnnen wir uns u. a. als Internalisierung eines strengen ber-Ichs vorstellen (das Gewissen sozusagen als ewige Wiederkehr des toten bzw. des todbringenden Vaters) oder auch als revanchierende Umkehrung: der vaterlose Nietzsche ruft den Tod Gottes aus. Mit anderen Worten: Nietzsches Identifizierung (als mein Vater bin ich bereits gestorben) weist daraufhin, dass er sich aufgrund unbewusster Schuldgefhle nicht zu ent-identifizieren vermochte und in einer pathologischen Trauer verharrte, so dass in Alptrumen und Halluzination der Vater als Dmon ihn lebenslang heimsuchte. Die Wiederaufrichtung des verlorenen Objektes, gegen das sich die Aggression richtet, im eigenen Ich ußerte sich bei ihm denn auch als massive Selbstaggressivitt. Hier hat die junge Lou Salom einen wesentlichen Zug von ihm erfasst, als sie von Nietzsche als diesem „Sadomasochisten“ an sich selbst sprach.7 Auch der Psychoanalytiker Lon Wurmser betont in zwei, innerhalb der Nietzsche-Forschung wenig wahrgenommenen pathographischen Nietzsche-Beitrgen, dass fr Nietzsche Bloßstellung, Schwche, Krankheit, Degeneration, Opfertier zu sein – als kardinaler Schamkonflikt – der zentrale Konfliktinhalt seiner persçnlichen Biographie wie seiner Philo6 7
Zit. n. Pia Daniela Schmcker, Nietzsche in psychoanalytischer Sicht, in: Publikationen des Nietzsche-Forums 4 (2008), S. 372. Zit. n. Pia Daniela Schmcker, Nietzsche in psychoanalytischer Sicht, in: Publikationen des Nietzsche-Forums 4 (2008), S. 378.
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sophie gewesen sei.8 Er sieht diesen Konflikt Nietzsches innerhalb des ber-Ichs tief in Kategorien der Analitt verwurzelt sei (aus dem Ideal der Reinlichkeit stammt der Ekel am Menschen, aus dem Sturz des alten berIchs die neuen Werte). Auch fr den Depressionsspezialisten Benedetti sind Nietzsches psychosomatische Symptome Ausdruck einer larvierten Depression, seine Philosophie die stndige Projektion eines eigenen ambivalent erlebten ber-Ichs.9 Dieses Splitting im ber-Ich besteht in der Kompensation des eigenen Leidens durch das Gegenbild der Großen Gesundheit und andererseits in der Verleugnung der eigenen Krnklichkeit und der Verachtung allen Mitleids mit einem nach außen projizierten Selbsthass, indem Nietzsche Grausamkeit und Askese als Grundzge der christlichen Moral hervorhob. Als „Pflanze“ sei er nahe dem Gottesacker, als „Mensch“ in einem Pfarrhaus geboren, bekannte der 14-jhrige Nietzsche von sich und fhlte sich in seiner musikalischen Begabung, aber auch in seiner nervlichen Hyperirritabilitt mit hufigen Kopfschmerzen dem Vater zutiefst verwandt. Bereits als Grundschler litt er an Kopf- und Augenschmerzen (Kopfcongestionen, d. h. Blutandrang nach dem Kopfe), mit bedingt durch starke Kurzsichtigkeit von zunchst -6 Dioptrieen bei gleichzeitigem Schielen. Der Gymnasiast war zudem wegen rheumatoider Erkltungen hufig auf der Krankenstube (mit Kopf- und Gelenkschmerzen, die durch Schrçpfen und Cantharidenpflaster behandelt wurden). Seine psychischen Erregungszustnde dieser Zeit bezeichnete er spter als ,epileptoid. Der franzçsische Psychiater Morel sprach von einer psychischen Epilepsie mit leichter Erregbarkeit, zorniger Reizbarkeit ohne epileptische Anflle im eigentlichen Sinn. Nietzsche griff diese Idee auf und nannte den plçtzlichen Umschlag, den Wechsel von Stimmungsextremen z. B. in der Morgenrçte eine „maskirte Epilepsie“ (M, KSA 3, 82).10 Von der Studienzeit an litt er an Migrne-Anfllen, mit Aura-Phnomen (die Welt erschien ihm verklrt), Lichtscheu, Augenflimmern, GalleErbrechen und Magen-Darmschwchen – tagelangen Anfllen, die durch Reisen und Aufregungen hervorgerufen oder verschlimmert wurden. Seine Kopfneuralgie wurde rein symptomatisch behandelt (mit Beruhi8 Lon Wurmser, Das Rtsel des Masochismus: psychoanalytische Untersuchungen von ber-Ich-Konflikten und Masochismus, Berlin 1993, S. 459, vgl. auch S. 505. 9 Zit. n. Pia Daniela Schmcker, Nietzsche in psychoanalytischer Sicht, in: Publikationen des Nietzsche-Forums 4 (2008), S. 373. 10 Pia Daniela Schmcker, Nietzsche in psychoanalytischer Sicht, in: Publikationen des Nietzsche-Forums 4 (2008), S. 375.
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gungsmitteln wie Brom, Elektrisieren oder Trink- und Badekuren). Im Deutsch-franzçsischen Krieg 1870 hatte er sich zudem bei einer kurzen Ttigkeit als Sanitter eine Ruhr zugezogen, die eine chronische Gastritis mit einer Magenerweiterung zur Folge hatte. Er nahm deswegen Brechmittel (z. B. Ipecacuanha, Nux vomica (Brechnuss) und zur Bekmpfung seiner Verdauungsschwche hufig Abfhrmittel wie z. B. Rharbarber). Ditplne wurden von ihm minutiçs entworfen und oft wieder verworfen: der Art der Ernhrung schrieb er bekanntlich einen direkten Einfluss auf der Verfassung des Geistes zu. Doch das Problem der Dyspepsie (der Verdauungsschwche) im weitesten Sinn blieb ein stndiger Begleiter, auch wenn Nietzsche, der seinen Magen als Vater der Trbsal und sein Gedrm, vergiftet durch Arzneien als das langweiligste der Welt bezeichnete, durch den Aufenthalt in stimulanten Klimata (wie dem Engadin) Abhilfe zu schaffen suchte. Im Ecce homo wird dieses individuelle Problem jedenfalls zum nationalen deklariert: „Der deutsche Geist ist eine Indigestion, er wird mit Nichts fertig“ (EH, KSA 6, 279 ff.). Deshalb verachtete Nietzsche auch die Stubenhocker und schrieb seine Gedanken nicht am Schreibtisch, sondern beim stundenlangen tglichen Wandern auf. Das Resultat sind ber 50 Notizbcher mit extrem schwer entzifferbaren hingekritzelten Notizen. Sein tgliches Lektrepensum wurde zu seinem Leidwesen durch die Augen- und Kopfschmerzen sehr begrenzt. Als Ursache der letzteren wurde von seinen rzten eine Neurose des Sympathicus eine chronische Kopfneuralgie bzw. eine chronische Reizung der Hirnhute (Menigealreizung) in Erwgung gezogen. Um die Jahreswende 1875 erlitt Nietzsche im Alter von 31 Jahren einen ersten Zusammenbruch, den er wie folgt kommentierte: …ich durfte nicht mehr zweifeln, dass ich an einem ernsthaften Gehirnleiden mich zu qulen habe, und dass Magen und Augen nur durch diese Centralwirkung zu leiden hatten. Mein Vater starb 36 Jahr an Gehirnentzndung, es ist mçglich, dass es bei mir noch schneller geht… wenn nur wenigstens die frchterlichen tagelangen Anflle ausbleiben wollten! (An Carl von Gersdorff, KGB II/5, Bf. 498)
1879, das Jahr, in dem er schließlich seine Basler Professur im Alter von 35 Jahren aufgeben musste, zhlte er 118 schwere Anfallstage. Was das Augenleiden anbelangte, so verstrkte sich die Schwachsichtigkeit des rechten Auge (mit nur mehr 1/5 Sehvermçgen) und schwankte immer wieder zwischen -13 und -20 Dioptrieen. 1873 wurden leichte Ablagerungen (Granulationen) beidseits, 1877 dann erstmals eine chronische Ader- und Regenbogenhautentzndung (Chorio-Retinitis centralis) im rechten Auge konstatiert, welche zur Wahrnehmung von missgestalteten, verzerrten
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Bildern fhrte und das Lesen zeitweise verunmçglichte. In den achtziger Jahren bezeichnete sich Nietzsche als einen Sieben-Achtel-Blinden und klagte bitterlich ber die zeitweiligen entzndlichen Verschlechterungen mit Trnenfluss, Schmerzen, Schleiern vor den Augen und extremer Lichtempfindlichkeit. In der Jenaer Klinik fielen dann 1890 die Pupillendifferenz und eine reflektorischen Pupillenstarre auf (die rechte Pupille war weiter und ohne Lichtreaktion). Diese erst einseitig, dann beidseitig bis zum Tod ber mehr als 25 Jahre chronisch verlaufende Augenentzndung (Uveitis) ist ein mçgliches Indiz fr eine syphilitische Infektion. Die Infektion selbst kçnnte whrend der Studentenzeit in Leipzig bei einem Bordellbesuch (1866) erfolgt sein. Nietzsche selbst meinte, sich mit Gonorrhoe, also Tripper angesteckt zu haben (ber eine angebliche Behandlung durch Leipziger rzte gibt es aber keinerlei Dokumente). Klinisch war seinerzeit jedenfalls eine einwandfreie Unterscheidung von Syphilis und Gonorrhoe nicht mçglich. Weiteres Indiz fr eine syphilitische Infektion ist der in der Jenaer Klinik konstatierte Genitalbefund: Narbe rechts vom Frenulum. Von seiner Schwester zum asexuellen Heiligen, zum Urbild sanfter Mnnlichkeit stilisiert, war Nietzsches vielmehr ein passionierter Erotiker, der unter seiner Neigung zur latenten Homosexualitt litt, wobei Joachim Kçhler die Vorstellung entwickelte, Nietzsche habe seine verborgenen Lste mit sizilianischen Hirtenknaben ausgelebt.11 Uns scheint, dass Nietzsche abgesehen von gelegentlichen Kontakten zu Prostituierten (dies ist aus Italien berliefert) keine lnger dauernde intime Liebesbeziehung weder zu einem Mann noch zu einer Frau hatte. Im Umgang mit Frauen suchte er intellektuelle Kameradinnen, denn das Weibliche war ihm zutiefst unheimlich, das widerliche Geheimnis der Zeugung ekelte ihn und die Ehe, um die er sich in verschiedenen berstrzten und damit scheiternden Heiratsantrgen bemhte, erschien ihm nur als eine Versorgungsanstalt. Einen schmerzlichen Vertrauensbruch im Verhltnis zu Richard Wagner ergab sich durch das factum brutum, dass dieser mit Nietzsches Arzt Dr. Eiser ausfhrlich ber die Krankheitsursachen spekulierte: Wagner ging bei Nietzsche von der nervenzerrttenden Wirkung exzessiver Onanie aus, was Eiser – unter Bruch der rztlichen Schweigepflicht – zu widerlegen suchte. Nietzsche hat aus dem schmerzlichen Leiden an seiner unausgelebten Sinnlichkeit seine im wollstig gedrngten Stil festgehaltenen Visionen des 11 Joachim Kçhler, Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlsselte Botschaft, Nçrdlingen 1989, S. 449 f.
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schçnen gesunden Kçrpers in einer wiedergeborenen Antike auf dem Papier ausgelebt, wobei er seine schizoid-narzisstische Beziehungsstçrung zur Heroisierung der Einsamkeit umstilisierte und im zweiten Teil von Menschliches, Allzumenschliches (1880) in Der Wanderer und sein Schatten sich seinen reflexiven Doppelgnger erschuf. In den Jahren von 1880 an wurde Nietzsches sehr erschreckt von der Intensitt seiner Gefhle, die zwischen starken depressiven Verstimmungen und rauschhaften Glcks- und Inspirationszustnden schwankten: Ein Gefhl von Welt-Fremdheit, Vorber-Eilendem, Wanderer-haftem sitzt sehr tief in mir drin […] mein Gefhl, sei es des Angenehmen oder des Unangenehmen, hat so heftige Explosionen, daß ein Augenblick […] hinreicht […] mich vollkommen krank zu machen (etwa 12 Stunden spter ist es entschieden, es dauert 2 – 3 Tage),
heißt es in einem Brief vom 9. Juli 1883 (An Franz Overbeck in Basel, KGB III/1, Bf. 431), also aus der Zeit der Arbeit an seinem Werk Also sprach Zarathustra. Er litt in dieser Zeit auch am Gerdert-Werden durch den Zwiespalt entgegengesetzter Affekte und die Krnkung ber die Zurckweisung durch Lou Salom brachte ihn an den Rand des Selbstmords, so dass der „Tausendknstler der Selbstberwindung“ verzweifelt nach dem „Alchemisten-Kunststck“ suchte, „aus diesem Kothe – G o l d zu machen“ (An Franz Overbeck in Basel, KGB III/1, Bf. 365). In diesen Jahren verschlimmerte sich auch die neurologische Symptomatik mit stundenlangen Krampferscheinungen sowie einem „der Seekrankheit eng verwandtem Gefhl einer Halb-Lhmung, wo mir das Reden schwer wird“ (An Otto Eiser, KGB III/1, Bf. 1) sowie lngeren Bewusstlosigkeiten.12 Es ist differentialdiagnostisch am ehesten an eine Migraine accompagn zu denken, die durch den entzndlichen (mçglicherweise syphilitischen meningo-encephalitischen) Hirnprozess berlagert wurde. Beunruhigt durch seine nervçsen Erscheinungen, beschftigte sich Nietzsche intensiv mit der Medizinliteratur seiner Zeit,13 um das 1869 eingefhrte Krankheitsbild der Neurasthenie (einer nervçsen reizbaren Schwche) auch an sich zu entdecken. Er subsumierte allerdings deren Symptome wie Konzentrationsschwche, rasche Erschçpfbarkeit, Muskelkrmpfe usw. unter dem Begriff der physiologischen dcadence. 12 Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinischbiographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 69. 13 So las er Werke wie z. B. Ludwig Lçwenfelds, Die moderne Behandlung der Nervenschwche, der Hysterie und verwandter Leiden (1887).
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Die Briefe der achtziger Jahre sind voller Klagen ber die Marter seiner Existenz, die nur auszuhalten sei, wenn er schreibe, ber sein Hundeleben und vor allem ber seine Einsamkeit. An seinen Freund Overbeck am 5. 8. 1886: Wenn ich Dir einen Begriff meines Gefhls von Einsamkeit geben kçnnte! Unter den Lebenden so wenig als unter den Todten habe ich Jemanden, mit dem ich mich verwandt fhle. Dies ist unbeschreiblich schauerlich; und nur die bung im Ertragen dieses Gefhls […] machts mir s begreiflich, dass ich daran noch nicht zu Grunde gegangen bin. – Im brigen liegt die Aufgabe, um deren willen ich lebe, klar vor mir – als ein factum von unbeschreiblicher Traurigkeit, aber verklrt durch das Bewußtsein, dass Grçße darin ist, wenn je der Aufgabe eines Sterblichen Grçße eingewohnt hat.– (An Franz Overbeck, KGB III/3, Bf. 729)
Durch die Einsamkeit fhlte er sich „tçdlich verwundet“ und hatte auch zu den rzten kein Zutrauen mehr: in Reaktion auf seine Enttuschung an deren Herumdoktern griff er nun immer çfter zur Selbsttherapie. So entdeckte er z. B. nach der Lektre von Schsslers Behandlung der Krankheiten auf biochemischem Wege (einer Variante der Homçopathie) Kalium phosphoricum als sein stimmungshebendes antimelancholisches Medikament.14 Teils notierte er sich Rezepturen in seine Notizbcher, wo sie als Notate unvermittelt neben Vorstufen zu Aphorismen stehen. Als ein Beispiel sei nur Asa foetida, ein therisches l namens Stinkasanz oder Teufelsdreck erwhnt, das er neben Opium und Chloralhydrat gegen seine qulende Schlaflosigkeit gebrauchte. Teils bat Nietzsche, wenn er im Ausland weilte, Mutter und Schwester um Besorgungen in der heimischen Apotheke in Naumburg, teils schrieb er sich jedoch auch selbst Rezepte aus, die er mit Dr. Nietzsche unterzeichnete und in italienischen Apotheken einlçste. Insgesamt sind ca. 90 Rezepte, Arzt- und Apothekenrechnungen von Nietzsche erhalten. Zudem sind die Behandlungen durch etwa 30 verschiedene rzte bezeugt.
4. Nietzsches Zusammenbruch Nachdem er neun Jahre lang ein unstetes Wanderleben gefhrt hatte, in der Hoffnung, seine Beschwerden wrden in dem ihm gemßen mediterranen Klima schwinden, glaubte Nietzsche sich schließlich 1888 in Turin am Ziel 14 Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinischbiographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 177.
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seiner Suche. In einem hypomanischen Schaffensrausch stellte er in der zweiten Jahreshlfte, teils in berarbeitung frherer Vorstufen, sechs Werke zusammen (unter anderem die Gçtzendmmerung und den Antichrist) und entfaltete gegen Jahresende eine hektische Betriebsamkeit, um seinem Werk endlich die gebhrende Wirkung (mit erhofften Auflagen in Millionenhçhe) zu verschaffen. Der polemische Ton seiner Schriften wurde immer schrfer, beinahe alle bestehenden Freundschaften wurden abgebrochen, die Stimmung wurde immer euphorischer, das Selbstbewusstsein enorm gesteigert. Sein Lebensgefhl wurde nun bestimmt von einem Beziehungswahn: alles kam im rechten Augenblick zupass, der Zufall war abgeschafft. Mit der Stimmungseuphorie einher ging eine Gefhlslabilitt, Trnen bei den strksten Konzert-Eindrcken seines Lebens einerseits, aber auch gesteigerte Aggressivitt wie z. B. in seiner „Kriegserklrung an das Haus Hohenzollern“. Diese Umbruchsphase lsst sich nicht in allen Details rekonstruieren, aber wir kçnnen davon ausgehen, dass der sogenannte Zusammenbruch Anfang Januar 1889 nicht ganz so plçtzlich erfolgt ist, wie oft dargestellt. Bereits im Dezember wurde Nietzsche von einem Turiner Psychiater mit Beruhigungsmitteln behandelt. Um die Jahreswende geriet er in einen Zustand manischer Exaltation: er spielte Tag und Nacht berlaut Wagnersche Musik, trank Unmengen Wasser, zerriss Geldscheine, tanzte nackt wie ein Satyr in hçchster Erregung durchs Zimmer und fiel auf der Straße durch das Umarmen von Passanten auf. Nietzsche fhlte sich jetzt als „Courier du grand monde“ (An Jacob Burckhardt, KGB III/5, Bf. 1256) und sandte an Freunde und Unbekannte zahlreiche Botschaften auf Bttenpapier in großen Lettern, die sog. ,Wahnsinnsbriefe, die er teils als Christus, teils als Dionysos unterzeichnete und in denen er kundtat, er habe sein Reich angetreten und werde die knftigen Geschicke der Welt bestimmen. In diesen Briefen mischen sich Reminiszenzen an Erlebnisse der jngsten und ferneren Vergangenheit mit lebensgeschichtlichen Motiven, die den Prozess der Auflçsung im psychotischen Wahn widerspiegeln: „In diesem Herbst war ich … zwei Mal bei meinem Begrbnisse zugegen, zuerst als conte Robilant (– nein, das ist mein Sohn, insofern ich Carlo Alberto bin, meine Natur unten) aber Antonelli war ich selbst.“ (An Jacob Burckhardt, KGB III/5, Bf. 1256) Die Identitt des Philosophen Nietzsche, der immer von der umfnglichsten Seele getrumt hatte und den traditionellen Subjekt-Begriff relativierte und destruierte, lçste sich nun auf in ein Kaleidoskop von Figuren, von ideenflchtigen Selbstbildern, die mit dem Material spielen, das
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den zuvor schon getragenen Masken des poetischen Ichs gleicht. Ein Brief vom 3. Januar 1889 an Cosima Wagner lautet z. B.: An die Prinzeß Ariadne, meine Geliebte. Es ist ein Vorurtheil, daß ich ein Mensch bin. Aber ich habe schon oft unter den Menschen gelebt und kenne Alles, was Menschen erleben kçnnen, vom Niedrigsten bis zum Hçchsten. Ich bin unter Indern Budha, in Griechenland Dionysos gewesen, – Alexander und Caesar sind meine Inkarnationen, insgleichen der Dichter des Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich noch Voltaire und Napoleon, vielleicht auch Richard Wagner…dies Mal aber komme ich als der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird… Die Himmel freuen sich, daß ich da bin…Ich habe auch am Kreuze gehangen. (An Cosima Wagner, KGB III/5, Bf. 1241)
Nietzsche hat der Literarisierung seines Schicksals durch die Wahl seiner Selbststilisierungen zweifelsohne Vorschub geleistet. Wie dies in den letzten Texten vor dem Zusammenbruch erfolgt, hat Detering sorgsam und behutsam jenseits der pathografischen Diskussion analysiert.15 Immer wieder wurden Stimmen laut, die in Nietzsches Wahnsinn keinen psychopathologischen Fall sehen, sondern in ihm einen genialen Simulanten in der Art eines Hamlet erblicken, der mit Possenreißer-Gebrden seine Umwelt in die Irre fhrt.16 Infolge einer Rckkehr des Verdrngten taucht demnach in der Turiner Inszenierung ein Anti-Nietzsche auf, der in einer letzten geistigen Aufgipfelung zur vollen Apotheose seiner Lebensthematiken (1994) gelangt.17 Auch fr Werner Ross erweist sich sowohl in seiner Biographie Der ngstliche Adler (1994) als auch in seinem Werk Der wilde Nietzsche (1994) eine Leitlinie im Leben dieses ungemein hçflichen Menschen und disziplinierten Schriftstellers als dominierend: der Durchbruch zur eruptiven Befreiung von falschen Huten unter dem Motto Alle Wege fhren zum Wahn. Auch in Thomas Manns Roman Doktor Faustus (1947) dient die Geschichte des Komponisten Adrian Leverkhn als Exempel eines hochprekren Knstlerlebens, das von Frigiditt und Sterilitt bedroht, der Enthemmung bedurfte – nach dem Vorbilde Nietzsches gestaltet. Die syphilitische Infektion dient hier der Genialisierung des Knstlers und gert zugleich zur Zeitparabel fr den Wahnsinn des Dritten Reiches im Bild eines Teufelpaktes. Wolf Dietrich hat jngst – unter Berufung auf C.G. Jung – erneut Zweifel an der Syphilis15 Heinrich Detering, Der Antichrist und der Gekreuzigte. Friedrich Nietzsches letzte Texte, Gçttingen 2010. 16 Karl Heinz Bohrer, Nietzsches ,Wahnsinn im kulturellen System, in: ders., Plçtzlichkeit, Frankfurt 1981, S. 139 – 160. 17 Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus, Mnchen 1986.
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Hypothese vorgebracht und sieht Nietzsches Leben als gefhrliches Experiment, sich dem individuellen Wahnsinn einer schizoaffektiven Psychose auszusetzen, um dem kollektiven Wahnsinn der abendlndischen Kultur zu entkommen.18 Nietzsche wurde Anfang Januar 1889 von seinem Freund Overbeck in die Basler Psychiatrische Klinik Friedmatt gebracht. Whrend des 8-tgigen Aufenthaltes hielt die Erregung unvermindert an. Die Diagnose „Progressive Paralyse“19 stand alsbald fest und basierte auf einem klinischneurologischen Befund, da Laboruntersuchungen wie z. B. die Wassermann-Reaktion (als serologischem Syphilis-Nachweis) seiner Zeit noch nicht existierten. Unter den verschiedenen organischen Defektpsychosen war die Dementia paralytica, die im Ausgang des vorigen Jahrhunderts mit 10 – 20 Prozent aller Flle zu einer Einweisung in eine psychiatrische Klinik fhrte, keine Raritt. Berhmte Patienten des 19. Jahrhunderts sind neben Nietzsche Lenau, Schumann, Donizetti, Rethel, Makart und Maupassant, um nur einige zu nennen. Bei Nietzsche lassen sich ein Prodromalstadium (Turiner Herbst 1888) ein Exaltations- oder Hçhestadium (Klinikzeit 1889/ 1890) abgrenzen von dem – von Sommer 1890 an – sich allmhlich verschlimmernden Prozess einer Regression, der ber die Reduktion der einstigen Musikalitt auf bloße Rhythmik und den Verlust der schriftlichen und mndlichen Artikulationsfhigkeit schließlich ganz ins Verstummen fhrte. Auf Intervention der Mutter erfolgt im Januar 1889 eine Verlegung in die Psychiatrische Klinik Jena. Whrend des dortigen Aufenthalts von einem Dreivierteljahr wechselte Nietzsches Befinden zwischen ruhigeren Phasen und heftigen Erregungs- und Verwirrungszustnden, mit Denkinkohrenz, Merkfhigkeitsstçrungen, zeitlicher und çrtlicher Desorientiertheit, Apathien, abwechselnd mit aggressiven Durchbrchen, sowie optischen und akustischen Halluzinationen. Die wenigen erhaltenen Notizen aus der Klinikzeit bestehen aus Namen und Wortfetzen in verschieden Sprachen (deutsch, franzçsisch, italienisch) sowie Kompositionsfragmenten. Ein halbes Jahr lang wurde eine milde Quecksilberkur durchgefhrt, von der man sich, wenn schon nicht Heilung, so doch gnstige Beeinflussung des Krankheitsverlaufes versprach. Der Verlauf dieses hirnorganischen Psychosyndroms mit zunehmender Wesensvern18 Wolf Dietrich, Nietzsche Oedipus: eine psychologische Analyse, Goslar 2010. 19 Volz, Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 214.
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derung wurde durch sogenannte Remissionen (Besserungen) unterbrochen. Vom Jahresbeginn 1890 an wurde der Mutter gestattet, die Tage mit ihrem 45-jhrigen Sohn außerhalb der Klinik zu verbringen. Er war noch imstande, Klavier zu spielen und gelegentlich recht klare lange Unterhaltungen ber die weiter zurckliegende Vergangenheit zu fhren. Vereinzelt sind auch Aufzeichnungen erhalten, die noch der Entzifferung harren.20 Im Frhjahr 1890 kehrte Nietzsches Mutter dann mit ihrem kranken Sohn in ihr Wohnhaus nach Naumburg zurck, um sich dort ganz der Pflege des Kranken zu widmen und auf Besserung zu hoffen. Unerwartetes Aufschreien und Gangstçrungen nahmen zu. 1893 und 1895 traten motorische Reizerscheinungen (stundenlanges Reiben der Brust) auf. Von 1892 an machte sich die Sprachstçrung immer gravierender bemerkbar: er wiederholte stehende Stze wie z. B. „ich bin tot weil ich dumm bin“ oder „ich bebe keine Pferde“ statt „liebe keine Pferde“; auch sagte er oft „summarisch tod“.21 Alles was ihm gut oder lecker erscheint, wie ein Stck Torte, bezeichnete er als ein gutes Buch. Von 1893 an konnte er nur noch im Rollstuhl ausgefahren werden und war ein Jahr spter kçrperlich ganz zusammengehutzelt, schwach und klein. Im Sommer 1898 wurde Nietzsche von dem Jenaer Psychiater Theodor Ziehen besucht, der ihn schon whrend der Klinikzeit betreut hatte. Er wiederholte sein Urteil „unheilbar“, war aber frappiert ber die lange Krankheitsdauer. In seinem Psychiatrielehrbuch von 1902 schreibt er: „Der Gesamtverlauf der Krankheit erstreckt sich beim Manne ber 3 – 4 Jahre, bei der Frau ber 5 – 6 Jahre.“ In der Anmerkung heißt es: „Ganz ausnahmsweise hat man eine mehr als zehnjhrige Dauer beobachtet“. Hatte hier Ziehen Nietzsches 11-jhrige Krankheitszeit im Auge?22 Als einen Grund hierfr drfen wir die ausgeklgelte Pflege der Mutter mit einem System von Bdern, Massagen und Bewegungsbungen sehen, die nach deren Tod 1897 von der treuen Wrterin Alwine weitergefhrt wurde. Von seiner Schwester Elisabeth Fçrster-Nietzsche wurde Nietzsche dann im Sommer 1897 in die Villa Silberblick nach Weimar umgesiedelt. Seine letzten drei Lebensjahre verbrachte er im Endzustand einer Demenz mit weitgehender Unfhigkeit 20 Pia Daniela Schmcker, Nietzsche in psychoanalytischer Sicht, in: Publikationen des Nietzsche-Forums 4 (2008), S. 383. 21 Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinischbiographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 279. 22 Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinischbiographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 291.
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zu sprechen und sich zu bewegen (zwei Schlaganflle traten 1898 und 1899 auf). Es gibt keinen Beleg dafr, dass er bewusst noch aufgenommen htte, an welchem Orte er sich befand. Doch die Schwester, die sich lngst zur Nachlassverwalterin und intimen Kennerin seiner Biographie aufgeschwungen hatte, wollte eine Besserung konstatiert wissen und fhrte den Kranken auserwhlten Besuchern wie ein staunenswertes Wesen aus einer anderen Welt vor. Ernst Horneffer ber seinen Besuch 1899: Nietzsche lag auf einem Sofa, eingehllt in einen weiten, weißen Mantel – und der Eindruck war gewaltig, berwltigend…ich stand still, von Ehrfurcht gebannt. Das Erste, was ich sah, war die Stirn, die mchtige Stirn. Etwas Goethesches, Jupiterhaftes lag in ihrer Form, gewaltig und doch von zarter Feinheit an den Schlfen.23
Fr die propagandistische Zwecklegende eines vergeistigten Philosophen, der infolge von berarbeitung seinen letzten Rckzug angetreten hatte und zum geistigen Herkules nach Beendigung seiner Riesenarbeiten (Karl Bçttcher) idealisiert wurde, waren solche Zeugnisse hochwillkommen. berhaupt stilisierte Elisabeth sich durch die Ortswahl zur Vollstreckerin des angeblichen Willens ihres Bruders. Von den vorbedeutsamen Wnschen des Kindes Fritz berliefert sie den Knabentraum: sein sptes Leben mçchte sich in einem kleinen Huschen entweder am Rhein oder in Rothenburg ob der Tauber oder in Weimar vollenden. In Wirklichkeit entsprach der Ortswechsel nicht den Bedrfnissen des Patienten, sondern dem Ehrgeiz der Schwester, die das Provinznest Naumburg endlich hinter sich lassen konnte und sich in Weimar als Hofdame gerierte.24 Im August 1900 erkrankte Nietzsche an einer fieberhaften Pneumonie und zuletzt trat am 24. August nochmals ein Schlaganfall auf, an dem er, noch nicht 55-jhrig, verstarb. Eine Sektion wurde nicht durchgefhrt.
5.
Fortwhrend neue Diagnosen
Bald danach setzte eine breite und kontrovers gefhrte pathographische Diskussion um die Ursachen der Erkrankung ein, an der sich renommierte Psychiater wie Paul Mçbius, Kurt Hildebrandt, Karl Jaspers, Lange-
23 Sander L. Gilman (Hrsg.), Begegnungen mit Nietzsche, Bonn 1981, S. 714 ff. 24 Zit. n. Pia Daniela Schmcker, Nietzsche in psychoanalytischer Sicht, in: Publikationen des Nietzsche-Forums 4 (2008), S. 385.
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Eichbaum beteiligten.25 Elisabeth Fçrster-Nietzsche lehnte die ParalyseDiagnose mit venerischem Ursprung (Syphilis) aus moralischen Grnden ab und postulierte einen Schlaganfall sowie Chloralhydrat-Vergiftung als Ursache der geistigen Lhmung ihres Bruders. Weitere Diagnosen, ber die heftig spekuliert wurden, waren u. a. Haschisch-Paralyse, Paranoia, Hysterie, Schizophrenie, Zyklothymie, Borrelieninfektion, Epilepsie, Zyklothymie mit Multiinfarktdemenz26 oder ein rechtsseitiger Hirntumor, z. B. ein Meningeom27. Statt Syphilis bringt Schain Schizophrenie,28 Orth chronisch frontotemporale Demenz29 in die Debatte. In den letzten Jahren werden immer wieder neue neurologische Krankheitsfelder als Ursache fr Nietzsches finale Demenz angefhrt: so z. B. CADASIL (cerebral autosomal dominant arteriopathy with subcortical infarcts and leukoencephalopathy)30 oder das MELAS Syndrom (mitochondrial encephalomyopathy with lactic acidosis and stroke-like episodes).31 Die symbolisch berhçhten Krankheitsdeutungen wie etwa von Thomas Mann vorgebracht, fokussieren wiederum darauf, dass Nietzsche als radikaler Denker seine auf dionysische Selbstzerstçrung angelegte Lebenstragçdie selbst inszeniert habe und zeitlebens an der Grenze zum Wahnsinn hin gedacht habe. Meines Erachtens ist Nietzsches vielgestaltige und wechselhafte Symptomatik Ausdruck eines Krankheitskomplexes, bei dem sich organische Faktoren (Migrne, Myopie, Paralyse als Folge der syphilitischen Infektion oder eine andere neurologische Stçrung) und psychische Faktoren (melancholische Disposition mit hypomanischer Depressionsabwehr auf dem Boden einer narzisstischen frhen Stçrung) berlagerten. Seine 25 Vgl. Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinischbiographische Untersuchung, Wrzburg 1990, S. 7 ff. 26 Eva M. Cybulska, The madness of Nietzsche: a misdiagnosis of the millenium?, in: Hospital Medicine 61 (2000), S. 571 – 575. 27 Christopher M. Owen, Carlo Schaller, Devin K. Binder, The madness of Dionysos: a neurosurgical perspective on Friedrich Nietzsche, in: Neurosurgery 61, 3 (2007), S. 626 – 631. 28 Richard Schain, The Legend of Nietzsche s Syphilis, Westport 2001. 29 Michael Orth, Michael R. Trimble, Friedrich Nietzsches mental illness – general paralysis of the insane vs. frontotemporal dementia, in: Acta Psychiatrica Scandinavica 114 (2006), S. 438 – 444. 30 D. Hemelsoet, K. Hemelsoet, Daniel Devreese, The neurological illness of Friedrich Nietzsche, in: Acta neurologica belgica 108 (2008), S. 9 – 16. 31 Christiane Koszka, Friedrich Nietzsche (1844 – 1900): a classical case of mitochondrial encephalomyopathy with lactic acidosis and stroke-like episodes (MELAS) syndrome?, in: Journal of medical biography 17 (2009), S. 161 – 164.
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Identittsproblematik verbarg sich hinter der Maske einer Philosophie des Werde-der-du-bist als Selbstberwindung statt unerreichbarer Selbstfindung. Die schwierige Frage, inwieweit das Werk als durch die Geisteskrankheit beeinflusst angesehen werden muss, sei hier offen gelassen …. Unbestritten ist dagegen, dass das Werk Nietzsches insgesamt dem Leiden abgetrotzt ist, einem Leiden, das sich nicht nur thematisch wie ein roter Faden durch sein Denken zieht, sondern auch das Stigma einer grandiosen Reaktionsbildung aufweist: denkerisch wird da Schmerz zu Erkenntnis, Ohnmacht zu Macht und Schwche in idealisierte bermenschliche Strke verwandelt. So betrachtet beinhaltet die Formel des unendlichen Ja-Sagens des „Amor fati“ auch eine Idealisierung des Leidens: alles Leben, alles Leiden, jeder Augenblick wird in der Lehre von der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen“ gerechtfertigt unter dem Schild der Notwendigkeit und ist zugleich der kreative Versuch, die eigene Not der Selbstverachtung zu wenden. Damit liegen im Konzept der „großen Gesundheit“ Wunsch nach berwindung der Krankhaftigkeit als gesunder berlebensmodus und heftige Abwehr von unertrglicher Schwche nahe nebeneinander in der Nietzsche eigenen Art Ambivalenz, die den großen Gefhlen eignet. Oder anders gesagt, mit Galgenhumor: „Wie ich horchend in die Tiefe/ Meiner tiefsten Wasser sank/ dnkte mich s, ich schliefe, schliefe/ ewig heil und ewig krank.“ (NF, KSA 11, 332)
III.
Große Gefhle
Die Sehnsucht nach dem Großen Konstanze Schwarzwald
Nietzsche und die Große Sehnsucht Etymologisch leitet sich der Begriff der Sehnsucht ab vom Mittelhochdeutschen sensuht (Liebesbegierde, sich sehnen nach, verlangen nach), dem Mittelhochdeutschen senen (sich strecken), aus dem Mittelhochdeutschen senden (schicken nach, eine Botschaft senden). Damit ist das mittelhochdeutsche Wort sÞnelich verbunden, welches eine etwas andere Bedeutung hat: begehrend, voller Verlangen. Aber es bedeutet auch: Liebesschmerz, Qual, Kummer. Der zweite Teil des mittelhochdeutschen Sehnsuchtsbegriffes suht bedeutet: Krankheit, Leiden. Sinnverwandt ist der Begriff heiziu: Fieber und vallendiu: Epilepsie, das im Griechischen epilepsis soviel bedeutet wie: ergreifen. Im moderneren Sinne wird der Begriff der Sehnsucht hufig mit Suche verbunden. Der Begriff der Sehnsucht ist bei Nietzsche immer verbunden mit dem Typus des Starken, Geniehaften, mit der Gattung des Knstlermenschen und damit mit seinem Begriff der Grçße: „Ich liebe die großen Verachtenden, weil sie die großen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer.“ (Za, KSA 4, 17) Ich versuche den Begriff der Sehnsucht im Anschluss an Nietzsches Rauschphilosophie weiterzuentwickeln und differenziere die Große Sehnsucht und die Kleine Sehnsucht im Sinne einer Sehnsuchtsontologischen Differenz. Diese geht zurck auf Heideggers „ontologische Differenz“ zwischen Sein und Seiendem. Bei der Kleinen Sehnsucht geht es eigentlich um kleine Sehnschte. So heißt es bei Nietzsche in der 5. Vorrede des Zarathustra: „Man hat sein Lstchen fr den Tag und sein Lstchen fr die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. ,Wir haben das Glck erfunden – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“ (Za, KSA 4, 20) Das Begehren der kleinen Sehnschte ist gegenstndlich, auf etwas konkret bezogen und in diesem Sinne erfllbar, gebiert aber aus der Logik der Luststruktur den Drang, immer mehr und immer wieder zu ersehnen – ganz nach Nietzsches Motto: „Denn alle Lust will – Ewigkeit!“ (Za, KSA 4, 402) Die Kleine Sehnsucht tendiert zu Sucht,
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Gier und Stillosigkeit. Die kleinen Sehnschte sind Ausdruck des Hedonismus des Glcks und der Erlebnisgesellschaft. Sie gleichen eher affektiven Anwandlungen, Affekten, die kurzweilig sind. Die Große Sehnsucht perspektiviert die kleinen Sehnschte. Sie geht aufs Ganze, nmlich aufs Leben. Sie ist eine Lebenssucht, eine Lebenssuche … Die Große Sehnsucht ist eher ein anhaltender verstetigter Affekt, eine Leidenschaft. Hierbei spricht man in der aktuellen Debatte der Leibphilosophie auch von der sogenannten gefhlsontologischen Differenz 1 – eine Differenz zwischen dem Gefhl als Leidenschaft und in diesem Sinne lang anhaltend und andererseits dem Gefhl als Affekt, der uns angeht, der uns berfllt und ebenso schnell wieder verschwinden kann. Große und Kleine Sehnsucht sind aber nicht in einer Entweder-OderStruktur zu denken, sondern immer gleichzeitig. Die Große Sehnsucht kann sich in kleinen Sehnschten stiften und anders erfahren, wie sich die kleinen Sehnschte in der Großen Sehnsucht grnden kçnnen. Es ist ein Wechselspiel und das eine kann das je andere auch verhindern. Bei den verschiedenen Individuen ist immer beides anwesend, nur die Gewichtung ist verschieden, was von der Fhigkeit der Selbststilisierung des Individuums abhngt. Alle Formen und Beschreibungsweisen und Unterteilungen von Sehnschten, Hoffnungen, Begierden, Wnschen bewegen sich – so meine Behauptung – im Spannungsfeld von Großer Sehnsucht und Kleiner Sehnsucht. Das Prinzip Sehnsucht 2 soll hier bestimmt werden als die eigentliche Natur des Menschen, als Metatropie, die eine rauschhaft ber sich selbst hinaus Schaffende ist im Sinne einer Vitalitt, der Leben selbst zu eigen ist, und somit der geworfenen Natrlichkeit, die allem eigen ist, einen individuell-existenziellen Entwurfscharakter gibt. Die Sehnsucht ist ein Existenzial, eine grundlegende Daseinsbestimmung des Menschen. Sie ist ein Ethos, eine die Existenz durchherrschende Haltung, der alle anderen Existenziale zu Grunde liegen. Es geht mir wesentlich um eine Verbindung des Prinzips Empraxis und des Prinzips Sehnsucht.
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Vgl. Volker Caysa, Vorlesungen zur Anthropologie des Kçrpers am Philosophischen Institut der Universitt Leipzig, unverçffentlichte Manuskripte. Der Begriff stammt von Volker Caysa.
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Sehnsuchtsontologische Differenz Es gibt mindestens zwei Arten der Sehnsucht, die, oberflchlich betrachtet, erst einmal entgegengesetzte Charaktere darzustellen scheinen. Man kann also von einer sehnsuchtsontologischen Differenz sprechen, die anschließt an Nietzsches Differenzierung der „kleinen“ und der „grossen Vernunft“. Große und Kleine Sehnsucht kçnnen zwar getrennt analysiert, mssen aber im Vollzug zusammen gedacht werden. Die Große und die Kleine Sehnsucht sind ebenso wie die große und die kleine Vernunft bei Nietzsche kein sich gegenseitig ausschließendes Prinzip, sondern sie sind gleichzeitig. Wie bei den nietzscheanischen Begriffen der „grossen“ und der „kleinen Vernunft“ ist es auch bei der Großen und Kleinen Sehnsucht so, dass sowohl die Intensitt der Großen Sehnsucht Einfluss auf Grade der Begrenztheit der Kleinen Sehnsucht hat, als auch die Konkretion des Ausdrucks ihres Verhltnisses am Individuum je verschieden ist. Beide Arten der Sehnsucht gehçren zusammen. Die erste Art der Sehnsucht ist eine Kleine Sehnsucht, die sich durch faktische Konkretionen der Erinnerung besetzen und tuschen lsst, der es um „ewige“ Wiederholung sinnlicher Erlebnisse geht, die bestimmte Bruchstcke des Erlebten emphatisch intensiviert, die sie wi(e)der holen will. Es gibt ein Moment, an dem auch die Kleine Sehnsucht ber sich hinaus wchst: das Moment ihres Willens zur Wiederholung. Darin aber kann sie auch versinken. In diesem Moment kann sie aber auch ber sich hinaus wachsen, und die Große Sehnsucht scheint in ihr vor – sie offenbart sich in ihr. Allerdings scheitert sie notwendig am ihr wesenseigenen Versuch der rationalen Erkennbarkeit ihres Zustandes, sie will ihn restlos aufklren, um sich seiner „sicher“ zu sein. Die bloße sinnliche Wiederholung, die sie rational geplant durchfhren will, fhrt ohne perspektivischen Hintergrund – die Große Sehnsucht ist bereits zurckgetreten – zu Langeweile und berdruss und damit unweigerlich zur Enttuschung. Die Kleine Sehnsucht will das, einmal sehr positiv Wahrgenommene, dem Leiblichen entsprungene Ereignis per Erlebnisplanung immer wieder wiederholen. Sie ist der Inbegriff der leibeigenen Stimme, die zu dem glcklichen Moment sagt: „Verweile doch, du bist so schçn“. Doch das Erfahrene kann auch Ereignis sein, weil es so, wie es geschehen ist, einmalig und im rational-planbaren Sinne, unwiederholbar ist, weil ihm kein reflektiert-rationaler Plan zugrunde liegt, sondern eine Regelhaftigkeit, deren Auswirkungen wir erfahren, deren kausale Hervorbringung wir aber nicht per Plan erzwingen kçnnen. Das Ereignis im strengen Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht machbar und vor allem nicht augenblicklich
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nachmachbar ist, aber dass es geschieht – oder eben nicht. Die Kleine Sehnsucht erliegt all zu oft einer von ihr erwarteten (ersehnten) Bildhaftigkeit, und wird durch die Unwiederholbarkeit dieses Bildes, oder eben nur des Bildes, durch die affektartig-wahrgenommene Vernderung der neuen Situation, hoffnungslos enttuscht. Das Ereignis entzieht sich aber aller Planbarkeit seiner Seh-Bilder. Es lsst sich letztlich nicht instrumentalisieren. Im Modus der Großen Sehnsucht dagegen geschieht das Ereignis, es passiert und im Sinne dieses Geschehens gibt es auch ein Wiedergeschehen, das heißt eine Wiederholbarkeit des Ereignisses. In ihr scheint eine große Hoffnung verborgen zu sein. Sie ist eine Hoffnung auf leiblichempraktische Selbstgewissheit, ein Kçrperwissen, das sich als Erfllungsmoment des „Werde der du bist“ ereignet und somit wiederum die bloße Geworfenheit der Kreatur insofern bersteigt, als dass es sich selbst perspektiviert. Sie erliegt nicht dem ungeduldigen kleinen Anspruch der Kleinen Sehnsucht, Situationen vor allem faktisch nach-stellen zu wollen und sich an die eigenen Vorstellungen und Erwartungen, an eine Situation zu klammern, sondern sie stellt sich offen dem Experiment der neuen Situation, das planbare Erlebnis wird als Bedingung der Mçglichkeit das Ereignis zu erfahren, geschaffen und lsst der verndernden Bewegung ihren Raum. Das Ereignis wiederholt sich in ihrem Modus in dem Sinne, dass sie der empraktischen Funktionalitt Spielraum lsst und es nicht durch ihre Erwartungshaltung einengt. Man kçnnte dies auch den lebensknstlerischen Raum der Improvisation nennen. Sie ist gewissermaßen eine souverne Haltung des Leibes. Die Große Sehnsucht strebt nach etwas Unbestimmtem. Sie ist eine Art Lebens(neu)gier, eine Sehnsucht nach Selbst-Erfahrung, Sehnsucht und damit nach sich Selbst, nach der eigenen Natur und trifft dabei immer wieder auf sich selbst. Sie ist Gewissen und Richter von Sinn und Wert der Ansprche und Vorstellungen der Kleinen Sehnsucht.
Sehnsucht als die eigentliche Natur des Menschen Der Versuch, das Prinzip Sehnsucht als eigentliche Natur des Menschen zu bestimmen, schließt an Gedanken Friedrich Nietzsches, seine Auseinandersetzung mit dem modernen rationalen Denken, an Ernst Bloch und Michel Foucault und an gegenwartsrelevante Explikationen der Entwicklung einer Theorie des Empraktischen an.
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Man hat Nietzsche seine Erkenntnis darber, dass der Mensch das noch nicht fest-gestellte Tier ist, schwer bel genommen. Diese Erkenntnis kçnnte als die dritte große Krnkung der Menschheit bezeichnet werden, nachdem Kopernikus feststellte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt der Welt ist und Darwin bewies, dass der Mensch nicht von Gott, sondern vom Affen abstammt. Ren Descartes, der Erfinder des modernen Rationalismus hatte mit seiner expliziten Trennung von res cogitans und res extensa doch klare Grenzen gesetzt. Der Mensch ist kein Tier, denn er kann Denken. Er hat eben die Fhigkeit zur Reflektion, zum Nachdenken, zur Selbstrationalisierung auf einer Metaebene. Zunchst muss in diesem Kontext eine grundlegende begriffliche Differenzierung eingefhrt werden: nmlich der Reflexion und der Reflektion. Reflexiv und Reflexion meint in der Mathematik – und in diesem Sinne nehme ich jetzt diese Bedeutung auf – Rckbezglichkeit und Selbstbezglichkeit. Wenn dagegen von Reflektion die Rede ist, dann meint es, dass etwas zurckgespiegelt, widergespiegelt wird. Das heißt, die Reflexion ist eine rckbezgliche Selbstbezglichkeit, die empraktisch gegeben ist. Dagegen ist die Reflektion nach dieser etymologischen Ableitung die Spiegelung der Selbstbezglichkeit, eine Selbstbespiegelung. Also ist sie schon auf einer hçheren Ebene. Unterschieden wird also eine Vollzugsreflexion, getragen vom das Prinzip Empraxis begleitenden Prinzip Sehnsucht. Jemand bezieht sich auf sich selbst und das muss er berhaupt nicht rational reflektieren, also widerspiegeln, im Sinne der Reflektion als Metareflexivitt. Reflexion und Reflektion verhalten sich wie Implizites und Explizites zueinander, wie Selbstbezglichkeit und Widerspiegelung. Diese zweite Fhigkeit, nmlich die der Widerspiegelung, hat nur der Mensch. Vollzugsreflexion dagegen, die hier auch als Wissen thematisiert wird, steckt im authentischen existenziellen Dasein, das wir auch mit den Tieren teilen und das nicht sehnsuchtsgetragen ist. Die Rationalitt der Moderne erscheint heute trotz aller anscheinenden Wohlgeordnetheit und Berechenbarkeit als ein Labyrinth. Wie kçnnen wir uns im Labyrinth unseres immer rascher ansteigenden Informationswissens noch orientieren? Wo ist der Faden der Ariadne, der uns durch dieses Labyrinth fhrt? Was steckt hinter einem rational wissenden Ich? Phonastische Kçrper, Affekt, Leidenschaft, Fleisch, Blut, die Gene? Leib, Selbst, Selbst-Leib, Leibesselbst, WeltSelbst?! Vielleicht ein von seiner Großen Sehnsucht getriebener trumender Leib, der noch im Trumen die Interpretation seiner selbst angeht, der weiß, dass sowohl Traum als auch Realitt die Wirklichkeit des Denkens, wirkendes Denken darstellt, ineinander verwoben, nach hnlichen Regeln spielend? Sowohl hell klar funktionierend, wie in tiefste Finsternis
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abtauchend, abgrndig in das vielleicht schon leiblich begriffene, aber rational nie gnzlich erfassbare Meer des Empraktischen? Interessant ist also im Spannungsfeld dieser diametral entgegengesetzten Positionen Descartes und Nietzsches, wie man knstlerisch und philosophisch mit dem Spannungsfeld von Kçrper und Bewusstsein, von Denken und Affekt, von Denken und Lust, von Instinktivem, von scheinbar Tierischem, Animalischem – archaisch Natrlichem – und hçchster Rationalitt umgehen kann. Was ist der Grund und damit im wahrsten Sinne des Wortes die Begrndung unseres Denkens? Wie kann uns unsere Natur erklrbar werden? Was verschafft der Rationalitt eine Grund-Lage? Ist es das rationale Denken selbst? Kann sich etwas rational vollstndig nur aus sich selbst erklren? Ich denke: Nein! Die bloße reine Rationalitt, die – wie Nietzsche sie nannte – „Kleine Vernunft“ kann nicht Grund ihrer selbst sein, weil sie nicht die Bedingungen der Mçglichkeit ihrer Existenz vollstndig zu erklren vermag. Welcher Form der Vernunft unterliegt nun der moderne Mensch? Nietzscheanisch gesprochen: der Großen Vernunft des Leibes. Was heißt das? Nach Nietzsche ist der Leib eine „Große Vernunft“, „eine Vielheit mit Einem Sinn, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt“ (Za, KSA 4, 39). Er fordert ein Philosophieren am Leitfaden des Leibes und stellt die zentrale Frage „ob, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher berhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverstndnis des Leibes gewesen ist“ (FW, KSA 3, 348). Denken grndet sich also nach Nietzsche in der grossen Vernunft des Leibes, das heißt in der Vollzugsfunktionalitt des „Instinktiven“, das etwas Wildes, Ungebndigtes, Naturhaftes in der Tiefe unseres Leibes ist. Das Animalische, archaisch Naturhafte ist im Kontext des Leibes als Metapher zu verstehen, das beim Menschen immer schon kulturell berformt ist. Das Instinktive erscheint daher als das Intuitive. Diese kulturelle berformung verdankt sich dem Prinzip Sehnsucht, das den Menschen dazu treibt, ber sich selbst hinaus zu schaffen. Es geht also nicht um ein Zurck zum Tierhaften, archaisch Natrlichen, um zu uns selbst und damit zu „unserer Natur“ zu kommen und um die Grnde des rationalen Denkens aufzudecken. Es geht vielmehr um die Offenlegung einer Funktionsweise dieses kulturell berformten Ungezhmten in uns. Der Mensch als nicht festgestelltes Tier ist eben kein reines Tier. Es gibt de facto kein: Zurck zum Tier! Oder: Zurck zur Natur!, sondern er ist ein sich selbst sehnschtig transzendierendes Tier, was uns als das Animalische, Naturhafte erscheint. Es grndet sich in der Intention alles authentisch Knstlerischen und so verlangt Nietzsche auch nach einer
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Wissenschaft, die unter der Optik des Knstlers und eine Kunst, die unter Optik des Lebens selbst zu verstehen sei. (Vgl. GT, KSA 1, 14) Denken und Rationalitt haben ihre Begrndungsebene in den Knsten bzw. Lebensknsten. Kunst als Natur des Menschen unterliegt bis in ihre Wurzeln ebenfalls der sehnenden Natur des Menschen. Und schon Ernst Bloch bestimmte die Sehnsucht als „die einzige ehrliche Leidenschaft aller Menschen“3. Philosophisches Wissen begrndet sich im Dionysischen, dem Rauschhaften, Ungezgelten, Chaotischen, Schçpferischen, im stetig ber-sich-Selbst-hinaus-wachsenden-Wollenden. Beide, das apollinische als auch das dionysische Sehnsuchtsprinzip des Lebens, als Formen des leiblich-empraktischen Wissens begriffen, konstituieren unser Wissen, das wir leybhaftig sind.
Durs Grnbeins Sehnsucht „Vom Schnee“ Was haben nun Denken bzw. Philosophie und knstlerisch-instinktives Wissen, wissenschaftliches Wissen und Lebenswissen als zwar verschiedene, aber dennoch notwendig zusammengehçrige Formen des Wissens gemein? Die Leiblichkeit des Denkens und damit das Prinzip Große Sehnsucht – so wird es auch von dem Dichter Durs Grnbein in seiner großen Versdichtung „Vom Schnee“4 wunderbar beschrieben – ist unbestreitbar, wenn man bedenkt, dass die Fhigkeit des Denkens abhngt von der notwendigen Gestaltungskraft der Fantasie, die wesentlich von der Sehnsuchtsfhigkeit des Individuums abhngig ist, die aus dem von Grnbein so beschriebenen weiten Weiß des Schnee erst wieder Etwas entstehen lsst. Es stellt sich die Frage, ob sich in dem weiten Weiß des die Landschaft bedeckenden Schnees, das man in „Vom Schnee“ mit einem die Moderne berdeckenden wissenschaftlichen Wissen analogisieren kçnnte, die Notwendigkeit fr den Einzelnen ergibt, das „Weiß“ aus sich selbst heraus existenziell zu gestalten. Die Metapher des Schnees kann fr Klte, das Zudeckende, aber auch fr Reinheit stehen. Sie kann im Kleinen die khlende, das schreiende Geschlecht verhllende Zudecke, wie im Großen die alles berdeckende Schneeflut, das weite weiße Leichentuch ebenso wie der große, das Normalittslicht brechende, Zuckerberguss be3 4
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, in: ders., Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt am Main 1985, S. 111. Durs Grnbein, Vom Schnee oder Descartes in Deutschland, Frankfurt am Main 2003.
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stimmter Welten sein. Was heißt in diesem Kontext „Denken“? Was macht uns Denken? Grnbeins Dichtung „Vom Schnee“ ist eine Kritik an der Leib- und – ihn ergnzend: Sehnsuchtsvergessenheit der modernen Philosophie – der Verlust eines sich in den Tiefen des Kultur-Animalischen, archaisch Naturhaften grndenden Wissens, das noch der wissenschaftlichste Mensch zum Antrieb fr seine Arbeit, fr die Lust an seiner Arbeit, die auch eine Form der Sehnsucht darstellt, bençtigt, um berhaupt „mit Leidenschaft“ dabei sein zu kçnnen. Wenn man Lust und Unlust in Verbindung mit Freude und Schmerz als die beiden Grundtriebe des Menschen, auf denen all sein Handeln beruht, versteht, dann ist es die Sehnsucht, die beide, scheinbar diametral entgegengesetzten Triebe rauschhaft in sich vereint und perspektiviert. So entsteht eine Gerichtetheit der Leidenschaften in verschiedensten Formen. Diese Kritik an der Leib- und Sehnsuchtsvergessenheit der modernen Philosophie erinnert an Michel Foucaults Weiterdenken der Rede Nietzsches vom „Tode Gottes“, in dem Foucault aus dem Tod Gottes den Tod des Leibes und den Tod des bisherigen Menschen(bildes), des Selbstverstndnisses des Menschen ber seine eigene Natur ableitet. Mit Gott ist der Leib, die große sehnschtige Vernunft bzw. seine Vorstellung von ihm gestorben und nach Nietzsche und Foucault kann der Einzelne, das Individuum, sich in der Moderne nur selbst entfalten, indem er sich selbst neu erschafft, also zum Schçpfer seiner Selbst wird durch Er-Innerung an seine eigentliche Natur, seine „natrliche“ Macht – seine Große Sehnsucht. So kann er nach dem vermeintlichen Tode Gottes durch sich als sich besinnendes Sehnsuchts-Selbst neue Gçttlichkeit erschaffen. Die damit verbundene Neuschaffung des Leibes ist begrndet in der Kunst des Individuums mit dem eigenen sehnsuchtsgetriebenen Leib umgehen zu kçnnen und sich so ber sich selbst zu ermchtigen – im Sinne des Willens zur Macht. Erweitert: Sehnsuchtsmacht. Der Leib des Sehnsuchts-Denkers und Sehnsuchts-Knstlers wird zum existenziell gestaltbaren Sehnsuchts-Kunstwerk, das sich grndet in der selbstbestimmten Haltung des Einzelnen zu und durch sich selbst. So fragt sich auch, wie sich in diesem Spannungsfeld des einerseits scheinbar Animalischen, Geworfen-Naturhaften in uns, des leibhaftigen, instinktiv dionysischen Wissens und andererseits des rationalen, wissenschaftlichen, theoretisch-apollinischen Wissens sich das Bewusstsein des Menschen ber sich selbst und damit seine Perspektive in der Welt grndet. Die Frage lautet: Wie bildet sich Selbstbewusstsein und gibt es eine Form von Bewusstsein, das sich eben nicht in der Rationalitt des Denkens grndet und gleichzeitig erschçpft, sondern das als leiblich-empraktische
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Gewissheit ein viel sichererer und existenziell-authentischerer Boden ist? Wer ist Herr im Hause des Knstlers und Denkers? Der Kçrper oder der Geist? Im Anschluss an Nietzsche und auch Durs Grnbein scheint die Antwort ganz klar: Der Leib. Erweitert: der sehnsuchtsgetragene und -gesteuerte Leib. Denn in ihm grndet sich das wirkliche Wissen vom Leben – LebenWissen.5 Grnbein geht es um das Werden des Selbst-Bewusstseins eines Individuums, das sich zwischen dem Geist, der das reine Denken symbolisiert, als vermeintlichem Herren und dem Kçrper als vermeintlichem Knecht, der scheinbar das Animalische verkçrpert, entwickelt. Es ist aber das Kultur-Animalische und Kultur ist nach diesem Ansatz individuell-existenzielle Sehnsuchtsleibkultur als eigentliche Natur des Menschen. Das Individuum nimmt Machtverhltnisse an sich selbst wahr und sucht einen Umgang mit ihnen. Ja es scheint, als wrde jeder Gedanke am eigenen Leibe – an der kritischen Haltung desselben – getestet um seiner Wahrhaftigkeit willen, um einer gewissen Weisheit willen, die durch den rationalen Verstand allein nicht erklrbar ist, eine scheinbar immer wieder kehrende empraktische Weisheit, die sich durch uns selbst, durch uns als Selbst, am Leibe, ausdrckt. Das scheinbar Animalische, bloß Naturhafte des „Knechtes Kçrper“ aber ist nicht die bloße Rckwendung ins Tierhafte. Es ist vielmehr das Wilde, nicht verstandesmßige, das zu Zhmende, das sich aber von uns rational niemals ganz zhmen lsst. Das damit verbundene Experimentieren mit den Gedanken als einverleibtem Denken verweist bei Grnbein auf den Grund des „reinen“ Denkens der Philosophie als strenger Wissenschaft: die Dichtung. Dichter gelten wohl als die grçßten Sehnschtigen, denkt man beispielsweise an Novalis und berhaupt an die Frhromantiker. Allerdings fhrte die Große Sehnsucht der Romantiker irgendwann in ein großes Dunkel, ein Nichts, eine Sehnsucht zum Tode. Eine sehr lebensunpraktische Sehnsucht also, ein sich in den Tod Trumen – vielleicht sogar, hart gesagt, eine nicht ganz selbstmitleidlose Flucht aus dem Diesseits des Lebens. Diese Form der Sehnsucht soll mit dem hier vorgestellten Ansatz gewendet werden in eine lebensbejahende Sehnsucht, indem Sehnsucht nicht als Mangel (bspw. an Liebe) verstanden wird und sich zunchst auch nicht auf etwas ußeres richtet, sondern ihren Ursprung selbstbezglich intrapersonell erfhrt. 5
Vgl.: Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt am Main 1998.
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Der Begriff der Großen Sehnsucht meint hier die positive Macht des existenziell-individuellen Strebens, der sich dann natrlich auch auf eine andere Person, wenn auch nicht notwendig, richten kann oder auf einen mit ihr verbundenen Lebensweg. Und wenn auch diese Form der Sehnsucht vielleicht immer eine „Wut der Unbefriedigung“ (wie sich Friedrich Schlegeleinmal ausdrckte) notwendig als negatives, aber wendendes Moment, in sich trgt, so wendet diese Wut die Sehnsucht periodisch wiederkehrend zur Erfllung des Willens zur Macht als rauschhaft bersich-Selbst-hinaus-Schaffendem. Es geht mir um eine Sehnsucht, die zum Leben „Ja“ sagt und nicht „Nein“! In der Dichtung, die hier bei Grnbein exemplarisch die Kunst berhaupt vertritt, erinnert sich das Denken seines leibhaftigen Ursprungs, seines im Leben instinktiv verwurzelten Wesens. Der Leib erweist sich als Grund einer mçglichen Heterotopie, des Denkens als Ab-Ort, in dem das reine Denken zu orten ist. Der Leib begrndet dichterisch die Große Sehnsucht des Denkers sich selbst als Selbst auszudrcken, nicht nur etwas ber die Welt, sondern selbst als Welt-Selbst zu reden. Es ist eben nicht nur der Herr, der ein reflektiertes Verhltnis zum Knecht hat und diesen blind gehorchen lsst, sondern es besteht ein wechselreflexives Verhltnis zwischen Herr und Knecht, also zwischen der reinen Rationalitt, dem reinen Denken und kulturanimalisch-empraktischem Kçrperwissen als Wissen des Leibes. Empraktische Wissensformen, zu denen ich eben knstlerische Vollzugsformen des kreativen und fantasievollen Schaffensprozess der Großen Sehnsucht als Grndungsebene jeglichen rationalen Denkens, zhlen will, sind das sthetisiert-animalisch-schçpferische Werk des Knstlers. Das empraktische Wissen begrndet jegliche Form rational-theoretischen Wissens, sofern es sein leibhaftiger Grund ist. Das hat u. a. zur Konsequenz, dass der lustvollste Rauschleib potentiell auch die Lust an der hçchsten Rationalitt gebiert, die Lust an der hçchsten Formgebung der Welt – das Weiß des Schnees will neu ertrumt, es will neu erfunden, es will neu erdacht und gestaltet werden. Es will sich seiner tiefsten Formen des Denkens erinnern, um aus diesen heraus noch hçhere Hçhen erreichen zu kçnnen. Das groß-sehnschtige knstlerische Ich durchzieht als dionysische Substanz die Weltgeschichte und offenbart sich in verschiedenster Gestalt. Wo es seine gewaltigsten Formungen findet begegnet es uns als Donnerschlag und Blitz, als Ereignis, das sich aus der Intensitt tiefster Tiefen und Abgrnde emporschleudern lsst in die hçchsten Hçhen, aus der Abgrndigkeit und Tiefe des Geschlechts zur hçchsten Ausbildung des Geistes. Im intrapersonellen Umgang des Sehnsuchts-Knstlers innerhalb
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der seinem Selbstbewusstsein eigenen Herrschafts- und Knechtschaftsverhltnisse, stellt sich die Frage, ob knstlerisches Wissen am Nullpunkt der Rationalitt, im eigentlichen Nichts des Denkens und damit als pure Intensitt die eigentliche Sprache des Seins und damit der Philosophie als Liebe zur Weisheit ist. Grndet sich Kunst im Zustand der leiblichen Identitt, in der Aufhebung der rationalen Differenz von Herr-Sein und Knecht-Sein, im Ausruhen vom zivilisatorischen Dissens? In der Dichtung „Vom Schnee“ wird ein Lebenwissen und eine Lebenspraktik des Knstlers und des Wissenschaftlers dargestellt, das der wissenschaftlichen Analyse des Denkens Descartes insofern berlegen ist, als es die grundlegende Leiblichkeit auch dieses Denkens darstellt, die Verwurzelung seiner Rationalitt im leibhaftig-sehnschtigen Denken und es die Illusion eines kçrperlosen, unleiblichen und damit auch sehnsuchtslosen Denkens enttuscht. Thematisiert wird also eine Neugeburt, eine zweite Geburt des Denkens aus dem Geist des leiblichen Prinzips Sehnsucht, das sich teilweise, als Natur in uns, der Rationalitt unseres Denkens entzieht und den Einzelnen leiblich empraktisch zu dem macht, der er ist und sein kann: Ein sich selbst bejahender existenzieller und sehnsuchtsperspektivierter Selbstdenker und Selbstknstler, dem in diesem Sinne ein selbstbestimmtes Leben mçglich ist, das sich seiner Sehnsucht nicht entzieht, sondern das Prinzip Sehnsucht als grundlegende anthropologische Konstante in sich erkennt und selbstbewusst mit ihr umzugehen lernt.
Rausch – Macht – Gefhl Zur Funktion des Ekels nach Nietzsche
Karolina Sidowska Es gibt viele Schlsselbegriffe, die als Ausgangspunkte zur Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie dienen kçnnten, aber der Rausch gilt als einer der wichtigsten. Als die Erfahrung „des ber-sich-hinaus-Seins und Zu-sich-selbst-Kommens“1 bildet der Rausch einen zentralen Ansatz fr die Analyse der „großen Gefhle“ bei Nietzsche, darunter das Gefhl des Ekels, das allerdings nicht nur in der Nietzsche-Forschung unterthematisiert ist. Ich mçchte mich auf die bildhafte Darstellung dieser Emotion konzentrieren und die kognitiven Voraussetzungen dieser Darstellung analysieren. Das Ergebnis einer solchen Analyse soll das Spezifische des Ekelverstndnisses Nietzsches sein. Das Verhltnis zwischen Rausch und Ekel bedarf einer vorangehenden Erluterung. Problematisch ist schon die Definition des Rausches, in der die Merkmale des Affektes mit denen der Leidenschaft allzu oft miteinander verwechselt und kombiniert werden. hnlich wie ein Affekt stellt der Rausch eine heftige Gemtsbewegung dar, die jedoch nicht unbedingt unerwartet sein muss und lnger als ein plçtzlicher Anfall von Zorn oder Schrecken anhalten kann. Im Gegensatz zum Ekel, der als eine eher einheitliche Grundemotion gilt, setzt sich der Rausch aus verschiedenen, zum Teil entgegengesetzten Affekten zusammen, in denen sich die Empfindung der Steigerung und Flle bildet. Interessanterweise kann eine hnliche innere Dynamik der Intensivierung allerdings auch beim Phnomen des Ekels festgestellt werden: in Form des wechselnden Spiels der Anziehungsund Abstoßungskrfte, die der Ekel auf uns ausbt. Dem Rausch und dem Ekel, wie auch jedem Affekt, ist gemeinsam, dass sie einen ursprnglichen und direkten Bezug auf das Leibliche aufweisen. In beiden Fllen bildet die sinnliche, physiologische Empfindung eine Basis fr komplexere seelische Prozesse, aus denen die – oft intuitive – Erkenntnis des Sachverhaltes 1
Volker Caysa, Kçrperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt am Main/New York 2003, S. 109.
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resultiert. Dies ist normalerweise von großer Bedeutung fr die Erhaltung bzw. Festigung der Existenz. Bei einer Affekterregung geht es meistens um eine gezielte, obwohl oft nicht bewusste Handlung, z. B. die plçtzliche Flucht vor etwas oder das Wegwerfen eines gefhrlichen oder ekligen Gegenstandes. Im Rausch, der brigens als einer der Grundtriebe hier betrachtet werden soll, haben wir es in der Tendenz mit einer fast mystischen Erneuerung und Steigerung der positiven Lebenserfahrung zu tun, whrend wir mit dem Ekel oft negative Lebenserfahrungen verbinden. Die Rauscherfahrung ist ihrer Natur gemß oft unreflektiert. Deswegen wird sie konventionell mit der Selbstvergessenheit und Verwirrung assoziiert, mit dem „Aufgehen in einem Grçßeren durch Zerbrechen der Vereinzelung“2. Man kçnnte jedoch im Gegenteil behaupten, dass im Rausch gerade das Selbst als das wahrnehmende Subjekt besonders stark empfunden wird. Wer ber sich hinaus geht, also die Grenzen seines Selbst berschreitet, um sie dann beim Zu-sich-selbst-Kommen neu festzulegen, der sprt das eigene Ich besonders deutlich und mchtig; alles, was geschieht, geschieht ihm und wre sonst nicht mçglich. In diesem Sinne ist der Rausch bei Nietzsche mit einem Machtgefhl gleichzusetzen, das in der Selbstgewissheit der schçpferischen Kraft, in der bewussten Steigerung des Vermçgens zum Schaffen besteht. Die Macht, die zugleich eine Selbstmacht ist, beruht auf dem Bewusstsein der eigenen Strke und der potentiellen Mçglichkeiten der Selbstentwicklung. Setzt man die beschriebenen inneren Zustnde und Eindrcke des Rausches den Empfindungen des Ekels gegenber, erscheinen sie als total widersprchlich. Rausch wrmt auf, kçrperlich und psychisch, whrend Ekel ernchtert und eine „khle“, ja kalte Distanz bewirkt. Dies bedeutet nicht, dass Ekelreaktionen immer bewusst geschehen, eher im Gegenteil, man meidet oder beseitigt das Eklige meistens intuitiv gemß den verinnerlichten kulturellen Vorurteilen. Auch die Haltung des Ich ist anders als im Rausch; das Subjekt steigt nicht ber sich hinaus, sondern entfernt sich von dem, was es als fremd empfindet, auch wenn es vor kurzem noch zu ihm gehçrte.3 Sowohl im Rausch, als auch im Ekel wird die Selbstwahrnehmung gestrkt, aber auf eine andere Art und Weise – im ersten Fall kommt es zur Erweiterung des Ich, indem man die Flle eigener Mçglichkeiten erkennt und sich mchtig und bereit fhlt, sie zu verwirklichen und mit ihnen 2 3
Gnter Remmert, Leiberleben als Ursprung der Kunst. Zur sthetik Friedrichs Nietzsches, Mnchen 1978, S. 45. Das Paradebeispiel dafr ist das Verhltnis zu verschiedenen Ausscheidungen von Mensch und Tier.
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verschmelzen will. Im Ekel definiert sich das Ich dagegen durch Distanz zu dem Ekelhaften; die Grenzen des Selbst werden nicht positiv nach außen verschoben, sondern vielmehr negativ in ihrer Lage besttigt und befestigt. Das Andere verhilft beim Ekel dem Subjekt nicht zur schçpferischen Bereicherung seiner Existenz, sondern erweckt Misstrauen und Unruhe als eine direkte oder potenzielle Bedrohung. Dadurch, dass man sich von etwas entschieden distanziert – der Abscheu ist eben ein starker Ausdruck dieser Entschiedenheit – behlt man sich selbst ganz und unberhrt. In diesem Zusammenhang kommt auch ein Machtgefhl zum Vorschein, das von einer negativen Art ist: nicht die Macht des positiven Schaffens, sondern die Macht der Verdrngung, der entschiedenen Negation – das Eklige soll verschwinden, man will es nicht mehr sehen, es muss beseitigt werden, wenn man nicht sich selbst und die Selbstachtung verlieren will. Der Kurzschluss, dass Rausch und Ekel wenig miteinander zu tun haben, wre jedoch falsch. De facto kçnnen sie schwer gleichzeitig vorkommen, der Ekel stoppt eher den Rausch, und wo es Rausch gibt, da wurde Ekel, z. B. vor allzu großer Nhe, gerade berwunden. Aber auch umgekehrt, wenn die durch Rausch erzeugte Lust zu lange dauert oder zu einer Sucht wird, schlgt sie oft in einen bersttigungsekel um. Auf der anderen Seite kann Ekel in manchen Umstnden ein rauschstiftender Faktor sein. Dies passiert z. B. wenn der Ekel eine besonders berwltigende, gewaltttige Form annimmt und sich in die Lust an der Zerstçrung verwandelt. Diese Art Rausch nennt Nietzsche den „Rausch der Grausamkeit“. Hufiger aber kommt bei ihm vor, dass Ekel aus der peinlichen Enttuschung des Selbst-Macht-Rausches durch die allgegenwrtige menschliche Schwche und das berall anzutreffende Mittelmaß resultiert. Zum Inbegriff des Ekelhaften wird daher bei Nietzsche alles was klein und schwach ist, also auch die „kleinen“ Menschen, „das Gesindel“: Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Noth, grn und grau vor Ekel, berdruss, Mitgefhl, Verdsterung, Vereinsamung schillert, der ist gewiss kein Mensch hçheren Geschmacks. (JGB, KSA 5, 44) Die G e s a m t – E n t a r t u n g d e s M e n s c h e n, hinab bis zu dem, was heute den socialistischen Tçlpeln und Flachkçpfen als ihr „Mensch der Zukunft“ erscheint, – als ihr Ideal! – diese Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Herdenthiere (oder, wie sie sagen, zum Menschen der „freien Gesellschaft“), diese Verthierung des Menschen zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprche ist m ç g l i c h, es ist kein Zweifel! Wer diese Mçglichkeit mal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr, als die anderen Menschen, – und vielleicht auch eine neue A u f g a b e ! (JGB, KSA 5, 127 f.)
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Der bildhafte Stil Nietzsches enthlt viele Metaphern, die in kulturellen und psychologisch bedingten Vorstellungsschemata begrndet sind. Ziemlich offensichtlich ist die Assoziierung mit Tieren als Ausdruck des Abscheus – Tiere gelten als einer der wichtigsten ekelerregenden Faktoren, besonders solche, die den Kontakt zu Exkrementen und Kadavern haben: Insekten, Ratten, Hynen usw. Als ekelhaft wird berhaupt alles betrachtet, was den Menschen an seine tierische, aber auch sterbliche, vergngliche Natur erinnert, sei es das Organische – die Ausscheidungen und Sekrete, sei es die Verwesung, die Zeichen vom Alter und Tod. Die Rolle des Organischen beim Ekelerregen ist brigens nicht eindeutig. Karl Rosenkranz schreibt in seiner sthetik des Hßlichen: „Das Ekelhafte ist ein Product der Natur, Schweiß, Schleim, Koth, Geschwre u. dgl., ist ein Todtes, was der Organismus von sich ausscheidet und damit der Verwesung bergibt.“4 Andererseits kçnnen die organischen Stoffe mit durchaus positiven Gefhlen und Empfindungen verbunden werden, wie Wrme, Nhe, Unmittelbarkeit. Dasselbe betrifft die unorganische Natur, die per analogiam oder in Verbindung mit der organischen als ekelhaft gilt: das tatschliche, sowie das metaphorische In-den-Schlamm-Versinken (z. B. durch Obszçnitten) kann als wohltuend empfunden werden, indem es den Eindruck des unreflektierten Ein-Gebettet-Seins und der Einigkeit mit dem Kreatrlichen hervorruft. Die Vor- bzw. Darstellungen von Ausscheidungen oder von Verwesung werden mehrheitlich als abstoßend eingestuft und abgelehnt, worin sich der psychologische Schutzmechanismus des Ekels offenbart. Nach Kant ist der Ekel eine „starke Vitalempfindung“; er ist eine der heftigsten Affektionen des menschlichen Wahrnehmungssystems, „ein Alarm- und Ausnahmezustand, eine akute Krise der Selbstbehauptung gegen eine unassimilierbare Andersheit, ein Krampf und ein Kampf, in dem es buchstblich um Sein oder Nicht-Sein geht“5. Die Ekelreaktion ist Abwehr der bedrohlichen Seite des Daseins; in diesem Kontext ist der Tod, der physische und mentale Untergang, der sich der menschlichen Vorstellungskraft entzieht, die strkste Bedrohung. Daher werden die heftigen Ekelausbrche bei Nietzsche mithilfe von Metaphern wie „Gewrm Mensch“ (GM, KSA 5, 277) oder „Menschen-Moder“ (Za, KSA 4, 274) zum Ausdruck gebracht. 4 5
Nach: Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 313. Winfried Menninghaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 7.
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Auch andere Anspielungen auf den Ekel in Nietzsches Werk sind auf psychologisch-anthropologische Befunde zurckzufhren, z. B. wenn Essen und Geschmacksinn thematisiert werden. Die Ursprnge des Ekels als Sinnesphnomen hngen nmlich eng mit der Ernhrung zusammen, wir sehen in ihr eine atavistische Abwehrreaktion auf verdorbene oder giftige und dadurch lebensgefhrliche Nahrungsstoffe: Wer die Begierden einer hohen whlerischen Seele hat und nur selten seinen Tische gedeckt, seine Nahrung bereit findet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten gross sein: heute aber ist sie ausserordentlich. In ein lrmendes und pçbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch „zugreift“ – vor plçtzlichem Ekel zu Grunde gehen. (JGB, KSA 5, 230)
Und an anderer Stelle heißt es: Auf dem Baume Zukunft bauen wir unser Nest; Adler sollen uns Einsamen Speise bringen in ihren Schnbeln! Wahrlich, keine Speise, an der Unsaubere mitessen drften! Feuer wrden sie zu fressen whnen und sich die Muler verbrennen. (EH, KSA 6, 277)
Der „Nachtisch-Ekel“ und die Verweigerung der durch unsauberes Essen gestifteten Gemeinschaft sind Schutzmaßnahmen gegenber der Kleinheit der Menschen. Die Schutzfunktion des Ekels, ursprnglich auf den Kçrper bezogen, wurde in der Entwicklung der modernen Kultur als Zivilisierungsmittel auf psychische und kulturelle Konstrukte bertragen; das, was dem Individuum als gefhrlich fr sein Wesen oder fr die allgemeine gesellschaftliche Ordnung erscheint (z. B. bestimmte Moralvergehen oder Sexualpraktiken), wird als abstoßend und verbrecherisch tabuisiert. Nietzsche bezieht diese Regel auf die „letzten Menschen“, die zur Gemeinschaft mit den Hçheren nicht zugelassen werden drfen, um sie mit ihrer eigenen Kleinheit und Spießigkeit nicht anzustecken. Außer dem Geschmack nehmen auch die anderen Sinne an der Wahrnehmung der Alarmfunktion des Ekels teil, indem sie vor der potenziellen Gefahr seitens des Schwachen und Mittelmßigen warnen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext die Hinwendung zum Kçrperlichen, um die geistige Bedrohung zu veranschaulichen, was brigens mit Nietzsches Auffassung des Leib-Seele-Verhltnisses im Einklang steht: Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. Wir sind keine denkenden Frçsche, keine Objektivir- und RegistrirApparate mit kalt gestellten Eingeweiden, – wir mssen bestndig unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebren und mtterlich ihnen Alles geben,
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was wir vom Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhngniss in uns haben. (FW, KSA 3, 349)
Und so bemerkt Nietzsche zu einer „schlechten“ Seele: „Schlechte Luft! Schlechte Luft! Dass etwas Missrathenes in meine Nhe kommt; dass ich die Eingeweide einer missrathenen Seele riechen muss!…“ (GM, KSA 5, 277) Zu niedrigen Gedanken schreibt er: „Aber dem Pilze gleich ist der kleine Gedanke: er kriecht und duckt sich und will nirgendswo sein – bis der ganze Leib morsch und welk ist vor kleinen Pilzen.“ (Za, KSA 4, 115) Schließlich bemerkt er zu den letzten, kleinen Menschen: Wahrlich, ein schmutziger Strom ist der Mensch. Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu kçnnen, ohne unrein zu werden. […] Was ist das Grçsste, das ihr erleben kçnnt? Das ist die Stunde der grossen Verachtung. Die Stunde, in der euch auch euer Glck zum Ekel wird und ebenso eure Vernunft und eure Tugend. (Za, KSA 4, 15)
Die Selbstverteidigung des Starken und Vornehmen ist nçtig im Hinblick auf die Gefahr, die die letzten, „kleinen“ Menschen darstellen: „Der Ekel am Menschen, am ,Gesindel war immer meine grçßte Gefahr…“ (EH, KSA 6, 276) Diese Gefahr kann in zweierlei bestehen: entweder verwandelt sich der Ekel am Menschen in ein Mitleid, oder er verleitet zur Verachtung und Grausamkeit. Im ersten Falle kommt es zur inneren Verweichlichung und Verlust an Lebenskraft. Als Beispiel fr die furchtbaren Folgen des Mitleids gilt fr Nietzsche die ganze Geschichte Christentums, die in der Entartung des modernen Menschen gipfelt. Er wirft der christlichen Moral „Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben“, den „Hass auf die ,Welt, den Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schçnheit und Sinnlichkeit“ (GT, KSA 1, 18) vor und sieht in der vor ihr verursachten Entkrftung einen nihilistischen Hang, einen Willen zum Untergang. Der Effekt der christlichen Mitleidslehre ist die Verkrppelung der Menschheit, die „berflle des Missrathenen, Krnklichen, Mden, Verlebten“ (GM, KSA 5, 277): Was zu frchten ist, was verhngnissvoll wirkt wie kein anders Verhngniss, das wre nicht die grosse Furcht, sondern der grosse Ekel vor dem Menschen; insgleichen das grosse M i t l e i d mit dem Menschen. (GM, KSA 5, 368)
An anderer Stelle heißt es: Was macht heute u n s e r n Widerwillen gegen ,den Menschen? – denn wir l e i d e n am Menschen, es ist kein Zweifel. – N i c h t die Furcht; eher, dass wir Nichts mehr am Menschen zu frchten haben. (GM, KSA 5, 277)
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Die berwindung des Mitleids wre nach Nietzsche durch das Schenken aus Strke und berflle am Reichtum, so wie es Zarathustra predigt, mçglich. Auf diese Weise entstehen keine Verbindlichkeiten zwischen dem Schenkenden und dem Bedrftigen, die nçtige Distanz bleibt erhalten, der Stolz des Beschenkten wird nicht verletzt, die Selbstachtung und Selbstbestimmung werden ihm ermçglicht. Als Gegenpol zum Mitleid erscheint die Verachtung, die zwischen Ekel und Zorn zu platzieren ist. Normalerweise stellt die Verachtung eine rein negierende Kraft dar, indem sie dem Verachteten jede menschliche Wrde abspricht, aber bei Nietzsche impliziert die Verachtung eine Achtung, wenn auch nur in Form der Anerkennung eines Feindes oder einer Bedrohung: „Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verchter.“ (JGB, KSA 5, 87) Das Schlimmste wre dagegen eine vollkommene Gleichgltigkeit, die den Anderen ganz außer Acht lsst. Die Verachtung richtet sich gegen die von den Verachtenden Nicht-Anerkannten, gegen die Individuen der aus Sicht der Verachtenden der flschlicherweise Anerkannten, die den Verachtenden aber nicht gleichgltig sind, sondern in ihrer Negativitt anerkannt werden. Auf diese Weise werden die letzten Menschen von den Vornehmen betrachtet. Die Grenze zwischen diesen zwei Gruppen ist scharf gezogen, und obwohl die Schwachen die Mehrheit bilden, werden sie als Ausstzige behandelt, die dauerhaft isoliert werden mssen und keine Anerkennung verdienen: Dass die Kranken n i c h t die Gesunden krank machen – und dies wre eine solche Verweichlichung – das sollte doch der oberste Gesichtspunkt auf Erden sein: – dazu aber gehçrt vor allen Dingen, dass die Gesunden von den Kranken a b g e t r e n n t bleiben. (GM, KSA 5, 371)
Diese Quarantne und die ihr entgegengesetzte Metapher der „großen Gesundheit“ widerspiegeln die „abgrndlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch“ (JGB, KSA 5, 83). In der Ablehnung der Krankheit, die als ekelhaft empfunden wird, kommt die Furcht vor der Ansteckung und Tod zum Vorschein. Die Folge ist die anachronistische berzeugung, dass das Eklige an sich eine magische, ansteckende Wirkung hat, so dass jede Berhrung mit ihm vermieden werden muss. So ist denn auch die scharfe Trennung zwischen den hçheren und niedrigen Menschen zu verstehen: „Das Hçhere s o l l sich nicht zum Werkzeug des Niedrigeren herabwrdigen, das Pathos der Distanz s o l l in alle Ewigkeit auch die Aufgaben aus einander halten!“ (GM, KSA 5, 371)
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Was Abscheu erweckt, muss beseitigt werden. Das trifft auf die Ausscheidungen zu, aber auch auf alles, was durch die eigene Schwche die Bedrohung der Abschwchung mit sich bringt. Da die Menschheit am „ b e r s c h u s s der misslungenen Flle“ (JGB, KSA 5, 81) leidet, bietet sich als Gegenmaßnahme die unerbittliche Selektion, ein radikaler Eingriff an, damit das Mittelmßige sich nicht weiter entwickelt: Oh meine Brder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fllt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von Heute – das fllt, das verfllt: wer wollte es halten! Aber ich – ich w i l l es noch stossen! […] Und wen ihr nicht fliegen lehrt, den lehrt mir – s c h n e l l e r f a l l e n! (Za, KSA 4, 261 f.)
Die Verachtung, so wie der Ekel berhaupt, entwchst der bitteren Enttuschung gegenber der Menschheit6 und steigert die Sehnsucht nach der berwindung zum bermenschen. Aber auch diese Idee stçßt auf ein Hindernis, das im ersten Augenblick zur Verzweiflung und zu noch grçßerem Ekel fhrt, nmlich die ewige Wiederkehr des Gleichen im negativen Sinne: wenn anscheinend immer das Selbe sich wiederholt. Jede totale Sttigung und Erfllung schlgt in Ekel um: man kann es beim exzessiven Essen, bei der Sexualitt und jeder Art ermdender Wiederholung einer Lust beobachten, die dann zu einer schlechten Gewohnheit wird, fr die man sich nicht nur schmt, sondern vor der man sich ekelt und die man deshalb irgendwann zu hassen beginnt, weil man sich nicht mehr zu achten vermag. Es gibt aber nicht nur bersttigungs- und bermaßekel, sondern auch Mittelmßigkeitsekel, der auftritt, wenn man immer beim Mittelmßigen bleibt und gar nicht zum Hçhepunkt gelangt, oder nach dem Hçhepunkt im Mittelmaß versinkt: Der große berdruss am Menschen – d e r wrgte mich und war mir in den Schlund gekrochen: und was der Wahrsager wahrsagte: „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen wrgt.“ […] „Ewig kehrt er wieder, der Mensch, dess du mde bist, der kleine Mensch“ – so ghnte meine Traurigkeit und schleppte den Fuss und konnte nicht einschlafen. […] Ach, Ekel! Ekel! Ekel! – - Also sprach Zarathustra und seufzte und schauderte. (Za, KSA 4, 274 f.)
Statt der Entwicklung und Steigerung des Menschen gibt es anscheinend nur eine bloße Wiederholung des Missglckten am Menschen: „Die Mittelmssigen allein haben Aussicht, sich fortzusetzen, sich fortzupflanzen, – sie sind die Menschen der Zukunft, die einzig berlebenden.“ (JGB, KSA 6
Ein separates Kapitel in Nietzsches Betrachtungen ber die Entartung des modernen Menschen bilden die Passagen, die er der Emanzipation und demzufolge Entzauberung des Weibes gewidmet hat.
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5, 217) Diese Vorstellung wirkt erschtternd, dient aber zugleich als Maßstab der Lebenskraft, die es den ausgewhlten Individuen ermçglicht, den berdruss zu bewltigen, indem sie den Ekel am Ekel zur berwindung des Ekels benutzen. Nur die starken, die „vom ansteckenden Virus der Lebensfeindlichkeit noch nicht unheilbar befallen sind“7, sind imstande, die ewige Wiederkehr des Gleichen auszuhalten. Ihnen steht die Mçglichkeit offen, die Tragik des Schicksals zu berwinden und das Gegebene in das Werdende umzugestalten. Es muss dabei unterstrichen werden, dass diese „Vornehmen“ nicht unbedingt in der Schicht der Gebildeten zu suchen sind. Ganz im Gegensatz zu gngigen Klischees ist nach Nietzsche die Gelehrsamkeit eher mit einem Mangel an Vornehmheit und Lebensinstinkt verbunden: Umgekehrt wirkt an den sogenannten Gebildeten, den Glubigen der „modernen Ideen“, vielleicht Nichts so ekelerregend, als ihr Mangel an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von ihnen an Alles gerhrte, geleckt, getastet wird; und es ist mçglich, dass sich heut im Volke, im niedern Volke, namentlich unter Bauern, immer noch mehr r e l a t i v e Vornehmheit des Geschmacks und Takt der Ehrfurcht vorfindet, als bei der zeitungslesenden Halbwelt des Geistes, den Gebildeten. (JGB, KSA 5, 218)
Nicht nur das Mittelmßige erweckt Abscheu und Abneigung, auch das berlegene Machtgefhl ohne Legitimierung im Geiste gilt nach Nietzsche als ekelhaft. Die Selbstgewissheit und Entschiedenheit im Handeln und Denken – die Tugenden der Vornehmen – sind nur dann echt und lobenswert, wenn sie sich in der wahren geistigen Grçße grnden, im Reichtum der Talente und Flle der Gefhle: in der Gabe großzgig geben zu kçnnen bis zu der Gabe sich zu vergeben, ja sich zu verschenken. Macht speist sich nach Nietzsche aus der Flle der Gaben, aus der Grçße der Mçglichkeiten, sonst ist die Macht nur eine Usurpation der Macht, hinter der sich eine Schwche verbirgt. Jede „Halbwelt“ ist eklig, weil sie bruchstckhaft und unvollkommen ist; nur der Starke, der Volle, bervolle, der Große, der fr sich eine ganze Welt darstellt und fhig ist, aus sich selbst heraus neue Welten zu schaffen, verdient die Macht und die Mitgliedschaft im Kreise der Vornehmen. Nietzsches Ekelbegriff ist eine Reaktion auf die Entdeckung der Wahrheit ber die Wirklichkeit des Menschen: „In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch berall nur das Ent7
Enrico Schild, Die Entfesselung zur Macht. Grundzge des Menschenbildes bei Friedrich Nietzsche, Allschwil 1992, S. 249.
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setzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.“ (GT, KSA 1, 56) Gleichzeitig trgt der Ekel in seinen Schriften deutliche moralische und sthetische Zge, wobei die Moral vielmehr als Ethos und Habitus zu verstehen wre und im Grunde unzertrennlich mit der sthetischen Wahrnehmung der Welt verbunden bleibt: nur „als sthetisches Phnomen ist uns das Dasein immer noch e r t r g l i c h“ (FW, KSA 3, 464): nur durch den schçnen Schein der Kunst kann der Ekel berwunden werden. Die Kunst erscheint als Antidoton gegen die „allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit“ und ist eine Rettung in der Situation, wo „die R e d l i c h k e i t den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben wrde“ (FW, KSA 3, 464): Hier, in dieser hçchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die K u n s t ; sie allein vermag jene Ekelgedanken ber das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lsst: diese sind das E r h a b e n e als die knstlerische Bndigung des Entsetzlichen und das K o m i s c h e als die knstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. (GT, KSA 1, 57)
Die Kunst ist ein Heilmittel gegen den Ekel am berdruss an der Realitt. Sie ermçglicht, dass die Abneigung gegen die Welt und die Menschheit berwunden werden kann, u. a. durch die verschiedenen Formen des Rausches. Auf diese Weise kehren wir zum Rausch zurck, dem nach Nietzsche schçpferischen, knstlerischen Zustand par excellence, in dem sowohl die „bçsen“ als auch die „guten“ Triebe und Affekte als lebensbedingend und lebenssteigernd hochgeschtzt werden. Zum Rausch, der „im Gefolge aller grossen Begierden, aller starken Affekte kommt“ (GD, KSA 6, 116), gehçren auch „der Rausch der Grausamkeit“ und „der Rausch in der Zerstçrung“ – zwei Gemtsbewegungen, die dem starken Ekel entwachsen, die aber auch Ekel und Ekliges hervorzubringen vermçgen. Der Ekel kann sich also im Rausch grnden, der Ekel kann aber auch den Rausch zerstçren, indem er ernchtert, ent-tuscht, indem er den Menschen in seinen ursprnglichsten Regungen bloßlegt und ihm seine im Rausch begangenen Taten vor Augen fhrt. Jedoch selbst der Ekel am Ekel kann berauschen, wie auch das Rauschen des Rausches eklig sein kann. Aus Ekel verzweifelt der Mensch allzu oft an sich selbst und verliert seine Selbstachtung, doch er kann diese Selbstachtung wiederfinden, indem er erkennt, dass er sich verloren hat. Das Vermçgen zum Ekelempfinden kann also als einer der Maßstbe des Menschseins betrachtet werden, und dieser Affekt, so verdrngt und verpçnt er in der heutigen Gesellschaft mit
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ihrem Schçnheits- und Hygienewahn auch ist, verdient eine Rehabilitation im Hinblick auf seine zivilisierende, Erkenntnis ermçglichende Funktion.
Das Spannungsfeld von „großer Liebe“ und Moral der Selbstverkleinerung: „verachtende“ Liebe vs. Nchstenliebe und Mitleid* Chiara Piazzesi Grçsse heisst: Richtung-geben. – Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflsse aufnimmt und fortfhrt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grçssen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt, welcher dann so viele Zuflsse folgen mssen; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist. (MA, KSA 2, 324)
Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung der Merkmale und der Funktion dessen, was Nietzsche mit dem Ausdruck „grosse Liebe“ bezeichnet. Dies bedarf einer Erçrterung insofern, als die Charakterisierung „groß“ hier, wie in der Regel bei Nietzsche, nicht bloß eine quantitative Steigerung, sondern zunchst eine qualitative nderung, die Verschiebung eines ganzen Erfahrungsbereichs bedeutet. Die große Liebe scheint eine wichtige Funktion in Hinsicht auf die Moralkritik, auf die Erkenntnis und auf die Aufgabe der Umwertung der Werte und der berwindung des Nihilismus zu leisten, weil sie den ,selbstverkleinernden Mitteln entgegenwirkt. Wir werden also zu erlutern versuchen: a) was die „grosse Liebe“ ist; b) wie sie wirkt; c) wie sich das Spannungsfeld gestaltet, innerhalb dessen die große Liebe ihre „erlçsende“ Funktion leistet. Denn die Rede von der „grossen Liebe“ ermçglicht einige wichtige Betrachtungen bezglich der „Aufgabe“ der Philosophie im Sinne Nietzsches.
*
Fr die Hilfe bei der sprachlichen Verarbeitung des Textes danke ich Emanuel Herold. Ich bin auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und dem Publikum des Kongresses fr ihre Anregungen sehr dankbar. Diese Forschungsarbeit wurde durch eine postdoktorale Fçrderung der Fritz Thyssen-Stiftung ermçglicht.
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a)
Was ist „grosse Liebe“?
Den Ausdruck „grosse Liebe“ verwendet Nietzsche nicht sehr hufig, aber konstant und in quasi terminologischer Weise. Damit scheint er eine Form von Liebe zu identifizieren, die besonderer Leistungen fhig ist, im Vergleich zu jener Liebe, derer Auffassung normalerweise im Wort „Liebe“ unterstellt wird.1 Die große Liebe scheint nicht nur eine besonders tiefe oder intensive Liebe zu sein, sondern eine, welche in der Lage ist, ber die blichen Grenzen der Liebe als menschlicher, kulturell geprgter Erfahrung hinauszugehen – Grenzen, die sie ihrer Moralisierung verdankt. Die „Grçße“ der großen Liebe scheint darin zu bestehen, dass sie einen breiteren Raum der Erfahrung und der Selbstentfaltung verschafft, und zwar dank der berwindung von gewçhnlichen Gegenstzen und der entsprechenden berschreitung von moralischen Schwellen. Schon vor Also sprach Zarathustra, wo der Ausdruck deutlicher charakterisiert wird, erklrt Nietzsche das Zusammenfallen von Gerhrt- und Beleidigtsein (z. B. eines Mannes durch die „Hlfsbedrftigkeit“ und den „Uebermuth“ einer Frau) als „Quelle der grossen Liebe“ (VM, KSA 2, 498). Dies scheint schon jene Ambiguitt anzudeuten, die spter der großen Liebe zugeschrieben wird. Aber hier kçnnte man noch vermuten – wie im Fall von Vermischte Meinungen und Sprche 280 (VM, KSA 2, 496) –, dass die Charakterisierung „gross“ eher auf eine quantitative Steigerung als auf eine qualitative Unterscheidung verweist. Wichtig ist aber, dass Nietzsche den Zusammenhang zwischen großen Leidenschaften (vor allem Liebe und Hass) und Individualisierung betont, als Kanalisierung von Krften und Energien, die nicht mehr als „Volks-Leidenschaften“ zum Ausdruck kommen (FW, KSA 3, 395). Also sprach Zarathustra markiert, wie es oft der Fall ist, eine terminologische Wende. Jetzt scheint „grosse Liebe“ eine besondere Kapazitt bzw. eine Mçglichkeit der Erfahrung zu bezeichnen, die bisher noch nicht vorhanden war und fr die der moralisierte Ausdruck „Liebe“ nicht angemessen ist. Darin, und nicht bloß in ihrer Intensitt, besteht ihre Grçße. In der Rede Von den Mitleidigen setzt Nietzsche die große Liebe dem Mitleiden (man sollte dem „Leiden“ des „leidenden Freund[s]“ lieber „ein hartes Bett, ein Feldbett“ als eine „Ruhesttte“ sein) und der Vergebung unmittelbar entgegen („Und thut dir ein Freund bles, so sprich: ,ich 1
Zum Ausdruck „grosse Liebe“ vgl. vor allem VM, KSA 2, 496, 498; FW, KSA 3, 395 ff.; FW, KSA 3, 577 ff.; Za, KSA 4, 113 ff.; Za, KSA 4, 128 ff.; Za, KSA 4, 249 f.; Za, KSA 4, 215 ff.; GM, KSA 5, 335 f.; GM, KSA 5, 395 ff.
Das Spannungsfeld von „großer Liebe“ und Moral der Selbstverkleinerung
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vergebe dir, was du mir thatest; dass du es aber dir thatest, – wie kçnnte ich das vergeben!“): „alle grosse Liebe“ vermag, beide zu berwinden. Zarathustra warnt die Liebenden, deren Liebe nicht hçher als ihr Mitleid ist, vor allem warnt er aber allgemein vor dem Mitleiden selbst, vor dem die große Liebe selbst schtzen kann: „alle grosse Liebe ist noch ber all ihrem Mitleiden: denn sie will das Geliebte noch – schaffen!“ (Za, KSA 4, 115 f.). hnlich behauptet Zarathustra, wegen seiner „grossen Liebe“ den Krieg und die Ungleichheit unter den Menschen verbreiten zu wollen: Gerechtigkeit bedeutet, dass die Menschen nicht gleich sind und es auch nicht werden sollen. Jene große Liebe ist in diesem Sinn die „Liebe zum bermenschen“, die dazu auffordert, die Menschen als ungleich zu behandeln, Ungleichheiten und Differenzen zu fçrdern, um das Leben blhen und steigen zu lassen.2 Dank ihrer Fhigkeit, das Mitleid zu berwinden, kann sich die große Liebe auf fernere und hçhere Ziele richten – wie den bermenschen – und konkret zu ihrer Verwirklichung beitragen: sie ist die Kraft, die ermçglicht, ihnen das Vorhandene zu opfern. Der Verweis auf diese Spannung nah/fern ist in Von alten und neuen Tafeln zu finden: „Also heischt es meine grosse Liebe zu den Fernsten: schone deinen Nchsten nicht! Der Mensch ist Etwas, das berwunden werden muss.“ (ZA, KSA 4, 249) Die „grosse Liebe“ setzt sich der Nchstenliebe entgegen, indem sie die berwindung des Nchsten anstrebt und die Idee des bermenschen pflegt: so geht sie ber jene Symmetrie hinaus und will nicht Gegenliebe, sondern „mehr“ als Liebe (Za, KSA 4, 365).3 Spter lsst Nietzsche der großen Liebe indirekt weitere Merkmale zukommen, die sich auf seine philosophische Aufgabe beziehen. Frçhliche Wissenschaft 345 wendet sich gegen die unpersçnliche, „selbstlose“ Behandlung der Probleme der Erkenntnis bzw. der Philosophie: „die grossen Probleme verlangen die grosse Liebe, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fhig, die fest auf sich selber sitzen“ (FW, KSA 3, 577). Dementsprechend wird in Genealogie der Moral III, 23 die Wissenschaft, wo sie nicht die modernste und neueste Form des asketischen Ideals 2
3
„In die Hçhe will es sich bauen mit Pfeilern und Stufen, das Leben selber: in weite Fernen will es blicken und hinaus nach seligen Schçnheiten, – darum braucht es Hçhe! Und weil es Hçhe braucht, braucht es Stufen und Widerspruch der Stufen und Steigenden! Steigen will das Leben und steigend sich berwinden.“ (Za, KSA 4, 130) Hier setzt Zarathustra die große Liebe der Liebe Jesu entgegen (die Paraphrasierung von Lukas 6, 25 ermçglicht diese Identifizierung), der einerseits nach Liebe verlangte, andererseits gleich „fluchte“, wo er nicht liebte und insofern „nicht genug“ liebte (Za, KSA 4, 365).
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ist, trotzdem als „Versteck fr alle Art Missmuth, Unglauben, Nagewurm, despectio sui, schlechtes Gewissen – […] Unruhe der Ideallosigkeit selbst, das Leiden am Mangel der grossen Liebe, das Ungengen an einer unfreiwilligen Gengsamkeit“ bezeichnet (GM, KSA 5, 397). Daraus kann man schließen, dass die große Liebe in der Erkenntnis eine bedeutsame Rolle spielt, dass sie sogar fr das persçnliche Engagement in der Erkenntnis steht, durch das Nietzsche gegen eine Auffassung der Wissenschaft als objektive Rekonstruktion einer metaphysischen, von dem Erkennenden ganz unabhngigen Wahrheit kmpft. So bietet die große Liebe nicht nur eine alternative Form der Erkenntnis, sondern zugleich eine, die vom asketischen Ideal und von der Verneinung des Lebens erlçsen kçnnte – der Verneinung, die sich als psychisches Phnomen des schlechten Gewissens kristallisiert hat: Irgendwann […] muss er uns doch kommen, der erlçsende Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schçpferische Geist, den seine drngende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei—: whrend sie nur seine Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder an s Licht kommt, die Erlçsung dieser Wirklichkeit heimbringe: ihre Erlçsung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. (GM, KSA 5, 336)
Offenbar ist hier die große Liebe allmhlich zu einer philosophischen Formel geworden, die eine bestimmte Einstellung den Problemen der Moderne gegenber kennzeichnet. Sie gehçrt nicht nur, wie noch in Vermischte Meinungen und Sprche, zum Bereich der persçnlichen Beziehungen und verdankt ihrer „Grçße“ eine ganze Konstellation von Fhigkeiten, die wir jetzt versuchen zu erlutern.
b)
Wie wirkt und was fr eine Funktion hat die große Liebe?
Wie schon angedeutet, scheint die große Liebe von einer besonderen leidenschaftlichen Intensitt und einer charakteristischen psychischen Dynamik gekennzeichnet zu sein, aufgrund derer sie eine berwindende und befreiende Funktion erfllen kann. 1) Die große Liebe zielt nicht auf Erwiderung, auf Gegenliebe oder auf eine symmetrische Beziehung, sondern auf ein Schaffen, das zunchst den geliebten Gegenstand betrifft. Dementsprechend setzt Zarathustra die Ziele der großen Liebe hçher als die des Mitleids und der Vergebung und stellt folglich sowohl die Moral der Nchstenliebe als auch die moralische
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Auffassung der Liebe in Frage. Aus Liebe nicht bemitleiden und nicht vergeben – das widerspricht der christlichen Moral, da aus ihrer Sicht die Liebe ihrer kennzeichnenden Leistungen beraubt wrde. Die große Liebe kann mehr, weil sie dem anderen (dem Freund) das nicht vergibt, was seiner nicht wrdig ist. Sie will schaffen, d. h. sie fordert vom anderen mehr, als er gerade geben will oder kann, sie will den anderen so-und-so berwinden (was nicht gleich „verndern“ ist). Das Mitleid wird seinerseits als eine Haltung betrachtet, die das Leiden des anderen nicht wrdigt. Um dem anderen ntzlich zu sein, muss man mehr als bemitleiden, d. h. man darf nicht bemitleiden. Nietzsche kritisiert das Mitleid sowohl in Bezug auf seinen moralischen Wert als auch wegen seiner Wirkung auf den Leidenden. Das Mitleid ist zunchst weder desinteressiert noch selbstlos und altruistisch, sondern eine Lust an sich selbst, an der Emotion (wie in der Tragçdie) oder an der tatschlichen „Ausbung der Macht“ (MA, KSA 2, 97). Auch das Mitleid-erregen-wollen ist in der Tat eine Frage der Macht: an der Fhigkeit, Mitleid zu erregen, lsst sich von den Schwachen die verbleibende Macht messen, „wehe zu tun“ (MA, KSA 2, 71; vgl. FW, KSA 3, 384 ff.). Beim Mitleiden sind wir also lngst nicht selbstlos, sondern denken stark an uns, wenn auch unbewusst (M, KSA 3, 125 ff.): „Mitleid ist wesentlich das Erstere, eine angenehme Regung des Aneignungstriebes, beim Anblick des Schwcheren: wobei noch zu bedenken ist, dass ,stark und ,schwach relative Begriffe sind.“ (FW, KSA 3, 476) Dieser erste Teil der Kritik des Mitleids wird von seiner Infragestellung in Bezug auf seine Wirkungen begleitet, die hier vielleicht noch entscheidender ist. Sowohl als Wille, den anderen mit-leiden zu lassen, als auch als spontane Anteilnahme am Leiden des anderen, wirkt das Mitleid das Leiden selbst vermehrend (M, KSA 3, 127 ff.), das Leiden an sich selbst verdoppelnd (M, KSA 3, 130): insofern wirkt das Mitleid „depressiv“ (AC, KSA 6, 172). Noch wichtiger ist, dass das Mitleid immer eine gewisse Aufrechterhaltung des Vorhandenen impliziert: „es erhlt, was zum Untergange reif ist, […] durch das Mit wird das Leben verneint, verneinungsw gemacht, – Mitleiden ist die Praxis des Nihilismus“ (AC, KSA 6, 173). So gehçrt das Mitleid zu den strksten Hemmungen der Fhigkeit der (Selbst)berwindung, es ist eine konservierende und schonende Einstellung, die den Grundcharakter des Lebens moralisch verneint. Insofern bezeichnet Nietzsche in Frçhliche Wissenschaft 338 (FW, KSA 3, 565 ff.) das Mitleid, in objektiver sowie in subjektiver Hinsicht, als gefhrlich. Ein Thema entwickelnd, das Zarathustra kennzeichnen wird,
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meint Nietzsche zum einen, dass die hçchste Gefahr des subjektiven Mitleidens mit dem „Nchsten“ darin besteht, den eigenen „Weg“ zugunsten des anderen zu verlieren. Zum anderen geht die subjektive Praxis des Mitleidens von einer falschen Voraussetzung aus: dass Unglck und Leiden unbedingt „schlimm“ und „schdlich“ sind, und dass der Leidende davon gerettet werden (bzw. man sich selbst erleichtern) muss. So werden die Fruchtbarkeit und „Notwendigkeit des Unglcks“ im Leben bersehen.4 Die Gleichsetzung des Mitleidens mit einer Form von Liebe und „Wohlthun“ wird also allmhlich untergraben: es verneint grundstzlich die Einzigartigkeit jedes Einzelnen und seines „Weges“, samt der Notwendigkeit des Leidens in der konomie der einzigartigen Selbstentfaltung. Das (subjektive und objektive) Mitleid ist die „Verfhrung“ (FW, KSA 3, 567), dem eigenen Weg zu entlaufen. In diesem Sinn ist es die Versuchung bzw. die letzte Snde Zarathustras – der Mitleid mit den hçheren Menschen hat. (Vgl. z. B. Za, KSA 4, 408) Vor ihm warnt Zarathustra der hsslichste Mensch, der sich aber dem Mitleiden der anderen auch objektiv entziehen will: denn das „nicht-helfen-wollen“ heißt „Ehrfurcht vor grossem Unglck, vor grosser Hsslichkeit, vor grossem Missrathen“ haben, derer die Mitleidigen unfhig sind (Za, KSA 4, 330). Aus Verantwortung der eigenen Aufgabe und aus Respekt der fremden Aufgabe gegenber muss man die mitleidende Einstellung zurckweisen, die gegen das Leben wirkt, indem sie Differenzen einebnet, Distanzen abschafft, mithin die „Persçnlichkeit“ jedes Einzelnen verdirbt. Dies steckt hinter der Behauptung, die große Liebe sei in der Lage, mehr als ,Liebe zu wollen, mehr als Vergebung und Mitleiden zu bieten: die große Liebe ermçgliche eine hçhere, tiefere Großzgigkeit und Gerechtigkeit. Zunchst hat sie es nicht nçtig, Distanzen abzuschaffen oder den anderen von seinem Leiden zu entlasten (sie bereitet ihm nicht nur „eine Ruhesttte“, sondern „gleichsam ein hartes Bett, ein Feldbett“); darber hinaus hat sie nicht das Bedrfnis, dem anderen gleich zu vergeben: Liebe ohne Versçhnung ist nur im Rahmen der auf falschen Gegenstzen beruhenden Moral unmçglich. Zarathustra fordert zu einer Liebe auf, die aus Liebe zum anderen nicht gleich versçhnt und vergibt, wenn die ble Tat des anderen seiner nicht wrdig ist („ich vergebe dir, was 4
„Die gesammte Oekonomie meiner Seele […] das Alles, was mit dem Unglck verbunden sein kann, kmmert den lieben Mitleidigen nicht: er will helfen und denkt nicht daran, dass es eine persçnliche Nothwendigkeit des Unglcks giebt, dass mir und dir Schrecken, Entbehrungen, Verarmungen, Mitternchte, Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so nçthig sind, wie ihr Gegentheil.“ (FW, KSA 3, 566)
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du mir thatest; dass du es aber dir thatest, – wie kçnnte ich das vergeben!“). Von Ressentiment und Rachsucht weit entfernt, zielt die große Liebe auf eine Erziehung des anderen: sie will den anderen schaffen, wie Zarathustra behauptet. Zwischen der allgemeinen erzieherischen Absicht und im Bewusststein der Einzigartigkeit jeder Form von Leben ist Nietzsches Feststellung bezglich der großen Mnner einzuordnen/zu verorten: der „Psychologe“ beobachtet unentbehrlich deren „Verderbniss“ und „Zugrundegehen“ und ist der Gefahr ausgesetzt, „am Mitleiden zu ersticken“. Dadurch lernt er allmhlich „das grosse Mitleiden neben der grossen Verachtung“ (JGB, KSA 5, 223): das Verstndnis und die Sympathie fr jene hçheren Menschen muss von einer Verachtung begleitet werden, die das Risiko der depressiven Wirkung des Mitleids abmildert. Wo an die Beobachtung auch das Schaffen angeschlossen werden muss und so die Liebe erforderlich wird (so wie in Unzeitgemße Betrachtungen II, 6 – 7 in Bezug auf historische Gerechtigkeit erklrt), hat die Liebe wiederum die verachtende Kompensierung nçtig, um den Konsequenzen des Mitleidens zu entkommen und ihre Aufgabe zu verfolgen. 2) Das Motiv des Schaffens verdeutlich ein weiteres Merkmal und eine Funktion der großen Liebe. Zarathustra assoziiert in zwei wichtigen Zusammenhngen der Liebe bzw. der großen Liebe eine mit ihr moralisch scheinbar unvereinbare Einstellung, d. h. die Verachtung. An der ersten Stelle betont Zarathustra den Wert und die Hrte der Einsamkeit und beschreibt „de[n] Weg des Schaffenden“. Einsamkeit bedeutet, weder ber Begleitung noch ber Erleichterung verfgen zu kçnnen, um die eigene Aufgabe zu erfllen: je grçßer die Aufgabe und die entsprechenden Ansprche, desto grçßer die Einsamkeit und die Unverstndlichkeit dieses Wegs „zu sich selber“. Einsamer, du gehst den Weg des Liebenden: dich selbst liebst du und desshalb verachtest du dich, wie nur Liebende verachten. Schaffen will der Liebende, weil er verachtet! Was weiss Der von Liebe, der nicht gerade verachten musste, was er liebte! Mit deiner Liebe gehe in deine Vereinsamung und mit deinem Schaffen, mein Bruder; und spt erst wird die Gerechtigkeit dir nachhinken. (Za, KSA 4, 82)
Die Verachtung scheint also einer schaffenden Liebe innewohnen zu mssen, sogar als die treibende Kraft, die zum Schaffen motiviert, weil sie die Rechtfertigung des unbefriedigenden Daseins ausschließt. Die (Selbst)Verachtung motiviert zur (Selbst)berwindung, indem sie eine Distanz zum geliebten Gegenstand hlt und die blinde, rechtfertigende Annherung der Liebe ausgleicht und vermeidet. Doch bildet sich diese
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Distanz in der Liebe, was aus ihr eine dynamische Distanz macht, ein Zusammenspiel von Annherung und Distanzierung im Prozess des liebenden Schaffens. So wird hier angedeutet, dass diese zur Verachtung fhige Liebe, eine besondere Liebe ist („Was weiss Der von Liebe…“ usw.). In diesem Rahmen geht es noch um eine Einstellung sich selbst gegenber, die in der Rede Von der verkleinernden Tugend auf das Verhltnis zum Anderen ausgedehnt wird: „Liebt immerhin euren Nchsten gleich euch, – aber seid mir erst solche, die sich selber lieben – mit der grossen Liebe lieben, mit der grossen Verachtung lieben!“ (Za, KSA 4, 216) In dieser Rede weist Zarathustra die Tugend zurck, die verkleinert, schwcht, wie die Gerechtigkeit der Guten und Gerechten, oder das Mitleid, oder eine Nchstenliebe, die nur aus Feigheit praktiziert wird („Sie wollen im Grunde einfltiglich Eins am meisten: dass ihnen Niemand wehe thue. So kommen sie jedermann zuvor und thun ihm wohl.“ (Za, KSA 4, 214)), jene Tugend der „Mittelmssigkeit“, die „bescheiden und zahm macht“. Dieser verkleinernden Tugend setzt Zarathustra eine neue „Nchstenliebe“ entgegen, die zu großer Liebe und großer Verachtung fhig ist: sie schafft zunchst den Raum der Selbstentfaltung durch Selbstberwindung, und genau diesen Raum bietet sie, aus Liebe, auch den Nchsten. Diese Liebe zu den Nchsten hngt mit der „Liebe zu den Fernsten“ zusammen, die den Nchsten nicht „schont“, sondern schaffen will. Liebe und Verachtung bilden die Spannung, die ein solches Schaffen ermçglicht: zunchst das eigene Leiden zu tragen, um davon ausgehend „geschaffen“ zu werden. Die Kraft und das Potential der Spannung Liebe/Verachtung beschftigen Nietzsche schon ab 1875, insofern er in ihnen den produktiven Kern des Christentums sieht und versucht, sie von ihrer moralischen und religiçsen Dimension abzukoppeln. Drei Notate,5 darunter die bekannte Schlussbetrachtung zu den Notizen aus Dhrings „Der Werth des Lebens“ (1875), behandeln diese Problematik und bereiten schon das vor, wofr Zarathustra pldieren wird. Hier tritt Verachtung als Selbsterkenntnis desjenigen in Erscheinung, der „an sich genug gelitten, sich genug verletzt“ hat, als Selbstbewusstsein und nchterne Selbstbetrachtung: als eine „Sache des Kopfes“. Liebe gilt als Kompensierung fr jene vernichtende Einstellung und treibt unmittelbar zum Weiterleben und -handeln. Diese selbstverachtende Liebe ist die reinste berhaupt, nicht mehr „die Liebe des gierigen blinden Egoismus“, vielmehr eine Liebe als mitleidige 5
Vgl. NF, KSA 8, 88; NF, KSA 8, 131 ff., insb. 178 ff.; NF, KSA 8, 323 f.
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„Selbstbegnadigung“, welche die gnadenlose Selbsterkenntnis aufhebt und so das Leben selbst ermçglicht (NF, KSA 8, 180). Im Aphorismus 134 von Menschliches, Allzumenschliches greift Nietzsche diese berlegungen wieder auf, um die christliche Auffassung der Selbstverachtung und der ,gçttlichen Begnadigung zu kritisieren: die erstere ist ein „Fehler des Spiegels“, in den der Mensch schaut, d. h. sie entspringt aus der Vorstellung eines vollkommenen Gottes, mit dem der Menschen sich vergleicht; die letztere ist die blhende Selbstliebe, eine Selbstbegnadigung, die der Mensch als „gçttliche Gte“ deutet (MA, KSA 2, 129). Einmal, dass diese zwei Krfte der Selbsterkenntnis und der Selbstliebe dem Menschen als seine eigenen Leistungen zugeschrieben und von ihm bewusst praktiziert werden, schaffen sie den erforderlichen Raum fr Selbstberwindung und Selbstentfaltung. Dies wird anhand zwei weiterer Stellen noch deutlicher, nmlich der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches (insb. § 6) und vor allem der entsprechenden Vorstufe (NF, KSA 11, 664), wo Nietzsche den Anfang seiner „Zeit der Wanderschaft“ beschreibt. Jene Darstellung hat viel mit der Art und Weise gemeinsam, wie Zarathustra den Weg des schaffenden Einsamen charakterisiert. Nietzsche betont, dass es sich um einen Weg der Selbstbejahung und des Selbstmisstrauens, der stndige Infragestellung der eigenen Ja und Nein handelt und meint, so wie es Zarathustra dem „Einsamen“ ankndigt, „daß mir unterwegs [vielleicht] wieder die Gerechtigkeit selber begegnen wrde!“ (NF, KSA 11, 664) Durch die Erfahrung der eigenen, unentbehrlichen Ungerechtigkeit gewinnt man eine tiefere Einsicht in die Ungerechtigkeit selbst und, durch die Erkenntnis, einen hçheren Grad an Gerechtigkeit – zunchst als Verzicht auf den Anspruch auf absolute Gerechtigkeit. Liebe umfasst in diesem Sinn auch Verachtung und entsprechende Erkenntnis (als Selbsterkenntnis ohne Ressentiment); Verachtung umfasst auch Liebe samt ihrer sich immer wiederholenden Ungerechtigkeit. So fhrt die Spannung Liebe/Verachtung zu der Frage nach dem Verhltnis von Liebe und Gerechtigkeit.6 3) Die dritte Funktion der großen Liebe ist mit der zweiten eng verbunden: die große Liebe ist ein Mittel der Erkenntnis in Bezug auf die „grossen Probleme“, die sie behandeln muss, whrend die Unpersçnlichkeit in diesem Zusammenhang zu gar keinem Ergebnis fhren kann. Wie schon angedeutet, betrachtet Nietzsche die Wissenschaft als die neueste 6
Diesbezglich erlaube ich mir, auf meine Arbeit: Liebe und Gerechtigkeit. Eine Ethik der Erkenntnis, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 352 – 381 zu verweisen.
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Form des asketischen Ideals.7 Im Rahmen unserer berlegungen ist es wichtig hervorzuheben, dass diese nihilistische Einstellung in der Wissenschaft nicht in Bezug auf die Maßstbe der wissenschaftlichen Methode, vielmehr in Bezug auf das entsprechende Selbstverstndnis des Menschen problematisch ist: nihilistisch ist hier das menschliche Selbstbild, d. h. das Bild der menschlichen Verhltnisse zu den Dingen, zur Welt, zur Geschichte usw. Wie Nietzsches Verweis auf das kopernikanische Weltbild und auf die sptere Entwicklung der Wissenschaft in Richtung asketisches Ideal verdeutlicht, wirkt jede Perspektive in der Erkenntnis auf das Selbstverstndnis und auf die Selbsteinschtzung des Menschen zurck:8 so macht es einen wichtigen Unterschied, ob der Mensch sich als „beinahe Gott“ („Kind Gottes“, „Gottesmensch“) betrachtet oder „immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg […] in s Nichts [rollt]“. Und so bedeutet „die berschtzung der Wahrheit“, d. h. „de[n] Glauben an die Unabschtzbarkeit, Unkritisierbarkeit der Wahrheit“, welcher der „Boden“ ist, auf dem Wissenschaft und asketisches Ideal stehen, eine abwertende Selbstunterwerfung des Menschen, eine progressive Selbstverkleinerung (KSA, GM 5, 402 ff.). Mit diesem Glauben ist der menschlichen Selbstentfaltung eine Grenze gesetzt. Dies wird in Bezug auf den tiefen moralischen Wert des WahrheitsVorzugs noch deutlicher (FW, KSA 3, 574 ff.): mit dem Glauben an die Wahrheit ist ein moralisches Verbot gekoppelt, das die Illusion, das Falsche, die Lge als moralisch verwerflich bezeichnet. Der Imperativ der Wahrheit birgt also ein moralisches Urteil ber den Grundcharakter des Lebens als Flschung, als knstlerische Aktivitt, als „Winkel“ und Perspektive,9 eine Verneinung des Lebens, samt dem Verbot, den Wert dieses absoluten Urteils in Frage zu stellen.10 So erweist sich die Frage nach dem Wert der moralischen Werte,11 welche die Moral und ihre konstitutive
7 Vgl. dazu Marco Brusotti, Die „Selbstverkleinerung des Menschen“, in: NietzscheStudien 21 (1992), insb. S. 113 ff. 8 Wie Peter Sloterdijk meint (Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ndern, Frankfurt am Main 2009, S. 174 f.): „Mensch sein heißt in einem operativ gekrmmten Raum existieren, in dem die Aktionen auf den Akteur, die Arbeiten auf den Arbeiter, die Kommunikationen auf den Kommunizierenden, die Gedanken auf den Denkenden, die Gefhle auf den Fhlenden zurckwirken.“ 9 Vgl. z. B. die erwhnten Stellen in Menschliches, Allzumenschliches und NF, KSA 11, 663 ff. 10 Zum Problem des „Werth[s] der Wahrheit“ siehe GM, KSA 5, 401. 11 „Dergestalt fhrt die Frage: warum Wissenschaft? zurck auf das moralische Problem – wozu berhaupt Moral, wenn Leben, Natur, Geschichte ,unmoralisch
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Unterscheidungen auf ihre Herkunft im Rahmen des Lebens zurckfhrt, als Leitfrage von Nietzsches Philosophie: durch diese Frage werden die Moral und die Wahrheit auf eine „absolute“ Weise (d. h. anhand eines Verweises, der nicht mehr ermçglicht, die Moral nicht als relativ und bedingt zu betrachten) relativiert. Um den traditionellen wissenschaftlichen Ansatz, die entsprechende „Unabdingbarkeit“ der Wahrheit und das ihnen zugrunde liegende moralische Urteil in Frage zu stellen und zu untergraben, muss man sich aber diesem Ideal methodologisch entziehen, denn Unpersçnlichkeit und Selbstverneinung des Erkennenden zugunsten einer angeblichen „Objektivitt“ kçnnen zu keinem Ergebnis im Rahmen der „grossen Probleme“ fhren. In diesem Sinn verlangen „alle grosse Probleme […] die grosse Liebe“. Das Problem der Moral gilt fr Nietzsche als persçnliches Problem, wird als „persçnliche Noth, Qual, Wollust, Leidenschaft“ empfunden (FW, KSA 3, 578). „Persçnlich“ bedeutet „existentiell“ in einem weit gefassten Sinn: jenes Problem stellt sich nicht als vom Erkennenden unabhngige Frage nach der Wahrheit, sondern als Not, als Bedrfnis einer Person, einer besonderen Art von Leben, (Vgl. JGB, KSA 5, 17; GD, KSA 6, 86) die sich durch diese Infragestellung bejaht und zugleich berwindet. Als Kind seiner Zeit stellt Nietzsche diese Frage und empfindet das Bedrfnis, mit der ganzen Lebensform seiner Zeit – mit dem Nihilismus, asketischem Ideal, der dcadence – abzurechnen. Darum behauptet Nietzsche, sowohl ein dcadent als auch dessen Gegensatz bzw. ein Anfang zu sein (EH, KSA 6, 264 ff.). Wenn die Frage nach dem Wert der Moral, die Behandlung der „grossen Probleme“, und die eigene Art von Leben, die eigene Selbstentfaltung, das eigene „Fatum“ ineinander verstrickt sind, wird deutlich, warum die „grosse Liebe“ in der Erkenntnis erforderlich ist. Die Erkenntnis ist insofern eine ethische Aktivitt, als sie zunchst Selbsterkenntnis und Erforschung des Wertes des jeweiligen menschlichen Selbstbildes ist. Die große Liebe, als Engagement und distanzierende Verachtung, als Bejahung und Bewusstsein der eigenen Ungerechtigkeit, ist die Praxis der stndigen Infragestellung der vertretenen Perspektive dank der selbstberwindenden Kraft des Lebens selbst: diese Selbstberwindung ist es, die uns sogar die Wahrhaftigkeit ermçglicht, jetzt auf den Grundcharakter des Lebens selbst zurckgefhrt, das Winkel und Perspektive, und zugleich kontinuierliche berwindung seiner begrenzten, sind? Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige […] bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte.“ (FW, KSA 3, 576 f.)
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vorbergehenden Perspektive ist. Die Erkenntnis der „grossen Probleme“ ist die Selbstentfaltung einer Art von Leben, mit ihrem „Ja und Nein“, die sich persçnlich in dieser Erkenntnis engagiert, weil sie selbst letztendlich ihr Gegenstand ist. Dank dieser Wirkung hat die große Liebe eine vom Nihilismus erlçsende Funktion, in Zusammenhang mit der großen Verachtung, die sie immer weiter treibt. Wie wir schon gesehen haben, setzt Nietzsche in Genealogie der Moral II, 24 (GM, KSA 5, 335 ff.) dem Menschen des schlechten Gewissens und der Moral einen erlçsenden Menschen entgegen, der durch seine Selbstbejahung in der Lage ist, die Wirklichkeit selbst von der moralischen bzw. asketischen Verneinung zu retten. Wie jede Erkenntnis, wirkt auch die von der großen Liebe gestaltete ethopoietisch: sie kann zu einem anderen Selbstbild bzw. Selbstverstndnis und zu einer neuen Praxis fhren, und sowohl den Menschen als auch seine Welt erlçsen, vor allem in Bezug auf die „absichtliche Selbst-Verkleinerung“12, die, mit „absolute[m] Fatalismus“ und „intellektuelle[m] Pessimismus“, als Reaktion auf die moderne Auflçsung der „ewigen“ Werte gilt (NF, KSA 11, 259).
c)
Das Spannungsfeld der großen Liebe
Diese Merkmale und Funktionen der großen Liebe bilden, mit den entgegengesetzten Einstellungen und Affekten, ein Spannungsfeld, das sich sowohl auf der Achse groß/klein als auch auf der Achse nah/fern entfaltet, da die quantitative Bestimmung der Grçße immer eine qualitative Dimension in Bezug auf die philosophische Aufgabe hat. Die Spannung groß/ klein bzw. Grçße/Verkleinerung und die Spannung Ferne/Nhe gestalten sich wechselseitig, komplementr. Die einebnende Moral der Nchstenliebe, die von Grund aus Differenzen und Distanzen abschafft, wirkt insofern verkleinernd, weil sie den Entfaltungsraum beschrnkt, indem sie die Mçglichkeit der Differenz und des Konflikts als verdchtig betrachtet: sie zwingt zur Nhe und zur Nivellierung zugleich. So versperrt z. B. das Mitleid – das „Dem-NchstenBeispringen“ – dem betroffenen Nchsten den Zugang zu dessen eigenem Selbstentfaltungsraum. Auf der Achse der Ferne kann diese Einstellung 12 Das Wort „absichtlich“ will wahrscheinlich andeuten, dass das Leben an sich einen gewissen Grad an Verkleinerung, als Vereinfachung des Komplexen, nçtig hat. Vgl. z. B. NF, KSA 11, 540; NF, KSA 11, 434 f.
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sowohl in Hinblick auf die langfristige Entwicklung als auch in Hinblick auf die Aufrechterhaltung von Differenzen und Distanzen korrigiert werden, wofr das von der großen Liebe umfasste Verachten sorgt. Sobald der Blick auf die Ferne und auf die lngere Entwicklung, in deren Rahmen sich die Aufgabe der berwindung des Menschen vollziehen kann, versetzt wird, erhalten die alten moralischen Einstellungen neue Merkmale und Wirkungen. So wie in Jenseits von Gut und Bçse 269 (JGB, KSA 5, 222 ff.) die Rede vom großen Mitleiden war, stellt Nietzsche in Jenseits von Gut und Bçse 225 (JGB, KSA 5, 160 f.) ein „hçheres, fernsichtigeres Mitleid“ dar, das einer Beobachtung zweiter Ordnung fhig ist, d. h. feststellen kann, „wie der Mensch sich verkleinert“, wie die Mitleidigen (im moralischen Sinn) ihn verkleinern, weil sie dadurch „das Leiden abschaffen“ mçchten (JGB, KSA 5, 160 f.). Auf hnliche Weise wird der Nchstenliebe eine Fernstenliebe entgegengesetzt, welche die ganze konomie der Distanzierungen, der Annherungen und dadurch der Liebe selbst umstellt: die Liebe zum Fernsten entspricht Zarathustras Gebot, den Nchsten nicht zu schonen, sondern ihn zu lieben, wie man sich selbst liebt, mit Liebe und Verachtung, d. h. mit dem Blick in die Ferne und zugleich mit dem tiefsten Engagement im Schaffen. Der Projizierung in die Ferne entsprechend, ist die große Liebe auch von einer Intensivierung und „Vertiefung“ kennzeichnet, die mit einer entscheidenden Verwandlung der moralischen, verkleinernden Affekte gekoppelt ist. Die freie Entfaltung der Einzigartigkeit, die Steigerung der „Person“, fr die der Raum frei gemacht worden ist, gilt als Voraussetzung der großen Liebe, die wiederum die spannende Kraft ist, die durch eine selbstberwindende Bewegung die Persçnlichkeit weiter intensiviert bzw. vertieft. So schreibt Nietzsche in einem Notat aus dem Jahr 1887: Wie unter dem Druck der asketischen Entselbstungs-Moral gerade die Affekte der Liebe, der Gte, des Mitleids, selbst der Gerechtigkeit, der Großmuth, des Heroism mißverstanden werden mußten: Hauptcapitel. Es ist der Reichthum an Person, die Flle in sich, das berstrçmen und Abgeben, das instinktive Wohlsein und Jasagen zu sich, was die großen Opfer und die große Liebe macht: es ist die starke und gçttliche Selbstigkeit, aus der diese Affekte wachsen, so gewiß wie auch das Herr-werden-wollen, bergreifen, die innere Sicherheit, ein Recht auf alles zu haben. (NF, KSA 12, 530)
Die Breite und die Tiefe der selbstberwindenden Selbstentfaltung nehmen mit dem dafr verfgbaren Raum zu: einmal, dass der menschlichen Horizont sowohl von Gott als auch von allen seinen weiteren „Schatten“ befreit worden ist, erçffnen sich dem Menschen Spielrume, wo sich alle mçglichen Differenzen entwickeln und miteinander konfrontieren kçn-
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nen. Wenn man der (großen) Liebe fhig ist, dann steht man vor diesem „Leerraum“ nicht mit nihilistischer Verzweiflung, sondern mit der Freude des immer neuen Anfangs. Zarathustra ist nicht nur Beispiel, sondern Vorbild fr diese neue Art von Dasein, wie die Stellen von Ecce homo verdeutlichen, wo Nietzsche ihn vorstellt. Er ist nicht nur der Liebende par excellence (EH, KSA 6, 345 f.), sondern auch derjenige, dessen Seele sich auf unbekannte Ferne, Tiefe und Breite ausgestreckt hat, der also mehr und tiefer erfahren und erlebt, gelebt hat. Die Leiter ist ungeheuer, auf der er auf und nieder steigt; er hat weiter gesehn, weiter gewollt, weiter gekonnt, als irgend ein Mensch. Er widerspricht mit jedem Wort, dieser jasagendste aller Geister; in ihm sind alle Gegenstze zu einer neuen Einheit gebunden. Die hçchsten und die untersten Krfte der menschlichen Natur, das Ssseste, Leichtfertigste und Furchtbarste strçmt aus Einem Born mit unsterblicher Sicherheit hervor. Man weiss bis dahin nicht, was Hçhe, was Tiefe ist; man weiss noch weniger, was Wahrheit ist. Es ist kein Augenblick in dieser Offenbarung der Wahrheit, der schon vorweggenommen, von Einem der Grçssten errathen worden wre. Es giebt keine Weisheit, keine Seelen-Erforschung, keine Kunst zu reden vor Zarathustra; das Nchste, das Alltglichste redet hier von unerhçrten Dingen. (EH, KSA 6, 343)
Diese Freiheit der Bewegung, ber die Zarathustra verfgt, impliziert eine neue Deutung der Distanzen: neue Krfte bilden ein neues Spannungsfeld. Wie in Bezug auf die „grossen Probleme“ der Erkenntnis, geht es hier um die Merkmale und Bedrfnisse einer neuen „Art von Leben“, die neue Werte bestimmt, neue Fragen stellt: Zarathustra hat es nçtig, die alten „Gegenstze“ zu „einer neuen Einheit“ zu binden; er ist in der Lage, alle verfgbaren Begriffe der Hçhe, Tiefe, Distanz, usw. mit neuen Bedeutungen zu belegen, weil er sich anders bewegen und entfalten kann. Hier ist in jedem Augenblick der Mensch berwunden, der Begriff „bermensch“ ward hier hçchste Realitt,—in einer unendlichen Ferne liegt alles das, was bisher gross am Menschen hiess, unter ihm. Das Halkyonische, die leichten Fsse, die Allgegenwart von Bosheit und bermuth und was sonst Alles typisch ist fr den Typus Zarathustra, – ist nie getrumt worden als wesentlich zur Grçsse. Zarathustra fhlt sich gerade in diesem Umfang an Raum, in dieser Zugnglichkeit zum Entgegengesetzten als die hçchste Art alles Seienden. (EH, KSA 6, 344)
Die berwindung der moralischen Gegenstze, die Zarathustra lehrt und praktiziert, fhrt zu diesem neuen „Umfang an Raum“: die „Zugnglichkeit zum Entgegengesetzten“, wie z. B. im Fall von Liebe und Verachtung, çffnet neue Mçglichkeit der Erfahrung und der Existenz, weil die berwindung der alten Grenze zunchst eine Selbstberwindung ist. Es ist
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vielleicht auf diese Weise, dass Nietzsche sich den Weg (und nicht den Sprung) zum bermenschen vorgestellt hat.
Nietzsches Sinn fr das Kleine: eine Kritik des Mitleids Camille Legrand In Morgenrçthe (M, KSA 3, 105) kommentiert Nietzsche den Mrtyrer Jesus folgendermaßen: „Ja, er selber liegt vor sich da ohne Flaum und Farbe […] die bittersten aller Worte (wiederholend; C.L.) ,mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Die Mrtyrerflle, jene von Jesus oder jene von Sokrates hat Nietzsche hufig behandelt. Der Mrtyrer gilt bei ihm als der Unglcklichste unter Glcklicheren, der als grçßter Widerstandsleister zum Unglck gepriesen werden will. Die Askese des Mrtyrers, der beim Opfer seines Kçrpers auf das Heil seines Geistes zielt, beansprucht Mitleid und will dadurch zur moralischen Grçße zhlen. Von diesem Punkt aus erçffnet Nietzsche die Frage des Mitleids: Was heiligt beim Leiden? Ist das Mitleid als „Ursprung der moralischen Empfindungen“1, wie bei seinem Freund Paul Re, nachzulesen? Ich mçchte zuerst mit einer Definition des Mitleids anfangen, wobei ich Nietzsches Genealogie des Mitleids wiederaufnehme. Ich werde dann auf die Positionen von Pascal, La Rochefoucauld und Schopenhauer eingehen, aus denen heraus Nietzsche ein Martyrologium und die Idee einer „trauervollen Wissenschaft“ entwickelt. Ich werde zuletzt zeigen, wie er sich diesbezglich berechtigt fhlt, Kritik am moralischen Ziel des Mitleids zu ben.
1.
Mitleid und Moral: Nietzsches Genealogie
Das Mitleidsgefhl liefert nicht den Beweis, dass das Mitleiden ein moralisches Ziel verfolgt. Nietzsche fragt sich zuerst, ob das Mitleid von Erkenntnissinn zeugt (1.1.), ob dieses Gefhl zur Geselligkeit (1.2.) dienen mag, und, wenn es fest besteht, von welcher Moral das Mitleid getragen werden kçnnte (1.3). 1
Vgl. Paul Re, Der Ursprung der moralischen Empfindungen (1877), in: ders., Gesammelte Werke 1875 – 1885, Berlin/New York 2004, S. 186 – 206. Eine gute bersicht findet sich in der kritischen Ausgabe von Paul-Laurent Assoun (Hrsg.), Paul Re. De l origine des sentiments moraux, Paris 1982.
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Camille Legrand
1.1.
Ist Mitleid ein Sinn der Erkenntnis?
In den nachgelassenen Schriften von Morgenrçthe geht Nietzsche davon aus, dass das Mitleidsgefhl zuerst als bloße menschliche Erkenntnis gelten sollte. Das Mitleid ist nicht nur das Gefhl, mit seinen Mitmenschen zu leiden, sondern auch die konzeptuelle Fhigkeit, sich ein gleiches Leiden vorzustellen. Der Erkenntnisvorgang, die Andersartigkeit eines Mitmenschen zu begreifen, entfaltet sich bei Nietzsche wie folgt: Wenn man Mitleid empfindet, muss man einen Anderen leidend begreifen, wobei man sich mit dessen Leid geistig identifiziert und dieses Leid, trotz allem, nicht kçrperlich wahrnehmen kann. Die Andersartigkeit des Bemitleideten wird in dieser Zeit entdeckt, so wie seine Identitt im Verhltnis zu uns; konkret seine Fhigkeit zu leiden, wie wir es selber kçnnen. Nietzsche whlt das Beispiel des Mrtyrers vom Sankt Januarius2, um Licht darin zu bringen: „Ob man nun an das Mitleid als Wunder und Quelle der Erkenntnis glaubt oder an das Blut des heiligen Januarius: ich meine dann immer noch in einem halb wahnsinnigen Zeitalter zu leben.“ (NF, KSA 9, 385) An Mitleid glauben wir, sagt Nietzsche, wie an das Wunder von Sankt Januarius Blutverflssigung. Anders gesagt, wenn wir durch Mitleidswunder die Existenz anderer Menschen annehmen, werden wir praktisch damit konfrontiert, dass Menschen außerhalb unserer physischen Welt leiden und existieren. Am Interessantesten ist bei Nietzsche, dass dieses Wunder der menschlichen Erkenntnis einen Mrtyrer braucht, um die Menschen als Gemeinschaft und Gattung zusammenzuschmelzen. Das Mitleid gelangt also zur menschlichen Erkenntnis durch Leiden und durch das Bewusstsein, dass wir kçrperlich verschont von des Anderen Leid bleiben. Nach der Morgenrçthe lsst aber Nietzsche weiter diskutieren, ob das Mitleid eine Quelle der sozialen und moralischen Erkenntnis sein kçnnte.
2
Vgl. den Artikel von Karin Groll im Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 2 (1990): „JANUARIUS der Heilige (S. Gennaro), Bischof, Mrtyrer und Patron von Neapel, Mitte 3. Jahrhundert in Neapel oder Benevent, † 305 in Pozzuoli. – J. wurde als Bischof von Benevent auf Befehl Diokletians […] enthauptet. […] Die leiblichen berreste seines Hauptes und seines Blutes, heute in einer Seitenkapelle des Neapler Doms, wurden bereits im 5. Jahrhundert verehrt. Seit dem 12. Jahrhundert ist eine Verflssigung des Blutes zu beobachten, sobald es in die Nhe des Kopfes kommt, ohne daß bisher eine Erklrung dafr gefunden werden konnte.“
Nietzsches Sinn fr das Kleine: eine Kritik des Mitleids
1.2.
289
Kann das Mitleid als Hauptvoraussetzung der Geselligkeit dienen?
Die Freundschaft mit Re, die Auseinandersetzung mit den Hypothesen von Spencer und Darwin3 haben Nietzsche beim Schreiben seiner Frçhlichen Wissenschaft beeinflusst und davon berzeugt, dass das Mitleid zur Grndung der ersten tierischen Gesellschaft htte beitragen kçnnen. Der Philosoph weist auf die ersten Stmme hin: „Die thierische Gesellschaft beruht, […] auf Liebe, […] Muth, Gehorsam bei den Schwachen, Besorgniß bei den Starken, Aufopferung bei Allen. Keine Gesellschaft kann sich erhalten, ohne solche Eigenschaften.“ (NF, KSA 10, 333) Nietzsche behauptet zuerst wie Rousseau, dass das Mitleid ein Naturgefhl sei.4 Im wissenschaftlichen bertragenen Sinn sagt er aber, dass das Mitleid etwas ist, das die schwchsten Tiere als „gesellige Eigenschaft“ entwickelten, um den Naturzustand zu berleben. Fassen wir hier Nietzsches Hypothese auf die einfachste Art zusammen: das Mitleid gilt als Moral unter den Menschen, weil das Gefhl auf die Sprache der Not und Hilfe („Besorgnis bei den Starken, Aufopferung bei Allen“), auf die ersten tierischen Gesellschaften verweist. Nietzsches Genealogie kehrt aber nicht wie bei Rousseau zum Naturzustand zurck. Er will die Menschen nicht an diese falsche Geselligkeit binden. Das Mitleid sei sicherlich eine Voraussetzung. Der Naturzustand deformiert sich jedoch zugleich mit seinem berwinden des Naturzustands und der Zivilisierung. Verfolgt das Mitleid noch ein moralisches Ziel in den zivilisierten Gesellschaften?
3
4
Nietzsche macht Res Bekanntschaft im Jahre 1873 und nimmt den Namen Spencer schon 1880 wieder auf. Am 13. August 1875 kauft er in Basel die Spencersche Einleitung in das Studium der Soziologie, Leipzig 1875. Vgl. dazu Giuliano Campioni, Paolo d Lorio, Maria C. Fornari, Francesco Fronterotta und Andrea Orsucci, Nietzsches persçnliche Bibliothek, Berlin/New York 2003. Darwins Name wird ab 1873 angegeben und Nietzsche htte ihn allem Anscheinen nach auch im Text nachgelesen. Verschiedene nachgelassene Fragmente vom Jahre 1888 weisen mit Klarheit auf das Origin of species (1859) von Darwin hin. Vgl. hierzu: NF, KSA 13, 315 ff. Ein interessanter historischer Vergleich von Bruno Selung ist nachzulesen in: Mitleid, Demut und Reue in der Machtethik Spinozas und Nietzsches, Bonn 1926, S. 53: „Spencer und Darwin haben Nietzsche dahin beeinflusst, dass er von ihnen die Entwicklung der Sympathie als sozialen Instinkt der Geselligkeit bernommen hat. Ist ihm (dem Menschen; C.L.) doch das Mitgefhl verwandt mit dem Naturgefhl und kommt nur bei sozialer Bildung vor ,als Konsequenz davon, dass ein grçsseres Ganze sich erhalten will gegen ein anderes Ganzes.“
290
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1.3.
Zur welchen Geselligkeit und Moral passt das Mitleidsgefhl?
Die Christen ziehen eine natrliche Moral aus dem Mitleid und reduzieren soziale Beziehungen auf ein ewiges Schuldgefhl. Fr Nietzsche steht fest, dass der Altruismus uns ein Ichgefhl zu schenken vermag; insofern unser Ich im Altruismus selbstschtig projiziert wird. Bezglich des Problems des Egoismus im Mitleidsvorgehen wird folgendes hervorgehoben: Man will jemanden bemitleiden, um sich zuerst selber widerzuspiegeln, aber auch, um sich selber vom eigenen Leid – wie bei Pascals Divertissement – abzulenken. Man bemitleidet schließlich, um sein leidendes Ich zu vergessen. Moral als Selbstzertheilung des Menschen […] Sind das Alles aber unegoistische Zustnde? Sind diese Thaten der Moralitt Wunder, weil sie, nach dem Ausdrucke Schopenhauers, ,unmçglich und doch wirklich sind? […] In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als Individuum, sondern als dividuum. (MA, KSA 2, 76)
Nietzsches Genealogie des Mitleids lehrt, dass das Mitleid uns zu Dividuen verwandelt, dass es eine Art Projizierung sowie eine Lçsung unseres Ich ist. Eine Frage bleibt jedoch offen: Wenn das Mitleid Moral geworden ist, weil es ntzlich fr die Gesellschaft war, kann man dann davon ausgehen, dass der Mensch einen desinteressierten „Sinn fr das Kleine“ entwickelt? Ist der christliche Mensch Nietzsches berechtigt, sich eine sittliche Grçße zuzuschreiben, nur weil er bemitleidet?
2. Mitleid im Christentum: Nietzsches Martyrologien Seine Genealogie des Mitleids hat Nietzsche mit der Geschichte der Mrtyrer des Christentums untermauern wollen. Diese Kasuistik gibt ihm Anlass, die versteckten Motive des Mitleids zu nennen. Bei Pascal bestreitet er das verflschte Desinteresse des Port-Royal Mrtyrers, der bemitleidet werden will (2.1.). Bei La Rochefoucauld betrachtet er das Mitleid umgekehrt, d. h. aus der Sicht des Bemitleideten (2.2.). Nietzsche distanziert sich endlich von Schopenhauer, der das Gefhl im Hinduismus verherrlichte (2.3).
Nietzsches Sinn fr das Kleine: eine Kritik des Mitleids
2.1.
291
Pascal und die christliche Art des Mitleid-Erregens
Fangen wir zuerst mit dem Fall Pascal an, der bereits in der Geburt der Tragçdie diskutiert wird. Das asketische Leben des großen Moralisten ist schon im XVII. Jahrhundert bekannt und wurde von Gilberte Prier und Jacqueline – Pascals Schwestern – geschildert. Letztere, die in ihrer Art Nietzsche glich, gehçrte zu Port-Royal5 und bte einen wichtigen religiçsen Einfluss auf ihren Bruder aus. Die erste Schwester, Gilberte Prier, die, wie Pascal sehr nah am Jansenius und an St. Cyrans Lehre stand, wird spter ihren Bruder als einen Mrtyrer und Heiligen beschreiben. In ihrem Vie de Pascal erfahren wir zum Beispiel, wie der Moralist seinen Kçrper abtçtet. Pascal habe sich am Bauch mit Spitzen umgrtet, um sich dagegen zu wehren, Lust an dem Gesprch seiner letzten Besuche zu finden.6 Die Idealisierung Pascals nach seinem Tod, seine Positionierung als Mrtyrer in der katholischen Kirche, ihr Verschweigen seiner Sympathie zum Jansenismus erregte Nietzsches Interesse in der Epoche von Menschliches, Allzumenschliches: Gegen-Stze. – Das Greisenhafteste, was je ber den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem berhmten Satze „das Ich ist immer hassenswert“ [Pascal, Gedanken, Fragmente und Brief, Bd. 1, deutsch v. C. F. Schwartz, Leipzig 1865, 190 f.]; das Kindlichste in dem noch berhmteren „liebe deinen Nchsten, wie dich selbst.“ – Bei dem einen hat die Menschenkenntnis aufgehçrt, bei dem andern noch gar nicht angefangen. (MA, KSA 2, 385)
Wie kann man seinen Nchsten wie sich selber lieben, wenn man mit Selbsthass anfangen soll? Ist das Mitleid ein tatschlicher Sinn fr das Kleine? Pascal war sein Leben lang krank und mochte Fleisch und Sinn5
6
Jacqueline, die ihrem Bruder sehr nahe stand, veranlasste Pascal mehrmals, sich den Solitaires in der Abtei von Port-Royal-des-Champs anzuschließen. Pascal hat sich jedoch nie wirklich dort niederlassen wollen. Nach der Nacht des 22.–23. November 1654, wo ihm Gott dreifach offenbart wurde, ndert Pascal sein Benehmen und gibt sein ehemaliges leichtherziges Leben auf. Vgl. Andr Bord, Jacqueline Pascal, Paris 2009 und Blaise Pascal, Penses. Prcdes de la Vie de Pascal par Mme Prier sa sœur. Paris 1858, S. 5 – 38. „Les conversations auxquelles il se trouvait souvent engag ne laissaient pas de lui donner quelque crainte qu il ne s y trouvt du pril; mais comme il ne pouvait pas aussi en conscience refuser le secours que des personnes lui demandaient, il avait trouv un rem de cela. Il prenait dans les occasions une ceinture de fer pleine de pointes, il la mettait nu sur sa chair […] Cette rigueur qu il exerÅait sur lui-mÞme tait tire de cette grande maxime de renoncer tout plaisir, sur laquelle il avait fond tout le r glement de sa vie.“ (Gilberte Prier, Vie de Pascal par Mme Prier sa soeur, 1687.) Vgl. dazu FranÅois Burckard, Pascal et le jansnisme Rouen, Paris 1993.
292
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lichkeit abgetçtet haben, weil er die Gesundheit in seinem Nchsten hasste. Durch das Martyrium seines Kçrpers will Pascal bemitleidet werden, um den sinnlichen Lebensgenuss Anderer zu verderben. Nietzsches Hypothese besttigt sich auf der historischen Ebene. Gilberte Prier hebt vor allem Pascals letzte Lebensperiode hervor und verschweigt damit das mondne Pariser Leben ihres Bruders, der seine angebliche Liebe zu Mademoiselle de Roannez im Discours sur les passions de l amour 7 verewigt und seine Scham wegen seiner Nicht-Noblesse in den Trois discours sur la condition des Grands 8 umschreibt. Nietzsche offenbart die Hintergedanken Pascals, der zuerst kein Mrtyrer sondern sein eigener Rcher war. Pascal empfand Leid durch personelle Enttuschung und forderte anschließend Mitleid von seinen Mitmenschen als Strafe. Das Mitleid, das zum Ziel hatte, Bemitleidende anzuschuldigen, ist nicht mehr sittlich.
2.2.
La Rochefoucauld und die Weigerung des Bemitleidens
Als Nietzsche 1876 nach Sorrente zog, hatte er sich von Re berzeugen lassen, die Maximes et sentences Morales von La Rochefoucauld mitzunehmen.9 La Rochefoucauld kennt er noch nicht oder nur durch die Lektre von Die Welt als Wille und Vorstellung von Schopenhauer10. Das 7 Vgl. Blaise Pascal, Discours sur les passions de l amour, prface de Jean-Pierre Gaxie, Nantes 2008: „Le premier effet de l amour, c est d inspirer un grand respect: l on a de la vnration pour ce que l on aime. Il est bien juste: on ne reconnat rien au monde de grand comme cela.“ (Chap. VI, S. 1) 8 Vgl. Blaise Pascal, Second discourse on the condition of the great, in: ders., Minor Works, translated by O. W. Wright. Vol. XLVIII, Part 2, New York 1909, S. 386: „It is not necessary, because you are a duke, that I should esteem you; but it is necessary that I should salute you. If you are a duke and a gentleman, I shall render what I owe to both these qualities. I shall not refuse you the ceremonies that are merited by your quality of duke, nor the esteem that is merited by that of a gentleman. But if you were a duke without being a gentleman, I should still do you justice; for in rendering you the external homage which the order of men has attached to you birth, I should not fail to have for you the internal contempt that would be merited by your baseness of mind.“ Vgl. dazu Jean Lafond, La Rochefoucauld, l homme et son image, Paris 1998, S. 122. 9 Wie es von Isabella von der Pahlen berichtet wurde, eine junge Adelige, die Nietzsche Ende Mai 1876 im Zug nach Basel trifft. Vgl. Jean Lacoste, Nietzsche et la civilisation franÅaise, in: Friedrich Nietzsche, Oeuvres, Paris 1993, S. 1334 und Karl Schlechta, Nietzsche-Chronik, Mnchen 1975, S. 55. 10 Vermutlich entdeckt er noch die Sammlung der Moralistes franÅois von LouisAim Martin, ein Kritiker katholischer Gesinnung, deren Interpretation er in
Nietzsches Sinn fr das Kleine: eine Kritik des Mitleids
293
erstaunliche in diesem Buch ist, dass Nietzsche La Rochefoucauld im Unterschied zu Pascal nie bestreiten wird. La Rochefoucauld unterscheidet deutlich Mitleid von religiçser Piett. Als militrische, politische und literarische Persçnlichkeit des XVII. Jahrhunderts gehçrt La Rochefoucauld zum hçheren Adel Frankreichs. Dem Verfall seiner Schicht sieht er zu, nachdem seine Partei, die Fronde, durch die absolutistische Monarchie untergeht. Das Schwert wechselt er mehrere Jahre spter gegen die Feder und verfasst seine populren Maximes et sentences morales (1666), die an der bergangsregierung von Ludwig XIII. Kritik ben. Seine Verurteilung des Amour propre und der Eitelkeit kann aus dieser Perspektive leicht begriffen werden. Auf der Hçhe dieses sozialen Schauspiels, das ihm den Niedergang seines eigenen Sohns zu sehen gibt, empfindet La Rochefoucauld kein Mitleid. Im Gegensatz zu der Meinung vieler Interpreten, die glauben, La Rochefoucauld habe sich der jansenistischen Partei von Port Royal angeschlossen und sei aus diesem Grund gegen die Amour propre des Hofs gewesen, ist der Denker stets frei von religiçser Gesinnung geblieben. La Rochefoucauld glaubt nicht an Mitleid und denkt im Gegensatz zu den Solitaires von Port Royal, dass das christliche Mitleid eine Abhilfe11 zur Selbstliebe des Hçflings verschaffen sollte. In dem offenen Bekenntnis, dass La Rochefoucauld in seinem Selbstportrait macht, bt er Kritik am Mitleidsgefhl:
Menschliches, Allzumenschliches widerspricht. Das Werkregister der NietzscheBibliothek besttigt, dass Nietzsche eine von Sainte-Beuve editierte, kritische Ausgabe der Maximes et sentences morales von La Rochefoucauld besaß. Siehe Giuliano Campioni, Nietzsches persçnliche Bibliothek, New York/Berlin 2003. Dieses Register liefert aber keinen Beweis, dass Nietzsche das Buch von LouisAim Martin, Les Moralistes franÅois: Penses de Blaise Pascal. Sentences et Maximes de La Rochefoucauld. Caract res de La Bruy re. Oeuvres compl tes de Vauvenargues, Paris 1838, gekauft hatte. Viele gemeinsame Anmerkungen und Anspielungen geben uns trotzdem Anlass zu denken, dass Nietzsche mit diesem Verlag an Menschliches, Allzumenschliches gearbeitet hatte. 11 Nietzsche entleiht von La Rochefoucauld seine bekannte Logik der Absicht und des Interesses und verwendet jene zu eigener Mitleidsanalyse. Vgl. FranÅois de la Rochefoucauld, Maximes et sentences morales, in: ders., Oeuvres compl tes, hrsg. v. Robert Kanters, Paris 1935, Maxime Nr. 264: „La piti est souvent un sentiment de nos propres maux dans les maux d autrui; c est une habile prvoyance des malheurs o nous pouvons tomber; nous donnons du secours aux autres, pour les engager nous en donner en de semblables occasions, et ces services que nous leur rendons sont, proprement parler, des biens que nous nous faisons nous-mÞmes pas avance.“
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Je suis peu sensible la piti, et je voudrais ne l y Þtre point du tout. Cependant il n est rien que je ne fisse pour le soulagement d une personne afflige […] mais je tiens aussi qu il faut se contenter d en tmoigner, et se garder soigneusement d en avoir. C est une passion qui n est bonne rien au dedans d une me bien faite, qui ne sert qu affaiblir le cœur, et qu on doit laisser au peuple, qui n excutant rien par la raison a besoin de passions pour le porter faire des choses.12
La Rochefoucauld lsst das Mitleidsgefhl in den Hnden des franzçsischen Volks, welches im „Grand Si cle“ als unbezhmbar und leidenschaftlich gilt. Diese neue Unterscheidung, die das Mitleid nicht mehr zur christlichen Vernunft zhlt, sondern zu einer Kategorie der populren Leidenschaften entwertet, weckt Nietzsches Neugier. In Menschliches, Allzumenschliches nimmt er die przise Textstelle der Kritik im Selbstportrait wieder auf: Mitleiden erregen wollen. – La Rochefoucauld trifft in der bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt 1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden warnt, wenn er rth, dasselbe den Leuten aus dem Volke zu berlassen, die der Leidenschaften bedrfen […] das Mitleiden, welches Jene dann ußern, ist insofern eine Trçstung fr die Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine Macht zu haben, trotz aller ihrer Schwche: die Macht, wehe zu thun. (MA, KSA 2, 70 f.)
Nietzsche vertieft hier seine Analyse des Mitleids beim Fall Pascal und bemerkt, dass das Mitleid-Erwecken nicht nur eine Art ist, sich von eigener Schuld zu entlasten, sondern auch eine direkte, emotionelle, unmittelbare Macht, „weh[…] zu tun.“ Wenn wir dem franzçsischen Katholizismus in der Zeit nher rcken, findet man, dass die Kirche den Pathos, die Erbarmung, den Blutzeugen beschçnigte. Traktate wie der Trait de l amour de Dieu von Saint FranÅois de Sales (1615), jenes bekannte Trait des passions de l me de Descartes (1649) und eben die unbeendeten Penses (1670) von Pascal, die eine Apologie des Christentums errichten sollten, adelten die Leidenschaften. Das christliche Mitleid des Grand Si cle entwickelte sich zu Traktaten, verherrlichte eine Doktrin der „reinen Liebe“ und bemhte sich, den Menschen zu demtigen in dem gefhrlichen „instinct qui le porte se faire Dieu“13. Diese Rhetorik der Leidenschaften 12 FranÅois de la Rochefoucauld, Portrait du duc de La Rochefoucauld fait par luimÞme (1658), in : ders., Maximes du duc de la Rochefoucauld, hrsg. v. JeanBaptiste Antoine Suard, Paris 1858, S. 5 f. 13 Pascal, Fragment 480 – 418. Vgl. Blaise Pascal, Penses, hrsg. v. Michel Le Guern, Paris 2004.
Nietzsches Sinn fr das Kleine: eine Kritik des Mitleids
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konnte nicht die versteckten Absichten der Gegen-Reformation verbergen. Durch Mitleid hoffte die Kirche auf kollektives Leiden, Wiederaufbau des christlichen Dogmas. Nietzsche unterscheidet also Pascal von La Rochefoucauld: „Pit“ und „Piti“ mçgen nicht verwechselt werden. La Rochefoucauld betrachte das Mitleid als „eine geschickte Vorsorge der Unglcke, die uns entgegen kommen“14 und erweist sich als ein Vorlufer Spinozas15, dessen Ethik einige Jahre spter das Mitleid als eine der „schlechte Leidenschaften“ klassifizieren wird: „Aus dem Allen folgt“, sagt Nietzsche, „dass […] im Leiden etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhçhendes […] liegt; was beide Empfindungen auf ewig von Einander trennt“. (MA, KSA 3, 131) Im Mitleid gibt es einen tatschlichen Handel, eine Ausleihe und Leihen von Krften, der ein Angebot und Nachfrage-Gesetz zur Hilfe impliziert. Das Mitleid bewirkt einen ewigen Liebesdienst, der aber nicht vçllig rein ist, weil er von eigenen Interessen bestimmt wird. Der Schwchste entwickelt ein Ressentiment gegen die Strkeren. Der Strkste empfindet ein schlechtes Gewissen wegen seiner subsidiren Macht. Nietzsche fhlt sich infolgedessen berechtigt, das Mitleidsgefhl als soziale Leidenschaft oder „Herdenkrankheit“ zu verurteilen. Das Mitleid schließt nicht den Schwcheren mit dem Strkeren zusammen, es macht sie noch mehr Untertan und richtet den menschlichen Naturwillen zum Nichts. Die Maximes von La Rochefoucauld deuteten von dieser natrlich-sittlichen Spannung: die christliche Moral des Mitleids wollte spirituelle Leibeigenschaft zwischen Gleichen fordern, die spter zum Ressentiment vor der aristokratischen Strke oder vor jeglicher geistiger Autonomie fhrte. Aber dort hatte man prinzipiell eine antike Moral beseitigt, die das Mitleid als wohlttige Moral vernagelte, und die Grçße als Quelle zum Schutz der Kleinsten begnstigte.16
14 La Rochefoucault, Maximes du duc de la Rochefoucauld, hrsg. v. Jean-Baptiste Antoine Suard, Paris 1858, Nr. 50. 15 Vgl. Benedictus de Spinoza, Ethik, hrsg. v. Konrad Blumenstock, Darmstadt 1967, Bd 2, IV, prop. 50: „Commiseration in homine, qui ex ductu rationis vivit, per se mala et inutilis est“. 16 Eine lehrreiche bersicht ist im Artikel von Henri Coulet von nachzulesen. Henri Coulet, La Rochefoucauld ou la peur d Þtre dupe, in: Hommages au Doyen E. Gros (1959), S. 105 – 112. Vgl. dazu auch das Buch von Paul Bnichou, Morales du Grand si cle, Paris 1960.
296 2.3.
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Schopenhauer und das Mitleid als sittlicher Sinn: ein Unsinn?
Enden wir mit Schopenhauer. Die Lektre des Buches Die Welt als Wille und Vorstellung im Alter von 22 Jahren ist fr Nietzsche auf philosophischer und moralischer Ebene ein Gewinn und leitet ihn vor allem zur Lektre der Franzçsischen Moralisten ber. Arthur Schopenhauer wurde selbst von den ersten bersetzungen der indischen Upanischaden aus dem 19. Jahrhundert beeinflusst: „Denn Jenem, der die Werke der Liebe bt, ist der Schleier der Maja durchsichtig geworden, und die Tuschung des principii individuationis hat ihn verlassen. Sich, sein Selbst, seinen Willen erkennt er in jedem Wesen, folglich auch in dem Leidenden.“17 Schopenhauer begreift das moralische Verhltnis als Verschmelzung von Ich und Nicht-Ich, anders gesagt als die Auflçsung des selbstschtigen Sich. Schopenhauers Verleumdung des Willens erinnert an die christlichen Mrtyrer und jene Askese-Figuren, die die Moral als Aufhebungsprozess und Lossagung der Individualitt verstanden. Andere Beweise dieses subsidiren Einflusses kçnnen in Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung mit Namen von Mystikern des XVII. Jahrhunderts wie Meister Eckhart18, Tauler19, Madame Guyon20 gefunden werden. Schopenhauer schließt sich Pascals Argumentation an, wenn er behauptet, dass „alle wahre und reine Liebe Mitleid ist, und jede Liebe, die nicht Mitleid ist, ist Selbstsucht.“21 Nietzsche bedurfte mehrerer Jahre, um sich von Schopenhauer und dessen Mitleidslehre zu distanzieren. Im Antichrist widerspricht er letztlich philosophisch jenem, der fr ihn ein Erzieher seines Lebens war: „Schopenhauer war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid zur Tugend.“ (AC, KSA 6, 174) Wie kann man nmlich selbst durch Mitleid 17 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, IV. Buch, § 66, S. 462. 18 Vgl. den Brief an v. Doss vom 14. Mrz 1858, in: Eduard Grisebach (Hrsg.), Schopenhauers Briefe, Leipzig 1894, S. 378: „Ich lese jetzt den Meister Eckhard, herausgegeben von Pfeiffer 1857. Hçchst interessant und ein rechter Beleg meiner Philosophie. Aber die ,Theologia Deutsch ziehe ich doch vor.“ 19 Grisebach schreibt: „Er hatte das Buch (Theologia Deutsch) zwar schon in seiner Jugendzeit gelesen und einen tiefen Eindruck empfangen, aber seinen ganzen Wert hatte er erst aus der 1851 ebenfalls von Pfeiffer besorgten Ausgabe erkannt.“ (Eduard Grisebach, Schopenhauer. Geschichte seines Lebens, Berlin 1897, S. 247) 20 Schopenhauer hatte in der stdtischen Bibliothek Dresden am 7. Mai 1817 das Buch von Jeanne Marie Bouvier de La Motte Guyon, Posies et cantiques spirituels sur divers sujets qui regardent la vie intrieure ou l esprit du vrai christianisme, 4 Bd., Paris 1790 entliehen. 21 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, IV. Buch, § 67, S. 466.
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existieren? Wie kann man den Beweis unseres moralischen Benehmens liefern, wenn man in einer Mitleidsgemeinschaft erfasst wird, wo man nicht mehr frei ist, sich selber als gut und bçse aufzufassen?22 Nietzsches „Willen zur Macht“ wurde lange Zeit vorgeworfen, den Sinn fr das Kleine im Menschen abgelehnt zu haben. Wollte er uns zu Gnadenlosigkeit bekehren? Hatte er berhaupt keine Milde fr die Kleineren, die Trauernden, die Verhungernden wie bei der bekannten Seligpreisung durch Matthus?23 Welcher frçhlicheren Wissenschaft zog er die christliche „Liebe zum Nchsten“ vor? Nietzsche beobachtet eigentlich nur und was er bemerkt, liegt auf der Hand: Christentum, Buddhismus oder im Allgemeinen der Monotheismus haben ein Jenseits der Moral, einen Himmel hegen wollen, um den Tier-Mensch im Inneren zu hindern, sich im ußeren auf der Erde frei zu wissen. Das Mitleid verschleiert seinen moralischen Befehl: das Verbot des Ich und des Jenseits Ich. Nietzsche verurteilt das trgerische Mitleid des Christentums, das Mitleid erregen wollte, um Menschen unter selbem Leid gleich zu ordnen. Aus diesem Grund wird fr Nietzsche die Moral falsch und versklavend. Mitleiden mit seinem Nchsten heißt, leiden ohne zu wissen und ohne zu werden, wer man selber ist.24 Nietzsche bestreitet das moralische Ziel des Mitleids. Seine Genealogie der Moral und das damit verbundene Martyrologium haben praktisch nie aufgehçrt, zustzliche Beweise „gegen das große christliche Mitleidsgefhl“ vorzubringen. Das christliche Mitleid gehçrt Nietzsches Ansicht nach zu den kleinsten niedertrchtigsten Gefhlen, das schon bei den 22 Vgl. M, KSA 3, 133: „Mitempfindung. – Um den Anderen zu verstehen, das heißt, um sein Gefhl in uns nachzubilden, gehen wir zwar hufig auf den Grund seines Gefhls zurck und fragen zum Beispiel: warum ist er betrbt? – Wenn ich von einer solchen Theorie der Mitempfindung aus, wie ich sie hier vorschlage, an die jetzt gerade beliebte und heilig gesprochene Theorie eines mystischen Prozesses denke, vermçge dessen das Mitleid aus zwei Wesen eines macht und dergestalt dem einen das unmittelbare Verstehen des anderen ermçglicht: wenn ich mich erinnere, dass ein so heller Kopf wie der Schopenhauer s an solchem schwrmerischen und nichtswrdigen Krimskrams seine Freude hatte und diese Freude wieder auf helle und halbhelle Kçpfe bergepflanzt hat: so weiss ich der Verwunderung und des Erbarmens kein Ende!“ 23 Aus dem heiligen Evangelium nach Matthus 5, 1 – 12: „Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehçrt das Himmelreich. Selig die Trauernden; denn sie werden getrçstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden; denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und drsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.“ 24 FW, KSA 3, 270: „Was sagt dein Gewissen?— „Du sollst der werden, der du bist.“ Der Satz Pindar aus den Pythischen Oden ist noch im Untertitel vom Ecce Homo, Wie man wird, was man ist, wieder zu finden.
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Griechen nicht mehr als eine verderbende Leidenschaft war. Gegen Pascal und Schopenhauer stellt sich Nietzsche auf die Seite von La Rochefoucauld und entschließt sich fr die Partei der antiken Weisheit, fr die Stimme des aristokratischen Daseins. Nietzsches Anschluss zu La Rochefoucaulds „freiem Geist“ weist auf eine genealogische ffnung zum Altertum hin, bezglich dessen beide Denker fragten, was „weise und edel zu sein“ fr ihre Vorlufer bedeutete. Viele Aphorismen der Maximes verraten ihre stoischen Eingebung und Seelenstrke. Die Lehre von Nietzsche ist, dass Mitleid nicht heilt, sondern die Grenzen der Identitt erodiert. Unser Leid sollte unser eigenes Mitleid beherbergen, um die menschlichen Gemeinschaft vor traurigen Affekten zu schtzen. Die Grçße des Menschen liegt nicht im Mitleiden, in der bertragung seines Leidens auf Andere, sondern in dem Tragen seines eigenen Leidens, um jenes Anderer auf sich zu nehmen. Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens – wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhçhungen des Menschen bisher geschaffen hat? Jene Spannung der Seele im Unglck, welche ihr die Strke anzchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren…und was ihr nur je von Tiefe, Geheimnis, Maske, Geist, List, Grçsse geschenkt worden ist. (KGA, VI/2, 167)
Leiden, Macht, Grçße Zum moralkritischen Perfektionismus des spten Nietzsche
Gocha Mchedlidze Kaum ein anderer hat Moral so radikal in Frage gestellt wie Friedrich Nietzsche. Moralischer Relativismus und Skeptizismus, Nihilismus und Immoralismus – dies sind die Begriffe, mit denen sein Name gewçhnlich in Verbindung gebracht wird. Beim Lesen von Nietzsches Texten ist andererseits nicht zu bersehen, dass diese Moralkritik selbst von einem großen moralischen Pathos durchdrungen ist. In diesem Sinne ist er nicht mit Kallikles, dem wertfreien Amoralisten aus Platons Gorgias zu vergleichen. Einer der Werte, denen Nietzsches Moralkritik entspringt, stellt sein Perfektionismus dar, der seit den letzten zwei Jahrzehnten ein zunehmendes Interesse in der Forschung an sich zieht.1 Der Begriff „Perfektionismus“ als solcher findet sich freilich nicht in Nietzsches Schriften, man kann dort aber, vor allem in Schopenhauer als Erzieher, viele Textstellen entdecken, die sich im Sinne eines Pldoyers fr die Kultivierung der menschlichen Exzellenz interpretieren lassen. Zwei Aspekte dieser Aussagen – der politische und der moralische (individualethische) – kçnnen
1
Unter dieser berschrift, die jeweils Unterschiedliches bedeuten kann, wird Nietzsches Denken von John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 360; Stanley Cavell, Aversive Thinking Emersonian Representations in Heidegger and Nietzsche, in: ders., Conditions Handsome und Unhandsome: The Constitution of Emersonian Perfectionism, Chicago 1990; Daniel W. Conway, Nietzsche and the Political, London/New York 1997; James Conant, Nietzsche s Perfectionism: A Reading of Schopenhauer as Educator, in: Richard Schacht (Hrsg.), Nietzsche s Post-Moralism: Essays on Nietzsche s Prelude Philosophy s Future, Cambridge 2001; David Owen, Equality, Democracy, and Self-Respect : Reflections on Nietzsche s Agonal Perfectionism, in: Journal of Nietzsche Studies 24 (2002), S. 113 – 131; Thomas Hurka, Nietzsche: Perfectionist, in: Brian Leiter/ Neil Sinhababu (Hrsg.), Nietzsche and Morality, Oxford 2007, S. 9 – 31 und Vanessa Lemm, Is Nietzsche a Perfectionist? Rawls, Cavell, and the Politics of Culture in Nietzsche s Schopenhauer as Educator , in: Journal of Nietzsche Studies 34 (2007), S. 5 – 27 thematisiert.
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dabei unterschieden werden.2 Beim ersten geht es um die Frage nach der Gestaltung der Institutionen, die die menschlichen Errungenschaften auf dem Gebiet der Kunst, Wissenschaft und Kultur maximieren sollen,3 der zweite dagegen hat mit der Frage nach der Gestaltung des eigenen Lebens zu tun, in dessen Ablauf eine maximale Selbst-Vervollkommnung erreicht werden soll.4 Im folgenden Text wird die individualethische Dimension von Nietzsches Perfektionismus thematisiert und zwar im Kontext seiner spten Schaffensphase. Anhand der Interpretation des Aphorismus 225 von Jenseits von Gut und Bçse, den ich unter diesem Aspekt als paradigmatisch auffasse, und unter Einbezug einiger anderen Textstellen aus den Werken dieser Zeit expliziere ich die wichtigsten Merkmale der Ausprgung dieser Konzeption bei Nietzsche. Dabei gehe ich zunchst auf seinen Angriff gegen bestimmte Formen des ethischen Denkens ein, um dann seine Kritik der Moral generell zum Thema zu machen. Die Redefiguren „Leiden“, „Macht“, „Grçße“ bilden die Leitmotive der Analyse, weil sie fr Nietzsche die grundlegenden anthropologischen Charakteristika zum Ausdruck bringen, die auch seinen Perfektionismus fundieren. Ich beginne mit der Analyse von Nietzsches Kritik an bestimmten Formen des ethischen Denkens. Im Aphorismus 225 von Jenseits von Gut 2
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Im Hintergrund dieser Differenzierung stehen zwei unterschiedliche Interpretationen der Passagen (SE, KSA 1, 383 ff.) aus Schopenhauer als Erzieher, nmlich die von Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 360 auf der einen Seite und die von Cavell, Aversive Thinking Emersonian Representations in Heidegger and Nietzsche, in: ders., Conditions Handsome und Unhandsome: The Constitution of Emersonian Perfectionism, Chicago 1990 auf der anderen. Systematisch betrachtet weisen sie auf zwei Aspekte einer perfektionistischen Theorie hin, die eng miteinander zusammenhngen, denn der politische Perfektionismus hat bestimmte Implikationen auf der individualethischen Ebene und umgekehrt. Zur Kritik der perfektionistischen Interpretation Nietzsches siehe Vanessa Lemm, Is Nietzsche a Perfectionist? Rawls, Cavell, and the Politics of Culture in Nietzsche s Schopenhauer as Educator , in: Journal of Nietzsche Studies 34 (2007), S. 5 – 27. Diese Interpretation von Schopenhauer als Erzieher legt Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 360 vor. Auf diese Weise wird Schopenhauer als Erzieher von Cavell, Aversive Thinking Emersonian Representations in Heidegger and Nietzsche, in: ders., Conditions Handsome und Unhandsome: The Constitution of Emersonian Perfectionism, Chicago 1990 interpretiert. Von dieser Deutung aus kommen die Autoren zu einer anderen Auffassung des politischen Aspekts von Nietzsches Perfektionismus als Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1979, S. 360, den sie dementsprechend nicht als anti-egalitr und undemokratisch interpretieren.
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und Bçse wertet Nietzsche die „Denkweisen“ ab, die „nach L u s t und L e i d , das heisst nach Begleitzustnden und Nebensachen den Werth der Dinge messen“ (JGB, KSA 5, 160). Zu ihnen zhlt er Pessimismus, Hedonismus, Utilitarismus und Eudmonismus. Nietzsche sagt ber sie Folgendes: [A]lle diese Denkweisen […] sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetten, auf welche ein Jeder, der sich g e s t a l t e n d e r Krfte und eines Knstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitlied herrabblicken wird. Mitleiden mit e u c h ! […] Ihr wollt womçglich […] d a s L e i d e n a b s c h a f f e n ; und wir? – es scheint gerade, wir wollen es lieber noch hçher und schlimmer haben, als je es war! Wohlbefinden, wie ihr es versteht – das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein E n d e ! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lcherlich und verchtlich macht, – der seinen Untergang w n s c h e n macht! Die Zucht des Leidens, des g r o s s e n Leidens – wisst ihr nicht, dass nur d i e s e Zucht alle Erhçhungen des Menschen bisher geschaffen hat? (JGB, KSA 5, 160)
Die zitierte Passage lsst sich wie folgt zusammenfassen: Leiden, so Nietzsche, habe einen extrinsischen Wert fr den Menschen, weil es seine „Erhçhungen“ bewirkt. Der Aphorismus ist dementsprechend der normativen Ebene von Nietzsches Moralkritik zuzuordnen. Von der deskriptiven Ebene unterscheidet diese sich dadurch, dass sie sich nicht auf die adquate bzw. nicht-adquate Beschreibung des menschlichen Handelns von der Seite der jeweiligen Form des ethischen Denkens bezieht, sondern mit den Wirkungen zu tun hat, die diese Konzeptionen von Moral als Systeme von Handlungsregeln auf Menschen haben.5 Systematisch interpretiert, legt Nietzsche hier eine Art konsequenzialistische Handlungstheorie vor, die die Akte nach ihren Wirkungen auf die zuknftige Perfektion des Menschen bewertet. Die von Nietzsche kritisierten „Denkweisen“ des Pessimismus und Hedonismus lassen sich anhand von Schopenhauers Philosophie erlutern, obgleich diese im Aphorismus nicht explizit erwhnt wird.6 Denn erstens vertritt Schopenhauer eine hedonistische Konzeption des Glcks, das fr ihn im Zustand der Abwesenheit des Schmerzes bzw. jeglicher Reize7 und 5 6 7
Zur Unterscheidung zwischen der deskriptiven und der normativen Ebene von Nietzsches Moralkritik siehe Brian Leiter, Nietzsche on Morality, London 2002. Schopenhauers Pessimismus spricht Nietzsche explizit in JGB, KSA 5, 68, 74 f., 106 f., 198 f. an. Jeder Wunsch wird von Schopenhauer als Mangel und Bedrftigkeit aufgefasst und dementsprechend mit Schmerz gleichgesetzt. Siehe Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Frankfurt am Main 1996, § 57.
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der Befriedigung aller Wnsche besteht, welche er auf zwei grundlegende kçrperliche Triebe – Hunger und Sexualitt – zurckfhrt. Und zweitens drckt sein Denken eine pessimistische Einstellung der Welt gegenber aus, die durch die Tatsache begrndet wird, dass der Zustand eines so verstandenen Glcks nie zu erreichen ist. Nach Schopenhauers Vorstellungen soll der Pessimismus in Resignation und vçllige Entsagung von allen sinnlichen Wnschen und Trieben mnden, kurz in die Lebensweise religiçser Heiliger und Asketen. Im Rahmen seiner Willensmetaphysik wird das asketische Leben zum einzigen Mittel, die glckliche Erlçsung von der „jammernden Welt“ zu bewirken. Die anderen im Aphorismus angesprochenen Moralformen – Utilitarismus und Eudmonismus – werden von Nietzsche als Synonyme fr den Hedonismus gebraucht.8 Aus diesem Grunde lsst sich feststellen, dass sein perfektionistisch motivierter Angriff auf sie nur zum Teil berechtigt ist. Denn schon innerhalb der utilitaristischen Ethik hob Mill im Unterschied zu Bentham die qualitative Komponente des Glcks hervor, wonach der kulturellen und intellektuellen Befriedigung ein grçßerer Wert im Vergleich zu kçrperlicher Befriedigung zukommt; und bei Aristoteles Eudaimonia ging es nicht um die subjektiv-hedonistische Lust oder Selbstzufriedenheit, sondern um Prosperitt als eine objektive Realisierung des menschlichen Potentials. Der Begriff „Eudaimonia“ stand in der antiken Philosophie fr Erfllungsglck, nicht fr Empfindungsglck. Das Glck besteht nach Aristoteles im Prozess der Ttigkeit und nicht im Zustand der Abwesenheit des Schmerzes.9 Die Lust an der Ttigkeit stellt dabei nicht das Ziel dar, das der Handelnde anstrebt (anstreben soll), sondern die Lust kommt zu einer erfolgreichen Ttigkeit als ihre Begleiterscheinung hinzu, so dass die zu vollbringende Ttigkeit mit der Lust an ihrer Vollendung zusammenfllt. Aus dieser Perspektive betrachtet sind Nietzsche und Aristoteles nicht weit voneinander entfernt. Denn Nietzsche lehnt nur bestimmte Formen des Glcks ab, nicht aber das Glck generell. In Zur Genealogie der Moral setzt er dem an Schopenhauer erinnernden kleinen Glck der „Ohnmchtigen“, das „wesentlich als Narcose, Betubung, Ruhe, Frieden, ,Sabbat, Gemths-Ausspannung und Gliederstrecken, kurz p a s s i v i s c h auftritt“, das große Glck der „Wohlgeborenen“, „aktive[n] Menschen“ 8 9
Vgl. Thomas H. Brobjer, Nietzsche s Ethics of Character. A Study of Nietzsche s Ethics and Its Place in the History of Moral Thinkers, Uppsala 1995, S. 134, 154. Damit ist aber die zweithçchste Form des Glcks gemeint. Das hçchste Glck besteht fr Aristoteles in der Kontemplation.
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entgegen, bei denen „das Thtigsein […] mit Nothwendigkeit in s Glck hineingerechnet“ wird (GM, KSA 5, 272). Auch im Antichrist findet man Erluterungen zur Frage nach dem Wesen des wahren Glcks: Was ist Glck? – Das Gefhl davon, dass die Macht w c h s t , dass ein Widerstand berwunden wird. N i c h t Zufriedenheit, sondern mehr Macht; n i c h t Friede berhaupt, sondern Krieg; n i c h t Tugend, sondern Tchtigkeit (Tugend im Renaissance-Stile, virt , moralinfreie Tugend). (AC, KSA 6, 170)10
Wie man aus diesen Passagen erschließen kann, meint Nietzsches Begriff des Glcks einen aktiven Prozess der berwindung von Widerstnden. Und seine Lehre vom Willen zur Macht, der in seiner spteren Schaffensphase als das Gute fungiert, ist dementsprechend als Lehre vom Willen zum Suchen und berwinden von Widerstnden aufzufassen.11 (siehe NF, KSA 12, 424) Das Wesen des Willens zur Macht lsst sich am besten durch Analogie zur Struktur der Wnsche zweiter Stufe verstehen.12 Es sind solche Wnsche, deren Objekt andere Wnsche einschließt. Der Wille zur Macht als Wunsch zur berwindung von Widerstnden geht nmlich mit dem Streben nach Erreichung bestimmter Ziele in diesem Prozess, d. h. Wnschen erster Stufe, einher. Am Beispiel des Spielens wird diese Idee besonders anschaulich: Der Wunsch an einem Spiel teilzunehmen, impliziert nicht nur den Wunsch zu gewinnen, sondern auch den Wunsch, die Ttigkeit des Spielens selbst auszuben. Hier ist der Prozess wichtig, nicht nur der Endzustand. Die Tatsache, dass der Mensch nie alle seine Wnsche befriedigen kann, wird von Nietzsche im Gegensatz zu Schopenhauer gerade positiv bewertet, denn diese anthropologische Konstante zwingt den Menschen zu permanenter Ttigkeit. Aber wie schon bei der Erluterung von Aristoteles Eudmonia angedeutet wurde, geht es bei jeder Ttigkeit nicht bloß darum, mit Widerstnden zurechtzukommen, sondern auch darum, dass man das gut oder schlecht bzw. besser oder schlechter macht. Das bedeutet unter anderem, 10 Auch in JGB, KSA 5, 209 f. spricht Nietzsche vom „Gefhl der Flle, der Macht, die berstrçmen will“ und dem daraus erwachsenden „Glck der hohen Spannung“. 11 Das ist natrlich nur ein Aspekt der Lehre vom Willen zur Macht unter mehreren anderen. Im Rahmen der vorliegenden Analyse kommt ihm aber die entscheidende Bedeutung zu. 12 Maudemarie Clark, Nietzsche on Truth and Philosophy, Cambridge 1990, S. 211.
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dass eine perfektionistische Theorie Akte nicht nur nach ihren Konsequenzen beurteilt wird, sondern auch nach ihrem intrinsischen Wert, d. h. nach dem Kriterium ihrer (Nicht-) Entsprechung einer Perfektion. Genau an dieser Stelle kommt der oben zitierte Begriff der Tugend ins Spiel. Denn die ursprngliche, antike Bedeutung des Begriffs (gr. aret) war: „Exzellenz“, „Vortrefflichkeit“, „Tchtigkeit“, „Kraft“. In der archaischen Zeit der Helden- und Adelsideale war dieser Begriff hçchst individuell und noch nicht moralisch oder intellektuell konnotiert.13 Nietzsches Rckgriff auf die Renaissance in diesem Kontext lsst sich so erklren, dass diese Epoche fr ihn einen spter durch Luther und die Reformation gescheiterten Versuch darstellte, die alten, „v o r n e h m e n Werthe zum Sieg zu bringen“ (AC, KSA 6, 250 ff.; siehe auch GM, KSA 5, 287 f.), was besonders in der virt -Konzeption eines Machiavelli zum Ausdruck kam. An jene „letzte g r o s s e Zeit“ (GD, KSA 6, 138) erinnert auch sein eigenes Projekt der „Umwertung aller [christlichen] Werte“. Wenn Nietzsche an zahlreichen Stellen seines Werks von Tugend redet, darf das demzufolge nicht im Sinne der klassischen Tugendethik missverstanden werden,14 sondern ist im Zusammenhang seiner Bewunderung fr das Heroische Zeitalter zu sehen. Tchtigkeit und Vortrefflichkeit werden von Nietzsche als konstitutiv fr ein wahres menschliches Leben angesehen. Gerade das verkennen seiner Darstellung zufolge solche Moralformen wie Hedonismus und Utilitarismus. Nach Schopenhauer muss der Mensch seine Lebensaktivitt auf ein Minimum reduzieren und damit seine Identitt auf den Nullpunkt schrumpfen lassen, denn nur durch die Auflçsung im Nichts kçnne er sich vom Leiden befreien. Nietzsche zielt mit seiner Polemik aufs genaue Gegenteil: eine Vergrçßerung des „leidvollen“ Lebens. Dabei stellt er den Menschen in den Zusammenhang mit der Natur: Denn angefangen mit den Pflanzen gebe es dort nur ein „Sich-Ausbreiten, Einverleiben, Wachsen“, „ein Anstreben gegen Widerstrebendes“ (NF, KSA 13, 52) und damit nur einen Kampf um Macht: „Wofr kmpfen die Bume eines Urwaldes mit einander? Um ,Glck? – Um M a c h t . “ (NF, KSA 13, 52) Im Antichrist kommt der gleiche Gedanke zum Ausdruck: „Das Leben selbst gilt mir als 13 Siehe Thomas H. Brobjer, Nietzsche s Ethics of Character. A Study of Nietzsche s Ethics and Its Place in the History of Moral Thinkers, Uppsala 1995, S. 91 – 97. 14 Zu den Unterschieden zwischen Nietzsches und klassisch-aristotelischem Verstndnis von Tugend siehe Theodore R. Schatzki, Nietzsche s Wesensethik, in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 68 – 87, hier S. 83 f., Michael Slote, Nietzsche and Virtue Ethics, in: International Studies in Philosophie 30/3 (1998), S. 23 – 27, hier S. 24 f.
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Instinkt fr Wachsthum, fr Dauer, fr Hufung von Krften, fr M a c h t : wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es Niedergang.“ (KSA, AC 6, 172) In Jenseits von Gut und Bçse sagt Nietzsche auch, dass das Ziel des Naturprozesses die „Erhçhung des Typus ,Mensch“ sei (JGB, KSA 5, 205 f.). Damit weist sein Perfektionismus eine naturalistische Komponente auf – die teleologische Weltontologie selbst15 schreibt dem Menschen sein Lebensideal vor.16 Mit Blick auf Max Schelers Die Stellung des Menschen im Kosmos kann man Nietzsches naturalistische Ausfhrungen so przisieren, dass die Existenzweise von Lebewesen einem ursprnglichen Gefhlsdrang zugrundeliegt, der als das primre Widerstandserlebnis ihre Beziehungen zur Realitt herstellt17 und mit jeder weiteren Entwicklungsstufe an Intensitt zunimmt. Aber so scharfsinnig diese berlegungen auch sein mçgen, kçnnen sie keineswegs die tiefe Kluft des naturalistischen Fehlschlusses der dabei aufgestellten Perfektionismus-These berbrcken: Nietzsche schwankt ununterbrochen zwischen deskriptiven Aussagen, dass die Welt die Prozesse der Steigerung des ihr innewohnenden Willens zur Macht faktisch aufweise, und normativen Behauptungen, dass der Mensch den Willen zur Macht steigern solle. Es bleibt also unklar, kraft welcher logischen Schlussfolgerungen er den qualitativen Sprung vom sthetischen Anblick von der Welt, als einer Anhufung von fortwhrend anschwellenden Machtquanten, zur individuellen Handlungsorientierung vollzieht. Wie dem auch sei, stellt Nietzsches Entwurf der Metaphysik des Willens zur Macht eine Antwort auf Schopenhauers Metaphysik des Willens zum Leben dar. Dieser Konzeption nach sind wir der Natur dort am nchsten, wo der Kraftaufwand am grçßten ist. So kann man leicht nachvollziehen, warum Tapferkeit fr Nietzsche die hçchste Tugend darstellt: Angesichts des mçglichen Schmerzerlebens bzw. Todes fordere sie die grçßte Anstrengung bei der Bewltigung des kçrperlichen Affekts der Selbsterhaltung. Die Kritik Nietzsches an Schopenhauer und am Hedonismus ist aber nicht in dem Sinne zu verstehen, dass der Mensch sich permanent den 15 Nietzsche kritisiert an vielen Stellen seines Werks die teleologischen Vorstellungen von der Natur, jedoch sind seine Ausfhrungen zur Ontologie des Willens zur Macht selbst als teleologisch aufzufassen. Siehe John Richardson, Nietzsche s Power Ontology, in: John Richardson/Brian Leiter (Hrsg.), Nietzsche, Oxford 2001, S. 150 – 185, hier bes. S. 153. 16 Vgl. Theodore R. Schatzki, Ancient and Naturalistic Themes in Nietzsche s Ethics, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 146 – 167, hier bes. S. 154 – 160. 17 Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 2005, S. 18, 59 f.
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leiblichen18 Trieben und Affekten zu widersetzen hat, sondern so zu deuten, dass der Kçrper als Instrument betrachtet werden soll, das eine Aneignung und vortreffliche Ausbung verschiedener Ttigkeiten ermçglicht. Infolge stndigen Trainings mssen Leib und Seele zu einer Einheit wachsen und sich schließlich so durchdringen, dass es zu keiner Reibung zwischen ihnen bei den auszufhrenden Handlungen kommt. Nietzsches Anliegen luft damit auf den Imperativ hinaus, alle vorhandene Kraft einzusetzen und zum Gegenstand der Bearbeitung zu werden. Auf diese Weise erçffnet sich die sthetische Dimension seines Perfektionismus: Im Aphorismus verspottet er die glcksorientierten Lehren vom Standpunkt eines Knstlers (schon zitiert: „ein Jeder, der sich g e s t a l t e n d e r Krfte und eines Knstler-Gewissens bewusst ist“) bei gleichzeitiger Definition des Menschen als Bildner seiner selbst: „Im Menschen ist G e s c h ç p f und S c h ç p f e r vereint: im Menschen ist Stoff, Bruchstck, berfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos; aber im Menschen ist auch Schçpfer, Bildner, Hammer-Hrte, Zuschauer-Gçttlichkeit und siebenter Tag […].“ (JGB, KSA 5, 161) Der Gegenstand einer knstlerischen Bearbeitung soll nach Nietzsche nicht nur etwas in der Außenwelt Liegendes sein, wie es bei gewçhnlicher Kunst der Fall ist, sondern auch man selbst. Im Hintergrund dieser berlegungen steht ohne Zweifel die altgriechische Konzeption der „moralischen Schçnheit“. Damit kann Nietzsche in eine Reihe mit den deutschen Neoklassikern des 18. Jahrhunderts gestellt werden, die die altgriechischen Erziehungsideale zu rehabilitieren versuchten.19 Im Unterschied zu modernen ethischen Theorien ging es in der antiken Philosophie hauptschlich nicht um die Qualitt von einzelnen Handlungen, sondern um die Formierung eines „schçnen“ Charakters, dem die einzelnen Handlungen entspringen sollen. Die Besonderheit von Nietzsches Perfektionismus besteht aber darin, dass er den Aspekt der Anstrengung in den Vordergrund rckt. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er die optimistischen Annahmen ber die menschliche Natur verneint, was sich fr ihn im historischen Ereignis des „Sklavenaufstandes in der Moral“ begrndet. So brauchen, nach Nietzsche, Individuen Hrte sich selbst gegenber, um eigene Impulse zu kon-
18 Hier und an anderen Stellen verwende ich den Begriff „Leib“ als synonym mit „Kçrper“. 19 James Conant, Nietzsche s Perfectionism: A Reading of Schopenhauer as Educator, in: Richard Schacht (Hrsg.), Nietzsche s Post-Moralism: Essays on Nietzsche s Prelude Philosophy s Future, Cambridge 2001, S. 220.
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trollieren, die von der Perfektion wegfhren kçnnen.20 Sein Idealmensch wird zu einem heroischen Menschen, einem ber-Menschen. Er ist stndig auf die Selbstberwindung angewiesen, die ußerste Anstrengung wird zu seiner Lebensweise. Mit der Figur des bermenschen legt Nietzsche einen Gegenentwurf zum hedonistisch lebenden, alle Extreme vermeidenden „letzten Menschen“ vor. Das Leben des Ersteren weist im Gegensatz zu dem des Letzteren ein mehrdimensionales Wachstum auf. Die Idee der mit einer ußersten Anstrengung verbundenen Selbstvergrçßerung als Modus der Lebensfhrung erlutert Nietzsche anhand der Szene mit dem Seiltnzer in Also sprach Zarathustra. Dort bewegt sich der Seiltnzer auf einem schwankenden Seil, das den Weg vom Tier zum bermenschen symbolisiert, oberhalb der Kçpfe der auf festem Boden stehenden „letzten Menschen“. Das „ber“ in „bermensch“ deutet also zunchst auf die Vertikalitt der Hçhe hin, in der er auf dem gespannten Seil ber die Masse herausragt.21 Um nicht runterzufallen, muss der Seiltnzer in jedem Moment seines Fortgangs das Gleichgewicht ausbalancierend halten, was nur auf der Grundlage einer vollendeten Kçrperbeherrschung gelingt. Die Richtung seiner Bewegung auf dem Seil veranschaulicht zugleich die horizontale Dimension des menschlichen ber-sich-hinaus-strebens:22 „Geistig“ setzt er sich ein fernliegendes Ziel ein und „kçrperlich“ bemht er sich, die dabei entstandene Lcke im Selbst durch die leibliche Tat zu schließen. So befindet sich Nietzsches Idealmensch, dem Seiltnzer hnlich, auf einem unendlichen Weg nach eigener Perfektionierung, in der Verleiblichung der stndig „hungrigen“ Seele. Der ominçse Wille zur Macht erweist sich auf diese Weise als ein Wille zur Selbstmchtigkeit. In Zarathustra wird uns auch ein Gleichnis fr die drei Vorstufen des bermenschen vorgefhrt. Diese sind Wurm, Affe und Mensch. Der Wurm stellt die niedrigste Stufe der Entwicklung dar, weil er nur Erde frisst und ausscheidet. Er bleibt konstant und wird in keiner Dimension grçßer. Das ist das Entwicklungsstadium, auf dem sich auch Schopenhauers Wille zum Leben als Wesen der Welt befindet. Alle Lebewesen seien fr diesen 20 Thomas Hurka, Nietzsche: Perfectionist, in: Brian Leiter/Neil Sinhababu (Hrsg.), Nietzsche and Morality, Oxford 2007, S. 14. 21 Annemarie Pieper, Zarathustra als Verknder des bermenschen und als Frsprecher des Kreises, in: Volker Gerhardt (Hrsg.), Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, S. 93 – 122, hier S. 94. 22 Annemarie Pieper, Zarathustra als Verknder des bermenschen und als Frsprecher des Kreises, in: Volker Gerhardt (Hrsg.), Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, S. 94.
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Willen bloß zu verbrauchende Kçrper. Dass sie geboren werden und sterben, ndere nichts an seiner ewig-platonischen Form, genauso wie die Aneignung von neuer Materie im Ernhrungsprozess und das Abwerfen verbrauchter Materie bei der Ausscheidung nichts an der Form eines Wurmes ndert. Diese kaum sich regende Masse wird nun von Nietzsche in Bewegung versetzt. Wie aus dem Gleichnis zu erschließen ist, vollzieht sich der bergang auf die jeweils nchste Entwicklungsstufe erstens durch das „Wachstum“ des Kçrpers – er wird differenzierter, seine Ausdrucksmçglichkeiten und damit auch sein Steigerungspotential nehmen zu; zweitens durch die Ausweitung seines Bewegungsraums und Aktionsradius – das ermçglichen die sich am Kçrper bildenden Gliedmaßen; drittens durch die nderung der Kçrperhaltung und Blickrichtung – vom Boden weg wendet er sich allmhlich in die Hçhe. Schließlich dehnt sich das zum bermenschen aufsteigende Lebewesen in der zeitlichen Dimension unendlich aus – Zarathustra lehrt die ewige Wiederkehr des Gleichen, die als Imperativ zu verstehen ist, eigenes Leben so zu gestalten, dass man wnschen kann, es mçge ewig so wiederkehren.23 Die treibende Kraft dieser Selbststeigerung soll nach Nietzsches Vorstellungen die „angezchtete“ Leidenschaft werden. Dieser „Pfeil der Sehnsucht“ bringt eine Spannung und einen Erfindungsreichtum ins Leben ein, von denen in den folgenden Passagen des Aphorismus gesprochen wird: Jene Spannung der Seele im Unglck, welche ihr die Strke anzchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausntzen des Unglcks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimnis, Maske, Geist, List, Grçsse geschenkt worden ist: – ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden? (JGB, KSA 5, 161)
Die Zucht des Leidens bedeutet die Zucht einer großen Leidenschaft, eines großen Hungers nach dem Leben. In diesem Sinne will Nietzsche das Animalische im Menschen sich sogar steigern lassen. Schopenhauers Hunger als anthropologisches Charakteristikum wchst bei Nietzsche zu einem großen Hunger an, nmlich einer bis zur Selbstzerstçrung gehenden Sucht nach Machtausbung der Welt gegenber, die die Zgel der Lebensfhrung unwiderruflich an sich reißen soll. 23 Siehe Georg Simmel, Das „Gesetz“ und die „ewige Wiederkunft“, in: ders., Nietzsche und Kant, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 50. Jg., No. 5 vom 6. Januar 1906, 1. Morgenblatt, Feuilleton-Teil, S. 1 – 2. URL: http://www.textlog. de/3579.html (Abruf am 3. Januar 2010) und FW, KSA 3, 570.
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Bereits in seiner frhen Schrift Homers Wettkampf formuliert Nietzsche die These, dass die Zivilisation die naturhaften, animalischen Impulse im Menschen kultivieren soll. Diese Sublimierungspraxis sieht er im agonalen Ethos der alten Griechen verkçrpert, die im Wettkampf ihre grausamen Instinkte als die „ehrgeizige Flamme“ (CV, KSA 1, 787 f.) entfachen und in die bewegende Kraft einer perfektionistischen Selbststeigerung verwandeln ließen. In Jenseits von Gut und Bçse stellt Nietzsche sogar die Behauptung auf, dass fast alles, was wir „hçhere Cultur“ nennen, auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit beruhe (JGB, KSA 5, 166). Gerade auf diese Weise ist seine Verherrlichung von Krieg und Kampf zu verstehen, wie im oben zitierten Satz vom Antichrist. Die Bearbeitung des leidenschaftlichen Antriebs- und Energieberschusses soll den Menschen, Nietzsches Darstellung zufolge, auf eine hçhere Entwicklungsstufe bringen. Die daraus entstehende Distanz zwischen dem Menschen des Willens zur Macht (Lebenssteigerung) und dem Menschen des Willens zum Leben (Lebenserhaltung) kommt im ersten Satz des Aphorismus zum Ausdruck: „[es] sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetten, auf welche ein Jeder, der sich g e s t a l t e n d e r Krfte und eines Knstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird.“ (JGB, KSA 5, 160) Der mitleidige Blick des Sprechenden auf diese „Denkweisen“ ist der Blick eines Knstlers, der sich den schçpferischen Fhigkeiten des Menschen bewusst ist gegenber demjenigen, der sie gerade nicht sieht. Dieses Mitleid ist eine Reaktion auf verpasste Mçglichkeiten des Bemitleideten und kein Mitleid in Schopenhauers Sinne, fr den es die einzige Grundlage der Moral und Liebe ausmacht. Es ist also nicht ein Gefhl, in dem der Mitleidende im Bemitleideten seine eigene Verletzlichkeit erkennt und damit den Abstand zwischen Beiden aufhebt, sondern gerade umgekehrt – ihn vergrçßert: Mitleiden mit e u c h ! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint: das ist nicht Mitleiden mit der socialen „Noth“, mit der „Gesellschaft“ und ihren Kranken und Verunglckten, mit Lasterhaften und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen; das ist noch weniger Mitleiden mit murrenden gedrckten aufrhrerischen Sklaven-Schichten […]. U n s e r Mitleiden ist ein hçheres fernsichtigeres Mitleiden: – wir sehen, wie d e r M e n s c h sich verkleinert, wie i h r ihn verkleinert! (JGB, KSA 5, 160)
Wie im Falle von Nietzsches Glcksauffassung kann man auch hier zwei verschiedene Leidensarten differenzieren. Der erste Typus kommt denen zu, welche „an der Ueberflle des Lebens“ leiden und „eine dionysische Kunst wollen“ (FW, KSA 3, 620), der zweite dagegen charakterisiert „die
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an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlçsung von sich […] suchen“ (FW, KSA 3, 620). Im ersten Fall stellt das Leiden eine schçpferische Kraft dar und weil es „aus jeder Wste noch ein ppiges Fruchtland zu schaffen im Stande ist“ (FW, KSA 3, 620), fhrt es eine perfektionistische Selbststeigerung herbei; im zweiten Fall hat es dagegen die krampfhafte Hemmung von Selbstperfektionierung zur Folge, weil der Wille vom kreativen Schaffensprozess abgelenkt wird. Das erste ist dementsprechend mit Leiden-schaft synonym und bedeutet als solche eine Form der Selbstbeziehung des Individuums, das zweite kommt seinerseits Mit-leiden im blichen Sinne des Wortes nahe und stellt eine Form zwischenmenschlicher Relation dar. In der von Nietzsche ausgedrckten Abwertung des Mitleidsgefhls spiegelt sich die Differenz zwischen antikem und jdisch-christlichem Denken wider. Kennzeichnend ist in diesem Kontext die Bewegungsumkehr der Liebe, die sich im Laufe der Geschichte vollzog.24 Whrend in der christlichen Tradition die Liebe durch eine Bewegung von oben nach unten charakterisiert war, wie z. B. eines Gesunden zu einem Kranken, eines Schçnen zu einem Hsslichen, eines Starken zu einem Schwachen und damit einen Akt der „Selbstverkleinerung“ darstellte, lautete das ursprngliche griechische Axiom der Liebe, dass sie ein Streben des Niederen zum Hçheren sei, und damit eine „Selbstvergrçßerung“ bedeutete. Das Mitleidsempfinden war dementsprechend mit der Angst verbunden, unedel zu werden und herabzusinken, es zeigte mangelnde Selbstbeherrschung, weil dabei die individuelle Fhigkeit unterminiert war, Grçße zu erreichen. Nietzsches Rede von „Verzrtelungen“ und „Schwchen“ im folgenden Satz des Aphorismus ist gerade in diesem Sinne zu verstehen: Und dass e u e r Mitleid dem „Geschçpf im Menschen“ gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglht, gelutert werden muss, – dem, was nothwendig l e i d e n muss und leiden s o l l ? Und u n s e r Mitleid – begreift ihr s nicht, wem unser u m g e k e h r t e s Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als gegen die schlimmste aller Verzrtelungen und Schwchen? – Mitleid also g e g e n Mitleid! (JGB, KSA 5, 161)
Nietzsche zeigt in diesem Textabschnitt die ambivalente Struktur der Mitleidsempfindung auf. Sein Mitleid stellt hier keine Bekundung der Solidaritt mit den Schwachen dar, sondern umgekehrt – es kommt einer 24 Siehe Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufstze, Werke, Bd. 3, Bern 1955, S. 33 – 147, hier S. 72 f. Dabei weist Scheler darauf hin, dass Nietzsche das Wesen der christlichen Liebesidee berhaupt nicht erfasst hat.
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Verachtung gegen sie nher.25 Es ist eine Abneigung gegen diejenigen, welche die Grçße des Menschen verkennen, indem sie ihn nur als ein Empfindungswesen begreifen. brigens sind sich in diesem Punkt Mitleidsethiker mit Utilitaristen einig, und das zeigt sich darin, dass beide trotz ihrer unterschiedlichen Entstehungsgeschichten auch Tiere miteinbeziehen.26 Nietzsche will aber gerade das bloß Animalische im Menschen transzendieren. Der Mensch im Ganzen steht im Mittelpunkt seiner Betrachtung. Nach der „Selbstverkleinerung des Menschen“ (GM, KSA 5, 404) durch die moderne Wissenschaft, infolge deren Siegeszug er mehr und mehr „aus dem Mittelpunkte weg[rollt]“ (GM, KSA 5, 404), will Nietzsche ihn wieder ins Zentrum der Welt stellen. Das Bewusstsein der eigenen Grçße wiederzuerlangen, ist das, worum es ihm geht. Dabei greift er auf das griechische „P a t h o s d e r D i s t a n z “ (GM, KSA 5, 259) zurck, das ein anderes Verhltnis des Menschen zu sich selbst ausdrckte. Wie er in Jenseits von Gut und Bçse sagt, wrden einem antiken Griechen die modernen Europer, an denen er „zuerst die Selbstverkleinerung herauskennen wrde“, „,wider den Geschmack [gehen]“ (JGB, KSA 5, 220 f.). Diese Ausfhrungen Nietzsches erinnern an die antike Konzeption der megalopsychia („Grçße der Seele“, „Gross-gesinntheit“).27 Laut Aristoteles kommt diese Qualitt dem Menschen zu, der Großes vollbringt und sich seines eigenen Wertes bewusst ist, welcher aus der stolzen Anerkennung der eigenen Vortrefflichkeit folgt. hnlich den schon angesprochenen Fllen von Mitleid oder Tugend unterlag diese Vorstellung in der jdisch-christlichen Kultur einem Wandel:28 Das Wort „megalopsychia“ (lat. magnanimitas) wurde im Christentum beibehalten, aber bedeutete nun die Geringschtzung des Weltlichen, Herabsehen auf die irdischen Dinge oder auch „Demut“. „Großmtig“ hieß nun derjenige, der sich selbst nicht wichtig nimmt, sich klein macht und erniedrigt vor Gott. Was in der vor25 In Morgenrçthe sagt Nietzsche, dass Mitleidgewhren so viel wie Verachten heißt. Siehe M, KSA 3, 128. 26 Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen ber Ethik, Frankfurt am Main 1993, S. 178. 27 Siehe Walter Kaufmann Nietzsche: Philosoph, Psychologe, Antichrist, Darmstadt 1982, S. 446 – 448; Hans J. Mette, Friedrich Nietzsche und der „Großgesinnte“ der aristotelischen Ethik, in: Antike und Abendland 33 (1987), S. 90 – 97; Thomas H. Brobjer, Nietzsche s Ethics of Character. A Study of Nietzsche s Ethics and Its Place in the History of Moral Thinkers, Uppsala 1995, S. 240 – 262; Brian Leiter, Nietzsche on Morality, London 2002, S. 121, Fußnote 8. 28 Zu den im Christentum umgewerteten antiken Tugenden siehe John Casey, Pagan Virtue, Oxford 1990.
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christlichen Antike mit megalopsychia gemeint war, wurde im Christentum mit superbia („Stolz“, „Hochmut“) ausgedrckt und stellte eine der sieben Todsnden dar.29 Im Antichrist zhlt Nietzsche in direkter Opposition zu diesem Verstndnis „die superbia des gesunden Geistes“ (AC, KSA 6, 232), also den „Stolz auf sich selbst“ (JGB, KSA 5, 210) zu einer lobenswerten Tugend. Trotz vieler hnlichkeiten zwischen Nietzsches und antikem Denken ist jedoch seine Moralkritik nicht bloß als eine Wiederentdeckung der altgriechischen Werte aufzufassen. Denn sie geht ber eine Destruktion bestimmter, zeitgençssischer Moralvorstellungen hinaus. Das Bild von Nietzsches „großen Menschen“ bekommt amoralische Zge, wenn es um die Erluterung der Frage nach der Verfasstheit ihrer Beziehung zu Anderen geht. Genau an diesem Punkt kippt Nietzsches Moral in Unmoral um. Im Aphorismus 225 von Jenseits von Gut und Bçse findet man keine ußerungen zum Thema, wohl aber in anderen Abschnitten dieser Schrift. Dort schreibt Nietzsche: Ein Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzçgerung und Hemmniss – oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthmliche hochgeartete G t e gegen Mitmenschen ist erst mçglich, wenn er auf seiner Hçhe ist und herrscht. (JGB, KSA 5, 227; siehe auch JGB, KSA 5, 155 f.)
Die „großen Menschen“ werden in Nietzsches Darstellung auch durch einen „unverrckbaren Glauben“ gekennzeichnet, dass ihnen „andre Wesen von Natur unterthan sein mssen und sich [ihnen] zu opfern haben“ (JGB, KSA 5, 219). So werden sie mit dem Vorrecht ausgestattet, „jenseits von Gut und Bçse“ zu handeln (JGB, KSA 5, 210 f.). Entgegen der traditionell-aristotelischen Vorstellung von der Einheit der Tugend wird dieses Merkmal sogar zu ihrer notwendigen Eigenschaft: Nietzsche sagt, dass „das Verbrechen zur Grçße gehçrt“ (NF, KSA 12, 405 f.). In diesem Kontext kann nun die Frage gestellt werden, in welchem Verhltnis die zwei Seiten von Nietzsches Perfektionismus – moralische und unmoralische – zueinander stehen. Zu diskutieren, warum ein in einem bestimmten Ttigkeitsfeld „großer“ Mensch unbedingt bzw. nicht unbedingt moralisch handeln muss, wrde aber sicherlich ein aussichtsloses Unternehmen darstellen. Wie Wittgenstein einmal treffend gesagt hat, wre jemand imstande, ein wirklich wissenschaftliches Buch ber Ethik zu schreiben, so wrde dieses Buch mit einem Knall smtliche anderen B29 Vgl. Winfried Schrçder, Moralischer Nihilismus, Stuttgart 2005, S. 45.
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cher auf der Welt vernichten.30 Bei aller Rcksicht auf Nietzsches rhetorische bertreibungen und nicht seltene Ironie, ist jedoch an seinem Amoralismus zu kritisieren, dass er den Einbezug der Anderen in eine perfektionistische Selbstverwirklichung und die damit verbundene Kçnnerschaft, von eigenen Interessen partiell abzusehen, nicht gengend bercksichtigt. Denn faktisch werden die meisten Fhigkeiten des Menschen durchs Lernen von und mit anderen angeeignet und weiterentwickelt, und ein großer Teil von Ttigkeiten ist berhaupt nicht ohne ein Zusammenhandeln mit anderen vorstellbar, so wie z. B. die Aktivitt eines Fußballers im Stadion oder die eines Soldaten auf dem Schlachtfeld. Und bei allen diesen, wie freilich bei allen sozialen Ttigkeiten, muss das Individuum lernen, sein Wollen und seine Prferenzen relativ zu denen anderer einzuschrnken.31 Zwar kann jeder Mensch zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens eine verbrecherische Tat begehen, aber von seiner Konstitution als gemeinschaftlichen Lebewesens kann nicht abstrahiert werden. Auch die machtvollen Reprsentanten der „Herrenmoral“ aus Nietzsches Genealogie haben ihre Beziehungen untereinander irgendwie zu regeln, und das kann nicht ohne Vorhandensein eines minimalen Altruismus32 im Sinne der Existenz und Einhaltung allgemeingltiger Normen geschehen, die immer wiederkehrende Selbstbeschrnkung erfordern. Freilich sieht Nietzsche dies zum Teil ein. Bei der Erluterung der in Jenseits von Gut und Bçse vorgestellten Konzeption der Vornehmheit (JGB, KSA 5, 205 – 240), in der er ein „aristokratisches“ Exzellenzideal darlegt, sagt er unter anderem, dass die „Vornehmen“ zur „Selbstbeschrnkung im Verkehre mit ihres Gleichen“ fhig seien, und dass das nicht aus Pflicht, sondern aus der inneren Neigung geschehe (JGB, KSA 5, 220). Dieser Charakterzug macht sie den Homerischen Helden hnlich, bei denen keine Spaltung des Selbst, etwa in Pflicht und Neigung wie in Kants modernem Menschenbild, vorhanden war; sie hatten keine geheimen Motive – sie taten, was sie waren.33 Laut Nietzsche sind die „Vornehmen“ 30 Ludwig Wittgenstein, Vortrag ber Ethik und andere kleine Schriften, Frankfurt am Main 1989, S. 13. 31 Vgl. Ernst Tugendhat, Egozentrizitt und Mystik, Frankfurt am Main 2006, S. 87. 32 Hier beziehe ich mich auf die Definition des Altruismus bei Thomas Nagel, Die Mçglichkeit des Altruismus, Bodenheim bei Mainz 1998, S. 11, 111, der darunter die Fhigkeit versteht, sich selbst lediglich als ein Individuum unter einer Vielzahl anderer anzusehen, das die Bereitschaft hat, ohne jede Nebenabsicht auf die Interessen anderer Rcksicht zu nehmen. 33 Siehe Bernard Williams, Scham, Schuld und Notwendigkeit: Eine Wiederbelebung antiker Begriffe der Moral, Berlin 2000, S. 53 f.
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sogar „erfinderisch in Rcksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft“ im Verhalten zu einander (GM, KSA 5, 274) und es gehçre bei ihnen zur „guten Sitte“, sich gegenseitig nicht zu verletzen und den Willen des anderen zu respektieren (JGB, KSA 5, 207 f.). Diese Passagen zeigen, dass es falsch wre, sie als vçllig amoralische Figuren einzustufen, und dass Nietzsches Moralkritik generell keinem anarchistischen Programm hnlich dem Max Stirners folgt, der eine hçchst individuelle, durch keinerlei Regeln eingeengte Gestaltung des Lebens ermahnt. Und wenn die „Vornehmen“ unter ihresgleichen zu einer durch Normen beschrnkten Lebensfhrung fhig sind, kann man davon ausgehen, dass sie auch im Verkehr mit anderen dazu imstande sind. Aus Nietzsches eindrucksvoller Beschreibung ihres „raubtierhaften“ Verhaltens den Fremden gegenber als „Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schndung, Folterung“ (GM, KSA 5, 274 f.) lsst sich dementsprechend nur folgern, dass die faktische Aktualisierung dieser Fhigkeit ausbleibt, und nicht, dass ihr Vorhandensein grundstzlich fehle. Natrlich ist es keineswegs zu bestreiten, dass Nietzsches Perfektionismus eine elitre Theorie darstellt. Bestimmte Gruppen von Menschen wurden von ihm mehr als die anderen geschtzt. Dazu gehçren vor allem Knstler und Krieger. Aber genauso wie Menschen aus anderen Ttigkeitsbereichen die Arbeit dieser Berufsgruppen brauchen, um ein vollwertiges Leben zu fhren, ist auch die sogenannte Elite auf andere Gesellschaftsgruppen angewiesen. Die „Gleichgltigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, […] Behagen“ (GM, KSA 5, 275), die nach Nietzsche jeden Aristokraten charakterisieren sollen, kçnnen nicht absolut sein. Ein jeder, sogar ußerst „selbstmchtiger“ Mensch kann nicht von den Grenzen und Verwundbarkeiten seines Kçrpers, sowie dem Bedrfnis nach Nahrung, Wrme und Schutz absehen. Das gelingende, gute Leben jedes Menschen ist demzufolge auch von den Gtern nicht zu trennen, die in Nietzsches Auffassung von „nicht-elitren“ Berufsgruppen produziert werden. Mehr noch: Diese Gter stellen die notwendige Bedingung ihrer perfektionistischen Selbstverwirklichung dar, denn fr einen stndig hungrigen Menschen wird es kaum mçglich sein, sich auf eine „hçhere“ Ttigkeit wie Dichten zu konzentrieren, von akrobatisch-militrischen Aktivitten ganz zu schweigen. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die amoralische Seite von Nietzsches Perfektionismus Anerkennung außer Acht lsst, eine so wichtige Kategorie der sozialen Wirklichkeit, auf deren Grundlage diese
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eine dialogische Verfasstheit aufweist.34 Wenn in Jenseits von Gut und Bçse die aristokratische Gemeinschaft der großen Menschen mit den sonnenschtigen Kletterpflanzen auf Java verglichen wird, „welche mit ihren Armen einen Eichbaum“, also das einfache Volk, „so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch ber ihm, aber auf ihn gestrzt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glck zur Schau tragen kçnnen“ (JGB, KSA 5, 206 f.; hnliche Beschreibung in JGB, KSA 5, 227), dann zeigt diese naturalistische Darstellung Nietzsches Verkennen des Wesens der sozialen Realitt. Ein solches Bild erinnert im Grunde an Hobbes inkonsistente Beschreibung der Menschen im Naturzustand, die dort als aufeinanderprallende Fleischkçrper mit einem ihnen innewohnenden Streben nach Wetteifer und Ruhmsucht definiert werden. Dass das Hinaufsteigen auf der Leiter der sozialen Hierarchie mehr als ein bloßes Vorhandensein hervorragender Fhigkeiten und eines berdurchschnittlichen Ehrgeizes zur Voraussetzung hat, und dass die Anerkennung generell ein existentielles Grundbedrfnis des Menschen darstellt,35 kann man sehr deutlich an Nietzsches Leben selbst sehen, das mit seinem Denken wie bei keinem anderen Philosophen eng zusammenhngt. Wie man aus seinem autobiographischen Werk Ecce Homo entnehmen kann, war er von der Frage nach seinem Publikum, nach dem Gehçrt-, Rezipiert- und Verstandenwerden seiner Texte besessen. Kaum whrend der Lebzeiten anerkannt, dazu noch krank, einsam und unglcklich, stellt er sich dort verbittert als eine herausragende Figur in der Weltgeschichte dar36 und appelliert an eine
34 Siehe Charles Taylor, Die Politik der Anerkennung, in: ders. (Hrsg.), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt am Main 1993, S. 13 – 78, hier S. 21. 35 Mit Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main 1992, Kap. II. 5, kann man drei Formen der Anerkennung unterscheiden: Die erste bedeutet die Achtung vor dem anderen, mit dem dieser als freies Subjekt geachtet wird; unter der zweiten ist die soziale Wertschtzung zu verstehen, die dem Mitglied einer Gemeinschaft aufgrund seiner Eigenschaften und Fhigkeiten entgegengebracht wird; die dritte Form stellt die emotionale Zuwendung dar, die sich an Bedrfnissen und Affekten orientiert und dementsprechend Liebe und Freundschaft zuzuordnen ist. Der Begriff der Anerkennung, den ich in diesem Kontext verwende, lsst sich der zweiten und der dritten Form zuordnen. 36 Man kann natrlich in Zweifel ziehen, dass Nietzsche mit solchen Formulierungen wie „Warum ich so klug bin“ oder „Warum ich so gute Bcher schreibe“ in Ecce Homo ernst meint. Fr Pieper (Annemarie Pieper, Ein Seil geknpft zwischen Tier und bermensch. Philosophische Erluterungen zu Nietzsches erstem ,Zarathustra , Stuttgart 1990, S. 13) z. B. handelt es sich hier um eine Art Selbstironie
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zuknftige Anerkennung der eigenen „Grçße“: „Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknpfen […].“ (EH, KSA 6, 365)37
Nietzsches. Mir scheint jedoch eine solche Interpretation nicht ganz der Wirklichkeit zu entsprechen. Es steht fest, dass die Meinungen anderer Menschen ber seine eigene Person Nietzsche nicht gleichgltig waren. Das belegen gerade die folgenden Passagen von Ecce Homo, wo er in einem ernsten Ton klagt, dass lange Zeit kein Deutscher, sondern nur ein Dne, Georg Brandes, seiner Philosophie Aufmerksamkeit geschenkt habe: „Zehn Jahre: und Niemand in Deutschland hat sich eine Gewissensschuld daraus gemacht, meinen Namen gegen das absurde Stillschweigen zu vertheidigen, unter dem er vergraben lag: ein Auslnder, ein Dne war es, der zuerst dazu genug Feinheit des Instinkts und Muth hatte, der sich ber meine angeblichen Freunde empçrte… An welcher deutschen Universitt wren heute Vorlesungen ber meine Philosophie mçglich, wie sie letztes Frhjahr der damit noch einmal mehr bewiesene Psycholog Dr. Georg Brandes in Kopenhagen gehalten hat?“ (WA, KSA 6, 363) 37 Fr kritische Kommentare zu frheren Fassungen des Textes danke ich Dieter Thom, Pirmin Stekeler-Weithofer, Volker Caysa, Magnus Schlette und Henning Tegtmeyer.
IV.
Große Geschichte
Aufstieg, Grçße und Fall berlegungen ber den historischen Fortschritt im Anschluss an Nietzsche
Udo Tietz Als Nietzsche in den 80er Jahren noch einmal die Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie und dem deutschen Idealismus aufnahm, da verband sich fr ihn die eine Position mit dem Namen Kants und die andere mit dem von Hegel. „Kritizismus“ und „Historismus“, das waren fr Nietzsche die die Gegenwart beherrschenden Denkformen, die so oder so an die wirkmchtigste Idee der Moderne gebunden waren: an die Idee des geschichtlichen Fortschritts. „Kant: uns entzogen, unsichtbar, wirklich, ein Reich der moralischen Werthe. Hegel: eine nachweisbare Entwicklung, Sichtbarwerdung des moralischen Reichs.“ (NF, KSA 12, 163) In dieser Sichtweise werden Kant und Hegel aber nicht nur zu den Vertretern des Kritizismus und des Historismus, sondern gleichzeitig zu den Vertretern einer posttheistischen Theodizee, die geschichtsphilosophisch einen nach Herkunft und Zukunft durchschaubaren Sinn-Zusammenhang in der Geschichte zu begrnden versuchen, durch den am Ende die Wirklichkeit nicht anders denn als vernnftig dargestellt wird. Aus der Tatsache eines unaufhçrlichen Fortschreitens in der Zeit wird so der Menschheitsgeschichte eine Orientierung auf ein Ziel unterlegt und versucht, „die Herrschaft der Moral aus der Geschichte zu beweisen“ (NF, KSA 12, 163): Kant, indem er Gott zum Postulat der praktischen Vernunft macht und der Geschichte unterstellt, dass sie „selbst zur Besserung der Welt einen Plan enthalten“ msse, dem die Menschheit in moralischer Hinsicht zu folgen hat, Hegel, indem er Gott wieder zum Gegenstand der theoretischen Vernunft macht und der Geschichte unterstellt, dass sie selbst schon vernnftig sei, und dass sich in ihr der Plan Gottes bereits verwirklicht – „seine populre Seite die Lehre vom Krieg und den großen Mnnern. Das Recht ist bei den Siegreichen: er stellt den Fortschritt der Menschheit dar“ (NF, KSA 12, 162). „Wir wollen uns“, so schließt Nietzsche hier, „weder auf die Kantische noch Hegelsche Manier betrgen lassen: – wir glauben nicht mehr, wie sie, an die Moral und haben folglich auch keine Philosophien zu grnden,
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damit die Moral Recht behalte. Sowohl der Kriticismus als der Historicismus hat fr uns nicht darin seinen Reiz: – nun, welchen hat er denn? —“ (NF, KSA 12, 163) Nietzsche hat diese Frage bekanntlich nicht beantwortet und auch ich werde nicht versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Mich interessiert im Folgenden zweierlei, erstens Nietzsches Kritik am Sinn- und Fortschrittsbegriffs der abendlndischen Philosophie, wobei ich meine, dass dieser Begriff auch heute noch der unsere ist, und zweitens die Konsequenzen, die sich aus seiner Kritik an den transzendentalen oder dialektischen Progressionsphantasien der Moderne ergeben, wobei ich dafr argumentieren werde, dass auf der Rckseite der Kritik am transzendentalen und dialektischen Optimismus der Geschichtsphilosophie die Umrisse einer philosophischen Seismologie kenntlich werden, die Krisen nicht mehr zu Knotenpunkten einer gesellschaftlichen Hçherentwicklung mit einer eingebauten Nichtverschlechterungstendenz machen und die deshalb den Aufstieg, die Grçße und dann auch den Fall oder besser: den Verfall von Kulturen in einem anderen Licht erscheinen lassen. Ich mçchte die Umrisse dieser Fortschrittskritik ein Stck weiter ber Nietzsche hinaus konkretisieren. In diesem Zusammenhang werde ich dafr argumentieren, dass Untergnge als kulturelle Burnouts verstanden und diese auf verweigerte kulturelle Lernprozesse zurckgefhrt werden kçnnen.
1. Der transzendentale Optimismus – Kant und die Folgen Die Frage: „Was ist Aufklrung“ hatte Kant bekanntlich dahingehend beantwortet, dass sie der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmndigkeit“ sei, wobei sich die Unmndigkeit auf das Unvermçgen bezog, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen und die Selbstverschuldung auf den fehlenden Mut, selbst zu denken – weshalb Kant seine Zeitgenossen auffordert: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“.1 Diese Aufforderung, die Kant dann auch gleich zum Wahlspruch der Aufklrung erklrt, korrespondiert mit einem zeitgeschichtlichen Selbstverstndnis, welches Kant in der ersten Kritik wie folgt bestimmt hat: 1
Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklrung?, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pdagogik, Werkausgabe, Bd. XI, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 53.
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Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestt wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und kçnnen auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und çffentliche Prfung hat aushalten kçnnen.2
Das „Zeitalter der Kritik“ (Kritik steht hier fr eine freie und çffentliche Prfung von Wahrheits- und Geltungsansprchen) ist sicher noch nicht ein „aufgeklrtes Zeitalter“, es ist aber das „Zeitalter der Aufklrung“. Dieses Verfahren der freien und der çffentlichen Prfung von Wahrheits- und Geltungsansprchen hat Kant auch im Rahmen seiner geschichtsphilosophischen Auffassungen vertreten. Die Geschichtsphilosophie, die seit Voltaire ja die Modedisziplin der Aufklrung ist, kann nach Kant nur die Anwendung der Methode des Philosophierens auf einen besonderen Erfahrungsbereich sein, eben auf den der Geschichte. Im Unterschied zur dogmatischen Geschichtsdeutung der Geschichtstheologie ist Geschichtsphilosophie im Kantischen Sinne eine kritische Geschichtsdeutung vergangener (durch Geschichtsforschung bereits gesicherter) Zustnde, Geschehnisse und Handlungen am Leitfaden praktischer (durch die Philosophie bereits gerechtfertigter) Absichten, womit sie in einen Zusammenhang gebracht und im Hinblick auf gegenwrtige oder knftige Zustnde, Geschehnisse und Handlungen kritisch beurteilt werden. Solch eine Kritik der historisch urteilenden Vernunft bezieht sich also einerseits auf das durch die empirische Geschichtsforschung verarbeitete historische Material und andererseits auf die praktische Philosophie.3 In architektonischer Hinsicht wre danach die Geschichtsphilosophie nicht einem Teil eines revidierten „Systems der Metaphysik“ zuzuordnen, sondern der praktischen Philosophie. Und zwar insofern, als die reine Vernunft im praktischen, genauer: im moralischen Gebrauch „Prinzipien der Mçglichkeit der Erfahrung“ enthlt, „nmlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein kçnnten.“4 Das Problem der Moral ist als Realisierungspro2 3
4
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Bd. III, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, A XI. Manfred Riedel, Kritik der historisch urteilenden Vernunft. Kants Geschichtsphilosophie und die Grundlagenkrise der Historiographie, in: ders., Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprngliche Fragestellung, Frankfurt am Main 1989, S. 129. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werkausgabe, Bd. III, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, A 807.
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blem also immer auch ein geschichtliches Problem – und das Verhltnis von Moral und Geschichte ist immer auch ein Verhltnis fr die historisch urteilende Vernunft. Denn diese begreift das empirische Material der geschichtlichen Welt, die Ausbreitung der Vçlker, Staaten, Kulturen und Zeitalter unter der Kategorie der Einheit; ihr Gegenstand ist das menschliche Geschlecht im Ganzen und „nicht etwa ob […] Menschen von einer gewissen Rasse, z. B. die der weißen […] mit Ausschließung der Neger oder Amerikaner, dieses Vorteils theilhaftig sind, […] mithin nicht, ob alle Menschen, sondern ob das Ganze derselben fortschreite.“5 Denn das „Bessere, wozu fortgeschritten wird, ist das moralische (Qualitt), nmlich nicht jede Vollkommenheit, in der die Menschen fortschreiten sollen, z. B. Kunst, Wissenschaft und Geschmack – wiewohl diese auch (Vorbungen) Befçrderungsmittel oder auch Folgen von jener werden kçnnen.“6 Den historischen Fortschritt bindet Kant also zunchst nicht an die Fortschritte in der Kunst, in den Wissenschaften oder im Geschmack, sondern an den der Moral. Fortschritt ist moralischer Fortschritt. hnlich hatte einst Leibniz argumentiert: Die Welt ist die beste aller Welten, weil sie sich bestndig verbessert („progressus est in infinitum perfectionis“).7 Leibniz meint, dass man anerkennen msse, „daß ein stetiger und durchaus freier Fortschritt des ganzen Universums zur Hçhe allgemeiner Schçnheit besteht, so daß die Kultur immer weiter schreitet, wie ja jetzt ein großer Teil unserer Erde der Kultur teilhaftig geworden ist.“ Zwar lsst sich nicht bestreiten, „daß mitunter Manches wieder alt wird“. Da aber „die Zerstçrung und Niederreißung selbst der Errichtung eines Hçheren dient“, werden wir am Ende selbst noch „durch den Schaden […] bereichert 5
6
7
Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie, in: Kants Gesammelte Schriften, Bd. XV/2, hrsg. von der Kçnigl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910, S. 650. Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie, in: Kants Gesammelte Schriften, Bd. XV/2, hrsg. von der Kçnigl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910, S. 651. Gottfried Wilhelm Leibniz, Ob die Welt an Vollkommenheit zunimmt, in: ders., Schriften zur Metaphysik. Philosophische Schriften, Bd. 1, hrsg. von Wolf von Engelhardt und Hans H. Holz, Frankfurt am Main, S. 370. Steht bei Leibniz selbst die metaphysische These, wonach die Summe der Vollkommenheit in der Welt konstant bleibt, noch in einem gewissen Spannungsverhltnis zur geschichtsphilosophischen These, wonach die Vollkommenheit der Welt sich stets vermehrt, so wird in der Folge dieses Spannungsverhltnis dadurch aufgelçst, dass die Vollkommenheit im Modus des Vollzugs genommen wird, was nichts anderes bedeutet, als dass sich die Vollkommenheit als steigerungsfhig erweist, im unendlichen Ganzen der Welt sogar unendlich steigerungsfhig.
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werden.“8 Gegen diesen Leibniz-Optimismus sind bald schon Zweifel laut geworden. In faktischer Hinsicht wurde bezweifelt, dass sich das empirische Material berhaupt im Sinne einer Fortschrittsgeschichte erzhlen lsst, weil sich die Katastrophen, Kriege und Revolutionen mit dieser Sicht auf die Dinge kaum in bereinstimmung bringen ließen – das Erdbeben von Lissabon wirkte hier durchaus ernchternd, in metaphysischer Hinsicht wurde bezweifelt, dass sich die These, „daß das Ganze das Beste […], und alles um des Ganzen willen gut sei“,9 nicht begrnden lsst, weil Gott kein Gegenstand einer mçglichen Erfahrung ist und in geschichtsphilosophischer Hinsicht regten sich Zweifel hinsichtlich der Mçglichkeit einer Systematisierung des geschichtlichen Materials im Sinne des Optimismus. Und so ist es nicht ausgeschlossen, dass sich hinter der „schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls“, wie Nietzsche spter die Geschichte umschreiben wird, kein Fortschritt und kein Progress auffinden lsst (JGB, KSA 5, 126). Kant teilt alle diese Zweifel! Wenn man „unter einer Theodizee […] die Verteidigung der hçchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage (versteht), welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt“ und wenn die Idee des Fortschritts bei Leibniz an die Theodizee gebunden ist, dann wre diese Idee nicht zu retten, weil all diese philosophischen Versuche in der Theodizee notwendiger Weise scheitern mssen.10 Fr Kant ist klar, dass diese Idee auf eine kritische Weise vertreten werden muss, wenn sie sich denn berhaupt vertreten lassen soll. Und genau dies wirft die Frage nach der Systematisierung des geschichtlichen Materials auf. Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinktmßig, wie Tiere, und doch auch nicht, wie vernnftige Weltbrger, nach einem verabredeten Plane, im ganzen verfahren: so scheint auch keine planmßige Geschichte (wie von den Bibern oder den Bienen) von ihnen mçglich zu sein. […] Es ist hier keine Auskunft fr den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und 8 Gottfried Wilhelm Leibniz, Die kleinen philosophisch wichtigen Schriften von G. W. Leibniz, hrsg. von Julius H. von Kirchmann, Leipzig 1879, S. 162. 9 Immanuel Kant, Versuch einiger Betrachtungen ber den Optimismus, in: ders., Werkausgabe, Bd. II: Vorkritische Schriften bis 1768, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1977; Vgl. dazu Odo Marquard, Die Krise des Optimismus und die Geburt der Geschichtsphilosophie, in: ders., Skepsis und Moderne, Stuttgart 2007, S. 93. 10 Immanuel Kant, ber das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, in: ders., Werkausgabe, Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pdagogik, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 103 ff.
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ihrem Spiele im großen gar keine vernnftige eigene Absicht voraussetzen kann, er versuche, ob er nicht eine Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken kçnne; aus welcher, von Geschçpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plan der Natur mçglich sei. – Wir wollen sehen, ob es uns gelingen werde, einen Leitfaden zu einer solchen Geschichte zu finden; und wollen es dann der Natur berlassen, den Mann hervorzubringen, der imstande ist, sie danach abzufassen. So brachte sie einen Kepler hervor, der die exentrischen Bahnen der Planeten auf eine unerwartete Weise bestimmten Gesetzen unterwarf; und einen Newton, der diese Gesetze aus eine allgemeinen Naturursache erklrte.11
Die Sinnlosigkeitserfahrung, die wir Kant zufolge angesichts des „widersinnigen Ganges“ der Geschichte machen, betrifft also nicht ihre Richtungslosigkeit, sondern ihre Planlosigkeit, d. h. die Tatsache, dass in ihr niemals genau das geschieht, was im Sinne der Handelnden lag, seien es Individuen oder Vçlker. Wenn Kant also einen Sinn in der Geschichte vermisst und sich reflektierend auf die Suche nach ihm macht, dann ist immer der Handlungssinn gemeint, umschrieben mit Begriffen wie „Plan“, „Absicht“, „Zweck“ oder „Ziel“. Deshalb steht auch die Geschichtsphilosophie im Kontext der praktischen Philosophie, die er aber im Gegensatz zu Aristoteles und Hegel als normative Theorie versteht.12 Diese „Rechtfertigung der Natur – oder besser der Vorsehung“ unterstellt der transzendental modifizierten Theodizee eine praktische Absicht, eben weil der Natur oder der Vorsehung im Hinblick auf die Weltgeschichte ein Handlungssinn unterlegt ist. Und dieser unterstellte Handlungssinn hat im Kontext der Kantischen Fragestellung keine andere Funktion als unser moralisches Handeln im Hinblick auf einen letzten Zweck normativ zu orientieren – Kant meint anscheinend, dass wir ohne diese reflektierte Theodizee an der Realisierbarkeit dessen verzweifeln mssten, wozu wir durch den kategorischen Imperativ unbedingt verpflichtet sind. Folgen wir Kant, dann stellt sich dem Philosophen das Problem der Geschichte also in Gestalt der Frage nach der Systematisierbarkeit des geschichtlichen Materials zur Einheit dessen dar, was man dann im Singular „die Geschichte“ – oder besser: „die Weltgeschichte“ nennt. Dass bei 11 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht, in: ders., Werkausgabe, Bd. XI: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pdagogik, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 33. 12 Vgl. Herbert Schndelbach, Sinn in der Geschichte? ber Grenzen des Historismus, in: ders., Philosophie in der modernen Kultur, Frankfurt am Main 2000, S. 131 f.
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Kant dieser Singular dann auch noch mit dem Prdikat „planmßig“ versehen wird, verweist auf die Voraussetzung, dass die Menschen gattungsgeschichtlich weder bloß instinktgeleitet verfahren, wie die Tiere, aber eben auch nicht „wie vernnftige Weltbrger“. So unterscheiden sie sich von Bienen und Bibern dadurch, dass sie planmßig verfahren, d. h. handeln kçnnen, aber sie handeln eben nicht nach einem „verabredeten“ Plan „im ganzen“, also nicht wie „vernnftige Weltbrger“, wobei hier unterstellt ist, dass ein solcher Plan nicht nur wnschbar wre, sondern er auch mçglich ist – und zwar trotz der anthropologisch schwer zu bestreitenden Tatsache, dass der Mensch aus einem „krummen Holz“ gemacht ist, aus dem nun einmal „nichts Gerades gezimmert werden“ kann. Fr Kant steht fest, dass in einer gattungsgeschichtlichen Perspektive die Menschheit nach einem „verabredeten“ Plan handeln msse, soll die Weltgeschichte denn als „vernnftig“ angesehen werden. Die Einheit des Gegenstandes wre also nur dann garantiert, wenn es ein weltbrgerliches Handeln nach einem verabredeten Gesamtplan wre – wogegen nun freilich alle Evidenz und geschichtliche Erfahrung spricht. Und da eine Systematisierung nach dem naturwissenschaftlichen Vorbild aus anthropologischen Grnden nicht in Frage kommt, weil hier eine bloße Naturkausalitt nicht vorliegt, muss Kant aus reiner Vernunft die Idee des Fortschritts verteidigen. Und in der Tat: Die Menschheit handelt nicht in der Geschichte – und sie wird auch nie in der Geschichte handeln, weil die Menschheit kein Subjekt mit berzeugungen, Wnschen und Absichten ist. Handeln kçnnen immer nur einzelne Individuen, die sich individuelle oder kollektive Ziele setzen und Zwecke verfolgen und dies mit der Folge, dass „man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzge so eingebildete Gattung fr einen Begriff machen soll.“ Und um hier nicht resignieren zu mssen, prsentierte Kant seinen Zeitgenossen 1784 in der Berlinischen Monatsschrift eine Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht, der zufolge zu berlegen sei, ob man nicht doch eine heimliche „Naturabsicht in diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken kçnne.“ Da Kant hier ausdrcklich von „Naturabsicht“ und von „entdecken“ spricht, kann dies wohl nur so verstanden werden, dass sich entweder bei entsprechender Nhe oder bei einer entsprechenden Distanz dieser „widersinnige Gang“ als absichtsvoll und damit als vernnftig ausweisen lsst. Jedenfalls verrt die Rede von einer „heimlichen“ Absicht, dass diese es beliebt, sich nicht Jedermann zu zeigen. Sie scheint sich irgendwie in diesem Gange versteckt zu halten und deshalb muss sie erst entdeckt werden, weil sie sonst womçglich unbemerkt bleiben wrde –
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und da man nur das suchen und entdecken kann, was auch zu finden ist, scheint Kant unkritisch anzunehmen, dass diese Absicht auch irgendwo existiert. Aber wie dem auch sei. Fest steht, dass eine metaphysische Begrndung des Fortschritts im Sinne des Leibniz-Optimismus aus systematischen Grnden scheitern muss. Und fest steht weiterhin, dass Kant der berzeugung ist, dass der aufklrerische Glaube der Befçrderung der menschlichen Glckseligkeit durch den Fortschritt der Kultur und Wissenschaften auf einem fundamentalen Irrtum beruht. Nach seiner Abkehr vom Leibniz-Optimismus und der Lektre Rousseaus war Kant klar, dass der Kulturfortschritt und die individuelle Glckseligkeit in einem antinomischen Verhltnis stehen, weshalb er gegen Rousseau die Idee der teleologischen Notwendigkeit des bergangs vom Naturzustand zu dem der Kultur betont. Im Unterschied zur aufklrerischen Popularphilosophie, die den Optimismus in Bezug auf die Glckseligkeit, nicht aber in Bezug auf die fortschreitende Entwicklung der Menschheit verteidigt, verteidigt Kant den Optimismus in Bezug auf die fortschreitende Entwicklung der Menschheit, nicht aber in Bezug auf ihre individuelle Glckseligkeit. Und als Lessing diesen Fortschrittsoptimismus in seiner Erziehung des Menschengeschlechts predigte und Moses Mendelssohn sich in seinem Jerusalem oder ber religiçse Macht und Judentum bewogen fhlte, diese hoffnungsreiche Hypothese als ein „Hirngespinst“ auf Eis zu legen, da sah sich Kant seinerseits veranlasst, den optimistischen Fortschrittsgedanken gegen die Fortschrittsskepsis von Mendelssohn zu verteidigen, d. h. die Kulturentwicklung im Allgemeinen und den moralischen Fortschritt im Besonderen zu behaupten, wenngleich auch er zugestehen musste, dass die gegenwrtige moralische Beschaffenheit des Menschengeschlechts nur „Unwillen und Haß“ erwecken kçnne. Mendelssohn argumentiert faktisch. „Wir sehen“, schrieb er, „das Menschengeschlecht im ganzen betrachtet, kleine Schwankungen machen; und es tat nie einige Schritte vorwrts, ohne bald nachher mit doppelter Geschwindigkeit in seinen vorigen Zustand zurckzugleiten.“13 Kant argumentiert kontrafaktisch, weil er meint, dass sich mit Rekurs auf Fakten diese Frage gar nicht entscheiden lsst. Sicher, in faktischer Hinsicht sei mit der Menschengattung „nicht viel zu prahlen“, denn ihr hervorstechender Charakterzug ist die Torheit, verbunden mit einem Lineament von Bosheit 13 Moses Mendelssohn, Jerusalem oder ber religiçse Macht und Judentum, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Stuttgart/Bad Cannstatt 1972, S. 44 ff.
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und Zerstçrungswut. Die Konstanz des Bçsen und Gemeinen, der Niedertracht und der Falschheit steht auch fr Kant so fest, dass er sich den fçrmlichen Beweis dafr sparen zu kçnnen glaubt. Analog zu Nietzsche hegt auch Kant hinsichtlich der Verbesserung des Menschen keine Illusionen! Der Mensch ist so wie er ist – und wie er wohl auch immer bleiben wird. Bereits Mitte der 1770er Jahre notiert Kant: „Alle bel in der Welt kommen dem Menschen vom Menschen; und wenn die Menschen auf einmal gut wren, so wrde Grçnland vor sie ein paradies seyn.“14 Der Sittlichkeitsfond des Einzelnen ist also in der Geschichte konstant. Es wre einfach unsinnig anzunehmen, dass ein anderer Stand der wissenschaftlichen Entwicklung, andere soziale Milieus oder andere gesellschaftliche Verhltnisse daran je etwas ndern wrden. Aber der Sittlichkeitsfond der Gattung bleibt nicht konstant, vielmehr entwickelt sich die Welt vom Schlechten zu Besseren und zwar nicht nur in Ansehung der Kultur, sondern auch in Ansehung ihres moralischen Zwecks. Selbst die grassierende Unvernunft, die Trgheit und die Bosheit kçnnen diesen teleologischen Entwicklungsprozess nur hemmen, nicht aber aufhalten – frei nach dem Motto: den Fortschritt in seinem Lauf hlt weder Ochs noch Esel auf. Und so „supponiert“ Kant gegen alle Fakten eine grndende, waltende und leitende Vorsehung, weil er meint, dass ohne eine solche Voraussetzung eine teleologische Welterklrung gar nicht mçglich wre. Wie bereits bemerkt: Dass eine metaphysische Verteidigung des Optimismus scheitert, wie Kant sie in seinem Versuch einiger Betrachtungen ber den Optimismus selbst versucht hatte, ist inzwischen klar. Die These, dass „diese Welt […] unter allen mçglichen die beste, oder welches eben so viel ist: der Inbegriff alles dessen, was Gott außer sich hervorgebracht hat, ist das Beste, was nur hervor zu bringen mçglich war“, hlt Kant nun fr unbeweisbar. Denn wenn Gott kein Gegenstand einer mçglichen Erfahrung ist, dann ist nicht nur dem Leibniz-Optimismus, sondern auch der metaphysischen Fortschrittsidee der Boden entzogen. Wenn berhaupt, dann lsst sich die Idee des Fortschritts nur in einer transzendentalphilosophischen Variante verteidigen, eben als transzendentaler Optimismus. Kant muss transzendentalen Boden betreten, wenn sich die Idee des Fortschritts gegen die Skepsis behaupten kçnnen soll. Denn mit Rekurs auf die Erfahrung kçnnte die Idee einer fortschreitenden Entwicklung berhaupt nicht begrndet werden, zudem spricht in faktischer Hinsicht nichts 14 Immanuel Kant, Reflexionen zur Anthropologie, in: Kants Gesammelte Schriften, , Bd. XV/2, hrsg. von der Kçnigl. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910, S. 623.
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dagegen, dass nach einer lngeren Periode des Fortschritts ein noch tieferer Rckschritt kme. Umgekehrt kann freilich auch die Erfahrung die Annahme einer fortschreitenden Entwicklung nicht widerlegen, da auch lngerer Stillstand oder Rckgang die Mçglichkeit offen lsst, dass gerade jetzt der Umwendungspunkt eingetreten ist, von dem es zum Besseren geht. In faktischer Hinsicht bleibt es also bei einem Patt. Kontrafaktisch soll sich jedoch die Idee des Fortschritts verteidigen lassen. Denn obgleich sich unserer Erfahrung immer nur ein Ausschnitt der Kurve der kulturellen Entwicklung darbietet, nie aber die gesamte Bahn, da diese mindestens zur Zukunft hin offen ist, so ist es doch mçglich, von einem kleinen Teil der Kurve auf die gesamte Entwicklungsbahn schließen zu kçnnen, freilich „nicht schwrmerisch“, sondern mit Bedacht, wie es denn auch die Astronomen tun, wenn sie die Bahnen der Planeten berechnen. Nun stnde dieser Schluss freilich immer noch auf wackeligen Fßen, setzt er doch das voraus, was durch ihn bewiesen werden soll. Hinzu kommt, dass selbst dann, wenn nicht schwrmerisch geschlossen wird, dieser Schluss allenfalls eine empirische Hypothese wre, die unter dem Vorbehalt des Fallibilismus stehen wrde. Und mit empirischen Hypothesen ist nun einmal kein transzendentaler Staat zu machen. Eine transzendentale Deduktion des Fortschritts she jedenfalls anders aus. Darum rstet Kant ihn mit einem moralischen Argument nach. Und dieses soll den Fortschritt nicht nur rein aus Vernunft demonstrieren, sondern aus „reiner Vernunft“. Da die Entwicklung der Anlagen im Menschen eine moralische Pflicht sei, hat der Gattungsfortschritt nach Kant eine „absolute Gewissheit“, wenn auch nur eine moralische Gewissheit, die jedoch fr sich allein als Motiv fr die Hingebung an diesen objektiven Zweck ausreichen wrde. So treffen sich bei Kant eine apriorische Deduktion des Fortschritts mit den von ihm wahrgenommenen „Anzeichen“ und „Symptomen“. Diese Anzeichen und Symptome fassen sich konzentriert in dem zusammen, was Kant im Jahr der Franzçsischen Revolution „Geschichtszeichen“ nannte, wobei er meinte, dass diese Revolution selbst ein solches Zeichen sei.15 Das Geschichtszeichen ist ein „signum rememorativum, demonstrativum et prognosticon“, es erinnert, zeigt etwas auf und gibt eine Aussicht. Es vereinigt Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Dass Kant auf der 15 Immanuel Kant, Streit der Fakultten, in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pdagogik, Werkausgabe, Bd. XI, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1974, S. 357.
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empirischen Ebene von Anzeichen und Symptomen spricht, macht deutlich, dass „Geschichtszeichen“ keine wirklichen Zeichen sind, da ihnen dafr die Konvention fehlt, die ein Zeichen berhaupt erst zu einem Zeichen macht. Wobei hier noch hinzu kommt, dass Anzeichen und Symptome von einem Interpreten gedeutet werden mssen, wobei derjenige, der etwas als etwas deutet, dabei schon an das zu deutende historische Material mit kontrafaktischen Unterstellungen herangeht, die den jeweiligen Hintergrund fr die entsprechende Deutung abgeben. Deutungen, dies hat Kant offensichtlich bersehen, sind stets interpretationsoffen und perpektivenabhngig, woran spter Nietzsche nicht mde wird uns zu erinnern. Kein Anzeichen und kein Symptom deuten sich selbst. Aus diesem Grunde ist auch keine empirische Beschreibung des Fortschritts rein empirisch – was natrlich analog auch zur empirischen Beschreibung des Rckschritts gilt. Von daher hat Kant gegenber Mendelssohn zunchst einmal recht, wenn er dessen Verweis auf das Gewesene im Sinne des Tatschlichen als irrelevant fr die Frage abtut. Erst vor dem Hintergrund einer philosophischen Basistheorie lsst sich das jeweilige empirische Material so organisieren, dass es im Sinne eines Fortschritts oder Rckschritts spricht. Und diese Basistheorie ist bei Kant eine transzendentale, weshalb man dann auch den durch diese Theorie begrndeten Optimismus als einen transzendentalen Optimismus bezeichnen kann – eben im Unterschied zum metaphysischen Optimismus von Leibniz oder zum dialektischen Optimismus von Hegel und Marx. Ist erst einmal das Bewusstsein in der Welt, dass die Entfaltung der menschlichen Naturanlagen im geschichtlichen Gattungsleben die Pflicht eines jeden Einzelnen ist, dann wird man auch die Konsequenz daraus ziehen mssen, dass alle Pflichterfllung ohne Ausnahme „ein baarer zum Weltbesten mitwirkender Beitrag“ sei. Wie bereits bemerkt: Kant argumentiert in Bezug auf den Fortschritt der Gattung nicht mit Rekurs auf Fakten, sondern immer kontrafaktisch. Dabei kann er natrlich nicht ausschließen, dass das „trostlose Ungefhr“ doch das letzte Wort ber die Weltgeschichte ist. Er wollte dies aber ausschließen. Eine objektiv-teleologische Fortschrittsgeschichte wrde dies leisten, also eine Erklrung des Zusammenhangs der Ereignisse aus einem ihnen selbst zugrunde liegenden und sie objektiv determinierenden Endzweck. Dieses Modell ist das der Weltgeschichte als Heilsgeschehen. Kant vermag im Jahrhundert der Aufklrung diesem Modell jedoch nur in skularisierter Gestalt zu folgen, weshalb er nach einer Naturabsicht in diesem „widersinnigen Gange menschlicher Dinge“ fragt. Und da er diese Absicht nicht findet, erfindet er sie, oder besser: er prsupponiert sie, um eine reflektierend eingefhrte
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Basistheorie fr die geschichtliche Systematisierung zu erhalten – gemessen an den Standards der Vernunftkritik handelt es sich hier natrlich um eine vor-wissenschaftliche Basistheorie.16
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Der dialektische Optimismus – Hegel und die Folgen
Hegel hat dies nicht gereicht. Er ersetzt die reflektierend eingefhrte Prsupposition durch eine absolute Vernunftteleologie, die als eine philosophisch beweisbare Voraussetzung behauptet wird. Der transzendentale Optimismus wird damit zum dialektischen Optimismus – wobei auch diese Argumentation kontrafaktisch verfhrt, aber auf eine andere Weise und in einem anderen Sinne. Denn die von Hegel unterstellte Absicht wird nicht mit Rekurs auf transzendentale Berufungsinstanzen legitimiert, sondern mit Rekurs auf tranzendente. Hegel philosophiert aus der Perspektive des Absoluten, aus einer Perspektive also, die uns nach Kant als endliche Wesen gar nicht zur Verfgung steht. Er meint, dass daher auch die ganze himmlische Besatzung wieder reanimieret werden msse, die, nach einem geflgelten Wort von Heinrich Heine, Kant „ber die Klinge springen ließ“, so dass nun der „Oberherr der Welt […] unbewiesen in seinem Blute“ schwimmt17 – jedenfalls msse die himmlische Belegschaft dann wieder ins Leben zurck geholt werden, wenn die Fortschrittsidee gegen die bereits zu Hegels Lebzeiten erstarkende Skepsis erfolgreich verteidigt werden soll. Fr Hegel, der ja nicht nur aus der Perspektive des absoluten Wissens, sondern auch aus einer postrevolutionren Perspektive philosophiert, muss die Welt nicht erst vernnftig gemacht werden, nein, sie ist bereits hinreichend vernnftig, weshalb es nur gelte, die Vernunft entsprechend zu explizieren. Eine gute Revolution ist ihm daher auch immer nur eine 16 Dies zeigt, dass der Status dieser Prsupposition kein transzendentaler ist, eben weil es nicht auszuschließen ist, dass es hinter dieser „schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls“ nichts weiter zu entdecken gibt. Kant liefert kein transzendentales Argument, mit dem sich die Idee des Fortschritts begrnden ließe. Vgl. Udo Tietz, Transzendentale Argumente versus Conceptual Scheme. Bemerkungen zum Begrndungsstreit zwischen Universalismus und Kontextualismus, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie 8 (1992), S. 916 f. 17 Nach Heine war Kant dabei viel radikaler als die Jakobiner, da diese nur gekrçnten Huptern die Kçpfe abschlugen. Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: ders., Heinrich Heines Werke in fnf Bnden, Berlin/Weimar 1978, S. 110.
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vergangene Revolution, weshalb dann auch die Idee des Fortschritts nicht mehr im Sinne Kants zu denken sei, dessen Theorie nicht zu Unrecht als die deutsche Parallelaktion zur Franzçsischen Revolution gelten kçnne. Die normative Problematik der praktischen Philosophie erscheint in dieser Sicht durch die vorausgesetzte Identitt von Vernunft und Wirklichkeit bereits als schon gelçst. Nach seiner Kritik am ethischen Formalismus wird die geschichtliche Welt nicht nur von ihrer Zukunftsperspektive abgelçst, sondern auch von allen normativen Anforderungen, wobei diese geschichtliche Welt wieder zu einem rein theoretischen Gegenstand wird, mit dem sich nun auch kein Handlungssinn mehr verbindet. Der Sinn der Geschichte ist bei Hegel ein Mitteilungssinn. „Wenn der Name Gottes nicht etwas Leeres sein soll, so mssen wir Gott anerkennen als gltig oder sich mitteilend.“ Analog zu Kant versteht also auch Hegel die Geschichtsphilosophie als Theodizee, aber nun nicht mehr in der Form einer Anthropodizee in praktischer Absicht, sondern in der Rckkehr zum Mitteilungssinn. Von den philosophischen Versuchen, die soziale und politische Wirklichkeit an irgendwelchen Normen kritisch zu messen, hat sich Hegel immer wieder distanziert, weil die Sollensprinzipien angesichts dessen, was ist, bloß subjektiv und Ausdruck unsittlicher Eitelkeit seien – und ohnehin kommt die Philosophie mit ihren Ansprchen immer zu spt, weil die berhmte „Eule der Minerva“ nun einmal kein Frhaufsteher ist, sondern ein Nachtvogel. Dabei ist es fr Hegel der „Gedanke der Vernunft“, den die Philosophie immer schon mitzubringen hat, wenn sie es denn zu einer vernnftigen Weltbetrachtung bringen will. Und eine vernnftige Weltbetrachtung ist nicht nur eine, die die Geschichte vernnftig darstellt, sondern eine, die sie zugleich auch als vernnftig darstellt.18 Gott, der nach Vollendung der Schçpfung in Ermangelung von Zeugen keine weiteren Lobreden mehr erwarten konnte, weshalb er diese sich am Ende eines jeden Tages selbst erteilte, bekommt die Belobigung von Hegel in Form einer dialektischen Theodizee nachgeliefert – und zwar in Form einer Philosophie der Weltgeschichte, die die historische Wirklichkeit als bereits vernnftig versteht. Die normative Problematik des Kantischen Kritizismus wird durch die behauptete Identitt von Vernunft und Wirklichkeit als immer schon gelçst unterstellt. Der einzige Gedanke, den die Philosophie bei der Betrachtung der Geschichte mitbringen muss, ist nach Hegel „der einfache Gedanke der 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main 1986, S. 20.
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Vernunft, daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernnftig zugegangen ist“19 – wobei auch Hegel sagt, dass es sich bei dieser berzeugung um eine „Voraussetzung“ handelt. Die Geschichte als eine bestndige Vernderung zu beschreiben, worin Aufstieg und Fall, Leben und Tod immer wieder aufs neue auseinander hervorgehen, ohne Sinn und ohne Ziel, ist fr Hegel ein typisch „morgenlndischer“ Gedanke, ein Gedanke, der fr das Leben in der Natur korrekt sein mag, denn diese ist a-logisch und damit sinnlos, nicht aber fr das Leben des Geistes, d. h. fr den logos. Fr den Geist und dessen Geschichte sei das Bild eines richtungslosen Auf und Ab ein falsches Bild. Fr uns ist die Geschichte eine des Geistes, der sich zwar verzehren kann, der aber stets „erhçht“ und „verklrt“ hervortritt, wodurch die Geschichte des Menschen zu immer hçheren Stufen der Erfllung fortschreitet. Diese von Hegel erzhlte Geschichte, die mit einer nichtumkehrbaren Ausrichtung auf ein knftiges Ziel rechnet, ist als Fortschrittsgeschichte eine abendlndische Geschichte, insofern fr sie die biblische Vorstellung konstitutiv ist, dass der Wille Gottes lenkend in das weltliche Geschehen eingreift. Der lebendige Gott, der sich selbst setzt durch die „Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst“20, ist der christliche trinitarische Gott, von dem nicht erst Hegel, sondern schon das Johannesevangelium sagt, dass er Geist sei, weshalb bei Hegel die Mysterien der Trinitt, der Weltschçpfung, der Inkarnation und des Kreuzes wiederkehren, aber nun mit dem Anspruch, logisch durchdrungen und begrifflich aufgelçst zu sein. Wenn es der Theologie nicht gelingt zu zeigen, dass wir in der besten aller mçglichen Welten leben und das Gott seine Absichten in der Geschichte der Welt durchsetzt, dann muss eben die Philosophie der Geschichte die Aufgabe der Religion bernehmen, wodurch nun jedoch die Philosophie der Geschichte selbst zur Theodizee wird. Freilich msste sich dazu zeigen lassen, dass in den großen geschichtlichen Vorgngen sich dieselbe Vorsehung manifestiert, die auch dem christlichen Glauben Rckhalt gibt – und zwar trotz der Tatsache, dass wir uns das bel, das Bçse und den Untergang der blhendsten Reiche vor Augen halten mssen. Hegel msste plausibel machen kçnnen, dass auch dann noch, wenn „wir die Geschichte als diese Schlachtbank betrachten, auf welcher das Glck der Vçlker, die Weisheit der Staaten und die Tugend 19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main 1986, S. 20. 20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, in: ders., Werke, Bd. 3, Frankfurt am Main 1972, S. 23.
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der Individuen zum Opfer gebracht worden sind“, sich die „Frage, wem, welchem Endzwecke diese ungeheuersten Opfer gebracht worden sind“,21 so beantworten lsst, dass dabei am Ende ein Fortschreiten im Bewusstsein zur Freiheit herauskommt. Hegel meint dies getan zu haben. Untergnge sind bergnge – jedenfalls wenn man es dialektisch sieht.22 „In der Natur macht die Gattung keine Fortschritte, im Geist ist jede Vernderung Fortschritt.“23 Untergangskandidaten sind immer nur die besonderen Geister von konkreten Vçlkern, nie aber der Weltgeist. Er geht in den Untergngen nie mit unter. Im Gegenteil: Er geht „verjngt aus dem Untergang einer Kultur hervor“. Mit den Resten der untergegangenen Kulturen ldt der Weltgeist seine Brennstoffzellen mit neuem Brennmaterial auf, weil, so das Argument, der Untergang mit Mann und Maus im Bereich der menschlichen Geschichte berhaupt nicht vorkommt. Irgendetwas Materialhaftes bleibt bei den Untergngen immer brig, womit sich der Weltgeist bei seinem Gang durch die Geschichte befeuern kann. „Untergnge“ und „Rckgnge“ sind in dieser Sichtweise bloß „ußerliche Zuflligkeiten“. Sie sagen nichts aus und sind auch keine Einwnde gegen die Behauptung von dem sich stufenweise realisierenden Fortschritt. „Gott regiert die Welt, der Inhalt seiner Regierung, die Vollfhrung seines Plans ist die Weltgeschichte. Diesen will die Philosophie erfassen; denn nur was aus ihm vollfhrt ist, hat Wirklichkeit, was ihm nicht gemß ist, ist nur faule Existenz.“24 Immer wieder schreibt Hegel, dass es nicht die „Vernunft eines besonderen Subjekts“ ist, das die Weltgeschichte beherrscht, „sondern die gçttliche, absolute Vernunft“ oder die „Vernunft Gottes“. Und diese Vernunft ficht nun einmal Kontingenz nicht an. Damit wre nicht nur gezeigt, dass das Wirkliche vernnftig und die Vernunft wirklich ist. Zudem wre die Wirklichkeit auch als eine versçhnte erwiesen – was zu zeigen die Aufgabe der Theodizee war, die Hegel mit seiner Philosophie der Weltgeschichte nun fr sich als gelçste beansprucht. In diesem Sinne sagt Hegel: „Unsere Betrachtung ist […] eine Theodizee, 21 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie, in: ders., Werke, Bd. 18, Frankfurt am Main 1986, S. 157. 22 Vgl. Udo Tietz, Untergnge und bergnge. Ein Versuch ber das Abendland, in: Im Labyrinth. Festschrift fr Steffen Dietzsch, hrsg. von Leila Kais, Berlin 2009, S. 189 f. 23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopdie der Wissenschaften, Bd. 1, in: ders., Werke, Bd. 8, Frankfurt am Main 1986, S. 134. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main 1986, S. 53.
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eine Rechtfertigung Gottes.“25 So ist die Weltgeschichte der „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“, der nicht durch das normative Sollen, sondern durch die „List der Vernunft“ vorangetrieben wird, wobei Hegel in diesem Zusammenhang dann auch noch eine logisch-notwendige Abfolge von vier „welthistorischen Reichen“ behauptet (dem orientalischen, griechischen, rçmischen und germanischen), die jeweils in ihrer Epoche und dann aber auch nur einmal ein „absolutes Recht“ haben, „Trger der gegenwrtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein“. Ist ihre Zeit vorbei, dann fallen sie wieder in die welthistorische Nullitt zurck. „Mit dem Eintritt des christlichen Prinzips“ ist fr Hegel „die Erde fr den Geist geworden; die Welt ist umschifft und fr die Europer ein Rundes.“26 Die christliche Welt ist eine „Welt der Vollendung“, denn „das Prinzip ist erfllt und damit ist das Ende der Tage voll geworden.“ „Europa ist schlechthin der Westen“ und „das Ende der Weltgeschichte“, so wie Asien der Osten und Anfang ist. Der Weltgeist, der seine Wanderung in den endlosen Weiten Asiens begann, der mit den griechischen Gçttern auf dem Olymp zechte, der die rçmischen Csaren, die Kreuzritter und die Sanscutten in die Schlacht fhrte, sollte sich in Europa, genauer: im preußischen Berlin zur Ruhe begeben haben – selbst fr Lokalpatrioten eine bizarre Vorstellung. Kurz: Hegels Welt ist das christliche Abendland, das alte Europa, Russland und Amerika lagen am Rande seines Interesses – und fr Afrika interessiert sich Hegel nur aus rein geographischen Grnden. Dass Europa schon im 20. Jahrhundert von den Flgelmchten Russland und Amerika beherrscht werden kçnnte, wie dies kurz nach Hegels Tod von Alexis de Tocqueville vorausgesagt wurde, wre Hegel schlicht als absurd erscheinen. Zwar schreibt er an Baron Boris von Yxkll, dass Europa inzwischen zu einer Art Kfig geworden sei, dem er Russlands Zukunft gegenberstellt27, ein Gedanke, der spter von Bruno Bauer, Berdjajew, Dostojewski und schließlich von Lenin und Trotzki in je unterschiedlicher Weise weiter konkretisiert wird. Systematisch jedoch bleiben Russland und Amerika jenseits seines Interesses – wenngleich er auch ber Amerika sagt, dass es „das Land der Zukunft [sei], in welchem sich in vor uns liegenden Zeiten 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main 1986, S. 28 und S. 540. 26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte, in: ders., Werke, Bd. 12, Frankfurt am Main 1986, S. 413 ff. 27 Zit. nach Karl Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin 1844, S. 304 f.
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[…] die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll; es ist ein Land der Sehnsucht fr alle die, welche die historische Rstkammer des alten Europa langweilt“. Gleichwohl vermochte er in der Neuen Welt nur den „Widerhall der Alten Welt und den Ausdruck fremder Lebendigkeit“ zu sehen – und als ein „Land der Zukunft geht es uns berhaupt hier nichts an“.28 Und ber Asien erfahren wir gar nur, dass dort die Reise des Weltgeistes begann, die nun im alten Europa zu Ende gegangen sein soll. Mit dieser philosophischen Deutung der Weltgeschichte stellt sich Hegel nicht nur in die Tradition des Verstndnisses der Weltgeschichte, das man als „Heilsgeschehen“ bezeichnen kann.29 Gleichzeitig und in diesem Zusammenhang erzhlt er uns diese Weltgeschichte als eine zutiefst abendlndisch-christliche Geschichte – ich glaube, Feuerbach hat recht, wenn er sagt, Hegels System gehçrt in die Geschichte der Religion, insofern dieses eine Reflexionsform des Christentums ist. So wurde die Hegelsche Geschichtsphilosophie gleich von verschiedenen Seiten her attackiert, wobei wir hier an drei Bewegungen denken kçnnen: an die Religionskritik von Feuerbach, den Junghegelianern und Marx, an den Naturalismus und an den Historismus. Und sie brach unter diesen Attacken zusammen und mit ihr die Theodizee – die Katastrophenerfahrungen des 20. Jahrhunderts taten spter das ihrige dazu. Die Geschichtsphilosophie nach Hegel hat diese Variante der Offenbahrungsreligion dann auch nicht mehr als einen beweisbaren Gedanken, sondern nur noch im Modus des Glaubens festgehalten. Die Hegelsche Auffassung des Sinns der Geschichte blieb jedoch vorherrschend. Bei Burckhardt und Schopenhauer ist dies so, in der Dilthey-Schule, insofern man auch hier am Offenbarungssinn des Geschichtlichen festhlt und den Sinn als einen Mitteilungssinn versteht, der am Grund des abendlndischen berlieferungszusammenhangs ruht – was Heidegger von Karl Lçwith die Frage einbrachte, warum denn das Sein ausgerechnet fr den Okzident solch eine Vorliebe haben sollte –, und bei Marx und Engels ist dies so, nur dass nun nicht mehr Gott, sondern das Proletariat als der Autor seiner Geschichte auftritt. Ich glaube, die Marxisten sind bis heute die einzigen, die am Sinn der Geschichte festhalten – wobei sie im 20. Jahrhundert durch die Bank wirklich alle Zeichen des Untergangs als Aufbruchszeichen zu neuen Ufern missdeuteten. 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Weltgeschichte, in: ders., Werke, Bd. 18, Frankfurt am Main 1986, S. 114. 29 Vgl. Karl Lçwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, in: ders., Smtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983.
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3. Der Tod Gottes als metaphysischer Schiffbruch – die Frage nach Orientierung unter nachmetaphysischen Existenzbedingungen Allein Nietzsche sieht, dass der Geschichte dieser Sinn nach dem Tode Gottes nicht mehr zu entnehmen ist. Durch seine Demontage des Sinnbegriffs bringt er die Demontage der abendlndischen Metaphysik zu ihrem nihilistischen Abschluss – wobei die Botschaft lautet: „Gott ist tot“. Mit diesem Donnerwort endet die Metaphysik des 19. Jahrhunderts – und es beginnt die des 20. Jahrhunderts. Was nun geschah, hatte bereits Hegel vorausgeahnt: dass der drohende metaphysische Schiffbruch noch ganz andere Katastrophen im Schlepp haben wrde. Was er mit seinem System noch einmal abwehren wollte, nmlich den „Atheismus der sittlichen Welt“30, wird von Nietzsche als die Grundberzeugung des philosophischen Normalbewusstseins unserer Zeit formuliert. Wobei die Formel vom Tode Gottes fr den Abschied von der ontischen Differenz zwischen dem Idealen und Realen steht, der uns in einer Welt vollendeter Profanitt zurck lsst31 – entgegen Heidegger ist jedoch zu sagen, dass Gott tot ist, ist kein Seinsgeschick, sondern unser Werk, denn der „tolle Mensch“ rief: „Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getçdtet!“ (FW, KSA 3, 481) Der Untergang der „Hinterwelt“ ist das Werk der europischen Aufklrung im Zeichen reflexiver Vernunft, der es mit Nietzsche endgltig gelingt, sich selbst ber die Schultern zu schauen und ihrer lebensdienlichen Projektionsleistungen inne zu werden. Dieser Untergang der Hinterwelt hat gewichtige Konsequenzen. Mit dem Tod Gottes verliert nmlich nicht nur die traditionelle Moral ihr Fundament, sondern auch eine Vorstellung von Politik, die diese nach dem Modell einer fortschreitenden Erkenntnis versteht, die in einer asymptotischen Bewegung sich der Wahrheit annhert und damit den Fortschritt zu einer direkten Zielbestimmung der Geschichte macht. Wenn also das Wort „Gott ist tot“ bedeutet, dass die bersinnliche Welt fr uns keine Verbindlichkeit mehr besitzt, wenn sie uns keine Orientierung mehr zu bieten vermag, dann ist mit diesem Befund nicht nur die abendlndische Metaphysik an ihr Ende gekommen, wobei Nietzsche die 30 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Bd. 7, Frankfurt am Main 1992, S. 16. 31 Vgl. Martin Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: ders., Holzwege, Werke Bd. 5, Frankfurt am Main 1977, S. 209 ff.
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abendlndische Philosophie durch die Bank als Platonismus verstand. Zu Ende ist dann auch eine Politik, die Nietzsche als die „kleine Politik“ versteht. Und hierfr gibt es einen einfachen Grund: Weil der homo politicus und der homo metaphysicus zusammengehçren. Sie sind evolutionre Zwillinge. Der metaphysische Schiffbruch ist daher gleichbedeutend mit dem politischen Schiffbruch, weil sich von nun an der Staat nicht mehr auf theologische Instanzen berufen kann – Carl Schmitt wird spter sagen, dass „alle prgenden Begriffe der modernen Staatslehre“ ihrer „historischen Entstehung“ und ihrer „systematischen Struktur“ nach „skularisierte theologische Begriffe“32 sind – und weil nun eine auf sich selbst gestellte Politik, will sie denn groß sein, auf kleinen Geschichten aufbauen muss. Und in der Tat. In einer monotheistisch konditionierten Kultur Gott fr tot zu erklren, impliziert eine Erschtterung aller lebensweltlichen Bezge und die Ankndigung einer neuen Weltform – was Nietzsche durchaus wçrtlich verstanden wissen wollte, insofern er meinte, dass man nach ihm die Weltgeschichte neu periodisieren wrde. In einem Briefentwurf an Georg Brandes aus dem Jahre 1888 heißt es: „Wir sind eingetreten in die große Politik, sogar in die allergrçßte … Ich bereite ein Ereigniß vor, welches hçchst wahrscheinlich die Geschichte in zwei Hlften spaltet, bis zu dem Punkte, daß wir eine neue Zeitrechnung haben werden: von 1888 als Jahr Eins an.“ (Vgl. NF, KSA 15, 193) Im Unterschied jedoch zur Epochenschwelle zwischen Neuzeit und Mittelalter, fr die die berzeugung leitend war, dass die Zukunft schon begonnen hat, geht Nietzsche daran, die chronologische Gleichzeitigkeit historisch ungleichzeitiger Entwicklungen aufzuheben. Denn auf der Basis der Geschichtsphilosophie ist das, was er diagnostiziert, gar nicht theoriefhig: der Aufstieg, die Grçße und der Untergang von Kulturen. Ich beschreibe, was kommt: die Heraufkunft des Nihilismus. Ich kann hier beschreiben, weil hier etwas Nothwendiges sich begiebt – die Zeichen davon sind berall, die Augen nur fr diese Zeichen fehlen noch. Ich lobe, ich tadle hier nicht, daß er kommt: ich glaube, es giebt eine der grçßten Krisen, einen Augenblick der allertiefsten Selbstbesinnung des Menschen: ob der Mensch sich davon erholt, ob er Herr wird ber diese Krise, das ist eine Frage seiner Kraft: es ist mçglich… (NF, KSA 13, 56)
Nietzsche, der meint, dass sich die gesamte europische Kultur auf eine Katastrophe zu bewegt, nennt also die Epoche nach dem Tode Gottes 32 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souvernitt, Berlin 2004, S. 43.
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Nihilismus. Und „Was bedeutet Nihilism?“ Und die Antwortet lautet: „Daß die obersten Werthe sich entwerthen“. Und der erluternde Zusatz lautet: „Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ,Warum?“ (NF, KSA 12, 350) Der Nihilismus wre danach also als eine Krise zu verstehen, genauer, als eine Werte- und als eine Sinnkrise. „Nihilismus: Untergang einer Gesammtwerthung (nmlich der moralischen) es fehlen die neuen interpretativen Krfte.“ (NF, KSA 12, 210) Wie immer man zu dieser These stehen mag. Sicher scheint mir zweierlei: erstens, dass die berzeugung von der objektiven Sinn- und Wertlosigkeit die metaphysische Signatur unseres Zeitalters ist, womit sich das Sinn- und Wertproblem auf den Horizont der Frage nach dem Sinn des Lebens von Individuen und Gruppen zurckzieht, die keine Metaphysik zu beantworten vermag; und zweitens, dass Kulturkrisen – und Werte- und Sinnkrisen sind ja Kulturkrisen – sich nicht in der gleichen Weise lçsen, wie politische oder çkonomische Krisen. Denn Kulturkrisen sind Krisen, die den Bestand der Kultur selbst zur Disposition stellen – Kultur hier nicht verstanden im Sinne der Gesamtheit der menschlichen Erzeugungsleistungen innerhalb konkret bestimmter Gesellschaftsformationen, also im Sinne des Grundes der geschichtlichen Menschenwelt, die immer die Natur des Menschen und die ußere Natur mit umfasst, sondern Kultur verstanden als das, was eine partikulare „Wir-Gemeinschaft“ in normativer Hinsicht als gut fr sich will.33 Mit Ethik, Tradition oder Religion hier gegenhalten zu wollen, wre nach Nietzsche nur Ausdruck eines tiefen Unverstndnisses hinsichtlich der Tiefe dieses Phnomens. Und zwar deshalb, weil sich kulturelle Krisen nicht instrumentalistisch bewltigen lassen. Ich halte diese Diagnose im Großen und Ganzen fr richtig. Und ich teile auch Nietzsches Intuition, dass sich diese von ihm diagnostizierte Krise nicht mehr mit den klassischen Bewegungsbegriffen begreifen lsst, also mit den Begriffen, die im 18. Jahrhundert zusammen mit dem Ausdruck „moderne“ oder „neue Zeit“, entweder aufkommen oder ihre neue, bis heute gltige Bedeutung erhalten – ich denke, dass dies insbesondere die Begriffe Fortschritt und Krise betrifft.34 Wenn also diese Begriffe berhaupt noch einen einigermaßen brauchbaren philosophischen Sinn haben sollen, dann mssen sie aus ihrer 33 Vgl. Udo Tietz, Die Grenzen des Wir. Eine Theorie der Gemeinschaft, Frankfurt am Main 2002, Kap. IV. 34 Vgl. Reinhart Kossellek, Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt am Main 1979, S. 314 f.
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geschichtsphilosophischen Umklammerung befreit und in eine narrative Theorie der kulturellen Evolution eingefgt werden. Solch eine narrative Theorie der kulturellen Evolution ist eine Theorie, die in einer Krisentheorie grndet, eben weil es die Krisen sind, die ber den Aufstieg und ber den Verfall von Kulturen entscheiden. Der Aufstieg und natrlich auch der Untergang von Kulturen wird damit zu einer rein empirischen Frage: „,Es braucht viel Zeit, bis eine Welt untergeht – weiter aber auch nichts sagt Gibbon.“ (NF, KSA 7, 693) Es gibt kein Antiaging gegen den Tod von Kulturen, etwa in Form eines ungebremsten wirtschaftlichen Wachstums. Es gibt sicher lebensverlngernde Maßnahmen, die im Rahmen einer Gesundheitslehre des Lebens evaluiert werden kçnnen, etwa der Einsatz regenerativer Energiesysteme. Es gibt aber keine Garantie dafr, dass eine Welt nicht untergeht – eine Intuition, die Gottfried Benn einst auf die Formel brachte: „Erhielte sich ein Staat durch Straßenbeleuchtung und Kanalanlagen, wre Rom nie untergegangen.“35 Diese Gesundheitslehre thematisiert die lebensverlngernden und die lebensverkrzenden Maßnahmen, wobei die Vielzahl der Krankheitsmetaphern Auskunft ber die Vielfalt von kulturellen Niedergangsphnomenen gibt. Dabei wird immer wieder deutlich, dass Nietzsche diese Untergnge als Erschçpfungsphnomene deutet, die in verweigerten Lernund Entscheidungsprozessen grnden – und die dann das zur Folge haben, was man dann wohl auch einen kulturellen Burnout nennen kann. Bei Nietzsche lassen sich also im Rahmen seiner Gesundheitslehre Anstze zu einer philosophischen Seismologie finden, die die Untergnge als kulturelle Burnouts beschreibt und die diese auf verweigerte kulturelle Lernprozesse zurckfhrt. Fr Nietzsche scheint klar, dass nicht nur Individuen ausbrennen kçnnen, sondern auch Kulturen. Nmlich genau dann, wenn ihre Brennstoffvorrte sich erschçpft haben – was man dann auch als einen Untergang bezeichnen kann. Diese Anstze wurden immer wieder als Pessimismus missverstanden. Ja, man whnte hier sogar einen antiaufklrerischen Untergangspropheten am Werk, der mit seiner These vom Willen zur Macht und der Propagierung der Großen Politik verantwortlich oder mindestens mitverantwortlich fr die Katastrophen des 20. Jahrhunderts sei. Statt hier einfach einen Konflikt zwischen empirischen Prognosen zu sehen, die sich darauf beziehen, was wahrscheinlich geschehen wird, wenn der moderne Kapita35 Gottfried Benn, Kunst und Staat, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. I, hrsg. v. Dieter Wellerhoff, Wiesbaden 1965, S. 210.
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lismus alle Lebensbereiche der Gesellschaft durchdringt, meint man hier dem berbringer der schlechten Botschaft zum Verursacher der Katastrophe machen zu kçnnen. Auf die Idee, dass die Blindheit des Geschichtsoptimismus gegenber den Geschichtszeichen etwas mit der eigenen Theorie zu tun haben kçnnte, kommt man bis heute nicht, was fast schon an einen theoretisch geschtzten Irrsinn grenzt, der frei nach dem Motto verfhrt: Um so schlimmer fr die Tatsachen. Die optimistische Sichtweise ging schließlich so weit, die Hoffnung selbst zu einem Prinzip eigener historischer Dignitt zu machen. Aus dem Proviant der Erniedrigten und Beleidigten sollte das primum mobile besserer Zeiten werden. Wie bereits bemerkt: Nietzsche ist kein Untergangsprophet. Und er vertrat auch keinen Pessimismus. Nietzsches philosophische Seismologie ist jenseits von Optimismus und Pessimismus angesiedelt. Denn beide, Optimismus und Pessimismus, sind an die Annahme gebunden, dass Gott der Schçpfer der Welt sei, der bestmçglichen hier, der schlechtestmçglichen dort. In der Neuzeit wurde diesem Gott zwar in regelmßigen Abstnden der Prozess gemacht. Diese Prozesse gingen aber immer wieder gut aus fr den Angeklagten. So zettelte zwar schon Leibniz den Prozess Mensch gegen Gott in Dingen bel in der Welt an, womit nach Odo Marquard die Tribunalisierung der modernen Lebenswelt beginnt, die bis in unsere Tage fortdauert. Er zettelt diesen Prozess aber so an, dass die bel in der Welt dabei entbelt werden, so dass es selbst bei einem ausbleibenden Heilsende in dieser Welt aushaltbar ist, eben weil diese Welt keine ble Welt ist. Auch noch die philosophische Rckrufaktion von Gott, die historisch nach dem Erdbeben von Lissabon und philosophisch nach der Einsicht in die Naturferne der Kultur durch Rousseau und der Entdeckung der Antinomien durch Kant begann – hier verbunden mit dem Schreck, dass der Garant der Aufklrung, nmlich die Vernunft, durch selbstzerrttende Eigenillusionen selber als genius malignus wirken kann – nderte daran wenig. Denn man einigte sich nun zwar darauf, dass Gott das Schaffen bleiben ließ, weshalb fortan dann auch Gott nicht mehr als der Schçpfer der Welt gelten konnte. Insofern nun aber der Mensch an seine Stelle trat, bei Kant als Schçpfer der Experimentalwelt der Wissenschaften und dann bei Fichte als Schçpfer der Geschichte, wurde nun der Mensch zum Angeklagten eines Tribunals, dem nur entkommt, wer es selbst ist.36 36 Vgl. Odo Marquard, Der anklagende und der entlastende Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 2005, S. 39 ff.
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Dieses Tribunal klagt alles Emanzipationswidersetzliche als notorisch rckschrittlich an und verurteilt es durch den Fortschritt zur Vergangenheit zu werden: durch Revolution. Die um 1800 eingeleitete philosophische Rckrufaktion Gottes erneuerte damit die Theodizee, freilich nun auf dem Boden der Geschichtsphilosophie, weshalb Hegel dann auch sagen konnte, seine Philosophie der Weltgeschichte sei die „wahrhafte Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte“.37 Dies gilt auch noch fr Marx, der im Grunde nichts anderes tut, als dem Proletariat den weiten Mantel des Hegelschen Weltgeistes umzuwerfen, das nun das Vernnftige denken und realisieren muss. Es ist die heilsgeschichtliche berhçhung des Proletariats durch dessen geschichtsphilosophische Logifizierung, die die proletarische Revolution schlicht und ergreifend als den letzten Akt des zu sich kommenden Geistes erscheinen lsst, weil Marx und Engels die christliche Eschatologie nur mit halbem Herzen ber Hegel hinaus skularisieren, so dass unter der elenden Gestalt des Proletariats bestndig die Vollmacht Gottes hervorschielt, die das Heil verkndet. Revolutionen avancieren in diesem Zusammenhang dann zu „Lokomotiven der Geschichte“38, die den historischen Wandel als einen naturgeschichtlichen Prozess erscheinen lassen sollen. Dabei folgt diese quasilogische Revolutionssystematik einem linearen Fortschrittsglauben, der die zu Krisen mutierten bel in der Welt zu „Knotenpunkten“ der gesellschaftlichen Hçherentwicklung mit einer eingebauten Nichtverschlechterungsgarantie macht – weshalb man hier auch von einer posttheistischen Theodizee mit futurisiertem beroptimismus sprechen kann39, die die Gegenwart zur finalen Entscheidungsgrenzsituation zwischen Allem oder Nichts zuspitzt und die auf der systematischen Ebene dann all jene gesellschaftlichen Krisen und gescheiterten Revolutionen aus der Betrachtung ausblenden muss, die nur sehr knstlich in jene Systematik eingeordnet werden kçnnen. Gegen diese Entbelung der bel im Rahmen der posttheistischen Fortschrittskonzepte hat Schopenhauer Protest erhoben. Er kritisierte in diesem Zusammenhang nicht nur den futurisierten beroptimismus als 37 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Weltgeschichte, in: ders., Werke, Bd. 18, Frankfurt am Main 1986, S. 540. 38 Karl Marx, Die Klassenkmpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 7, Berlin 1978, S. 85. 39 Udo Tietz, Die Gesellschaftstheorie, in: Harald Bluhm (Hrsg.), Klassiker Auslegen: Karl Marx/Friedrich Engels – Die Deutsche Ideologie, Berlin 2009, S. 77 f.
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eine „wahrhaft ruchlose Denkungsart“, sondern meint auch noch zeigen zu kçnnen, dass aus beln niemals Gutes erwachsen kçnne – wenngleich er zugibt, dass Leibniz Grund und Anlass zum „unsterblichen ,Candide des großen Voltaire“ gewesen sei. Schopenhauer will die Entbelung der bel rckgngig machen, wobei seine These lautet: unsere Welt ist „die schlechteste unter den mçglichen“.40 Nun ist zumindest eines klar: Aus der Tatsache ihrer Existenz folgt nicht deren Vollkommenheit. Aus der Tatsache ihrer Existenz folgt aber auch nicht das Gegenteil, dass es sich nmlich bei dieser Welt um die schlechteste unter allen mçglichen handeln wrde, weil aus dieser Tatsache gar nichts folgt. Erst unter der theologischen Voraussetzung, dass Gott weiter im Amt ist, folgt irgendetwas aus dieser Tatsache. Nietzsche hat dies gesehen. Optimismus und Pessimismus bilden fr ihn ein theologisches Komplementrphnomen. Will man den einen einladen, so kommt auch gleich der andere. Will man die bel in der Welt schçnfrben und mit schlechten Grnden rechtfertigen, so erweist man das Gegenteil. Will man aber zeigen, dass die Welt die schlimmste aller mçglichen Welten ist, wie Schopenhauer dies versucht hat, so gelingt auch dies nicht recht. Verrufene Worte. – Weg mit den bis zum Ueberdruss verbrauchten Wçrtern Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlass, sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tage mehr: nur die Schwtzer haben sie jetzt noch so unumgnglich nçthig. Denn wesshalb in aller Welt sollte jemand Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat, welcher die beste der Welten geschaffen haben muss, falls er selber das Gute und Vollkommene ist, – welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nçthig? – Es fehlt aber auch jeder Anlass zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss, wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder den theologisirenden Philosophen rgerlich zu werden und die Gegenbehauptung krftig aufzustellen: dass das Bçse regiere, dass die Unlust grçsser sei, als die Lust, dass die Welt ein Machwerk, die Erscheinung eines bçsen Willens zum Leben sei. Wer aber kmmert sich jetzt noch um die Theologen – ausser den Theologen? – Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekmpfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht bçse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe „gut“ und „bçse“ nur in Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewçhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung mssen wir uns in jedem Falle entschlagen. (MA, KSA 2, 48 f.)
40 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und als Vorstellung, in: ders, Smtliche Werke, Bd. 2, Leipzig 1979, S. 746 f.
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Nietzsche, der Anfang der 70er Jahre selbst mit einer pessimistischen Position sympathisierte, wie sie von Schopenhauer vertreten wurde, vertrat diesen Pessimismus von Anfang an in einer Weise, dass sich dabei der Pessimismus auf die These vom „absolut Unlogischen der Weltordnung“ reduziert. So war fr Nietzsche „Schopenhauer […] als Philosoph der e r s t e eingestndliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt haben: seine Feindschaft gegen Hegel hatte hier ihren Hintergrund. Die Ungçttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes, Greifliches, Undiskutirbares.“ (FW, KSA 3, 599 f.) Und: Schopenhauer „war Pessimist […] als guter Europer und nicht als Deutscher.“ (FW, KSA 3, 602) Aber dieser Pessimismus, den Nietzsche auch als romantischen Pessimismus bezeichnet und von dem er sagt, dass er „das letzte g r o s s e Ereigniss im Schicksal unsrer Cultur“ (FW, KSA 3, 622) sei, dieser Pessimismus ist ein Pessimismus der Schwche, der Ermdung und der Rassen-dcadence, was nach Nietzsche analog fr den Pessimismus von Vigny, Dostojewski, Leopardi und Pascal und von den großen nihilistischen Religionen gilt (des Brahmanismus, Buddhismus, Christentums). (Vgl. NF, KSA 13, 229) Seinerzeit setzte sich Nietzsche von diesem Pessimismus der Schwche ab, wobei er seine Position mit dem Begriff Pessimismus der Strke belegte. Nun hatte zwar dieser Pessimismus dem futurisierten beroptimismus der posttheistischen Theodizee die Einsicht in die Alogizitt der Geschichte voraus. Aber „auch dieser Pessimismus der Strke endet mit einer Theodicee d. h. mit einem absoluten Jasagen zu der Welt, aber um der Grnde willen, auf die hin man zu ihr ehemals Nein gesagt hat: und dergestalt zur Conception dieser Welt als des thatschlich erreichten hçchstmçglichen Ideals“ (NF, KSA 12, 467 f.). Anders gesagt: der Pessimismus wiederholt spiegelbildlich den Fehler des Optimismus, insofern er diesen nur negiert. Er ist quasi das Gegenteil eines Fehlers und damit auch wieder ein Fehler. Nietzsches Vorschlag lautet daher, dass wir uns aus dem Pfaffenstreit zwischen Optimismus und Pessimismus besser raushalten sollten, weil es hier nichts zu holen gibt. Die Wiedergewinnung einer geschichtlichen Perspektive muss die philosophische Entbelung der bel auf eine selbst nicht wieder theologische Weise rckgngig machen, auf eine Weise, die es erlaubt, die großen Krisen in der Geschichte zwar als Knotenpunkte zu denken, aber nicht als Knotenpunkte einer gesellschaftlichen Hçherentwicklung mit einer eingebauten Nichtverschlechterungstendenz. Dazu muss die aporetische Struktur des Fortschritts neu durchleutet werden, so dass Fortschritt und Rckschritt wieder als zeitdiagnostische Kategorien kenntlich werden.
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Daß wir uns nicht tuschen! Die Zeit luft vorwrts, – wir mçchten glauben, daß auch Alles, was in ihr ist, vorwrts luft … daß die Entwicklung eine Vorwrts-Entwicklung ist … Das ist der Augenschein, von dem die Besonnensten verfhrt werden: aber das neunzehnte Jahrhundert ist kein Fortschritt gegen das sechszehnte: und der deutsche Geist von 1888 ist ein Rckschritt gegen den deutschen Geist von 1788 … Die „Menschheit“ avancirt nicht, sie existirt nicht einmal … Der Gesamtaspekt ist der einer ungeheuren Experimentir-Werksttte, wo Einiges gelingt, zerstreut durch alle Zeiten, und Unsgliches mißrth, wo alle Ordnung, Logik, Verbindung und Verbindlichkeit fehlt … Wie drften wir verkennen, daß die Heraufkunft des Christenthums eine dcadence-Bewegung ist? … Daß die deutsche Reformation eine Recrudescenz der christlichen Barbarei ist? … Daß die Revolution den Instinkt zur großen Organisation, die Mçglichkeit einer Gesellschaft zerstçrt hat? … Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Thier: der Cultur-Zrtling ist eine Missgeburt im Vergleich zum Araber und Corsen; der Chinese ist ein wohlgerathener Typus, nmlich dauerfhiger als der Europer… (NF, KSA 13, 408 f.)
Sicher, man kann ber jede einzelne der hier vertretenen Thesen streiten. Unbestreitbar aber scheint mir, dass es sinnlos ist, vom Fortschritt im Sinne einer stetigen „Vorwrts-Entwicklung“ mit eingebauter Zielgewissheit zu sprechen, so dass der Begriff Niedergang oder Rckschritt kein Oppositionsbegriff zum Fortschrittsbegriff mehr darstellt. Und genau dies war ja die These des Vizeoptimismus. Nachdem der klassische Leibnizoptimismus zerbrach, und damit auch die These, dass die Welt nur deshalb die beste aller Welten sei, weil sie sich stndig verbessert, wurde zwar der Niedergang und der Rckschritt anerkannt, aber nur so, dass dieser stets nur partiell und vorbergehend stattfindet. Sprach man bis tief ins 18. Jahrhundert hinein stets von „perfectio“, also von der Vollkommenheit der Zielbestimmung, der man in der Kunst, der Politik und in den Wissenschaften nachzueifern hatte, so werden nun diese Zielbestimmungen verzeitlicht und in den Vollzug der menschlichen Geschichte hinein genommen. Aus der „perfection“ wird auf diese Weise „perfectionnement“ und „Progress“ – wobei diese Begriffe nun als prozessuale Bewegungskategorien gebraucht werden.41 Goethes Mephistopheles, Hegels Negation und die Revolution von Marx sind in diesem Sinne Geisteskinder des Leibnizoptimismus. Von nun an werden Rckschritt und Niedergang nicht mehr in Opposition zum Fortschritt gedacht, sondern als kodeterminierende Faktoren desselben. Sie sind die kurzen Verschnaufpausen der Weltgeschichte, die 41 Reinhart Kosseleck, „Fortschritt“ und „Niedergang“ – Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichte, Frankfurt am Main 2006, S. 170 f.
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Zeit, die nçtig ist, damit die Geschichte einen neuen Anlauf zu weiterer Progression machen kann. Was im Rahmen des Leibnizoptimismus als Gut und Bçse gilt, gilt also mutatis mutandis auch fr Fortschritt und Rckschritt im Rahmen des Vizeoptimismus: Nicht zwei Prinzipien sind es, die sich in der Welt bekmpfen, sondern alleiniges Prinzip ist das Gute bzw. der Fortschritt, das das bel bzw. den Rckschritt in sich einschließt und aus sich hervorbringt, wenn es sich vereinzelt. Kurz: Die bel und die Rckschritte haben ihre Ursache in der „Privation“, also in der Tatsache, dass dem Einzelnen zahlreiche Eigenschaften des Ganzen mangeln. Das bel und der Rckschritt ist so eine Erscheinungsform des unvollendeten Guten und des Fortschritts, wobei bel und Rckschritt als das Negative die positive Vorwrtsbewegung der Gattung garantieren sollen. Denn das Negative ist es gerade, das die Welt in Gang hlt, werden doch an ihm nicht nur die Mngel der Wirklichkeit, sondern auch die ber die Mngelzustnde hinausweisenden Mçglichkeiten manifest. Die Konsequenz der Auflçsung der dialektischen Verweisung von Fortschritt und Rckschritt durch ihre prozessuale Reformulierung ist dann die, dass der Fortschritt nun den Rckschritt als nur vorbergehend erklrt. Der Fortschritt weist alle Rckschlge als nur bedingt und partiell aus, letztendlich als Grund und Ursache zu neuem Fortschritt. Es ist hnlich wie auf dem Parkett: dem Schritt zurck, dem Niedergang und Rckschritt, stehen stets zwei Schritte nach vorne gegenber. Es ist als ob die Geschichte in die Tanzschule gegangen wre und dort nur mit dem Walzerschritt Bekanntschaft geschlossen htte. Auf die Idee, dass es auch den Rock-and-Roll geben kçnnte, kamen nur einige Fortschrittsdissidenten, die sich dann dafr als Untergangspropheten bezeichnen lassen mussten. Damit ist auch der Unterschied zwischen Optimismus und Vizeoptimismus benannt. Behauptet der Optimismus in der Leibniz-Form, dass es trotz der bel doch Gter gibt, die diese bel mehr oder weniger kompensieren, so behauptet der Vizeoptimismus, dass berhaupt erst durch die bel das Gute in die Welt kommt. Diesen bonum-per-malum-Gedanken, der nach dem Vorbild des Gedankens der „felix culpa“ gebaut ist: nur weil – malum – die Menschen sndigen, kam – bonum-per-malum – Gott in die Welt, findet sich bei Pope, Maltus, Mandeville, Herder, Kant, Fichte, Hegel und dann bei Marx. Genau dies aber hlt Nietzsche fr unsinnig. Nietzsche, der die aporetische Struktur des Fortschritts radikaler durchleuchtet hatte als alle seine Vorgnger, fordert uns auf, den Begriff des Fortschritts und des Rckschritts als diagnostische Kategorie zu gebrauchen, die er zugleich als
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historische und perspektivische Illusionen kollektiver Deutungssysteme entlarvte, „um dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben.“ (NF, KSA 11, 547) Gegen die Philosophie der Totalgeschichte mit absoluter Zielgewissheit knpft Nietzsche bei dieser Wiedergewinnung der geschichtlichen Perspektive an Jacob Burckhardt an, mit dem er zwei berzeugungen teilt: dass der deutsch-franzçsische Krieg eine europische Katastrophe und ein Indiz fr den Zerfall des traditionellen Kulturzusammenhangs durch den modernen Nationalismus sei, und dass Europa mit der Heraufkunft einer neuen Form der Barbarei konfrontiert sei, die durch Geschichtslosigkeit gekennzeichnet sei. Bei Burckhardt findet Nietzsche die Idee vorgedacht, dass die moderne Geschichtsphilosophie mit samt ihren neuzeitlichen Bewegungsbegriffen ein Widerspruch in sich ist. Und dies aus einem einfachen Grund: weil jede Geschichtsphilosophie an die Unterstellung eines Weltplans gebunden ist, der als Systematisierungsbasis des historischen Materials fr dessen Einheit sorgen soll. Gegen das Subordinationsprinzip durch die Geschichtsphilosophie bietet Burckhardt ein typisierendes Auswahlprinzip auf, wobei selber ungeschichtliche Merkmale des historischen Materials die Auswahl des historischen Materials leiten und verhindern sollen, dass nach dem Abschluss subordinierender Gesichtspunkte die Geschichte in ein Chaos unzusammenhngender Einzelheiten zerfllt. Burckhardt sucht dergestalt einer Aporie zu entkommen, die den Historismus insgesamt bedroht. Wenn alles vernderlich wre, dann gibt es nichts Identifizierbares mehr, was sich verndert: der Aspekt der Vernderung zerstçrt sich selbst durch seine Universalisierung. Dies gilt analog fr das Organisationsprinzip des Geschichtlichen: wre es in demselben Sinne historisch wandelbar, wie das zu organisierende Material, dann wre dessen Organisation zur Einheit des historischen Wissens unmçglich, denn jede Vernderung betrfe dann unmittelbar auch dieses Wissen. Der Geist, der ja nach Hegel gegenber der empirisch-faktischen Realgeschichte etwas Transzendentes ist, wird damit etwas der Geschichte Immanentes. Er wird geschichtlich wandelbar und vielgestaltig. Zugleich ist er jedoch unvergnglich und kontinuierlich, d. h. das sich in allem historischen Wandel Durchhaltende und mit sich in seinen vielen Gestalten Zusammenhngende. Burckhardt bestreitet also einerseits der quasi-logischen Revolutionssystematik der Weltgeschichte den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, weil diese Systematik alle jene Krisen aus der Betrachtung ausblenden muss, die gescheiterte Revolutionen gewesen sind und die daher nur sehr
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knstlich in jene Systematik, die ja einem diachronen Fortschrittsglauben folgt, eingeordnet werden kçnnen. Andererseits bleibt er noch in der Kritik an den Hegelschen Systematisierungsprinzipien der Weltgeschichte diesen verhaftet, insofern er eine Kontinuitt des Geistes annimmt, die bei aller Distanz zu Hegel erstaunliche Parallelen zu dessen dialektischer Theorie der Geist-Geschichte aufweist. Nietzsche versucht dieser Aporie zu entgehen. Er sieht, dass das historische Bewusstsein auch noch bei Burckhardt diesseits der historischen Aufklrung verbleibt, insofern es sich selbst als ein unhistorisches Bewusstsein vom Historischen versteht – oder besser missversteht. Er mçchte einerseits an Burckhardts Einsicht festhalten, dass „Krisen […] als echte Zeichen des Lebens zu betrachten“ sind, denn „Krisen rumen auf: zunchst mit einer Menge von Lebensformen, aus welchen das Leben lngst entwichen war“,42 ohne andererseits dessen Ahistorismus als Systematisierungsbasis vertreten zu wollen – wobei interessant ist, dass Burckhardt hier schon selbst mit dem Begriff des Lebens das spter von Nietzsche verwendete Systematisierungsprinzip vorgab, freilich ohne diesen Begriff im Sinne der spteren Lebensphilosophie zu verwenden. Das historische Bewusstsein muss sich nach Nietzsche auch in dem Sinne als historisch begreifen, dass es an dem historischen Wandel teilnimmt, den es beschreibt. Nietzsche will nicht nur den futurisierten beroptimismus der Geschichtsphilosophie angreifen, die die systematische Entbelung der bel dadurch bewerkstelligt, dass sie aus der Zielbestimmung eine prozessuale Bewegungskategorie des Geschichtlichen macht.43 Er will zugleich auch der Basistheorie des posttheistischen Vizeoptimismus den Garaus machen. Und dazu muss das Leben selbst zum Kriterium einer normativen Beurteilung der Historie werden, ihres Nutzens und ihrer Nachteile. „Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen“ – so der be-
42 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hrsg. von Rudolf Marx, Stuttgart 1955, S. 188. 43 Hierfr gibt es zwei Grnde: Zum einen, weil die geschichtsphilosophische Gegenwartsaffirmation durch Vergangenheitsnegation, die fr die gesamten Fortschrittstheorien von Voltaire, ber Kant und Hegel bis hinzu Marx charakteristisch ist, die mit der Zukunft schwangere Gegenwart zur fortgeschrittensten Zeit und die Zukunft als die Konsequentmachung der Gegenwart vorgestellt wird; und zum anderen, weil er in der optimistischen Vorstellung einer „Correktur der Welt“ nur einen Wendepunkt in der menschlichen Geschichte erkennen kann – und zwar einen Wendepunkt zum Schlechteren.
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kannte Satz aus der zweiten Unzeitgemßen Betrachtungen (HL, KSA 1, 245). Die Bedingungen der Gesundheit und der Steigerungsmçglichkeit des Lebendigen definieren nun den Maßstab fr die Kritik dessen, was fr den Historismus die hçchste Gestalt des menschlichen Geistes war: das historische Bewusstsein. Nietzsche sieht nicht nur, dass sich die gesamte nachhegelsche Philosophie dem geschichtlichen Denken unphilosophisch auslieferte. Er sieht auch, dass das historische Bewusstsein keine Krfte gegen den von ihm diagnostizierten kulturellen Verfall aufzubieten vermag. Er ist nicht die Lçsung, sondern Teil des Problems. Sicher, der Historismus ist selbst Aufklrung – der Hinweis auf mçgliche konservative Konsequenzen scheint mir dagegen kein Einwand, weil es ja sein kçnnte, dass die Argumente, die fr den Konservatismus sprechen, wahr sind. Er ist aber in jedem Fall ein Relativismus. Und der Relativismus bietet nun einmal nicht die Mçglichkeit einer umfassenden Orientierung, die fr eine große Politik reicht. „Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren zu wollen, das wre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte.“44 Nietzsche war dies klar. Die Probleme des Historismus erkenntnistheoretisch zu bewltigen, ist Nietzsche zwar nicht gelungen. Sein naiver Pessimismus, den man besser Skeptizismus nennen sollte, wobei hier zwischen einem wahrheitstheoretischen und einem bedeutungstheoretischen Skeptizismus unterschieden werden kann, verhinderte dies.45 Er sieht jedoch zweierlei: Erstens, dass mit den Lernprozessen, die das 18. Jahrhundert auf den Begriff der Aufklrung gebracht hat, eine tief greifende Selbstillusionierung verbunden war, und er sieht zweitens, dass die Crux aller teleologischen Geschichtsphilosophie darin besteht, dass sie den Sinn der Geschichte nur dadurch zu retten vermag, dass sie das telos der Geschichte im Hier und Heute als realisiert erklrt, womit die Geschichte zu Ende wre, oder aber, was jedoch nicht besser ist, dass das telos ans Ende der Geschichte verlegt wird, was in absehbarer Zeit auf dasselbe hinausluft – weshalb er daran geht, die Geschichte ohne ein solches telos zu denken. Nietzsche vollzieht damit die bis dahin radikalste Wendung gegenber der Geschichtsphilosophie, und auch noch gegenber Burckhardt, der, soweit er sich in den Weltgeschichtlichen Betrachtungen berhaupt wertend 44 Karl Lçwith, Die Hegelsche Linke, Stuttgart 1962, S. 38. 45 Vgl. Udo Tietz, Logik, Rhetorik und Sprache. Die Sprachphilosophie des jungen Nietzsche, in: Rdiger Schmidt-Grply (Hrsg.), Auf Nietzsches Balkon, Weimar 2009, S. 24 ff.
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ußert, immer der Auffassung war, dass sich die historischen Lebensphnomene gerade umgekehrt vor dem historischen Bewusstsein als der gegenwrtigen Gestalt der Kontinuitt des Geistes zu rechtfertigen haben, weil es sich bei den Kulturphnomenen um Manifestationen des kontinuierlichen Menschengeistes handelt. Und insofern Nietzsche die Frage nach den Bedingungen der Gesundheit des Lebendigen zum Leitproblem seiner geschichtsphilosophischen berlegungen macht, ist nun das Thema „Historie“ von vornherein in den Zusammenhang einer philosophischen Seinsmologie gestellt, in der die Krise nun wieder so gedacht wird, wie sie tatschlich auch zu denken ist, nmlich als ein Zustand, der sich auf alle Entscheidungslagen des inneren und ußeren Lebens einer Person oder einer Gemeinschaft bezieht, ber die ein angemessenes Urteil gefllt werden muss – und zwar ohne die eingebaute Garantie einer Progression. Denn es liegt keine logische Unmçglichkeit in dem Gedanken, dass es gestern gut und heute schlecht in Bezug auf X ist. Und es liegt auch keine logische Unmçglichkeit in dem Gedanken, dass es morgen noch schlechter als heute in Bezug auf X sein wird. Ich verstehe dies so, dass der Aufstieg, die Grçße und der Untergang von Kulturen im Rahmen einer nichtlinearen Erklrung der Geschichte zu erklren wre, wobei solch eine Erklrung eine evolutionre Erklrung wre, die nur noch ber Antezedensbedingungen und allgemeine Faktoren wie Variation und Selektion verfgt, ohne dass sich damit noch Prognosen ber eine mçgliche Zukunft im Sinne des Vizeoptimismus erstellen ließen. Der Aufstieg und natrlich auch der Untergang von Kulturen werden damit zu einer rein empirischen Frage. Wie bereits bemerkt: „,Es braucht viel Zeit, bis eine Welt untergeht – weiter aber auch nichts.“ Es gibt kein Antiaging gegen den Tod von Kulturen, etwa in Form eines ungebremsten wirtschaftlichen Wachstums. Es gibt allenfalls lebensverlngernde Maßnahmen, die im Rahmen einer Gesundheitslehre des Lebens evaluiert werden kçnnen, etwa der Einsatz regenerativer Energiesysteme. Es gibt aber keine Nichtverschlechterungsgarantie, die Kulturen mit einer Ultrastabilitt ausstatten kann, die nicht von dieser Welt ist. Der Begriff der Krise bekommt damit einen vçllig neuen Sinn – oder besser: er wird aus seiner geschichtsphilosophischen Umklammerung herausgelçst und bekommt damit wieder den Sinn zurckerstattet, den er ursprnglich einmal besaß. Denn er ist nun kein Bewegungsbegriff mehr, jedenfalls keiner der Geschichtsphilosophie (was dann analog von dem Begriff des Fortschritts und des Rckschritts gilt). Krise, bekanntlich leitet sich dieses Wort von „krito“ ab, was soviel wie scheiden, auswhlen, ent-
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scheiden, beurteilen aber auch sich messen, streiten, kmpfen bedeutet, bezeichnet nun wieder einen Zustand der zur Entscheidung steht, ber den die Entscheidung aber noch nicht verhngt ist.46 Die Rede, wonach in jeder Krise immer auch eine Chance liegen soll, ist damit als ein theologischer Illusionismus zu den Akten gelegt. Dabei bestreitet Nietzsche nicht, dass es Fortschritte in der Geschichte gegeben habe – in Bezug auf Wissenschaft und Technik steht fr ihn der „regelmssige und schnelle“ Fortschritt außer Frage. Aber die Ungleichzeitigkeit, die regionale Beschrnktheit und die Tatsache der großen Rckschlge – etwa im Untergang der antiken Kultur oder whrend der Zeit der Mongolenstrme – lassen, wenn berhaupt, ein Reden von Fortschritt nur noch im Plural zu, wobei dann immer noch die Frage zu beantworten wre, welches das Kriterium ist, an dem gemessen sich das eine als fortschrittlich und das andere als rckschrittlich erweisen lassen soll.
4. Die Folgen Nun hatte ich gesagt, dass die Crux aller teleologischen Geschichtsphilosophie darin besteht, dass sie den Sinn der Geschichte nur dadurch retten zu kçnnen meint, dass sie das telos der Geschichte im Hier und Heute als realisiert erklren muss, womit die Geschichte zu Ende wre, oder aber, dass das telos ans Ende der Geschichte verlegt wird, was in absehbarer Zeit auf dasselbe hinausluft. Wenn dies richtig ist, dann bedeutet dies, dass wir die Geschichtlichkeit der Geschichte nur angemessen denken kçnnen, wenn wir sie ohne solch ein telos denken. Ohne ein solches telos wird nun aber die Idee des Fortschritts nicht mehr zu halten sein. Und zwar auch nicht mehr in der von Jrgen Habermas vorgeschlagenen Form: „Geschichte als Lernprozeß“.47 Und zwar aus einem einzigen Grund: weil die Geschichte sich nicht als ein solcher Lernprozess rekonstruieren lsst, jedenfalls nicht der Teil von ihr, in dem wir es mit einem Lernen in moralischer Hinsicht zu tun haben. Es mag zwar sein, dass wir in technisch-technologischer Hinsicht „Nicht-nicht-lernen-
46 Reinhart Kosselleck, Einige Fragen an die Begriffsgeschichte von „Krise“, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main S. 203 f. 47 Vgl. Klaus Eder, Geschichte als Lernprozeß, Frankfurt am Main 1998.
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Kçnnen“, also lernen mssen.48 Fr den Bereich des Moralischen gilt die jedoch nicht. Kurz: Die These, der Mensch kçnne „Nicht-nicht-lernen“, msse also lernen, ist eine These, die als empirische falsch und als philosophische nicht zu begrnden ist. Die dunklen Autoren des Brgertums wussten dies wohl immer – einige von ihnen meinten nun jedoch, dass, wenn sich die Wirklichkeit nicht als vernnftig beschreiben lsst, sie als irrational beschrieben werden msse, was nur Hegelianismus mit umgekehrten Vorzeichen ist und vermutlich noch schwerer plausibilisierbar sein drfte, als das, was Hegel zeigen wollte: dass es in der Weltgeschichte vernnftig zugeht. Denn nun muss nicht nur erklrt werden, wie das Irrationale, das nicht Kultur im traditionellen Sinn sein soll, das aber Natur nicht sein kann, in die Welt kommt, zudem muss gezeigt werden, wie sich das Irrationale das schwache Licht der Vernunft aufzusetzen vermag, in dem das dunkle Wesen der Welt aufscheinen kann. Ich denke, dass jeder substantielle Irrationalismus an diesem Problem scheitert – von einem methodischen Irrationalismus sehe ich hier einmal ab. Aber wie dem auch sei. Wichtig ist: Wenn sich der Fortschrittsbegriff der Moderne ohne telos nicht mehr verteidigen lsst, dann bleibt uns nach dem Tode Gottes nur noch eine Mçglichkeit brig, sinnvoll ber den Fortschritt zu reden: Der Fortschrittsbegriff muss regionalisiert werden, so dass wir dann nicht mehr von DEM FORTSCHRITT sprechen, sondern von einem, den unsere Kinder beim Lernen machen, ber den Fortschritt unseres Bildungswesens oder der Verbesserung unserer politischen Kultur – was analog von einem immer mçglichen Rckschritt gilt, nmlich wenn unsere Kinder nicht fleißig, sondern faul sind oder wenn unser Bildungswesen nicht besser und die politische Kultur schlechter wird, etwa weil sie wiederholt unter die Herrschaft des Verdachts gert. Ein solcher nichtlinearer Fortschrittsbegriff ist ein Bereichsbegriff, ber den nicht mehr philosophisch, sondern nur noch empirisch befunden werden kann. Mir scheint, dass dies die eigentliche Pointe von Nietzsches Fortschrittskritik ist. Diese liefert uns also keine biologistische Erklrung der Geschichte, sondern eine nichtlineare Erklrung der kulturellen Evolution, die Fortschritt und Rckschritt als Faktoren von Variation und Selektion des geschichtlichen Werdens ansieht. Solch eine nichtlineare Erklrung der Geschichte wre also eine evolutionre Erklrung, die nur noch ber Antezedensbedingungen und allgemeine Faktoren wie Varia48 Vgl. Jrgen Habermas, Legitimationsprobleme im Sptkapitalismus, Frankfurt am Main 2004, S. 27 f.
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tion und Selektion verfgt, ohne dass sich damit noch Prognosen ber eine mçgliche Zukunft im Sinne des Vizeoptimismus erstellen ließen. Dieser Mangel an Erklrungskraft rhrt nicht daher, dass die Evolution indeterministisch wre, sondern daher, dass die Vielzahl der kausalen und funktionalen Faktoren nicht bersehbar ist – weshalb man hier sagen kann: „Das kann man nur historisch erklren.“49 Mit anderen Worten: Man kann die vielfltigen Strnge des Geschehens nacheinander beschreiben und sie dann in eine zeitliche Struktur zu bringen versuchen, in der Frheres auf Spteres im Hinblick auf seine Bedeutung deutlich wird. Eine solche Form der Erklrung nennen wir Erzhlen. In diesem Sinne erzhlen wir nicht nur die Geschichte der industriellen Revolution, die Geschichte von der Besiedlung Nordamerikas, des Wandels der Esssitten in Mitteleuropa oder die Vernderung amerikanischer Autokarossen, die wir zuweilen in Analogie zur Evolutionsgeschichte der Dinosaurier erzhlen, ohne dass wir damit die Voraussage des alsbaldigen Absterbens des Automobils begrnden kçnnten. In diesem Sinne erzhlen wir auch die Geschichte des Untergangs des Rçmischen Reiches, des Erdbebens von Lissabon oder die vom Untergang der Titanic, die wir dann zwar immer noch zur Modellkatastrophe des 20. Jahrhunderts erklren kçnnen, ohne aber daraus den Untergang des Abendlandes ableiten zu kçnnen. Kurz: Die Resultate der historischen Aufklrung nach dem Tode Gottes lassen sich nur noch sprachanalytisch und sprachpragmatisch verteidigen, als analytischer Historismus, der notwendig ein Narrativismus ist.50 Fr den Sinn in der Geschichte folgt daraus, dass es ihn nur als narrativen Sinn gibt, d. h. als Sinn der unabschließbaren Pluralitt mçglicher Geschichten ber die Geschichte. Die Differenz zwischen Kultur und Natur liegt dabei in der Reflexivitt. Natur und Kultur verhalten sich wie Evolution und reflexive Evolution. Reflexivitt ist ein Strukturmerkmal des Kulturellen – und auch erst mit dieser Reflexivitt kommt subjektiver Handlungssinn in den Gegenstandsbereich der Historie hinein. Um dieses Reflexive der kulturellen Evolution zu bestimmen, gengt der Hinweis auf Tradition nicht. Denn reflexive Evolution meint immer auch intentionale Weitergabe und kulturelle Variation und beinhaltet so immer ein Verfgen ber das Tradierte, sei es im Sinne der bewahrenden 49 Hermann Lbbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, S. 35 ff. 50 Arthur C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt am Main 1980.
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oder der ausschließenden Selektion. Dabei ist dieses Tradierte stets durch den symbolvermittelten Umgang mit dem Gelebten vermittelt. Erst innerhalb der Grammatik symbolischer Formen ist uns unsere Welt erschlossen. Kulturen sind reflexiv, wenn sie einen Begriff von sich als Kultur haben, was immer auch die Dezentrierung mit einschließt. Reflexive Kulturen sind Kulturen nach dem Verlust der Mitte. Antimoderne Theorien haben immer wieder gezeigt, was hier vermisst wird: eine politisch-soziale und eine ideologische Ordnung, die alle Lebensbereiche durchdringt und fr alle und alles Einheit und berblick stiftet. Dezentrierung und Reflexivitt zusammengenommen machen die Modernitt von Kulturen aus. Modern sind Kulturen, wenn „sie […] ihre Normativitt aus sich selbst schçpfen“ mssen und die sich daher auf keine transzendenten Autoritten mehr berufen kçnnen.51 Die Rationalisierung im Sinne der Durchsetzung der Zweckrationalitt, wie sie von Max Weber untersucht wurde, wre danach fr sich also noch kein Strukturmerkmal der Moderne. Es gibt bekanntlich pr- und antimoderne Kulturen, die ein erstaunliches Maß an Rationalisierung im Sinne von Max Weber aufweisen, ohne dass dies eine Dezentrierung und vollstndige Reflexivitt der Kultur auf den Weg gebracht htte – von einer Implementierung universalistischer Normen wollen wir hier gar nicht erst reden. Von daher empfiehlt es sich, den Begriff der Moderne ebenfalls bereichsspezifisch zu zergliedern, in eine wirtschaftliche, eine politische und eine sthetische Moderne. Anders gesagt: wir sollten unterscheiden zwischen einem strukturtheoretischen Modernebegriff, der uns berhaupt erst sagt, was Moderne ist und was wir dann in der Geschichte als „modern“ identifizieren kçnnen und einem geschichtlichen Epochenbegriff der Moderne – wobei letzterer den ersten voraussetzt.52
51 Jrgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwçlf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, S. 16. 52 Vgl. Herbert Schndelbach, Kant – der Philosoph der Moderne, in: ders., Philosophie in der modernen Kultur. Vortrge und Abhandlungen 3, Frankfurt am Main 2000, S. 33.
Frieden oder Krieg – Nietzsche und die „grosse Politik“: Zwei Collagen Thomas Kater
I. Recherchiert man ber Nietzsche hinaus den Begriff „große Politik“, stçßt man rasch auf eine von Johannes Lepsius und anderen besorgte „Sammlung der diplomatischen Akten des Auswrtigen Amtes“ aus dem Jahr 1922: Die große Politik der europischen Kabinette 1871 – 1914. 1 Gegenstand ist die Außenpolitik der europischen Staaten und dabei vor allem ihre Gewaltdimension: „Große Politik“ ist militrische Expansionspolitik, ihre Grçße entspringt ihrem martialischen Habitus: Und der ist noch fr Carl Schmitt entscheidend: Politisches Denken und politischer Instinkt bewhren sich also theoretisch und praktisch an der Fhigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden. Die Hçhepunkte der großen Politik sind zugleich die Augenblicke, in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird.2
Die Kopplung der großen Politik an den Feind ist damit zugleich die Kopplung der „großen Politik“ an den Krieg, der als „reale Mçglichkeit“ konstitutiv ist fr die Unterscheidung von Freund und Feind, da der „Feind […] eine […] der realen Mçglichkeit nach kmpfende Gesamtheit von Menschen [ist], die einer ebensolchen Gesamtheit gegenbersteht“3. Der Krieg ist es, der berhaupt erst ein „spezifisch politisches Verhalten bewirkt“4. Und entsprechend hlt Carl Schmitt zur großen Politik fest: „Aber auch umgekehrt: berall in der politischen Geschichte, außen- wie in-
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Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Friedrich Thimme (Hrsg.), Die große Politik der europischen Kabinette 1871 – 1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswrtigen Amtes im Auftrage des Auswrtigen Amtes, Berlin 1922. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1991, S. 67. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1991, S. 29. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1991, S. 35.
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nenpolitisch, erscheint die Unfhigkeit oder Unwilligkeit zu dieser Unterscheidung als Symptom des politischen Endes.“5 „Große Politik“ zeigt sich so allein vor dem Horizont des Krieges und das Politische als solches lsst sich ohne diesen Horizont berhaupt nicht denken. Denn das Politische denken, heißt mit Schmitt immer auch und immer zuerst den Krieg denken. Genau das ist Gegenstand von Nietzsches beißender Kritik, er wendet sich dagegen, dass man sich „mit grosser Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen: die ,grosse Politik verordnet hat“ (JGB, KSA 5, 200). Die Politik Bismarcks, den er erkennbar immer wieder vor Augen hat, wenn er ber „grosse Politik“ vor allem in den 1870er Jahren schreibt, ist „kleine Politik“ (FW, KSA 3, 630), weil sie verkennt, dass sie Kleinheit bewirkt. Am Beginn von David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller wird er entsprechend deutlich: Die çffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen und gefhrlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehçrt, welche keine wichtigere Meinung als jene çffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu preisen und den mchtigen Phnomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilirend nachzugehen. […] Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich gefhrte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrthum: der Irrthum der çffentlichen Meinung und aller çffentlich Meinenden, daß auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe […]. Dieser Wahn ist hçchst verderblich: […] weil er im Stande ist, unseren Sieg in eine vçllige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,Deutschen Reich . (DS, KSA 1, 159 f.)
Diese Kritik ist aber nicht allein gegen die Politik Bismarcks gerichtet, sondern gegen das politische Selbstverstndnis im Deutschen Reich. So galt der Krieg nicht nur als „geschichtsnotwendige Einrichtung“, sondern auch als Quelle „moralischer Wertschçpfung“ fr sittliche und religiçse Erneuerung, fr nationale Identifikation, fr machtstaatliche Entfaltung und Wettkampf unter den Nationen. Krieg, Reichsgrndung und Monarchie verwoben sich zu einer unauflçslichen Einheit, die aus der Vergangenheit die Legitimation fr politisches Handeln in der Gegenwart und fr die Zukunft zog.6 5 6
Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), Berlin 1991, S. 67. Dieter Riesenberger, Militaristen und Pazifisten im Deutschen Kaiserreich, in: Thomas Kater, Albert Kmmel (Hrsg.), Der verweigerte Friede. Der Verlust der Friedensbildlichkeit in der Moderne, Bremen 2003, S. 199.
Frieden oder Krieg – Nietzsche und die „grosse Politik“: Zwei Collagen 357
Die in dieser Haltung eingeschlossene Hochschtzung des Krieges ist jedoch nicht bloß der deutschen Regierung, dem deutschen Militr und dem deutschen Brger im spteren 19. Jahrhundert eigen, sie hat eine spezifische Ausformung in der Philosophie schon seit Kant gefunden. Der als Denker des Friedens geschtzte Kant hat eine Seite, die mit seiner Betonung des Friedens kaum vereinbar scheint. So schreibt er in der Kritik der Urteilskraft: selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der brgerlichen Rechte gefhrt wird, hat etwas Erhabenes an sich und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art fhrt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war und sich muthig darunter hat behaupten kçnnen.7
Dem steht zur Seite eine nachdrckliche Diskreditierung des Friedens. Obwohl ihm nach Kant der normative Primat zukommt, wird dargelegt, dass der Zustand des ewigen Friedens unvereinbar sei mit der menschlichen Natur und dem notwendigen Fortschritt der Gattung. Der Mensch bedarf des dauernden Konflikts, um seinen eigenen Zweck, die Entfaltung all seiner Vermçgen, berhaupt erfllen zu kçnnen. So ergben sich die Menschen im Frieden „der Lssigkeit und unthtigen Gengsamkeit“,8 wrden in einem arkadischen Schferleben bei vollkommener Eintracht, Gengsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben; die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, wrden ihrem Dasein kaum einen grçßeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie wrden das Leere der Schçpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernnftige Natur, nicht ausfllen.9
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Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Akademie-Ausgabe, Bd. V, S. 263. Zur Spannung zwischen Kants Friedensdenken und dem sthetisch induzierten Lob des Krieges vgl. Georg Cavallar, Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs ,Zum ewigen Frieden (1795) von Immanuel Kant, Wien/Kçln/Weimar 1992, S. 383 – 392. Aufgrund der positiven ußerungen ber den Krieg in der Kritik der Urteilskraft und anderen Schriften ist Kant gleichwohl nicht bellizistisch in Beschlag zu nehmen, leitet er doch „aus den Entwrfen der sthetischen und teleologischen reflektierenden Urteilskraft keine Handlungsanweisungen ab“ (Georg Cavallar, Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs ,Zum ewigen Frieden (1795) von Immanuel Kant, Wien/Kçln/Weimar 1992, S. 391.). Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht, in: ders., Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, S. 21. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbrgerlicher Absicht, in: ders., Akademie-Ausgabe, Bd. VIII, S. 21.
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Die Zwiespltigkeit, die Kants Denken ber Krieg und Frieden eigen ist, findet sich so in der Folge zunchst nicht mehr. Hegel ist einer der ersten, der die berhçhung des Krieges ausdrcklich macht, nicht in der sthetik verbirgt, sondern in das Zentrum der politischen Philosophie qua Philosophie des Rechts rckt. Damit wird nicht nur der seit Hobbes leitende Anspruch zurckgewiesen, dass die Philosophie „die kçnigliche Straße zum Frieden“ aufzuzeigen habe.10 Der Frieden wird diffamiert und der Krieg verklrt: Der Krieg als der Zustand, in welchem mit der Eitelkeit der zeitlichen Gter und Dinge, die sonst eine erbauliche Redensart zu sein pflegt, Ernst gemacht wird […] hat die hçhere Bedeutung, daß durch ihn […] die sittliche Gesundheit der Vçlker in ihrer Indifferenz gegen das Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Ruhe, wie die Vçlker ein dauernder oder gar ein ewiger Friede, versetzen wrde.11
Die normative Auszeichnung des Krieges verbindet sich in der Folge mit einem medizinisch imprgnierten Diskurs, so dass sittlich-gut und gesund sich vereinen. Der Krieg wird z. B. 1804 in der Deutsche[n] Encyclopdie begriffen als „krftigste Arznei fr die erkrankte, oder, wenn man will, erschlaffte Menschheit“12. Der (ewige) Friede als „hçchste[s] politische[s] Gut“13 ist in diesem Diskurs Krankheitsursache, der Vçlker Verderben. Die bei Kant ins Werk gesetzte berzeichnung des Krieges, die im Geiste seiner sthetik des Erhabenen formulierte Grundlegung des Bellizismus, war noch wesentlich frei von solchen normativen Implikationen – im Unterschied eben zu dieser endgltigen Diskriminierung des Friedens und der Vollendung des Bellizismus aus dem Geiste der Gesundheit. Und so heißt es bei dem von Nietzsche so geschtzten Jacob Burckhardt: Der lange Friede […] lßt das Entstehen einer Menge jmmerlicher, angstvoller Nothexistenzen zu, welche ohne ihn nicht entstnden und sich dann doch mit lautem Geschrei um „Recht“ irgendwie ans Dasein klammern, und 10 Thomas Hobbes, De cive, in: ders., Vom Menschen/Vom Brger. Elemente der Philosophie II/III, hrsg. v. Gnther Gawlick, Hamburg 1994, S. 67. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, Bd. 7, Frankfurt am Main 1986, § 324, S. 492 f. 12 Zit. n. Wilhelm Janssen, Art. Krieg III: ,Modernes Naturrecht: Der Krieg als natrlicher zwischenstaatlicher Zustand, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 586. 13 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: ders., Akademie-Ausgabe, Bd. VI, S. 355.
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den wahren Krften den Platz vorwegnehmen und die Luft verdicken, im Ganzen auch das Geblt der Nation verunedeln. Der Krieg bringt wieder die wahren Krfte zu Ehren. (Jene jmmerlichen Nothexistenzen bringt er wenigstens zum Schweigen?)14
Auch wenn sthetische Kategorien diesen Kriegs-Diskurs nicht mehr wesentlich bestimmen, so zeichnet ihn doch eine eindringliche BildSprache aus: „Kriege wie Gewitterstrme reinigen die Atmosphre, strken die Nerven“15. Seine „enorme normative Superioritt“16 mache ihn „als Gewitter der moralischen Welt“ zur „Psychotherapeutik der Vçlker im großen“17. Darber hinaus bleibt die Kategorie des Erhabenen ein wesentliches Moment zur Auszeichnung des Krieges, mit der Konsequenz, dass normative mit sthetischen Begriffen verbunden werden, so dass der Krieg zur quasi-ontologischen Totalitt wird noch vor der Erfindung des totalen Krieges durch die Militrs. So schreibt Jean-Pierre Proudhon in seinem 1861 erschienen Buch La guerre et la paix : Der Krieg ist das tiefste und erhabenste Phnomen unseres moralischen Lebens. Kein anderes kann ihm verglichen werden, weder die großartigen Feiern des Kultus, noch die Handlungen der souvernen Gewalt, noch die gigantischen Schçpfungen der Industrie. Der Krieg schlgt in den Harmonien der Natur und der Menschheit die mchtigste Note an; er wirkt auf die Seele wie der Donnerschlag, wie die Stimme des Sturmes. Mischung aus Genius und Khnheit, Dichtung und Leidenschaft, erhabener Gerechtigkeit und tragischem Heroismus […] berrascht er uns durch seine Majestt und je mehr die berlegung ihn betrachtet, desto mehr erfllt sich das Herz voll Begeisterung fr ihn. […] der Krieg ist der Ausdruck des Unverdorbensten in unserem Gewissen, die Tat, die uns, trotz allem und trotz aller unreinen Beimischungen, vor der Schçpfung und dem Ewigen ehrt.18
14 Jacob Burckhardt, ber das Studium der Geschichte. Der Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ nach den Handschriften, hrsg. v. Peter Ganz, Mnchen 1982, S. 344 f. 15 Jacob Burckhardt, ber das Studium der Geschichte. Der Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ nach den Handschriften, hrsg. v. Peter Ganz, Mnchen 1982, S. 344. 16 Jacob Burckhardt, ber das Studium der Geschichte. Der Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ nach den Handschriften, hrsg. v. Peter Ganz, Mnchen 1982, S. 345. 17 Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, in: Politisch-Pdagogische Schriften, hrsg. v. Manfred S. Frings, Bern/Mnchen 1982, S. 70. 18 Jean-Pierre Proudhon, La guerre et la paix, in : ders., Oeuvre compl tes, Bd. 6, hrsg. v. C. Bougl u. H. Moysset, Genf/Paris 1982, S. 489.
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Der sthetische Diskurs wird dann auch insofern wieder eingeholt, als er auch in bezug auf Kunst und Kultur reinigend wirken soll. Der Krieg ist „der große Scheideknstler des Echten und Unechten“19, er hat nicht die blinde Zerstçrung von Kunst und Kultur zur Folge, sondern ist „die denkbar vollkommenste Kulturkritik“20. Und der Krieg als Kulturkritiker wird zugleich selbst wieder als sthetisches Phnomen begriffen. Daß aber der Krieg nur in dieser bezeichneten Beschrnkung eines Scheideknstlers in der Geschichte auf die Kultur wirkt […], dies macht gerade seinen edlen und erhabenen Charakter aus; gerade dies zeigt, daß er nicht, wie die Pazifisten meinen, ein Rest des „Barbarentums“ ist.21
Genau in diesen Diskurs schreibt sich auch Nietzsche ein, allerdings nicht so sehr vor dem Horizont einer sthetischen Auszeichnung des Krieges: Der Krieg unentbehrlich. – Es ist eitel Schwrmerei und Schçnseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu fhren. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Vçlkern jene raue Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersçnliche Hass, jene Mçrder-Kaltbltigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgltigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe, erdbebenhafte Erschttern der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden kçnnte, wie diess jeder grosse Krieg thut: […] Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europer, nicht nur der Kriege, sondern der grçssten und furchtbarsten Kriege – also zeitweiliger Rckflle in die Barbarei – bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubssen. (MA, KSA 2, 311 f.)
Krieg wird hier hnlich wie bei Burckhardt und Proudhon als Institution der Bewhrung oder Reinigung verstanden, als notwendig, wenn es eine Entwicklung der Gattung zum Entscheidenden, da sie Auszeichnenden berhaupt soll geben kçnnen. Der Krieg fungiert als „Lebensreiz- und Kitzel“ (JGB, KSA 5, 121). Daraus resultiert bei Nietzsche eine Position des Antipazifismus, die in das Zentrum des Friedensbegriffs als solchem zielt. Fr den ist seit Augustinus und bis ins 18. Jahrhundert der Bezug auf 19 Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, in: Politisch-Pdagogische Schriften, hrsg. v. Manfred S. Frings, Bern/Mnchen 1982, S. 91. 20 Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, in: Politisch-Pdagogische Schriften, hrsg. v. Manfred S. Frings, Bern/Mnchen 1982, S. 92. 21 Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, in: Politisch-Pdagogische Schriften, hrsg. v. Manfred S. Frings, Bern/Mnchen 1982, S. 91 f.
Frieden oder Krieg – Nietzsche und die „grosse Politik“: Zwei Collagen 361
Ruhe und Ordnung, auf die tranquillitas ordinis konstitutiv. Ruhe war entsprechend Ausdruck „fr die Erfahrbarkeit, fr das Erleben des Friedens in der menschlichen Existenz“22. Die dahinter stehende Vorstellung von Glck „in bereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als Glck des Ausruhens, der Ungestçrtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit“ (JGB, KSA 5, 120 f.), ist fr Nietzsche eine Vorstellung des Menschen „aus einem Auflçsungszeitalter“, eines „schwchere[n] Menschen“ (JGB, KSA 5, 120). Und dagegen setzt er: Wir halten es schlechterdings nicht fr wnschenswerth, dass das Reich der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden gegrndet werde (weil es unter allen Umstnden das Reich der tiefsten Vermittelmssigung und Chineserei sein wrde) wir freuen uns an Allen, die […] die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben. (FW, KSA 3, 629)
Wie gehen Nietzsches Kritik an Bismarcks „großer Politik“ und sein Bellizismus bzw. Antipazifismus zusammen? Bismarck und dem deutschen Brgertum wirft er ihre militaristische Haltung vor, die den Krieg aus falschen Grnden adelt und ihn somit auch mit dem falschen Zweck ausstattet: bloße Vergrçßerung der Macht. Und dieser Zweck geht fr Nietzsche eben einher mit der Vernichtung des Geistes – und das war ihm unertrglich. Dieser Kritik des Krieges steht gegenber die Auszeichnung des Krieges als notwendiges Mittel zur Fortentwicklung. Die Auszeichnung des Krieges, der eben ein „erdbebenhaftes Erschttern der Seele“ bewirkt, macht Nietzsche auch dadurch deutlich, dass es sich dabei um den „grossen Krieg“ handelt. – Was das genau ist, bleibt allerdings so dunkel wie bei den anderen Bellizisten auch: Ein solcher „grosser Krieg“ existiert wohl nur an ihren Schreib-Tischen. Seine Kritik an der Kriegspolitik als „grosse Politik“ ist also durchaus vereinbar mit seinem Bellizismus, da in einem Perspektivenwechsel auf den Krieg begrndet.
II. Die sich so nahelegende Kennzeichnung Nietzsches als Bellizisten und Antipazifisten wird ihm aber nicht gerecht, gibt es doch eine andere Seite: Und die mutet nachgerade pazifistisch an. So heißt es im Nachlass: 22 Hans-Martin Kaulbach, Der Beitrag der Kunst zum Verschwinden des Friedens, in: Thomas Kater, Albert Kmmel (Hrsg.), Der verweigerte Friede, Bremen 2003, S. 90.
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Kçnnten wir der Kriege entrathen, umso besser. Ich wsste einen ntzlicheren Gebrauch von den zwçlf Milliarden zu machen, welche jhrlich der bewaffnete Friede Europa kostet; es giebt noch andre Mittel, die Physiologie zu Ehren zu bringen, als durch Lazarethe. (NF, KSA 13, 646)
Diese Haltung kçnnte man als realpolitischen Pazifismus kennzeichnen, der sich ausdrcklich gegen die Kriege seiner Zeit wendet, also auf der Ebene von Nietzsches Kritik am Krieg als Kritik an der „grossen Politik“ verbleibt. Es gibt aber einen pazifistischen Horizont, der darber deutlich hinausgeht: Und es kommt vielleicht ein grosser Tag, an welchem ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die hçchste Ausbildung der militrischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet, und gewçhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: „wir zerbrechen das Schwert“ – und sein gesammtes Heerwesen bis in die letzten Fundamente zertrmmert. Sich wehrlos machen, whrend man der Wehrhafteste war, aus einer Hçhe der Empfindung heraus, – das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muss. (MA, KSA 2, 678)
Dieses Zitat nimmt Bernhard Taureck zum Anlass hier von einem „Dokument“ eines „tiefen Pazifismus der Gesinnung“ zu sprechen.23 Henning Ottmann greift Nietzsches Topos vom „Frieden der Gesinnung“ auf, um ihm zuzusprechen, dass er zu den „Propheten einer friedlichen Zukunft [gehçre]. Der immer wieder als Verherrlicher des Krieges rezipierte Nietzsche muss als Philosoph des Friedens erst noch entdeckt werden“24. Es ist sicherlich anzuerkennen, dass solche Bemerkungen zu den eher weniger bekannten ußerungen Nietzsches gehçren drften. Wenn man aber in dieser Bemerkung Nietzsche als Philosoph des Friedens entdecken will, stellt sich die Frage, was Nietzsche mit diesem Pldoyer fr das Pathos der pazifistischen Tat zum Ausdruck bringen will. Der Sinnhorizont wird aus dem weiteren Verlauf des Textes deutlich. Nietzsche richtet sich dezidiert gegen den einen reformerischen Pazifismus, der „fr eine ,allmhliche Herabminderung der Militrlast“ arbeitet und insbesondere den „liberalen Volksvertretern“ eigen sei (MA, KSA 2, 679). Sie – so Nietzsches Vorwurf – verkennen, dass auf diese Weise kein Frieden gestiftet werden kann: „Der Kriegsglorien-Baum kann nur mit Einem Male, durch einen Blitzschlag zerstçrt werden.“ (MA, KSA 2, 679) Der diesen Blitz schleu23 Bernhard H. F. Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum, Leipzig 2000, S. 30. 24 Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin/New York 1999, S. 127.
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dernde Gott komme, wenn die aus der Militrlast entspringende „Noth am grçssten ist“ (MA, KSA 2, 679). Hier scheint gegen die Scheinbarkeit von Grçße in der sog. Realpolitik eine wahrhaft „große Politik“ auf, deren Grçße Nietzsche zu einer Maxime zusammengefasst hat: „Lieber zu Grunde gehen als hassen und frchten, und zweimal lieber zu Grunde gehen, als sich hassen und frchten machen, – diess muss einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden!“ (MA, KSA 2, 679) So wenig bekannt diese berlegungen Nietzsches wohl sind, so wenig verbreitet ist die damit ausgedrckte Haltung in der Philosophie: Bei allen berlegungen, wie es zu einem dauerhaften Frieden kommen kçnnte: Einen philosophischen Pazifismus gibt es nicht25 – mit vielleicht einer Ausnahme: Hans Driesch. In seinem 1927 erschienenen Buch Die sittliche Tat lehnt Driesch Krieg und Gewalt als Mittel auch der Verteidigung nachdrcklich ab, setzt auf „passive Resistenz“ und „Boykott“, die nicht nur die einzigen „Mittel moralisch zu billigender Art“ sind,26 sondern zugleich auch wirkmchtig sein sollen: „Erdulde Leiden um der sittlichen Reinheit willen. Der Feind wird bald merken, wie er steht. Ja, er wird merken, daß er eine lcherliche Rolle spielt – das schlimmste, was seinem ,Heldentume geschehen kann.“27 Seinen Mittel-Pazifismus begrndet Driesch mit einer axiomatischen Ethik,28 deren fr die Frage nach Krieg und Gewalt grundlegendes erstes „Axiom“ und „oberste[r] Grund gegen den Krieg […] lautet: Du sollst
25 Vgl. Thomas Kater, Gegen den Krieg! Fr welchen Frieden? Philosophie und Pazifismus im 20. Jahrhundert, in: Barbara Christa Bleisch/Jean-Daniel Strub (Hrsg.), Pazifismus – Ideengeschichte, Theorie und Praxis, Bern/Stuttgart/Wien 2006, S. 89 – 106. 26 Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 117. Wiederholt gibt Driesch seiner Wertschtzung fr Russell und Fçrster Ausdruck. Vgl. Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 115, 125. Seine „Ablehnung des Krieges“ ist aber nur „fast einschrnkungslos“ (Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 121). „Obschon sie ganz gewiß nicht sein sollte“, ist hingegen „erlaubt“ die „kriegsmßige Tçtung“ von „Horden, von denen man weiß, dass sie nach ihrem Siege seine Bewohner abschlachten werden“ (Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 117). 27 Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 117. 28 Zur Axiomatik vgl. Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 45 – 47 sowie 122.
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nicht tçten, denn du weißt ja nicht, was der Tod ist.“29 Als zweiten Grundsatz postuliert Driesch, dass der Krieg „ethisch verdammt“ ist,30 weil man „im Krieg Anlagen vernichten [kann], deren Entwicklung allen, auch dir selbst zugute kmen“31. Der dritte Grundsatz des allgemeinen Kriegsverbots rekurriert auf die „großen çkonomischen Schdigung[en], welche der Krieg allen, auch dem Sieger, zu bringen pflegt“32. Der Unterschied zu Nietzsche ist offensichtlich: Driesch versucht eine Begrndung fr den Heroismus eines Mittel-Pazifismus, Nietzsche bringt ihn zum Ausdruck. Driesch formuliert darber hinaus konkrete Vorstellungen, wie eine dauerhaft gewaltresistente Welt eingerichtet sein msste: ein „Pankosmos“33 in der „Form eines Provinzenbundes“34 ist das Ziel.35 Bei Nietzsche findet sich, wenn ich recht sehe nichts, was unmittelbar auf konkrete politische Vorstellungen fr die Ausgestaltung einer Friedensordnung hinweist. Gegen den nationalstaatlichen Militarismus gerichtet ist sicherlich die Figur der „gute[n] Europer, die d[er] Erben Europa s, d[er] reichen, berhuften, aber auch berreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europischen Geistes“, die die „kleine Politik“ berwunden haben, da gerade „Rassenhass“ und „Nationalismus“ (FW, KSA 3, 630 f.). Doch sie „lieben die Menschheit nicht“ (FW, KSA 3, 630). Der gute Europer ist dann wieder im Horizont des Krieges zu denken, des Krieges um die Erdherrschaft. Und hier scheint der Begriff der großen Politik erneut auf, und nicht mehr bloß negativ besetzt: „Die Zeit fr kleine Politik ist vorbei: schon das nchste Jahrhundert bringt den Kampf um die ErdHerrschaft – den Zwang zur großen Politik.“ (JGB, KSA 5, 140) Und hier bleibt die Position Nietzsches durchaus offen, wie Markus Wirtz festgehalten hat: „Die Erweiterung auf die Perspektive auf die wahrhaft ,große Politik kommender Kriege um die globale Vorherrschaft […] ist futuris29 Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 118. 30 Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 123. 31 Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 118. 32 Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 118. 33 Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 142. 34 Hans Driesch, Die sittliche Tat. Ein moralphilosophischer Versuch, Leipzig 1927, S. 152. 35 hnlich argumentiert auch Ernst Horneffer, Pazifismus. Eine philosophische Untersuchung, Erfurt 1929, S. 56 – 66.
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tisch, auf eine Zukunft bezogen, die Nietzsche mit seinem Philosophieren voraussagen, vorwegnehmen, beeinflussen, beherrschen oder verhindern will.“36 Nietzsche kritisiert zwar die „große Politik“ qua kriegerischer Machtpolitik der Staaten seiner Zeit aufs schrfste, weist aber zugleich auch die liberale Opposition gegen den Krieg zurck. In der „Vorrede“ zum „ungeschriebenen Buch“ Der griechische Staat moniert er entsprechend eine „bedenkliche Verkmmerung der politischen Sphre“, die erkennbar dem Individualismus qua Liberalismus zugeschrieben ist: Um nun durch das Mittel des Staates, hçchste Fçrderung ihrer eigenntzigen Ziele zu erreichen, ist vor allem nçthig, dass der Staat von jenen schrecklich unberechenbaren Kriegszuckungen gnzlich befreit werde, damit er rationell benutzt werden kçnne. (CV, KSA 1, 773)
Gegen den Liberalismus qua Egoismus setzt Nietzsche den Krieg als „das einzige Gegenmittel“ gegen die „Ablenkung der Staatstendenz zur Geldtendenz“ (CV, KSA 1, 774). Der Krieg ist „fr den Staat eine […] Nothwendigkeit“ und deshalb singt Nietzsche nach eigenem Bekenntnis „gelegentlich“ einen „Pan auf den Krieg“ (CV, KSA 1, 774). Und so ist Nietzsche als Philosoph des Friedens – jenseits eines heroischen Pazifismus , der aber nur fr Wenige gilt – eine Chimre: Als sinnmchtigen Philosophen des Friedens muss man Nietzsche nicht erst entdecken, weil es nichts zu suchen gibt. Bei der Frage Frieden oder Krieg lsst er allein.
36 Markus Wirtz, Der Begriff der ,großen Politik bei Nietzsche. Reflexionen zur Globalisierung des bermenschen, in: Internationale Zeitschrift fr Philosophie 1 (2004), S. 48.
Erinnern, Vergessen und das Große in der Geschichte bei Nietzsche Jutta Georg und Helmut Heit
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Der Weltgeist zu Pferde
Als Napoleon Bonaparte am 13. Oktober 1806 die Thringische Universittsstadt Jena besetzte, hatte der dortige Philosophieprofessor Hegel wenige Tage zuvor die beiden Teile seiner Phnomenologie des Geistes per berittener Post an seinen Freund Friedrich Immanuel Niethammer nach Bamberg geschickt. Hegel war einigermaßen besorgt ber den Verbleib des wertvollen Manuskripts, aber als er an diesem Tage in Jena „den Kaiser – diese Weltseele“ beim Ausritt beobachtet, notiert er, es sei „in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, ber die Welt bergreift und sie beherrscht“1. Obwohl Hegel nun in einer franzçsisch besetzten Stadt lebt, kann er doch diesem „außerordentlichen Manne“ seine Anerkennung nicht verweigern. Tags darauf schlagen die franzçsischen Revolutionstruppen die preußischen und schsischen Regimenter des Ancien Regime bei Jena und Auerstedt und verndern so die politische Landkarte Europas. Mit dem Namen Napoleons verbinden sich Ereignisse von historischer Grçße; nicht zuletzt durch seine entschiedene Tatkraft hat Napoleon seine Zeit plastisch gestaltet und so der Geschichte seinen Stempel aufgedrckt. Sein Zeitgenosse, der deutsche Professor Hegel hingegen bemht sich, diese Geschichte theoretisch in Gedanken zu fassen und entfaltet so ebenfalls eine beachtliche Wirkung. Auf seine Zeit wirken wollte auch Friedrich Nietzsche (vgl. HL, KSA 1, 247), der Hegels Bewunderung fr den großen franzçsischen Kaiser durchaus teilt. Er sah in Napoleon eine Figur von historischer Grçße und den zur Vollendung getriebenen Gegensatz zum zahmen Herdentier: Als letzten „Fingerzeig zum 1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Hegel an Niethammer am 13. Octbr. 1806, in: Johannes Hoffmeister (Hrsg.), Briefe von und an Hegel, Bd. I, Hamburg 1969, S. 119 – 121, hier: S. 120.
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a n d r e n Wege erschien Napoleon, jener einzelnste und sptestgeborne Mensch, den es jemals gab, und in ihm das fleischgewordene Problem des v o r n e h m e n I d e a l s a n s i c h – man berlege wohl, w a s es fr ein Problem ist; Napoleon, diese Synthesis von U n m e n s c h und b e r m e n s c h“ (GM, KSA 5, 288).2 Abgesehen von diesen ußerlichen Gemeinsamkeiten berwiegen jedoch die Differenzen zwischen beiden Denkern, insbesondere hinsichtlich der Einschtzung historischer Grçße. Hegel marginalisiert das Zufllig-Individuelle. Weltgeschichtliche Individuen, die 1806 wie Napoleon zu Pferde sitzen, handeln zwar subjektiv ihren eigenen Leidenschaften entsprechend, aber tatschlich sind sie das Exekutivorgan des Weltgeistes. Sie vollziehen den Plan der Vorsehung und vollbringen nur, „was an der Zeit, was wahr, was notwendig ist“3. Fr eine solche Betrachtung der Geschichte ist es wichtig, zwischen einer zuflligen Oberflche und den wesentlichen Entwicklungsgesetzen und wahrer Grçße zu unterscheiden. Selbst ganze Vçlker und Kulturen, die nicht das Vorrecht haben „Trger der gegenwrtigen Entwicklungsstufe zu sein […] zhlen nicht mehr in der Weltgeschichte“4. Sie tragen nicht zum Fortschritt bei und drfen vergessen werden. Gerechtfertigt erscheint diese entschiedene Ignoranz in Hegels Geschichtsphilosophie dadurch, dass nur so eine vernnftig-denkende Betrachtung der Geschichte mçglich sei: „Daß in den Begebenheiten der Vçlker ein letzter Zweck das Herrschende, daß Vernunft in der Weltgeschichte ist, – nicht die Vernunft eines besondern Subjekts, sondern die gçttliche, absolute Vernunft, – ist eine Wahrheit, die wir voraussetzen, ihr Beweis ist die Abhandlung der Weltgeschichte selbst: sie ist das Bild und die Tat der Vernunft.“5 In jeder Geschichtsschreibung ist es schon aus pragmatischen Grnden notwendig, Wesentliches im Gedchtnis zu bewahren und Unwesentliches dem Vergessen zu berantworten. Allerdings hat diese Versçhnung der 2
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Fr diese Einschtzung ist nicht zuletzt Nietzsches Lektre von Hippolyte Taine wichtig, wie aus einem Brief vom 4. Juli 1887 deutlich wird. Vgl. auch Giuliano Campioni, Der franzçsische Nietzsche, Berlin/New York 2009, S. 193 – 205. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Philosophie der Weltgeschichte, in: Karl-Heinz Ilting (Hrsg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Vorlesungen, ausgewhlte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1996, S. 69. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (hrsg. von Johannes Hoffmeister), Hamburg 1995, §347. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Vorlesungen ber die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I (hrsg. von Johannes Hoffmeister), Hamburg 1955, S. 29.
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chaotischen Erscheinung mit einem vernnftigen Wesen der Geschichte durch die Idee einer zielgerichteten weltgeschichtlichen Entwicklung schon bald nicht mehr berzeugt. Da Hegel das Denken seiner Zeit, namentlich sein eigenes, zum integrierenden Maßstab nimmt, erscheint seine Philosophie nicht als Facette im Meer der intellektuellen Anstrengungen der Menschheit, sondern als das Resultat eines historischen Prozesses. Insofern ist Nietzsches Polemik berechtigt, der gçttliche Weltgeist „wurde sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen durchsichtig und verstndlich und ist bereits alle dialektisch mçglichen Stufen seines Werdens, bis zu jener Selbstoffenbarung emporgestiegen: so dass fr Hegel der Hçhepunkt und der Endpunkt des Weltprozesses in seiner eigenen Berliner Existenz zusammenfielen“ (HL, KSA 1, 308). Wenn eine solche Auffassung nur erstaunlich selbstgerecht wre, kçnnte sie immerhin dennoch wahr sein. Die Probleme der Geschichtsphilosophie Hegels beruhen jedoch auf seiner fundamentalen Annahme, „daß die Vernunft die Welt beherrscht, daß es also auch in der Weltgeschichte vernnftig zugegangen ist“6. Diese Prmisse ist zwar einerseits schlecht vermeidbar, wenn man die Geschichte als vernnftigen Prozess verstehen will, andererseits entbehrt sie aber selbst der rationalen Begrndung. Man muss vielmehr „den Glauben mitbringen, daß wirklich Verursachung in der Geschichte sei, und daß die Intelligenz, der Geist nicht dem Zufall preisgegeben sei“7. Die entscheidende, philosophisch unbegrndete und unbegrndbare Voraussetzung Hegels ist somit sein Vertrauen in die Vernunft, sein Glauben an eine positive Entscheidung des Theodizee-Problems – aber „das Vertrauen auf die Vernunft“ ist, wie Nietzsche lakonisch bemerkt „als Vertrauen, ein moralisches Phnomen“ (M, KSA 3, 15). Mit dieser Skepsis wendet sich Nietzsche von Hegels absurd-vernnftiger Fortschrittsapotheose ab und markiert so einen grundlegenden Wandel im historischen Bewusstsein. Bereits Karl Lçwith sah in einer solchen Vernderung des geschichtlichen Denkens die wichtigste kulturelle Entwicklungslinie des 19. Jahrhunderts.8 Am Beginn dieser Entwicklung steht noch der Optimismus einer umfassenden geschichtsphilo6
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Vorlesungen ber die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I (hrsg. von Johannes Hoffmeister), Hamburg 1955, S. 28. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Vorlesungen ber die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I (hrsg. von Johannes Hoffmeister), Hamburg 1955, S. 22. Karl Lçwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 1941, S. 74 f.
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sophischen Integration durch eine Theodizee der Geschichte im Vordergrund. Seit dem Scheitern der Hegelschen Versçhnung von Vernunft und Geschichte erscheint jedoch das Historische zunehmend als das Reich der bloß archivarisch zu beschreibenden faktischen Irrationalitt und Kontingenz.9 Allerdings gibt der Historismus mit der Abkehr von Hegel zwar dessen Vernunftoptimismus auf, insbesondere die Orientierung an einer dialektischen Logik, nicht aber die Konzentration auf historische Entwicklung. So haben wir mit dem Historismus eine positivistisch verkrzte Geschichtsphilosophie vor uns. Nietzsche kann daher schon vierzig Jahre nach Hegels Tod die Diagnose einer „h i s t o r i s c h e n K r a n k h e i t“ stellen (HL, KSA 1, 329). Auf diese Weise spannt sich eine Brcke zwischen der spekulativen philosophischen Theologie und der destruktiven antichristlichen Philosophie. „Am Anfang und Ende dieser Brcke stehen Hegel und Nietzsche.“10 Nietzsches Geschichtsphilosophie und seine berlegungen zu historischer Grçße gehçren in den Kontext dieser Entwicklung. Dies wird insbesondere durch die kulturtheoretisch im Vergleich zu Hegel anspruchsvollere Konzeption des Verhltnisses von Erinnern und Vergessen deutlich. Hierbei soll vor allem die frhe Betrachtung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben im Zentrum stehen.
2. Erinnern, Vergessen, und der Historismus des 19. Jahrhunderts Große politische Umbrche und große theoretische Systementwrfe prgen den Beginn des 19. Jahrhunderts, aber sie weichen zunehmend dem Klein in Klein des politischen und theoretischen Tagesgeschfts. Fr Nietzsche und seine Zeitgenossen, „die wir in der Sumpfluft der Fnfziger Jahre Kinder gewesen sind“ (EH, KSA 6, 288), stellt sich die Gegenwart, vor allem die deutsche, nicht sonderlich großartig dar. Neben einem innovativen wissenschaftlich-technisch Pragmatismus, den Nietzsche zu unterschtzen neigt und der mit vielen mehr oder minder kleinen Neuerungen die Lebenswelt nachhaltig verndert hat, verbreitet sich, insbesondere in Deutschland, ein historisches Bewusstsein. „Das allgemeine Bewusstsein des 19. Jahrhundert emanzipierte sich vom Idealismus im
9 Herbert Schndelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg/Mnchen 1974, S. 7, 18, 169. 10 Karl Lçwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Stuttgart 1941, S. 193.
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Namen von Wissenschaft und Geschichte.“11 Das Bewusstsein um die historische Gewordenheit und Vernderlichkeit findet seinen Niederschlag in nahezu allen Bereichen. In der Theologie fhrt die historische Bibelquellenkritik (Wellhausen, Overbeck) zu einer vernderten Einschtzung der Testamente. Tennemann, berweg, Zeller und andere begrnden in kritischer Absetzung von Hegel die systematische Philosophiegeschichtsschreibung. Auch die Geschichte der Natur und ihrer Wissenschaften rckt bei Lange, Liepmann u. a. ins Zentrum, whrend in den verschiedenen Anstzen zur evolutionren Entwicklung der Arten das Leben selbst historisiert wird (Lamark, Darwin, Haeckel). In der politischen Geschichte entstehen Werke von monumentalem Rang und Ausmaß (Mommsen, Ranke, Treitschke), whrend Jakob Burkhardt und andere das Feld der Kulturgeschichte erçffnen. In der Architektur und Stdteplanung ist die çffentliche Gedchtnispflege allgegenwrtig. Dabei trieb das historische Bewusstsein durchaus seine identittspolitischen Stilblten: Man denke nur an die Walhalla, die der bayerische Kçnig Ludwig I. zum rhmenden Gedchtnis an „bedeutende Persçnlichkeiten teutscher Zunge“ zwischen 1830 und 1842 in klassizistischem Stil erbauen und hernach mit Bsten von Arminius bis Goethe bestcken ließ. Vor solchem Hintergrund bilanziert Michel Foucault ganz zu Recht: Es ist darum verstndlich, daß das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der Historie geworden ist: die Schwchung seiner Krfte, die Auslçschung aller eigentmlichen Charaktere fhren zu denselben Resultaten wie die Kasteiungen der Askese. Es ist unfhig zu schaffen; es fehlt an Werken; es fhlt sich verpflichtet, sich auf das zu verlassen, was vorher und anderswo gemacht worden ist; es ist zur niedrigen Neugierde des Plebejers verurteilt.12
In der Zweiten Unzeitgemssen Betrachtung stellt Nietzsche ein restauratives geschichtliches Bewusstsein des Historismus ebenso wie Hegels optimistische Geschichtsphilosophie als das zu reflektierende Kompendium einer Vor-Epoche vor jeder Gegenwart in Beziehung zu einem Begriff des Lebens, dessen Semantik – anders als im Sptwerk – noch ambivalent ist. Zum Nutzen dieses Lebens will er einen Geschichtsbezug etablieren, der nicht historistisch ist, sondern sich aus der Ambiguitt zwischen Erinnern und Vergessen formiert. Mit dieser Ambiguitt ist ein 11 Herbert Schndelbach, Philosophie in Deutschland. 1831 – 1933, Frankfurt am Main 1983, S. 49. 12 Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Walter Seitter (Hrsg.), Michel Foucault. Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 69 – 90, hier: S. 84.
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zentrales Motiv der Historienschrift angesprochen.13 Nietzsche will durch beide Begriffe verdeutlichen, welcher geschichtliche Bezug dem Leben und den Lebenden, also den jeweils Gegenwrtigen nutzt und damit festlegen, welche Form historischer Erkenntnis, der Nietzsche hier eine separate Dimension attestiert, geeignet ist, die Kraft und Grçße der Lebenden zu steigern und die Lebenspotenz als ganze anzuheben. Whrend das Glck der Tiere und auch der Kinder darauf beruht, dass sie ußerst vergesslich im Augenblicke leben, also „u n h i s t o r i s c h“ sind (HL, KSA 1, 249), ist das menschliche Dasein „ein nie zu vollendendes Imperfektum“ (HL, KSA 1, 249). Dieser Umstand macht das historische Erinnerungsvermçgen zu einer conditio humana und „erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen“ (HL, KSA 1, 253). Der Mensch steht als bewusstes Wesen in der Zeit und er weiß darum. Durch die Erinnerung wird uns eine Einordnung jeder Jetztzeit zwischen Vergangenheit und Zukunft zwangslufig aufgençtigt.14 Als Kçnigsweg und als Technik hat sie aber stets eine ambivalente Aufgabe, muss man doch zwischen dem was erinnerungswrdig ist und dem, was vergessen werden muss, differenzieren; denn im Erinnern muss vergessen werden. Nur dann gelingt es, die Vergangenheit zum Artefakt zu machen, um die fr das Leben degenerierenden Einflsse so umzuwandeln, dass sie fr Gegenwart und Zukunft keine Kraft mehr haben kçnnen. Der Mensch kann nur als Mensch sein und handeln, wenn er zu vergessen weiß: „Zu allem Handeln gehçrt Vergessen.“ (HL, KSA 1, 250) Im Unterschied zu Hegel verweist diese Legitimation des Vergessens nicht auf Vernunftwahrheiten, sondern auf Handlungs- und Lebensfhigkeit. Und anders als der Historismus seiner Zeit ist Nietzsche nicht so naiv zu glauben, man kçnne quasi-objektiv und ohne perspektivisches Werturteil 13 Auch Kathrin Meyer stellt diese Begriffe ins Zentrum ihrer scharfsinnigen Interpretation der zweiten Unzeitgemßen, indem sie den ersten Teil ihrer Arbeit der Konzeption der Erinnerung und den zweitem dem Vergessen widmet; vgl. Kathrin Meyer, sthetik der Historie: Friedrich Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben“, Wrzburg 1998. 14 „Bereits aus der erinnernd eingenommenen Position der Vergangenheit erscheint jeder zwischen ihr und der Gegenwart liegende Zeitpunkt als Zukunft. Insofern lehrt schon die Erinnerung, daß es Zukunft gibt. Diese unser ganzes Erleben tragende Zeitlichkeit, nicht bloß jene gelegentlichen Momente der bewußten Fixierung auf oder durch Vergangenes sind gemeint, wenn die Stichworte ,Erinnerung oder ,Nicht-vergessen-Kçnnen fallen.“ (Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, S. 142)
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zwischen Großem und Kleinem in der Geschichte unterscheiden. Das Vergessen ist weder objektiv, noch gerecht, noch folgt es der Zuflligkeit positivistischer Quellenkunde, sondern es erfllt „die Eine Bedingung alles Geschehens, jene Blindheit und Ungerechtigkeit in der Seele des Handelnden“ (HL, KSA 1, 254). Es ist daher nicht falsch, in dieser Schrift eine „Apologie des Vergessens“ zu sehen15, aber es ist zugleich nur die halbe Wahrheit, denn „d a s U n h i s t o r i s c h e u n d d a s H i s t o r i s c h e ist gleichermaßen fr die Gesundheit des Einzelnen, e i n e s V o l k e s u n d e i n e r C u l t u r n ç t h i g“ (HL, KSA 1, 252).16 Die Frage nach dem Nutzen und Nachteil der Historie fr das Leben hngt von der Balance zwischen Erinnerung und Vergessen ab, auch wenn Nietzsche das Vergessen als die ursprnglichere Kraft ansieht (HL, KSA 1, 252). Diese Balance wiederum changiert mit der Fhigkeit, seiner Welt einen Horizont zu schaffen. Ab welchem Grad „von historischem Sinne“ eine Gefahr besteht, hngt davon ab, „wie gross die p l a s t i s c h e Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur ist, ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen“ (HL, KSA 1, 250 f.). Menschliche Lebenskraft besteht gerade darin, Vergangenes in einer selektiven Erinnerung dem eigenen Horizont einzuverleiben, und so die Gegenwart und Zukunft schçpferisch zu gestalten. Aus dieser Einsicht ergibt sich auch die berzeugung, dass die drei unterschiedlichen Typen von Geschichtsbetrachtung, die antiquarische, die monumentalische und die kritische gleichermaßen ntzlich und nachteilig sein kçnnen (HL, KSA 1, 264). Die Ambivalenz zeigt sich auch an der Bedeutung der Geschichte in Nietzsches eigener Philosophie, war er doch in jeder seiner Schaffensphasen ein der Geschichte zugewandter Denker. Nietzsche gehçrt in den Kontext seiner geisteswissenschaftlichen Situation nicht nur durch seine Kritik der historischen Krankheit, sondern auch durch sein untrgliches historisches Bewusstsein. Aus einem tiefen Geschichtsverstndnis wendet er sich gegen „moderne Fanatiker des Prozesses“ (HL, KSA 1, 315) und die Idee einer vom Resultat zu deutenden Erfolgsgeschichte. Dabei macht er nicht zuletzt die klassische Philologie fr seine unzeitgemße Perspektive auf die Gegenwart geltend (vgl. HL, KSA 1, 247). Aus der Perspektive seiner Gegenwartsdiagnostik der 1870er Jahre fragt er durch die kultu15 Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, Mnchen 1997, S. 163. 16 Harald Weinrich ist sich in seiner schçnen Studie dieser Ambivalenz durchaus bewusst, wobei er die Verteidigung der Erinnerung eher der Moralphilosophie des spteren Nietzsche in Genealogie der Moral II zuschreibt (vgl. Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, Mnchen 1997, 166 – 68).
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rellen Institutionen und Phnomene der Zeit, die er schon in der Tragçdienschrift als dekadent dechiffriert hatte, hindurch nach einem nicht pathologischen Zustand von Kultur. Diese Frage fhrt ihn letztlich zurck zu den Griechen, die durch eine Besinnung auf ihre „chten Bedrfnisse“ lernten, „d a s C h a o s“ kultureller Einflsse und Vorgeschichten „z u o r g a n i s i r e n“ und so „die glcklichsten Bereicherer und Mehrer des ererbten Schatzes und die Erstlinge und Vorbilder aller kommenden Culturvçlker“ wurden (HL, KSA 1, 333). Insofern entwickelt auch die zweite Unzeitgemße ihre kulturkritische Orientierung, wie schon die Geburt der Tragçdie, in der Auseinandersetzung mit den Griechen der Antike. Deshalb und wegen der exklusiven Bedeutung, die beide Werke der Kunst als antinihilistischer Gegenwelt zusprechen, sind die Tragçdienschrift und die Historienschrift als ein theoretisches Geschwisterpaar zu verstehen. Daneben versammelt zweifellos nur die Historienschrift im Quartett von Nietzsches Unzeitgemßen Betrachtungen im statu nascendi die relevanten Topoi seiner Philosophie und demzufolge darf sie als paradigmatische Wegbereiterin ihrer Vollendung im Sptwerk begriffen werden. Nietzsches antimetaphysischer Ansatz entsteht nicht zuletzt im Wissen um die Bedingtheit und die Relativitt jeder Stabilitt durch ihre historische Genese. Das ist zugleich eine Markierung, die einen a-teleologischen Geschichtsbegriff als einzig denkbaren ausweist.17 Mit diesen methodologischen berlegungen wird zu prfen sein, ob Nietzsche eine historische Reflexion benennen kann, der die Kraft eignet, das Leben zu strken und das Konzept historischer Grçße inhaltlich zu fllen. Hierbei ist zunchst auf seinen frhen Lebensbegriff zu verweisen, den er als eine potente, nicht dekadente Grçße gegen die historische Krankheit der historistisch-positiven Geschichtsbetrachtung ebenso wie gegen die Teleologie von Hegels Geschichtsphilosophie positioniert. Einerseits hat dieser Begriff eine biologisch-vitalistische Konnotation und andererseits zeigt er semantische bereinstimmungen mit Schopenhauers Willensbegriff.18 In einer zeit17 Die Idee eines quasi-gesetzmßigen historischen Fortschritts erschien Nietzsche schon frh unbrauchbar: „Die historischen Gesetze bewegen sich nicht in der Sphre der Ethik. Der ,Fortschritt ist berhaupt kein historisches Gesetz, weder der intellektuelle noch der moralische noch der çkonomische“ (Friedrich Nietzsche, Schriften der Militrzeit 1867 – 1868, in: Friedrich Nietzsche: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe (BAW), Bd. 3, hrsg. v. Hans Joachim Mette und Karl Schlechta, Mnchen 1933 – 40, S. 322) 18 „Die Vermutung liegt nahe, dass in Nietzsches ,Leben der ,Wille Schopenhauers unter neuen Vorzeichen wiederkehre, mitunter merkwrdig positiv konnotiert“
Erinnern, Vergessen und das Große in der Geschichte bei Nietzsche
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kritischen geschichtsphilosophischen Frontstellung gegen die Zeitgemßheit beklagt er die dominante Positionierung eines falschen, weil mit nutzlosem historischen Wissen bestckten geschichtlichen Bewusstseins in den Wissenschaften und polemisiert gegen die Subordination der Philosophie durch die Historiografie des 19. Jahrhunderts. Das Ziel von Nietzsches berlegungen zur Ambiguitt von Erinnern und Vergessen besteht schließlich nicht in dem Ideal einer besseren Geschichtswissenschaft, sondern in dem Ideal einer besseren, grçßeren und schçneren Gegenwart.
3. Kunst, Leben, und das Große in der Geschichte Die geschichtsphilosophische Programmatik Nietzsches will eine Indienstnahme des historischen Materials fr das Leben durch eine „poetische Historie“ erreichen19. Dabei hat die Historienschrift methodisch eine herausragende Bedeutung. Nietzsches Kritik an einem konservierenden geschichtlichen Bewusstsein steht im Nexus seines Interesses, einen postrestaurativen Kulturbegriff (als Voraussetzung fr eine post-dekadente Entfaltung der Lebensenergie) herauszuarbeiten, der um seine Wurzeln in der griechischen Antike weiß, ohne sich in epigonenhafte Ursprungsmythen zu verstricken. Ausdrcklich strebt er nach einem Geschichtsbezug, dem es gelingt, einen „Begriff der Cultur als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Außen, ohne Verstellung und Convention, der Cultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen“ zu formulieren (HL, KSA 1, 334). Sein Hinweis auf die verbesserte Physis verdeutlicht einen zentralen Aspekt seiner Geschichtsphilosophie: eine Einverleibung der historischen Filiationen so herzustellen, dass die gegenwrtige Lebenspotenz gesteigert wird, um so einen Prozess zu initiieren, der auch fr die Zukunft die bestmçglichen Voraussetzungen fr die Lebenssteigerung zusammentrgt. Foucault bringt dieses auch physiologisch konzipierte genealogische Projekt auf die Formel: „Der Leib – und alles, was den Leib berhrt – ist der Ort der Herkunft: am Leib findet (Andreas Urs Sommer, Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur
Waffengenossenschaft von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, Berlin 1997, S. 46). 19 Andreas Urs Sommer, Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur
Waffengenossenschaft von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, Berlin 1997, S. 47.
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man das Stigma der vergangenen Ereignisse.“20 Nietzsche, zumindest der Nietzsche der 1870er Jahre, verweist uns jedoch letztlich weniger auf die Genealogie, sondern auf die Kunst als einzige Disziplin, in der ein schçpferisches Erinnern und Vergessen als aneignende, einverleibende und zukunftsstiftende Erkenntnisform mçglich ist. Mit und durch sie kann sich in der anthropologisch unausweichlichen Erinnerung eine Kunst des Vergessens etablieren ber die, so Nietzsche, eine vollstndig andere Geschichtswissenschaft begrndet werden kann, die „keinen Tropfen der gemeinen empirischen Wissenschaft in sich hat und doch im hçchsten Grade auf das Prdicat der Objektivitt Anspruch machen drfte“ (HL, KSA 1, 290). Durch die sthetisierung der Vergangenheit wird der Objektivittsanspruch der historischen Wissenschaft per se ad absurdum gefhrt.21 Der poetische Historiker schafft „ein knstlerisch wahres, nicht ein historisch wahres Gemlde“ (HL, KSA 1, 290), wobei letzteres ohnehin ein Ding der Unmçglichkeit ist. Die Geschichte muss demnach als ein Kompendium von sthetisch evaluierbaren Artefakten erfasst, schçpferisch angeeignet und umgebildet werden. Das aber gelingt starken und großen Personen (HL, KSA 1, 283), die ber die Jahrhunderte eine Genialen-Republik bilden: „ein Riese ruft dem anderen durch die çden Zwischenrume der Zeiten zu und ungestçrt durch muthwilliges Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergesprch fort“ (HL, KSA 1, 317; vgl. PHG, KSA 1, 808). Zumindest der frhere Nietzsche sieht sehr deutlich das Große in der Geschichte in solchen Genialen verkçrpert, das Ziel der Menschheit liegt in ihren „hçchsten Exemplaren“ (HL, KSA 1, 317). Ihnen ist es mçglich, sich gegen die Universalisierung des Individuellen und die Negation des Kontingenten zu stemmen, um so das Erhabene zu retten. Im Gegensatz zu Hegel wird so das historische Recht des wirkenden, großen Einzelnen restituiert. Nietzsche focussiert die großen Persçnlichkeiten, denen die berwindung des Grabens zwischen der Innen- und Außenperspektive 20 Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: Walter Seitter (Hrsg.), Michel Foucault. Von der Subversion des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 75. 21 Hierauf hat auch Andreas Urs Sommer hingewiesen: „Historie als Kunst verstanden verfiele nicht darauf, im Anblick der bermchtigen oder entmachteten Vergangenheit Ironie, Zynismus und Epigonenbewusstsein wachzurufen, sondern er- und berhçhte das Erinnerte zu einem Kunstwerk, dem, weil es nicht anders denn als Kunstwerk zu wrdigen wre, die Wahrheitsfrage nicht mehr anhaben kçnnte“ (Andreas Urs Sommer, Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur Waffengenossenschaft von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, Berlin 1997, S. 58).
Erinnern, Vergessen und das Große in der Geschichte bei Nietzsche
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gelingen kann; Figuren, die nicht zuletzt eine prototypische Vorbildfunktion fr den Umgang mit der Historie durch Vçlker und Nationen haben. Diese großen Persçnlichkeiten sind, wie Napoleon oder Goethe, eine Art von „bermenschen“, aber sie sind damit noch nicht in die Topographie der voll entfalteten Terminologie von Nietzsches Denken eingemeindet. Sie sind groß, weil sie berhistorisch orientiert sind, ber ihre Lebenszeit hinausdenkend und handelnd ein Verantwortung fr das historisch ntzliche Erbe bernehmen und in diesem Tun eine berhistorische Aufgabe erfllen. Sie tun dies mit historischem Bewusstsein in einer „unhistorische[n] Atmosphre, in der jedes grosse geschichtliche Ereignis entstanden ist“ (HL, KSA 1, 254). In dieser paradoxen Stellung zur Geschichte liegt ihre Grçße, die mit der Grçße der Lebensenergie und damit des ntzlichen Umgangs mit der Historie analogisiert werden kann. Allerdings zeigt Nietzsche in den Attributen dieser Prototypen wenig Souvernitt, sein „Ewig-Mnnliches“ (HL, KSA 1, 284) ist wohl mit dem Mnnlichkeitsideal, will sagen: den Klischees des 19. Jahrhunderts ber die virile Natur kongruent. Exakt wie spter sein bermensch kann auch das große Individuum, sei es Goethe, sei es Napoleon, keine Frau sein und demnach kann es auch keine dem Weiblichen attestierten Eigenschaften haben. Nur die große Tat berwindet jene durch die Geschichte manifestierten Blockaden, die in der melancholischen Erinnerung festgezurrt werden und fhrt deren Potenzen dem Leben zu. Dann kçnnen ber einen monumentalen und einen kritischen Geschichtsbezug selbst die antiquierenden, lebensfeindlichen Krfte verflssigt und umgewertet werden. Wir kçnnen also festhalten, dass nur in und durch die Tathandlung eine qualitative Transformation der berlieferung als eine Bergung des Erhabenen stattfindet. Damit ist auch gesagt, dass das große Individuum nicht unhistorisch agiert. Ausschließlich neue Krfte freisetzende Handlungen, im Unterschied zu den degenerierenden, die eine restaurativ-historistische Betrachtung motiviert, sind geeignet das Erhabene in der historischen berlieferung fr Gegenwart und Zukunft zu bergen. „N u r a u s d e r h ç c h s t e n K r a f t d e r G e g e n w a r t d r f t i h r d a s V e r g a n g e n e d e u t e n : nur in der strksten Anspannung eurer edelsten Eigenschaften werdet ihr errathen was im dem Vergangnen wissen- und bewahrenswrdig und gross ist“ (HL, KSA 1, 293 f). Welches die hçchste Perspektive ist, aus der bewertet werden kann, was erinnert und erhalten und was vergessen und verworfen werden muss, bleibt bei Nietzsche an den Begriff Lebenssteigerung gebunden. Historische Grçße ist in die Ambiguitt eingespannt, das historische Erbe des
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Menschengeschlechtes erinnernd zu erfassen und es zugleich geschichtsvergessen in schçpferischer Kraft zu transformieren.
Der Kampf ums Monument Reprsentationskritik der Geschichte bei Nietzsche und Foucault
Knut Ebeling Der Begriff aus der Geschichte der sthetik, in dem die Themen von Grçße und Macht sich berkreuzen, ist zweifellos der Begriff oder die Konzeption des Monuments. Die Vorstellung des Monuments ist – wenigstens seit dem „monumentalen“ 19. Jahrhundert und seinen gebauten Dinosauriern – an das Große und bergroße gebunden.1 Mit diesem Jahrhundert verbinden wir jedoch nicht nur das Aufgeblasene und Pompçse von Vçlkerschlacht- und anderen Denkmalen, sondern auch die Kritik an diesen. Bekanntlich sollte Nietzsche die Spur dieser Kritik am Großen und Groben aufnehmen, um sie jedoch sogleich auf ein anderes Feld zu verschieben: Nietzsches Begriff einer „monumentalischen Historie“ aus der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung von 1874 attackierte nicht zu groß geratene Denkmler, sondern die Haltung einer unzulssigen Vergrçßerung und Vergrçberung der Vergangenheit. Er verbreiterte die Kritik am zu groß geratenen Denkmlerbestand zu einer allgemeinen Kulturkritik, die es auf die Geste der Monumentalisierung der Vergangenheit insgesamt abgesehen hatte.
Die Kritik des Monuments An dieser Kulturkritik des historisch berdimensionierten und berAmbitionierten, die Nietzsche unter der Rubrik der „monumentalischen Historie“ ins Wçrterbuch sthetischer Grundbegriffe eintrgt,2 ist jedoch ihr methodischer und struktureller Aspekt bersehen worden. Denn tat1
2
Horst Bredekamp, Einleitung, in: Ferdinand Piper, Einleitung in die monumentale Theologie. Eine Geschichte der christlichen Kunstarchologie und Epigraphik, Mittenwald 1978. „Monument“ ist nicht Bestandteil des Wçrterbuchs sthetischer Grundbegriffe. Vgl. Karlheinz Barck et al. (Hrsg.), sthetische Grundbegriffe. Historisches Wçrterbuch in sieben Bnden, Stuttgart 2000 ff.
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schlich verbirgt sich hinter der Geste der Kulturkritik eine fundamentalere Reprsentationskritik, die methodisch weitreichendere Konsequenzen hat. Unter dem Stichwort des „Monumentalischen“ findet man bei Nietzsche nicht nur die Kritik der lebensverachtenden Totenverehrung und Monumentalisierung der Vergangenheit; diese Kulturkritik arbeitet wiederum mit dem methodischen Motor einer fundamentalen Reprsentationskritik, die die Wissenschaften und Knste im 20. Jahrhundert verbindet.3 Dieser noch nicht gengend beleuchtete Aspekt von Nietzsches Reprsentationskritik wird am deutlichsten, wenn man Foucaults Begriff des „Monuments“ aus der Einleitung in die Archologie des Wissens von 1969 neben Nietzsches Konzeption einer „monumentalischen Historie“ legt: Diese Lektre ergibt ein Dreieck aus den Konzeptionen von Monument, Grçße und Foucaults Thematik der Macht, die im Zeichen einer anti-idealistischen sthetik konvergieren. Sie lçst den Begriff des Monuments aus seiner idealistischen Umklammerung und bersetzt ihn in eine zeitgençssische sthetik. Doch hat Nietzsches Begriff des „Monumentalischen“ berhaupt etwas mit Foucaults Konzeption des „Monuments“ zu tun? Liegt Nietzsches Kritik des Monumentalen und Protzigen nicht viel zu sehr in der Achse einer Kulturkritik, als dass sie mit Foucaults methodischem Stichwort des Monuments kommunizieren kçnnte? Es war Giorgio Agamben, der zuletzt auf die Verbindung zwischen den beiden in Frage stehenden Texten, zwischen Foucaults Einleitung in die Archologie des Wissens und Nietzsches zweiter Unzeitgemßer Betrachtung hingewiesen hat.4 Wie jede andere intertextuelle Verbindung auch, hat auch diese Konvergenz zwischen Nietzsche und Foucault im Zeichen des Monuments mehr oder weniger offensichtliche Aspekte: Offensichtlich ist die Tatsache, dass beide Texte Arten und Weisen behandeln, die Geschichte zu betrachten; beide Texte entwickeln und befragen eine sthetik der Geschichte oder des Geschichtlichen. Ebenso offensichtlich ist der Befund, dass beide Autoren diese Geschichtsbefragung mit dem konzeptuellen Stichwort des Monuments durchfhren. Was jedoch weniger offensichtlich ist, ist die Tatsache, dass beide Texte mit dem Monument oder dem Monumentalischen eine Reprsentationsbeziehung befragen und eine Re3
4
Vgl. Astrid Deuber-Mankowsky, Reprsentationskritik und Bilderverbot, http:// www.bu.edu/mzank/tr-deutsch/archiv/Bilderverbot.html, letzter Seitenaufruf 15. 1. 2010. Giorgio Agamben, Signatura rerum. Zur Methode, Frankfurt am Main 2009, S. 121.
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prsentationskritik artikulieren. Dieser zweite, verborgene Aspekt einer Reprsentationskritik ist das interne Band, das Nietzsches und Foucaults Konzeptionen des Monuments verbindet – und das sie bis an den Rand einer zeitgençssischen, reprsentationskritischen sthetik fhrt.
Die Reprsentation des Großen Zunchst artikulieren die Stichworte „Monument“ oder „Monumentalisches“ eine einfache Reprsentationsbeziehung: In einem Monument reprsentiert sich etwas, jedes Monument verweist auf etwas, das es „ausdrckt“ und bezeichnet. Auf diese Ausdrucks- oder Reprsentationsbeziehung geht auch die ursprngliche Bedeutung des lateinischen Wortes monumentum zurck, das soviel wie Denkzeichen, Erinnerungszeichen oder Andenken bedeutet: Das Monument denkt an, es erinnert an etwas – vom Knoten im Taschentuch ber das Reiterstandbild bis zur zeitgençssischen Skulptur, die diese Reprsentationsbeziehung verrtselt und befragt. In diesem reprsentierenden Aspekt finden wir auch Nietzsches Begriff des „Monumentalischen“ wieder: Monumentalisch ist fr Nietzsche die Grçße oder das Große, das – in einem historischen Monument oder dem Monument des Historischen – reprsentiert werden will. Nicht nur wenn wir vom Monument handeln, auch wenn wir im sthetischen Sinn vom „Großen“ sprechen, meinen wir also eine Reprsentationsbeziehung. Diese Verschrnkung des Monumentalen mit der Reprsentation des historisch Großen geschieht klassisch in Nietzsches Einfhrung seiner Konzeption der „Monumentalischen Historie“ in der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung: Dass die grossen Momente im Kampfe der Einzelnen eine Kette bilden, dass in ihnen ein Hçhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, dass fr mich das Hçchste eines solchen lngst vergangenen Momentes noch lebendig, hell und gross sei – das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanitt der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht. Gerade aber an dieser Forderung, dass das Grosse ewig sein solle, entzndet sich der furchtbarste Kampf. Denn alles Andere, was noch lebt, ruft Nein. Das Monumentale soll nicht entstehen – das ist die Gegenlosung. (HL, KSA 1, 259)
Wie dieser von Nietzsche ausgefochtene „Kampf“ um die Gçtzenverehrung der monumentalischen Historie auch ausgeht – entscheidend ist hier, dass das Monumentale hier als Reprsentation des „Grossen“ eingefhrt und entwickelt wird. Nietzsche bleibt in der zitierten Stelle aber keines-
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wegs beim Gedanken einer Reprsentation des „Grossen“ stehen; vielmehr besteht die spannende Wendung darin, dass er den Reprsentationsgedanken gegen sich selber wendet, was eine eigenartige Entleerung zur Folge hat. Erst in der Folge dieser Entleerung entsteht das, was man als Reprsentationskritik in einem anti-idealistischen Sinn bezeichnen kann. Dieser – durchaus zeitgençssische oder dekonstruktive – Effekt besteht schlicht und einfach darin, dass Nietzsche die Reprsentationsleistung der monumentalischen Historie bezweifelt. Eine gewisse Entleerung ist bereits an der Stelle zu verzeichnen, an der er im Zusammenhang mit Schopenhauer bemerkt, dass Ruhm aus nichts anderem bestehe als dem „Glauben an die Zusammengehçrigkeit und Continuitt des Grossen aller Zeiten“ (HL, KSA 1, 260). Doch direkt im Anschluss an diesen bereits brchig gewordenen Glauben ans Monument als gelungene Reprsentation des Großen, des „Classischen und Seltenen“ (HL, KSA 1, 260), verschiebt Nietzsche das Argument – eine Verschiebung, deren Achse ihm seine Reprsentationskritik unter derselben Rubrik einzutragen erlaubt, die auch die Reprsentation des Großen verbrgt hatte: unter der des Monuments.
Die Reprsentation des Monuments Nachdem Nietzsche mit dem Verdikt des „Classischen und Seltenen“ einen klassischen Topos der Renaissance aufgerufen hat, kommt er dazu, genau diese Reprsentationsbeziehung zwischen der „Cultur der Renaissance“ (HL, KSA 1, 261) und dem von diesem Topos Bezeichneten in Frage zu stellen: Und doch […] wie fliessend und schwebend, wie ungenau wre jene Vergleichung! Wie viel des Verschiedenen muss […] dabei bersehen, wie gewaltsam muss die Individualitt des Vergangenen in eine allgemeine Form hineingezwngt und an allen scharfen Ecken und Linien zu Gunsten der Uebereinstimmung gebrochen werden! (HL, KSA 1, 261)
Diese kurze, prgnante Reprsentationskritik lsst sich folgendermaßen zusammenzufassen: Das Monument der „Cultur der Renaissance“ reprsentiert nichts, die monumentalische Historie des „Classischen und Seltenen“ verweist auf nichts, denn Beide tilgen das „Verschiedene“ und „Individuelle“ – die Differenz. Gleich im Anschlusssatz wird das Schuldenregister der monumentalen Historie noch przisiert: „Immer wird sie [die monumentale Historie] das Ungleiche annhern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen, immer wird sie die Motive und Anlsse abschwchen,
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um auf Kosten der causae die effectus monumental, nmlich vorbildlich und nachahmungswrdig, hinzustellen.“ (HL, KSA 1, 261) Kurz: Die monumentalische Historie verrt das Gewesene an die Geschichte, denn es reprsentiert sie nicht, obwohl es vorgibt, dies zu tun. In derselben Bewegung, in der das Monument die Vergangenheit zu reprsentieren vorgibt, schiebt es sich selbst und seine Mchtigkeit zwischen beide; whrend wir glauben, durch das Monument hindurch die reprsentierte Vergangenheit zu sehen, erblicken wir an deren Stelle nur das Monument. Die Monumentalisierung der Vergangenheit kommt also ihrem Verrat gleich; indem die monumentale Historie aus der Vergangenheit ein Monument macht, werden gewisse, von Nietzsche aufgezhlte Dinge verwischt und unkenntlich gemacht. Nietzsche macht sich die Mhe, diese Verwischungen genau aufzuzhlen: das Ungleiche werde angenhert, verallgemeinert und gleichgesetzt – es kommt im Monument zu einer Gleichsetzung des Ungleichen. Doch worin besteht diese Ungleichheit und Differenz genau? Und wer ist der große Verallgemeinerer und Gleichsetzer? Diese Fragen sind insofern interessant, als Nietzsche seine Reprsentationskritik der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung von 1874 im gleichen Moment entwickelt wie die Sprachkritik von „Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinn“ von 1873, ein Jahr davor – mit dem gleichen Argument. Whrend in er zweiten Unzeitgemßen Betrachtung die (monumentalische) Geschichte der große Gleichmacher ist, war es in Wahrheit und Lge die Sprache. Das Argument ist in beiden Fllen das gleiche: eine fundamentale Reprsentationskritik, die gegenber Sprache und Geschichte – oder gegenber der Sprache der Geschichte – artikuliert wird: Genau so wie die monumentalische Historie das von ihr reprsentierte nicht wirklich vertritt, weil sie zu allgemein und gleichmacherisch ist, als genau so gleichmacherisch und allgemein hatte Nietzsche in Wahrheit und Lge die Sprache denunziert. Was in der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung dagegen ins Auge fllt, ist ein noch ber die reine Reprsentationskritik hinausgehendes Argument. Es wurde am Ende der bereits zitierten Stelle eingefhrt, als Nietzsche davon sprach, die monumentale Historie werde „die Motive und Anlsse abschwchen, um auf Kosten der causae die effectus monumental, nmlich vorbildlich und nachahmungswrdig, hinzustellen“ (HL, KSA 1, 261). Ein einigermaßen fundamentaler Vorwurf: Die monumentalische Historie spiele die Wirkungen historischer Ereignisse gegen ihre Ursachen aus, sie vergesse und tilge also das eigentlich Gewesene zu Gunsten von dessen (monumentalen) Reprsentationen und Effekten. An diesen Verdacht schließt Nietzsche folgende Schlussfolgerung an: „So dass man sie
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[die monumentalische Historie], weil sie mçglichst von den Ursachen absieht, mit geringer Uebertreibung eine Sammlung der ,Effecte an sich nennen kçnnte, als von Ereignissen, die zu allen Zeiten Effect machen werden.“ (HL, KSA 1, 261 f.) Was Nietzsche hier formuliert, ist ein epochaler Vorwurf, ein fundamentaler Verdacht: Die monumentalische Historie und vielleicht jede Geschichte im allgemeinen, ist ein Effekt an sich, sie kreist nur um sich selbst. Sie bildet nichts ab und reprsentiert nichts. Die Heldenlegenden unserer Kultur sagen nur etwas ber sich selbst aus, die Geschichte des Großartigen ist ein Selbstgesprch, in dessen Verlauf sich die Kultur selbst einflstert, was sie gern hçren mçchte. Die Geschichte des Großen und Großartigen: wishful thinking. Auch die Konsequenzen dieser Wunschbildproduktion der Kultur werden von Nietzsche drastisch geschildert: Und zwar sei die Geschichtsschreibung im Modus des Monumentalen „in der Gefahr, etwas verschoben, in s Schçne umgedeutet und damit der freuen Erfindung angenhert zu werden; ja es giebt Zeiten, die zwischen einer monumentalischen Vergangenheit und einer mythischen Fiction gar nicht zu unterscheiden vermçgen“ (HL, KSA 1, 262). Und so kommt Nietzsche zu dem Schluss: Regiert also die monumentalische Betrachtung des Vergangenen ber die anderen Betrachtungsarten, ich meine ber die antiquarische und kritische, so leidet die Vergangenheit selbst Schaden: ganze grosse Theile derselben werden vergessen, verachtet und fliessen fort wie eine graue ununterbrochene Fluth. (HL, KSA 1, 262)
An der von Nietzsche entwickelten Figur ist das eigentlich Perfide jedoch, dass die geschilderte Verachtung der Vergangenheit paradoxerweise Rckwirkungen auf das eigentlich Gefeierte hat: nmlich das Große. Die Feier vergangener Grçße ersticke die lebendige im Keim, die Verehrung des Großen kehre sich letzten Endes gegen die Verehrer, so Nietzsches bekannte Kulturkritik: Denn sie wollen nicht, dass das Grosse entsteht: ihr Mittel ist zu sagen: „Seht, das Grosse ist schon da!“ In Wahrheit geht sie dieses Grosse, das schon da ist, so wenig an, wie das, was entsteht […]. Die monumentalische Historie ist das Maskenkleid, in dem sich ihr Hass gegen die Mchtigen und Grossen ihrer Zeit fr gesttigte Bewunderung der Mchtigen und Grossen vergangener Zeiten ausgiebt, in welchem verkappt sie den eigentlichen Sinn jener historischen Betrachtungsart in den entgegengesetzten umkehren; ob sie es deutlich wissen oder nicht, sie handeln jedenfalls so, als ob ihr Wahlspruch wre: lasst die Toten die Lebendigen begraben. (HL, KSA 1, 264)
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Diese Totengrberei der Vergangenheit an der Gegenwart fhre also zur Zerstçrung des Zeitgençssisch-Großen; in diesem Kampf des vergangenen Großen gegen das zeitgençssische Große geht am Ende jede Grçße verloren: Reprsentiert wird nicht nur die alte statt der neuen Grçße, sondern am Ende berhaupt nichts mehr: Weder das „Grosse, das schon da ist“, noch „das, was entsteht“, interessiert und wird aus diesem Grund reprsentiert. Stattdessen bringt der interne Kampf der Grçßen jede Reprsentation zum Einsturz. Im Kern seines Arguments koppelt Nietzsche die monumentalische Historie entschieden von jeder Reprsentation ab. Das historische Monument reprsentiert nichts, es bildet nichts ab außer sich selbst. Was vom historischen Monument – und jeder Monumentalisierung – gefeiert wird, hat mit dieser Historie nichts zu tun; die Historie ist vielmehr ein Vorwand fr die Inszenierung eines „Effects an sich“: „Das, was bei Volksfesten, religiçsen oder kriegerischen Gedenktagen gefeiert wird, ist eigentlich ein solcher ,Effect an sich.“ (HL, KSA 1, 262)
Das Dokument bei Foucault Man msste diese Reprsentationskritik vielleicht nicht derart hoch veranschlagen, wre sie nicht von einem anderen Autoren unter dem gleichen Label weitergefhrt und ins 20. Jahrhundert bersetzt worden: Auch Michel Foucault operiert 1969 in seiner Einleitung in die Archologie des Wissens an prominenter Stelle mit einem Begriff des Monuments; dieser Begriff hebt auch bei Foucault ebenso wie bei Nietzsche weniger auf Denkmler oder historische Bauwerke ab, sondern einzig und allein auf Arten und Weisen der Geschichtsbetrachtung; und schließlich wird der Begriff des Monuments von Foucaults ebenso reprsentationskritisch besetzt wie vorher von Nietzsche – weswegen Agambens Hinweis auf die Nhe zwischen Foucaults Archologie und Nietzsches zweiter Unzeitgemßer Betrachtung nur zuzustimmen ist. Auch Foucaults Monument bildet nicht ab, wie Nietzsches „monumentalische Historie“ instituiert es eine eigene Ordnung. Bei Foucault wird diese Reprsentationskritik im Zeichen des Monuments jedoch noch wesentlich deutlicher und methodischer durchgefhrt als von Nietzsche, weswegen sie auch weniger bergangen wurde. Foucault bersetzt die nicht reprsentierende Geschichtsbetrachtung in einen Begriff – des Monuments –, der gegen das reprsentierende Dokument gesetzt wird: Das nicht reprsentierende Monument ist bei Foucault der komplementre Gegenspieler des reprsentierenden Dokuments. Das Dokument steht bei Foucault fr den reprsentierenden, ab-
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bildenden und rekonstruierenden Modus der hermeneutischen Geschichtsbetrachtung: Seit es eine Disziplin wie die Geschichte gibt, [hat] man Dokumente benutzt, sie befragt, sich Fragen ber sie gestellt; man hat ihnen nicht nur die Frage nach ihrer Bedeutung gestellt, sondern auch gefragt, ob sie wohl die Wahrheit sagten und kraft wessen sie das beanspruchen konnten, ob sie aufrichtig oder verflschend waren, gut informiert oder ignorant, authentisch oder verndert. Jede dieser Fragen aber und jene ganze große kritische Unruhe zielten auf ein Gemeinsames hin: die Rekonstruktion der Vergangenheit, aus der sie kommen und die jetzt fern hinter ihnen sich verflchtigt hat […].5
Die Verflchtigung der Vergangenheit hinter dem Dokument, die Verselbstndigung der monumentalen Historie im Zeichen von Nietzsches „Effect an sich“ scheint fr Foucault also das Hauptargument gegen die Geschichtsbetrachtung im Zeichen des Dokuments zu sein. Zwar verschieben sich die Begriffe Dokument/Monument in der zitierten Stelle signifikant; bei Foucault ist es plçtzlich nicht mehr das Monument, sondern das Dokument, das nicht mehr reprsentiert. Doch trotz dieser internen Verschiebung ist fr Foucault Ausschlag gebend, dass das historische Dokument wenigstens noch mit dem Anspruch der Reprsentation der Vergangenheit operiert. Die „Aufgabe“ der Geschichte angesichts des Dokuments war es gewesen, „es zu interpretieren, […] zu bestimmen, ob es die Wahrheit sagt oder nicht und welches sein Ausdruckswert ist […]“6. Foucaults Konzeption des Dokuments wird also ganz auf die Reprsentation und Rekonstruktion der Vergangenheit hin ausgerichtet. Das wird einige Zeilen spter deutlich, wo es heißt: Das Dokument ist „also fr die Geschichte […] jene unttige Materie, durch die hindurch sie das zu rekonstruieren versucht, was die Menschen gesagt oder getan haben, was Vergangenheit ist und wovon nur die Spur verbleibt“7. Entscheidend ist an dieser Stelle die Dynamik zwischen Prsentation und Reprsentation, Prsenz und Reprsentanz, die Foucault hier entwickelt: Die Geschichtsbetrachtung im Zeichen des Dokuments hatte versucht, die Vergangenheit zu rekonstruieren, weswegen alle historischen Dokumente von ihr auf ihren reprsentierenden Wert ausgelegt wurden: Die Prsenz des Dokuments, seine Materialitt, wurde dagegen vergessen, damit hinter ihm die Reprsentation der Vergangenheit sichtbar werden konnte. Das Dokument wurde also in eine „unttige Materie“ verwandelt, 5 6 7
Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 14. Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 14. Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 14.
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„durch die hindurch“ – und das ist wichtig – die Geschichte ihr Bild „zu rekonstruieren versucht“. Anders gesagt: Man muss durch das Dokument hindurch sehen, um hinter ihm die Vergangenheit rekonstruieren zu kçnnen, man muss die Materialitt und Prsenz des Dokuments zerstçren, um es zum Reprsentieren zu bewegen: Die Reprsention bedeutet den Tod des Prsentierten – dieser Topos ist aus der Kritik der Prsenz-Metaphysik der 1960er Jahre durchaus vertraut. Tatschlich aber muss Foucault nicht nur mit dieser Tradition einer Kritik der Hermeneutik vertraut gewesen sein, sondern auch ein ausgeprgtes Gespr fr die Materialitt des Dokuments besessen haben, dessen Prsenz- und Materialittsverlust hier beklagt wird.
Foucaults Monument Denn so immateriell und transparent das Dokument angelegt wird, so materiell und opak legt Foucault seine Konzeption des Monuments an, die dem Dokument gegenber gestellt wird: Whrend der Begriff des Dokuments ausschließlich auf seinen reprsentierenden Wert hin angelegt wurde, ist das Monument fr Foucault schlechthin areprsentativ: Das Monument reprsentiert nicht. Das nicht reprsentierende Monument liefert Foucault den Gegenbegriff zur reprsentierenden Geschichtsbetrachtung des Dokuments: Whrend die Geschichtsbetrachtung im Zeichen des Dokuments durch dasselbe hindurch geschaut hatte, um hinter ihm das Bild der Vergangenheit zu erblicken, tut die Geschichtsbetrachtung im Zeichen des Monuments genau das Gegenteil: Sie blickt auf die Materialitt des historischen Dokuments selbst, das auf diese Weise in ein Monument transformiert wird. Das Monument konstituiert sich also durch die Arbeit „im dokumentarischen Gewebe selbst“8 – und nicht etwa durch die Reprsentation des hinter ihm liegenden Bildes. Es wird „von innen bearbeitet“ und „ausgearbeitet“9, die Geschichtsbetrachtung des Monuments „organisiert es, zerlegt es, verteilt es, ordnet es, teilt es nach Schichten auf […]“10. Man bemerkt das Materieller-Werden von Foucaults Beschreibung; was hier geschildert wird, ist eben nicht jene „unttige Materie“ namens Dokument, sondern umgekehrt ein Ttigwerden der
8 Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 14. 9 Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 14. 10 Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 14.
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Materie: Was Foucault Monument nennt, entsteht durch die Arbeit mit oder in der Materialitt des Dokuments. Genau das ist das Verwirrende an Foucaults Konzeption des Monuments: Mit „Monument“ ist hier kein Bauwerk und keine materiell gebundene Substanz gemeint, sondern allein eine Art und Weise der „materielleren“ Geschichtsbetrachtung. Auch das Monument meint also historische Dokumente – und keine archologischen Monumente im eigentlichen Sinn des Worts –, die jedoch durch eine „materielle“ Art der Geschichtsbetrachtung in „Monumente“ transformierbar werden. Diese mçgliche Materialitt der Konzeption des Monuments ist auch der Grund fr seine Nicht-Reprsentation: Weil Foucaults Monument erst aus der Arbeit „im dokumentarischen Gewebe selbst“ entsteht, weil die Geschichtsbetrachtung des Monuments auf dessen Materialitt blickt und nicht auf das von ihr gezeigte Bild, weil sie nicht durch das Bild hindurch blickt, sondern es anblickt, reprsentiert Foucaults Monument ebenso wenig wie das abstrakte oder modernistische Tafelbild (auf das ich gleich zurckkomme).
Die Frage der Reprsentationskritik Doch genau in dem Moment, in dem die Konzeption des Monuments bei Foucault ebenso reprsentationsfern angelegt zu sein scheint wie Nietzsches monumentalische Geschichte, taucht eine Frage auf: Hatte Nietzsche die Nicht-Reprsentation der monumentalischen Historie nicht angegriffen und kritisiert, whrend Foucault seine Konzeption des Monuments mit positiven Vorzeichen versieht? Weisen Nietzsches monumentalische Geschichte und das Monument bei Foucault nicht in entgegen gesetzte Richtungen? Der Durchlauf durch beide Positionen erlaubt in der Tat eine gewisse Differenzierung: Whrend es sich bei Nietzsches Angriff auf die monumentalische Historie um eine veritable Reprsentationskritik handelt, legt Foucault seine Konzeption des Monuments nur reprsentationsfern an. Kritisiert wird von ihm nicht wie von Nietzsche, dass das Monument nicht reprsentiert; die Vorzeichen der Nicht-Reprsentation werden von Foucault umgekehrt, so dass plçtzlich nicht mehr die Nachteile, sondern die Vorzge der Nicht-Reprsentation im Vordergrund stehen. Fr Foucault ist das Monument nicht – wie fr Nietzsche die monumentalische Geschichte – zu kritisieren, weil es eine Reprsentation der Vergangenheit vorgibt, die es nicht einlçst; weil Foucaults Monument
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glcklicherweise nicht reprsentiert, kann man sich umgekehrt seiner Prsenz und Materialitt zuwenden. Der Clou der Verbindung zwischen Nietzsche und Foucault im Zeichen des Monuments liegt also darin, dass die Vorzeichen der Reprsentationskritik auf dem Weg zwischen beiden Autoren umgekehrt werden: Zwar ist die Vorstellung des Monuments oder des Monumentalen fr Foucault ebenso reprsentationskritisch besetzt wie fr Nietzsche, Foucaults Monument bildet ebenso wenig ab wie Nietzsches monumentalische Geschichte; doch wird diese Reprsentationskritik von beiden Autoren gegenteilig bewertet: Im 20. Jahrhundert ist die Vorstellung der NichtReprsentation nicht nur nicht mehr anstçßig, umgekehrt wird – in einer Art Rache an der Hermeneutik – die Gegenrechnung der Last der Reprsentation aufgemacht: Das Monument erscheint plçtzlich als Befreiung von der Last der Reprsentation. Doch bleibt nicht doch ein Gegensatz, spielen beide nicht auf unterschiedlichen Spielfeldern mit verschiedenen Gegnern? Hatte Nietzsche nicht die monumentalische Geschichte angegriffen, whrend Foucault das Dokument attackiert? In der Tat: Auf dem Weg von Nietzsche zu Foucault findet nicht nur eine Umkehrung von Vorzeichen statt, vom 19. ins 20. Jahrhundert ereignet sich auch ein Austausch der Begriffe: Was von Nietzsche unter dem Stichwort der monumentalischen Geschichte angegriffen wird, findet sich bei Foucault nicht unter der Konzeption des Monuments, sondern des Dokuments. Es ist Foucaults Dokument, das wie Nietzsches monumentalische Geschichte eine Reprsentation der Vergangenheit vorgibt – die am Ende ebenso wenig eingelçst werden kann wie von der monumentalischen Geschichte. Kurz: Whrend Nietzsche die monumentalische Geschichte dafr kritisiert, dass sie nichts Tatschliches reprsentiere und ein selbstgeflliger „Effect an sich“ sei, feiert Foucault seine Geschichtsbetrachtung im Zeichen des Monuments, die nicht mehr reprsentieren soll, was sie nicht reprsentieren kann. Auch wenn die Reprsentationsferne in beiden Konzeptionen identisch ist – was hat sich epistemologisch zwischen 19. und 20. Jahrhundert getan, weshalb verkehren sich die Vorzeichen der Bewertung der Reprsentation zwischen Nietzsche und Foucault? Und weshalb findet sich, was Nietzsche unter dem Stichwort der monumentalischen Geschichte kritisiert, bei Foucault schließlich unter dem Stichwort des Dokuments wieder? Gewiss lassen sich fr diese epistemischen Verschiebungen mindestens drei Grnde anfhren: Die Begriffsverschiebung – manche wrden sicher sagen: Begriffsverwirrung – zwischen Dokument und Monument ist zunchst so zu erklren, dass es sich sowohl bei Nietzsches monumentaler
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Geschichte als auch bei Foucaults Konzeption des Monuments um changierende Begriffe oder Doppelbegriffe handelt, die zwischen Monument und Dokument oszillieren: Nietzsches monumentale Geschichte changiert zwischen beiden, weil es sich einerseits um Geschichte und also die Wissenschaft der Dokumente handelt – die aber andererseits derart aufgeblasen und „monumentalisiert“ werden, dass Nietzsche im Einverstndnis mit dem Sprachgebrauch seines Jahrhunderts von einer „monumentalischen“ Geschichte sprechen kann.11 Foucaults Konzeption des Monuments wiederum changiert mit seiner Konzeption des Dokuments, weil seine Geschichtsbetrachtung im Zeichen des Dokuments erst durch eine spezifische und materielle Bearbeitung zum Monument wird. Schließlich sei die Geschichte „heutzutage […] das, was die Dokumente in Monumente transformiert“12.
Monument und Modernismus Doch gewiss existieren nicht nur diskursinterne Grnde fr die Diagnose einer Umkehrung der Einschtzung der Reprsentation; gewiss hat sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Einschtzung der Reprsentation in einer gesamten Kultur verndert, vielleicht ist der Glaube oder die Mçglichkeit der Reprsentation von Wirklichkeit in dieser Zeit zusammengebrochen, wofr diverse, auch diskursexterne Anzeichen existieren. Erwhnen wir nur jene, auf die Foucault sich beziehen wird: Die illusionistische Tafelbildmalerei kommt an ein Ende, mit dem Impressionismus setzen die historischen Avantgarden ein, die klassische, nicht mehr reprsentierende Moderne setzt sich durch, der Diskurs des Modernismus wird formuliert, kurz: Die Kultur der Reprsentation und die Reprsentation der Kultur verndern sich am Beginn des 20. Jahrhunderts bahnbrechend. Nicht zuletzt durch den Einfluss der exakten Wissenschaften brechen Weltbilder ein wie Bauklçtze. Dabei geht es nicht darum, den klassischen Diskurs der Moderne nachzubeten und die Mythen des Modernismus zu wiederholen, um sie der Philosophie zu unterlegen – stattdessen ist nach einem Punkt Ausschau zu halten, an dem der Diskurs des Modernismus mit Foucaults Diskurs des Monuments konvergiert. Denn tatschlich verlaufen beide Diskurse par11 Horst Bredekamp, Einleitung, in: Ferdinand Piper, Einleitung in die monumentale Theologie. Eine Geschichte der christlichen Kunstarchologie und Epigraphik, Mittenwald 1978, Anm. 1. 12 Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 15.
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allel, Foucaults Konzeption des Monuments scheint vom Diskurs des Modernismus unterlegt zu sein, seine Reprsentationskritik des historischen Dokuments verluft parallel zu Greenbergs Diskurs der modernistischen Kritik des malerischen Illusionismus. Ebenso wie das historische Dokument eine Vergangenheit nur reprsentiert, gibt auch das illusionistische Gemlde nur vor, die abgebildete Wirklichkeit zu reprsentieren. Und ebenso wie Greenbergs Modernismus gefordert hatte, von der abgebildeten Realitt zur Realitt des Bildes zu kommen, msse auch das Dokument nicht mehr auf seine abbildende Funktion hin untersucht werden, sondern im Hinblick auf ihr „dokumentarisches Gewebe selbst“.13 Lsst sich nicht sagen, auch wenn der Diskurs des Modernismus hier nur sehr verkrzt abgehandelt ist, dass die modernistische Malerei in der Beschftigung mit ihrem „dokumentarischen Gewebe selbst“ besteht und daher „zum Monument tendiert“, wie Foucault schreibt? Hat nicht das moderne Tafelbild, von Czanne und Manet bis heute, gelernt, sich mit den Bedingungen seiner eigenen Materialitt zu beschftigen und die Transparenz der Reprsentation durch die Opazitt des Bildtrgers zu ersetzen? Steht der modernistische Bilddiskurs also im Zeichen des Monuments und Foucaults Konzeption des Monuments vice versa im opaken Licht der modernistischen Malerei? Zur Probe dieser Hypothese wre der Diskurs der modernistischen Malerei in Foucaults Termini zu deklinieren: als Wechsel vom Dokument zum Monument, vom Hindurchblicken durch das Gemlde als jene „unttige Materie, durch die hindurch“ [Kursivierung K.E.] das klassische Bild etwas zeigte, hin zur Arbeit mit dem Material der Malerei, das „von innen bearbeitet“ und „ausgearbeitet“ wird, das „organisiert, zerlegt, verteilt und geordnet“ wird, das „nach Schichten aufgeteilt wird“14. Kurz: Ebenso wie die modernistische Malerei gelernt hat, sich mit dem Bild als Objekt zu beschftigen, wird Foucault das historische Dokument als Objekt untersuchen – das dann auf die Seite des Monuments berwechselt. Es scheint also durchaus mçglich, den Diskurs des Modernismus als Schablone auf Foucaults sthetik des Monuments zu legen. Woher kommt diese Konvergenz zweier Diskurse? Und noch einmal gefragt: Gibt es einen Punkt, an dem klassischer Modernismus und Monument Foucaults konvergieren? Diesen Punkt gibt es in der Tat; er lautet schlicht „Manet“. 13 Auf die Parallele zwischen Greenberg und Foucault haben zuerst hingewiesen: Carolin Meister, Wilhelm Roskamm, Schriften zur Kunst, in: Clemens Kammler et al. (Hrsg.), Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2008, S. 119. 14 Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 14.
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Der Punkt der Abkehr von der illusionistischen Reprsentation des Tafelbilds, der in der Geschichte der Malerei mit dem Namen Manet belegt wird, konvergiert mit einer Station im Leben Foucaults, an der er sich mit diesem Punkt der Geschichte der Malerei beschftigte – dabei handelt es sich nicht zufllig um den gleichen Punkt, an dem auch die Konzeption des Monuments ausgearbeitet wurde: Seit 1964 beschftigt sich der junge Philosoph mit der Malerei Edouard Manets, 1967, also unmittelbar whrend der Niederschrift der Archologie des Wissens, hlt er einen Vortrag ber Manet in Mailand.15 Diese Deutung wird in diversen Vortrgen ausgearbeitet, in der Monument, Modernismus und Manet tatschlich konvergieren. Foucault, der anlsslich des Gegenstands der Malerei Manets den Blick auf das Reprsentierte zu Gunsten der monumentalischen Materialitt des Bildtrgers fallen lsst, hat also, anders als Nietzsche, die Erfahrung der modernen Kunst gemacht; seine Sensibilitt fr die Materialitt des historischen Dokuments und das Dokument als Objekt kçnnte von jenem Objekt namens Malerei her rhren, das ihn viele Jahre lang begleitete. Denn offenbar war nicht nur die Geschichte „heutzutage […] das, was die Dokumente in Monumente transformiert“16, sondern auch die Malerei – was an uns heute die Frage stellt, ob wir noch Zeitgenossen dieses Tages sind, der 1969 noch heutig war.
15 Michel Foucault, Die Malerei von Manet, Berlin 1999. Vgl. Carolin Meister, Wilhelm Roskamm, Schriften zur Kunst, in: Clemens Kammler et al. (Hrsg.), Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2008, Anm. 8. 16 Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1971, S. 15.
V. Sinn fr das Kleine und Sprachspiele
Rechtschaffenheit des Kleinen Nietzsches sthetische Auffassung zwischen „großem Stil“ und kurzer Form
Elisabetta Mengaldo Die scharfe Kritik, mit der der spte Nietzsche den einst verehrten Richard Wagner traktiert, ist bekannt genug.1 Es sei hier nur eine seiner Polemiken hervorgehoben, die fr meine Fragestellung wichtig ist. In einer berhmten Passage aus Der Fall Wagner schreibt Nietzsche Wagner „Unfhigkeit zum organischen Gestalten“ (WA, KSA 6, 28) zu: Wagner sei des „großen Stils“ unfhig, der in der nchternen, harmonisierten und starken Durchformung besteht und Ausdruck eines „siegreichen Willens“ ist. Bei ihm wie bei jedem Stil der dcadence, dessen Untersuchung bei Nietzsche entscheidend von Paul Bourget beeinflusst wurde, verselbstndigt sich das Detail, sodass „das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt“ (WA, KSA 6, 27) und das Werk atomisiert und formlos ist. Das Objekt der Kritik ist neu, aber das Thema, an das Nietzsche hier rhrt, begegnet uns nicht zum ersten Mal, und mit seiner Polemik greift er einige Argumente der antiken Auseinandersetzung zwischen Attizismus und Asianismus wieder auf. Der Stil, der den dekadenten Wagner kennzeichnet, hnelt dem, der schon frher (im Aph. 144 der Vermischten Meinungen und Sprche; VM, KSA 2, 437 ff.) als schwulstig-barock denunziert wurde: Keine ausgeglichene, durchkomponierte und zielstrebige 1
Zu Nietzsches Wagner-Rezeption siehe u. a. Thomas Baumeister, Stationen von Nietzsches Wagnerrezeption und Wagnerkritik, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 288 – 309, sowie die Sektion 3. („Friedrich Nietzsche und Richard Wagner“) in Nietzsche-Forschung 2 (1995), S. 143 – 375. Auf musikwissenschaftliche und -interpretatorische Details sowie auf die in dieser Hinsicht wichtigen Briefe Nietzsches an den Danziger Pianisten Carl Fuchs geht Dieter Schellong ein in seinem Aufsatz „… und im Kleinsten luxurirt“. Zur Bedeutung von Nietzsches Diagnose der Dcadence in der Musikpraxis, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 412 – 436. Zum Begriff „großer Stil“ in Verbindung mit Nietzsches spter Musiksthetik siehe ferner Frederick R. Love, Nietzsche s Quest for a New Aesthetic of Music: „die allergrçßte Symphonie“, „großer Stil“, „Musik des Sdens“, in: NietzscheStudien 6 (1977), S. 154 – 194.
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Grçße, sondern unkontrollierte Wucherung, Beredsamkeit der Quantitt und reihende Amplifikation, wie im wagnerschen Leitmotiv.2 Wie der Barockstil im 17. Jahrhundert, so verkçrpert der Stil Wagners, im Gegensatz etwa zur „afrikanischen“, rauschhaft-grausamen Musik Bizets, den Verfall der Kultur. Durch diesen megalomanen und unehrlichen Willen zum großen Stil, durch die „Lge des großen Stils“, d. h. die Betrgerei in der Nachbildung großer Formen, verdeckt Wagner laut Nietzsche sein großes Talent: die „Erfindung des Kleinen“, die „Ausdichtung des Dtails“, die ihn zum grçßten „Miniaturisten der Musik“ machen (WA, KSA 6, 28). Und in der Zweiten Nachschrift zum Fall Wagner heißt es sogar: „Alles, was heute in der Musik auf ,großen Stil Anspruch macht, ist damit e n t w e d e r falsch gegen uns o d e r falsch gegen sich. […] Was heute gut gemacht, meisterhaft gemacht werden kann, ist nur das Kleine. Hier allein ist nur Rechtschaffenheit mçglich.“ (WA, KSA 6, 48) Es ist oft bemerkt worden,3 dass Nietzsche mit diesem Lob der Miniatur indirekt auf seine eigene Aphorismenkunst anspielt, die eine ußerste Verdichtung des sprachlichen Materials mit einer grundstzlichen hermeneutischen Offenheit verbindet und deren mosaikartige Verstreuung fr ihn das Versuchsfeld seiner stilistischen Vielheit4 und seines erkenntnistheoretischen Perspektivismus darstellt. Dass solche „Rechtschaffenheit des Kleinen“ nicht nur die Musik, sondern auch Nietzsches philosophische Schreibweise selbst betrifft, legen mehrere Behauptungen nahe, die seine Poetik des Kleinen mit der Notwendigkeit des antisystematischen Denkens in Verbindung bringen, insbesondere ein kurzer Aphorismus aus der Gçtzen-Dmmerung: „Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“ (KSA,WA, 6, 63) Die folgenden Betrachtungen werden auf zwei Fragen eingehen: 1) Das Problem der kleinen Form und des großen Stils: Wieso beansprucht Nietzsche fr sich das Vermçgen zum „echten“ großen Stil, den er Wagner 2
3 4
Siehe dazu z. B. Peter L. Oesterreich, Der große Stil? Nietzsches sthetik der Macht-Beredsamkeit und ihre ethische Fragwrdigkeit, in: Josef Kopperschmidt/ Helmut Schanze (Hrsg.), Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“, Mnchen 1994, S. 159 – 169. Z.B. von Eva Strobel, Das „Pathos der Distanz“: Nietzsches Entscheidung fr den Aphorismenstil, Wrzburg 1998, S. 192 ff. Von „viele[n] Mçglichkeiten des Stils“ als Entsprechung der „Vielheit innerer Zustnde“ spricht Nietzsche selbst in Ecce Homo (EH, KSA 6, 304). Diese Theorie, die sich auch antiken Dichtungslehren verdankt, ist jedoch schon in den frhen Werken, vor allem in Die dionysische Weltanschauung, angelegt.
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und der dekadenten Kunst abspricht? Wieso gilt fr ihn nicht das, was fr seine zeitgençssische Musik gilt, nmlich dass jeder Anspruch auf großen Stil eine „Falschmnzerei“ ist? Es gilt im Folgenden nicht nur zu zeigen, dass kurze Form und großer Stil nicht unversçhnlich sind, sondern dass fr Nietzsche die aphoristisch-essayistische Form die beste Form fr die Entfaltung seines Ideals des „großen Stils“ ist.5 2) Auf welche Weise sind Rechtschaffenheit als sthetisches Paradigma (in der Kunst des Kleinen) und Rechtschaffenheit – bzw., çfter, Redlichkeit – als Denkethik (in diesem Kontext vor allem im antisystematischen Willen) bei Nietzsche gekoppelt?
Großer Stil und kurze Form Entscheidend fr die aphoristische Schreibweise ist die Kontrolle der Sprachmittel, die Fesselung (nach einer Metapher, die schon bei Voltaire begegnet und die Nietzsche teuer ist6), damit ein geschlossener und ausgeglichener kleiner Text entsteht, dessen explosive Kraft durch eine in einem syntaktischen Minimum formierte semantische Dichte erzeugt wird, wie in diesem dafr exemplarischen kleinen Text aus Menschliches, Allzumenschliches: „D a n k . – Eine feine Seele bedrckt es, sich Jemanden zum Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem.“ (MA, KSA 2, 246) Hier gelingt es Nietzsche, in zwei von demselben Hauptsatz abhngigen Nebenstzen die semantische Opposition durch Umkehrung des Kasus und allein mittels einer Buchstabennderung im selben Substantiv (d. h. mit der rhetorischen Figur des Polyptoton) zu schaffen. 5
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Im Folgenden werde ich aus meinen berlegungen ber Nietzsches Poetik des großen Stils und der aphoristischen Form den Zarathustra ausklammern. Obwohl die aphoristisch-spruchhaften (mit einer Zuspitzung ins Formelhafte) Qualitten dieses Werks auffllig sind und mehrmals von der Forschung betont wurden (s. etwa Aldo Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, Berlin/ New York 2003, hier Kap. „Zarathustra und der Geist des Aphorismus“, S. 85 – 124), verschrnken sie sich in diesem Text mit zwei anderen großen Merkmalen, deren Untersuchung die Blickrichtung stark verschieben und die Grenzen dieses Beitrags sprengen wrde: Einerseits die starken, obwohl hoch stilisierten erzhlerischen Zge, andererseits eine mit letzteren einhergehende bewusste parodistische Imitation des biblischen Stils. Vgl. Der Wanderer und sein Schatten, vor allem Aph. 122, 140 und 159 (WS, KSA 2, jeweils 604 f., 612 und 618), mit dem Bild der Fesseln bzw. Ketten als Metapher fr die Konvention, die sich jeder klassische Knstler und Dichter auferlegt, im Gegensatz zur „Originalittswut“ und zur Konventionsangst der Modernen, die letztendlich eine dem Wagnerschen schwlstigen Stil hnliche Dispersion erzeugt.
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Das Ideal eines „gefesselten“ und gedrngten Stils scheint also das Gegenprogramm zum Barockstil und dekadenten Stil zu sein, die in der Entfesselung, d. h. im Verschwinden der organisierenden Kraft und in einer Verschwendung der Ausdrucksmittel als Ersatz fr den Verlust der nchternen Strke des Ausdrucks und der Notwendigkeit der Erzhlung bestehen. hnlich klingt auch Nietzsches Auffassung zum großen Stil als Ideal. Der große Stil „will einen starken Grundwillen und verabscheut am meisten die Zerfahrenheit“ (NF, KSA 11, 97) und verlangt „wenige Hauptstze, diese im strengsten Zusammenhang; kein Esprit, keine Rhetorik“ (NF, KSA 12, 303). Also auch hier genau das Gegenteil des barocken Stils, jedoch zugleich auch – wie man hinzufgen kçnnte – eine Abgrenzung vom aufklrerischen, pointierten Stil der psychologischen Betrachtung, wie ihn Nietzsche vor allem in Menschliches, Allzumenschliches praktiziert hatte. Nietzsches spte Poetik richtet sich implizit auch gegen die Tradition des Aphorismus als Witz und esprit, die Lichtenberg und dann – jedoch mit einer strkeren Betonung von erkenntnistheoretischen Fragen7 – Friedrich Schlegel verfolgt hatten. Die fr aphoristische Texte typische Apodiktik, die tendenziell jede Argumentation verweigert, kennzeichnet auch den großen Stil, der weder gefallen noch berreden will, sondern einfach „befiehlt“ und „will“ und damit Ausdruck des Willens zur Macht ist, einer Macht, die „in sich ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen“ (GD, KSA 6, 119). Die beste Verwirklichung des großen Stils lsst sich nach Nietzsche in der Architektur beobachten als einem stndigen Kampf gegen die Schwerkraft, als Streben aller Krfte in die Hçhe. Bezeichnenderweise hlt er nicht die Gotik, sondern Palazzo Pitti fr das hçchste Beispiel von großem Stil in der Baukunst (Siehe dazu NF, KSA 13, 246.): Nicht so sehr bzw. nicht nur, weil die Gotik christliche Kunst schlechthin ist, sondern weil sie, genau wie der Barockstil oder die dekadente Musik Wagners8, eine Sptfrucht darstellt, die durch das Prunkhaft-Berauschende ihren Mangel an schlichter und zugleich gewaltsamer Formgebung des Chaos verrt, whrend der florentinische Palazzo Pitti eher an die dorische Baukunst und an ihre Ver7
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Gerard Neumann hat gezeigt, wie der deutsche Aphorismus um 1800 eine Wendung ins Transzendentale aufweist, die ihn von der frheren Tradition und vor allem von seinen franzçsischen Vorbildern unterscheidet (Gerard Neumann, Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, Mnchen 1976). „Wagner: der kein Ende zu finden wußte und auch dies zu einem Princip machte: auch eine Gothik.“ (NF, KSA 11, 483)
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bindung von Maß und Macht erinnert.9 Das oben genannte Gebot der Parataxe („wenige Hauptstze, diese im strengsten Zusammenhang“) entspricht auch diesem Ideal eines eben „lapidaren“ Stils. Der Begriff des großen Stils ist also nicht an eine klassizistische sthetik des Schçnen als „Harmonischen“ und „Ausgeglichenen“ gekoppelt, sondern eher als „formstark“ zu verstehen und steht in Verbindung mit der (ebenso antiwagnerianischen) Neubestimmung der dionysischen sthetik im Sptwerk Nietzsches, wie Karl Heinz Bohrer betont hat.10 Die Chiffre Dionysos reprsentiert nicht mehr das Orgiastische, sondern einerseits das Maßstabhafte und Machtsichere, also ein neues „Pathos der Form“ (Rausch als „hohes Machtgefhl“: NF, KSA 13, 294); andererseits die neue Oberflchen-sthetik, die eine Poetik der Maske, der Heiterkeit als „Ruhe im Schrecken“ mit sich bringt und als Verbergung der Tiefe zu verstehen ist, wie in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Frçhlichen Wissenschaft (1886) steht: Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu l e b e n : dazu thut Noth, tapfer bei der Oberflche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Tçne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflchlich – a u s T i e f e ! (FW, KSA 3, 352)
Die Notwendigkeit der Dissimulation „aus Tiefe“ wird vor allem seit Jenseits von Gut und Bçse als eigene Poetik in Anspruch genommen (vor allem in den Aph. 40 und 289 und in Verbindung mit der Problematik des „Pathos der Distanz“), in dem Werk also, in dem auch Dionysos zum ersten Mal wieder auftaucht und sich vom Kunstsymbol zum Trger einer neuen Philosophie der Bejahung im Angesicht des Leidens verwandelt: Der Begriff des Leidens bildet hier „einen Prfstein fr die Philosophie des ,Willens zur Macht“11. Die Maske bedeutet hier nicht Verstellung, sondern Schutz – jedoch nicht so sehr als vornehmer und elitrer Gestus, der dem 9 Vgl. Thomas Baumeister, Stationen von Nietzsches Wagnerrezeption und Wagnerkritik, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 304. 10 Karl Heinz Bohrer, Die Stile des Dionysos (2004), in: ders., Großer Stil, Mnchen 2007, S. 216 – 235. Dies deutet ebenso Thomas Baumeister, Stationen von Nietzsches Wagnerrezeption und Wagnerkritik, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 305 an. Claudia Crawford hat in ihrem Aufsatz: Nietzsche s Great Style: Educator of the Ears and of the Heart, in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 210 – 237 versucht, Nietzsches eigentmlichen „großen Stil“ auf seine syntaktisch-metrischen, rhythmisch-melodischen und gestisch-performativen Eigenschaften hin zu untersuchen. 11 Giorgio Colli, Nachwort zu KSA 5, S. 415 – 421, hier: S. 417.
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spten Nietzsche auch eigen ist, sondern vielmehr als Schutz gegen die Verflachung der Gedanken beim Ausdruck (darauf komme ich spter zurck). Wiederum ist hier ein existenziell-ethisches Problem an ein sprachphilosophisches und stilistisches gekoppelt.12 Die ideale Form dieser Poetik der Maske und dieses sthetischen Programms im Namen des Dionysos ist fr Nietzsche wiederum der Aphorismus, der, im Vergleich zur traktatartigen philosophischen Form, die Textart der Zurckhaltung, des Verschweigens, des Auslassens, also der Distanz schlechthin ist.13 Unter den Vorbildern fr seine Prosa erkennt Nietzsche in der GçtzenDmmerung die rçmischen Schriftsteller: Gedrngt, streng, mit so viel Substanz als mçglich auf dem Grunde, eine kalte Bosheit gegen das „schçne Wort“, auch das „schçne Gefhl“ – daran errieth ich mich. Man wird, bis in meinem Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach r ç m i s c h e m Stil, nach dem „aere perennius“ im Stil bei mir wiedererkennen. […] Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und ber das Ganze hin seine Kraft ausstrçmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen – das alles ist rçmisch und, wenn man mir glauben will, v o r n e h m par excellence. (GD, KSA 6, 154)
Man kann hier nicht nur leicht etliche Eigenschaften wieder erkennen, die Nietzsche dem großen Stil zuschreibt (vor allem das fr die moralkritische Auffassung und die sthetik seines Sptwerks zentrale Adjektiv vornehm). Die Wendungen, die er besonders am Schluss verwendet, heben das konstruktive, architektonische Moment hervor: Kraft, Energie, die Zeile „[exegi monumentum] aere perennius“, durch die Horaz mit einer Metapher aus der Baukunst die eigene Dichtung kennzeichnet. Die Anspielung auf die Ewigkeit im Horaz-Zitat ist in diesem Zusammenhang kein 12 Zur Poetik der Maske bei Nietzsche siehe Vivetta Vivarelli, Nietzsche und die Masken des freien Geistes: Montaigne, Pascal und Sterne, Wrzburg 1998. Vivarelli sttzt sich auf die Deutung von Gianni Vattimo in Il soggetto e la maschera. Nietzsche e il problema della liberazione, Milano 1974. 13 Dass Nietzsche jedoch selbst diese Poetik in seiner Schreibpraxis oft untergrbt, lsst sich u. a. an den vielen syntaktischen, aber auch graphischen Mitteln des Verschweigens beobachten, die nmlich gleichzeitig auch eine Entlarvung implizieren. Sehr charakteristisch ist etwa der Gedankenstrich als quasi gestisches Zeichen, um dem Gedanken eine plçtzliche, berraschende Wendung zu verleihen, bzw. um ihm Halt zu gebieten und damit auf einen tieferen Gedanken, auf einen Gedanken hinter dem Gedanken, hinzuweisen. Diese und andere hnlichen rhetorischen Strategien der Verfhrung und Lockung des Lesers erweisen sich brigens auch als das Gegenteil des „Machtsicheren“ und „Setzenden“, das der spte Nietzsche dem großen Stil und auch sich selbst zuschreibt.
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Zufall: Wenn Nietzsche den großen Stil, der grade kein Sptstil sein soll, fr sich in Anspruch nimmt, will er damit sein ewiges monumentum, sein eigenes Palazzo Pitti aufbauen und ein Klassiker sein. Sein Werk und sein Stil drfen nicht die Zge des spten, schon im Abblhen sich befindenden Zustands verraten, sondern sie sollen unvergnglich sein. Dieses ist aber fr ihn wiederum ein wesentliches Merkmal auch der aphoristischen Schreibweise. Schon 1879 lobt er die Sentenz als „das Unvergngliche inmitten des Wechselnden“, das „zu hart fr den Zahn der Zeit“ ist (VM, KSA 2, 446) und einige Jahre spter bertrgt er dieses Lob auf sich, nach einem fr den spten Nietzsche typischen selbstreferenziellen und selbstinszenierenden Verfahren. Mit derselben Metapher heißt es nmlich in der Gçtzen-Dmmerung: Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zhne versucht: der Form nach, d e r S u b s t a n z n a c h um eine kleine Unsterblichkeit bemht sein – ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter den Deutschen Meister bin, sind die Formen der „Ewigkeit“ […]. (GD, KSA 6, 153)14
Am Ende der Streifzge eines Unzeitgemßen betitelten Sektion des Buches betrachtet also der Kommentator und Kritiker Nietzsche den Autor Nietzsche schon als einen Klassiker, der also nur in seiner Epoche und fr sie als „unzeitgemß“ gilt; und wenn der Leser die Seite umblttert, stçßt er zunchst auf die oben erwhnten Betrachtungen ber den großen Stil der rçmischen Schriftsteller (den Anfang der Sektion Was ich den Alten verdanke), denen Nietzsche folgende Worte voranschickt: „Mein Sinn fr Stil, fr das Epigramm als Stil erwachte fast augenblicklich bei der Berhrung mit Sallust.“ (GD, KSA 6, 154) Epigrammatischer, sentenziçs-apodiktischer Stil bleibt also auch in Nietzsches Sptwerk sein Ideal, und letztendlich auch seine Praxis (das erste vielleicht auch als Konsequenz der zweiten). Obwohl die letzten Jahre seines Schaffens nmlich vom Versuch zeugen, seine Projekte in einer systematische(re)n Form unterzubringen (schon in der Genealogie der Moral, aber dann vor allem im unvollendeten Wille zur Macht-Projekt), lsst sich bei ihm tatschlich immer wieder eine essayistische und aphoristische Tendenz feststellen, die sich kaum in einem systematischen berblick bndigen lsst. Wichtig ist hier auch, dass er sich selbst sogar in 14 Dieselbe bertragung auf sein eigenes Schreiben gilt fr den großen Stil: „Die Kunst des g r o s s e n Rhythmus, der g r o s s e S t i l der Periodik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und Nieder von sublimer, von bermenschlicher Leidenschaft ist erst von mir entdeckt.“ (EH, KSA 6, 304 f.)
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den spten Jahren als Aphoristiker betrachtet hat. Es ist ja kein Zufall, dass sich eins der berhmtesten Zeugnisse dieses sthetischen Selbstverstndnisses gerade in der Vorrede zur Genealogie der Moral befindet (GM, KSA 5, 255 f.), und dass diese Vorrede wieder mit der klassischen kulinarischen Metapher fr Sprache und Stil zugespitzt wird. Nietzsche klagt hier erstens, dass man die aphoristische Form in seiner Zeit „nicht schwer genug nimmt“ (wegen des Vorurteils, wahre und tiefe Philosophie sei nur durch große systematische Werke mçglich); zweitens, dass sein zeitgençssischer Leser die Kunst der Auslegung verlernt hat, zu der das „Wiederkuen“ – Metapher des langsamen und wiederholten Lesens – notwendig ist. Zusammenfassend lassen sich also fr Nietzsches sthetik fnf zentrale Merkmale identifizieren, die dem großen Stil und der kurzen Form gemeinsam sind: 1) konomie der eigenen Mittel, Kontrolle ber die Form („Fesselung“); 2) Konstruktiver Wille, Strukturierung, Konzentration (keine „Zerfahrenheit“); 3) Keine Geflligkeit und berredungskunst, sondern Durchsetzung (die Apodiktik der aphoristischen Kunst und das „Machtsichere“ des großen Stils); 4) Anspruch auf Zeit berdauernde Gltigkeit; 5) Poetik der Maske „aus Tiefe“, die sowohl der kurzen Form als Kunst der Aussparung als auch dem großen Stil als dionysischer „Kunst der Oberflche“ eigen ist.
Kurze Form und Rechtschaffenheit Nietzsches Poetik der kurzen Form steht nicht nur in Verbindung mit dem großen Stil, sondern sie ist vor dem Hintergrund seiner Ablehnung der großen philosophischen Systeme zu verstehen. Seine Experimentalphilosophie und sein erkenntnistheoretischer Pluralismus sind bekanntermaßen so eng mit seiner aphoristisch-essayistischen Schreibweise verschrnkt, dass die Fragen nach dieser nicht nur eine sthetische Dimension haben, sondern auch eine philosophische und beinahe lebensnotwendige Tragweite besitzen. Die Chance, berhaupt weiter denken zu kçnnen, hngt bei ihm von der Mçglichkeit ab, eine andere Sprache fr dieses Denken zu finden, und diese Frage wird immer wieder von neuem aufgeworfen. So rhrt Nietzsches Auflehnung gegen die systematischen Denker erstmal auch an eine sprachphilosophische Frage – nicht umsonst setzen seine
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wahrheitsskeptischen und erkenntniskritischen Auffassungen schon sehr frh (1873) mit einer Art linguistic turn ein, nmlich mit dem unvollendeten Aufsatz ber Wahrheit und Lge im außermoralischen Sinne, der die Existenz von Begriffen außerhalb der auf Metaphern, d. h. auf Interpretationen, gegrndeten Sprache in Frage stellt, und die Weiterwirkung der Sprache und der „Wahrheiten“ selbst auf rhetorischer Kontingenz (im Sptwerk auf Rhetorik als Macht) fundiert. Auf einer existenziellen und poetologischen Ebene ist aber seine Skepsis den Systemen gegenber durchaus auch eine Stilfrage, die kleine Form und großen Stil zugleich betrifft und welche die Problematik der Redlichkeit bzw. Rechtschaffenheit als eine denkethische und sthetische gleichzeitig markiert. Systematisch sein heißt dogmatisch sein, und „es gehçrt eine ganz verschiedene Kraft und Beweglichkeit dazu, in einem unvollendeten System, mit freien unabgeschlossenen Aussichten, sich festzuhalten: als in einer d o g m a t i s c h e n Welt“ (NF, KSA 11, 429). Aber der Dogmatismus der Systematiker scheint nicht das Kernproblem Nietzsches zu sein. Vielmehr hlt er die systematischen Gebude der Philosophie fr schlicht unmçglich, weil jeder einheitliche Wahrheitsbegriff unmçglich geworden ist, weil, wie Michel Foucault vor allem fr Nietzsche und Freud beobachtet hat, Zeichen ihr „einfaches Sein als Bezeichnende“ verloren haben und zu Interpretationen geworden sind, „die sich zu rechtfertigen versuchen, und nicht umgekehrt“15. Der Glaube an die Mçglichkeit der systematischen Darstellung ist folglich nicht nur rckstndig oder naiv, sondern zeugt von einem „Mangel an Rechtschaffenheit“, von einer regelrechten Betrgerei, wie ein Nachlass-Fragment aus dem Jahre 1884 betont: Die vorlufigen Wahrheiten. Es ist etwas Kindisches oder gar eine Art Betrgerei, wenn jetzt ein Denker ein Ganzes von Erkenntnis, ein System hinstellt – wir sind zu gut gewitzigt, um nicht den tiefsten Zweifel an der M ç g l i c h k e i t eines solchen Ganzen in uns zu tragen. Es ist genug, wenn wir ber ein Ganzes von V o r a u s s e t z u n g e n d e r M e t h o d e bereinkommen – ber „vorlufige Wahrheiten“, nach deren Leitfaden wir arbeiten wollen: so wie der Schiffahrer im Weltmeer eine gewisse Richtung festhlt. (NF, KSA 11, 132 f.)
Der philosophische Stil der Systematiker ist unredlich und unecht, er ist ein falscher „großer Stil“, weil er etwas vortuscht, was er nicht mehr kann, genau wie Wagners Musikdrama nur eine betrgerische Nachahmung großer Formen ist, die heute nicht mehr mçglich sind, weil diese großen 15 Michel Foucault, Nietzsche, Freud, Marx, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften. Bd. I (1954 – 1969), Frankfurt am Main 1967/2001, S. 727 – 737, hier: S. 736.
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Formen einem Zeitalter entsprachen, in dem die Philosophen noch „die Wahrheit“ hatten (vgl. NF, KSA 9, 52). Auch in der philosophischen Schreibweise, sowie in der Musik, ist Rechtschaffenheit nur im Kleinen mçglich, in der perspektivistischen Ausarbeitung von „vorlufigen Wahrheiten“, die immer wieder neu interpretiert und umgesteuert werden mssen, damit sie ihrerseits als Mittel der Interpretation und der Umwertung dienen kçnnen. Nietzsches zentrale und wiederholte Kritik an den Begriffen von Wahrheit und Identitt, am Urteil als verflschenden Prozess der Assimilation, am logischen Prinzip von Ursache-Wirkung, bedingt die Ttigkeit des Schreibens selbst, eines nicht „barocken“ und selbstgeflligen Schreibens, das nicht einfach vielfltig und pluralistisch ist, sondern das sich selbst beobachtet, in Frage stellt, korrigiert, Vergangenes noch mal aufgreift und gleichzeitig in die Zukunft weist, indem es immer auf „Kommendes“, d. h. auch auf andere Perspektiven anspielt. Es muss ihnen [den kommenden Philosophen] wider den Stolz gehen, auch wider den Geschmack, wenn ihre Wahrheit gar noch eine Wahrheit fr Jedermann sein soll: was bisher der geheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war. „Mein Urtheil ist m e i n Urtheil: dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht. (JGB, KSA 5, 60)
Ein „Philosoph der Zukunft“ darf und soll auf das Recht auf das eigene Urteil nicht verzichten, ohne jedoch irgendeinen Anspruch auf allgemeine Wahrheiten mehr zu erheben. Hierin besteht auch seine Redlichkeit, die fr Nietzsche immer mit der Notwendigkeit der Selbsthinterfragung zusammenhngt: „Nie etwas zurckhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann! Gelobe es dir! Es gehçrt zur ersten Redlichkeit des Denkens. Du musst jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber fhren.“ (M, KSA 3, 244) In diesem Sinn ist Redlichkeit fr Nietzsche, wie Jean-Luc Nancy gezeigt hat, auch als Verhalten zu verstehen, das dem Werden Rechnung trgt: Sie besteht in der „Anerkennung des Seins als Werdens“ und ist „Redlichkeit gegen die homoiosis des Werdens in seiner Gegenwart“16. Die Redlichkeit gegen sich selbst entspricht immer einer „Gerechtigkeit gegen die Dinge“, die nicht in feste und zwangslufig verflschende Bedeutungsstrukturen eingeschlossen werden sollten.17 16 Jean-Luc Nancy, „Unsere Redlichkeit!“. ber Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche, in: Nietzsche aus Frankreich, in: Werner Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin/Wien 2003, S. 225 – 248, hier: S. 232. 17 Schon in der Morgenrçthe heißt es: „Wir mssen die viele f a l s c h e Grossartigkeit wieder aus der Welt schaffen, weil sie gegen die Gerechtigkeit ist, auf die
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Das Gebot der Redlichkeit scheint sich auf dem ersten Blick nicht mit der Poetik der Maske zu versçhnen. Dies ist jedoch fr Nietzsches Auffassung gar kein Paradox, sondern eine Notwendigkeit. Denn der Redlichkeit gegenber anderen (dem „Markt“), die der Histrio Wagner mit seiner „Lge des großen Stils“ und die meisten Philosophen mit der Lge des Systems praktizieren, setzt sich fr Nietzsche eine Redlichkeit sich selbst gegenber entgegen, der das existenzielle Modell der „Einsamkeit“ und das poetologische der Maske als Schutz entsprechen. Dieses Motiv, das vor allem in Jenseits von Gut und Bçse vorkommt, ist auch vor diesem Hintergrund zu verstehen, als regulative Vorschrift, um den „Dingen“ keine Gewalt anzutun: Der Einsiedler […] wird zweifeln, ob ein Philosoph „letzte und eigentliche“ Meinungen berhaupt haben kçnne, […]. Jede Philosophie ist eine Vordergrundphilosophie – das ist mein Einsiedler-Urteil. […] Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske. (JGB, KSA 5, 234)
Die Verbindung zwischen beiden Aspekten dieses Problems liegt im letzten Aphorismus von Jenseits von Gut und Bçse: Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken! Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, voller Stacheln und geheimer Wrzen, dass ihr mich niesen und lachen machtet – und jetzt? Schon habt ihr eure Neuheit ausgezogen, und einige von euch sind, ich frchte es, bereit, zu Wahrheiten zu werden. […] Welche Sachen schreiben und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chinesischem Pinsel, wir Verewiger der Dinge, welche sich schreiben l a s s e n , was vermçgen wir denn allein abzumalen? Ach, immer nur Das, was eben welk werden will und anfngt, sich zu verriechen! […] Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fliegen kann, mde und mrbe Dinge allein! Und nur euer N a c h m i t t a g ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, fr den allein ich Farben habe, […] – aber Niemand errth mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plçtzlichen Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten – – s c h l i m m e n Gedanken! (JGB, KSA 5, 239 f.)
Nicht nur in Nietzsches Schreibpraxis, sondern auch in seinen sthetischtheoretischen Auffassungen und poetologischen Selbstreflexionen stellen das understatement, der Gestus des Verbergens bzw. des Auslassens, des alle Dinge vor uns Anspruch haben!“ (M, KSA 3, 20) Zum Problem der „Leidenschaft der Redlichkeit“ und der Gerechtigkeit gegen die Dinge siehe Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophische und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/ New York 1997, S. 103 ff.
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Nicht-zu-Ende-Fhrens der Gedanken ebenso wie die Vieldeutigkeit (die seiner stilistischen Vielfalt entspricht) die andere Seite der provokativen und sich selbst inszenierenden Sprache dar18 und sind somit ein zentraler Bestandteil seiner kurzen Prosa. Sie kommt in zwei Formen zustande: Essay und Aphorismus. Beide Termini sind etymologisch erhellend. Das Versuchartige des einen und das „Abgrenzen“ (gr. aphorizein) des anderen, auch im Sinne jenes vornehmen und „trennenden“ Pathos der Distanz, das erlaubt, die Gegenstnde der Untersuchung auseinander zu nehmen und aus vielfltigen Perspektiven zu betrachten, ohne auf fixierende und endgltige Urteile zu verfallen. In der Gattung Aphorismus, und besonders in der nietzscheanischen Auffassung, soll die Geschlossenheit und Abrundung der Sprachform der Offenheit der Denkform entsprechen. Nicht von ungefhr hat Nietzsche das Wort „Fragment“ fr seine Prosa nie verwendet, obwohl diese Bezeichnung z. B. in die franzçsische Forschung eingegangen ist (Deleuze und vor allem Blanchot sprechen oft von „Fragmenten“ bzw. vom „Fragmentarischen“ in Bezug auf Nietzsche19). Dies geschieht bei Nietzsche sicher in bewusster Abgrenzung von den Frhromantikern, in deren Poetik das Fragment auf ein Ganzes hinweisen soll, whrend seine Aphorismen nicht Teil eines Ganzen sein wollen, sondern vielmehr mit dem Perspektivenwechsel spielen und auf der Idee der langsamen „Abgrenzung“ und Bestimmung eines Problems, der aus sich selbst erwachsenden Interpretation und des stetigen Versuchs beruhen. Wenn der Antidialektiker Nietzsche „das spekulative Element der Negation, des Gegensatzes oder des Widerspruchs“ durch „das praktische Element der Differenz: dem Objekt von Bejahung und Genuss“ ersetzt20, so wirkt dieser „Genuss der Differenz“ auch in der Wahl der aphoristischen Prosa gegen die systematische Form der Darstellung als einziger Form, die seinem Empirismus und Perspek18 Eva Strobel hat in einem hnlichen Sinn von „exoterischen“ und „esoterischen“ Perspektiven bei Nietzsche und dementsprechend von zwei Arten von großem Stil gesprochen: einer exoterischen, die „sich dem Willen zur Macht verdankt“, und einer esoterischen, die „das Gehçrte in eine einfache, knappe Form bringt“ (Eva Strobel, Das „Pathos der Distanz“: Nietzsches Entscheidung fr den Aphorismenstil, Wrzburg 1998, S. 195). 19 Siehe vor allem Maurice Blanchot, Nietzsche und die fragmentarische Schrift, in: Werner Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin/Wien 2003, S. 71 – 98. Blanchots Aufwertung des Fragmentarischen geht mit einer Abwertung der „Maxime“ als mondner und oberflchlicher Sentenz einher. Nietzsches frher Aphorismenstil ist aber bekanntermaßen von der Lektre der franzçsischen Moralisten, vor allem La Rochefoucault, maßgeblich geprgt worden. 20 Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt am Main 1985, S. 13.
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tivismus Gerechtigkeit widerfahren kann und sich so als wirklich „rechtschaffen“ erweist. Die Herausforderung von Nietzsches eigentmlicher „kleiner“ Prosa besteht in dem Versuch, „großen Stil“ ohne die Betrgerei einer nicht mehr angemessenen „großen Form“ zu bewahren.
„Allzuklein der Grçsste“? Zum Problem des „Kleinen“ in Nietzsches „Anspruch auf das Wort Grçsse“
Jakob Dellinger Nietzsche erklrt in Ecce homo, im zehnten Abschnitt des Kapitels Warum ich so klug bin, „mehr als irgend ein Sterblicher den Anspruch auf das Wort Grçsse“ (EH, KSA 6, 296) zu haben. Bereits auf seine Zeitgenossen wirkte diese Passage offenbar auf besondere Weise anstçßig, wurde sie doch von dritter Hand aus dem Druckmanuskript getilgt (NF, KSA 14, 478 f.), und tatschlich liegt der Verdacht nahe, dass es sich hierbei um einen Ausbruch von Grçßenwahn handelt. Bemerkenswert erscheint jedoch, dass Nietzsche seinen so megalomanisch wirkenden „Anspruch auf das Wort Grçsse“ an dieser Stelle mit einer programmatischen Wertschtzung dessen verbindet, was er als die „kleinen Dinge“ anspricht. Der zehnte und letzte Paragraph von Warum ich so klug bin birgt eine spezifische Spannungskonstellation der Begriffe „groß“ und „klein“, die fr den Gestus von Ecce homo ußerst aufschlussreich ist und deren Grundzge im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Nietzsche hat sich in den vorhergehenden Partien des Kapitels ausfhrlich Themen wie der Zutrglichkeit gewisser Ernhrungsgewohnheiten oder klimatischer Bedingungen gewidmet. Zu Beginn des zehnten Abschnitts wirft er nun selbst die Frage auf, ob er sich mit der Diskussion solcher scheinbarer Belanglosigkeiten nicht selbst kompromittiere: An dieser Stelle thut eine grosse Besinnung Noth. Man wird mich fragen, warum ich eigentlich alle diese kleinen und nach herkçmmlichem Urtheil gleichgltigen Dinge erzhlt habe; ich schade mir selbst damit, um so mehr, wenn ich grosse Aufgaben zu vertreten bestimmt sei. (EH, KSA 6, 295)
Auf diese erste Akzentuierung des Spannungsfeldes von „groß“ und „klein“ folgt mit Nietzsches Antwort umgehend eine Aufwertung der „kleinen Dinge“: „Antwort: diese kleinen Dinge – Ernhrung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht – sind ber alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm.“ (EH, KSA 6, 295) Sarah Kofman spricht in ihrer Analyse des Abschnitts von einer
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Umwertung des Verhltnisses von „groß“ und „klein“1, und in der Tat propagiert Nietzsche nicht nur eine hçhere Wertschtzung der bislang eskamotierten „kleinen Dinge“, sondern wendet sich zugleich dagegen, die „Grçsse der menschlichen Natur“ (EH, KSA 6, 296) in „Einbildungen, strenger geredet, Lgen“ (EH, KSA 6, 296) wie den Begriffen „Gott“, „Seele“, „Tugend“ oder „Wahrheit“ zu suchen: „Alle Fragen der Politik, der Gesellschafts-Ordnung, der Erziehung sind dadurch bis in Grund und Boden geflscht, dass man die schdlichsten Menschen fr grosse Menschen nahm, – dass man die ,kleinen Dinge, will sagen die Grundangelegenheiten des Lebens selber verachten lehrte …“ (EH, KSA 6, 296) Fr einen ersten Ansatz zu einer etwas nheren Charakterisierung dessen, was Nietzsche hier als „kleine Dinge“ anspricht, scheint neben ihrer Fassung als „Grundangelegenheiten des Lebens“ insbesondere die Verknpfung mit dem Begriff der „Selbstsucht“2 aufschlussreich. In Warum ich ein Schicksal bin 7 spricht Nietzsche von der Selbstsucht als der „tiefsten Nothwendigkeit zum Gedeihen“ (EH, KSA 6, 372)3 und wendet sich gegen ihre Verunglimpfung durch die lebensverneinende „Entselbstungs-Moral“ (EH, KSA 6, 372). Schon in einem Nachlassnotat aus dem Herbst 1883 hatte Nietzsche die Selbstsucht als „Art alles Lebendigen, – daß es wachsen und ber sich hinaus schaffen will“ (NF, KSA 10, 574) bestimmt. Die von Eric Blondel4 vorgeschlagene Assoziation des Begriffs der Selbstsucht mit dem Konzept des Willens zur Macht liegt also durchaus nahe. Auch in den vorhergehenden Paragraphen von Warum ich so klug bin spielt der Begriff eine Schlsselrolle: An die Erklrung im achten Abschnitt, dass „in der Wahl von Nahrung, von Ort und Klima, von Erholung“ ein „Instinkt der Selbsterhaltung“ (EH, KSA 6, 291) herrsche, schließt im neunten Paragraphen die Rede von einem „Meisterstck in der Kunst der Selbsterhaltung – der Selbstsucht“ (EH, KSA 6, 293) an. Jenes „Meisterstck“ beschreibt Nietzsche als ein sich zunchst wesentlich unter der „Oberflche des Bewusstseins“ (EH, KSA 6, 294) abspielendes Wachstum der „zur Herrschaft berufne[n] ,Idee“ (EH, KSA 6, 294), die mehr und 1 2
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Sarah Kofman, Explosion I. De l Ecce Homo de Nietzsche, Paris 1992, S. 385. Zu Nietzsches Begriff der „Casuistik“ sowie einer von der „Casuistik der Selbstsucht“ ausgehenden Deutung des „Kleinen“ in Warum ich so klug bin vgl. Brian Domino, The Casuistry of the Little Things, in: Journal of Nietzsche Studies 23 (2002), S. 51 – 62. In der Oktober-Fassung ist noch die Rede von der „tiefsten Nothwendigkeit zum Gedeihen des Lebens [Hervorhebung von mir, J.D.]“ (NF, KSA 14, 511). Eric Blondel, Nietzsches Selbstsucht in Ecce homo, in: Perspektiven der Philosophie 20 (1994), S. 291 – 300.
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mehr das Kommando bernimmt und alle anderen Vermçgen den Bedrfnissen ihrer „Aufgabe“ gemß organisiert. Auch hier scheint die Assoziation mit dem Konzept eines „Gesellschaftsbau[s] der Triebe und Affekte“ (JGB, KSA 5, 27) als einer Pluralitt von Willen zur Macht nicht unplausibel. Jedenfalls lsst sich Nietzsches Aufwertung der „kleinen Dinge“ im Sinne der wesentlich triebhaft-instinktiven „Grundangelegenheiten des Lebens“ in Kontinuitt mit der etwa im ersten Hauptstck von Jenseits von Gut und Bçse so massiv betonten Rckbindung aller philosophischen Begriffsbildung an die Momente des Individuellen, Leiblichen und Triebhaften verstehen.5 Nietzsches „Anspruch auf das Wort Grçsse“ scheint sich demgemß wesentlich auf diese Anerkenntnis der Bedeutung der „kleinen Dinge“ zu grnden. Die „Grçsse der menschlichen Natur“ kann nicht lnger in erlogenen „idealistischen“ Begriffen gesucht werden, sondern muss vielmehr in der Fhigkeit liegen, solcher – die Bedeutung der „kleinen Dinge“ verhehlender – Lgen nicht lnger zu bedrfen. So lautet der berhmte, vielzitierte Schluss des Abschnitts: Meine Formel fr die Grçsse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwrts nicht, rckwrts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen – , sondern es lieben… (EH, KSA 6, 297)
Durch die neuerliche Hervorhebung des Gegensatzes zum „Idealismus“ und seiner Flucht in erlogene Begriffe lsst sich das hier als „das Notwendige“ Angesprochene mit den „kleinen Dingen“ qua „Grundangelegenheiten des Lebens“ zusammenlesen: Der amor fati als Liebe zum Notwendigen ist zugleich Affirmation der notwendigen Rckbindung jeglicher Ansprche an die vom „Idealismus“ verleugnete Dimension des Leiblich-Affektiven und der Selbstsucht als der „tiefsten Nothwendigkeit zum Gedeihen“. Zugleich lsst sich anhand des amor fati jedoch auch eine zweite Dimension des „Kleinen“ erschließen, die im Grunde bereits in dessen Verknpfung mit Topoi wie Ernhrung, Ort, Klima und Erholung lag, 5
Schon Werner Stegmaier hat vorgeschlagen, Ecce homo als selbstkritische Exposition der individuellen Bedingtheit von Nietzsches Denken zu verstehen, die in Folge der Kritik der „moralischen Ontologie“ vermittels des Verweises auf deren individuell-persçnliche Wurzeln notwendig wird. Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von ,Der Antichrist und ,Ecce homo , in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 167 f.
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nmlich jene des Zuflligen und Kontingenten: Insofern wir etwa ber die Zutrglichkeit gewisser Nahrungsmittel oder klimatischer Bedingungen fr unseren Organismus nicht frei verfgen kçnnen, scheint die Bejahung jener „kleinen Dinge“ zugleich eine Affirmation des Zuflligen, unserer bewussten Verfgungsgewalt notwendig Entzogenen zu implizieren.6 Die Erklrung, schlechterdings „Nichts anders haben“ zu wollen, muss auch noch eine vorbehaltlose Bejahung jener zahllosen kontingenten „Notwendigkeiten“ einschließen, die sich unserem Wollen entziehen. Nietzsche selbst verknpft das Bejahungsmotiv in Ecce homo mit der Problematik der Bejahung des Zuflligen in Also sprach Zarathustra, wenn er in Warum ich so gute Bcher schreibe vor einem Zitat aus dem Kapitel Von der Erlçsung erklrt, dass Zarathustras Aufgabe auch die seine und ihrem Sinn nach „jasagend bis zur Rechtfertigung, bis zur Erlçsung auch alles Vergangenen“ (EH, KSA 6, 348) sei. Eben jenes Vergangene wird in Von der Erlçsung mit dem Zuflligen und Bruchstckhaften zusammengespannt. Bevor ich nher auf diesen Zusammenhang eingehe, mçchte ich einige kurze Schlaglichter auf die Genese des Motivs der Bejahung in Nietzsches Denken7 werfen, um die Massivitt des Bejahungsgestus hervorzuheben, den Nietzsche in Warum ich so klug bin 10 inszeniert. So wird der amor fati in Die frçhliche Wissenschaft noch als Wunsch fr die Zukunft artikuliert: Nietzsche erklrt, „irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender“ (FW, KSA 3, 521) sein zu wollen. Dabei gesteht er offen zu, dass man, um das „Nothwendige an den Dingen als das Schçne“ (FW, KSA 3, 521) sehen zu kçnnen, diese erst knstlerisch-dichterisch verschçnern msse, da sie es „an sich niemals“ seien (FW, KSA 3, 538). Ein Fragment aus dem gleichen Zeitraum (NF, KSA 9, 664) rckt jene Fhigkeit, das an sich nicht Schçne als schçn zu sehen, gar in die Nhe des Wahnsinns8 und in einem berhmten Notat aus dem Winter 1882/83 heißt es: „Ich will das Leben nicht wieder. 6
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Zum Zusammenhang der Begriffe Notwendigkeit und Zufall vgl. Peter S. Groff, Amor Fati and Zchtung: The Paradox of Nietzsche s Nomothetic Naturalism, in: International Studies in Philosophy 35 (2003), S. 35: „In short, necessity is chance, viewed under the aspect of the past.“ Vgl. dazu: Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, insbesondere S. 452 – 471. „,Ja! Ich will nur das noch lieben, was nothwendig ist! Ja! Amor fati sei meine letzte Liebe! – Vielleicht treibst du es so weit: aber vorher wirst du erst noch der Liebhaber der Furien sein mssen: ich gestehe, mich wrden die Schlangen irre machen. – ,Was weißt du von den Furien! Furien – das ist nur ein bçses Wort fr die Grazien. – Er ist toll! – “ (NF, KSA 9, 664).
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Wie habe ich s ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick aushalten? der Blick auf den bermenschen, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen – Ach!“ (NF, KSA 10, 137) Analog bleiben auch die Bejahungsambitionen in Also sprach Zarathustra in einem gewissen Sinne fragwrdig. Die emphatische Affirmation der ewigen Wiederkunft erfolgt im Zuge der letzten Lieder des dritten Teils im Rahmen einer Traumsequenz und auch im vierten Teil nur in kurzen Zustnden der Entrckung.9 Beansprucht Nietzsche also in Ecce homo einen Grad von Bejahung erreicht zu haben, der selbst fr Zarathustra fragwrdig bleibt? Offenbar „stellt Ecce homo das Problem, das den Zarathustra durchzieht, als gelçst dar“10. Beachtenswert ist in dieser Hinsicht auch Warum ich ein Schicksal bin 5, wo Nietzsche den Begriff der Grçße – durchaus in Kontinuitt mit der „Formel“ aus Warum ich so klug bin 10 – als Fhigkeit begreift, die Realitt ohne Entfremdung annehmen zu kçnnen, und diesen explizit mit dem Konzept des bermenschen verknpft. Ist der Gestus der vorbehaltlosen, allumfassenden Bejahung also tatschlich ein Zeichen von Grçßenwahn, ja womçglich gar eines megalomanischen Glaubens an die eigene bermenschlichkeit? Eine gewisse Vorsicht ist hier wohl schon deshalb geboten, weil Nietzsche selbst den Gestus der bedingungslosen Annahme alles Gegebenen bereits in Also sprach Zarathustra als schlechten Geschmack und IA des Esels parodiert.11 Doch auch im zehnten Paragraphen von Warum ich so klug bin selbst finden sich einige Disharmonien und Brche, die es nahe legen, Nietzsches Gestus der vorbehaltlosen All-Bejahung und den damit verbundenen „Anspruch auf das Wort Grçsse“ zu hinterfragen.12 9 Vgl. Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 614 sowie 619. 10 Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 669. 11 Siehe dazu Claus Zittel, Das sthetische Kalkl von Friedrich Nietzsches ,Also sprach Zarathustra , Wrzburg 2000, S. 191 – 199. 12 Darauf, dass Nietzsches Selbstinszenierung sowie der Gestus der ressentimentfreien Affirmation zutiefst fragwrdig sind, hat – trotz seiner bisweilen berzogenen Polemik gegen Richard Rorty und Alexander Nehamas – zurecht Daniel W. Conway insistiert: „[I]f we deploy the critical strategies that Nietzsche himself prescribes to counteract an overdose of monumental history, we immediately grow suspicious of the monumental Nietzsche whom Ecce Homo errects as an exemplar of affirmation. […] If we assume that Nietzsche expected his readers to be (or become) familiar with the uses and abuses of monumental history, then we
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Man muss dabei vielleicht gar nicht so weit gehen wie Sarah Kofman, die bezglich Nietzsches Erklrung, nie an seiner Einsamkeit gelitten zu haben (EH, KSA 6, 297), festhlt, dass er durchaus immer wieder ber seine Isolation geklagt habe13 – denn auch im Text selbst lassen sich solche Spannungen aufweisen. So hat etwa Christian Benne darauf hingewiesen, dass die Behauptung „Man wird mir aus keinem Augenblick meines Lebens irgend eine anmaassliche oder pathetische Haltung nachweisen kçnnen“ (EH, KSA 6, 296) in krassem Gegensatz zu Nietzsches emphatischem Selbstlob in Ecce homo steht.14 Ebenso wird man bei Nietzsches Beteuerung, er sei „selbst voller Auszeichnung fr die Niedrigsten“ (EH, KSA 6, 297) stutzig werden mssen, hieß es doch kaum eine Seite zuvor: „Ich rechne diese angeblich ,Ersten nicht einmal zu den Menschen berhaupt, – sie sind fr mich Ausschuss der Menschheit, Ausgeburten von Krankheit und rachschtigen Instinkten.“ (EH, KSA 6, 296) Spannungen wie diese laden geradewegs dazu ein, Nietzsches Selbstidealisierung als solche zu durchschauen. Auch wenn Nietzsche im neunten Abschnitt das Affirmationsmotiv bis zur phantastischen Erklrung treibt, niemals auch nur einen Wunsch gehabt zu haben (EH, KSA 6, 295), scheint er den Leser regelrecht herauszufordern, den an diesem Punkt nahezu bis ins Absurde gesteigerten Gestus der All-Bejahung sowie den damit verbundenen „Anspruch auf das Wort Grçsse“ zu problematisieren. Nicht zuletzt zeigt sich in der Artikulation dieses Anspruchs selbst eine Tendenz, die dem amor fati im Sinne einer in eine solche vollkommene Wunschlosigkeit fhrenden Sinnimmanenz entgegenzulaufen scheint: „Wenn ich mich darnach messe, was ich kann, nicht davon zu reden, was hinter mir drein kommt, ein Umsturz, ein Aufbau ohne Gleichen, so habe ich mehr als irgend ein Sterblicher den Anspruch auf das Wort Grçsse.“ (EH, KSA 6, 296) Die Bindung des „Anspruchs“ an ein Kçnnen und vor allem an die Hoffnung auf zuknftige Wirkung entspricht gerade eben nicht dem Ideal should not take at face value the monumental Nietzsche erected by Ecce Homo“ (Daniel W. Conway, Nietzsche s Doppelgnger: Affirmation and resentment in Ecce Homo, in: Keith Ansell-Pearson (Hrsg.), The Fate of the New Nietzsche, Aldershot 1993, S. 57). 13 Sarah Kofman, Explosion I. De l Ecce Homo de Nietzsche, Paris 1992, S. 382. 14 Christian Benne, Ecce Hanswurst – Ecce Hamlet. Rollenspiele in Ecce Homo, in: Nietzscheforschung 12 (2005), S. 220: „Dergleichen Widersprche gehçren zu den altbekannten Kunstgriffen traditioneller Rhetorik, die der Pfortenser Nietzsche mit der wissenschaftlichen Muttermilch aufgenommen hatte: das verunsicherte Publikum soll einen Hintersinn vermuten und so die Funktion der Rolle erkennen, die der Rhetor bewusst angenommen hat.“
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der keinen Gedanken oder gar Wunsch an die Zukunft verschwendenden Bejahung des Gegebenen.15 Kurzum: Es liegt durchaus nahe, jene Frage zu exponieren, die der dem Zarathustra-Kapitel Der Genesende entlehnte Titel dieses Beitrags andeuten soll, nmlich ob der sich hier inszenierende „Grosse“ tatschlich so „gross“ und allbejahend ist, wie er zu beanspruchen scheint, oder nicht vielleicht doch „allzuklein“.16 Abschließend soll kurz angedeutet werden, inwiefern diese Frage fr eine Deutung des amor fati sowie des Spannungsfeldes der Begriffe „groß“ und „klein“ produktiv sein kçnnte. Im bereits erwhnten Zitat aus Von der Erlçsung in Warum ich so gute Bcher schreibe zitiert Nietzsche auch Zarathustras berhmte Forderung, „alles ,Es war umzuschaffen in ein ,So wollte ich es!“ (EH, KSA 6, 348). Wie schon Interpreten wie Daniela Langer17, Duncan Large18 oder Els Weijers19 vorgeschlagen haben, lsst sich Nietzsches Selbstinszenierung in Ecce homo als ein eben solcher Versuch des Umschaffens des „es war“ in ein „so wollte ich es“ verstehen. Der zitierte Satz Zarathustras, „Und das ist all mein Dichten und Trachten, 15 Vgl. dazu Brusottis Erluterungen, inwiefern es dem ursprnglichen Impetus des Gedankens der ewigen Wiederkunft zuwiderluft, sie nur um willen der gleichsam „transzendenten“ Hoffnung auf einen zuknftigen bermenschen zu ertragen, anstatt dem Leben einen wesentlich immanenten Sinn zu geben und das Geschehene um seiner selbst willen zu bejahen (Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und sthetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenrçthe bis Also sprach Zarathustra, Berlin/New York 1997, S. 518). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch folgende Passage aus einem Brief an Paul Deussen vom 3. Januar 1888: „Jetzt begehre ich fr eine Reihe Jahre nur Eins: Stille, Vergessenheit, die Indulgenz der Sonne und des Herbstes fr etwas, das reif werden will, fr die nachtrgliche Sanktion und Rechtfertigung meines ganzen Seins (eines sonst aus hundert Grnden ewig problematischen Seins!)“. (An Paul Deussen, KGB III/5, Bf. 969) 16 Diese Konstellation drfte Nietzsche bereits bei der Lektre Schopenhauers interessiert haben, findet sich doch in seinem Exemplar des zweiten Bandes von Die Welt als Wille und Vorstellung neben folgendem – auch im Hinblick auf die Verknpfung des „Kleinen“ mit der „Selbstsucht“ bemerkenswerten – Satz eine Markierung mit zwei Rufzeichen: „Jeder große Mann nmlich muß dennoch oft nur das Individuum seyn, nur sich im Auge haben, und das heißt klein seyn“ (vgl. Giuliano Campioni (Hrsg.), Nietzsches persçnliche Bibliothek, Berlin/New York 2003, S. 542). 17 Daniela Langer, Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, Mnchen 2005, S. 149. 18 Duncan Large, Nietzsche and Proust. A Comperative Study, Oxford 2001, S. 207. 19 Els Weijers, Wie man wird, was man erzhlt. Erzhlen und Diskurs vom Selbst in Nietzsches Texten, in: Roland Duhamel (Hrsg.), Die Kunst der Sprache und die Sprache der Kunst, Wrzburg 1994, S. 38.
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dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstck ist und Rthsel und grauser Zufall“ (EH, KSA 6, 348), kann in der Tat auch auf das Ecce homo durchziehende Leitmotiv „Und so erzhle ich mir mein Leben“ (EH, KSA 6, 263) bezogen werden. Folgt man dieser Lesart, so lsst sich deutlich machen, dass Nietzsches scheinbar vorbehaltloser, unbedingter Bejahungsanspruch so vorbehaltlos und unbedingt gar nicht ist, sondern vielmehr ein In-Eins-Dichten des Zuflligen und Bruchstckhaften voraussetzt. Um als Notwendiges und Schicksalhaftes angenommen und bejaht werden zu kçnnen, musste das „Kleine“ im Sinne des Zuflligen und Kontingenten – einem Bild aus Von der verkleinernden Tugend gemß – zunchst „gar gekocht“ (vgl. Za, KSA 4, 215), d. h. in die Sinnstruktur von Nietzsches Selbstinterpretation integriert werden.20 Nietzsches berhçhter Gestus der Bejahung und der damit verknpfte „Anspruch auf das Wort Grçsse“ erweisen sich darin ihrerseits als rckgebunden an die Dimension der „kleinen Dinge“ im Sinne der selbstschtigen „Grundangelegenheiten des Lebens“. Sie verdanken sich einer sich alles zurechtflschenden interpretativen „Selbstsucht“ – wenn man so will: einem interpretativen Willen zur Macht21, der „zurckwollen“ gelernt hat, d. h. das „es war“ in ein
20 So erklrt z. B. Langer die berhmte Behauptung, Pole zu sein, als „eigenmchtige Umformung, ja Nutzbarmachung von zuflligen Bedingtheiten (die zudem legendenhaft bermittelte polnische Herkunft) in Notwendigkeiten (Pole, und nicht Deutscher, zu sein)“ (Daniela Langer, Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, Mnchen 2005, S. 104). Vgl. dazu auch Nietzsches Erklrung, „Vieles nicht sehn, nicht hçren, nicht an sich herankommen lassen“ sei die „erste Klugheit, erster Beweis dafr, dass man kein Zufall, sondern eine Necessitt ist“ (EH, KSA 6, 292). Siehe weiters folgende Vorstufe zu Von der verkleinernden Tugend: „,Zufall nennen es die Schwachen. Aber ich sage euch: was kçnnte zu mir fallen, was nicht meine Schwere zwnge und an sich zçge? / Seht doch, wie ich mir jeden Zufall erst in meinem Safte koche: und wenn er gar ist, heißt er mir ,mein Wille und Schicksal.“ (NF, KSA 10, 605) Die Rckbindung des „Schicksals“ an den Willen wird auch deutlich, wenn es in Auf den glckseligen Inseln heißt: „Aber so will s mein schaffender Wille, mein Schicksal. Oder, dass ich s euch redlicher sage: solches Schicksal gerade – will mein Wille.“ (Za, KSA 4, 111) Passend dazu auch die in einem Brief an August Strindberg vom 8. Dezember 1888 formulierte Behauptung, dass „es in meinem Leben keinen Zufall mehr giebt“ (An August Strindberg, KGB III/5, Bf. 1176). Das so genannte „Paradox of Fatalism and Self-Creation“ (Brian Leiter, The Paradox of Fatalism and Self-Creation in Nietzsche, in: John Richardson (Hrsg.), Nietzsche, Oxford 2001, S. 281 – 321) erweist sich vor dem Hintergrund dieser Interpretation als Missverstndnis. 21 „Das Einbilden und interpretierende Hineinlesen eines ,ich bin das ist der Weg zur grçßeren Macht, eine Art ber die Vielheit, also ber das Chaos und die
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„so wollte ich es“ umschafft und dergestalt, ganz gemß Nietzsches Beschreibung der Selbstsucht im neunten Abschnitt, auch den „Fehlgriffe[n] des Lebens ihren eignen Sinn und Werth“ (EH, KSA 6, 293) zu verleihen vermag. Demzufolge kçnnte es sich bei Nietzsches „Anspruch auf das Wort Grçsse“ keineswegs um einen Ausbruch von Grçßenwahn handeln, sondern vielmehr um eine exemplarische Realisierung dessen, was schon in Frçhliche Wissenschaft 299 als Rezept zur Bejahung empfohlen wird,22 nmlich den Knstlern abzulernen, wie man das Notwendig-Zufllige durch vielfaches Absehen, Umdeuten und Hinzusehen – wenn man so will: durch „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkrzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umflschen und was sonst zum Wesen alles Interpretirens gehçrt“ (GM, KSA 5, 400) – schließlich als schçn und bejahenswert begreifen kann.23 Das Ideal der vorbehaltlosen, ressentimentfreien und wunschlosen All-Bejahung ist damit jedoch freilich unterminiert, als allzumenschliche In-Eins-Dichtung bloßgestellt:24 Nietzsches „Autohagiodcadence Herr zu werden – das heißt: das zu werden, was man ist. Das Ich ist folglich eine Interpretation der Einbildungskraft des Willens zur Macht. Aber genau genommen ist Ecce homo in diesem Sinne nicht nur eine Interpretation, die ,falsch und ,verrckt sein mag, sondern auch der Weg zum Jasagen, zur Heiterkeit, der Erfolg des Willens zur Macht als Selbstsucht, als erfolgreiche Sucht des großen, heiteren, starken Selbst“ (Eric Blondel, Nietzsches Selbstsucht in Ecce homo, in: Perspektiven der Philosophie 20 (1994), S. 297 f.). 22 Vgl. Martin Kronberger, Zur Genealogie des ,Ecce homo , in: Nietzsche-Studien 27 (1998), S. 333. 23 Dass es sich – wie Conway gegen Nehamas und Rorty betont – hierbei nicht etwa bloß um eine unproblematische, affirmative Reinterpretation handelt, kommt deutlich in einer Vorstufe zu Frçhliche Wissenschaft 290 zum Ausdruck: „Wohlverstanden: es handelt sich nicht um das Ausdeuten des Thatbestandes, sondern um ein Ausbilden, Abnehmen und Hinzuthun: eine grosse Masse zweiter Natur ist hinzuzufgen, und eine andere M erster Natur abzutragen“ (NF, KSA 14, 265). 24 Warum Langer zwar die Gewaltsamkeit von Nietzsches Selbstinterpretation als Voraussetzung der Bejahung herausarbeitet, zugleich aber weiterhin von einer „bedingungslosen [Hervorhebung von mir, J.D.] Annahme von Gegebenheiten […], die das Ich keineswegs im Griff hat“ (Daniela Langer, Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, Mnchen 2005, S. 112) spricht, scheint schwer nachvollziehbar. Versteht man den Gestus der vollkommenen Wunsch- und Ressentimentfreiheit als Produkt eines interpretierenden Willens zur Macht, wird freilich auch die so hufig strapazierte Parallele zum „Typus des Erlçsers“ und seinem „Leben ohne Willen zur Macht“ (Werner Stegmaier, Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von ,Der Antichrist und ,Ecce homo , in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 174) fragwrdig.
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graphie“25 gibt sich durch ihre Brche und Spannungen als solche zu erkennen und erhlt dadurch eine Wendung, die man als selbst-ironisch26 oder selbst-parodistisch27 bezeichnen kçnnte.28 Eben darin, dass Nietzsche zu verstehen gibt, dass sich sein „Anspruch auf das Wort Grçsse“ der „Selbstsucht“ verdankt, der sich hier inszenierende „Große“ also „allzuklein“, allzumenschlich, eben ecce homo ist, kçnnte nun aber eine reflektiertere Wertschtzung des „Kleinen“ liegen.29
25 Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist . Ein philosophischhistorischer Kommentar, Basel 2000, S. 46. 26 Vgl. Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist . Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, S. 47. Zur Mçglichkeit der Ironie von Nietzsches Anspruch siehe auch: Werner Stegmaier, Schicksal Nietzsche? Zu Nietzsches Selbsteinschtzung als Schicksal der Philosophie und der Menschheit, in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 64 sowie 69: „Indem Nietzsche sich in welthistorischer Ironie zum gçttlichen Maßstab aufschwingt, lsst er die vermeintlich gçttlichen Maßstbe als menschliche erkennen“. 27 „[A]t the same time that he idolizes himself, he also subjects the practice of idolatry to the parody it both richly deserves and cannot recuperate. Ecce Homo is a monument, but it is also (and simultaneously) a burlesque self-parody that mocks Nietzsche s own yearnings for solemnity, closure and resolution. […] Although Ecce Homo exemplifies an enabling narrative, whereby Nietzsche is able to affirm his whole life, it simultaneously mocks this strategy by documenting the folly of reducing one s life to a scrapbook of flattering narratives“ (Daniel W. Conway, Nietzsche s Doppelgnger: Affirmation and resentment in Ecce Homo, in: Keith Ansell-Pearson (Hrsg.), The Fate of the New Nietzsche, Aldershot 1993, S. 68). 28 Dass Nietzsche auch in seinen spten Briefen den autohagiographischen Gestus von Ecce homo exerziert (vgl. Daniela Langer, Wie man wird, was man schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, Mnchen 2005, S. 122 ff.), muss nicht zwangslufig ein Einwand gegen ironische oder parodistische Deutungsperspektiven sein: Zunchst gilt es zu bedenken, dass Nietzsche in seinen Briefen oftmals jene textuellen Strategien erprobt, die spter auch in seinen Werken zum Einsatz kommen. Vor allem aber muss betont werden, dass schon die frhen Formulierung des Bejahungsprojekts keineswegs ein „bloß literarisches“, sondern vielmehr ein existentielles Programm charakterisieren. Nichts wre also naheliegender, als dass Nietzsche diese Bejahungsstrategie tatschlich lebt und sie daher auch in seinen Briefen Niederschlag findet. 29 Insofern sich Nietzsches „Anspruch auf das Wort Grçsse“ wesentlich der Wertschtzung des „Kleinen“ verdankt, wrde dies auch den Befund untersttzen, dass Nietzsche „,gross nicht so sehr das (nennt), was anderes berragt, sondern das, was von seinem Gegensatz nicht negiert wird, an ihm nicht zugrundegeht, sondern ihn fr sich noch fruchtbar machen, an ihm wachsen kann“ (Werner Stegmaier, Schicksal Nietzsche? Zu Nietzsches Selbsteinschtzung als Schicksal der Philosophie und der Menschheit, in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 110 f).
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Versteht man den amor fati einem Hinweis Josef Simons 30 folgend als die Bejahung der Endlichkeit des Interpretierens, d. h. mithin als Affirmation der Rckbindung jeglicher Interpretationsansprche an die „kleinen Dinge“, so muss dies auch Konsequenzen fr eben diesen Anspruch auf Bejahung selbst haben: Einem solchen Anspruch auf Bejahung der Endlichkeit jeglicher Interpretationsansprche nmlich kçnnte nur darin entsprochen werden, dass seine unmittelbare Geltung unterlaufen wird, um auch noch seine eigene Endlichkeit, Anspruchshaftigkeit und Interpretationshaftigkeit herauszustellen. Vielleicht erklrt sich so, warum Nietzsche nicht einfach behauptet, „mehr als irgendein Sterblicher Grçsse“ zu haben, sondern vielmehr explizit Anspruch auf das Wort erhebt? Vielleicht erklrt sich so auch das Ecce homo durchziehende bestndige Zugleich von „konstruktiven“ und „dekonstruktiven“ Momenten, von Vereinheitlichung, Idealisierung, ja Apotheose des Selbst auf der einen und deren Unterminierung durch Vervielfltigung und Parodie auf der anderen Seite? Eben dieses Zugleich kçnnte fr den Ausdruck eines so verstandenen amor fati unabdingbar sein, weil sich eine dergestalt reflektierte Wertschtzung der „kleinen Dinge“ nicht mehr eigentlich beanspruchen, sondern nur noch durch den gleichsam ironischen, den Anspruch aufs Spiel setzenden Verweis auf ihre eigene „selbstschtige“ Herkunft anzeigen ließe.31 Nietzsches „Anspruch auf das Wort Grçsse“ qua Bejahung der „kleinen Dinge“ als „Selbstsucht“ und „Grundangelegenheiten des Lebens“ kann sich nur in seiner selbstbezglichen Gebrochenheit, d. h. darin konsistent artikulieren, dass er sich selbst aufhebt und als Produkt jener „kleinen Dinge“ – wenn man so will: als interpretierender Wille zur Macht – zu verstehen gibt.
30 Vgl. Josef Simon, Welt auf Zeit. Nietzsches Denken in der Spannung zwischen der Absolutheit des Individuums und dem kategorialen Schema der Metaphysik, in: Gnter Abel (Hrsg.), Krisis der Metaphysik, Berlin/New York 1989, S. 115. 31 So greift auch Nietzsche selbst in Warum ich so klug bin 10 auf den Begriff des Spiels zurck: „Ich kenne keine andre Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel: dies ist, als Anzeichen der Grçsse, eine wesentliche Voraussetzung.“ (EH, KSA 6, 297) Das Spiel wre demgemß „Anzeichen der Grçsse“, insofern sich die „Grçsse“ im Sinne der Liebe zu den „kleinen Dingen“ gerade darin anzeigt, dass auch noch der „Anspruch auf das Wort Grçsse“ aufs Spiel gesetzt wird.
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I. Die beinahe schon bonmotartige Feststellung von Karl Jaspers, dass man „bei Nietzsche fast immer zu einem Urteil auch das Gegenteil finden [kann]“1, ist mittlerweile Allgemeingut. Perspektivwechsel, Brche und zugespitzte Paradoxien finden sich dabei nicht bloß zwischen den verschiedenen Werken, sondern auch innerhalb fast jeder einzelnen Schrift, wo wir normalerweise keine fundamentalen gedanklichen Entwicklungssprnge erwarten wrden. Einerseits mag genau dieses Phnomen fr die enorme Wirkmchtigkeit und die große Spanne der von Nietzsche aufgezeigten Denkmçglichkeiten verantwortlich sein, die Bernhard-Henri Lvy mit den Worten Canettis erklren lsst, die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts ließe sich „anhand dieses einzigen Kriteriums umschreiben: Wer hat Nietzsche gelesen, wer nicht? Wen hat Nietzsche zum Denken angeregt, wer denkt ohne seine Untersttzung?“2. Andererseits wirft dieses Denken in Widersprchen noch immer die Frage nach dem inneren Zusammenhang des Gesamtwerks Nietzsches auf, das von Edmund Heller einmal als das Ergebnis eines Scheiterns am Werk bezeichnet worden ist.3 Schon ein flchtiger Blick auf das Œuvre Ralph Waldo Emersons, Nietzsches prgendsten Einfluss, zeigt, dass der geistige Nomade Europas in diesem großen Sprachspiel nicht ohne Vorlufer ist. Glcklicherweise ist die philosophische Forschung seit langer Zeit darber hinaus, die Werke beider Denker als Ergsse zweier Dichterphilosophen zu betrachten, die zwar wunderschçn schreiben, aber eben nichts Fassbares und Definitives. Besonders Stanley Cavell und Herwig Friedl sowie in jngster Zeit auch Dieter Thom und Benedetta Zavatta kommt 1 2 3
Karl Jaspers, Nietzsche. Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens, Berlin 1981, S. 17. Bernhard-Henri Lvy, Sartre, Mnchen 2002, S. 166. Vgl. Edmund Heller, Nietzsches Scheitern am Werk, Freiburg 1989, S. 7.
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das Verdienst zu, strukturelle hnlichkeiten im Denken Emersons und Nietzsches aufgezeigt zu haben, die sich nicht im sprachlichen Duktus erschçpfen. Dabei scheint jedoch bisweilen verloren zu gehen, dass die jeweilige Art des Philosophierens nicht nur eine Reaktion darstellt – auf die verlorene „intimicay with existence“4, auf den Skeptizismus oder auf die einer Darstellung sich fortwhrend entziehende, proteische Natur5 –, sondern ganz dezidiert darber reflektiert, was Philosophie leisten kann und leisten soll. Sicherlich stehen die jeweiligen ontologischen Perspektiven am Ausgangspunkt einer solchen Betrachtung, insofern sie die Unzulnglichkeit philosophischer Systeme und terminologischer Fixierungen als adquate Reprsentationen der Welt in den Blick rcken, doch scheint mir die Charakterisierung der Schrift als performative Annherung an eine heraklitische Welt oder ein pluralisiertes Selbst ein wenig zu reduktionistisch.6 Philosophie ist nicht bloß individuell-existentiell, sondern eingebunden in einen gesellschaftlichen und historischen Kontext, so sehr der einzelne Philosoph sich von diesem auch distanzieren mag. Zudem wohnt dem philosophischen Denken und Schreiben stets der zumindest implizite Anspruch inne, progressiv zu sein – nicht im Hegelschen Sinne eines objektiv messbaren Fortschritts, der letztlich eine faktische berlegenheit neuerer Philosophien gegenber lteren konstatieren muss, sondern hinsichtlich der Erçffnung von Bereichen menschlicher Erfahrung. Verfolgt man diesen Gedanken einer Neuausrichtung philosophischer Schrift konsequent, dann wird dabei zugleich deutlich, welch immensen Einfluss Emerson methodologisch, stilistisch und inhaltlich auf das Denken Nietzsches ausgebt hat.
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Stanley Cavell, Emerson s Transcendental Etudes, Stanford 2003, S. 36. Vgl. hierzu Herwig Friedl, Der Schriftzug der Natur: Ralph Waldo Emersons essayistisches Denken, in: Vittoria Bors/Gertrude Cepl-Kaufmann et al. (Hrsg.), Schriftgedchtnis – Schriftkulturen, Stuttgart/Weimar 2002. Zur Deutung der Emersonschen Schrift als performativen Akt vgl. insbesondere die Arbeiten von Richard Poirier, The Renewal of Literature. Emersonian Reflections, New York 1987, und Poetry and Pragmatism, Cambridge 1992; eine Interpretation des Personenbegriffs, der sich gegen eine selbstidentische Identitt sperrt, und dessen Nutzbarmachung fr die Moralkritik Nietzsches und Emersons bietet Dieter Thom, Jeder ist sich selbst der Fernste. Zum Zusammenhang personaler Identitt und Moral bei Nietzsche und Emerson, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), S. 316 – 343.
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II. Seit der bemerkenswerten Studie von Eduard Baumgarten7 hat die philologische Suche nach Spuren Emersons in den Werken Nietzsches eine beeindruckende Reihe direkter und indirekter Bezge nachweisen kçnnen und eine fundierte Bewertung der Rezeption ermçglicht.8 Fr einen umfassenden Strukturvergleich beider Denker sei jedoch der Blick noch einmal auf die lebenslange Auseinandersetzung Nietzsches mit dem Werk des Amerikaners gelenkt. Zeit seines Lebens war Nietzsche nicht nur in berwltigendem Maße produktiv ttig, sondern stets auch ein vielseitiger und kritischer Leser. Trotz der wiederkehrenden Augen- und Kopfschmerzen und der „fast erloschenen Augen“ (An Ernst Schmeitzner, KGB III/1, Bf. 85), die ihn dazu zwangen, die Durchsicht der Manuskripte seiner spten Schriften an Heinrich Kçselitz zu delegieren, ließ er sich an beinahe jeden Aufenthaltsort Bcherkisten und eigens bestellte Lektre nachsenden. Doch whrend jener „Klumpfuß“ von Bchern bestndig wechselte und sein Urteil ber das Gelesene rasch von Begeisterung in Ablehnung umschlagen konnte, nahmen die Werke Emersons eine auffllige Sonderstellung ein. Bereits als Schler hatte Nietzsche die deutsche bersetzung der ersten Ausgabe der Essays gelesen – deutliche Spuren finden sich in seinem Jugendaufsatz Fatum und Geschichte – und noch im Manuskript zu Ecce Homo, wenige Wochen vor seinem Zusammenbruch, heißt es: Emerson, mit seinen Essays, ist mir ein guter Freund und Erheiterer auch in schwarzen Zeiten gewesen: er hat so viele Skepsis, so viele „Mçglichkeiten“ in sich, dass bei ihm sogar die Tugend geistreich wird … Ein einziger Fall: … Schon als Knabe hçrte ich ihm gerne zu. (NF, KSA 14, 476 f.)
Im Druckmanuskript wird Emerson nicht mehr erwhnt, doch kurz vor der entsprechenden Stelle findet sich in Ecce Homo die Aussage, dass Nietzsche nur eine Handvoll Bcher zu den „gerade fr mich bewiesenen“ (EH, 7
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Eduard Baumgarten, Mitteilungen und Bemerkungen ber den Einfluß Emersons auf Nietzsche, in: Walter Fischer (Hrsg.), Jahrbuch fr Amerikastudien, Bd. 1, Heidelberg 1956. Vgl. insbesondere George Stack, Nietzsche and Emerson. An Elective Affinity, Athens 1992; Benedetta Zavatta, Nietzsche, Emerson und das Selbstvertrauen, in: Nietzsche-Studien 35 (2006), S. 274 – 297 und Herwig Friedl, Fate, Power, and History in Emerson and Nietzsche, in: Michael Lopez (Hrsg.), Emerson Society Quarterly 43 (1997), S. 267 – 293.
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KSA 6, 284) zhlte. Ob die Emerson schen Werke nun den Prototypen jener „Zuflucht“ gewhrenden Bcher darstellten, ist schwer zu entscheiden; unbestreitbar ist jedoch sein eigenes Urteil: „Emerson [:] Ich habe mich nie in einem Buch so zu Hause und in meinem Hause gefhlt als – ich darf es nicht loben, es steht mir zu nahe.“ (NF, KSA 9, 588) Wenn George Stack in seiner detaillierten Untersuchung zu den produktiven Einflssen Emersons auf Nietzsche immer wieder den Vorbildcharakter des Amerikaners betont, wagt er sich dabei nicht unerheblich auf das Glatteis der Spekulation: „There are so many instances of this phenomenon – that is, Nietzsche adopting Emerson not only as teacher and model, but as alter ego – that to speak of intellectual ,influence here is a considerable understatement.“9 Der Fokus auf eine immanente Hierarchie nach Art eines intensiven Lehrer-Schler-Verhltnisses beider Denker beschreibt zwar treffend die große Bewunderung Nietzsches, tendiert jedoch dazu, aus der einseitigen Verbindungslinie ein einseitiges Beeinflussungsverhltnis zu machen. Der konkrete Umgang Nietzsches mit den Werken und Gedanken Emersons zeigt eine andere Perspektive auf. Die von Fabricius bersetzte Ausgabe der Versuche im Besitz Nietzsches, die er whrend seiner Reisen und Wanderungen stets bei sich trug,10 zeugt von immer wieder neuen Auseinandersetzungen. Er unterstreicht, kommentiert und macht sich Notizen in seinen zahllosen Heften. Zwei Aspekte sind hierbei im Hinblick auf die Frage einer Beeinflussung besonders signifikant: Zum einen die Tatsache, dass Nietzsche das Handexemplar der Versuche, in dem „die vorderen und rckwrtigen Deckbltter berst [sind] mit Bemerkungen“11, wie seine eigenen Notizhefte behandelt und den ersten Entwurf des Zarathustra auf dessen Umschlagseiten skizziert. Emerson erscheint hier nicht als Gegenber, sondern als Sammlung ureigener Gedanken, was nicht zuletzt ein Grund dafr sein mag, dass Nietzsches Schriften kaum auf Emerson verweisen, im Gegensatz zu Schopenhauer, Wagner, Montaigne oder Re. Die Aufstze gehçren ihm nicht deshalb, weil er sich ihre Inhalte eklektizistisch aneignet, sondern weil sie bereits seine eigenen sind, mit dem einzigen Unter9 George Stack, Nietzsche and Emerson. An Elective Affinity, Athens 1992, S. 44 f. 10 Vgl. Eduard Baumgarten, Mitteilungen und Bemerkungen ber den Einfluß Emersons auf Nietzsche, in: Walter Fischer (Hrsg.), Jahrbuch fr Amerikastudien, Bd. 1, Heidelberg 1956, S. 97 f. 11 Eduard Baumgarten, Mitteilungen und Bemerkungen ber den Einfluß Emersons auf Nietzsche, in: Walter Fischer (Hrsg.), Jahrbuch fr Amerikastudien, Bd. 1, Heidelberg 1956, S. 97 f.
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schied, dass diese nicht von ihm, sondern von seiner „Bruder-Seele“ (An Franz Overbeck, KGB III/1, Bf. 477) niedergeschrieben wurden. Der zweite bemerkenswerte Aspekt sind die wenigen verstreuten Anmerkungen in seinen Notizheften, die sich explizit auf Emerson beziehen. Hufig finden sich Verweise auf andere Bcher, die Nietzsche offensichtlich noch einmal zu konsultieren gedachte, doch whrend sich berall genaue Seitenangaben finden, steht Emerson gelegentlich ohne przisierende Stellenangabe wie ein Zusatzvermerk an der Seite. Ob ein Vermerk wie „,Man muß zu Fuß zu Markt tragen, was man mit Mhe erarbeitet hat E“ (NF, KSA 8, 563) fr die Ausarbeitung der Vorrede des Zarathustra spter noch einmal relevant wurde, ist kaum eindeutig zu entscheiden, festzuhalten bleibt jedoch, dass Nietzsche ein Stichwort auszureichen schien, um sich einen bei Emerson ausformulierten Gedanken ins Gedchtnis zu rufen. Dasselbe Phnomen hlt Baumgarten fr die Exzerpte fest, die offensichtlich „wie Erinnerungsknoten, wie comprimierte Memoranden in Nietzsches Phantasie fungiert haben“12. Die Zuschreibung einer Lehrerrolle Emersons fr Nietzsche beschreibt somit zwar treffend die Momente der Rezeption und der hnlichkeit, allerdings zu Ungunsten einer angemessenen Bercksichtigung des Umgangs Nietzsches mit seinem Exemplar der Versuche. Zumindest aus seiner eigenen Sicht ist Emerson weniger Vorbild, als tatschlich sein alter ego im wçrtlichen Sinne, also die Prsenz der eigenen Gedanken in einem anderen Ich. Die Versuche sind weniger die Schrift eines verwandten Denkers als vielmehr „Prsenz des Eigenen, des Eigentlichen“13.
III. Grundstzlich sehen sich sowohl Emerson als auch Nietzsche mit dem Problem konfrontiert, eine Welt darzustellen, die sich in ihrem innersten Wesen einer adquaten Reprsentation durch die Sprache immer wieder entzieht. Fr Emerson kennt die Natur weder Substanz noch Wesenhaf-
12 Eduard Baumgarten, Mitteilungen und Bemerkungen ber den Einfluß Emersons auf Nietzsche, in: Walter Fischer (Hrsg.), Jahrbuch fr Amerikastudien, Bd. 1, Heidelberg 1956, S. 108. 13 Herwig Friedl, Der Schriftzug der Natur: Ralph Waldo Emersons essayistisches Denken, in: Vittoria Bors/Gertrude Cepl-Kaufmann et al. (Hrsg.), Schriftgedchtnis – Schriftkulturen, Stuttgart/Weimar 2002, S. 461.
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tigkeit. „To Be is the unsolved, unsolvable wonder.“14 – Sein ist ein Verb, eine Aktivitt und nicht unabhngig vom jeweils konkreten Seinsvollzug zu denken. Den ontologischen Zusammenhang zwischen Werden und Sein begreift Emerson als „circular power returning into itself“15 und verweist mit dem Ausdruck „power“ bereits terminologisch auf Nietzsches Begriff der Macht. Die Welt ist gerade nicht stillstehende Identitt, sondern schafft im bestndigen Selbstberschreiten provisorische Entitten, die sich im Werden einer festen Identitt dann immer wieder notwendig entziehen. Das kontinuierliche Fortrcken des Werdens ist durch einen steten berschuss an Macht gekennzeichnet, der es den augenblicklichen Zustand berwinden lsst. „Exaggeration“ – bermaß – „lies in the course of things“, heißt es in dem Essay mit dem Titel Nature. „To every creature nature added a little violence of direction“16, sodass alles Seiende kontinuierlich von sich fortrckt und folglich niemals mit sich identisch ist. Durch die kreisfçrmige Rckkehr in sich selbst wird das Sein im Fortschreiten gleichsam zu dem, was es ist, ohne dabei ein individuelles So-Sein unabhngig vom „Vollzug seiner Differenz“17 zu haben. Jedes Sein ist damit nicht mehr als ein Provisorium, das im Moment der Ankunft bei sich selbst diesen bereits wieder transzendiert. „Power“ grndet sich bei Emerson in dem kontinuierlichen Spannungsverhltnis zwischen dem zu berwindenden So-Sein einerseits und dem zu Werdenden andererseits immer wieder in sich selbst. Darber hinaus unterliegt dieses prozesshafte Geschehen keinem absoluten oder gçttlichen Telos, das einem sich selbst bedingenden Sein schließlich zuwider laufen wrde. Es ist aber auch nicht per se blind oder chaotisch. Zwar hat das Sein kein Zentrum, von dem ausgehend ein teleologischer Entwurf mçglich wre, aber jeder einzelne Prozess des Werdens ist intentional. Jeder Mittelpunkt ordnet die Welt um sich herum aus sich heraus – Nietzsche spricht spter vom Willen zur Macht als Auslegung allen Geschehens –, so dass die Natur als System konzentrischer Kreise verstanden werden kann. Da jede Deutung von einem eigenen Mittelpunkt ausgeht, der zum Ausgangspunkt fr die Zuschreibung eines mçglichst 14 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 12, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 15. 15 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 1, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 86. 16 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 3, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 177. 17 Herwig Friedl, Fate, Power, and History in Emerson and Nietzsche, in: Michael Lopez (Hrsg.), Emerson Society Quarterly 43 (1997), S. 463.
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umfassenden Telos werden kann, verbleibt das prozessual Seiende insgesamt ohne objektive Ausrichtung auf ein Endziel. Diese Intentionalitt der Macht begreift Emerson in bewusst anthropomorpher Diktion, wiederum in offensichtlicher Vorwegnahme der spteren Ausarbeitung bei Nietzsche, auch als „exercise of the Will“18. Insofern Macht jedoch keine Identitt jenseits ihres Seinsvollzugs besitzt, „kann sie auch nicht als von der Gerichtetheit des Willens getrennt gedacht werden. Paradoxerweise existiert sie stets nur als Potential, als Wille zum Sein oder eben als Wille zur Macht. „Power ceases in the instant of repose; it resides in the moment of transition from a past to a new state, in the shooting of the gulf, in the darting to an aim.“19 Kaum ein anderer Begriff der Philosophie der vergangenen einhundert Jahre wurde mit gleicher Hartnckigkeit und gleichem Enthusiasmus in immer neuen Kontroversen gedeutet, umgedeutet und fehlgedeutet wie Nietzsches „Wille zur Macht“. Vor dem Hintergrund der einflussreichen Konzeption Emersons erscheinen viele Aspekte seiner Ontologie als Weiterfhrung, Ergnzung oder Radikalisierung der Essays des Amerikaners und erlauben damit gleichzeitig einen erhellenden Zugang zur Gesamtheit seines Denkens. Nietzsche artikuliert seine Vorstellung vom Gesamtzusammenhang der Welt erstmalig im Zarathustra. „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht“ (Za, KSA 4, 147), und dieser Wille ist unabhngig vom tatschlichen relativen Machtstatus des betreffenden Lebendigen. Es tritt keine Sttigung des Willens ein, sondern vielmehr ist er als immanentes Prinzip stets gleich wirksam, sodass Wille und Macht niemals als getrennte Entitten zu denken sind.20 Wenn die Terminologie hier den 18 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 1, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 45. 19 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 2, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 69. 20 Hier wird deutlich, warum Kaufmann Recht hat, wenn er feststellt, dass keine bloße „dialektische Folgerung aus Schopenhauers Metaphysik“ vorliegt. Wenn Schopenhauer den Weltwillen an die Stelle des kantischen Ding an sich setzt, nimmt er eine Bestimmung dessen vor, das sich laut Nietzsche als „ein uns unzugngliches, unbegreifliches Anderssein“ (MA, KSA 2, 29; vgl. auch GM, KSA 5, 280) jeder Bestimmung entziehen wrde, gesetzt, seine Existenz wre berhaupt zu beweisen. Letztlich bleiben Ding an sich und reiner Wille der Grammatik geschuldete Subjekte, die aus dem Netz einer im Werden begriffenen Welt herausfallen. Eine Annherung aus der Emerson schen Perspektive erweist sich somit bereits im Ansatz als schlssiger. Walter Kaufmann, Nietzsche: Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1982, S. 240.
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Verdacht nahe legt, es handele sich um eine anthropologische oder kulturphilosophische Theorie, wird an anderer Stelle deutlich, dass der Wille zur Macht den Status einer Ontologie beansprucht, die im Ausgang der gçttlichen Intuition Heraklits einen radikalen Bruch mit jeder Form von Substanzmetaphysik bedeutet. Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, […] als Spiel von Krften und Kraftwellen zugleich Eins und „Vieles“, hier sich hufend und zugleich dort mindernd, ein Meer in sich strmender und fluthender Krfte, ewig sich wandelnd, ewig zurcklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr […] diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstçrens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollste, dieß mein Jenseits von Gut und Bçse, ohne Ziel, wenn nicht im Glck des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht der Ring zu sich selber guten Willen hat, – wollt ihr einen Namen fr diese Welt? […] Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem! (NF, KSA 11, 610 f.)
In Anlehnung an Emerson, jedoch mit ungleich grçßerer Wortgewalt, verschmelzen im Willen zur Macht Essenz und Existenz, So-Sein und Dasein. Wille und Macht sind keine Bestandteile eines dualistischen Universums, die sich als getrennte Entitten zueinander verhalten kçnnten. Dem Willen kommt keine Existenz unabhngig von seinem Machtstreben zu, ebenso wie Macht niemals als Disposition oder gar Endziel gegeben ist. Vielmehr existiert alles Seiende nur im Modus des Machtstrebens, der sich zugleich als Fortrcken und als Hinstreben ußert. Wenn Nietzsche den Willen zur Macht als grundlegende Charakterisierung des Seinvollzuges bestimmt, folgt daraus keinesfalls ein monistisches Universum, das durch ein bergeordnetes Sein strukturiert und geordnet wird.21 „Er ist nicht ein der Welt Zugrundeliegendes, das Leben hervorbringt oder sich als Kunst entußert oder sich als Menschheit verwirklicht.“22 Stattdessen besteht die Welt aus einer endlosen Anzahl von „Willens-Punktuationen“ (NF, KSA 13, 36 f.), die jede fr sich Wille zur 21 Bei Safranski heißt es hierzu, dass die Philosophie des Willens zur Macht „die Vision einer agonalen, dynamischen Pluralitt am Grunde des Seins“ sei. Die Ausfhrung ist an dieser Stelle irrefhrend, erweckt sie doch durch den Begriff des Seinsgrundes den Anschein, es gebe eine Seinsordnung oder gar ein als Einheit verstandenes Sein, welches sich in unterschiedlichen Willens-Punktuationen manifestiere. Rdiger Safranski, Nietzsche: Biographie seines Denkens, Frankfurt am Main 2002, S. 300. 22 Wolfgang Mller-Lauter, Nietzsche Interpretationen I – ber Werden und Wille zur Macht, Berlin 1999, S. 45.
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Macht sind und auf alle anderen daseinskonstitutiven Entitten bezogen sind. Die Rckfhrung der Wirkung auf ein substantielles Wirkendes ist fr Nietzsche auch zentraler Kritikpunkt an der mechanistischen Naturwissenschaft, die zwar die sinnlich wahrnehmbare Welt als Bewegung deutet, diese Bewegung allerdings wieder letzten unwandelbaren Ursachen – den Atomen – zuschreibt (GM, KSA 5, 280). Ein Ding ist nicht von seinen Wirkungen zu trennen; es unterliegt ihnen nicht wie die aristotelische Substanz den Akzidenzien, sondern konstituiert sich fortwhrend durch seinen Einfluss auf alle anderen, ebenfalls immer nur provisorischen Entitten. Alles Seiende wird durch Bezugnahme auf anderes Sein zu dem, was es ist, ohne in dem gewordenen Sein verharren zu kçnnen, denn „was […] im Dasein ist, wie kçnnte das noch zum Dasein wollen!“ (Za, KSA 4, 149). Whrend Emerson den Prozess der unablssigen Selbstgrndung als einen Akt des Fortrckens von sich konzipiert, bestimmt Nietzsche das Werden zum Sein als Ausdehnung des Machtbereichs. „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerstnden ußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht.“ (NF, KSA 12, 424)
IV. Ein solches Denken, das die Welt als Ausdruck einer Macht versteht, die in jedem Moment gleichzeitig ihre eigene Identitt schafft und wieder vernichtet, verlangt nach einer Ausdrucksform, die dem fließenden und fortfließenden Charakter des Seins gerecht wird. Emersons metaphysische Intuition ist damit nicht nur inhaltlich revisionr, sondern zugleich revolutionr in ihrer Kritik traditioneller begrifflicher Philosophie. Damit sieht Emerson sich mit dem Problem konfrontiert, wie die Verbalisierung provisorischer Entitten mçglich ist, die sich im Moment ihrer existentiellen und sprachlichen Manifestation bereits wieder im Prozess des Werdens zum Sein befinden. Die sprachliche Fassung des Denkens bei Emerson – wie auch bei Nietzsche – entspringt der ontologischen Intuition, und ihr verschriftliches Denken kann als unablssiger Versuch verstanden werden, das Sein selber zum Ausdruck kommen zu lassen. Die Abgeschlossenheit metaphysischer Systeme muss immer hinter der niemals abgeschlossenen Natur zurckbleiben, und traditionelle Metaphysik ist aus genau dem Grunde zum Scheitern verurteilt, dass sie versucht, Sein in Definitionen und fixen Begriffen zu reprsentieren.
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I confess to a little distrust of that completeness of system which metaphysicians are apt to effect. T is the gnat grasping the world. All these exhaustive theories appear indeed a false and vain attempt to introvert and analyze the Primal Thought. That is upstream, and what a stream! Can you swim up Niagara Falls?23
Wenn nun aber auch alle Auslegungen und Wesenszuschreibungen „radikal provisorisch“24 sind, ist es unmçglich, dauerhafte Zustnde durch eine objektive und konservierende Sprache abzubilden. Sprache ist genauso transitiv wie die Welt selbst, sodass auch Wahrheit streng genommen nur im Moment der ußerung eines wahren Satzes besteht. „In my thought I seem to stand on the bank of a river and watch the endless flow of the stream, floating objects of all shapes, colors and natures; nor can I much detain them as they pass, except by running beside them a little way along the bank.“25 Es ist niemals mçglich, endgltige Wahrheiten zu formulieren, obwohl gerade der Philosoph stetig dazu verleitet wird. Einerseits scheint es eine sprachinhrente Eigenschaft zu sein, Dinge und Tatsachen nicht nur zu bezeichnen, sondern diese Bezeichnungen zu scheinbar objektiven Identittszuschreibungen gerinnen zu lassen. „Every thought is a prison; every heaven is also a prison“26, oder in Nietzsches Worten: „Jedes Wort ist ein Vorurtheil“ (MA, KSA 2, 577). Sobald eine Feststellung oder ein Argument als Gedanke verbalisiert ist, verschwinden alternative Perspektiven auf die Welt hinter den selbst errichteten Mauern von Sprache. Andererseits zeichnet kulturelle Prgung des Menschen fr den Missbrauch von Sprache verantwortlich. „The corruption of man is followed by the corruption of language.“27 Ein neuer Gedanke, der technischen Fortschritt oder eine andere Betrachtung menschlicher Gesellschaft erlaubt, hemmt und limitiert die Mçglichkeiten weiterer gedanklicher Entfaltung, sobald er fr verbindlich erklrt wird. Emersons große Bewunderung fr inno23 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 12, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 11. 24 Herwig Friedl, Der Schriftzug der Natur: Ralph Waldo Emersons essayistisches Denken, in: Vittoria Bors/Gertrude Cepl-Kaufmann et al. (Hrsg.), Schriftgedchtnis – Schriftkulturen, Stuttgart/Weimar 2002, S. 465. 25 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 12, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 15. 26 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 3, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 36 f. 27 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 1, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 35.
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vative Denker, die gesellschaftliche Denkmuster gesprengt haben, und seine gleichzeitige Verachtung fr deren berzeugte Anhngerschar tritt besonders deutlich in der Person Jesu hervor. Die Worte und Gleichnisse Christi haben den Platz seiner Wahrheit eingenommen und haben das Christentum zu einem Mythos verkommen lassen. Nietzsches radikale Kritik an der Dogmatisierung des Christentums durch Paulus wird hier als Kritik kultureller und sprachlicher Setzung vorweggenommen. Die stete Gefahr der Dogmatisierung des Denkens begrndet die Forderung nach unabhngiger, nonkonformistischer Offenheit gegenber dem reichhaltigen Arsenal an Mçglichkeiten, die das Sein erçffnet. Keine einzige Sprache kann beanspruchen, die Welt adquat zu beschreiben, und in letzter Konsequenz ist Wahrheit nicht nur temporr, sondern vollkommen individuell. Die Metapher der konzentrischen Kreise aus dem Essay Circles ist somit auf den Wahrheitsbegriff bertragbar, und jede perspektivische Deutung der Welt ist genau dann wahr, wenn sie alle aktualen geistigen und sinnlichen Eindrcke aus sich heraus interpretiert. Aufgrund der Tatsache, dass Denken und Sprache bereits korrumpiert sind und in metaphysischen Abstraktionen ein Hçhepunkt der FestSchreibung von Gedanken erreicht ist, bedarf es einer Rckkehr zum Zustand der Unvermitteltheit und Bildhaftigkeit, einer Re-Naturalisierung von Denken und Schrift. Diese Rckkehr zur ursprnglichen Sprache vollzieht die Poesie, deren Dichter Emerson als befreiende Gçtter feiert. In der Dichtung werden Worte erneut der sinnlichen Natur entliehen und als Metaphern oder Symbole zur Schçpfung neuer Bedeutungen verwendet. Die Wiederherstellung einer direkten Verbindung von Sprache und Erscheinung ist in der Dichtung niemals endgltig, denn „all symbols are fluxional: all language is vehicular and transitive, and is good, as ferries and horses are, for conveyance, not as farms and houses are, for homestead“28. Der Dichter etabliert keine ein-eindeutige Bedeutungsrelation zwischen Wort und Objekt, sondern kreiert spontane Sinnschçpfungen, sodass Worte stimmungs- und kontextabhngig andere Bedeutungen tragen. Dasselbe Wort kann in unzhlig vielen Artikulationen eingesetzt werden und evoziert darber hinaus bei jedem Lesevorgang weitere innovative Bedeutungsrume. Insofern lyrische Sprache derart den Gestus der Selbstberwindung nachvollzieht, ist sie bereits die Sprache einer neuen Metaphysik, in der sich die emblematische Welt selbst zeigt. Sowohl die ontologische Struktur 28 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 3, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 37.
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der Welt als auch ihr symbolischer Charakter setzen sich in der menschlichen Schrift fort. Emersons Denken und Schreiben erreichen dadurch jedoch nicht den Status einer objektiv fixierten oder wahren Reprsentation der Natur in Schriftform, sondern stellen lediglich als Handlung oder Ereignis die Fortfhrung des heraklitischen Flusses dar. Der Prozess des Schreibens kann folglich niemals abgeschlossen sein; Emerson schreibt gegen das Schreiben selbst an, und sein Denken kann nur als work in progress Bestand haben. In jedem Moment der ußerung eines Gedankens deutet der Mensch die Welt aus der einzig mçglichen, nmlich der subjektiven Perspektive heraus, und die Leugnung der Relevanz des eigenen Verstndnisses der Welt wrde zu Handlungsunfhigkeit fhren. Um die Handlungsfhigkeit zu bewahren und gleichzeitig zu verhindern, dass die artikulierte Perspektive eine faktische und bestimmende Position einnimmt, besteht eine der wichtigsten Fhigkeiten des Menschen im Vergessen. Vergessen bedeutet dabei keinen Verlust, sondern eine Abkehr von der unumstçßlichen Gewissheit jeder vorigen Bestimmung von Sein. Jede Kategorisierung und Strukturierung der Welt soll hinter die Kategorien zuvor eingenommener Perspektiven zurckgehen, um nicht von Beginn an die Spielrume fr das Denken zu begrenzen, denn „[t]he only sin is limitation“29 – die einzige Snde besteht in der Begrenzung. Hier wird deutlich, dass die irritierenden Antinomien, die uneinheitliche Terminologie und die Vielzahl der Metaphern, die einer stringenten Argumentation zuwider laufen, fr Emerson die Ausdrucksform einer neuen Metaphysik bedeuten, in der sich das Sein selbst verbalisiert. Widersprche schließen sich nicht a priori gegenseitig aus, sondern bedeuten unterschiedliche Perspektiven und sind unterschiedliche Versionen einer Sprache, die immer Sprache der Natur ist. Aristoteles Satz vom ausgeschlossenen Dritten hat fr Emerson keine Verbindlichkeit. Die Hauptintention von Philosophie kann nicht mehr in der Feststellung allgemein gltiger Erkenntnisse bestehen, sondern ist vielmehr Aufforderung, eigene Perspektiven einzunehmen und die Welt aus einem originalen, nicht tradierten Blickwinkel zu deuten. Wenn dies gelingt, dann stellt jeder Mensch eine neue Methode dar, Dinge gedanklich zu ordnen. Aus dieser Perspektive ließe sich die Frage, warum Emerson berhaupt die niemals zu vollendende Aufgabe des Fortschreibens der Natur unternimmt, mit dem Verweis auf die pragmatistischen Tendenzen seines 29 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 2, Riverside Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 287.
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Werkes beantworten, von denen auch William James sehr profitiert hat. Zum einem liegt dem kontinuierlichen Schaffen die Erçffnung neuer Mçglichkeiten des Denkens zugrunde. „All good is eternally reproductive. The beauty of nature re-forms itself in the mind, and not for barren contemplation, but for new creation.“30 Das bloß gedankliche Erschließen der dem Sein inhrenten Mçglichkeiten wre jedoch nur ein unvollstndiges Ausschçpfen, wenn es nicht realisiert wrde. Das kreative und produktive Denken schafft neue Perspektiven und Anreize fr menschliches Handeln. „A man is fed, not that he may be fed, but that he may work.“31 Wenn Emerson also festhlt, dass seine Metaphysiken – explizit im Plural – „to the end of use“32 sind, erklrt er die Fortsetzung des Schçpfungsprozesses der Natur durch den Menschen zum Ziel seiner gedanklichen Auseinandersetzung mit der Welt. So wie Kunst eine der offensichtlicheren Ttigkeiten ist, in denen der Mensch als Werkzeug der Natur fungiert, so wie Emersons Schrift eine Verbalisierung darstellt, in der die Natur selbst sich zeigt, so ist menschliche Produktivitt eine Fortfhrung der kontinuierlichen Realisierung von Mçglichkeiten in der Natur. Emersons gesamte Philosophie ließe sich somit auch unter dem Begriff des Produktivismus subsumieren, wre dies nicht wieder eine begriffliche Einengung, die dem Gestus seines Denkens nicht gerecht wrde. „A foolish consistency is the hobgoblin of little minds“33, der man sich folglich auch an dieser Stelle nicht schuldig machen sollte. Vor diesem Hintergrund lsst sich das Denken Nietzsches in vielen Aspekten als eine Fortfhrung und Radikalisierung des Emerson schen Philosophierens verstehen – nicht nur in einzelnen Denkmotiven, sondern strukturell. Auch fr ihn kann die Welt niemals außerhalb des Modus der Perspektivitt wahrgenommen werden, sondern ist vielmehr konstituiert durch Ausgangspunkte fr Perspektiven. Um eine Entscheidung ber die Adquatheit einer Aussage treffen zu kçnnen, msste das Ausgesagte in Abwesenheit selektiver Zugnge verfgbar sein, aber „der perspektivische, tuschende Charakter gehçrt zur Existenz“ (NF, KSA 11, 460), und 30 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 1, Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 28. 31 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 1, Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 20. 32 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 12, Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 13. 33 Ralph Waldo Emerson, The Complete Works in 12 Volumes, Bd. 2, Edition reprinted, J. Elliot Cabot (Hrsg.), London 1903, S. 58.
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wenn man das Perspektivische jeder Interpretation abrechnet, bleibt keine Welt mehr brig. Nietzsche bleibt jedoch keineswegs bei der Konstatierung der Perspektivitt aller Weltdeutung stehen. Auch wenn es keine Wahrheit gibt, lsst sich fr jede Interpretation festhalten, dass sie einer Beschrnktheit unterliegt, weil sie eine unendliche Vielzahl von alternativen Interpretationen ausschließt. Jahrtausendelang hat die Menschheit nach dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch Wahrheiten formuliert und damit deren jeweiliges Gegenteil negiert. Die Geschichte der menschlichen Wissenschaft und Wissensgenese bedeutet gleichermaßen ein Erçffnen und ein Einschrnken von Erkenntnismçglichkeiten. Weil jede menschliche Untersuchung eine bestimmte Sichtweise voraussetzt, schließt sie zugleich eine unendliche Anzahl anderer Sichtweisen aus. Die Fhigkeit zur Perspektivierung ist lediglich der Ausgangspunkt fr ein nomadisches Denken, welches sich selbst immer wieder aufs Spiel setzt, indem es willkrlich zwischen Fr und Wider wechselt und Aussagen als Transportmittel – Emersons „ferries and horses“ – zu neuen Einsichten betrachtet. Das Denken schafft sich Widerstnde, von denen es sich erneut absetzen kann. So wie der Wille zur Macht sich nur an Widerstnden ußern kann (vgl. NF, KSA 12, 424), bençtigt auch das Denken Haltepunkte, um auf sich selbst zurckgeworfen zu werden. Diese Widerstnde schafft Nietzsche sich mit jedem Aphorismus und jeder Schrift, von denen aus der unabgeschlossene Prozess des Denkens weitergehen kann. Aus diesem Grund betont Nietzsche immer wieder, dass seine Denkweise „eine kriegerische Seele“ (FW, KSA 3, 403) erfordert. Leben als Prozess des Interpretierens bedeutet „fortwhrend etwas von sich abstossen, […] grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird“ (FW, KSA 3, 400).34 Jede neue Orientierung als Akt des Schaffens ist zugleich die Zerstçrung alter Orientierungsmaßstbe. Jeder Zustand berschreitet sich fortwhrend, aber der Philosoph ist, so wçrtlich, „Artist genug, um einen Zustand festhalten zu kçnnen, bis er Form, bis er 34 Nietzsches Konzeption bewegt sich damit jenseits einer Wissenschaftstheorie. Wenn etwa Kuhn davon ausgeht, dass der wissenschaftlichen Forschung bestimmte Paradigmen zugrunde liegen, die erst im Falle sich hufender Anomalien hinterfragt und entsprechend ersetzt werden, dann stellt er eine empirisch belegte Hypothese darber auf, wie bestimmte Grundannahmen sich nach und nach ablçsen. Nietzsches Projekt einer frçhlichen Wissenschaft hingegen unternimmt ein aktives Aufstellen und Abstoßen von experimentellen Interpretationen. Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1981, S. 20.
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Gestalt wird“ (An Franz Overbeck, KGB III/5, Bf. 1067), um lebensdienliche Interpretationen zu gewinnen. So vollzieht Nietzsches Literatur den Gestus des Willens zur Macht, indem sie sich selbst als etwas zu berwindendes versteht. Im Gegensatz zu Emerson schreibt er nicht mit der Natur, sondern stets einen Moment lang gegen sie, um ihr einen neuen Gedanken abzuringen. Schreiben bedeutet dabei die einzige Mçglichkeit, seine „Gedanken los zu werden“ (FW, KSA 3, 448). Der Gedanke, die augenblickliche Perspektive, ist dann kein notwendiger Bestandteil des Selbst mehr, sondern eine festgestellte Tatsache, zu der das Denken sich wieder neu verhalten kann. Solange der Denker eine Perspektive nicht berwunden hat, ist sie ihm notwendig, weil sie bestimmt, wer er ist. Das Schreiben, das fr Nietzsche immer eine Selbstberwindung anzeigen sollte (MA, KSA 2, 441), befreit somit fr einen Moment von Festlegungen und gibt dem Selbst seine spielerische Freiheit wieder. Das Buch fr freie Geister bezeichnet entsprechend jene Menschen als hçchste Exemplare, die nichts festhalten, sondern „als die Handelnden und Auslebenden ohne allen Rest zurckbleibender innerer Vorgnge“ (MA, KSA 2, 484) sind. Wenn einmal getroffene Feststellungen keinen verbindlichen Charakter mehr haben, bedeuten Paradoxien keinen logischen Mangel, sondern stehen „im Kopfe des Lesers“ (MA, KSA 2, 163). Jede Erfahrung kann ins Gegenteil umgeworfen werden, wodurch der philosophische Experimentalismus wieder zu einem Spiel, einem großen Sprachspiel wird – Nietzsches Begriff dafr ist die „Frçhliche Wissenschaft“. Selektive Wahrnehmung ist fr die Orientierung im Denken notwendig, aber der freie Geist lsst sich durch dieses pragmatische Zugestndnis nicht in der Freiheit seines Denkens einschrnken. Die Abkehr von alten Orientierungen – verpackt in der Verkndung vom Tod Gottes – macht dem menschlichen Intellekt die Welt wieder unendlich, insofern Perspektiven nicht mehr der Beschrnkung unterliegen, etwa mit der Existenz einer Gottheit oder theologischen Dogmen bereinstimmen zu mssen. Den freien Geistern ist Perspektivismus damit keine Beschrnkung mehr, sondern eine Chance, weil sie erkannt haben, dass selektive Wahrnehmung fr die Orientierung im Denken und Handeln notwendig ist, ohne sich von diesen Perspektiven in der Freiheit ihres Denkens einschrnken zu lassen. Der Mensch muss seine Zugangsweise zur Welt „in Werken und Handlungen entlade[n]“ (MA, KSA 2, 219), die dann sowohl von praktischem Nutzen als auch Ausgangspunkt fr neue Denkbewegungen sind.
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Die zentrale Frage, die sich aus den gemachten Beobachtungen ergibt, ist die nach dem Wert einer einzigen Interpretation. Welches Kriterium lsst sich anfhren, damit das Verstndnis der Welt als Chaos konkurrierender Machtwillen nicht als „eine perspektivische Weltinterpretation neben zahllosen anderen“35 bagatellisiert wird? Die Welt ist niemals an sich, ohne perspektivischen Zugang erfahrbar. Folglich kann der Wert einer Interpretation nicht in grçßtmçglicher bereinstimmung mit der Realitt bestehen. Eine Weltauslegung ist jedoch „ein Symptom des Wachsthums oder Untergehens“ (NF, KSA 12, 120), weil von ihr die Steigerung oder Verringerung der Macht abhngt. Erinnert man sich, dass es fr Nietzsche keinen Willen zum Dasein gibt, sondern Leben nur dann weiter besteht, wenn es seinen Machtbereich zu vergrçßern sucht, ergibt sich der Wert einer Interpretation daraus, in welchem Maße sie zur Machtsteigerung beitrgt. Dass der Werth der Welt in unseren Interpretationen liegt […] dass die bisherigen Interpretationen perspektivische Schtzungen sind, vermçge deren wir uns im Leben, das heißt im Willen zur Macht, zum Wachsthum der Macht erhalten, dass jede Erhçhung des Menschen die berwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, dass jede erreichte Verstrkung und Machterweiterung neue Perspektiven aufthut und an neue Horizonte glauben heißt – dies geht durch meine Schriften. (NF, KSA 12, 114)
Eine Ausdehnung des Machtstrebens kann nur durch Vernderung der Perspektive stattfinden, und je extensiver die Interpretation ist, desto grçßer wird ihr Machtbereich. Die Wirkmchtigkeit stellt den Test dar, anhand dessen sich eine Wertung als Macht steigernd erweisen kann, wobei sie sich auch anderer Interpretationen bedienen kann, um sich diese zur Machtsteigerung einzuverleiben oder um sich von diesen abzusetzen. Diese Bezugnahme auf engere Perspektiven schließt ausdrcklich die eigenen bisherigen Interpretationen mit ein. Die Vernderung von Interpretationen unterliegt keinem Kriterium innerer Widerspruchsfreiheit und nicht zwangsweise einer Kontinuitt, sodass der weiseste Mensch der an Widersprchen reichste wre (NF, KSA 11, 182). Dennoch sorgt etwa die genealogische Methode fr Transparenz, indem sie die gegenwrtige Weltdeutung ans Ende einer Kette von vergangenen Interpretationen stellt. Weil es aber aufgrund der Beschrnktheit jeder noch so umfassenden Interpretation unmçglich ist, alles vollstndig zu erfassen, besteht das Ziel des experimentellen Denkens Nietzsches in der Einnahme mçglichst vieler 35 Wolfgang Mller-Lauter, Nietzsche Interpretationen I – ber Werden und Wille zur Macht, Berlin 1999, S. 72 [Hervorhebung im Original].
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Perspektiven, „mçglichst aus vielen Augen in die Welt [zu] sehen“ (NF, KSA 9, 494). Diese Wertungen kçnnen und sollen nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv sein, da eine emotionale Zugangsweise zu einem Gegenstand oder Ereignis weitere Facetten an diesem aufzeigt, die fr eine annherungsweise Vollstndigkeit des Begreifens unabdingbar sind (GM, KSA 5, 365).36 Eine Perspektive, die besonders geeignet zur Hervorbringung neuer Perspektiven ist, hat einen hçheren Wert als simplifizierende Definitionen oder geschlossene Systeme. Diesem Kriterium entsprechen Metapher und Gleichnis in hervorragender Form, indem sie bestndige Neuauslegungen alles Geschehens ermçglichen.37 Jede weitere Auslegung und Deutung des Willens zur Macht besttigt damit auch die Macht dieser Interpretation selbst, welche alle wirkenden Krfte (JGB, KSA 5, 55) deuten will und somit beanspruchen kann, smtliche bekannten Phnomene, Relationen und Wirkungen mit einzubeziehen. Das Kriterium der Produktivitt, das schon bei Emerson eine beherrschende Stellung innehat, wird in Nietzsches Konzeption durch die Forderung nach Machtsteigerung modifiziert. Ein Urteil muss „lebenfçrdernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-zchtend“ (JGB, KSA 5, 18) sein, also dem Individuum und der menschlichen Gattung die Perspektiven ermçglichen, die sie zur Machterweiterung bençtigen. Damit kann sowohl eine physikalische Theorie gemeint sein, welche die Konstruktion von Maschinen zur besseren Beherrschung der Umwelt ermçglicht, als auch eine philosophische Ontologie, die neue physikalische Theorien erst denkbar macht, indem sie das Augenmerk der Wissenschaften auf bisher vernachlssigte oder bersehene Aspekte der Welt lenkt. Neue ontologische Konzepte lassen sich allerdings nicht ad hoc und geplant erstellen, sondern entstehen hufig ber Generationen oder Epochen hinweg. Perspektiven kçnnen nicht willkrlich und nach Belieben eingenommen werden, wodurch viele der Passagen, in denen Zarathustra von der Entwicklung des Menschen zum bermenschen im Zeitraum von Generationen spricht (Za, KSA 4, 109), sich als Selektion zugunsten von Selektionsfhigkeit lesen lassen. Perspektiven, Bewertungen, Interpretationen sollen dann ausgewhlt oder geschaffen werden, 36 Vollstndigkeit bezeichnet hier selbstverstndlich keine Beziehung des Erkennens zu einer objektiv vorhandenen Wirklichkeit; „Begriff“ und „Objektivitt“ sind im Original entsprechend in Anfhrungsstriche gesetzt. 37 So hlt Nietzsche fest, dass er seine Frçhliche Wissenschaft auch treffend „,500 000 Meinungen“ htte nennen kçnnen, was seinen Lesern jedoch „zu possenhaft“ klingen wrde (NF, KSA 11, 423).
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wenn sie Potential zur Weiterverwendung oder Vertiefung bieten. Damit werden Bcher und Theorien zu „Angelhaken“ (An Erwin Rohde, KGB II/1, Bf. 113), wie beispielsweise auch das kopernikanische Weltbild, das ein Verstndnis von Planetenbahnen und den darauf beruhenden Modellen mçglich machte. So glaubt Nietzsche selbst, das Bestmçgliche bestehe darin, mit seinen Schriften die Produktivitt anderer zu erregen (Vgl. An Heinrich Kçselitz, KGB II/5, Bf. 723) – nicht aus Bescheidenheit, sondern weil dies die Tragweite der Konzeption des Willens zur Macht belegen wrde. Die Notwendigkeit der Artikulation von Aussagen mit Wahrheitsanspruch geht dabei nicht verloren, denn der Glaube an die Wahrheit einer Interpretation verleiht dieser erst die lebensdienliche Bedeutung als Orientierungsrahmen fr Denken und Handeln. Eine Moral ist gerade darum verbindlich, weil sie nicht als eine von vielen mçglichen Interpretationen angesehen wird, sondern fr die wahre und richtige Moral gehalten wird. Um berhaupt eine neue Perspektive hervorzubringen, kann diese nicht als eine gleichberechtigte unter vielen ebenso guten angesehen werden, sondern muss fr die bestmçgliche Theorie gehalten werden.
V. Nietzsches Sprache widersetzt sich dem Versuch endgltiger Fixierung38, doch letztlich weiß Nietzsche um die Beschrnktheit, der auch eine metaphorische oder gleichnishafte Sprache noch unterliegt. „Jedes Wort ist ein Vorurtheil“, das die Wahrnehmung einschrnkt. Der Begriff der Wahrheit, dem die Wissenschaft sich unterordnet, mag fr das menschliche Leben ein harmloserer Irrtum sein als der Begriff Gottes, aber auch er grenzt das Denken ein und schließt die zur Unwahrheit erklrten Perspektiven aus. Musik und Tanz sind die Ausdrucksformen, die der Welt als Wille zur Macht angemessener wren39, dafr aber nicht in der Lage sind, ihre eigene Perspektive zu kommunizieren und zu hinterfragen. Nur die philosophische, metaphorische und aphoristische Sprache kann den Willen 38 Vergleiche hierzu etwa die Artikel „Gleichnis“, „Stil“ und „Wortspiel“ in: Nietzsche-Lexikon, Christian Niemeyer (Hrsg.), Darmstadt 2009. 39 In der 1886 als Versuch einer Selbstkritik erschienenen Vorrede zur Geburt der Tragçdie heißt es: „Sie htte singen sollen, diese ,neue Seele – und nicht reden!“ (GT, KSA 1, 15) Zarathustra, der nicht nur Das Nachtlied, Das Tanzlied, und Das Grablied anfhrt, erklrt ebenfalls: „Nur im Tanze weiss ich der hçchsten Dinge Gleichniss zu reden.“ (Za, KSA 4, 144)
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zur Macht gleichermaßen reprsentieren und ihn meta-perspektivisch beschreiben, kann sowohl als Schrift Gedanken festhalten und sich von diesen wieder absetzen. Die Aussage, dass Zarathustra zwar die Dichter als Lgner bezeichnet, von sich selbst jedoch als Dichter spricht, macht die Schwierigkeit deutlich, das Sprachspiel der Philosophie Nietzsches zu analysieren, ohne es dabei als bloßes Sprachspiel unter rein literarischen Gesichtspunkten zu betrachten. Der unkonventionelle, paradoxale Umgang mit Sprache ist zugleich ein Spiel mit ihr, aber er lsst sich deshalb nicht zu einem „bloßen“ Sprachspiel bagatellisieren. Vielmehr liegt der Gesamtheit von Denken und Schrift eine Forderung nach Produktivitt zugrunde, ein Imperativ, den man in Anlehnung an Werner Stegmaiers Formulierung auch als „Imperativ des Schaffens“40 bezeichnen kann. Doch fr Nietzsche gilt genauso wie fr Emerson, dass kein Imperativ jemals kategorisch ist: Selbststeigerung und pragmatische Steigerung der Perspektivitt existieren einzig im Modus des Versuchs.
40 Werner Stegmaier, Nietzsche im 21. Jahrhundert, in: Nietzscheforschung 16 (2009), S. 23.
Große Dichtung? Zu einigen Fragwrdigkeiten der nur sthetischen Perspektive auf Nietzsches Zarathustra
Christian Niemeyer „Mit ,Zarathustra gerate ich nun gar noch unter die ,Litteraten und ,Schriftsteller , und das Band, das mich mit der Wissenschaft verknpfte, wird als zerrissen e r s c h e i n e n .“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 402)
Es mutet paradox an, ist aber gleichwohl vorab zu konstatieren: Viele Nietzscheforscher machen um Nietzsches Hauptwerk Also sprach Zarathustra (1883 – 1885) einen großen Bogen und folgen beispielsweise den Bedenken Thomas Manns, der in diesem Werk nur „erregte[n] Wortwitz“ zu konstatieren vermochte sowie „gequlte Stimme und zweifelhafte Prophetie“, ausgesprochen von einer „an der Grenze des Lcherlichen schwankende[n] Unfigur.“1 Andere halten es klammheimlich mit Hermann Wein, der schon vor Jahrzehnten einem Nietzsche ohne Zarathustra das Wort redete und dies als Beitrag zur Entkitschung Nietzsches verstanden wissen wollte, zur Wiedergewinnung des kritischen Aufklrers, als Beitrag auch zur Beendigung eines (mçglichen) Missverstndnisses der Rezeptionsgeschichte, in deren Verlauf Nietzsche hineingeraten sei „in die deutsch-brgerliche Hauspostille und in die Tornister des deutschen Soldaten des 1. Weltkriegs.“2 Wer so oder hnlich redet und beispielsweise folgert, Nietzsches Zarathustra bçte allenfalls „den Charme des bloß noch historisch Verstndlichen und Zugnglichen“3 und sei weniger „Spreng-
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Thomas Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, Berlin 1947, S. 684. Hermann Wein, Nietzsche ohne Zarathustra, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 359 – 379, hier: S. 359. Beda Allemann, Nietzsche und die Dichtung, in: Hans Steffen (Hrsg.), Nietzsche. Werk und Wirkungen, Gçttingen 1974, S. 45 – 64, hier: S. 61.
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stoff“ denn „archologisches Fundstck“4, muss ihn als geradezu absurd ad acta legen: Nietzsches Anspruch, er habe mit dem Zarathustra „die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung“ gebracht, es sei „nach L u t h e r und G o e t h e , noch ein dritter Schritt zu thun“ (An Erwin Rohde, KGB III/1, Bf. 490) gewesen, kurz: Zarathustra sei „große Dichtung“. Schrfer noch ist das abfllige Urteil ber diesen Anspruch, wenn man dem Aktionsknstler Jonathan Meese sowie dem Schauspieler Martin Wuttke folgt, die im August 2006 in den Park von Schloss Neuhardenberg einluden. Sie nmlich riefen hier, im Zuge ihrer Inszenierung Also sprach Zarathustra. ZARATHUSTRA – Die Gestalten sind unterwegs, teils via Megaphon und offenkundig nach dem Muster „offene Psychiatrie“ einzelne, ungeordnete Satzbrocken aus dem Zarathustra in Wald und Wiese hinein und stellten damit erkennbar darauf ab, die zweifelnde berlegung des Zauberers: „N u r Narr! N u r Dichter!“ (Za, KSA 4, 372) im Erleben des Publikums am Ende in ein glasklares: „Nietzsche – nur Narr!“ zu verwandeln. Nietzsche brigens drfte durch derlei Brachial-Humor auf Kosten des Opfers kaum berrascht worden sein. Schließlich hatte er schon im Februar 1883, unmittelbar nach Erscheinen des ersten Teils des Zarathustra gemutmaßt: „[V]on jetzt ab werde ich wohl in Deutschland unter die Verrckten gerechnet werden.“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 370) Den Anfang damit machte vor ber 100 Jahren der Leipziger Nervenarzt Paul Mçbius, der fast die Contenance verlor angesichts von Zarathustra IV, speziell „das ber alle Beschreibung widerliche Eselsfest“ betreffend, ebenso wie die „vollkommen blçdsinnig[en]“5 Verse Unter Tçchtern der Wste. Am Ende dieser Reihe stehen, wie angedeutet, Meese/Wuttke, aber letztlich auch Timo Hoyer, der in seiner 2002 erschienenen Dissertation Nietzsche und die Pdagogik seinem Stoff nicht eigentlich erziehungswissenschaftlich interessiert gegenbertrat, sondern erzieherisch ambitioniert: Zarathustra neige, so Hoyer mit tadelndem Unterton, zu „gehssigen Bemerkungen“6, er sei „schroff und rcksichtslos“ und unfhig,
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Martin Koch, Zarathustra ist kein dcadent! berlegungen zu Also sprach Zarathustra, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 245 – 252, hier: S. 245. Paul J. Mçbius: Nietzsche, in: Paul J. Mçbius, Ausgewhlte Werke, Bd. V, Leipzig 1909, S. 125. Timo Hoyer, Nietzsche und die Pdagogik. Werk, Biografie und Rezeption, Wrzburg 2002, S. 493.
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„andere Personen als gleichberechtigte Gesprchspartner zu akzeptieren.“7 Ohne hier, allein schon aus Zeitgrnden, auf die Berechtigung dieser Urteile oder die Grnde en detail eingehen zu kçnnen, die Nietzsche veranlassten, Zarathustra nicht einen herrschaftsfreien Diskurs ( la Habermas) fhren zu lassen bzw. die Leser des Zarathustra mit (von Mçbius offenbar nicht bewltigten) Denksportaufgaben gehobenen Typs zu behelligen, scheint mir ein Zwischenresmee unverzichtbar: Die Sprache des Zarathustra ist berladen von Rtseln, Metaphern, Bildern und Gleichnissen, und sie verlangt dem Interpreten – auch in Fragen dessen, was Dichtung meint im engeren Sinne – einiges ab an Verstndnis fr Ungewohntes und Zwischentçne, auch im Blick auf Quellenforschung sowie Kontexterkundung. Eines freilich geht nicht: nmlich aus rger ber diesen (bçsen) Streich Nietzsches oder schlicht aus Faulheit den Autor dieses Werkes zu pathologisieren oder ihn (im Nachgang) erziehen zu wollen. Natrlich folgt aus diesem Protest gegen zwei Versuche (Mçbius einerseits, Hoyer andererseits), Nietzsche als Dichter des Zarathustra einem falsch verstandenen Ideal politischer Korrektheit zu unterwerfen, nichts fr Nietzsches These, Zarathustra sei „große Dichtung“. Und tatschlich wird man ja auch ohne weiteres einrumen kçnnen, dass vieles am Zarathustra (etwa in den Reden Von den Fliegen des Marktes oder Auf dem Oelberge) eher nach verunglckter denn nach „großer“ Dichtung (evtl. als Parodie auf sie) klingt. Insoweit hat es durchaus etwas Beruhigendes, dass dem Wort von der „großen Dichtung“ ( la Luther und Goethe) ein anderes zur Seite steht, demzufolge Zarathustra einen „persçnlichen Sinn“ habe und folglich „dunkel und verborgen und lcherlich“ sei „fr Jedermann“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 529). Noch deutlicher argumentierte Nietzsche unmittelbar nach Abschluss der Fahnenkorrektur von Zarathustra II: „Im Einzelnen ist unglaublich Vieles persçnlich Erlebte und Erlittene darin, das nur mir verstndlich ist – manche Seiten kamen mir fast b l u t r n s t i g vor.“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 460) Wer ber den Zarathustra redet, muss also wissen, dass nicht nur, aber immerhin doch auch eine Art Privatsprache zur Entschlsselung ansteht (die durchaus den Rang „großer Dichtung“ erreichen kann, aber nicht muss). 7
Timo Hoyer, „[…] ich bedarf der Hnde, die sich ausstrecken“. Zarathustras pdagogisches Scheitern, in: Nietzscheforschung 9 (2002), S. 219 – 231, hier: S. 224 f.
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Lassen Sie mich dafr ein Beispiel geben: Es muss jedem mit Nietzsches Biographie Vertrauten auffallen, dass der Wahrsager aus Zarathustra II seine Botschaft, er habe „eine grosse Traurigkeit“ ber die Menschen kommen sehen, u. a. mit den Worten erlutert: „,Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken kçnnte: so klingt unsre Klage – hinweg ber flache Smpfe.“ (Za, KSA 4, 172) Denn ganz hnlich klang es schon einmal bei Nietzsche, in einem Liebesbrief an Lou von Salom, an dessen Ende der Schreiber nach einem anrhrend-pubertren Ideenstakkato schließlich doch noch mit der Sprache herausrckt: „Wo ist noch ein Meer, in dem man wirklich noch e r t r i n k e n kann! Ich meine ein Mensch.“ (An Lou von Salom, KGB III/1, Bf. 325) Die Verzweiflung des Wahrsagers scheint also jener Nietzsches abgelauscht zu sein und gbe insoweit ein verklausuliertes Zeugnis fr Nietzsches Klage, dass auch seine private Welt nach dem Verlust des „bermenschen“ Lou einer neuen Sinngebung bedarf – und nicht nur des trockenen Ratschlags, den Zarathustra in Zarathustra IV am Ende einer erneuten Erçrterung von Nietzsches Liebesleid gibt und der lautet: „Hte dich, dass dich nicht am Ende noch ein enger Glaube einfngt, ein harter, strenger Wahn! Dich nmlich verfhrt nunmehr Jegliches, das eng und fest ist.“ (Za, KSA 4, 341) In eine durchaus hnliche Richtung weist brigens Das andere Tanzlied aus Zarathustra III, ein raffiniert angelegtes, dialogfçrmiges Kompendium zum Thema der Nicht-Bedrohlichkeit des Gedankens der ewigen Wiederkunft unter den Bedingungen weltlicher Vollkommenheit. Soweit diese Rede des Zarathustra, auf hier im Einzelnen nicht zu erçrternden Wegen zurckbersetzt in Theoriesprache.8 Die Dichtersprache allerdings muss den Leser, zumal den ber Nietzsches Biographie unkundigen, komplett berfordern, und zwar selbst wenn er weiß, dass Nietzsche hier – dem Titel zufolge kaum berraschend – an Das Tanzlied aus Zarathustra II anknpft und die auch dort schon angefhrten Zeilen: „In dein Auge schaute ich jngst, oh Leben…“ (Za, KSA 4, 282) nun nicht vollendet mit: „Und ins Unergrndliche schien ich mir da zu sinken…“ (Za, KSA 4, 140), sondern die Wendung bevorzugt: „Gold sah ich in deinem Nacht-Auge blinken, – mein Herz stand still vor dieser Wollust.“ (Za, KSA 4, 282) Dies klingt brigens – um auch dieser Perspektive ihr Recht zu geben – aus Sicht des Erotomanen viel versprechend, und er soll auch nicht enttuscht werden: von einem „sinkenden, trinkenden, wieder winkenden goldenen SchaukelKahn“ ist da die Rede, von einem „lachenden fragenden schmelzenden 8
Vgl. Christian Niemeyer, Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, Darmstadt 2007, S. 84 ff.
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Schaukel-Blick“ sowie davon, dass du nur „deine Klapper“ zwei mal „mit kleinen Hnden [regtest]“ – schon „schaukelte […] mein Fuss vor TanzWuth“ (Za, KSA 4, 282). Das „Weib“ freilich ist – dies weiß man ja – unberechenbar, und so auch hier: „Zu dir hin sprang ich: da flohst du zurck vor meinem Sprunge; und gegen mich zngelte deines fliehenden fliegenden Haares Zunge!“ (Za, KSA 4, 282) Und, selbstredend, vice versa: „Von dir weg sprang ich und von deinen Schlangen: da standest du schon, halbgewandt, das Auge voll Verlangen.“ (Za, KSA 4, 282) Das Dilemma – selbstredend das des begehrenden Mannes – bleibt nicht aus: „Ich frchte dich Nahe, ich liebe dich Ferne; deine Flucht lockt mich, dein Suchen stockt mich: – ich leide, aber was litt ich um dich nicht gerne!“ (Za, KSA 4, 282) Dies klingt nett, ist fr Vertreter der „Generation wilde Herzen“ fraglos anrhrend, nur: Handelt es sich hier um „große Dichtung“? Wohl kaum, und wenn man nun genauer hinschaut, also etwa die Disposition eines fr Lou von Salom bestimmten Nietzsche-Briefes vom November 1882 und insonderheit die Zeilen: „So etwas Junges Anmuthiges Leichtsinniges Tiefes Unbestndiges – macht mich weinen“ (An Unbekannt [Lou von Salom?], KGB III/1, Bf. 336) in Betracht zieht, stellt man fest: Nietzsche ging es auch gar nicht primr darum, sondern um eine Art Selbstparodie im Blick auf sein Liebesleid in Sachen Lou von Salom als – wie der Dichter Nietzsche in Das andere Tanzlied mitteilt – „unschuldige, ungeduldige, windseilige, kindsugige Snderin“ (Za, KSA 4, 283). Dass der Leser derlei Stze, aber auch Parolen wie: „[I]ch bin der Jger, – willst du mein Hund oder meine Gemse sein?“ (Za, KSA 4, 283) in Unkenntnis dieser Zusammenhnge „dunkel“ finden muss „und verborgen und lcherlich“, versteht sich wohl ebenso von selbst wie der Umstand, dass Nietzsche angesichts der allein auf das Ergriffensein – nicht aber auf das Begreifen – reflektierenden Reaktion Heinrich von Steins auf Das andere Tanzlied nur das trbe Erstaunen blieb: „Welch sonderbares Schicksal, 40 Jahre alt werden und a l l e seine wesentlichsten Dinge, theoretische wie praktische, als Geheimnisse mit sich noch herumschleppen!“ (An Franz Overbeck, KGB III/1, Bf. 533) Was aber folgt nun daraus fr die Bewertung und Interpretation des Zarathustra? Zunchst, dass man Nietzsche keinen Gefallen tut, wenn man die sthetische Perspektive auf dieses Werk zur einzig mçglichen und sinnvollen erklrt, kurz: sich an das hlt, was Claus Zittel im Zuge seines seit Jahren gefhrten Feldzugs gegen „die sthetische Blindheit der in-
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haltsfixierten Nietzscheforschung“9 als seine These am Exempel meines Zarathustra-Kommentars10 meinte exponieren zu mssen: nmlich „dass es sich beim Zarathustra um ein sthetisches Gebilde handelt, dass [sic!] mit kunstadquaten Methoden erschlossen werden muß.“11 Diese (mit Verlaub: dogmatische) These und das ihr zugehçrende Verbot der angeblich berholten (u. a. auch von mir praktizierten) „biographische[n] Auslegungsmethode“12 beengt ohne Not und auf eine dem Geist zumal des spten Nietzsche entgegenstehende13 Weise das Methodenarsenal im Umgang mit diesem schwierigen Text. Vor allem aber kçnnte diese Zugangsweise dazu verfhren, auch dasjenige, was ich, zugegebenermaßen ungeschtzt (als Fachfremder) „schlechte Dichtung“ heißen wrde, etwa in den Reden Von den Fliegen des Marktes oder Auf dem Oelberge, positiv zu wrdigen und beispielsweise – wie andernorts von Zittel praktiziert – den „betont verunglckten Wortspielschçpfungen“ zuzurechnen, die „insgesamt Zarathustras Schaffenspathos [parodieren]“14. Insgesamt empfiehlt sich eine andere, geradezu gegenlufige Herangehensweise, ausgehend von Nietzsches Empçrung ber Carl Spittelers Urteil, der Zarathustra kçnne vielleicht noch als „als ,hçhere Stilbung“ durchgehen, allerdings mçge Nietzsche „spter doch auch fr Inhalt sorgen“ (EH, KSA 6, 299). Denn es ist ja gerade diese Empçrung, die einen deutlichen Beleg dafr gibt, dass Nietzsche seine – wie er, mitunter etwas verschmt, selbst sagte – „Dichtung“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 452) keineswegs nur als „sthetisches Gebilde“ (Zittel) und nicht etwa seiner Botschaft zufolge wahrgenommen wissen wollte, von welcher ja wohl auszugehen ist, wenn man Nietzsches Hinweis bedenkt, seine „g a n z e P h i l o s o p h i e “ verberge sich hinter „all den schlichten und seltsamen Worten“ dieses „Bchleins [gemeint war Zarathustra I; C. N.]“ 9 Claus Zittel, Das sthetische Kalkl von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra, Wrzburg 2000, S. 17. 10 Christian Niemeyer, Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, Darmstadt 2007. 11 Claus Zittel, Neuerscheinungen zu Also sprach Zarathustra, in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 378 – 383, hier: S. 381. 12 Claus Zittel, Neuerscheinungen zu Also sprach Zarathustra, in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 383. 13 Vgl. hierzu Christian Niemeyer, „…feister und voller als ihr sind ja noch die Unterweltlichen!“ Nietzsches Paradigmenwechsel weg von alter deutscher Leitkultur hin zu neuer Forschungskultur, in: Andreas Urs Sommer (Hrsg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin/New York 2008, S. 149 – 160. 14 Claus Zittel, Das sthetische Kalkl von Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra, Wrzburg 2000, S. 150.
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(An Carl von Gersdorff, KGB III/1, BF. 427). Von hier aus lautete Nietzsches zentrale Sorge denn auch, mit dem Zarathustra „nun gar noch unter die ,Litteraten und ,Schriftsteller“ zu geraten, mit der Folge, dass „das Band, das mich mit der Wissenschaft verknpfte, […] als zerrissen e r s c h e i n e n [wird]“ (An Heinrich Kçselitz, KGB III/1, Bf. 402). Damit war zugleich der Auftrag an seine (nachgeborenen) Interpreten verbunden, dieses Werk wieder fr den Theoriediskurs ber Nietzsches Philosophie zugnglich zu machen, sprich: es – wogegen Zittel heftig opponiert – „wie einen philosophischen Traktat“15 zu lesen. Vielleicht darf ich noch ergnzen: Man kann es nicht nur, man muss es sogar, eingedenk der in diese Richtung weisenden zahlreichen Hinweise Nietzsches, angefangen von seinem letztlich auch ihn berraschenden Eindruck „[b]eim Durchlesen von ,Morgenrçthe und ,frçhlicher Wissenschaft […], daß darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathustra dienen kann“ (An Franz Overbeck, KGB III/1, Bf. 504); weitergefhrt in seiner Hoffnung, Jenseits von Gut und Bçse werde „ein paar erhellende Lichter auf meinen Zarathustra […] werfen“ (An Franz Overbeck, KGB III/3, Bf. 729); und endend in seiner analogen, diesmal auf Ecce homo bezogenen Erwartung (An Paul Deussen, KGB III/5, Bf. 1159) sowie der Maßgabe, sein Antichrist wende sich an Leser, „welche meinen Zarathustra verstehn“ (AC, KSA 6, 167). Mehr noch: Mit Seitenblick auf den 1886 vorgelegten Versuch einer Selbstkritik (zur Geburt der Tragçdie) und der im nmlichen Jahr abgeschlossenen Vorrede zur Neuausgabe von Menschliches, Allzumenschliches bestimmte Nietzsche ausdrcklich: „Das Wesentliche ist, daß, um die Voraussetzungen zum Verstndniß des Z a r a t h u s t r a zu haben […] a l l e meine frheren Schriften ernstlich und tief verstanden werden mssen; insgleichen die N o t h w e n d i g k e i t der Aufeinanderfolge dieser Schriften und der in ihnen sich ausdrckenden Entwicklung.“ (An Ernst Wilhelm Fritzsch, KGB III/3, Bf. 740) Insoweit besteht hinreichend Anlass fr das Gebot, den Zarathustra im Kontext der Werke des mittleren, des spten, aber auch des frhen Nietzsche zu lesen und in die dort entwickelte Theoriesprache zu bersetzen. Nur ein solches Gebot scheint geeignet, beides zu vermeiden: eine moralisierende, auf politische Korrektheit abzielende Beiseitesetzung des angeblich allein biographisch interessierenden Zarathustra als Privatsprache; aber eben auch das geradezu verbissene Festhalten am Anspruch, beim Zarathustra handele es sich 15 Claus Zittel, Neuerscheinungen zu Also sprach Zarathustra, in: Nietzsche-Studien 37 (2008), S. 381.
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um „große Dichtung“. Nur auf diese Weise wird der Weg frei zu einer extensiven Ausdeutung des von Nietzsche in diesem Werk Intendierten.
VI.
Große Projekte
Das Nietzsche-Wçrterbuch: Anatomy of a “großes Projekt” Herman Siemens und Paul van Tongeren1 In September 1998 a project was initiated at the University of Nijmegen in The Netherlands to write a dictionary for Nietzsche s writings. In the course of the work it soon became clear that our ambition to produce an in-depth and wide-ranging and reference work far exceeded the original plans. The Nietzsche-Wçrterbuch (NWB) has evolved into a longterm, multi-volume work on a global scale with around 30 contributors from a range of disciplines located all over the world. It is, in other words, most decidedly a “großes Projekt”, and we are delighted to be able to present it in the context of the theme of this volume “Nietzsche – Macht – Grçße”. In what follows we offer some background on the project, focusing on its motivation in the need for a Nietzsche dictionary. We then explain our working principles and method, after which the structure of the lemmata is described. In the last section, we return to the volume theme with an example of the results of our work focused the concept of Grçße and its relation to Nietzsche s project of Umwertung. We are convinced from our experience so far that this work is extremely fruitful for Nietzsche-research and that it brings a new precision to key motifs in his thought, as we hope this example will illustrate.
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This presentation draws on a number of earlier presentations and reports, such as: Herman W. Siemens, Paul van Tongeren, Gerd Schank, A Nietzsche Dictionary, in: New Nietzsche Studies 3/4 (2000/2001), pp.177 – 182; Herman W. Siemens, Gerd Schank, Paul van Tongeren, Procesos semnticos en los textos filosficos de Nietzsche y su funcin filosfica: algunos resultados de la investigacin sobre el Diccionario-Nietzsche (Nietzsche-Wçrterbuch), in: Estudios Nietzsche, 4 (2004), pp. 85 – 103; Paul van Tongeren, Gerd Schank, Nietzsche s Language and Use of Language, in: Journal of Nietzsche Studies 22 (2001), pp. 5 – 16.
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The need for a Nietzsche dictionary There are a good many reasons for writing a dictionary for Nietzsche s writings. In this context we will concentrate on five, beginning with the treacherous accessibility of his style. Due in part to his mastery of language, Nietzsche is more widely read and accessible than most philosophers. A great many people have not and could not read a page from Kant s Kritik der reinen Vernunft or Hegel s Phnomenologie des Geistes, even if they are among the most important texts in modern philosophy. But there are not many people who have not looked at a Nietzsche text, usually with strong reactions pro or contra. Prima facie, this is a reason not to write a Nietzsche dictionary. Yet in our view, this accessibility can be quite deceptive and treacherous. It is as if he is speaking straight to us, provoking us, exposing our petty conceits, getting us to think twice about our everyday assumptions etc.. But then we forget all kinds of factors that complicate our access to what he could have meant in the context of language usage in the 19th Century and the kinds of thought he (could have) had access to at the time. One such factor is Nietzsche s artistry of language. Nietzsche claimed to have enriched the German language with new words and to have given new meanings to existing words. Even if we disregard these claims, it is clear that for Nietzsche the formulation of his thought in language belongs to the matter of his thinking to a greater extent than for other philosophers. He knows and makes use of the seductions and traps of language, which he conceives as a multitude of metaphors that are in principle changeable. This in turn relates to a second important factor complicating our understanding of his texts: the plurality of meanings. Not only does the meaning of certain words change with the development of his thought; more than most philosophers, he consciously works with the possibility of ascribing different meanings to the same words through differing contextualisations and the deployment of various optics.2 A good deal of his vocabulary has at least a double meaning, insofar as it is used positively in an affirmative sense and negatively in critical senses. Next to this doubling of his vocabulary, Nietzsche makes use – often intentionally – of the polysemy of words. He does this in a variety of ways: by re-activating the originary concrete meaning of metaphors next to their current metaphorical meaning (e. g. with “verstellen”); or by deploying a variety of op2
Vgl. Matthias Politycki, Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, Berlin/New York 1989, pp. 116 – 118.
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tics and voices, whereby the same word can acquire a different meaning for each such optic or voice3 ; or by inserting quotation marks, to name just a few. All of these procedures operate within the framework of Nietzsche s philosophical task: to bring about an Umwertung aller Werte. In the Nietzsche-Wçrterbuch we try to offer tools for a more precise understanding of this philosophical project by focusing on the intersections of language and philosophical thought. A further factor that complicates our access to Nietzsche s texts has to do with changes in the German language since the 19th Century. Due to the continuous development of language, native German readers today cannot simply take it for granted that their understanding of words and language concurs with that of the author whom they are reading: the German language of the 19th Century is not the same as current German. As a result of language change, a considerable number of words have a different (primary) meaning today, or other connotations, than they had for Nietzsche and his contemporaries.4 A good example is the word “gegen”. In current German, “gegen” simply means “contra”. In his study of the word “gegen” in Ecce homo 5, Gerd Schank points out that in Nietzsche s time, it was frequently used to mean “instead of” (anstatt) or “over and against” (gegenber) in comparative contexts. In this vein he argues for a comparative interpretation of the closing formula: “Dionysos against the Crucified” in the sense: “Dionysos as measured against the Crucified”. Or in German: “Dionysos gegen den Gekreuzigten” in the sense: “Dionysos gegen den Gekreuzigten gehalten” (– a formulation used by Nietzsche elsewhere in Ecce homo, e. g.: “Dante, gegen Zarathustra gehalten” (EH, KSA 6, 343). In these terms, Schank offers the following gloss of the closing formula: “Meine Leser, habt ihr mich verstanden? Vergleicht einmal Dionysos mit dem erfrierenden 3
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Vgl. Gerd Schank, Dionysos und Ariadne im Gesprch. Subjektauflçsung und Mehrstimmigkeit in Nietzsches Philosophie, in: Tijdschrift voor Filosofie 53 (1991), pp. 489 – 519. Friedrich Sengle (Biedermeier, Bd. I, Allgemeine Grundlagen, Stuttgart 1971, p. 397) goes so far as to claim that texts from the time he has researched (first half of the 19th Century) must actually be translated for current German readers. The importance of this phenomenon for Nietzsche interpretation has been pointed out by Gerd Schank in a study of the preposition gegen in Nietzsche, Dionysos gegen den Gekreuzigten. Eine philologische und philosophische Studie zu Nietzsches Ecce homo , Bern 1993. Gerd Schank, Dionysos gegen den Gekreuzigten, Eine philologische und philosophische Studie zu Nietzsches Ecce homo , Bern 1993.
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,Ideal […].”6 Clearly this comparative reading differs quite sharply from the more obvious (to contemporary ears) confrontational / oppositional readings. The difficulties raised by these “inconspicuous” changes in the German language are compounded by the obvious, but oft-forgotten changes wrought by the exceptional reception-history to which Nietzsche s works have been subjected. As a result of the political vicissitudes and distortions of his work, a series of important concepts were later ascribed meanings that now stand obstructively between present readers and the work. The traditions of interpretation that have calcified in prejudicial ways around words like “masters”, “slaves” and “race”, or concepts like “will to power” and “great politics” must first be put aside if the prospect of a better understanding of Nietzsche s text is to be opened.
Working principles and method In response to this need we received funding from the Dutch Organisation for Scientific Research (NWO) for the first 4 years of the NWB-project. Since then, there has been no central funding for the project, despite our best efforts. Our modus operandi therefore involves a network of around 30 contributors, from all over – Germany, Italy, Switzerland, Belgium, UK, USA, Chile, South Africa and The Netherlands; all people who do the work in the framework of their own research-plans and next to their normal academic obligations. This has of course slowed down the pace of the work. The first volume was published in 2004,7 and further volumes are in preparation. In the mean time, the NWB has gone online via the new Nietzsche portal at de Gruyter, Nietzsche Online. 8 To date, volume I is already online. Accessibility to further material will be accelerated by publishing lemmata individually online as soon as they are completed. At least five new lemmata will be added annually. The search- and cross-referencing functions will also be developed so as
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Gerd Schank, Dionysos gegen den Gekreuzigten, Eine philologische und philosophische Studie zu Nietzsches Ecce homo , Bern 1993, p. 102. Ihr is mistakenly printed as ich in Schank s book, and Ideal as ideal . Paul van Tongeren, Gerd Schank, Herman W. Siemens et al, 2004, Das Nietzsche-Wçrterbuch, Bd. I: Abbreviatur – Einfach, Berlin/New York 2004. http://refworks.reference-global.com/NO.
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to make use of the full range of de Gruyter Nietzsche-research available online and electronic linking facilities. In preparatory research spanning several years, a preliminary list of (12,000) lemmata was compiled by way of close readings of published texts, Nachlass material from different periods of Nietzsche s work, as well as the letters. On this basis, his total vocabulary was estimated at 30,000 words. Through several rounds of selection, a stock of 800 lemmata was chosen for closer description in the dictionary. Criteria for selection were: • • • •
the importance of the word (or word-group) for Nietzsche s thought; conjectured changes of meaning for words on Nietzsche s part, against the background of his own time or of the word s prior history; the weight given to a word in the course of Nietzsche interpretation; possible distortions and obfuscations of a word, whether through “vulgarisation” and “sloganisation” of the word, or through the “brown” interpretation of his philosophy in the years 1933 – 1945.
The sine qua non for this project is the availability of Nietzsche s writings in electronic version, allowing for thorough word-searches.9 It is essential because for the description of a word a thorough study is made of all the places where the word occurs in KSA (as well as other sources), in which the context and rhetorical form of the text receive attention. The linguistic, literary and conceptual history of the word are then reconstructed with the help of the most important language and philosophical lexica and the relevant specialist literature. The philosophical interpretation of the material is based on our own research and a discussion with the most important publications in international Nietzsche research. Given the quantity of this material, the literature used is necessarily limited and selective.
Semasiological vs. Onomasiological One quite distinctive feature of our dictionary that deserves to be mentioned concerns our semasiological approach. Whoever makes a dictionary must choose between a semasiological or an onomasiological method. That is to say, either one starts from the words as they occur in the text – from the signifiers – or one starts from the concepts that are indicated by 9
We are currently making the transition from the CD-Rom to Nietzsche Online for this.
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the words – from the signifieds. Where most philosophical dictionaries follow the second method, we have elected primarily for the first. That means our approach has a strong linguistic aspect, besides having a philosophical-interpretative aspect. There are two main reasons for our choice of a principally semasiological method. Both go back to qualities of Nietzsche s texts. First, the dictionary is intended as an aid for those who are studying Nietzsche s texts, and many of the difficulties that the reader encounters begin already at the level of words. Nietzsche forms new words, uses words with a deviant meaning, makes free use of the history in which the meaning of a word has developed, and so forth. Prior to philosophical interpretation, the reader therefore runs up against the question of the meaning of expressions such as “abgehellter Luft”, and words like “bedenklich”, “knstlich”, “gemein”, “entdecken” (which in Nietzsche s language also appears to mean: unmask, expose), “Abschtzung”, and of course “gegen”. Secondly, and in connection with the first point, Nietzsche frequently appears to construct his sentences and texts according to a logic that operates not just at the level of the signified, but also at the level of the signifier. We have in mind e. g. alliteration and assonance, but also a range of strategies at the level of the materiality of linguistic signs for the development of Nietzsche s metaphors.10 It is clear that we must do justice to this level of the signifier in order to understand the development of Nietzsche s text and the sense of his thinking. While we chose a primarily semasiological method for the NWB, we also consider an onomasiological extension of this approach indispensable. The word “edel” (noble), for instance, stands by virtue of its meanings in a direct relation to words like “adelig / Adel / aristokratisch / vornehm / nobel / noblesse / herrschaftlich” etc. The totality of these words forms the “word-field” of the concept of nobility. Or, another example: Whenever we examine the word “Mass” (measure), we must consider not just the explicit Mass-words, like “Maß”, “messen”, “mssigen”, “Maßlosigkeit”, but also the many other related words and concepts that are important here. There are the Greek and Latin words that Nietzsche uses, like: metron, mesos, mesotes, sophrosyne, but also hybris, aidos; mensura, modus, moderatio, modestia, temperantia, discretio. There 10 See e. g. Johannes Schwitalla, Nietzsche s Use of Metaphors: Semantic Processes and textual Procedures, in: Journal of Nietzsche Studies 22 (2001), pp. 64 – 87 and Duncan Large, Nietzsche s use of Biblical Language, in: Journal of Nietzsche Studies 22 (2001), pp. 88 – 115.
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are the many word-compounds with “measure”, like “Werthmaass” (value-measure or standard of evaluation), “bermaass” (over-measure or excess), “Gleichmaass” or “Ebenmaass / ebenmssig” (symmetry or proportionality). And then there are the many related words and concepts, like e. g. “Bndigen/ung” (to tame), “Begrenzen/ung” (to limit) “Beherrschen/ung” or “Herr(-sein)” (to rule or master), “Einordnen/ ung” or “Ordnen/ung” (to order, to arrange, to classify), “Wgen” (to weigh or balance); and also the words for related virtues like “Keuschheit” (chastity) and vices like “Unzucht/-zchtig(keit)” (licentious/ness), and passions like “Scham” (shame, aidos), and so on. In reconstructing the word-field prior to the interpretation of the conceptual totality, we try to attend to the semasiological differences by asking, for instance, to what extent specific words (indicating “nobility” or “measure”) occur only in specific periods or in specific kinds of contexts. So, even where we extend the semasiological approach in an onomasiological direction, this does not take place without a semasiological test of the onomasiologically formed totality of words.
Structure of the lemmata The results of our research into a given word are broken down into 7 – 9 categories, depending on the word in question. The categories are: 1. 2. 3 / 4.
5. 6. 7. 8. 9. 10.
Word-forms, compounds and quantitative data (in KSA) Summary of main results, and the overall structure of different meanings (Struktur der Gliederung) Articulation of the different meanings, meaning-variants and uses of the word, together with citations and references (3. = full version for electronic publication; 4. = abridged version for print publication) Linguistic and conceptual history of the word Interpretative description Discussion of texts requiring special attention Reception-history of the word Bibliography Cross-references
Category 1 gives above all quantitive information. For each lemma-word the frequency of occurrence (the number of instances) is given (accurate for KSA only) and supplemented with indications of any concentrated
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uses of the word in specific periods (Schwerpunkte). Our chief is source is KSA, but also (less systematically) the letters, Jugendschriften and Philologica. All word-forms, compounds and (where relevant) orthographic variants are also given, as is the “word-field” to which the lemma-word belongs. Category 2 offers a summary overview of the most important meanings of the lemma-word and, where appropriate, describes important results from our research into the word or word-group concerned. This category is designed for non-specialists or rapid reference. Where the word has a complex range of meanings and meaning-variants, the basic semantic structure is also given under the rubric: Struktur der Gliederung. Category 3/4: This is followed by a full and systematic articulation or breakdown of the different meanings, connotations, context-dependent variations of meaning and domains of use, all provided with selected citations, supplemented by a more or less extensive selection of further references. The differential articulation of meanings can range from one or two meanings (such as for “acedia”, which only occurs twice, or like “Abglanz” that occurs eight times, but only in two different contexts), to ten or more meanings (such as “gross/grçsser/grçsste/das Grosse” – “Grçsse” is treated in a separate lemma –, that occurs more than 4000 times with around 40 different variations of meaning depending on differing contexts, in which different connotations also play a role). Meanings are established in the first place through a careful and close reading of all the places where the word occurs. Here, attention is given to the procedures used by Nietzsche to change the meaning of words (metaphorisation, reconcretisation, change of optic, quotation marks etc.). Sometimes specific tests can be helpful for this work, such as the “opposition test”: a word like “falsch” has different meanings depending on whether its opposite is “wahr”, “echt” or “richtig”. There is no fixed system for categorising the different meanings for all words. The breakdown depends on the specific word; it is a matter of breaking it down “at the joints”, as it were. The information in this category is highly artificial in the sense that citations are selected as evidence for and examples of a specific meaning or meaning-variant, whereas virtually all occurrences of the relevant word in Nietzsche s texts are polysemic. The purpose of this section is not, however, to impoverish the texts by reducing polysemy to univocity; on the contrary, it is to give researchers the tools to describe the polysemy of Nietzsche s language by isolating as far as possible different meanings that can be in play in a given passage. Category 4 is the somewhat abridged version that appears in the printed volumes of the NWB; it has fewer
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citations but the same structure as Category 3, designed for the electronic version. Category 5 offers a sketch of the history – linguistic, literary, intellectual and philosophical – of the word and concept up until Nietzsche s own use. Here it must be established whether and in what ways Nietzsche s usage conforms to the history of the word and concept; when the meaning(s) used by him arose; and what their development is prior to Nietzsche, as well as within his work. Any relations between Nietzsche and other authors, contemporary or past, are thematised here; not surprisingly, Nietzsche s relations to Goethe and Luther in particular are often of central importance. When it seems appropriate, Nietzsche s use the word is not just compared with the usage of his contemporaries and possible predecessors, but also contrasted with current usage. Thus, it can be important to know that the word “entdecken” (“discover”) for Nietzsche (e. g. when he claims “die christliche Moral entdeckt zu haben”; EH, KSA 6, 371) can still have the meaning “entlarven” (disclose, expose), as it does for Lessing, but in contrast to present-day usage. Category 6 treats the philosophical-interpretative implications of the differentiation of meanings set out in the lemma. This category is more onomasiological than semasiological in orientation, more systematic than historical in character, being concerned with the place and functions of the concept(s) indicated by the word in Nietzsche s thought as a whole and the key problems of his philosophy. This category makes extensive (although by no means exhaustive!) use of existing Nietzsche-research, whereby the in-depth but often one-sided interpretations it offers are situated in the broader interpretative framework opened by our word-focused analyses. At the same time an effort is made to extend the word-focused semantic analysis to a consideration of Nietzsche s style and the rhetorical and pragmatic functions of the expressions and constructions within which the word appears. Category 7 offers the space for a discussion of individual texts or passages that fall outside the semantic framework developed in the lemma, or for one reason or another call for specific attention. Category 8: Where Nietzsche s terminology plays an important role in the reception of his thought, its relevance to the constitution of meaning of the expressions concerned is treated in a separate category. The reception can have very different faces: it may concern a particular philosophical reception through which a word or concept has come to occupy a central place in the subsequent interpretation of his work (even if this does not occur much in Nietzsche s case and only in specific periods of his
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thought, as for instance with the expression “Wiederkehr” in the formula “ewige Wiederkehr des Gleichen”); but it may also concern a political and social Wirkungsgeschichte and in that framework, the appropriation of his work by specific groups or movements which have left their stamp on the meaning of expressions. For obvious reasons, the fascist appropriation of Nietzsche s thought is discussed in several lemmata. Category 9 lists the secondary literature used in a given lemma. All the literature used in that volume is then listed in a complete bibliography at the end of the book. Category 10 offers a list cross-references (Querverweise) to words that are related to the lemma-word. They can be synonyms, words belonging to the “word-field”, words that have been discussed to some extent in the lemma, or other lemma-words where specific themes and problems broached in the lemma are discussed in more detail. With the help of the index of cross-references (Register der Verweiswçrter) at the end of the book, readers looking for a word that does not appear as a lemma (e. g. Beschauung, Beobachtung) will be directed to the lemma in which that word is (to some extent at least) treated (e. g. Betrachtung).
Umwertung and “Grçße” Returning to the theme of this volume, an illustration of the results of our research for the NWB will now be given with reference to the lemma “Grçsse”. In line with Nietzsche s critique of oppositions (Gegenstze) in both metaphysical and logical senses, he often brings gradations, differences of degree, new levels and fluid transitions to existing semantics. Nonetheless, Kampf is integral not only to Nietzsche s understanding of reality, but also to his philosophical project, especially in its character as Umwertung. And in the context of Umwertung, one can speak of Gegenstze and Entgegensetzung (not in the traditional metaphysical sense, but) in the sense of polemical confrontations with traditional concepts and values taken to the extreme by Nietzsche. In this context, however, it is all the more important to be precise about the operations Nietzsche performs on language and concepts, in order to avoid metaphysical, logical or dialectical misapprehensions of the project of Umwertung. Umwertung clearly involves the transformation of values into their Gegenstze in the sense that terms with positive value take on a negative value and/or terms with negative value take on positive value. These exchanges of values are usually effected by critical confrontations with spe-
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cific terms designed to rob them of their positive value, and the attempt to reinvest those same terms with new positive meanings. But what exactly is going on at the levels of language, concepts and their defining features (Bestimmungen)? What operations does Nietzsche bring to bear on the words and concepts that he subjects to Umwertung? It is here that the NWB, with its attention to the meanings, variations and shifts of meaning for specific words across Nietzsche s work, can throw new light. The word “Grçße”, being itself a value term, offers particularly good examples of Umwertung. In what follows a typology of three kinds of operation will be described, three distinct strategies employed recurrently by Nietzsche for reinvesting language with new meanings, with relevance to the project of Umwertung in general. For Nietzsche, following traditional usage, the concept of Grçße often functions as an ascription of positive value in normative contexts. But in Nietzsche s texts the standard of greatness (Maßstab der Grçße) is context-dependent and highly variable, and the meaning of the word “Grçße” often deviates from common meanings. One can speak of a sustained effort to cross-fertilise, to transform and transvaluate traditional (Christian/idealist) and current (idealist, moralist or political) concepts of Grçße. Where Nietzsche takes issue with existing concepts of Grçße, at least three recurrent types of operation or strategies can be distinguished. Type 1: Re-determination (Neubestimmung): The first involves a critical reinterpretation of an existing concept of Grçße, designed to rob it of its positive value; the word “Grçße” is then given (a) new meaning(s) opposed to those criticised. In this process the positive connotations of the word are retained and transferred to its new, opposed meaning(s). In line with the new meaning(s), the referent(s) of the word are radically shifted. For example: in a Nachlass note on the moralistic “Flschung der Geschichte” (NF, KSA 12, 428), Nietzsche writes: “man will, daß der Glaube das Auszeichnende der Großen ist”. He then gives a new, opposed meaning to the word “Grçße” centered in the notion of Unglaube: “aber die Unbedenklichkeit, die Skepsis, die Erlaubniß sich eines Glaubens entschlagen zu kçnnen, die ,Unmoralitt gehçrt zur Grçße”. The positive value of “Grçße” now attaches, not to the exhibition of the moral quality of Glaube, but to the capacity to do without it or any moral qualities, to “Unmoralitt”. With this move, the referents of “Grçße” clearly shift from Glubigen or Frommen to: “(Caesar, Friedrich der Große, Napoleon, aber auch Homer, Aristophanes, Lionardo, Goethe […])”. The effect of this operation is to de-moralise (entmoralisieren) the concept of
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Grçße and to revalorize (aufwerten) a series of personalities traditionally considerd immoral or morally dubious. Type 2: Re-interpretation/-evaluation (Umdeutung/Umwertung): In the second operation, the word “Grçße” is given a new meaning, not by displacing an existing concept of Grçße (e. g. Glaube) with a radically opposed concept (Unglaube), but rather by subjecting the existing concept to a reinterpretation (Umdeutung) that undermines the basis for its positive value. Again, the aim is to retain the positive connotations of the word “Grçße”, but to give them an entirely new basis in the reinterpretation of the existing concept. In this form of Umwertung, unlike the first, the referents of the word do not change; what changes is how they are understood. For example: In Gçtzen-Dmmerung Streifzge 44 entitled “Mein Begriff vom Genie”, Nietzsche gives a new, physiological-economic meaning to the word “Grçsse”: “Das Genie – in Werk, in That – ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine Grçsse … Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehngt; der bergewaltige Druck der ausstrçmenden Krfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht.” He then takes issue with the popular idea that the “Grçsse” of the genius lies in his heroism and self-sacrifice (Heroismus, Aufopferung / Opfermut). But he does so, not by rejecting this concept in favour of a radically opposed concept (for instance Grausamkeit in place of Opfermut). Instead, he refers Heroismus and Opfermut back to the new meaning of “Grçsse” as expenditure (Verschwenden). Heroismus and Opfermut are reinterpreted in physiological-economic terms as the “Unvorsichtigkeit des Verschwenders”: “Man nennt das ,Aufopferung ; man rhmt seinen ,Heroismus darin, seine Gleichgltigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung fr eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland: Alles Missverstndnisse … Er strçmt aus, er strçmt ber, er verbraucht sich, er schont sich nicht”. In correcting these moral misunderstandings of an amoral physiological phenomenon, Nietzsche does not change the referents of the words “Grçsse” and “Genie”; Nietzsche s Verschwender are not different persons from the heroes of the popular imagination. But the reinterpretation of Heroismus as Verschwenden does change the reason for their Grçße. And it does so in a way that precludes the notion of moral choice presupposed by the moral concept of Grçße as Heroismus and Opfermut. The Grçße des Genies now lies in amoral, physiological resources that must expend or discharge themselves “— mit Fatalitt, verhngnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses ber seine Ufer unfreiwillig ist”. By precluding the notion of moral choice, these lines under-
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mine the moral concept of Grçße as Heroismus and Opfermut and the basis for its positive value. As in the first example, this operation has the effect of demoralising (entmoralisieren) the concept of Grçße. But as a reinterpretation (Umdeutung) of heroism and self-sacrifice, it also has the effect of attaching a new physiological presupposition to the existing concept of Grçße, namely excess, a wealth of power that must expend itself. In the operations and examples considered so far, the new meanings ascribed by Nietzsche to “Grçsse” take their bearings to some degree from existing meanings and concepts of Grçsse – whether as a radical opposition (Unglaube in place of Glaube) or as an undermining reinterpretation (Heroismus als Verschwenden-Mssen). This contrasts with a third kind of Umwertungs-strategy for reinvesting the word “Grçsse” with new meaning(s) in Nietzsche s writings. Type 3: Recreation (Neuschçpfung): In this third case, the word “Grçsse” still functions as a normative ascription of positive value. But in assigning new meanings to the word, Nietzsche does not take his bearings in any obvious way from existing concepts of Grçße; rather, it is from critical engagements with other concepts or values – e. g. the Christian concept of evil, or zeitgemsse values like specialisation –, and through radical opposition to the concepts or values criticised, that he derives his standard of greatness (Maßstab der Grçße). By drawing on domains of life and experience without any explict or obvious relation to the concept Grçße, this operation aims to create an entirely new concept of Grçße, sometimes signalled by the use of quotation marks. For example: In Jenseits von Gut und Bçse 212 the philosopher is introduced as “das bçse Gewissen [seiner] Zeit”. His secret has always been “um eine neue Grçsse des Menschen zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrçsserung”. This description then provides the standard or Maßstab der Grçße developed in the aphorism, namely: as das Unzeitgemsse, as that which stands in the most radical opposition to the Zeitgeschmack, to virtues and tendencies of the present. In the course of the text, this standard is applied to three different zeitgemsse phenomena, yielding three unzeitgemsse qualities that then go to make up Nietzsche s new concept of Grçße: 1. “Angesichts einer Welt der modernen Ideen , welche Jedermann in eine Ecke und Spezialitt bannen mçchte, wrde ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben kçnnte, gezwungen sein, die Grçsse
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des Menschen, den Begriff Grçsse gerade in seine Umfnglichkeit und Vielfltigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu setzen.” 2. “Heute schwcht und verdnnt der Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so sehr zeitgemss als Willensschwche: also muss, im Ideale des Philosophen, gerade Strke des Willens, Hrte und Fhigkeit zu langen Entschliessungen in den Begriff Grçsse hineingehçren.” 3. “Heute […] wo in Europa das Heerdenthier allein zu Ehren kommt und Ehren vertheilt […] ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden, Bevorrechtigten, des hçheren Menschen, der hçheren Seele, der hçheren Pflicht, der hçheren Verantwortlichkeit, der schçpferischen Machtflle und Herrschaftlichkeit – heute gehçrt das Vornehm-sein, das Fr-sich-sein-wollen, das Anderssein-kçnnen, das Allein-stehn und auf-eigne-Faust-leben-mssen zum Begriff Grçsse .” These operations can be schematised as follows: Unzeitgemss ) neuer Begriff “Grçsse” ! Umfnglichkeit, Vielfltigkeit, Ganzheit im Vielen 2. Willensschwche ! Strke des Willens 3. Das Heerdenthier ! das Vornehm-sein, das Anders-sein-kçnnen, das Alleinstehn usw. (Bekriegung alles Seltenen, Fremden usw.) Zeitgemss 1. “Spezialitt”
Conclusion The three Umwertungs-strategies described above can be summarised as follows: Type 1: Re-determination (Neubestimmung): critical redetermination of existing concept of Grçße designed to rob it of its positive value; the word “Grçsse” is then given (a) new meaning(s) opposed to those criticised; the positive connotations of the word are retained and transferred to its new, opposed meaning(s). Type 2: Re-interpretation/-evaluation (Umdeutung/Umwertung): word “Grçsse” given new meaning through reinterpretation of existing concept(s); reinterpretation undermines the basis for its positive value; the positive connotations of the word “Grçsse” are retained, but given new basis in the reinterpretation of the existing concept.
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Type 3: Recreation (Neuschçpfung) (sometimes signaled by quotation marks: “Grçsse”): the ascription of new (unzeitgemsse) meanings to word “Grçsse” through critical opposition to concepts / values without obvious relation to Grçße, aims to create entirely new concept of Grçsse. Clearly, these analyses are not exhaustive or adequate on their own. For an adequate understanding of Nietzsche s Umwertung of Grçße in the texts considered above, these punctual analyses focused on the term “Grçße” would have to be related to co-ordinate innovations and transformations of meaning within the broader philosophical framework of Nietzsche s Umwertungs-problematic. In the first text, for example, the operation described above can be related to a change of optic, mentioned earlier: namely, from a Christian optic (Grçße qua Glaube) to a noble or ancient optic (Grçße qua Unglaube/Unbedenklichkeit), within the broader Umwertungs-framework: the noble vs. Christian morality. Nevetheless, the kind of word-focused analysis made possible by the NWB does bring some important distinctions and questions to light. Are the new meanings ascribed to a given term explicitly related to existing meanings of the term (operations 1. and 2.) – or do they relate to other terms and concepts from extraneous contexts or Gebiete (operation 3.)? In the former case, are the new meanings ascribed to a given term through a radical opposition to existing meanings (operation 1.) or through an undermining reinterpretation (operation 2.)? Do the new meanings have the effect of changing the referents of the existing term (operation 1.), or just changing how the existing referents are understood (operation 2.), or even disclosing an entirely new range of referents (operation 3.)? Such questions open the possibilitiy of a more precise understanding of Nietzschean Umwertung, especially in texts where existing meanings of a given word are subjected not just to one of the above operations, but to a mixtures or combination of Umwertungs-strategies, as is so often the case in Nietzsche s texts.
„Lexica schreiben ist keine Wollust“– oder etwa doch? Eine These und ihre berprfung am Beispiel des neuen Nietzsche-Lexikon
Christian Niemeyer Wer ein Lexikon ber Nietzsche herauszugeben sich anheischig macht, wird sich natrlich irgendwann auch der Frage auszusetzen haben, was Nietzsche selbst zu einem solchen Unterfangen gesagt htte. Nun, Sie werden es sich denken kçnnen: Das Ergebnis der diesbezglichen Recherche war nicht sonderlich ermutigend. Richtig aber fuhr mir der Schreck erst in die Glieder, als ich beim frhen Nietzsche kurz vor Abschluss der Arbeiten am Nietzsche-Lexikon den Satz fand: „Lexica schreiben ist keine Wollust“ (An Carl von Gersdorff, KGB I/2, Bf. 515) – denn damit schien mir die Folgerung fast zwingend, dass ich als Herausgeber Schuld trug am Wollust-Defizit der von mir eingeworbenen Autorinnen und Autoren. Nun wissen Nietzschekenner, dass es bei Nietzsche nicht lange dauern kann bis zur Entdeckung eines gegenteiligen Zitats oder jedenfalls doch eines Gegenmittels, und so auch hier: „Der Pfad zum eigenen Himmel [geht] immer durch die Wollust der eigenen Hçlle“ (FW, KSA 3, 566) – ein Satz, der zwar nicht richtig passt, aber wenigstens doch ein bisschen. Welcher Art ist also jener „Himmel“ – natrlich nicht lediglich der eigene –, der mit diesem Lexikon angestrebt werden soll? Nun, mir wrde es vollkommen ausreichen, wenn dieses Lexikon – natrlich im Verein mit anderen wichtigen Hilfsmitteln, wie etwa dem Nietzsche-Handbuch 1 oder dem Nietzsche-Wçrterbuch 2 – dazu beitrge, das Reden ber Nietzsche etwas zu disziplinieren. Dass diese Absicht auch Nietzsches Billigung gefunden htte – ungeachtet seines Spottes ber das diesbezgliche Handwerk –, steht fr mich außer Frage. Einen wichtigen Hinweis gibt hier seine Verzweiflung vom September 1884 angesichts von Heinrich v. Steins Gestndnis, er habe vom Zarathustra allenfalls „zwçlf 1 2
Henning Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000. Nietzsche Research Group (Hrsg.), Nietzsche-Wçrterbuch, Bd. 1, Berlin/New York 2004.
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Stze und nicht mehr“ verstanden, das Stein noch durch den Zusatz abzumildern suchte, immerhin kçnne er einige besonders schçne und tiefe Passagen aus Das andere Tanzlied auswendig rezitieren. Nietzsche nmlich kommentierte: „Welch sonderbares Schicksal, 40 Jahre alt werden und a l l e seine wesentlichsten Dinge, theoretische wie praktische, als Geheimnisse mit sich noch herumschleppen!“ (An Franz Overbeck, KGB III/ 1, Bf. 533) – und gab eben dadurch zu erkennen, dass ihm durchaus an Verstndnis und mithin an Aufklrung ber diese „Geheimnisse“ gelegen sei. An einigen weiteren Beispielen gesprochen: Wer, wie Nietzsche, Lehrsthle zur Auslegung des Zarathustra zumindest nicht als entbehrlich angesehen hat und Protest einlegte gegen den schon damals kursierenden Vorwurf, er sei nichts weiter als ein „neuer unmçglicher unvollstndiger aphoristischer Philosophus“ (An Paul Re, KGB III/1, Bf. 144), dessen Werken „ein Durcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien“ (An Georg Brandes, KGB III/5, Bf. 974) unterlge; wer sich, wie Nietzsche, mokierte ber die „bestndig falsche, nmlich f l a c h e Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er [der tiefe Geist, lies: Nietzsche] giebt“ (JGB, KSA 5, 58); wer sich schließlich, nicht zuletzt deswegen, „nur unter Masken zu zeigen“ (An Heinrich von Stein, KGB III/3, Bf. 584) vermochte, gleichwohl aber vertraute auf das Jahr 1985, sprich: auf „irgend ein Genie von Menschenkenner, welches Herrn F. N. ausgrbt“ (An Heinrich von Stein, KGB III/3, Bf. 584) und, beispielsweise, die „Verzahnungen“ aufzufinden vermag, „wo das neue Gebude [dieses Denkers; d. Verf.] aus dem lteren herauswchst“ (WS, KSA 2, 640) – was htte der gegen ein Nietzsche-Lexikon haben kçnnen, zumal gegen ein solches, das, wie das hier in Rede stehende, gerade diesen letzten Aspekt, den psychologischen, auch den biografieorientierten, nicht außer Acht lsst? Positiv gewendet und vielleicht etwas tollkhn formuliert: Nietzsche, zu seiner Zeit verkannt, bersehen und missachtet wie wohl kein anderer Philosoph der Geistesgeschichte, sehnte das Nietzsche-Lexikon herbei. Beredt ist in diesem Zusammenhang sein Brief aus Sils-Maria an Meta von Salis vom 14. September 1887. Nietzsche schreibt hier, unter Anspielung auf seine soeben fertig gestellte, als Kommentar (zu frheren Werken) angelegte Genealogie der Moral: Nichts ist brigens degoutanter, als sich selbst commentieren zu mssen; aber bei der vollkommenen Aussichtslosigkeit dafr, dass irgend jemand Anders mir dies Geschft htte abnehmen kçnnen, habe ich die Zhne zusammengebissen und gute Miene, hoffentlich auch „gutes Spiel“ gemacht. (An Meta von Salis, KGB III/5, Bf. 908)
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Vier Wochen spter (am 10. Oktober 1887) klrte Nietzsche in einem Brief an seine Mutter in Naumburg ber die Grnde fr die Notwendigkeit eines solchen Kommentars auf: Ich fand hier beieinander, was in den deutschen Zeitschriften Alles ber mein letztes Buch [Jenseits von Gut und Bçse; d. Verf.] gedruckt worden ist: ein haarstrubendes Kunterbunt von Unklarheit und Abneigung. Bald ist mein Buch „hçherer Blçdsinn“, bald ist es „diabolisch berechnend“, bald verdiene ich, dafr aufs Schaffott zu kommen (wenigstens nach der Art der frheren Zeiten, sich gegen unangenehme Freigeister zu wehren) bald werde ich als „Philosoph der junkerlichen Aristokratie“ verherrlicht, bald als zweiter Edmund von Hagen verhçhnt, bald als Faust des neunzehnten Jahrhunderts bemitleidet, bald als „Dynamit“ und Unmensch vorsichtig bei Seite gethan. (An Franziska Nietzsche, KGB III/5, Bf. 924)
Aus heutiger Perspektive htte Nietzsche vielleicht noch hinzugesetzt: „Und danach habe ich Karriere gemacht als Leitfigur der Strmer und Drnger der 1890er Jahre, als Philosoph des Kapitalismus, als Kriegsphilosoph, schließlich gar als Vordenker Hitlers und dann noch als Vater der Postmoderne“, kurz: Die Attributionswut bezogen auf Nietzsche ist wirklich beachtlich und rgerlich zumal fr den Leser, der nach textnah an der Primrliteratur orientierter Darstellung unter Nachweis der relevanten Sekundrliteratur sucht und ber Nietzsche in Kenntnis des Richtigen und Triftigen urteilen will. Damit ist zugleich das Profil des Nietzsche-Lexikon umrissen: Es will Aufklrung geben ber die wichtigsten der Nietzsche betreffenden Sachverhalte in Gestalt von berblicksartikeln (Beispiel: „Postmoderne“) sowie unter den Rubriken Werke, Sachen (Beispiel: „Kultur“), Schlagworte (Beispiel: „gefhrlich leben!“), Personen/Quelle (Beispiel: „Emerson, Ralph Waldo“), Personen/Zeitgenossen (Beispiel: „Re, Paul“), Personen/Wirkung (Beispiel: „Foucault, Michel“) sowie Orte (Beispiel: „Turin“). Insgesamt versteht sich das Nietzsche-Lexikon – und versucht dies durch die Akquisition von 142 Nietzscheforschern aus 21 Lndern der Welt zu dokumentieren – als Resmee des aktuellen Standes der internationalen Nietzscheforschung, die sich von ihrem Beginn an, auch in Reaktion auf eine geradezu katastrophale, von Flschungen und Verflschungen durchsetzten Editionsgeschichte, um die Bereitstellung seriçser Textgrundlagen und weiterer Hilfsmittel bemht hat. Dass gerade der Nietzsche-Leser allein der Textform wegen der Hilfe bedarf, ist im brigen Konsens der Nietzschegemeinde, angefangen von Karl Jaspers als Mahnung zu verstehenden Satz: „Nietzsche zu lesen gilt manchem als leicht; wo man ihn aufschlgt, kann man ihn unmittelbar
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verstehen; fast auf jeder Seite ist er interessant; seine Urteile faszinieren, seine Sprache berauscht; die krzeste Lektre belohnt“3, bis hin zu Walter Kaufmanns knapper Formel: „Nietzsches Bcher lassen sich leichter lesen, aber schwerer verstehen, als die Bcher fast jedes anderen Denkers.“4 Im Fall Nietzsche, so darf man diesen mhelos aktualisierbaren Wortmeldungen entnehmen, besteht die beharrlich beklagte große Gefahr, dass auch Unberufene meinen mitreden zu drfen, die den Weg von der Verstndlichkeit des Gelesenen zum Verstehen des Gemeinten nicht zu bewltigen vermçgen oder wollen – Letzteres beispielsweise, weil sie nicht alle Textsorten, Briefe beispielsweise, gleich ernst nehmen und/oder kennen, aber auch, weil sie der postmodernen berzeugung anhngen, dem Bemhen um Richtigstellung verfehlter Lesarten Nietzsches lge „eine Idee von Richtigkeit und Wahrheit […] zugrunde […], an deren Dekonstruktion Nietzsche zeitlebens […] gearbeitet hat.“5 Dieser Einwand, in deren Linie gedacht die Postmoderne endgltig zur Philosophie der Faulen wird, die nicht mehr lesen sondern nur noch schreiben wollen (und dafr eine Rechtfertigung bedrfen), ist aber nicht nur, wie Hofbauer ironisch anmerkt, „kleinlich“6, er ist Gott sei Dank schlicht falsch, was hier nicht in extenso begrndet werden kann7, wohl aber von der Pointe her vorgefhrt werden soll. Ihr zufolge dominierte bei der Konzeption des Nietzsche-Lexikon von Beginn an die Absicht, die methodologischen berlegungen Nietzsches zum Ausgangspunkt der Begrndung des eigenen Vorgehens zu machen, also potentielle Autorinnen und Autoren zu nçtigen, zu dem Leser zu werden, den der Autor Nietzsche „sich erwnscht und erwirken will.“8 Nietzsches Wnsche scheinen, auf den ersten Blick betrachtet, ußerst bescheiden gewesen zu sein: Es gehe um einen Leser, der in der Lage ist, „ordentlich zu lesen“ (NF, KSA 8, 411) und dem etwas anzuempfehlen sei, 3 4 5 6 7 8
Karl Jaspers, Nietzsche. Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens, Berlin/Leipzig 1936, S. V. Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1988, S. 84. Jrgen Hofbauer, How to do things with Nietzsche. Nietzsche als Methode – Eine Versuchsanordnung mit drei Opern Richard Wagners, Mnchen 2006, S. 12. Jrgen Hofbauer, How to do things with Nietzsche. Nietzsche als Methode – Eine Versuchsanordnung mit drei Opern Richard Wagners, Mnchen 2006, S. 12. Vgl. Christian Niemeyer, Nietzsches andere Vernunft. Psychologische Aspekte in Biographie und Werk, Darmstadt 1998, S. XV ff. Ulrich Willers, Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie: eine theologische Rekonstruktion, Innsbruck/Wien 1988, S. 34.
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„zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ,moderner Mensch sein muss: das Wiederkuen…“ (GM, KSA 5, 256). Folgerichtig sang Nietzsche denn auch sein Loblied auf den „guten Leser“, einen Leser, „wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen“ (EH, KSA 6, 305). Entsprechend definierte Nietzsche noch im Antichrist ausgesprochen schulmßig: Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden, – Thatsachen ablesen kçnnen, o h n e sie durch Interpretation zu flschen, o h n e im Verlangen nach Verstndniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren. (AC, KSA 6, 233)
Bis zuletzt also blieben dies fr Nietzsche achtbare Tugenden, wobei hier zunchst außer Betracht bleiben soll, ob Nietzsche selbst sich immer an ihnen orientierte. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang ohnehin etwas anderes: Das Nietzsche-Lexikon will, was seine Wirkung angeht, beitragen zur Multiplikation jener „guten Leser“, aber auch zur Zurckdrngung der von Nietzsche verachteten „schlechtesten Leser“, die in der Nietzscheforschung nicht eben selten auch noch bis in die Gegenwart hinein das große Wort fhren: „die, welche wie plndernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen kçnnen, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lstern auf das Ganze.“ (MA, KSA 2, 436) Dieser Rubrik zugehçrig scheint auch Heinz Schlaffer. Denn dessen Satz: „[D]ie Zchtung einer verbesserten Rasse erlaube es, einen Großteil der entarteten Massen zu vernichten“9, hat, entgegen dem Anschein, den der Verfasser zu erwecken sucht, mit Nietzsche so gut wie nichts zu tun. Oder, um eine andere Formulierung des hier in Rede Stehenden leicht variiert gegen ihn selbst zu wenden: „Es braucht [nicht; d. Verf.] viel Sachverstand, um zu unterscheiden, was in […] [diesem; d. Verf.] Satz Deskription, was Fiktion ist.“10 Denken kçnnte man in diesem Zusammenhang auch an Thomas Mittmann, der in seiner Bochumer Dissertation die These zu untermauern versuchte, der spte Nietzsche sei gar kein (ehrlicher) Anti-Antisemit gewesen, „die Radikalisierung des ,modernen Rassenantisemitismus“ lasse sich durchaus „zu einem bedeutenden Teil auf den Impuls Nietz9 Heinz Schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, Mnchen 2007, S. 14. 10 Heinz Schlaffer, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, Mnchen 2007, S. 14.
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sches“, auf „die eliminatorischen Dimensionen seiner Philosophie“11, zurckfhren, Nietzsche msse als „geistiger Wegbereiter des Holocaust“ (Rckumschlag) oder „Vordenker der Eugenik“12 gelten. Denn im Vergleich zu dieser radikalen, aufs Ganze gehenden Lesart ist die Begrndung im Detail dann doch eher erbrmlich und dem Niveau jenes von Nietzsche gegeißelten „plndernden Soldaten“ angemessen. Ich gebe ein Beispiel: Mittmann kritisiert – wenig berraschend – jenen mit Moral fr rzte berschriebene Abschnitt aus der Gçtzen-Dmmerung, in welchem Nietzsche eine „neue Verantwortlichkeit“ fordert, die des Arztes, fr alle Flle, wo das hçchste Interesse des Lebens, des a u f s t e i g e n d e n Lebens, das rcksichtsloseste Nieder- und BeiseiteDrngen des e n t a r t e n d e n Lebens verlangt – zum Beispiel fr das Recht auf Zeugung, fr das Recht, geboren zu werden, fr das Recht, zu leben […]. (GD, KSA 6, 134)
Was folgt, ist das seit 1945 fast gngige Ritual: Mittmann empçrt sich ber „[d]iese eugenischen Gedanken Nietzsches mit ihren eliminatorischen Dimensionen“13 und macht sich auf die Jagd nach weiterem belastenden Material im Nachlass, verzichtet allerdings komplett auf Textexegese, klrt die Leser also nicht darber auf, dass Nietzsche an der inkriminierten Stelle (1.) auch aus Verzweiflung ber seine eigene Krankheit redet, seine eigene Zeugung (2.) als eine, die seines erbsyphilisverdchtigen Vaters wegen am besten unterblieben wre, geißelt, im gleich nachfolgenden Absatz (3.) sich gegen eine Lesart seiner Absichten dahingehend verwahrt, dass es ihm um „die Abschaffung aller anstndigen Gefhle“ gehe (GD, KSA 6, 136), im Folgenden (4.) eine Lesart andeutet, die auf Infragestellung der modernen Selbstzufriedenheit in Sachen angeblich erreichter hçherer Moralitt im Vergleich zur Renaissance abstellt, die im Ergebnis (5.) deutlich machen soll, dass das Streben nach Gleichheit jenem nach „Freiheit“ – zuzuerkennen, wo man „den Willen zur Selbstverantwortlichkeit“ hat und „gegen das Leben gleichgltiger wird“ (GD, KSA 6, 139) – unterlegen sei. Man sieht also: Es ging Nietzsche gar nicht um ein Zeugungsverbot oder gar 11 Thomas Mittmann, Vom „Gnstling“ zum „Urfeind“ der Juden. Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus, Wrzburg 2006, S. 181 f. 12 Thomas Mittmann, Vom „Gnstling“ zum „Urfeind“ der Juden. Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus, Wrzburg 2006, S. 114. 13 Thomas Mittmann, Vom „Gnstling“ zum „Urfeind“ der Juden. Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus, Wrzburg 2006, S. 93 f.
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Tçtungsgebot an sich; es ging ihm lediglich um Denkstoff zwecks Exposition seines radikalen Freiheitsbegriffs. Dass Mittmann mit Nietzsche im Stil eines plndernden Soldaten verfhrt, zeigt auch sein Umgang mit dem berhmt-berchtigten § 251 aus Jenseits von Gut und Bçse. Denn hierbei handelt es sich keineswegs – wie Mittmanns Zusammenfassung nahe legt14 – um einen taktischen Ratgeber in Sachen eines klugen Antisemitismus, ausgesprochen von einem deutschtmelnden Philosophen namens Nietzsche. Zwar will man gern glauben, dass Mittmann zumal bei Nazi-Ideologen auf Auslegungen wie diese getroffen ist. Aber es ist nicht seine Aufgabe als Wissenschaftler, derlei zu verdoppeln, sondern vor jeder rezeptionsgeschichtlichen Bewertung fr eine dem Stand der Forschung entsprechende Lesart von Nietzsches Texten Sorge zu tragen. Dazu htte der Hinweis gehçrt, dass es Nietzsche in § 251 Jenseits von Gut und Bçse (1.) um eine Erluterung seines frhen Antisemitismus ging, fr den er, unter der Chiffre „kurzer gewagter Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete“ (JGB, KSA 5, 192), Wagner verantwortlich macht. Des Weiteren (2.) verweist Nietzsche in diesem Zusammenhang (als analoge Ansteckungsquelle) auf den „antisemitischen Schreihals“ Heinrich v. Treitschke, dessen (3.) den Berliner Antisemitismusstreit vom November 1879 auslçsende Losung „,Keine neuen Juden mehr hineinlassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach streich) zu die Tore zusperren!“ (JGB, KSA 5, 193) Nietzsche nicht zustimmte und die er auch nicht aus bloß taktischen Grnden ablehnte, sondern (4.) die er zum Anlass nahm fr eine „heitere Deutschthmelei“ und mithin zum Gegenteil dessen, was Mittmanns bezeichnenderweise um das Adjektiv „heiter“ gekrzte Wiedergabe dieses Ausdrucks unterstellt: nmlich zur Vision, wie es wohl wre, wenn man Leuten wie Treitschke und anderen „Typen des neuen Deutschtums“ resp. der sich damals bereits als Herrenrasse fhlenden arisch-antisemitischen Aristokratie jenes vor allem geistige Niveau der Juden als dasjenige – auch als Verheiratungsoption – vor Augen fhrt, dessen sie selbst wegen ihres einseitigen Vertrauens auf die fast schon „erbliche […] Kunst des Befehlens und Gehorchens“ (JGB, KSA 5, 194) entbehrte. So gelesen, erfllte § 251 geradezu eine kontrr zu Mittmanns Lesart – Nietzsche als „geistiger Wegbereiter des Holocaust“ – abstellende Zielsetzung, dies jedenfalls, solange man die Auffassung ver14 Thomas Mittmann, Vom „Gnstling“ zum „Urfeind“ der Juden. Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus, Wrzburg 2006, S. 40.
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tritt, dass Auschwitz durch Sekundrtugenden wie „Befehlen“ und „Gehorchen“ begnstigt wurde. brigens weiß Mittmann zwar, dass Nietzsche 1887 dem vçlkischen Antisemiten Theodor Fritsch, der ihn als Autor fr seine Antisemitische Korrespondenz zu gewinnen versucht hatte, eine bittere „Abfuhr“ erteilt hatte, mit der Folge, dass Fritsch seine Gesinnungsgenossen bis zu seinem Tod im Jahr 1933 immer wieder vor Nietzsche, diesem „Sprachrohr fr jdische Auffassungen“15, warnte. Was Mittmann allerdings nicht zu interessieren scheint, ist der Umstand, dass Fçrster-Nietzsche ber Jahrzehnte hinweg alles dafr tat – mit Folgen, die sich auch noch bei Alfred Baeumlers fr die Nazifizierung Nietzsches entscheidender Briefedition von 1932 nachweisen lassen –, diese Briefe, immerhin die wichtigsten Zeugnisse fr Nietzsches Anti-Antisemitismus, in Vergessenheit zu bringen.16 Dies wiederum erlaubt mir die berleitung zu weiteren „plndernden Soldaten“ unter den Nietzsche-Lesern, darunter Domenico Losurdo: Mhsam muss sich der Leser durch dessen (2002 in Italien erschienenes und seit Januar 2009 in deutscher bersetzung vorliegendes) Buch Nietzsche, il ribelle aristocratico kmpfen, um in etwa herauszubekommen – mit diesem Beispiel sei begonnen –, dass der „frhe“ Nietzsche den Krieg „unterschiedslos verherrlicht[e]“, der „mittlere“ ihn „verurteilt[e]“17 und beim „spten“ Nietzsche (wieder?) „die vertrauensvolle Erwartung einer neuen Epoche der Kriege“18 dominierte. Ob die Vokabel Krieg jeweils als Wort, Begriff oder Metapher gelesen werden muss, wird nicht deutlich – wohl nicht zufllig, wie man dem Umstand entnehmen darf, dass Losurdo zwar Nietzsches Wort von einem (von ihm begrßten) „kriegerische[n] Zeitalter“ zitiert, aber die gleich nachfolgende Erluterung unterschlgt, wonach dieses Zeitalter eines sei, „das den Heroismus in die Erkenntniss
15 Thomas Mittmann, Vom „Gnstling“ zum „Urfeind“ der Juden. Die antisemitische Nietzsche-Rezeption in Deutschland bis zum Ende des Nationalsozialismus, Wrzburg 2006, S. 87 f. 16 Vgl. Christian Niemeyer, Nietzsche, vçlkische Bewegung, Jugendbewegung. ber vergessene Zusammenhnge am Exempel der Briefe Nietzsches an Theodor Fritsch vom Mrz 1887, in: Vierteljahrsschrift fr Wissenschaftliche Pdagogik 79 (2003), S. 292 – 330. 17 Domenico Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, Bd. I u. Bd. II, Berlin 2009, S. 322. 18 Domenico Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, Bd. I u. Bd. II, Berlin 2009, S. 373.
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trgt“ (FW, KSA 3, 526), was zugleich meint, dass von „Krieg“ hier allenfalls als Metapher (etwa fr geistiges Ringen) gesprochen werden kann. Zu dieser fahrlssigen Umgangsweise mit Nietzsche passt Losurdos Klugheit im Verschweigen. So sucht man bei ihm beispielsweise Nietzsches abflliges Urteil ber Lagardes „Deutschthmelei“ (NF, KSA 12, 55) umsonst. Auch wird zwar der Briefwechsel Nietzsches mit Josef [nicht: Joseph; d. Verf.] Paneth und Theodor Fritsch erwhnt19, nicht aber der Umstand, dass Nietzsches Schwester die Fritsch-Briefe als sie stçrende Belege fr Nietzsches Anti-Antisemitismus systematisch in Vergessenheit brachte und aus hnlichem Grund in ihrer Biographie ber die PanethEpisode nur in Gestalt verstmmelter Dokumente informierte20, um schließlich auch Nietzsches (vorbergehend) fr Der Wille zur Macht bestimmte und wohl gegen ihren Gatten gerichtete „Maxime“ zu unterschlagen: „[M]it keinem Menschen umgehn, der an dem verlogenen Rassen-Schwindel Antheil hat.“ (NF, KSA 12, 205) Man kann aber noch einen Schritt weiter gehen, etwa im Blick auf Teil IV von Losurdos Buch, in welchem der Autor geradezu ein Feuerwerk abbrennt von durchaus schockierenden Zitaten insbesondere aus dem spten Nachlass – zumeist eingegangen in die von Fçrster-Nietzsche zu verantwortende Edition Der Wille zur Macht –, welche in der Summe dartun sollen, dass und inwiefern Nietzsche als „Prophet[.] des Dritten Reichs“21 und Nietzsches Zarathustra als „eugenisches Programm“22 gelesen werden msse. Auffllig ist dabei – und diese Kritik ist in Nietzsches Abscheu vor den „plndernden Soldaten“ angelegt –, dass Losurdo nun fast komplett auf Exegese verzichtet und offenbar nur noch auf Skandal abstellt, dies allerdings nicht immer gut gerstet. Nur ein Beispiel: Losurdo vertraut Nietzsches Schwester23, wenn er vom Einfluss des fr den Rassenwahn der Nationalsozialisten verantwortlichen Grafen Gobineau auf 19 Domenico Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, Bd. I u. Bd. II, Berlin 2009, S. 564 f. 20 Christian Niemeyer, „die Schwester! Schwester! s klingt so frchterlich!“ Elisabeth Fçrster-Nietzsche als Verflscherin der Briefe und Werke ihres Bruders. Eine offenbar notwendige Rckerinnerung, in: Nietzscheforschung 16 (2009), S. 335 – 355, hier: S. 341 f. 21 Domenico Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, Bd. I u. Bd. II, Berlin 2009, S. 602. 22 Domenico Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, Bd. I u. Bd. II, Berlin 2009, S. 934. 23 Domenico Losurdo, Nietzsche, der aristokratische Rebell. Intellektuelle Biographie und kritische Bilanz, Bd. I u. Bd. II, Berlin 2009, S. 413.
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Nietzsches Denken meint sprechen zu drfen. Allerdings entgeht ihm, dass er damit einer der perfidesten Flschungen der von ihm wortreich Verteidigten aufsitzt! Vor diesem Hintergrund muss durchaus irritieren, dass Kurt Flasch Losurdo noch 2003 meinte loben zu drfen, insoweit in seinem Buch gezeigt werde, dass sich „die extremen politischen Auslassungen [Nietzsches] […] keineswegs nur auf Nietzsches Schwester […] zurckfhren [lassen]“, die Losurdo im brigen „entlastet“ habe bei gleichzeitiger Kritik am „Eindringen der Entschuldungsrhetorik in die Textfassung bei ColliMontinari.“24 An sich kçnnte man ber diese Provokation hinweggehen eingedenk der Tatsache, dass sich Losurdo, wie im Vorhergehenden angedeutet, als so gut wie unkundig erweist in Sachen der meisten Vorwrfe, die gegen Fçrster-Nietzsche zu erheben sind.25 Auch kçnnte man hinweisen auf die subtile Demontage, die Wolfgang Mller-Lauter26 vor gut zwanzig Jahren am Exempel Wolfgang Harich der, ginge es nach Flasch, nun erneut ins Zentrum gerckten marxistischen Nietzschelektre angedeihen ließ. Auf der anderen Seite markiert die Intervention von Flasch ja nur den Scheitelpunkt einer Entwicklung, die, gegenlufig zu Mller-Lauter, gleichfalls vor zwanzig Jahren in den Nietzsche-Studien erstmals zu Gehçr gelangte, etwa in Gestalt der von den Argumenten von Flasch sich kaum unterscheidenden Einlassungen von Karl-Heinz Hahn27. Seitdem sind Tendenzen erkennbar in Richtung der Rehabilitierung Elisabeth FçrsterNietzsches, etwa in Gestalt ihrer Entdeckung als Frhemanzipierte28, und in Vergessenheit gert, dass sie Manuskripte und Briefe Nietzsches nicht etwa nur aus Verehrung fr ihren Bruder sammelte, sondern vor allem aus Sorge, mit ihrem Nietzsche-Bild konfligierende oder sie als Person diskreditierende Brief- oder Werkpassagen kçnnten publik werden. Aus dem nmlichen Grund griff sie vehement in Nietzsches Schrifttum ein und sorgte mit ihren Flschungen im Ergebnis dafr, dass man Nietzsche nach
24 Kurt Flasch, Und er war doch ein Zerstçrer der Vernunft!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 44 (22. 2. 2003), S. 42. 25 Vgl. Christian Niemeyer, Rez. von D. Losurdo: Nietzsche, der aristokratische Rebell, in: Nietzscheforschung 17 (2010). 26 Wolfgang Mller-Lauter, Stndige Herausforderung. ber Mazzino Montinaris Verhltnis zu Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 32 – 82. 27 Karl-Heinz Hahn, Das Nietzsche-Archiv, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 1 – 19, hier: S. 6 ff. 28 So Klaus Goch, Hexe und Kçnigin. Elisabeth Nietzsche – ein kleines Psychogramm, in: Nietzscheforschung 6 (1998), S. 301 – 317, hier: S. 306.
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1945 als Hausphilosophen der Nazis anzusehen sich angewçhnt hatte29 – dies, wie mit Massimo Ferrari Zumbini30 zuzugestehen ist, nicht nur, aber eben doch im erheblichen Umfang infolge von Fçrster-Nietzsches Flschungsaktivitt. Diese Zusammenhnge, ber die noch in den 1950er mit großer Breitenwirkung – etwa in Gestalt einer Titelstory im Spiegel (Heft 5/1958) – informiert wurde und die letztlich den Anlass gaben fr eine philologisch korrekte Nietzsche-Ausgabe (eben jene von Colli/ Montinari), scheinen inzwischen nicht mehr so prsent wie notwendig zu sein, wie nicht zuletzt die Einlassung von Flasch belegt. Was aber nun folgt aus den genannten Beispielen fr das NietzscheLexikon und dessen Konzeption? Nun, wenig berraschend drfte sein, dass ich weder Schlaffer noch Flasch noch Losurdo als Autoren einzuwerben mich bemhte und auch Mittman allenfalls als Experte in Sachen August Horneffer anfragte, nicht aber mit Stichworten wie „Antisemitismus“ oder gar „Anti-Antisemitismus“ betraute. Und, nicht zu vergessen: Natrlich lag mir daran, ber Zusammenhnge, die ich im Vorhergehenden angedeutet habe, im Nietzsche-Lexikon exakt und nchtern zu informieren oder informieren zu lassen, und zwar an den dafr geeigneten Orten, also etwa in den Artikeln ber Theodor Fritsch, Heinrich v. Treitschke oder Arthur de Gobineau, aber natrlich auch in dem Text zu Nietzsches angeblichem Prosa-Hauptwerk Der Wille zur Macht oder zum Stichwort „Krieg“, in welchem auch jene Aktivitten zu beheimaten waren, die Fçrster-Nietzsche zwecks Indienststellung ihres Bruders als Kriegsphilosoph des Deutschen Reiches unternahm. Zusammenfassend gesprochen: Das Nietzsche-Lexikon soll gegen die den Publikationsmarkt bestimmende Tendenz der mçglichst spektakulren, weil verkaufstrchtigen These die Tugend des guten, des genauen Lesens lehren. Dies erforderte, den Autorinnen und Autoren exakt diese Tugend – als Prmisse ihres Schreibens – abzuverlangen. Und dies, so dachte ich, konnte ich ja selbst kontrollieren, indem ich die (auch in diesem Sinne) Besten einlud, also die jeweils fhrenden Experten fr die einzelnen Themengebiete, die natrlich nicht alle zu bekommen waren, nicht konnten, nicht wollten, dennoch: Im Ergebnis haben sehr viele Kollegin29 Vgl. Christian Niemeyer, „die Schwester! Schwester! s klingt so frchterlich!“ Elisabeth Fçrster-Nietzsche als Verflscherin der Briefe und Werke ihres Bruders. Eine offenbar notwendige Rckerinnerung, in: Nietzscheforschung 16 (2009), S. 335 – 355. 30 Massimo Ferrari Zumbini, Untergnge und Morgenrçten. Nietzsche – Spengler – Antisemitismus, Wrzburg 1999, S. 14 f.
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nen und Kollegen trotz der rigiden Auflagen, welche die Gattung „Lexikon“ insbesondere im Blick auf formale Vereinheitlichung verlangt, dem Projekt ihre Untersttzung nicht verweigert. Ihnen sei hier noch einmal gedankt fr ihre Mhe, ihre Geduld, letztlich auch ihr Vertrauen, denn die Verantwortung fr das Ganze, fr Annahme oder Ablehnung, auch fr Schlussredaktion und Fahnenkorrektur, oblag dem Herausgeber, mit der Folge, dass mitunter auch rger und Enttuschung riskiert werden musste, bis hin zum – allerdings nicht beabsichtigten – Super-Gau, will sagen: In einem Fall bekam ein Autor vom Verlag zwar sein Belegexemplar, fand darin aber keinen seiner Beitrge – dies nicht etwa, weil sie schlecht waren, sondern weil es sie (wie sagt man?) in die Weiten des Internet verschlagen hat. Was Sie mit diesem Super-Gau zu tun haben, kçnnten Sie nun fragen? Nun: Sie kçnnten ja beispielsweise dem zerknirschten Herausgeber helfen, etwa durch vielfachen Bezug des Nietzsche-Lexikon, auf dass bald eine 2. Auflage fllig wird, die dann jene verlorenen Beitrge enthlt…
Anhnge
Autorinnen und Autoren Marco Brusotti, unterrichtet seit Oktober 2004 Geschichte der zeitgençssischen Philosophie an der Universitt Lecce (Italien), jetzt Universit del Salento (Programm: „Rientro dei Cervelli“) Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Philosophie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts (insbesondere Nietzsche, Wittgenstein), Praktische Philosophie, Sprachphilosophie, sthetik. Email: [email protected] Volker Caysa lehrt als Professor fr Philosophie an den Universitten Leipzig und Lodz/ Polen. Er ist Mitglied des Stiftungsrates der FriedrichNietzsche-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Lebenspraxis, Anthropologie des Kçrpers (darunter: Sportphilosophie), Empraktische Wissensformen. Email: [email protected] Jakob Dellinger, studierte Philosophie an der Universitt Wien und schloss mit einer Arbeit zum Wahrheitsproblem bei Nietzsche ab. Er verçffentlichte Aufstze zu Nietzsche sowie Beitrge zum Nietzsche-Lexikon (hg. v. Christian Niemeyer) und arbeitet derzeit in Wien an einer Dissertation zur Frage der selbstbezglichen Konsistenz bei Nietzsche mit besonderer Bercksichtigung der Konsistenzprobleme des „Perspektivismus“. Email: [email protected] Knut Ebeling, geb. 1970, unterrichtet am Seminar fr sthetik der Humboldt-Universitt zu Berlin und an der Stanford University Berlin. Anschrift: Immanuelkirchstraße 33, 10405 Berlin. Email: knut.ebeling@ culture.hu-berlin.de Jutta Georg, Studium der Philosophie und des klassischen Bhnentanzes. Freie publizistische Ttigkeit, Referatsleiterin in der Hessischen Landesregierung, Dramaturgien in der Oper Frankfurt, Dozentin an der TU Darmstadt, Habilitationsprojekt ber Nietzsche und Freud. Anschrift: Nobelring 6, 60598 Frankfurt. Email: [email protected] Pietro Gori is Ph.D. in Modern and Contemporary Philosophy and member of many international research group such as the Seminario Permanente
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Nietzscheano and the GIRN – Groupe International de Recherches sur Nietzsche. He deals with the scientific sources of Nietzsche s thought, the reception of Nietzsche s philosophy in Austria during the early 20th century and with the development of the scientific philosophy of Ernst Mach. On these topics he wrote many articles and two books: La visione dinamica del mondo. Nietzsche e la filosofia naturale di Boscovich (Napoli 2007) and Il meccanicismo metafisico. Scienza, filosofia e storia in Nietzsche e Mach (Bologna 2009). Email: [email protected] Helmut Heit, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in Hannover und Berlin. 2003 wurde er mit einer Dissertation zu Rekonstruktionsversuchen der griechischen Philosophieentstehung in Hannover promoviert. Seit Oktober 2007 ist der Dilthey-Fellow an der Technischen Universitt Berlin, bleibt der ZEWW aber als Lehrbeauftragter verbunden. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte, Praktische Philosophie, Sozialphilosophie, Antike Philosophie, 19. und 20. Jahrhundert. Email: [email protected] Thomas Kater, lehrt Philosophie an der Universitt Leipzig. Hauptarbeitsgebiete: Politische Philosophie und Ethik. Verçffentlichte Bcher: Politik, Recht, Geschichte. Zur Einheit der politischen Philosophie Immanuel Kants, Wrzburg 1999, als Herausgeber: Der Friede ist keine leere Idee … Bilder und Vorstellungen vom Frieden am Beginn der politischen Moderne, Essen 2006. Zusammen mit Albert Kmmel als Herausgeber: Der verweigerte Friede. Der Verlust der Friedensbildlichkeit in der Moderne, Bremen 2003. Email: [email protected] Camille Legrand, promoviert seit 2007 an der Sorbonne-Paris III zu dem Thema Nietzsche und die franzçsischen Moralisten. Von 2007 bis 2010 war sie Assistentin an der Sorbonne und unterrichtet und lehrt als Lektorin an der University of Connecticut, USA. Email: [email protected] Rogrio Lopes ist Professor fr Philosophie an der Universidade Federal de Minas Gerais, Belo Horizonte, Brasilien. Wichtige Verçffentlichungen: Elementos de Retrica na Obra de Nietzsche (2006) und Ceticismo e Vida contemplativa em Nietzsche (Phil. Diss., UFMG/TU-Berlin, 2008). Gegenwrtig arbeitet er ber Nietzsches Verhltnis zur Geschichte der praktischen Philosophie, bzw. der normativen Ethik sowie ber seine Rezeption in der zeitgençssischen praktischen Philosophie. Email: [email protected]
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Nikolaos Loukidelis, Studium der Philosophie, Psychologie, Pdagogik und Altgriechische Philologie an der Universitt Athen. Er ist Doktorand am Institut fr Philosophie der Humboldt-Universitt zu Berlin. Thema der Dissertation: Es denkt. Ein Kommentar zum Aphorismus 17 von „Jenseits von Gut und Bçse“. Forschungsschwerpunkte: Nietzsche, Philosophische Anthropologie, Philosophie der Lebensfhrung, Psychosomatik. Email: [email protected] Vanessa Vidal Mayor, geb. 1975 in Alicante (Spanien). Studium der Philosophie in Valencia und Mainz. 2003 Master of Advanced Studies in Philosophie. Verschiedene Forschungsstipendien an der Johannes GutenbergUniversitt Mainz. Derzeit Forschung fr die Europische Promotion in Th. W. Adorno Archiv in Berlin. Verçffentlichungen und Vortrge u. a. ber die Kritische Theorie und Friedrich Nietzsche. Email: Vanessa. [email protected] Gocha Mchedlidze, M.A., geb. 1981 in Moskau, Studium der Philosophie und Germanistik an der Universitt Leipzig. Zur Zeit promoviert er am Max-Weber-Kolleg der Universitt Erfurt. Email: gocha.mchedlidze@ stud.uni-erfurt.de Elisabetta Mengaldo, geb. 1977 in Padova (Italien), lebt in Berlin. Studium der Germanistik und Slawistik in Padova, Dresden und Wrzburg. Promotion in Siena (Italien) und Hildesheim zur Lyrik Georg Trakls („L ultimo oro di stelle cadute.“ Strutture e genesi testuale della lirica di Trakl. Pisa: Pacini 2009). Seit Dezember 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fr deutsche Philologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universitt Greifswald. Aufstze zu Trakl, Nietzsche, Adorno. Email: elisabetta.mengaldo@ uni-greifswald.de Barbara Neymeyr, geb. 1961, Studium der Philosophie, Germanistik, Latinistik und Pdagogik in Mnster; 1993 Promotion im Fach Philosophie; 2000 Habilitation im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte. Apl. Professorin am Deutschen Seminar II der Universitt Freiburg i.Br. Seit 2008 Wissenschaftliche Kommentatorin in der Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Email: [email protected] Nicola Nicodemo studierte Philosophie an der Alma Mater Studiorum in Bologna, wo er 2007 das 2. Staatsexamen fr das Lehramt an Gymnasien
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absolvierte. Seit Dezember 2007 promoviert er in Philosophie an der Humboldt Universitt zu Berlin. Email: [email protected] Christian Niemeyer, geb. 1952 in Hameln, Studium der Pdagogik und Psychologie in Mnster und Berlin, 1980 Promotion, 1987 Habilitation in Erziehungswissenschaft, 1979 – 1986 Wiss. Mitarbeiter an der FU Berlin, 1989 – 1993 Prof. fr Sozialpdagogik an der FU Berlin und seit 1993 an der TU Dresden als Professor, seit Januar 2010 Institutsdirektor, seit 2003 Geschftsfhrender Herausgeber der Zeitschrift fr Sozialpdagogik. Email: [email protected] Chiara Piazzesi studierte Philosophie an der Universitt Pisa, an der Scuola Normale Superiore di Pisa und an der Universitt Lecce. Sie forscht und lehrt seit 2007 an der Ernst-Moritz-Arndt-Universitt Greifswald. Forschungsschwerpunkte: Nietzsche, Pascal, Wittgenstein, Kierkegaard, Ethik, praktische Philosophie, Liebe als Form der Selbst- und Fremderfahrung. Koordinatorin des Seminario Permanente Nietzscheano (SPN), der GIRN (Groupe Internationale de Recherches sur Nietzsche), Mitglied des Vorstandes von Europhilosophie. Email: [email protected] Annemarie Pieper, geb. 1941 in Dsseldorf, Studium der Philosophie, Anglistik und Germanistik an der Universitt des Saarlandes in Saarbrcken, 1967 Promotion in Philosophie, 1972 Habilitation an der LudwigMaximilians-Universitt Mnchen, wo sie von 1972 – 1981 Universittsdozentin/Professorin fr Philosophie war, Mitwirkung als Editorin in der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1981 – 2001 ordentliche Professorin fr Philosophie an der Universitt Basel, Mitglied des Stiftungsrats Nietzsche-Haus in Sils-Maria sowie der Karl Jaspers-Stiftung Basel; seit 2001 ausgedehnte Vortragsttigkeit, Themenschwerpunkte: Bildung, Alter, Politik, Sinn- und Wertfragen. Email: [email protected] Renate Reschke, geb. 1944. Studium der Kulturwissenschaft und Germanistik, Inhaberin des Lehrstuhls fr die Geschichte des sthetischen Denkens am Institut fr Kultur- und Kunstwissenschaften, Seminar sthetik, der Humboldt-Universitt zu Berlin, langjhrige Vorsitzende und Vorstandsmitglied der Nietzsche-Gesellschaft und stellvertretende Direktorin der Friedrich-Nietzsche-Stiftung. Sie ist Herausgeberin des Jahrbuchs Nietzscheforschung. Email: [email protected]
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Sçren Reuter, Dr. phil., Studium der Philosophie, der Neueren deutschen Literatur und der Politischen Wissenschaften an der Ludwig-MaximiliansUniversitt Mnchen, Promotion mit einer Arbeit ber Nietzsche am Institut fr Kulturwissenschaften der Humboldt-Universitt zu Berlin. Dort z. Zt. Lehrbeauftragter. Email: [email protected] Pia Daniela Schmcker, geb. 1959. Studium der Germanistik, Philosophie und Medizin in Tbingen. Psychoanalytische Ausbildung (DPV). Promotion 1990 zum Thema Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Seit 1988 ttig an der Universitt Ulm als wissenschaftliche Bibliothekarin. Spezialgebiete: Psychiatriegeschichte des 19. Jhdts, Nietzschepathographie. Leitung von Schreib- und Biographie-Werksttten. Zahlreiche belletristische Arbeiten (Lyrik und Kurzprosa). Email: [email protected] Konstanze Schwarzwald, Promotion 2009, lehrt an der Universitt Leipzig Philosophie. Sie bte Lehrttigkeiten an der Fakultt fr Sportwissenschaften der Universitt Leipzig aus und an der Hochschule fr Grafik und Buchkunst. Sie ist freischaffende Knstlerphilosophin und organisierte mit international anerkannten Knstlern zahlreiche Performances und Kunstaktionen. Arbeitsschwerpunkte: Kçrperwissen, empraktische Wissensformen, Philosophieren in der DDR. Email: [email protected] Karolina Sidowska, M.A., Studium der Polonistik an der Universitt Łdz´ und Germanistik an der Universitt Łdz´ und Eberhard-Karls-Universitt in Tbingen (Erasmus und DAAD Stipendien); Magisterarbeit zum Thema: Bilder der Emotionen im Prosawerk von R. M. Rilke und Bruno Schulz; seit 2006 Doktorandin im Institut fr Literaturtheorie an der Universitt Łdz´. Dissertationsthema: Reprsentationen der Emotionen in der polnischen und deutschen expressionistischen Lyrik. Forschungsschwerpunkte: Kognitivismus in der Literatur, Theorie der Affekte, literarische Reprsentationen des Kçrpers, deutsche und polnische Literatur der Jahrhundertwende und der Gegenwart. Email: [email protected] Herman Siemens, geb. 1963, studied philosophy at the London School of Economics, the Freie Universitt in Berlin and the University of Essex, where he completed his Ph.D. on the young Nietzsche. Since 2004 he has worked as assistant professor of modern philosophy at Leiden University (NL); he is also a Research Associate at the University of Pretoria in South Africa. Together with Paul van Tongeren and Gerd Schank, he initiated the
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Autorinnen und Autoren
Nietzsche-Wçrterbuch project in 1998. He has also published widely on his major research interests in Nietzsche, especially his philosophy of conflict and its ethical and political implications for the present. He is co-editor of the volume Nietzsche, Power and Politics (de Gruyter 2008), as well as the Nietzsche-Wçrterbuch Bd.1 (de Gruyter 2004). Email: hwsiemens@ hetnet.nl Dennis Sçlch studierte Philosophie, englische Literatur- und Sprachwissenschaft sowie Erziehungswissenschaften in Dsseldorf, wo er derzeit zur Prozessphilosophie A.N. Whiteheads promoviert. Seit 2008 ist er Lehrbeauftragter und seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter der HeinrichHeine-Universitt Dsseldorf. Seine Forschungsinteressen umfassen systematisch vor allem Metaphysik und Metaphysikgeschichte, Erziehungsphilosophie sowie philosophische Methodologie. Email: Dennis.Soelch@ uni-duesseldorf.de Andreas Urs Sommer, geb. 1972, wurde nach dem Studium der Philosophie, Kirchen- und Dogmengeschichte und Deutschen Literaturwissenschaft 1998 an der Universitt Basel promoviert und habilitierte sich 2004 an der Universitt Greifswald. Nach einer Lehrstuhlvertretung an der Universitt Mannheim ist er seit 2008 Wissenschaftlicher Kommentator der Werke Nietzsches an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit Sitz an der Universitt Freiburg im Breisgau, lehrt am dortigen Philosophischen Seminar und ist Direktor der Friedrich-Nietzsche-Stiftung. Er ist Direktor des Direktoriums der Friedrich-Nietzsche-Stiftung. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Philosophiegeschichte, der Geschichts- und der Religionsphilosophie sowie der Ethik. Email: [email protected] Udo Tietz, geb. 1953, ist Privatdozent an der Humboldt-Universitt zu Berlin. Arbeitsgebiete: Hermeneutik, Sprachphilosophie, Rationalittstheorie, Kulturphilosophie und sthetik, Methodologie der Geistes- und Sozialwissenschaften; Mitherausgeber der Zeitschrift INITIAL. Email: [email protected] Paul van Tongeren, geb. 1950, studied theology and philosophy in Utrecht (NL) and Leuven (B). He received his PhD from Leuven with a dissertation on the morality of Nietzsche s critique of morals. Since 1993 he has been a full professor of moral philosophy in the department of philosophy of Radboud University in Nijmegen (NL). Since 2002 he is also an extraordinary professor of ethics at the Institute of Philosophy in Leuven (B).
Autorinnen und Autoren
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Together with Gerd Schank and Herman Siemens, he initiated the Nietzsche-Wçrterbuch project in 1998. His research is mainly on Nietzsche, on hermeneutics and on (the history of) moral philosophy. Recent book publications in German or English include: the Nietzsche-Wçrterbuch Bd. 1 (de Gruyter 2004), Re-interpreting Modern Culture (2000). Email: [email protected] Christoph Trcke, geb. 1948, seit 1993 Prof. f. Phil. an der HGB. Wichtigste Bcher: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation, 2002; Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, 2005; Philosophie des Traums, 2008, Jesu Traum. Psychoanalyse des Neuen Testaments, 2009. Erster Trger des Sigmund-Freud-Kulturpreises 2009. Email: [email protected]
Sachregister Abenteuer 101, 107, 124, 276, 361 Affekt 12, 59, 63, 89, 107, 117, 120, 126, 163, 235, 248, 251f., 259, 264, 268, 282f., 298, 305f., 315, 411, 485 Altruismus 133, 176, 290, 313 Amoralismus 131, 133f., 137, 139–141, 313 amor fati 19, 243, 411f., 414f., 419 Angst 11, 21, 79, 174, 310 Anpassung 69, 151, 175, 177, 189f., 193f. Anti-Antisemitismus 474f., 477 Antisemitismus 473, 477 Antiteleologie 183 Aphorismus 55, 65, 67–72, 104, 124, 126, 129, 137, 139, 141, 148, 173, 205, 207–210, 279, 300–302, 306, 308–310, 312, 396–398, 400f., 405f., 434, 483 Apollinisch 21, 53, 203, 253f. Arbeit 8f., 93, 117, 129, 148, 206, 209, 213, 235, 254, 271, 279f., 314, 372, 387f., 391, 403, 422, 467, 481, 484f. aristokratischer Radikalismus 24 Artistenmetaphysik 105 Askese 21, 232, 287, 296, 371 asketische Ideale 142 sthetik 19, 40, 43, 45f., 52, 64, 114, 123, 260, 262, 358, 372, 379–381, 391, 396, 399f., 402, 481, 484, 486 Atheismus 336 Aufklrung 5, 27, 61, 93, 105, 107, 109f., 149–153, 164–166, 201, 320f., 329, 336, 340, 347f., 352, 468f. Aufstieg 79, 319f., 332, 337, 339, 349 Ausbeutung 24f., 98 Auslegung 5, 7, 198, 202, 252, 402, 426, 430, 437, 468, 473
Auslese 70, 194 Autoritt 7f., 17, 84, 106, 139, 353 Begriff 8f., 14, 16, 19f., 22, 25, 29f., 36, 44f., 49, 51–53, 68, 72, 76, 95, 103f., 106, 110, 113, 115, 119, 122, 127f., 131, 133f., 141–143, 148f., 158, 171, 176f., 180, 184, 186, 189f., 192, 195–199, 214, 217, 219f., 225, 235–237, 247–249, 253, 256, 275, 284, 293, 299, 302–304, 306, 313, 315, 320, 324f., 337f., 342–345, 347–349, 353, 355f., 358–360, 364f., 371f., 374f., 377, 379–381, 385–387, 389f., 395, 399f., 403f., 409–413, 415, 419, 426–429, 433, 435, 437f., 474 Bejahung 13, 80, 116, 219, 281, 399, 406, 412–417, 419 Bestie 6, 147 Bewusstsein 3, 24, 42, 63, 66, 80, 122, 125, 147, 150, 226, 252, 254f., 260, 281, 288, 311, 329, 333f., 347–349, 369–371, 373, 375, 377, 410 Bild 32, 36, 39, 52–54, 60, 64f., 68, 77, 80, 82–85, 95f., 98, 120f., 130, 146f., 149, 151, 153, 164, 172, 190, 207, 210, 218, 238, 250, 254, 265f., 278, 280, 282, 284, 300, 312, 315, 332, 342, 359, 368, 376, 381, 387f., 391, 397, 416, 476, 482, 485 Bildung 190, 195, 197, 201, 204, 210, 289, 484 bçse 13–15, 22, 43, 153, 172, 184, 268, 327, 332, 342, 412, 443 Chaos 37, 40, 71, 140, 204, 209, 306, 346, 398, 416, 436 Charakter 31, 33, 38f., 43, 45, 79, 82, 86, 112, 115, 121, 125, 130, 153,
490
Sachregister
193, 209f., 249, 306, 360, 371, 429, 432f., 435 Christentum 13f., 56f., 59–62, 142, 173, 179, 264, 278, 290, 294, 297, 311f., 335, 343, 375f., 431 Cogito 80, 127 Darwinismus 171f., 174, 177–179, 181–183, 185–187, 189, 191, 196 dcadence 69, 116, 178, 182, 184, 235, 281, 343f., 395, 417 Degeneration 231 Dekonstruktion 75, 82, 470 Demokratie 4, 17, 20 Denken 1–3, 5–8, 10, 15, 17f., 20, 23, 33f., 36, 38, 58, 95, 106, 111–113, 116, 119, 126, 136, 146, 148–151, 154, 171, 173, 187, 201f., 204, 218f., 235, 243, 248, 250–257, 267, 275, 293, 299–302, 310, 312, 315, 320, 331, 335, 341, 343, 348–350, 355f., 358, 364, 369f., 375, 377, 396, 402, 404, 411f., 419, 421f., 425–436, 438f., 467, 471, 476, 484 deutsch 3f., 6, 44, 58, 61, 101f., 109, 116, 145, 147, 178, 181, 233, 239, 291, 296, 306, 316, 319, 330f., 341, 343f., 346, 356–361, 367, 370, 380, 398, 401, 416, 423, 441f., 446, 469, 474, 477, 483–486 Dialektik 35f., 105, 113, 137, 150–152, 225, 228 Dichtung 209, 254–257, 359, 400, 417, 431, 441–443, 445f., 448 Ding an sich 81, 204, 427 dionysisch 21, 173, 203, 228, 242, 253f., 256, 309, 396, 399, 402, 428 Dogmatismus 108, 403 Egoismus 21, 133f., 278, 290, 365 Ehrlichkeit 42 Einheit 62–64, 76, 82, 106f., 149, 186, 194, 207, 210f., 219, 226, 284, 306, 312, 322, 324f., 346, 353, 356, 361, 428, 482 Einsamkeit 22, 30, 32, 92, 94, 99, 205, 235f., 274, 277, 405, 414 Ekel 6, 22, 232, 259–268
Empfindung 56, 63, 119, 156, 161, 205, 259f., 262, 287, 295, 362, 367 empraktisch 11, 250–257, 481, 485 Entwicklung 2, 110, 136, 175–177, 179f., 183f., 186, 189f., 192f., 250, 263, 266, 280, 283, 289, 307, 319, 326–328, 337, 344, 360, 364, 369–371, 437, 447, 476 Erde 7, 19, 22, 25, 33, 61, 64, 75, 77–79, 82f., 85f., 111f., 126, 128, 201, 238, 251, 265, 297, 307, 322, 334, 361, 428 Ereignis 39, 46, 60, 75, 80, 85, 87, 249f., 256, 306, 343, 377, 432, 437 Erinnerung 230, 249, 316, 372f., 376f. Erkennen 31, 33, 35, 42f., 50, 95, 97, 108, 111f., 114, 116, 122, 125f., 136, 206, 219, 294, 347, 400, 414, 418, 437, 468 Erlçsung 58f., 114, 203, 274, 302, 310, 412, 415 Ernst 8, 18, 37, 183, 191f., 315f., 358, 423, 447, 470, 481, 483f. Erscheinung 9, 203f., 213, 235, 278, 342, 369, 431 Erzieher 124, 202f., 296, 299f. Ethik 64, 83, 134, 138, 140, 175–177, 190, 204, 279, 295, 302, 311–313, 338, 363, 374, 482, 484, 486 Eugenik 472 ewige Wiederkehr des Gleichen 12, 80, 215, 243, 266f., 308 Ewigkeit 19, 81, 112, 203, 247, 265, 400f., 411 Existenz 3f., 25, 35, 112, 156, 160, 163, 175f., 222, 236, 248, 252, 260f., 284, 288, 313, 333, 342, 361, 369, 403, 427f., 433, 435 Existenzial 248 Experimentalphilosophie 108, 402 Fall 8, 11, 15, 22, 30, 54, 80, 90f., 98, 104, 134, 138, 142, 147f., 174, 178, 222, 225, 228, 230, 238, 260, 263f., 272, 284, 291, 294, 306, 309f., 319f., 332, 334, 342, 348, 372, 392, 395f., 416, 423, 430, 434, 470, 478
Sachregister
Faschismus 362 Fatalismus 80, 282 Fatum 72, 281, 423 Feind 22, 84, 98, 265, 355, 360, 363 Fiktion 106f., 471 Form 6–12, 14, 17, 33, 38–40, 77, 80, 82, 95–97, 99, 103, 110, 113, 121, 127f., 148, 150f., 156, 158, 160, 162, 165f., 179, 184, 187, 193, 195, 198, 210, 213–215, 219, 221, 241, 248, 252–256, 259, 261, 265, 268, 272–274, 276f., 280, 300–302, 308, 310, 315, 331, 339, 345f., 349f., 352f., 364, 372, 382, 395–397, 399–404, 406f., 428, 433f., 437, 484 Fortschritt 80, 157, 178, 183, 319, 322f., 325–331, 333f., 336, 338, 341, 343–345, 349–351, 357, 368, 374, 422, 430 Fragment 34–36, 44, 53, 58, 69, 87, 189, 218, 289, 291, 294, 403, 406, 412 Freigeist 86, 106, 469 Freiheit 1, 7, 13, 19, 21, 25, 39, 42, 50f., 64, 71, 80, 86, 140, 153, 284, 333f., 435, 472 Freund 22f., 32, 41, 101, 107, 124f., 172, 236f., 239, 272, 275, 287, 316, 355, 367, 423 Freundschaft 57, 62, 237, 289, 314f. Frieden 81, 219f., 252, 302, 355, 357f., 361–363, 365, 482 Funktion 80, 82, 118, 121f., 131, 192f., 206, 259, 269, 271, 274, 277, 279, 282, 324, 391, 414 Furcht 104, 122, 127, 264f. Geburt 15, 32, 36, 79f., 105, 189, 202f., 209, 230, 257, 291, 323, 374, 438, 447 Gedchtnis 8, 44, 129, 368, 371, 425 Gefhle 19, 40, 62, 89, 114, 117, 134, 139, 159, 217, 235, 243, 245, 259, 262, 267, 280, 297, 472 Geist 4, 6f., 20, 23, 30, 34, 37–39, 42, 54, 56f., 61, 64, 78, 81f., 85, 94, 102, 106–109, 115f., 120, 123f.,
491
135, 138, 140, 142f., 152, 179–181, 185–187, 205–208, 210f., 219f., 227, 233, 255–257, 263, 267, 271, 273f., 284, 287, 298, 308, 312, 332–334, 341, 344, 346–349, 356, 358, 361, 364, 367, 369, 375f., 397, 400, 435, 446, 468, 486 Genie 14, 20, 24, 41, 46, 68, 70–72, 89, 94f., 123, 126, 184, 186f., 203f., 206, 209, 468 Gerechtigkeit 15f., 20, 79, 132, 140, 159, 210f., 273, 276–279, 283, 297, 299f., 359, 361, 404f., 407 Gesamtkunstwerk 5, 9 Geschichte 3f., 13, 25, 42, 50f., 71, 79, 84f., 87, 96, 109, 119, 124, 134, 148, 172, 179, 238, 262, 264, 280f., 290, 296, 310, 317, 319, 321–325, 327, 330–337, 340f., 343–353, 355, 357, 359f., 367–373, 375–377, 379f., 383f., 386–390, 392, 397, 423, 434, 481f., 484 Geschlecht 19, 253, 256, 322 Gesetz 9, 33, 37, 39–41, 70, 115, 176, 295, 308, 324, 374, 398 Gesundheit 55, 61, 97, 115, 121, 209, 223, 225–227, 229, 232, 243, 247, 265, 292, 348f., 358, 373 Gewissen 15, 22, 32, 43, 84, 92, 120, 123, 128, 136, 139, 142, 176, 204, 209, 231, 250, 255, 264, 274, 282, 295, 297, 301, 306, 309, 322, 359f., 413 Glaube 3, 13–15, 17, 40, 46f., 62, 82, 84, 86, 106, 128, 140, 142f., 156, 160, 178, 204, 206, 280, 288, 293, 312, 319, 326, 332, 335, 337, 344, 369, 372, 381–383, 390, 399f., 403, 436, 438, 444, 473 Gleichheit 16, 472 Glck 3, 12, 24, 38, 75–77, 87, 96, 99, 148, 227–230, 235, 247f., 264, 301–304, 315, 332, 361, 372, 428 Gott 3, 31, 33f., 53, 57–60, 65, 76, 83, 85f., 115, 181, 202f., 211, 231, 251, 254, 279f., 283, 287, 291, 297, 311, 319, 323, 327, 331–337, 340–342, 345, 351f., 363, 410, 435, 438, 470
492
Sachregister
Gçtzen 14, 45, 110, 117f., 121f., 126, 172f., 178–184, 186, 396, 400f., 472 Grausamkeit 14, 39, 106, 123, 128, 203, 232, 261, 264, 268, 309 Griechen 29, 31, 36–39, 57, 204, 298, 309, 311, 374, 399 Große, das 1, 3–5, 7f., 13–15, 20–23, 27, 29, 31, 34–40, 42–48, 50–52, 62–68, 70–73, 77f., 80, 86f., 90, 94, 101f., 111, 116, 119, 136, 140, 146f., 149, 151, 153, 169, 171f., 178, 181, 184, 186f., 190, 201–205, 207–211, 215, 220–222, 225–227, 232, 237, 243, 245, 247–251, 253–256, 259–261, 265–267, 271–279, 281–284, 291, 297, 299, 302, 308, 311–313, 315, 317, 319, 322, 324, 332, 338, 342–344, 350, 359f., 364, 367, 370, 373, 375–377, 379, 381–386, 395–403, 405–407, 415, 417f., 421, 424, 430, 435, 441–443, 445, 448, 470f., 477 Grçße, historische 3–5, 7–9, 12–17, 19, 22–24, 29–52, 54f., 57f., 62–64, 66f., 76, 78f., 81, 85, 87, 94, 101, 111, 136, 145, 172, 186f., 189, 201, 206–208, 236, 247, 267, 272, 274, 277, 282, 287, 290, 295, 298–300, 307, 310–312, 316, 319f., 337, 349, 355, 363, 368, 372, 374, 377, 379–381, 384f., 396, 413, 436 Grçßenwahn 7, 15, 409, 413, 417 große Politik 7, 14f., 337, 339, 348, 355f., 361, 363–365 großer Stil 395, 397, 399, 403 große Vernunft 80, 82, 220, 226, 252 gut und bçse 15, 22, 61, 82, 106–108, 113, 116–118, 120, 122–129, 137, 142, 283, 297, 300f., 305, 309, 311–313, 315, 345, 399, 405, 411, 428, 447, 469, 473, 483 Handlung 8, 56, 81, 119, 132, 221, 260, 306, 321, 359, 372, 377, 432, 435 Harmonie 53, 67, 228, 359 Hedonismus 248, 301f., 304f.
heilig 3, 93, 227, 234, 288, 291, 297, 302 Herde 20, 345 Heroismus 14f., 72, 94, 122, 124, 359, 364, 474 Herrenrasse 473 Herrschaft 5, 7–9, 13, 17, 39f., 45, 99, 127, 140f., 151f., 178, 181, 207, 219, 257, 319, 323, 330, 351, 364, 410 Herrschsucht 117 Hinterwelt(ler) 336 Historie 127, 204, 206, 347, 349, 352, 370–373, 375–377, 379–386, 388 Hoffnung 2f., 9, 11, 19f., 22, 25, 46, 48, 55, 93, 178, 207, 236, 248, 250, 253, 340, 414f., 447 Humanitt 381 Ich
2, 6f., 9, 16f., 32f., 37, 41, 46, 48–50, 52, 57f., 62–65, 75, 80–82, 91, 94, 103, 106, 108, 111, 115f., 120, 126f., 129, 135, 141–143, 145–151, 154, 157, 161, 174f., 180–182, 189, 191f., 197, 201, 220, 225f., 228f., 231–233, 236–238, 240f., 243, 247, 251f., 256, 259–261, 264, 266, 271–273, 276f., 279, 287f., 290f., 296f., 300, 306, 313, 315f., 320, 335, 337f., 349–351, 362, 364, 373, 384, 388, 396f., 400f., 405, 409f., 412–417, 419, 423–425, 427, 438, 441–447, 467–469, 471f., 477 Idee 6, 9f., 14f., 22, 30, 39, 66, 68, 71, 73, 75–79, 85, 94, 114, 132, 150, 153, 217, 227, 232, 266f., 273, 287, 303, 307, 319, 323–328, 330f., 340, 345f., 350, 357, 369, 373f., 406, 410, 470, 482 Immoralismus 299 Imperativ 3, 113, 280, 306, 308, 324, 439 Imperialismus 3, 147 Individualismus 19, 105, 365 Individuation 189, 202 Individuum 25, 67f., 70, 78, 86, 157, 159f., 163f., 171, 181, 184, 186f.,
Sachregister
191, 197–199, 203f., 210, 248f., 253–255, 263, 290, 310, 313, 367, 377, 415, 419, 437 Instinkt 14, 49, 94, 107, 113, 122, 128, 142, 150, 153, 184, 228, 289, 305, 309, 316, 323, 344, 355, 410, 414 Intellekt 109, 112, 122, 208, 435 Interpretation 5–9, 11, 14, 16, 31, 71, 122, 135, 140, 163f., 178, 197, 202, 210, 213, 215–218, 220, 251, 292, 300, 316, 372, 403f., 406, 416f., 422, 428, 434–438, 445, 471 Intuition 36, 133, 338f., 428f. Ironie 313, 376, 418 Irrtum 98, 113, 125, 326, 438 Jasagen, Neinsagen 14, 283, 343, 417 Jesuiten 61 Juden 6, 472–474 Jugend 172 Kampf 12, 14, 35, 37, 54, 61, 71, 92, 99, 124, 142, 161, 171, 174–179, 191–198, 208, 210, 217–220, 226, 262, 304, 309, 315, 356, 364, 379, 381, 385, 398 Kampf ums Dasein 190, 196 Kapitalismus 2, 7, 13, 340, 469 Kategorischer Imperativ 81 Katharsis 83 Katholizismus 294 Kind 4, 9, 13, 15, 17, 31, 80, 89, 91, 157, 159f., 163, 230f., 241, 280f., 351, 370, 372, 445 Kirche 91, 291, 294f., 486 klassisch 8, 13, 54, 63f., 75, 83, 102, 132f., 215f., 220, 222, 304, 338, 344, 373, 381f., 390f., 397, 402, 481 klein 4, 7f., 18, 21, 49, 51f., 62, 65, 73, 82, 90–92, 102, 142, 154f., 160f., 196, 231, 240f., 247–250, 253, 261, 264, 266, 282, 302, 311, 313, 323, 326, 328, 337, 356, 364, 370, 373, 395–397, 401, 403f., 407, 409–412, 415f., 418f., 445, 476
493
Kleine, das 4, 21, 91, 287, 290f., 297, 393, 396 kleine Politik 337, 364 kleine Vernunft 80, 82, 249, 252 Klugheit 106, 177, 179, 416, 475 Kçrper 51, 78, 81, 156, 217, 222, 235, 248, 251f., 255, 263, 287, 291f., 306, 308, 314, 481, 485 Kraft 7–9, 12, 31, 41f., 45f., 48f., 54, 57, 59f., 63, 66–69, 71, 81, 93, 99, 114f., 123f., 205–209, 226, 260, 265, 273f., 277f., 281, 283, 304–306, 308–310, 337, 372–374, 377f., 386, 397f., 400, 403, 428 Krankheit 4f., 45, 48, 55, 82, 95, 97, 115, 130, 222f., 225–229, 231, 235f., 239f., 242, 247, 265, 373f., 414, 472, 485 Krieg 7, 14, 39, 81, 143, 219f., 233, 252, 273, 303, 309, 314, 319, 323, 346, 355–365, 474f., 477 Kritik 4, 18f., 29, 44, 54, 64, 72, 81, 83f., 99, 102, 108, 113f., 127, 134, 137f., 143, 147, 150–152, 173, 175, 178, 182, 185f., 196, 206, 254, 275, 287, 292–294, 300, 305, 320f., 331, 347f., 356f., 361f., 373, 375, 379f., 387, 391, 395, 401, 404, 411, 417, 429, 431, 475f. Kultur 4, 11, 14f., 29, 36, 38, 44–47, 94, 102, 127f., 137, 203–205, 207, 210f., 220, 239, 254f., 263, 300, 311, 320, 322, 324, 326f., 333, 337–340, 349–353, 356, 360, 368, 374, 384, 390, 396, 446, 469, 484 Kunst 2, 9, 18, 34, 40–44, 60, 62, 94, 110, 114, 119, 124, 128, 135, 137, 145, 201–211, 253f., 256f., 260, 268, 284, 300, 306, 309, 322, 339, 344, 356, 360f., 373–376, 391f., 397f., 401f., 410, 415, 428, 433, 471, 473 Knstler 9, 31, 34f., 38, 40–46, 64, 114, 203, 206, 208, 210, 238, 253–257, 301, 306, 309, 314, 397, 417, 485
494
Sachregister
Leben 1–3, 5, 7, 9–11, 14, 16, 18, 20–26, 29, 31, 33f., 37–39, 41, 44, 46, 48f., 52f., 56, 61, 63, 77f., 80, 82, 87, 93, 102, 106f., 116, 120f., 123, 127, 136, 138, 147–149, 153, 169, 173–179, 182, 184, 189, 193–195, 201–205, 207–211, 214, 217, 219–223, 225, 227–230, 237–239, 241, 243, 248, 250, 253, 255–257, 264, 268, 273–282, 284, 288, 291f., 296, 300, 302, 304f., 307–310, 313–315, 330, 332, 334, 338f., 342, 347, 349, 359, 370–375, 377, 391f., 395, 399, 405, 410–417, 419, 423, 428, 434, 436, 438, 444, 467–469, 472 Leib 11, 19, 23–25, 80–82, 116, 120f., 190, 208, 213, 217, 219f., 223, 225–227, 250–252, 254–256, 263f., 306, 314, 375 leibhaftig 82, 254, 256f. Leid 42, 44, 54f., 66, 132, 203, 222, 225–227, 233–235, 243, 247, 264, 272, 274–276, 278, 283, 287f., 290, 292, 295, 297–301, 304, 308–310, 363, 445, 485 Leiden 54, 225, 228, 232, 243, 276, 298, 301, 308, 399 Leidenschaft 12, 38, 40, 53f., 56f., 59f., 67, 115, 120, 138f., 208, 216, 248, 251, 253f., 259, 264, 272, 281, 294f., 298, 308, 359, 368, 401, 405, 412f., 415 Liebe 9, 19, 22, 52, 57, 61, 76, 104, 115, 122, 124, 150f., 218, 240, 247, 255, 257, 271–279, 281–284, 289, 291f., 294, 296f., 301, 309f., 315, 361, 363f., 411f., 419, 445, 484 List 7, 12, 49, 156, 180, 298, 308, 334 Logik 21, 41, 87, 108, 139, 142, 199, 247, 293, 344, 348, 370 Logos 332 Lge 22f., 81, 95, 108, 110, 112, 116, 121f., 124, 129, 142, 280, 383, 396, 403, 405, 410f. Lust 11–13, 16, 20f., 63, 120, 124, 148, 247, 252, 254, 256, 261, 264, 266, 275, 291, 301f., 342
Macht 1, 3, 5, 7–22, 24–26, 29, 31–35, 39, 43, 46, 49f., 52, 54, 57, 64, 66, 69, 78f., 84–87, 89–97, 99, 104, 106, 110, 114, 121–124, 127, 129, 139, 145, 147, 149–152, 159, 163, 172, 174–176, 179f., 183, 186, 191, 193, 201, 203, 207, 210, 215, 221, 228f., 236, 240, 243, 254, 256f., 259–261, 264, 267, 271, 275, 278, 280, 283, 289, 293–295, 297, 299–301, 303–305, 309, 311, 313, 319, 324, 326, 329, 333, 336, 341, 347, 349, 357f., 360f., 372f., 379f., 383, 396, 398f., 403, 410, 413, 416f., 424, 426–429, 435–439, 442, 445, 467, 472f. Machtgefhl 11f., 56, 58f., 260f., 267, 399 Machtwille 64, 96, 436 Maschine 184, 437 Maske 99, 123, 238, 243, 298, 308, 399f., 402, 405, 468 Masse 15, 20, 44, 48f., 67f., 151, 160, 178f., 209, 307f., 417, 471 Mensch 1, 3, 5f., 8f., 12f., 15–17, 19–25, 29, 31f., 35–39, 42–44, 46–52, 54, 56–68, 70–72, 76–78, 80f., 84–86, 89, 91, 94–96, 102, 104f., 107–109, 111–114, 118, 120, 122, 124f., 127–130, 133, 135–138, 140f., 151, 153, 156, 158, 163, 171, 181–183, 185–187, 189f., 192, 198f., 201, 203–207, 209, 211, 219–221, 223, 226–228, 232, 238, 247f., 250–255, 260–268, 273f., 276f., 279f., 282–284, 288–291, 294, 297f., 301–316, 320–323, 325, 327f., 332, 336–338, 340, 342, 344f., 351, 355, 357f., 361, 368, 372f., 386, 410f., 414, 430, 432f., 435–437, 444, 471, 475 Metapher 7, 52, 69, 84, 95, 113, 121, 252f., 262, 265, 397, 400–403, 431f., 437, 443, 474f. Metaphysik 21, 49, 75, 78, 82, 86f., 104, 106, 114, 121, 135, 137, 145, 182, 202–206, 305, 321f., 336, 338,
Sachregister
495
358, 387, 419, 427, 429, 431–433, 486 Metatropie 248 Mitleid 24, 61, 128, 232, 264f., 271–278, 282f., 287–298, 301, 309–311 Moderne 1–3, 7–9, 15, 22, 33, 38, 43–49, 55, 90, 93f., 101f., 105f., 111, 149, 151, 235, 250–254, 263f., 266f., 274, 282, 306, 311, 313, 319f., 323f., 337–340, 346, 351, 353, 356, 358, 373, 390–392, 397, 471f., 482 Monument 379–383, 385–392, 418 Moral 11–15, 19, 21, 33, 41, 47, 83–85, 92, 94, 106, 113, 117f., 120, 128, 133–137, 142f., 153, 155, 157f., 166, 179f., 182, 202, 204, 232, 264, 268, 271, 273–276, 280–283, 287, 289f., 292f., 295–297, 299–302, 304, 306, 309–313, 319–322, 336, 373, 401f., 410, 422, 438, 468, 472, 486f. Moralitt 22, 42, 83f., 134, 140f., 290, 472 Musik 45, 67, 150, 231, 237, 395–398, 404, 438 Mystik 313 Mythos 431
Neid 57, 62, 117 Nerven 51, 55, 359 Nichts 4, 7, 9, 14, 16, 19, 22, 38, 42–44, 61, 76, 81f., 84f., 87, 91, 93, 97f., 106, 112, 122, 128, 136, 147, 156f., 163, 182, 184, 233, 255, 257, 264, 266f., 280, 295, 304, 308, 322, 325, 327, 330, 333, 335, 339, 341–343, 346, 349, 364f., 382, 384f., 389, 411f., 418, 421, 428, 435, 443, 468, 471 Nihilismus 7, 22, 66, 150–153, 226, 271, 275, 281f., 299, 312, 337f. Nivellierung 16, 282 normativ 13, 15, 79, 83, 131–136, 138f., 182, 301, 305, 324, 331, 334, 338, 347, 357–359, 482 Nutzen 127, 204, 347, 370–373, 435
Nachahmung 403 Nchstenliebe 271, 273f., 278, 282f. Narr 22, 442 Nationalismus 346, 364 Natur 15, 24f., 35, 48f., 58f., 65, 71, 86, 93, 98, 105, 109, 111f., 125, 133, 138–142, 150, 157–160, 163, 171, 174–176, 178f., 182, 184, 186, 190, 195, 204, 209, 211, 221f., 227, 237, 248, 250, 252–255, 257, 260, 262, 280f., 284, 304–306, 312, 324, 332f., 338, 351f., 357, 359, 371, 377, 410f., 417, 422, 425f., 429–433, 435 Naturgesetz 94 Naturrecht 358 Naturwissenschaft 51, 69, 178, 189f., 206, 429
Pdagogik 320, 323f., 328, 442, 474, 482–484 Partei 1f., 11, 24, 99, 184, 293, 298 Pathos 11, 112, 210, 294, 299, 362, 372, 399 Pathos der Distanz 3, 62, 265, 311, 396, 399, 406 Perfektionismus 299f., 305f., 312, 314 Perspektivismus 81f., 226, 396, 407, 435, 481 Pessimismus 48, 282, 301f., 339f., 342f., 348 Philologie 215f., 222, 373, 471, 482f. Philosophie 1–3, 5, 8f., 18f., 21, 23f., 29, 31, 34, 36–41, 48–54, 57, 60, 63, 67, 81, 83, 86, 102–105, 107f., 113–123, 131, 134–139,
Objektivitt 114, 281, 376, 437 Ohnmacht 58, 145, 243 Opfer 98f., 229, 273, 283, 287, 312, 333, 362, 442 Optik 24, 36, 106, 111, 137, 253 Optimismus 320, 323, 326f., 329f., 340, 342f., 345, 369 Ordnung 4, 37, 39, 41, 47, 52, 82, 96f., 209, 263, 283, 344, 353, 357, 361f., 385, 410
496
Sachregister
141f., 145–154, 165f., 172f., 175, 178, 183, 189, 191, 195f., 201–205, 209–211, 215–217, 223, 225, 229f., 232, 243, 252–255, 257, 259, 271, 273, 281, 296, 301f., 304, 306, 316, 319–321, 324, 330–337, 340f., 346, 348, 352f., 357f., 362f., 365, 368–375, 390, 399, 402f., 405f., 410, 412f., 415, 417f., 422, 427–429, 432f., 439, 441, 446f., 470, 472, 481–487 phonastisch 251 Physiologie 52, 195, 218f., 221, 362 Polemik 104, 118, 304, 369, 395, 413 Politik 1, 7, 9, 14, 16, 35, 315, 320, 323f., 328, 336f., 344, 355f., 361f., 364, 410, 482, 484 Postmoderne 3, 5, 8, 469f. Programm 135, 137–139, 141, 143, 174, 215, 314, 400, 418, 475, 481 Prophet 362, 475 Psyche 226 Psychologie 69f., 102f., 107, 113f., 116, 118f., 121f., 124, 126, 129, 216, 482, 484 Qualitt 34, 47, 76, 306, 311, 322, 397 Quantitt 46, 396 Rache 389 Rangordnung 17, 35, 44f., 64, 118, 185, 265 Rasse 6, 69, 93, 190, 322, 343, 471, 475 Rassismus 19 Rationalismus 127, 251 Rausch 37, 114, 221, 259–261, 268, 399 Recht 4, 14, 29, 37f., 93, 96–98, 103, 127, 130, 145, 171, 181f., 187, 196, 222, 228, 233f., 237, 240, 261, 283, 294, 296, 319f., 329, 334–336, 342, 357f., 360, 364, 368, 371, 376, 400, 404, 427, 444, 472, 482 Rechtschaffenheit 119, 395–397, 402–404
Redlichkeit 7, 48, 59, 113, 122, 268, 397, 403–405 Reformation 46, 295, 304, 344 Regel 75, 122, 132–134, 141, 193, 197, 228, 251, 263, 271, 313f., 340, 350 Reisen 101, 232, 424 Reiz 65–68, 226, 301, 320 Religion 15, 18, 59f., 62, 106, 108, 155, 162, 164, 206, 321, 330, 332, 335, 338, 343 Renaissance 14, 46, 55, 72, 303f., 382, 472 Resignation 302 Ressentiment 17, 45, 67, 150, 277, 279, 295, 310 Rhetorik 116, 294, 348, 396, 398, 403, 414 Romantik 255 Ruhm 44, 382 Salutogenese 225, 227 Schaffen 7, 39, 84, 140, 147, 207, 213, 217, 220f., 223, 227, 233, 252, 260f., 267, 273–275, 277–279, 283, 310, 340, 371, 373, 397, 401, 404, 410, 428, 433f., 439 Schauspieler 15, 128, 442 Schein 7, 39, 41, 47, 68, 73, 94, 98, 106, 119, 123, 202–204, 249, 268, 375, 399, 470, 477 Schemata 95, 98 Schicksal 4, 7, 67f., 70, 80, 94, 103, 120, 128, 150, 238, 264, 267f., 343, 410, 413, 416, 418, 445, 468 Schlecht 12, 48, 92, 128, 142, 264, 266, 274, 282, 295, 303, 327, 340, 342, 349, 351, 369, 413, 446, 478 Schmerz 30, 92, 119f., 225, 228f., 234, 243, 254, 263, 301f. Schçnheit 21, 37, 41, 57f., 64, 184, 264, 269, 273, 306, 322 Schrecken 93, 259, 276, 399 Schuld 79, 90–92, 109, 294, 313, 467 Schwche 12, 46, 57, 93–96, 116, 209, 226, 231, 235, 243, 261, 266f., 294, 310, 343 Schweigen 16, 314, 359
Sachregister
Seele 16, 22, 31, 41–43, 54, 60, 62, 64, 81, 104–107, 120f., 124, 126, 128, 130, 206, 217, 223, 225, 237, 263f., 276, 284, 298, 306–308, 311, 359–361, 373, 397, 410, 425, 434, 438 Sehnsucht 65, 247–257, 266, 308, 335 Sein 2–22, 24f., 29–37, 39–46, 48–51, 53–72, 75–87, 89–99, 101–118, 120–130, 133–141, 143, 145–147, 149–154, 157f., 160, 164, 171–177, 179–187, 189–199, 201–210, 213–217, 220–223, 225f., 228–243, 247, 249–257, 259–265, 268f., 272–276, 279–283, 287–316, 319–321, 323, 325–327, 330–337, 339–343, 345f., 348–352, 356–365, 367–375, 377, 379–383, 385–392, 395–406, 409, 411–419, 421–438, 442, 444–447, 467–474, 476–478, 482, 485f. Selbst 1, 3–6, 8–13, 15f., 18, 22, 24f., 30–33, 36f., 40–42, 44, 48–50, 52–59, 61f., 66, 68, 70–72, 76, 79, 82–85, 87, 89, 92–98, 102f., 105–108, 110–113, 116–118, 120, 122, 124–126, 129–131, 135, 137, 140, 142f., 148f., 171, 173–175, 177f., 181–184, 187, 189, 193–195, 198, 203, 206–209, 217, 219f., 222f., 225f., 228–231, 234–237, 242f., 248, 250–257, 259–261, 265, 267f., 273–279, 281–284, 290f., 294, 296, 299f., 303–307, 311–315, 319f., 322, 327–329, 331f., 334, 336–338, 340, 342f., 346–348, 353, 357, 360, 364, 368f., 371, 377, 383–385, 387f., 391, 396, 400f., 403–406, 409, 412–419, 422, 426, 430–435, 437–439, 444–446, 467f., 471, 473, 477, 484 Sinn 1, 3, 5, 8f., 11–14, 16, 18f., 21, 24, 41, 45, 48, 59, 62, 72f., 76–82, 86, 96, 101, 104, 108, 110, 112f., 116, 118, 121, 123, 135f., 138, 140–142, 147, 149f., 153, 173, 180, 195, 197, 201f., 204–206, 208,
497
210f., 214, 216, 219–221, 225, 229, 232f., 247–252, 254, 257, 260, 263, 266, 271, 273, 276, 279, 281, 283, 287–291, 296f., 299, 304f., 308–310, 313, 319–321, 323f., 326, 329–333, 335f., 338, 342, 344, 346–353, 365, 373, 381–384, 388, 393, 401, 403f., 406, 411–417, 419, 422, 425, 443, 471, 477, 484 Sinnlichkeit 39, 45, 210, 234, 264, 292 Sittlichkeit 136, 205, 356 Skepsis 13, 104, 323, 327, 330, 369, 403, 423 Sklave 98, 122, 180, 309 Sklavenaufstand 306 Spannung 24, 32, 43, 51–66, 68, 71–73, 77, 178, 180, 186, 273, 278f., 282, 295, 298, 303, 308, 357, 414, 418f. Sprache 5, 97–99, 121, 139, 145, 202, 211, 215, 217, 239, 257, 289, 348, 350, 358f., 383, 396, 402f., 406, 415–418, 425, 430–432, 438f., 442–444, 470 Sprachspiel 393, 421, 435, 439 Spur 8, 36, 43, 47, 80, 84, 103, 146, 220, 379, 386, 423 Staat 8, 13, 109, 163, 322, 328, 332, 337, 339, 355, 365 Strke 7f., 12, 15f., 18, 49, 54f., 59, 63, 70, 92, 94, 96, 116, 181, 183f., 189, 220, 226, 243, 260, 265, 295, 298, 308, 343, 359, 374, 398 Steigerung 33, 46, 136, 173, 199, 204, 211, 221, 259f., 266, 271f., 283, 305, 436, 439 Stil 14, 21, 40, 52, 61, 209, 234, 262, 303, 371, 395–403, 405–407, 438, 446, 471, 473 Stoff 46, 66, 68, 93, 128, 262, 306, 442 Stolz 6, 9, 31, 37, 52f., 57–60, 62, 82, 122, 129, 136, 228, 265, 311f., 314, 360, 404 Strafe 107, 141, 292 Subjekt 98, 107, 113f., 126, 161, 237, 260f., 315, 325, 333, 368, 415–418, 427
498
Sachregister
Sublimierung 127f., 221 Substanz 101, 156, 226, 256, 388, 400f., 425, 429 Snde 57f., 276, 432 System 8, 10, 87, 132, 149, 193, 207, 226, 238, 240, 301, 321, 335f., 396, 402f., 405, 422, 426, 429f., 437 Tatsache 18, 68, 113, 137, 140, 152, 174f., 222, 302f., 319, 324f., 332, 340, 342, 345, 350, 380, 424, 430f., 435, 476 Tausch 136, 210 Teleologie 172, 178, 374 Teufel 15, 33 Theologe 111, 150, 342 Theologie 332, 337, 342, 370f., 379, 390 Tier 7, 77f., 80, 135, 217, 251f., 260, 262, 289, 297, 307, 311, 315, 323, 325, 372 Tod 46, 60, 79, 82, 85, 90–92, 112, 211, 226, 228–231, 234, 240, 254f., 262, 265, 291, 305, 312, 332, 334, 336f., 339, 349, 351f., 364, 370, 387, 435, 474 Tradition 6, 9, 104f., 108, 111, 131, 142f., 147, 150, 158, 213, 215, 219, 228, 310, 335, 338, 352, 387, 398 Tragçdie 32, 36, 40–42, 52, 105, 189, 202f., 209, 275, 291, 374, 438, 447 Traum 2, 21, 64, 91f., 116, 128, 230f., 251, 487 Treue 240, 314 Trieb 9, 11, 36, 94, 98, 107, 113, 123–126, 130, 136, 149–153, 157, 161, 163, 208, 211, 219–221, 226, 254, 268, 302, 306, 371, 411 Tyrann 222 bermensch 3, 19, 24, 78, 80, 86, 95f., 98, 174, 185, 189, 217, 220f., 266, 273, 284f., 307f., 315, 365, 377, 413, 415, 437, 444 Umwertung 3–5, 12–17, 66, 72, 141–143, 271, 304, 404, 410 Unabhngigkeit 41, 83
unbewusst 8, 11, 116, 122, 149, 189, 197, 231, 275 Unglauben 274 Unlust 11, 129, 254, 342 Unredlichkeit 112 Untergang 24, 33, 46, 60, 75, 94, 206, 262, 264, 275, 301, 332f., 335–339, 349f., 352 unzeitgemss 15–17, 69, 124, 173, 178, 182, 204, 371 Ursprung 78, 80, 82f., 119, 127f., 147, 206, 242, 255f., 260, 287 Utilitarismus 301f., 304 Verachtung 22, 42, 57f., 220, 232, 264–266, 274, 277–279, 281–284, 311, 314, 384, 431 Verantwortlichkeit 15f., 22, 32, 222, 472 Verarmung 276, 310 Verbrecher 34 Verdrngung 128, 130, 152, 221, 261 Verfall 7, 45, 293, 320, 339, 348, 396, 406 Vergessen 3, 121, 129, 172, 179, 290, 367f., 370–373, 375–377, 384, 386, 432, 474, 477 Vergleich 59f., 65, 75, 95, 133, 137, 148, 150, 183, 194, 272, 289, 299, 302, 344, 370, 400, 438, 472 Verkleinerung 49, 54, 261, 282 Verneinung 13, 116, 274, 280, 282 Vernunft 4, 6, 11f., 14, 18, 79, 81–84, 87, 97, 109, 120, 127, 137, 145, 183f., 201, 208–211, 213, 217, 219, 249, 252, 254, 264, 294, 319, 321–323, 325, 328, 330–334, 336, 340, 351, 368–370, 411, 417, 470, 476 Versprechen 49 Verstand 5, 10, 15, 18, 22, 35, 37, 52, 62, 64, 68f., 81–83, 93, 104, 131, 135, 149, 186, 195, 208, 211, 227, 231, 255, 283, 296, 320, 325, 337f., 360, 376, 399, 426, 429, 441, 447, 468, 471 Versuch 9, 14, 32, 62, 73, 102, 107, 116, 120, 125, 130, 132, 135, 138,
Sachregister
140, 147, 175–177, 181, 189f., 195, 201, 213, 217, 220, 222, 230, 243, 247, 249f., 271, 274, 304, 319f., 323f., 327, 331, 333, 352, 363f., 401, 403, 406f., 415, 424f., 429, 438f., 443, 447 Vertrag 131f. Vitalismus 101, 149 Vitalitt 14, 46, 248 Volk 4, 22, 38, 43, 61, 121, 160, 201, 263, 267, 272, 274, 294, 315, 357, 362, 373 Vornehmheit 15, 20, 267, 313 Vorstellung 3, 31, 35, 40, 75, 97, 106, 110, 113–117, 122f., 127, 193, 195–199, 205f., 221, 234, 250, 254, 267f., 279, 292, 296, 301f., 305, 308, 311f., 332, 334, 336, 342, 347, 361, 364, 379, 389, 415, 427, 482 Wahn 6, 237f., 356, 444 Wahnsinn 15, 55, 73, 97, 99, 238f., 242, 412 Wahrhaftigkeit 141f., 255, 281 Wahrheit 17, 21, 50, 56, 81, 95–98, 104, 106, 108–110, 112f., 120–122, 124, 129, 140–143, 154, 157, 160, 189, 203, 205f., 267, 274, 280f., 284, 321, 336, 368, 373, 383f., 386, 403–405, 410, 430f., 434, 438, 470 Wahrnehmung 11, 233, 263, 268, 435, 438 Weisheit 22, 48, 65, 94, 104, 122, 124, 255, 257, 268, 284, 298, 323, 332 Welt 4, 7, 15, 17f., 20, 22f., 31, 34, 36–41, 46f., 56f., 68, 77, 82, 86, 89, 92, 95f., 99, 101, 104, 106–110, 112–114, 116f., 122f., 125, 135, 138, 171, 182, 189, 202f., 205, 213, 221, 229, 232f., 235, 237, 241, 251, 254, 256, 264, 267f., 280–282, 288, 292, 296, 301f., 305, 307f., 311, 313, 319, 322f., 327, 329–336, 339–345, 347, 349, 351, 353, 359, 364, 367, 369, 373, 403f., 415, 419, 422, 425–438, 444, 469 Werden 4f., 7–13, 15, 17f., 20f., 24, 31, 34, 36f., 40, 43f., 46, 48f., 52,
499
55–57, 59, 62, 64–66, 68–73, 76, 78–82, 84, 86f., 92, 96, 110, 115, 126, 131f., 134f., 138, 140, 143, 146, 148–150, 153, 163, 174–176, 179–181, 183–185, 187, 190, 192, 194, 196f., 199, 201–204, 206–208, 211, 213–221, 227f., 230f., 235, 240, 242f., 248f., 251f., 255f., 259–268, 271, 273, 276–279, 281, 283, 287f., 290, 292f., 295–297, 300, 302, 304, 306, 308, 310, 312–315, 319–323, 325, 327–330, 334, 336f., 339–345, 347–349, 351, 356, 359f., 362f., 365, 368f., 372, 374, 376f., 381–384, 386–391, 396, 404f., 409, 411, 414–419, 426–429, 431, 433–438, 442, 444–447, 467f., 470–472, 474–476, 478 Wert 4f., 7, 9, 14, 24, 39, 45, 47f., 50, 66, 72, 83, 120, 140–142, 146, 152, 203f., 208, 211, 215, 228, 232, 250, 271, 275, 277, 280–282, 284, 296, 299, 301f., 304, 310–312, 338, 386f., 436f. Wert des Lebens 210 Wertschtzung 145f., 149, 153, 315, 363, 409f., 418f. Wesen 9, 25, 34, 36, 54, 76, 85, 95, 97, 104, 117, 136f., 157, 161, 164, 175, 183, 185, 189, 194, 218–220, 226, 241, 256, 263, 296f., 303, 307, 310, 312, 315, 330, 351, 369, 372, 417, 425 Widerstand 12, 15, 23, 45, 49, 68, 89f., 96, 98, 303 Wiederholung 75, 249, 266 Wiederkehr 12, 19, 63, 80f., 231, 308, 332, 374, 428 Wille 5, 9, 12–14, 16f., 19, 22, 35, 47, 49, 64, 78f., 82–84, 86f., 92, 106f., 113f., 122f., 126, 149, 173f., 182, 184, 186, 189, 221, 225–229, 236, 255, 264, 275, 292, 296, 301, 303, 307f., 310, 314, 323, 332, 342f., 363, 374, 396f., 402, 415f., 427f., 436, 472 Willensfreiheit 72, 140
500
Sachregister
Wille zur Macht 3, 5, 9–13, 19, 23f., 40, 82, 92–96, 99, 122–125, 135, 147, 152, 189f., 215, 217f., 220, 226, 297, 303, 305, 307, 339, 401, 406, 411, 416f., 419, 426–429, 434, 436, 438f., 475, 477 Wirkung 8, 18, 34, 47, 55, 65, 67, 72, 141, 145, 153, 217, 231, 234, 237, 265, 275, 277, 282f., 301, 367, 383, 391f., 404, 414, 429, 437, 441, 467, 469, 471 Wissenschaft 9, 18, 36, 51, 56, 59f., 67, 85f., 102, 105, 108, 110f., 114–116, 118–120, 122, 124, 126, 138, 140, 145, 164, 179, 190f., 201, 204–211, 214, 225, 227, 253, 255, 273–275, 279f., 287, 289, 297, 300, 311, 322, 326f., 333, 340, 344, 350, 371, 375f., 380, 390, 397, 399, 412, 417, 434f., 437f., 441, 447, 482–484, 486 Wollen 4f., 12f., 15f., 21f., 41f., 60, 79, 81–83, 86, 104, 107, 109, 120, 123f., 128f., 134, 141, 172, 204, 219, 222f., 226, 250, 273, 275f., 278, 283, 290f., 294, 297, 301, 309, 313, 319, 321, 324, 338, 342, 347f., 353, 375, 384, 403, 406, 412, 429, 443, 470 Wrde 15f., 22, 30, 32, 44, 46, 48, 54, 63–65, 76, 81, 112, 120, 133, 135, 140, 147, 176f., 180, 185, 187, 206, 210, 216, 221, 227, 230, 236, 255, 263, 265, 268, 275, 279, 311f., 325, 327–329, 336f., 342, 357f., 361,
389, 397, 412, 418, 421, 426f., 432f., 437f., 446, 467 Zeichen 15, 54f., 64, 85, 126, 221, 227, 262, 328f., 335–337, 347, 380, 385–387, 389–391, 400, 403, 413, 468 Zeit 14f., 22, 32, 34, 38, 44, 46, 48f., 52, 54, 57, 61–63, 65, 67f., 70, 72f., 77f., 81, 104, 111, 115, 121, 142, 145–147, 150–152, 173, 175, 190, 203, 206, 214, 222, 228–230, 232, 235, 239, 263, 279, 281, 288, 294, 297, 300, 304, 316, 319, 334, 336, 338–340, 344f., 347–350, 362, 364f., 367–369, 372, 374, 376, 382, 384, 390, 401f., 419, 421, 423, 468f., 483 Zeugung 98, 190, 220, 234, 472 Zucht 43, 54, 198f., 298, 301, 308 Zchtung 141, 178, 186, 198f., 412, 471 Zufall 34, 87, 141, 237, 323, 330, 369, 401f., 412, 416 Zufriedenheit 209, 303 Zurck 8, 22, 25, 30, 53, 68, 79, 99, 102, 111, 115, 118, 122, 127, 137, 181, 190, 223, 240, 247, 252, 268, 278, 280, 289, 297, 311, 330, 334, 336, 345, 365, 374, 381, 400, 419, 444f. Zwang 198, 228, 364, 423 Zweck 15, 24, 132, 176, 192f., 195, 198, 205, 207, 218, 324f., 327f., 357, 361, 368, 473, 477
Personenregister Abel, Gnter 217, 419 Adler, Alfred 7, 75, 77, 130, 238, 263 Adorno, Theodor W. 145–154, 483 Agamben, Giorgio 380, 385 Allemann, Beda 441 Antonovsky, Aaron 227 Aristoteles 9, 21, 86, 302f., 311, 324, 432 Aschheim, Steven E. 102 Aurel, Marc 53f. Barck, Karlheinz 379 Bartholdy, Albrecht Mendelssohn 355 Baumeister, Thomas 395, 399 Baumgarten, Eduard 423–425 Bayertz, Kurt 178 Bnichou, Paul 295 Benn, Gottfried 101f., 339 Benne, Christian 414 Binder, Devin K. 242 Blanchot, Maurice 406 Bloch, Ernst 1, 10, 250, 253 Blondel, Eric 410, 417 Bluhm, Harald 341 Bohrer, Karl Heinz 238, 399 Bois-Reymond, Emil du 195 Bonik, Klaus 195 Bord, Andr 291 Borgia, Cesare 13f., 46, 94 Brecht, Bertolt 1, 101f. Bredekamp, Horst 379, 390 Breidbach, Olaf 195 Brobjer, Thomas H. 172, 190, 302, 304, 311 Brunschvicg, Lon 58 Brusotti, Marco 51, 53, 57, 60, 67, 138f., 216, 280, 405, 412f., 415, 481 Burckard, Francois 291
Burckhardt, Jacob 14, 34–37, 44, 50, 237, 335, 346–348, 358–360 Campioni, Giuliano 69, 164, 289, 293, 368, 415 Casey, John 311 Caspari, Otto 191, 196 Cavallar, Georg 357 Cavell, Stanley 299f., 421f. Caysa, Volker 1, 9, 217, 248, 259, 316, 481 Clark, Maudemarie 303 Colli, Georgio 34, 399, 476f. Conant, James 299, 306 Conway, Daniel W. 299, 413f., 417f. Coulet, Henri 295 Crawford, Claudia 399 Cybulska, Eva M. 242 Danto, Arthur C. 215, 352 Darwin, Charles 70, 111, 126, 171–179, 181, 183–185, 187, 189, 191, 193f., 196f., 199, 218, 251, 289, 371 Deleuze, Gilles 406 Dellinger, Jakob 409, 481 Descartes, Ren 83, 127, 217, 251–253, 257, 294 Detering, Heinrich 238 Deuber-Mankowsky, Astrid 380 Devreese, Daniel 242 Dietrich, Wolf 238f. Domino, Brian 410 Dreyfus, Hubert L. 165f. Driesch, Hans 363f. Duhamel, Roland 202, 211, 415 Dhring, Eugen 63, 66f., 278 Ebeling, Knut 379, 481 Eder, Klaus 350
502
Personenregister
Emerson, Ralph Waldo 421–435, 437, 439, 469 Engels, Friedrich 2, 17, 25, 335, 341 Federn, Ernst 130 Fr, Charles 71f. Flasch, Kurt 476f. Foucault, Michel 89, 96–99, 165f., 250, 254, 371, 375f., 379–381, 385–392, 403, 469 Freud, Sigmund 26, 89–92, 98, 104, 111, 125–130, 150, 207, 211, 221, 228, 254, 284, 297, 403, 481, 487 Frick, Eckhard 101, 217, 223 Friedl, Herwig 421–423, 425f., 430 Furtmller, Carl 130 Gadamer, Hans-Georg 130, 146–148, 150, 153 Gasser, Reinhard 125, 129f., 221 Gehlen, Arnold 221 Gentili, Carlo 60, 201 Georg, Jutta 2, 6, 19, 23, 66, 173f., 230, 316, 337, 367, 423f., 468, 481, 483 Gerhardt, Volker 150, 201, 210, 217, 219, 307, 372 Giesz, Ludwig 216f. Gilman, Sander L. 241 Goch, Klaus 476 Gori, Pietro 155f., 164, 481f. Granier, Jean 215 Grtzel, Stephan 217 Grisebach, Eduard 296 Groddeck, Wolfram 30, 34 Groff, Peter S. 412 Groll, Karin 288 Grnbein, Durs 253–256 Grnder, Karlfried 51, 53f. Gndel, Harald 217, 223 Gutmann, Wolfgang F. 195 Haase, Marie-Luise 69, 177 Habermas, Jrgen 3, 350f., 353, 443 Haeckel, Ernst 178, 192, 198, 371 Hahn, Karl-Heinz 476 Hamacher, Werner 404, 406 Hartmann, Eduard von 189
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 18, 151, 154, 319, 324, 329–336, 341, 343–347, 351, 358, 367–372, 374, 376 Heidegger, Martin 104, 114, 146, 215, 247, 299f., 335f. Heine, Heinrich 115, 330, 486 Heit, Helmut 367, 375, 473, 482 Heller, Edmund 297, 421 Hemelsoet, D. 242 Hemelsoet, K. 242 Henke, Dieter 4, 191 Herrmann, Emanuel 71f. Hobbes, Thomas 315, 358 Hofbauer, Jrgen 470 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 117 Hoffmeister, Johannes 367–369 Homolka, Michaela 145 Honneth, Axel 315 Horkheimer, Max 146–148, 150–153 Horneffer, Ernst 241, 364, 477 Hoyer, Timo 442f. Hurka, Thomas 299, 307 Ilting, Karl-Heinz
368
Jger, Gustav 32, 191, 445 Janssen, Wilhelm 358 Janz, Curt Paul 91f. Jaspers, Karl 151, 201, 217, 241, 421, 469f., 484 Joly, Henri 69–71 Kaiser-El-Safti, Margret 125, 130 Kammler, Clemens 391f. Kant, Immanuel 4, 18, 37, 81, 83, 108, 113f., 137f., 165, 195, 201, 204, 262, 308, 313, 319–331, 340, 345, 347, 353, 357f., 482 Kser, Rudolf 226, 228 Kater, Thomas 355f., 361, 363, 482 Kaufmann, Walter 127, 311, 422, 425, 427, 430, 470 Kaulbach, Friedrich 217 Kaulbach, Hans-Martin 361
Personenregister
Kierkegaard, Sçren 77, 82, 150f., 484 Klages, Ludwig 103f., 129 Klossowski, Pierre 238 Koch, Martin 416, 442 Kofman, Sarah 409f., 414 Kçhler, Joachim 234 Kopernikus, Nikolaus 111, 126, 251 Kossellek, Reinhart 338 Koszka, Cristiane 242 Kraus, Jody S. 131 Krause, Ernst 191 Kronberger, Martin 417 Kuhn, Thomas S. 434 Kmmel, Albert 356, 361, 482 La Rochefoucauld, Francois de 287, 290, 292–295, 298 Lacoste, Jean 292 Lafond, Jean 292 Lampert, Lorenz 135 Lampl, Hans Erich 72 Langer, Daniela 209, 415–418, 421 Large, Duncan 8, 415 Legrand, Camille 287, 482 Leibniz, Gottfried Wilhelm 322f., 326f., 329, 340, 342, 345 Leiter, Brian 284, 299, 301, 305, 307, 311, 315, 416 Lemm, Vanessa 17, 20, 24, 299f. Lepsius, Johannes 355 Lvy, Bernhard-Henri 421 Lopes, Rogrio 131, 482 Losurdo, Domenico 3, 5, 24, 474–477 Loukidelis, Nikolaos 213, 219, 482f. Lçwenfeld, Ludwig 235 Lçwith, Karl 215, 335, 348, 369f. Lbbe, Hermann 352 Lupo, Luca 161 Lutz-Bachmann, Matthias 215 Machiavelli, Niccol 3, 13f., 304 Maciejewski, Franz 90f. Mainberger, Sabine 51, 53f. Mann, Thomas 6, 34, 37, 102, 116, 206, 229, 234, 238, 240, 242, 272, 324, 333, 367, 415, 441, 445
503
Maras, Konstadinos 145 Marcuse, Herbert 1 Marquard, Odo 323, 340 Martin, Louis-Aim 5, 181, 292f., 442 Marx, Karl 2, 7f., 17–19, 25, 99, 329, 335, 341, 344f., 347, 403 Massini, Rudolf 55 Mayer, Robert 66f., 190, 192 Mayor, Vanessa Vidal 145, 483 Mayr, Ernst 192, 196f. Mchedlidze, Gocha 299 Meister, Carolin 23, 33, 35, 93, 147, 171, 296, 391f., 401 Mendelssohn, Moses 326, 329 Mengaldo, Elisabetta 395, 483 Menninghaus, Winfried 262 Mette, Hans J. 311, 374 Meyer, Kathrin 372 Mittmann, Thomas 471–474 Mçbius, Paul J. 241, 442f. Montinari, Mazzino 34, 213, 215f., 476f. Mller-Lauter, Wolfgang 63, 71f., 135, 140, 161, 191, 197f., 215, 217f., 220, 428, 436, 476 Musil, Robert 101f. Nagel, Thomas 313 Ngeli, Carl von 185f. Nancy, Jean-Luc 404 Neumann, Gerard 398 Neymeyr, Barbara 101f., 114, 116, 120, 123, 214, 483 Nicodemo, Nicola 201, 483 Nielsen, Cathrin 60 Niemeyer, Christian 127, 438, 441, 444, 446, 467, 470, 474–477, 481, 484 Nietzsche, Elisabeth 1–25, 29–49, 51–73, 75–87, 89, 91–99, 101–131, 133–143, 145–166, 171–183, 185–187, 189–194, 196–199, 201–211, 213–223, 225–243, 247, 249–252, 254f., 259–268, 271–285, 287–316, 319f., 323, 327, 329, 336–340, 342f., 345–351, 355f., 358, 360–365, 367–377,
504
Personenregister
379–386, 388–390, 392, 395–407, 409–419, 421–431, 433–439, 441–448, 467–478, 481–487 Nietzsche, Franziska 230, 469 Nietzsche, Karl Ludwig 229 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 117, 255, 398 Nunberg, Hermann 130
Ritter, Joachim 51, 53f. Rolph, William Henry 175–177, 185f., 190 Rosenkranz, Karl 262, 334 Roskamm, Wilhelm 391f. Rçttgers, Kurt 8 Roux, Wilhelm 161, 191–199, 217–220
Oesterreich, Peter L. 396 Oger, Erik 202, 211 Orsucci, Andrea 289 Orth, Michael 242 Ottmann, Henning 105, 217, 362, 467 Overbeck, Franz 6, 32f., 63, 73, 91, 196, 235f., 239, 371, 375f., 425, 435, 445, 447, 468 Owen, Christopher M. 242 Owen, David 299
Safranski, Rdiger 428 Sandkhler, Hans-Jçrg 9 Schacht, Richard 117, 299, 306 Schain, Richard 242 Schaller, Carlo 242 Schank, Gerd 3, 5f., 214, 485f. Schatzki, Theodore R. 304f. Scheler, Max 305, 310, 359f. Schild, Enrico 243, 267 Schlaffer, Heinz 471, 477 Schlechta, Karl 292, 374 Schlette, Magnus 316 Schlipp, Paul A. 156 Schmid, Wilhelm 223, 255 Schmidt, Christian 72, 214, 217, 230f., 348 Schmitt, Carl 337, 355f. Schmcker, Pia Daniela 225, 229, 231f., 240f., 485 Schndelbach, Herbert 324, 353, 370f. Schneider, Georg Heinrich 221 Schopenhauer, Arthur 9, 63, 113f., 122–125, 128, 130, 137f., 147, 149, 173, 202–204, 221, 287, 290, 292, 296–309, 335, 341–343, 374, 382, 415, 424, 427 Schrçder, Winfried 312 Schwarzwald, Konstanze 9, 217, 247, 485 Schwitalla, Johannes 8 Seidel, Helmut 2 Seidlitz, Georg 197 Selung, Bruno 289 Sengle, Friedrich 5 Sidowska, Karolina 259, 485 Siemens, Herman 3, 6, 213f., 485f. Simmel, Georg 308 Simon, Josef 105, 215, 419
Pascal, Blaise 56–61, 287, 290–296, 298, 343, 400, 484 Prier, Gilberte 291f. Piazzesi, Chiara 164, 271, 484 Pieper, Annemarie 75, 78, 217, 307, 315, 484 Pindar 297 Piper, Ferdinand 379, 390 Platon 9, 14, 39, 44, 75–79, 82, 96, 104, 110, 221, 299 Poirier, Richard 422 Politycki, Matthias 4 Popper, Karl 156 Prinzhorn, Hans 103 Proudhon, Jean-Pierre 359f. Rabinow, Paul 165f. Rawls, John 132, 299f. Re, Paul 172, 287, 289, 292, 424, 468f. Remmert, Gnter 260 Reschke, Renate 29, 150, 201, 484 Reuter, Sçren 189, 484f. Richardson, John 305, 416 Rickert, Heinrich 173, 175 Riedel, Manfred 321 Riesenberger, Dieter 356
Personenregister
Slote, Michael 304 Sloterdijk, Peter 280 Sçlch, Dennis 421, 486 Sommer, Andreas Urs 30, 63, 102, 136, 171, 197, 214, 229, 239f., 375f., 418, 446, 486 Spencer, Herbert 177, 289 Spinoza, Baruch de 9, 76, 113, 289, 295 Springmann, Simon 219 Stack, Georg J. 178, 423f. Steffen, Hans 333, 441 Stegmaier, Werner 177, 179, 210, 214f., 411, 417f., 439 Stekeler-Weithofer, Pirmin 316 Strauss, Leo 135, 356 Strobel, Eva 396, 406 Snner, Rdiger 145 Taureck, Bernhard H.F. 362 Taylor, Charles 315 Tegtmeyer, Henning 316 Thimme, Friedrich 355 Thom, Dieter 316, 421f. Tieck, Ludwig 117 Tietz, Udo 319, 330, 333, 338, 341, 348, 486 Tongeren, Paul van 3, 6, 202, 211, 213f., 485f. Trappe, Tobias 51 Trautsch, Asmus 219
505
Tugendhat, Ernst 133f., 311, 313 Trcke, Christoph 89, 487 Vattimo, Gianni 400 Venturelli, Aldo 201, 397 Vivarelli, Vivetta 400 Volz, Pia Daniela 55, 222, 229, 235f., 239f., 242 Wagner, Moritz 45, 118, 125, 228, 234, 238, 395f., 398, 403, 405, 424, 473 Wagner, Richard 6, 41, 135, 173, 234, 238, 395, 470 Weijers, Els 415 Wein, Hermann 441, 445 Weinrich, Harald 373 Weischedel, Wilhelm 320f., 323f., 328 Willers, Ulrich 470 Williams, Bernard 143, 313 Wirtz, Markus 364f. Wittgenstein, Ludwig 312f., 481, 484 Wollgast, Siegfried 195 Wotling, Patrick 164 Wurmser, Lon 231f. Zavatta, Benedetta 421, 423 Zittel, Claus 413, 445–447