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German Pages 130 [134] Year 2018
Franz Steiner Verlag
P E T E R C O R NE L IU S M AY E R-TA S C H
Kleine Philosophie der Macht
Peter Cornelius Mayer-Tasch Kleine Philosophie der Macht
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Peter Cornelius Mayer-Tasch Kleine Philosophie der Macht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Einbandgestaltung: deblik, Berlin Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-515-12035-7 (Print) ISBN 978-3-515-12037-1 (E-Book)
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Inhalt Vorwort
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1. Die Macht beim Wort genommen Ein Ausflug in die Begriffsgeschichte
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2. »Herr wir preisen Deine Stärke …« Die Anbetung der Macht
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3. Wer oder was macht mächtig? Herkunft und Formen der Macht 3.1 Die Quelle der Macht 3.2 Die Wege zur Macht 3.3 Die Formen der Macht
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4. Neben dem Thron der Könige … Macht und Recht
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5. Was man nicht macht … Macht und Ethik
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Inhalt
6. Jenseits der Macht Machtlosigkeit als Utopie Annex: Gärten der Macht Die Gartenkunst als Medium der Machtentfaltung
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Kommt die Macht, so fällt das Recht in Acht Altes Sprichwort
»Und doch [sagte der Großtyrann] gibt es nichts Herrlicheres und Manneswürdigeres auf dieser Erde als die Macht« Werner Bergengruen: Der Großtyrann und das Gericht
»Wenn die Macht der Liebe die Liebe zur Macht überwindet – erst dann wird es Frieden geben« Jimmie Hendrix
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Vorwort
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ie Erfahrung von Macht und Ohnmacht durchzieht unser Aller Leben. Wäre uns dies von einer höheren Instanz aufgegeben, so könnte ein Jeder und eine Jede eine besondere Geschichte vom Hineinwirken dieser Erfahrung in das eigene Leben erzählen. Auch der Autor dieser Zeilen war und ist mit den Wechselwirkungen von Macht und Ohnmacht in mehrfacher Hinsicht befasst: Als Rechts- und Politikwissenschaftler hatte und hat er sich schon von Berufs wegen sowohl mit den empirisch vorfindbaren Manifestationen sozialer, politischer und rechtlicher Macht und Ohnmacht als auch mit der normativ zu erkennenden (oder doch zu erarbeitenden) Dialektik von Macht und Verantwortung theoretisch auseinanderzusetzen. In Laufe seines Werdegangs vom Studenten, Assistenten, Dozenten und Professor bis hin zum Institutsdirektor und Hochschulrektor wirkte diese Erfahrung dann aber auch unmittelbar in seine Berufspraxis hinein. Und als Kind, Schüler, Ehemann, Lebenspartner, Familienvater und sozial aktiver ›mündiger Bürger‹ teilte und teilt er die Einsicht in die Fluktuationen von Macht und Ohnmacht mit zahllosen Mitmenschen. Genug der Erfahrungen jedenfalls um beim Autor den Wunsch entstehen zu lassen, sich die Hauptlinien und Grundmuster dieser Erfahrungen
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Vorwort
noch einmal zu vergegenwärtigen und dabei auch für die Leser möglichst viele Facetten der Thematik aufscheinen zu lassen. Als Annex aufgenommen wurde daher auch noch ein Essay mit dem Titel »Gärten der Macht«, der in Band 34 (Jahrgang 2004/2005) der »Scheidewege« erstmals veröffentlicht worden war. Das Faszinosum der Thematik belegen nicht zuletzt die zahlreichen Schriften, die ihr im Laufe der letzten Jahrhunderte gewidmet wurden. In der Neuzeit war es insbesondere Niccolo Machiavellis Principe und Thomas Hobbes’ Leviathan, die einen starken Akkord anschlugen, der bis hin zur Gegenwart in – zumeist thematisch spezifizierten – Einzelstudien, aber auch in Ratgebern zu Machterwerb und Machterhalt fortklingt. Mit solchen Schriften zu konkurrieren lag und liegt nicht in der Absicht des Autors. Sein Anliegen ist es, mit leichter Hand einen Erkenntnisbogen über den Gesamtbereich zu schlagen. Falls ihm dies gelungen sein sollte, hätte er sein Ziel erreicht. München, im Frühjahr 2018 Peter Cornelius Mayer-Tasch
Ein semantischer Ausflug in die Begriffsgeschichte
1. Die Macht beim Wort genommen Ein semantischer Ausflug in die Begriffsgeschichte
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1. Die Macht beim Wort genommen
Ein semantischer Ausflug in die Begriffsgeschichte
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uch sprechen zu können und Gesprochenes zu verstehen, ist eine Form der Machtausübung. Der Sprache mächtig zu sein (wie die entsprechende Redewendung lautet) heißt daher auch in erster Linie, zu begreifen, was Worte und Sätze auszudrücken suchen, welche Wahrnehmbarkeiten und Denkbarkeiten sie mit ihren Zeichen und Lauten abbilden wollen. Des Weiteren heißt es dann aber auch, sich dieser Worte und Wortfolgen in einer Weise bedienen zu können, die den ins Auge gefassten Zielsetzungen der diese Worte und Wortfolgen mündlich oder schriftlich Nutzenden bestmöglich entsprechen. Auch wer über Macht und Mächtigkeit nachdenken will, wird sich daher zunächst der Frage nach der Bedeutung dieser Begriffe stellen müssen. Macht hat, mächtig ist – so der vordergründigste Gedankenschritt – wer in der Lage ist, etwas zu machen. Dieses »Machen« aber und seine westgermanischen Variationen (das ›maken‹ im Niederländischen und ›to make‹ im Englischen) geht auf die indogermanische Wurzel mag zurück, was so viel wie »kneten« bedeutet und uns durch das – derselben indogermanischen Wurzel entstammende – griechische Zeitwort ›massein‹ (= kneten, pressen, streichen) ver-
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1. Die Macht beim Wort genommen
ständlich wird.1 Die spezifische Arbeitsform des »Masseurs« entspricht dieser Ursprungsbedeutung des Begriffes in geradezu augenfälliger Weise. Dieses Kneten, Pressen und Streichen aber bezog sich ursprünglich nicht etwa auf eine lediglich unterstützend-physiotherapeutische, sondern vielmehr auf eine existentiell-überlebenswichtige Tätigkeit – auf den Hausbau nämlich, genauer: auf das Kneten des Lehms, der als breiige »Masse« (!) zu deren innerer (zum Teil auch äußerer) Abdichtung auf das Flechtwerk oder die Balken der Hauswände gestrichen und gepresst wurde. Im germanischen Sprachraum erfolgte dann allmählich eine Erweiterung und Verallgemeinerung des Begriffes bis hin zu »bauen«, »errichten«, »herstellen«, »zusammenstellen« und »bewerkstelligen«. Damit aber war weiteren Verallgemeinerungen Tür und Tor geöffnet. In dem auf die benannte Weise hergestellten »Gemach« ließ sich nun – nach Schaffung des Nötigsten – über alles Weitere »gemächlich« nachdenken, allzu heftigem eigenen oder familiärem ›Fortmachen‹ aber vielleicht auch ein (möglicherweise nur mentales) »Gemach, gemach!« im Sinne von »Gut Ding will Weile« entgegenhalten, um jeglichem übereifrigen Weiterdrängen »Ungemach« zu ersparen. Andererseits drängte möglicherweise männliches »Gemächte« zur Zeugung von Nachkommenschaft, während sich die »züchtige Hausfrau« (Friedrich Schiller2) in der ›guten alten Zeit‹ in der Regel mit der rechtlichen und zumeist auch tatsächlichen »Vormacht« des Ehemannes zu arrangieren wusste und sich dafür umsichtig im Haus zu schaffen machte, sich in der Küche um das »Einmachen« kümmerte oder auch die Mahlzeiten »fertigmachte«, wobei das »An- und Ausmachen« des Feuers regelmäßig eine entscheidende Rolle spielte. In der guten Stube wurden vom Hausherrn und seiner Frau – nicht zuletzt mit Außenstehenden – sicherlich mehr oder minder wichtige »Abmachungen« getroffen, wobei zu hoffen ist, dass sie sich dabei keinerlei üble »Machenschaften« zuschulden kommen ließen und auch nicht solchen zum Opfer fielen. Zu befürchten war Derartiges nicht zuletzt im thematischen und zeitlichen Umkreis von »Vermächtnissen«, denen dann leicht ein »Makel« anhaften konnte, der viel Verdruss mit sich brachte. Wer solches »durchmachen« musste, hatte Grund, Unregelmäßigkeiten zu »bemäkeln«. Auch bei Käufen und Verkäufen, bei denen ein
Ein semantischer Ausflug in die Begriffsgeschichte
Abb. 1: Germanisches Gehöft
»Makler« mit im Spiel war, der den Parteien das zu vermittelnde Subjekt oder Objekt vielleicht in einer trügerischen »Aufmachung« vorgestellt und damit etwas nicht Stimmiges »vor-gemacht« hatte, um das (Rechts)geschäft zuwege zu bringen und sich so eine Provision zu verdienen, mochte dies der Fall sein. Einen legitimen Grund, diesen deshalb gleich »niederzumachen«, werden im Zweifel wenige Parteien gesehen haben – es sei denn, dass sie eine ausgesprochene »Macke« hatten. Und wenn sich der Betreffende rechtzeitig »aus dem Staub machte«, hätten sie dazu auch keine Gelegenheit gehabt.
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1. Die Macht beim Wort genommen
Wie all diese Beispiele – deren Reihe sich noch lange weiterführen ließe – zeigen, wurde das Zeitwort »machen« zu einem Allerweltsbegriff, der sich als »Joker« fast beliebig einsetzen, aber auch variieren lässt. Entsprechendes gilt aber auch für Eigenschaft und Befindlichkeit von Einzelnen und Kollektiven, die in der Lage sind, etwas zu bewirken, d. h. also, erfahrbare Wirklichkeit werden zu lassen. Hinter all’ den beispielhaft aufgeführten Verhaltensweisen steht die »Macht« als Potential. Nicht nur, wer etwas »mit-oder nachmachte«, sondern auch wer sich aus einem ungeliebten Staatsgebiet absetzte und in ein erstrebtes »rübermachte« (wie es im BRD - und DDR -Vulgärjargon der 60er bis 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hieß) musste die Möglichkeit bzw. Fähigkeit und damit die (Handlungs-)Macht hierfür haben. Und wer gar für einen Anderen ein (Rechts-)Geschäft erledigen will, braucht überdies dessen »Vollmacht«. Wer all dies nicht hat, wird zu dem resignierenden Ergebnis kommen, dass da eben »nichts zu machen ist«. Wer Dinge und Verhältnisse gerne auf den Punkt gebracht wissen will und Definitionen liebt, wird auf die in den Sozialwissenschaften weit verbreitete Machtformel des Soziologen Max Weber zurückgreifen wollen, der in § 16 seines »Grundriss(es) der Verstehenden Soziologie« Macht als die Chance definiert, »innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«. Wenn Weber von einer sozialen Beziehung spricht, so meint er wohl in erster Linie soziale Beziehungen zwischen Menschen. Dasselbe gilt »natürlich« auch für das Verhältnis des Menschen zu Tieren, die ihm dank seiner hohen Intelligenz und seiner hierdurch bedingten Fähigkeit, Machtmittel zu schaffen und einzusetzen, trotz ihrer oftmals überlegenen Körperkräfte mehr oder minder »ohnmächtig« gegenüberstehen. Die Fähigkeit, etwas zu machen und damit auch der Umfang des jeweiligen Machtpotentials entfaltet sich in einem Vergleichsraum, der ein Mehr und ein Weniger kennt. »Der Ober sticht den Unter« sagt der Volksmund unter Anspielung auf einen bekannten Typus des Kartenspiels und wohl auch im Blick auf die Rangordnungen jeglicher Art in Staat und Gesellschaft. Und wenn man wieder auf die Begriffsgeschichte zurückgreifen will, so entscheidet nicht zu-
Ein semantischer Ausflug in die Begriffsgeschichte
letzt die Schnelligkeit, Eindrücklichkeit und Umfänglichkeit des von ihm selbst durchgeführten oder doch veranlassten Knetvorganges darüber, ob der einen ihm angemessenen Platz in der sozialen Rangordnung suchende Erbauer des Hauses als ein Großer (»Magnus«) oder gar als der Größte (»Maximus«) angesehen wird. Wer groß im Wissen war wurde an den mittelalterlichen Universitäten zum »Magister« promoviert, womit die (heute den Professoren und habilitierten Privatdozenten vorbehaltene) Lehrbefugnis verbunden war. Später wurde der Begriff dann sozial abgewertet und zum Synonym für Schulmeister, wobei der »Magister« noch im Wortteil ›meister‹ fortlebt. Und wenn der bis in die jüngere Vergangenheit an den deutschen und österreichischen Universitäten verliehene akademische Grad eines Magisters auch nicht mehr die Wertigkeit des mittelalterlichen Titels hatte, so sollte er doch dokumentieren, dass der Absolvent einer universitären Magisterprüfung ein mehr oder minder solides Maß an Wissen erworben hatte. Dasselbe gilt auch heute noch für den (inzwischen freilich auch von Fachhochschulen vergebenen) »Master«-Titel, der im Zuge der von den Europäern vollzogenen Anpassung ihrer Hochschul-Studiengänge an die angelsächsische Praxis den Magister weithin verdrängt hat. Beim sklavenhaltenden »Master« der amerikanischen Südstaaten des 18. und 19. Jahrhunderts ist der Machtbezug noch überdeutlich. Aber auch heute, zu einer Zeit also, zu der zumindest in unseren westlichen Breiten die Sklavenhalterwirtschaft längst im Orkus der Geschichte versunken ist, schlafen (Ehe-)Paare jenseits des Atlantik – sei es in Washington, Chicago oder New Orleans – noch immer im »Master-Bedroom«, wenngleich dieser auch im Zweifel nicht mehr von einem schwarzen Dienstboten in Ordnung gehalten wird. Im Wesentlichen bleibt der Begriff heute freilich auf den akademischen Bereich beschränkt. Wie der »Meister« bleibt auch der »Master« semantisch als Erbe des »Magisters« erkenntlich. Ebenso wie das Griechische zählt auch das Lateinische zur indogermanischen Sprachfamilie, wie das Fortleben der Sanskrit-Wurzel mag in diesen Wort- und Begriffsbildungen belegt. Dass bei dem den Platz des Bauherrn in der sozialen Rangordnung bestimmenden Prozess der faktisch wie semantisch so bedeutsa-
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1. Die Macht beim Wort genommen
Abb. 2: Der fränkische Hausmeier Karl Martell in der Sarazenenschlacht von Tours und Poitiers (732), Darstellung von Alfred Rethel, Zeichnung um 1832
men Errichtung des – als Ständerbau mit Wänden aus Balken oder Flechtwerk zu denkenden – Ur-Hauses nicht zuletzt die ihm zur Verfügung stehende Knet»masse« eine große Rolle spielte, bedarf kaum besonderer Betonung. Und dass sie in der auf unbekanntem Wege in die heutige Vulgärsprache eingegangenen, allseits begehrten »Knete« fröhliche Urständ feiert, ist ein denkwürdiges Kuriosum. Wo sie fehlt, lassen sich Hausbau-Träume »mangels Masse« nicht verwirklichen. »Ohne Moos« (das bei Dachdeckung und Abdichtung ebenfalls als Baustoff verwendet wurde) ist nun mal »nichts los«, wie der Volksmund weiß. Die Größe des derart errichteten »Hauses«, seines Umgriffes und seines – wie auch immer definierten – Machtbereiches entschied und entscheidet jedenfalls darüber, ob der Erbauer dieses Lebensgebäudes als ein »Magnat« gelten kann. Und wer Derartiges in grö-
Ein semantischer Ausflug in die Begriffsgeschichte
ßerem oder kleinerem Umfang dank undurchsichtig-wundersamer Eigenschaften zu bewirken vermag, wird den Ruf eines »Magiers« gewinnen, der seine »magischen« Kräfte einsetzt, um der alltäglich und allüberall erfahrbaren Macht selbst der Naturgesetze zu trotzen oder gar mit ihr ein virtuoses Spiel zu treiben. Auch die alles andere als esoterische Position der über die Verwendung einer Macht-Knete unterschiedlichster Größenordnung wachenden »Meier« (alias Maier, Meyer oder Mayer) steht in der semantischen Deszendenz des Mag-Begriffes. Ihr sozialer Rang konnte vom Großkanzler des Reiches – dem »Hausmeier« der Merowinger-Könige – bis zum Verwalter mittlerer, kleiner oder auch kleinster Adelsgüter reichen. Im Hinblick auf die ihrer Verwaltungsmacht Unterworfenen waren sie die »Größeren« (maiores) – ganz so, wie auch der militärische Dienstgrad des »Majors« dem des Hauptmanns, des Oberleutnants oder des Leutnants übergeordnet ist. Der kurze Blick auf den Idealtypus des »Meiers« und des »Magiers« (der bei der Skizzierung der Wege zur Macht im dritten Abschnitt nochmals vertieft werden soll) mag den für das Verständnis des sozialen Phänomens der Macht unverzichtbaren semantischen Streifzug durch seine Begriffsgeschichte abschließen. Er führt bereits an die Grenze einer längs, quer und diagonal durch Zeit und Raum beobachtbaren Wahrnehmung – der Anbetung der Macht nämlich in all ihren Formen.
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1. Die Macht beim Wort genommen
Die Anbetung der Macht
2. »Herr wir preisen Deine Stärke …« Die Anbetung der Macht
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2. »Herr wir preisen Deine Stärke …«
Die Anbetung der Macht
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ichts erhellt die Bedeutung des Phänomens der Macht deutlicher als ihre unverhohlene Anbetung. Wenn bei besonders feierlichen christlichen Gottesdiensten das große Gotteslob erklingt und die versammelte Kirchengemeinde den Hymnus »Großer Gott, wir loben Dich, Herr wir preisen Deine Stärke, vor Dir neigt die Erde sich und bewundert Deine Werke«3 erschallen lässt, läuft so manchem Anwesenden – ob nun mehr oder minder gläubig oder nicht – ein ›heiliger Schauer‹ über den Rücken. Die gleich einer Flutwelle den Kirchenraum durchtosende Vielstimmigkeit dieses an die Allmacht eines transzendenten Weltschöpfers und Weltregenten appellierenden Gesanges überhöht noch die an dieses »Gotteslob« erinnernde Schlusspassage des Gebets, »das uns der Herr zu beten gelehrt hat« (wie es in der katholischen Liturgie heißt) – des »Vater Unser« nämlich, in dem die Macht Gottes ebenfalls beschworen wird: »Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit« lautet die das Gebet krönende Anrufungsformel. Sie, diese im wahrsten Sinne des Wortes exorbitante Macht Gottes anzuerkennen, heißt einerseits, sie im Bewusstsein der bescheidenen eigenen Kräfte zu bewundern und zu preisen, andererseits aber damit zugleich auch, sie neidlos zu bejahen und sich damit – dies
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2. »Herr wir preisen Deine Stärke …«
wohl die dieser Affirmation innewohnende Hoffnung – des Segens dieser allmächtigen jenseitigen Wesenheit zu vergewissern. Diese Hoffnung dürfte nicht nur bei den das Te Deum schmetternden oder das ›Vater Unser‹ betenden Christen, sondern auch bei den islamistischen Terroristen mitschwingen, wenn sie ihre Angriffe – wie wir dies in diesen Jahren immer wieder erleben – mit dem arabischen »Allahu akbar« (»Gott ist groß«) bekräftigen. Ein im Brustton tiefster Überzeugung ausgestoßener Legitimationsruf dies, der das in den Augen der Menschen gemeinhin Verwerfliche im Glanz des Gottgewollten erscheinen lassen soll. Es liegt nahe, darin eine – nunmehr islamistisch drapierte – Neuauflage der mit dem Schlachtruf »Deus lo vult« (»Gott will es«) auf den Kreuzzügen verübten und der von der »christlichen« Inquisition begangenen Verbrechen zu sehen. Die all diesen – unter dem Deckmantel eines angeblichen himmlischen Wohlwollens oder gar Auftrags begangenen – Maßlosigkeiten innewohnende Tragik liegt in der fanatisch aufgeheizten Vermengung von Banalität und Torheit. Banal ist der Appell an die Größe Gottes, weil eine als Weltenschöpfer und Weltenlenker vorgestellte Gottheit ohnedies eine jedes menschliche Vorstellungsvermögen überschreitende ›Größe‹ hat – eine Größe, die keiner Bestätigung bedarf. Töricht ist er, weil diese Gottheit in ihrer Ferne dem sie Anrufenden schwerlich zugänglich sein wird und er sich mithin »gläubig« auf Andere verlassen muss, die ihm suggerieren, dass seine Tat gottgefällig und belohnenswert ist. Insoweit liegt es auch nahe, jede Form von Gläubigkeit an eine überirdische (All-)Macht als eine Form menschlichen Machtverlangens zu interpretieren – des Versuchs nämlich, die eher bescheidenen menschlichen Wirkungsmöglichkeiten durch ›Adoption‹ eines machtvollen spirituellen Mentors zu erweitern. Dass den auf Jenseitsmächte Vertrauenden aller Zeiten aus einer solchen Sichtweise tatsächlich – mal zum Nutzen, mal zum Schaden ihrer Mitmenschen – ein erhebliches Maß an Kraft und Zuversicht zuwachsen konnte, ist unabweisbar. Und unabweisbar ist auch, dass die schlichtweg Ungläubigen wie auch die von des Gedankens Blässe angekränkelten Agnostiker – ebenfalls mal zum Nutzen und mal zum Schaden ihrer Mitmenschen – auf solche spirituellen Schubkräfte verzichten mussten.
Die Anbetung der Macht
Abb. 3: Anbetung der Madonna durch alle machthungrigen Stände, Detaildarstellung der »Madonna of Recommended« von Cola da Orte und Giovanni Antonio da Roma (Gemälde aus dem 16. Jahrhundert)
Die Anbetung und Beschwörung himmlischer Allmacht ist jedoch nur die spektakulärste Form des ihr unverhohlen gezollten Tributes. Auch im politischen und sozialen Raum herrscht eine mehr oder minder deutlich gelebte und respektierte Apotheotik der Macht. Seit die Verhaltensforscher die Parallelitäten im Verhältnis von Mensch und Tier auf breiter Eben analysiert haben, ist im Blick auf den Hühnerhof vielfach von der je und je gelebten Hackordnung die Rede, die sich auch in der schon erwähnten, aus den Kartenspielen entlehnten Redewendung »Der Ober sticht den Unter« manifestiert. Da die Stufenordnung der Macht ganz unverkennbar nicht nur zum
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2. »Herr wir preisen Deine Stärke …«
Lebensgesetz des Tierreiches, sondern auch zur conditio humana gehört und von den Nachrangigen zumeist nur dort in Frage gestellt wird, wo Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen, ist die der Macht entgegengebrachte Verehrung allgegenwärtig, wenn sich ihre Erscheinungsformen auch im Laufe der Geschichte immer wieder verändern. Die vergleichsweise lockere Form, in der sie sich heute präsentiert, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich an der Faktizität des politischen und sozialen Machtgefälles über die Jahrhunderte hin wenig geändert hat. Dass der Bürger des 21. Jahrhunderts keine persische Proskynesis, keinen chinesischen Kotau und auch keinen Versailler Kratzfuß mehr einüben muss, wenn er sich auf einen Empfang beim Regierungs- oder Staatschef seines Landes vorbereitet, ändert nichts daran, dass diese durch die Wahrnehmung ihrer – in Deutschland semantisch verharmlosten – »Richtlinienkompetenz« selbst in einer parlamentarischen Demokratie das Schicksal einer ganzen Nation grundstürzend beeinflussen können, wie dies in der BRD u. a. bei der Entscheidung zum Ausstieg aus der Kernspaltungsenergie und bei der Öffnung der Grenzen für die Flüchtlingswelle zweifellos der Fall war. Und die Tatsache, dass der Bürger eines Wohlfahrtsstaates vom Typus der BRD in einem sozialen Netz aufgefangen wird, wenn er wirtschaftlich erfolglos bleibt, ändert nichts daran, dass die an der Spitze der Wohlstandspyramide Stehenden dort »Berge versetzen« können, wo dem »Hartz IV «bzw. Sozialhilfeempfänger gerade mal ein Überleben auf bescheidenster Ebene möglich bleibt. Dass er sich auch damit hierzulande im Verhältnis zu Millionen von Bedürftigen in anderen Weltteilen noch in einer privilegierten Position befindet, ändert wenig an seiner relativen ökonomischen Ohnmacht. Der Traum vom »Zwölfer« im Lotto oder vom »Knacken des Jackpots« wird daher auch von Unzähligen geträumt. Wenn in den 50er- und 60er-Jahren Filmtitel der semantischen Preisklasse von »Wie angle ich mir einen Millionär?« Konjunktur hatten, so wird Derartiges heute etwas weniger plump formuliert. In der Sache freilich bereitet das – wenn auch nur im Roman oder am Bildschirm nachzuvollziehende – Cinderella-(alias Aschenputtel-) Märchen ebenso wohlige Gefühle wie der überraschende Aufstieg des »kleinen Lord«. Wer würde nicht gerne aus der New Yorker Schneiderstube der Jahrhundertwende
Die Anbetung der Macht
ins feudale Schloss des Großvaters umziehen? Gerade im ›Land der (angeblich) unbegrenzten Möglichkeiten‹ werden solche Aufsteigerträume besonders intensiv gepflegt. Wenn die virtù (Machiavelli) stimmt und fortuna lacht, können Derartiges anstrebende »Tellerwäscher« tatsächlich Millionäre werden. Und auch Alkoholschmuggel kann eine wichtige Station auf dem Weg »from the white hut to the White House« werden, wie die irisch-amerikanische Kennedy-Saga belegt. Die Faszination, die von der Macht und von Machthabern ausgeht, teilt sich dem Weg zur Macht mit. Die Märchen – wie auch die Geschichtenerzähler, die Romanciers und die Dichter aller Zeiten huldigen der Magie des Aufstiegs zur Macht. Wie heißt es doch in Theodor Fontanes Ballade aus dem Jahre 1847 über die Karriere des holländisch-französischen Seefahrers Jan Bart: »Matrose, Maat, so fängt er an /Auf der zweiten Reise Steuermann / Auf der dritten Leutnant unter Du Quesney / Auf der vierten Flottenkapitän. Wo Jan Bart erscheint, erscheint der Sieg«. Das Ziel war absehbar: Louis Quatorce ernennt ihn zum Groß-Admiral und Katrin, der er einst »nich Mynheer noog« war, kommt nun zu dem resignativen Schluss: »Wenn ick’t wüßt hätt, hätt ik’t doahn«. Auch Forresters ›Hornblower‹, der Nelson nachempfundene Seeheld, erfährt solchen Aufstieg. Und Generationen von halbwüchsigen Knaben verfolgten seinen Weg zu Macht und Ehre mit heißen Ohren. Die heranwachsenden Mädchen dürfte eher die Romanze der aus reichem Hause stammenden amerikanischen Schauspielerin Grace Kelly gefesselt haben, die (trotz erheblicher Mitgift-Erwartungen des vor der Heirat finanziell klammen Fürsten Rainier von Monaco) den Tausch von Geld und Schönheit gegen nostalgischen Glanz und Glamour einer Fortsetzung ihrer Film-Karriere vorzog. Und neuerdings war es wohl nicht zuletzt der Aufstieg der Studentin Kate Middleton zur Herzogin von Cambridge, der üppigen Stoff für wonnevolle Projektionen bot und nach wie vor weltweit zahllose Boulevard-Journalisten ernährt. Die Anbetung der »Kraft und [der] Herrlichkeit« nicht nur jenseitiger, sondern auch diesseitiger Größe ist ein der ganzen Menschheit gemeinsames Phänomen. Wer das Mittelmaß deutlich überschreitet oder gar einen Spitzenplatz einnimmt, kann (nicht immer zur Freude der Betroffenen) mit einer mehr oder minder
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2. »Herr wir preisen Deine Stärke …«
weitreichenden und einer mehr oder minder intensiven Aufmerksamkeit rechnen. Die besonders Reichen und die besonders Schönen, die besonders Klugen und die besonders Sportlichen, die besonders Phantasievollen und die besonders Einfallsreichen, die seit altersher bekannte Namen Tragenden oder aus irgendeinem anderen Grunde aus dem Grau-in-Grau der gesellschaftlichen Normalität Hervor-Ragenden sind es, die im Rampenlicht der Medien stehen. Über sie wird in Presse, Funk und Fernsehen berichtet, an den Schulen und Hochschulen doziert, an den Stammtischen diskutiert, in den sozialen Netzen parliert und von den Kanzeln gepredigt. Sie Alle verkörpern spezifisch facettierte Machtpotentiale, können direkten oder indirekten Einfluss auf den menschlichen und zwischenmenschlichen Handel und Wandel ausüben. Und genau dies ist auch der Grund für das ihnen zuteil werdende »An-Sehen« bzw. Angesehen-Werden, im Deutschen zuweilen auch zurückhaltender als »Sichtbarkeit« bezeichnet. Schon die Eltern freuen sich, wenn ihr halb- oder einjähriger Sprössling von Freunden und Verwandten als »strammer Kerl« bestaunt wird, der sich dann möglicherweise später noch zum »wandelnden Lexikon« oder zur »Sportskanone« entwickelt und dann vielleicht auch als »toller Hecht« das Auge der Backfische auf sich zieht. Wer an schwäbischen Stammtischen als »Gscheitle« oder (wie der einstige württembergische Ministerpräsident Lothar Späth) auch zeitgerecht als »Cleverle« gehandelt wird, hat es in Politik und Gesellschaft zu etwas gebracht und kann sich der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher sein. Und erst recht gilt dies für solche Zeitgenossen, von denen es (wie einst vom Tausendsassa Franz-Josef Strauß) in Bayern rund um Maibaum und Oktoberfest heißt »A Hund is r’scho«. Während die Anderen unscheinbar bleiben, werden solche (wenn vielleicht auch schillernde) Prachtexemplare der Spezies Homo sapiens von Vielen »angesehen«, bewundert, in Einzelfällen und zuweilen auch geradezu angebetet. Dass es die Macht als solche und die mit ihr verbundenen Attribute und Potentiale sind, die gemeinhin verehrt werden, zeigt die häufig zu beobachtende Tatsache, dass in ihrem »höheren Streben« massiv behinderten Aufstiegswilligen auch von ihren Gegnern Respekt gezollt und Kollaboration angeboten wird, sobald sie sich durchgesetzt haben. Und dies selbst dann, wenn sie von den nunmehr Kollabo-
Die Anbetung der Macht
rationsbereiten zuvor nicht nur heftig bekämpft, sondern darüber hinaus auch verächtlich gemacht und als schlichtweg inakzeptabel betrachtet und bezeichnet wurden. Dieses Phänomen nur als Ausdruck eines opportunistischen Pragmatismus deuten zu wollen greift wohl zu kurz. Stets ist dabei auch so etwas wie ein tendenziell erotischer Mehrwert der Macht im Spiel. Nicht von ungefähr sind im griechisch-römischen Religionsmythos Mars und Venus ein Paar. »Macht macht attraktiv« bemerkt der Politologe Andreas Anter zu Recht.4 Attraktiv wird der Mächtige für weniger Mächtige, aber auch für ebenso oder doch ebenfalls Mächtige. Und er selbst, der Mächtige, ist der Anziehungskraft der Macht ohnedies erlegen. Ehe sie in seiner Person verehrt wird, hat er sie selbst angebetet und sich zu ihr inbrünstig und rauschhaft erhoben. Beispiele für typische Abläufe solcher Machträusche füllen die Annalen der Weltgeschichte bis auf den heutigen Tag. Und auch Mächtige unserer Zeit bekennen sich freimütig dazu. Der lange ungemein einflussreiche einstige amerikanische Außenminister Henry Kissinger gab zu, dass Macht für ihn stärkstes Aphrodisiakum sei. Und der jahrzehntelang die deutsche Politik als Bundesminister und Bayerischer Ministerpräsident maßgeblich mitgestaltende CSU -Vorsitzende Horst Seehofer erklärte gar, dass (Macht-)Politik für ihn »wie eine Sucht« sei.5 Eine Aussage dies, die zweifellos auch für zahllose andere Politiker und darüber hinaus für unzählige in anderen Lebensund Gesellschaftsbereichen Macht Anstrebende oder Ausübende galt und gilt. Zumindest bei unfreiwilligem Machtverlust leiden die Betreffenden daher auch häufig unter heftigen Entzugserscheinungen, die in Einzelfällen bis hin zu raschem körperlichem und geistigem Verfall reichen können, falls es ihnen nicht gelingt, sich neue Dimensionen (nicht zuletzt seelischer) Selbstermächtigung zu erschließen. Dass zumindest allzu inbrünstige Anbetung der Macht sich auch unter diesem Aspekt zu einem alles andere als gefahrlosen Unterfangen entwickeln kann, ist jedenfalls unverkennbar. Wer denkt dabei schon daran, dass zwar nicht die Macht, vielfach aber die Mächtigen dieser Anbetung bedürfen?
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Herkunft und Formen der Macht
3. Wer oder was macht mächtig? Herkunft und Formen der Macht
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3. Wer oder was macht mächtig?
Herkunft und Formen der Macht
3.1 Die Quelle der Macht
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ie wohl deutlichste und nachhaltigste Manifestation von Macht ist die ›Macht des Todes‹ – die Macht, die nicht nur dem menschlichen Leben, sondern allem organischen Leben auf dieser Erde eine offenkundige Grenze setzt. Wo aber entspringt die Quelle dieser Macht? Für den niederländischen Philosophen jüdisch-sephardischer Herkunft Baruch de Spinoza (1632–1677) ist ihr Quellort ohne jeden Zweifel ›Gott oder Die Natur‹ (»Deus sive natura«), wie er in seinem Tractatus theologico-politicus von 1670 schreibt.6 Dass ihn diese Überzeugung für die auf einen persönlichen Schöpfergott Vertrauenden zum pantheistischen Ketzer werden ließ, liegt nahe. Über das christliche Weltbild gibt das Alte und das Neue Testament Auskunft und das bei zahlreichen Gottesdiensten gebetete Glaubensbekenntnis Zeugnis, in dem Gottvater zum »Schöpfer des Himmels und der Erde« erklärt wird. Auf ihn nimmt wohl auch das als Kirchenlied adoptierte Volkslied aus dem 17. Jahrhundert Bezug, in dem es heißt: »Es ist ein Schnitter, der heißt Tod/Hat Gewalt vom höchsten Gott«. Wer immer dieser (in Bildender Kunst und Literatur als »Sensenmann« personifiziert in Erscheinung tretende ›Schnitter Tod‹ aber auch sein mag – als symbolischer Herold und Vollstrecker steht er vor und neben einer zahllose biologische, chemische und
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3. Wer oder was macht mächtig?
im Extremfall auch mechanische Prozesse bündelnden Ursachenkette, die sowohl über die Beendigung bestehenden Lebens als auch über die Entstehung neuen Lebens entscheidet. Ob es sich bei der Aussendung des in Totentänzen und Jedermann-Spielen augenfällig werdenden Sensenmannes bzw. in der Auslösung und Förderung pathologischer Verursachungsketten um einen gottgewollten Delegationsprozess handelt, ist eine Glaubensfrage. Dass sie – zumindest in der westlichen Welt – zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Bewusstseins stünde, wird kaum mehr jemand behaupten können. Unleugbar ist freilich, dass die Sehnsucht nach Geborgenheit und das Bedürfnis nach Reduktion von Komplexität zahlreiche Menschen (insbesondere nach persönlichen Lebenskrisen) selbst inmitten einer weithin säkularisierten Welt dazu bringt, an einen persönlichen Gott als Urheber aller Dinge zu glauben. In einer archaischen Weise gilt dies wohl selbst für die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte. Und wenn die theologischen, archäologischen, historischen, sprach- und naturwissenschaftlichen Kontroversen über Entstehung und Aussagekraft des (zwischen dem 3. und dem 9. vorchristlichen Jahrhundert nach und nach schriftlich fixierten) Alten Testaments im Allgemeinen und des 1. Buches Mose im Besonderen auch ganze Bibliotheken füllen, so ist es doch nicht nur den (die Genesis wortwörtlich verstehenden) sog. Kreationisten und Evangelikalen, sondern auch der ganzen Christenheit eine »Heilige Schrift«, seit es – trotz seiner heterogenen Entstehungsweise um die Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert n. Chr. mit dem Neuen Testament zum Grunddokument der christlichen Lehre – der »Bibel« – zusammengefasst wurde. Zwar werden seit geraumer Zeit selbst von dem – sich als Hüter der »reinen Lehre« verstehenden – Vatikan mehr oder weniger mutige Versuche unternommen, die im ersten Buch Mose enthaltene Schöpfungsgeschichte im Lichte naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu interpretieren und damit auch zu relativieren; der elementaren Sprachmagie der Genesis wird sich aber wohl kaum ein Leser (und erst recht kein in dieser Lehrtradition aufgewachsener Christ) völlig entziehen können. Nicht zuletzt gilt dies für die große Delegationsformel, in und mit der den ersten Menschen von ihrem Schöp-
Herkunft und Formen der Macht
Abb. 4: Moses empfängt die heiligen 10 Gebote, Darstellung aus der KinderBilderbibel von Julius Schnorr von Carolsfeld (Holzschnitt 1860)
fer alle Macht auf Erden übergeben wird: »Gott segnete sie«, heißt es da, »und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde, und macht sie euch unterthan, und herrschet über Fische im Meer und über Vögel unter dem Himmel, und über alles Getier, das auf Erden kreucht.« (1 Mose 1,28). Jenseits aller Freude an Poesie und Sprachmagie freilich steht das Nachdenken über die einem ersten Schöpfungsimpuls (sei es nun der »Urknall« oder eine andere Manifestation himmlischer Macht) folgenden Evolutionsprozesse. Spätestens seit der Publikation von Charles Robert Darwins (1809–1882) Werk über »Die Entstehung der Arten« (1857) steht die Diskussion über das Schicksal des pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens im Banne der Evolutionstheorie dieses englischen Theologen und Naturwissenschaftlers, der die Elemente seiner Theorie auf ausgedehnten Forschungsreisen gewann. Sowohl der Entstehung als auch der Weiterent-
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wicklung der Arten liegen nach Darwins Theorie die Prinzipien Variation und Selektion zugrunde. Mit diesem Bewegungsstil von Differenzierung und Auswahl antworten die um Fortbestand und Fortschritt konkurrierenden Arten auf die naturbedingte Herausforderung, sich in – möglicherweise ständig sich verändernden – Lebensräumen zurechtfinden und behaupten zu müssen. Den Fortbestand und Fortschritt erfolgreicher Arten im allgegenwärtigen Anpassungs- und Wettkampf um einen Platz an der Sonne erklärt Darwin als das »Überleben der Tüchtigsten« (Survival of the fittest). Trieb- und Schwungkraft dieses Prozesses ist der jeder Spezies innewohnende Lebens- und Überlebensimpuls, ihr elan vital, wie Henri Bergson ihn in seinem 1907 erschienenen Werk »L’evolution creatrice« benannt hat. Dieser elan vital kann nicht zuletzt als Machtpotential, und sein Einsatz zur Sicherung des Fortbestands und zur Förderung des Fortschrittes der jeweils in Frage stehenden Gattung oder des in Frage stehenden Lebewesens als Machtausübung gedeutet werden. Je größer der elan vital, desto größer das Machtpotential und damit auch die Chance, zum jeweiligen Evolutionserfolg beizutragen. Dass auch Nietzsches Sozialphilosophie bis zu einem gewissen Grade Geist vom Geiste Darwins ist, ist unverkennbar. Wenn er sich in seinem (1887, d. h. also wenige Jahre nach dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk abgeschlossenen) ›Willen zur Macht‹ vom »Darwinismus« distanziert (§§ 681–684), so vor allem deshalb, weil er sein Augenmerk im Gegensatz zu Darwin nicht auf die Weiterentwicklung der Gattung, sondern vielmehr auf die Züchtung des »höheren Menschen« oder »Übermenschen« richtet, dessen machtvolle Antriebs- und Fortschrittskräfte sich aus Nietzsches Sicht nicht an äußere Lebensräume anzupassen, sondern sich diese vielmehr zu unterwerfen suchen. Das trotz dieser Differenz bestehende Konvergenzpotential ist jedoch unverkennbar. Jenseits von Nietzsches Lust am Widerspruch und an provokanter Zuspitzung geht es beiden Denkern um den Einblick in die Gesetzlichkeiten einer ständigen Weiterentwicklung des Lebens. Und gemeinsam ist ihnen auch die Erkenntnis, dass die jedem Lebewesen innewohnenden Lebenskräfte sowohl Bedingung als auch Garant für diesen – von
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Abb. 5: Thomas Hobbes, Gemälde von John Michael Wright (Ölgemälde 1669–1670)
Darwin eher aufs Kollektiv, von Nietzsche eher aufs Individuum zielenden Evolutionsprozess sind. Diesen zielorientierten Lebenskräften gilt Nietzsches besonderes Interesse. »Wo ich Lebendiges fand, fand ich (den) Willen zur Macht«, heißt es in »Also sprach Zarathustra«7 und: »Alles Geschehen aus Absicht«, schreibt er in § 663 des »Willens zur Macht«, »ist reduzierbar auf die Absicht der Mehrung von Macht. Mit dieser Überzeugung kommt Nietzsche einem anderen bedeutenden Engländer, dem Staatsphilosophen Thomas Hob-
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bes (1588–1679) nämlich, nahe, der in seinem ›Leviathan‹ aus dem Jahre 1651 »den unstillbaren und nagenden Hunger nach Macht und abermals Macht, der erst im Tode endet«8 zur anthropologischen Grundlage der conditio humana erklärt. In dem von Hobbes konstruierten logischen Mythos eines vorstaatlichen Naturzustandes drohen daher auch ständig Rivalitätskämpfe der um begehrenswerte Positionen und Güter wetteifernden menschlichen Wölfe. Ein potentieller Krieg Aller gegen Alle hängt daher auch als Damoklesschwert über jeder nicht rechtlich-politisch verfassten und verwalteten Gesellschaft. Die potentiellen Konsequenzen des unstillbaren Hungers nach Macht werden im Menschenbild des großen englischen Skeptikers eher leidvoll gesehen – sie können in einem Leben enden, das sich (wie der Hobbes’sche Naturzustand) »solitary, poor, nasty, brutish and short«9 anfühlt. Hobbes weiß zwar, wie sich die Menschen – aus dem vorstaatlichungehegten und daher besonders riskanten in einen staatlich-gehegten und daher weniger riskanten – soziopolitischen Zustand retten können. An der seelischen Grundverfassung des Menschen jedoch kann sich im Lichte seiner – auf eine Leugnung der Willensfreiheit und eine sensualistisch akzentuierte physiologische Psychologie gründende – Anthropologie auch im staatlichen Zustand nichts oder doch wenig ändern. In jedweder soziopolitischen Situation bleibt es aus dieser Hobbes’schen Perspektive beim menschlichen Urtrieb zur Erhaltung des eigenen Lebens und dem Urtrieb zur Entfaltung der eingeborenen Kräfte. Mit dieser physiologischen und psychologischen Grundausstattung treten die Menschen in einen steten Wettkampf mit ihren Artgenossen, ob sie sich nun hochriskant-ungehegt im vorstaatlichen oder aber verhalten-gehegt im staatlichen Zustand bewegen. Als Glück empfinden sie jeden Fortschritt, als Unglück jeden Rückschritt in diesem Wettlauf. »Stets besiegt werden (ist) Unglück; Stets den Nächsten vor uns besiegen ist Glück, Und das Rennen aufgeben heißt Sterben.«10 Letztlich sind es nur Nuancen, die diese auf Konkurrenz fixierte Hobbes’sche Anthropologie von den Grundannahmen von Nietz-
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sches ›Wille(n) zur Macht‹ unterscheiden. Der Hauptunterschied dürfte darin liegen, dass Hobbes den unstillbaren Machthunger als eine der gesamten Menschheit eignende Eigenschaft betrachtet, dessen freiwillige Abmilderung durch das ungeschriebene Naturgesetz er für wünschenswert hält, während Nietzsche sein Augenmerk vor allem auf den Willen zur Macht der »höheren Menschen« richtet, die das ständig geschmähte, sich durch »die kleinen Tugenden«, die »kleinen Klugheiten« und die »Sandkorn Rücksichten« zähmen lassende Mittelmaß weit hinter sich lassen.11 Auf sie setzt er seine Hoffnung, dass der (jetzige) Mensch »ein Übergang« sein wird »und ein Untergang«. Und an ihn denkt er in erster Linie, wenn er von der »Lust am Schaffen und am Geschaffenen« spricht. Dass sich der Autor des ›Wille(ns) zur Macht‹ ebenfalls zu diesen »höheren Menschen« gezählt hat, dürfte außer Frage stehen. In seiner undifferenzierten Apodiktik ist Nietzsches viel zitierter Ausruf »Ich strebe nicht nach meinem Glück, sondern nach meinem Werke« im Lichte dieser »Lust am Schaffen« aber schwer nachvollziehbar. Zur Deutung der Herkunft des Phänomens der Macht verweist auch Nietzsche – wenngleich vergleichsweise vage – auf naturwüchsige Prozesse. Den »Willen zur Akkumulation von Kraft« erklärt er als »spezifisch für das Phänomen des Lebens, für Ernährung, Zeugung, Vererbung – für Gesellschaft, Staat, Sitte, Autorität.« »Alle Prozesse«, so fährt er fort, »haben hier ihren Hebel: nichts will sich [bloß] erhalten, alles soll summiert und akkumuliert werden. Das »Aneignen, Herr-werden, Mehr-werden, Stärker-werden-Wollen« sei als eine Art von »Grundwille(n)« die einzige Realität«.12 Mit einer rhetorischen Frage wird dieser Grundwille dann mit dem »gesamte(n) organische(n) Prozeß«13 und damit dem »innerste(n) Wesen des Seins«14 in Verbindung gebracht: »Sollten wir diesen Willen nicht als bewegende Ursache auch in der Chemie annehmen dürfen? – und in der kosmischen Ordnung?« Auch der Gott-ist-tot-Philosoph Friedrich Nietzsche weiß mithin keinen anderen Quellort der Macht zu benennen als Baruch de Spinoza. Wie man es semantisch auch dreht und wendet – es bleibt da-
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bei: Urheber des Phänomens der Macht und des allgegenwärtigen Willens zur Macht ist und bleibt »Deus sive natura«, wobei es einem jeden über ›Gott und die Welt‹ Nachdenkenden unbenommen bleibt, diese Formel alternativ oder synonym zu verstehen.
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3.2 Die Wege zur Macht
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ie Wege zur Macht bedingen die Formen der Macht und der Machtausübung, weshalb sie hier vorab skizziert werden sol-
len. »Viele Wege führen nach Rom« sagt das Sprichwort. Und es ist wohl kein Zufall, dass gerade Rom als uraltes Zentrum zunächst politischer und dann auch spiritueller Macht in diesem Sprichwort als Zielort genannt wird. Auch zum Zielort Macht (und damit der Möglichkeit zur Machtausübung) führen viele Wege. Ein elementarer, die (Primär-)Zeugung der Welt durch den »Schöpfer von Himmel und Erde« spiegelnder Weg zur Macht ist die biologische (Sekundär-)Zeugung neuen Lebens. Sie begründet die – wenn auch zeitlich, rechtlich und moralisch mehr oder minder begrenzte – »elterliche Gewalt« über Kinder und (je nach soziokulturellem Kontext auch noch) Kindeskinder. Ein anderer dieser Wege kündigt sich bereits in einer, wenn nicht der Grundform der Macht an – der »Herrlichkeit« nämlich. Was sprachlich als Eigenschaft, Erscheinungsform oder Begleiterscheinung einer herausragenden bzw. (wie im ›Vater-Unser‹) einer alles überragenden Machtposition beschrieben wird, enthält bereits den Hinweis auf die wohl historisch wichtigste Begründung einer Machtposition – die kriegerische Eroberung nämlich. Der Begriff des Herrschers (althochdeutsch hērisāri15) entstammt zwei – auch dort in aller Regel verbunden auf-
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tauchenden – Sanskrit-Wurzeln: hri (= erhalten, fangen, rauben, mit Gewalt nehmen) und arya (=edel, gütig, ehrbar). In hari om, einem der Namen des bewehrten Gottes Vishnu entspricht der Begriff in etwa dem deutschen »Herrgott«. Entscheidend ist die dem Begriff innewohnende Entstehung der machtbegründenden ›Herrschaft‹ – das gewaltsame Nehmen, die kriegerische Eroberung. Auch sie wie die Erhaltung dieser Herrschaft setzt die Ausbildung körperlicher und geistiger Kraft voraus, wirkt dann aber auf mehr oder minder lange Zeit hinaus statusbildend und statussichernd. Als Dreischritt von Nehmen, Teilen und Weiden hat Carl Schmitt diesen Prozess in seinem Spätwerk »Der Nomos der Erde und das Ius publicum europaeum« beschrieben. Wie die Macht als soziales Phänomen hat auch die Eroberung viele Gesichter – im strukturellen Kern freilich gleichen sich ihre Folgen. Ob – wie nach der Schlacht von Hastings oder der im selben Jahr 1066 erfolgten Eroberung Siziliens durch die Normannen – die Landnahme zum Austausch des gesamten einheimischen, das Land flächendeckend beherrschenden, Feudaladels führt oder ob es nach einem Putsch oder einem Staatsstreich in (halb-)autoritär regierten Ländern zu einem Austausch der herrschenden Cliquen kommt, oder ob nach sog. Erdrutsch-Wahlen in westlichen Demokratien alle politischen Führungsämter und zahlreiche Verwaltungsämter mit Anhängern der siegreichen Partei(en) besetzt werden, markiert lediglich einen graduellen, nicht aber einen essentiellen Unterschied. Der Archetypus der Machtgewinnung freilich ist die kriegerische Landnahme, was in der deutschen Sprache nicht nur im Begriff des Herr-Werdens, der Herr-schaft, des Herrschers, der Herrschaftlichkeit, der Herrlichkeit und evtl. auch der Selbstbeherrschung (»Man muss seine eigene Stadt benachrichtigen« heißt es im I Ging, dem ältesten Weisheitsbuch der Welt, wenn von der Notwendigkeit der Selbstbeschränkung die Rede ist16) zum Ausdruck kommt, sondern auch in der umgangssprachlichen Redewendung des ›Etwas Kriegens‹. Schon das Kind fragt die Eltern »Kriege ich ein Eis?«, obwohl es dabei – außer der evtl. nervigen Wiederholung dieser eine unverkennbare Bitte enthaltenden rhetorischen Frage – schwerlich an den Einsatz »kriegerischer Mittel« denkt. Eine Art von Eroberung ist ein Erfolg dieses Vorstoßes dann aber doch … Und wenn es die Eltern
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Abb. 6: Eroberung Jerusalems durch Kaiser Titus (70 n. Chr.), Gemälde von Nikolaus Poussin (1635)
bei ihren Gesprächen belauscht, oder auch beim Spielen nur ›halb hinhört‹, wenn diese diskutieren, »kriegt« es doch einiges »mit«, macht es en passant noch (Informations-)Beute. Auch die Aufrüstungsbemühungen des Reisenden, der seinen Zug noch »kriegen« will, halten sich vermutlich in Grenzen. Der kriegerische Weg zur Macht führte stets zur Herrschaft über Land und Leute, wobei unverkennbar ist, dass sich diese Herrschaft über Land und Leute zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich intensiv gestalten kann und konnte. Die einfachste Form der Beherrschung war stets der Austausch des flächendeckend das Land beherrschenden Adels. Wenn dies geschah, mussten die Eroberer
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aber auch mit ausreichender Heeresmacht in das Land eingefallen sein und die Bevölkerungszahl und Widerstandskraft der unterworfenen Bevölkerung entsprechend niedrig entwickelt (gewesen) sein. Selbst in den Zeiten der Völkerwanderung des 4. – 6. Jahrhunderts als ganze Völker wehrhaft in das Territorium des Römischen Reiches einbrachen, bedurfte es großer Regierungskunst, um die Landnahme abzusichern. Vergleichsweise wenigen Heerkönigen (wie etwa dem Ostgotenkönig Theoderich und dem Vandalenkönig Geiserich) ist dies dank ihrer staatsmännischen Fähigkeiten – zumindest auf Zeit – gelungen. Auch in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart spielte und spielt der – freilich stets nur partiell mögliche oder auch nur zweckmäßige – Austausch der bisherigen Funktionseliten, zumindest aber ihre zumeist mehr oder minder freiwillig erfolgende politische Assimilierung eine bedeutsame Rolle bei der Neuordnung und der Annäherung eines militärisch besiegten Landes an die Interessenlage der siegreichen Macht. Viel mehr allerdings ist kaum zu erreichen. Über heutige bevölkerungsreiche Flächenstaaten auf hohem zivilisatorischem Niveau lassen sich zwar militärische Siege erringen und vielleicht auch Beutestücke (Ölquellen, Militärbasen, Handelsvorteile) gewinnen. Dauerhaft beherrschen lassen sie sich nicht. Die Geschichte von Kolonialisierung und Entkolonialisierung spricht eine deutliche Sprache. Je weiter die zivilisatorische Entwicklung und die wirtschaftliche Verschränkung der sich zunehmend globalisierenden Welt wächst, desto geringer bzw. kurzfristiger ist die Rolle, die kriegerische Eroberungen spielen können, obwohl sie paradoxerweise zur vorübergehenden Entspannung von soziopolitischen, sozioökonomischen und zuweilen auch soziokulturellen Spannungszuständen beitragen können. Der größte Nutzen, den ein militärischer Siegerstaat aus der militärischen Niederlage seines Gegners ziehen kann, besteht in dessen soziopolitischer und sozioökonomischer Akkulturation – ein Weg, den u. a. die U. S. A. und ihre westlichen Verbündeten nach dem Sieg über Nazi-Deutschland mit Erfolg gegangen sind. Sich den ehemaligen Gegner zum freiwillig Verbündeten zu machen, ist allemal die erfolgreichste Methode, den eigenen Einfluss auszuweiten. Eine wirtschaftliche Ausbeutung hingegen (in Form der Deportation von Rohstoffen und Infrastrukturgütern etwa), wie sie nach dem
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1. Weltkrieg von Frankreich im Ruhrgebiet und von der Sowjetunion nach dem 2. Weltkrieg in Ostdeutschland praktiziert wurde, verspricht höchstens einen kurzfristigen Machtgewinn, erweist sich jedoch mittel- und langfristig zumeist als politisch eher kontraproduktiv. Die kriegerische Eroberung ist im Übrigen nur ein Weg zur Gewinnung von Herrschaftsmacht. Ein anderer, sanfterer, aber kaum weniger zielführender Weg zur Macht führt über Geld und Gold. »Alles hänget, alles dränget zum Golde«, heißt es in Goethes »Faust«. Geld regiert die Welt (wie das Sprichwort weiß), weil es das Tauschmittel schlechthin darstellt, gegen das sich (fast) alle Güter der Erde tauschen lassen und dem die Menschen daher auch nahezu ausnahmslos verfallen zu sein scheinen. Der Besitz von Geld bedeutet wirtschaftliche Macht und damit indirekt auch Macht über Menschen, die auf den Erwerb dieses Tauschmittels angewiesen sind, um ihr Leben fristen oder aber – auf höherem sozialem Niveau – sich ein Wohlfühl-Leben ihrer Wahl leisten zu können. Geld erkauft ihre Arbeits- oder Wehrkraft. Man denke an die Arbeiterheere der jüngeren Vergangenheit wie auch der Gegenwart. Man denke an die Söldnerheere aller Zeiten – oder auch noch die im Irak-Krieg von den U. S. A. eingesetzten »Sicherheitsdienste«. Indirekt erkauft Geld damit auch die Willens- und Entscheidungsrichtung unzähliger Menschen – und selbstverständlich auch unbewegliche und bewegliche Besitztümer jeglicher Art: Wälder, Wiesen, Äcker, Seen oder auch Schlösser, Höfe, Häuser, Wohnungen und alles, womit man sie ausstatten kann. In früheren Zeiten ließen sich Herrschaftsrechte über Länder, Städte und Dörfer (samt zugehöriger Adelspatente) kaufen, verkaufen oder verpfänden. Später kamen dann Wähler- und Parlamentarierstimmen auf diesen nur mühsam verhüllten Markt, auf dem sich die Verhaltensoptionen von Amtsträgern verschiedenster Art schon seit eh und je befanden. Dass sich Zuneigung und eheliche Verbindungen (»Liebe vergeht, Hektar besteht« lautet eine altüberlieferte bäuerliche Faustregel), ganz zu schweigen von ›sexuellen Dienstleistungen‹, ebenso erkaufen ließen und lassen wie Loyalität, Gefolgschaft, Freundschaft und andere Gesellungsformen, ist ein romantischen Reinheitsvorstellungen wenig behagendes,
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Abb. 7: Jakob II Fugger verbrennt Karls V. Schuldschein, nach einem Gemälde von Karl Becker (Gemälde von 1866)
gleichwohl kaum zu leugnendes Faktum. Schon vor dem endgültigen Sieg der Geldwirtschaft, der letztendlich zu einer Marginalisierung der Agrarwirtschaft und zu einer Assimilierung von (Groß-) Bürgertum und Adel führte, war der Weg zu Macht und Einfluss stets mit Gold und Silber gepflastert. Ohne den (1477) erheirateten Reichtum der Erbtochter Karls des Kühnen, Maria von Burgund, wären die Habsburger Kaiser Friedrich III und Maximilian nicht mehr regierungsfähig gewesen. Ohne das Bestechungsgeld der Fugger wäre Maximilians Enkel Karl V (1519) nicht zum Kaiser des Hl. Römischen Reiches gewählt worden.
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Ohne das geraubte Gold der Inkas hätte König Phillipp II von Spanien weder die bei Lepanto (1571) siegreiche Flotte seines Halbbruders Don Juan d’Austria noch die (1588) England bedrohende Armada und die Besatzungstruppen des Herzogs von Alba in den Niederlanden finanzieren können. Wenige Beispiele dies aus dem knappen Zeitraum der europäischen Renaissance – Beispiele aber, die sich in dieser und ähnlicher Art in alle zeitlichen und räumlichen Richtungen ausweiten ließen. Nach der industriellen Revolution und der weltweiten Ausbreitung der Industriegesellschaft im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wurde ›die Wirtschaft‹ vollends zur Basis, zum Mittelpunkt und zur Garantin auch der (innen- und außen)politischen Machtstellung eines Gemeinwesens. Blüht die Wirtschaft, fließen die Steuereinnahmen des Staates. Fließen die Steuereinnahmen des Staates, hat dieser die Mittel zu sozialem Ausgleich und Ausbau der Infrastrukturen im Inneren wie auch zur Finanzierung der seinen Rang in der Staatengesellschaft bedingenden außenpolitischen Ziele. Dass die höhere wirtschaftliche Effizienz des Westens während der Zeit des ›Kalten Krieges‹ nicht nur zu seinem stärkeren militärischen Aufrüstungspotential, sondern auch zu seiner höheren sozioökonomischen und soziokulturellen Anziehungskraft führte, den politischen Verfall der Sowjetunion beschleunigte und schließlich auch die Beseitigung des ›Eisernen Vorhangs‹ erzwang, ist unverkennbar. Letztlich setzt sowohl die Entstehung als auch die Erhaltung jeglicher Form von politischer Macht nicht zuletzt ökonomische Stärke voraus, auch wenn dies nicht immer sofort erkennbar ist. Was früher hoch zu Ross und mit dem Schwert in der Faust erobert wurde, wird heute mit der Börse, dem Überweisungsblock, dem Scheckbuch – oder zuweilen auch durch die Gewährung von Handelsvorteilen oder sonstigen »politischen Dienstleistungen« vom Kaliber des europäischen Flüchtlingsdeals mit der Türkei erworben. Auch das einstige Schwert des Eroberers aber ließ sich der Schmied mit Silber und Gold bezahlen. Und wer während der Zeit des Feudalsystems als Vasall nicht selbst reiten konnte oder wollte, musste »Ross und Reiter« samt deren Ausrüstung stellen und finanzieren.
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Für den einzelnen Bürger führt der Weg zu politischen Machtstellungen in den – bestenfalls annäherungsweise demokratischen – Titulardemokratien unserer Tage im Regelfall über die in Wahlen und Abstimmungen um die politische Macht kämpfenden Parteien. Will er an einflussreicher Stelle an politischen Entscheidungsprozessen teilhaben, muss er sich einer politischen Partei anschließen, sich innerhalb dieser Partei eine einflussreiche Position erarbeiten und dann an Wahlen zu den Legislativorganen auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene teilnehmen. Mit der innerparteilichen Erkämpfung einer Kandidatur ist die erste Erfolgsetappe erreicht. Die nächste kann nur über einen Wahlerfolg gelingen. Der Weg zu einem solchen Wahlerfolg aber führt über die Beeinflussung und Überzeugung des jeweiligen Wahlvolkes, für die eigene Partei bzw. für die eigene Person zu stimmen. Es gilt mithin, die Erwartungshaltung der Wähler oder doch einer großen Zahl von Wählern zu erkunden und die eigene Wahlwerbung durch Abgabe von dieser Erwartungshaltung entsprechenden Wahlversprechen zu fördern. Die Ermittlung der jeweiligen Erwartungshaltung lassen sich die interessierten Parteien einiges kosten. Da der Selbstbedienung der Parteien aus Steuermitteln in der Regel Grenzen gesetzt sind, sind sie auch auf die Einnahme von Mitgliedsbeiträgen und Spenden angewiesen, um die direkten und indirekten Ausgaben für die Wahlwerbung finanzieren zu können. Dabei geht es keineswegs nur um die unmittelbare Vorbereitung der Wahlen mit Plakaten, Zeitungsanzeigen, Werbefilmen, Wahlveranstaltungen etc., sondern auch um die mittelbare Dauerbeeinflussung potentieller Wähler durch die Arbeit parteinaher Stiftungen, Zeitungen, Zeitschriften etc. Auch dieser Weg zur Macht ist mithin kaum ohne erheblichen ökonomischen Rückenwind erfolgreich zu gehen, wobei es auch zwischen den westlichen Titular-Demokratien deutliche Unterschiede hinsichtlich der Rekrutierung (und der Rolle des Einsatzes) von Spendengeldern gibt, denen z. B. in den U. S. A. eine zumeist wahlentscheidende Bedeutung zukommt. Eine besondere Bedeutung gewinnt zunehmend das sog. crowd-funding, d. h. also das Einsammeln von Spendengeldern durch Internet-Aufrufe – ein Weg, der inzwischen von vielen gemeinnützigen Institutionen beschritten wird,
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Abb. 8: Niccolo Machiavelli, Detail aus einem Gemälde von Santi di Tito (Gemälde von 1600)
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der aber auch im Kampf um die politische Macht in wachsendem Maße genutzt wird. Als beispielsweise Indizien für Unregelmäßigkeiten bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen des Jahres 2016 auftauchten, konnten im Handumdrehen zweieinhalb Millionen Dollar durch einen Internet-Aufruf gesammelt werden, um die Überprüfung der Wahl im Bundesstaat Wisconsin finanzieren zu können. Wie alle Wege zur Macht setzt aber auch dessen erfolgreiche Begehung das Vorhandensein einer Vielzahl weiterer Faktoren voraus – überlegene Strategie und Taktik, Beachtung der Zeitumstände, Nutzung der Zufallsgunst der Stunde und »Fortune« – all das also, was schon Niccolo Machiavelli in seinem Buch über den Fürsten von 1514/32 als Voraussetzung für die Erringung und die Erhaltung der Herrschaftsmacht genannt hat: überlegene Führungskraft (virtù) nämlich, die ein Gespür für die Erfordernisse der Zeit (qualità dei tempi) entwickelt und den schnellen Zugriff auf jede günstige Gelegenheit (occasione) wagt.17 Finden sich all’ diese Eigenschaften in der Person eines Machtstellungen Erstrebenden oder bereits Innehabenden, so wird ihm zumeist auch die Schicksalsgöttin Fortuna ihre Gunst nicht verweigern. Ihm winkt freie Bahn zu allen nur vorstellbaren Zielorten der Macht in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dass der Weg zur Macht zuweilen selbst bei demokratischen Wahlen und Abstimmungen in Form einer Sicherung der eigenen Gefolgschaft durch Aufbau eines mehr oder minder aggressiv verzerrt gezeichneten Feindbildes erfolgt, gehört zu den am wenigsten erfreulichen Begleiterscheinungen solcher Aufstiegskämpfe. Zu welchen grotesken Auswüchsen diese uralte Strategie der Machtgewinnung (bei der es sich um das zivile Pendant zum militärischen Eroberungskrieg handelt) führen kann, hat der Wahlkampf des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump im Jahre 2016 und im folgenden Jahr der Kampf des türkischen Präsidenten Erdogan um sein konstitutionelles »Ermächtigungsgesetz« der Weltöffentlichkeit auf drastische Weise vor Augen geführt. Neben Hauptstraßen, Chausseen und Alleen, die zu soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Machtpositionen führen, gibt es aber auch zahllose Nebenstraßen, Gässchen und
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versteckte Pfade, die zwar auf den ersten Blick nicht steilen Aufstieg versprechen, deren Begehung einen solchen jedoch oft genug zur Folge haben. In jedem Lebensbereich folgen diese Wege spezifischen Trassen, die den Aufstiegswilligen zumeist wohlbekannt sind, die aber auch lediglich sachorientiert Wandernde zuweilen zu hohen Zielen führen. Angesichts ihrer Vielgestaltigkeit können solche spezifischen Routen hier höchstens exemplarisch erwähnt werden. Einige Beobachtungen allerdings lassen sich für all’ diese Routen festhalten. Ein zwar eher seltener – aber auch nicht allzu seltener – Weg zu politischen Positionen von Macht und Einfluss führt für – dann sogenannte – »Quereinsteiger« über Spitzenpositionen in jeweils anderen Gesellschaftsbereichen, die im politischen Ringen der Parteien um die Macht im Staat oder im wirtschaftlichen Erwerbskampf nützlich sein können. In ähnlicher Weise kennt die soziale Praxis den Rückweg von Politikern, die sich – aus welchen Gründen auch immer – aus dem politischen Hick-Hack absetzen wollen oder die mit mehr oder minder sanftem Druck ihrer Partei – oder Regierungsspitze Anderen Platz machen sollen und daher abgefunden werden müssen, um ihnen den (auf diese Weise machbaren) lautlosen Abschied schmackhaft zu machen. Sie werden dann in mehr oder minder lukrative Spitzenpositionen verschoben, auf deren Besetzung die Regierungs- oder die Parteispitze entscheidenden Einfluss ausüben können. Aus Ministern oder Ausschussvorsitzenden werden dann u. a. üppig honorierte Bank-, Bahn- oder Stiftungsvorstände. Dieser komfortable Ausstieg aus der Politik (wie auch der umgekehrte des Quereinstiegs in die Politik) steht aber eben nur Denjenigen offen, die es ohnedies schon geschafft haben. Wer diesen Weg noch vor sich hat, muss ihn »von unten« beginnen. »Wer herrschen will, muss [zuvor] dienen« lautet eine althergebrachte Aufstiegs-Weisheit. Wie hatte es doch in der zitierten Ballade Theodor Fontanes geheißen: »Matrose, Maat, so fängt er an … auf der dritten Reise Steuermann …«18. Eine derartige Stufenleiter des Aufstiegs kennt jeder Beruf: Lehrling-Geselle-Meister heißt es im Handwerk, Assessor-Rat-Oberrat-Direktor bei den Beamtenlaufbahnen des Höheren Dienstes, Hilfskraft-Assistent-Dozent-Professor an den Universitäten. Vielfach, wenn nicht in aller Regel, spielt dabei die Wahl dessen, dem der Aufstiegswillige am Anfang
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seiner Laufbahn zugeordnet wird (oder dem er sich selbst anvertraut) eine äußerst wichtige Rolle. Vom Einfluss der Familie und der durch sie (vor allem, aber keineswegs ausnahmslos und auch nicht ausschließlich) in der Oberschicht und der gehobenen Mittelschicht vermittelten Sozialisations- und Bildungsvorteile braucht hier nicht die Rede zu sein. Sie sind hinreichend bekannt, erklären Vieles, aber beileibe nicht Alles, zumal jede Art von sozialem Einfluss auf ein gerüttelt Maß an ebenfalls schicksalhaften karmischen, astrologischen und genetischen Erbanlagen trifft. Nach und neben der Familie sind es nicht zuletzt die Mentoren, die ihre Hand über den jungen Aufstiegswilligen halten – die Lehrer (früher oft: Pfarrer), Meister, Professoren, die ersten Vorgesetzten in jedweder Berufssparte, bei Politik-Adepten die Abgeordneten, denen sie zur Hand gehen. In fast jeder Biographie oder Autobiographie erfolgreicher Menschen werden solche Wegbereiter und Aufstiegsleitern-Halter erwähnt. Wie Kletterrosen Hauswände mit Hilfe eines Spaliers erklimmen, so sind es oft auch ganz bestimmte Persönlichkeiten, die den Aufstiegswilligen den Weg zu einer hervorgehobenen Lebensposition weisen. Dies gilt für die Politik, für die Wirtschaft und für die Wissenschaften mit ihren zum Teil para-feudalen Karrierestrukturen. Beobachtbar sind solche Strukturbildungstendenzen auch bei Sportler- und SportorganisationsKarrieren und sogar in den Künsten. Auch gilt es nicht zuletzt für die Kirchen. Wer kirchlichen Magnaten – etwa den Bischöfen, Kardinälen oder gar Päpsten selbst irgendwann – durch Herkunft, Lebensweg oder Zufall (vielleicht auch persönlich) näherkommen konnte, hat größere Chancen, Bischof, Erzbischof oder gar Kardinal zu werden als Diejenigen, bei denen dies nicht der Fall ist. Beispiele hierfür kennt schon jeder aufmerksame Zeitungsleser. Und über noch mehr Beispiele kann berichten, wer Kenntnis von Zusammenhängen hat, die auch den Medien verborgen blieben. Es ist dies keineswegs (oder doch nur in Ausnahmefällen) ein Skandal, sondern entspricht dem allen Menschen mehr oder minder vertrauten Bewegungsstil. Wer würde nicht im Bedarfsfall den Arzt oder Rechtsanwalt konsultieren, auf dessen Expertise und Vertrauenswürdigkeit er vertraut, wer nicht den Handwerker rufen, den er kennt und von
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dem er glaubt, dass er seine Arbeit gut und preiswert verrichtet und nicht später noch hinter dem Rücken des Auftraggebers über dieses oder jenes lästert! Die Grenzen zur vielkritisierten »Vetternwirtschaft« freilich sind fließend. Überschritten werden sie überall dort, wo aufstiegsfördernde Empfehlungen oder (bei entsprechenden Machtbefugnissen) Beförderungen ohne Rücksicht auf die Kompetenz der Betreffenden nur deshalb vorgenommen werden, weil man die Betreffenden kennt oder weil man ihnen einen Gefallen schuldet oder auch nur – in der Hoffnung auf spätere Gegenleistungen – erweisen möchte. Die genannten sozialen Aufstiegshilfen bilden freilich nur ein mehr oder minder stabiles oder labiles Gerüst. Über den Erfolg seiner Nutzung entscheiden letztlich doch die dem Aufstiegswilligen eignenden Geistesgaben und Charaktereigenschaften. Ohne deren zielstrebigen und stimmigen Einsatz wird auch ein noch so wohlgebahnter Weg zu einer wie auch immer beschaffenen Führungsposition nicht erfolgreich begangen werden können. Da jeder Weg seine Besonderheiten hat und sowohl der ihn Gehende selbst als auch die ihm auf diesem Weg Begegnenden und die ihn auf diesem Weg Begleitenden ebenfalls ihre nicht verallgemeinerungsfähigen Besonderheiten aufweisen, kann höchstens noch auf Qualitäten hingewiesen werden, die sich auf jedem Weg zu einer wie auch immer beschaffenen Machtposition (wenn auch nicht ausnahmslos) als hilfreich erweisen: Zur Zielstrebigkeit, Willensstärke und Flexibilität müssen sich Charaktereigenschaften gesellen, die Jedermann Vertrauen und niemandem (zumal nicht den eigenen Steigbügelhaltern) Angst vor künftiger Übermächtigkeit und Überflügelung einflößen. Zuverlässigkeit gehört zu diesen Qualitäten, Sachlichkeit und Bescheidenheit im Auftreten. »Mit dem Hut in der Hand kommt man gut durchs Land« lautet eine alte Umgangsregel. Persönlicher Charme wäre ein wundervoller Begleiter auf jedem Lebens- und Aufstiegsweg. Allerdings handelt es sich dabei um eine – sprachgeschichtlich aus dem griechischen »charisme« (Gnade) und dem lateinischen »carmen« (= Gesang, Lied, Zauber) abgeleitete und letztlich auf das Herkunfts-»Karma« (sanskrit = Handlungskonsequenz) verweisende – Schicksalsgabe, die sich ebensowenig
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aus dem Hut zaubern lässt wie gutes Aussehen oder eine herzliche Ausstrahlung. Auch ein gepflegtes Äußeres wird einem Karriereweg stets förderlich sein. Um ein solches kann sich auch erfolgreich bemühen, wer nicht mit natürlicher Schönheit und Anmut gesegnet ist. Dass es allerdings auch Berufe gibt, für die Schönheit bei Frauen und gutes Aussehen bei Männern Grundvoraussetzungen für einen erfolgreichen Aufstiegsweg sind, bleibt unabweisbar. Für Schauspieler(innen) und Sänger(innen) gilt dies nur bedingt, für Mannequins und Photomodelle hingegen, die dann auf Plakatwänden und LitfaßSäulen prangen und in den Kaufhaus-Katalogen und Medien bis zum Überdruss für alles und jedes werben, fast ausnahmslos. Dafür, dass auch bei dem höchstpersönlichen Weg zu einer Karriere als Ehefrau eines Hochmögenden und Prominenten beliebigen Zuschnitts – kurz: eines »Märchenprinzen« – die körperlichen Vorzüge der Braut zumeist eine herausragende Rolle spielen, gibt es seit jeher eine erdrückende Fülle von Beispielen. Schönheit allein dürfte freilich auch bei solchen Karrieren nie allein ausschlaggebend gewesen sein. Weibliche Sanftmut und Beständigkeit sind heiß begehrte (aber wohl selten im erhofften Ausmaß erhaltene) Zugaben zur optischen Attraktivität, die als Türöffner nicht immer, aber häufig genug für Männer bei der Partnerwahl eine bedeutende Rolle spielen, während für Frauen in aller Regel außer Geborgenheit versprechendem sozialem Status Zuverlässigkeit und jenes »gewisse Etwas« dazukommen müssen, ohne das es nun mal zwischen den Geschlechtern nicht »funkt«. Nicht von ungefähr sind die Sessel und Sofas vor den Fernseh-Bildschirmen voll besetzt, wenn Grace ihren Rainier »kriegt« und Kate ihren William. Und auch Filme, in denen gezeigt wird, wie’s geht, werden zu Publikumserfolgen. Man denke an Streifen wie »Pretty Woman«, an »La Belle et la Bête« oder noch direkter an: »Wie angle ich mir einen Millionär?« Sie versprechen Auskunft und Rat – und füllen die Kassen, was ja dann auch nur gut und recht ist, »wenn es der Wahrheitsfindung dient«. Nicht nur Filme, auch die Wirklichkeit kann – zumindest auf Zeit – kitschig sein. Auch Mars und Venus waren bekanntlich stets ein »Match«, wie ein denglisch nachsozialisierter Autor in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ohne Scheu vor elitärem Naserümpfen zu formulieren wagt. Auch musste diese offenbar unwiderstehliche Anziehung
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zwischen martialischer Kraft und venerischem Liebreiz für die Feldherren wohl auch nicht immer so tragisch enden wie in der alttestamentarischen Geschichte von Judith und Holofernes oder (wenn auch auf ganz andere Art) bei der Verbindung zwischen Kleopatra und Marc Anton.
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3.3 Die Formen der Macht
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ie Wege zur Macht sind ebenso zahlreich wie deren Gesichter. Wer darüber spricht und schreibt, muss dies wiederholen. Neben den bereits genannten eröffnet der Erwerb von Wissen einen weiteren bedeutenden Zugang zu Einfluss und Macht. Scientia propter potentiam (Wissen um der Macht willen) lautete die – zwar so nicht wörtlich, wohl aber sinngemäß – vertretene Maxime des englischen Staatsmannes und Philosophen Francis Bacon (1561–1626)19. Zum Einen impliziert der Erwerb von Wissen die Bemühung um Durchblick, Überblick und Weitblick und damit bereits in sich die Suche nach und die Ausübung von geistiger Macht. Zum Anderen kann der Erwerb von Wissen aber auch zur Suche nach und zur Ausübung von sozialer, wirtschaftlicher und politischer Macht führen. Die Unterstützung nämlich, die Sach-, Zusammenhangs- und Orientierungswissen dem Streben nach sozialer, wirtschaftlicher und politischer Macht gewähren kann, gibt der Wissenschaft bzw. den sie verkörpernden Wissenschaftlern Einfluss auf Diejenigen samt deren Entscheidungen, die sich auf ihre Einsichten und Erkenntnisse stützen. Ihr Einfluss auf die rechtlich-politische Gestaltung aller Lebensverhältnisse ist kaum zu überschätzen. Und dies, obwohl auch wissenschaftliche Erkenntnisse immer wieder von ökonomischen, politischen oder sonstigen sozialen Verbands- und Standesinteressen überlagert werden können. Theodor Eschenburgs
Herkunft und Formen der Macht
Schlagwort von der »Herrschaft der Verbände« blieb nicht von ungefähr ein Dauerbrenner politikwissenschaftlicher Diskussion. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass »die« Wissenschaft bzw. die sie Repräsentierenden auf dieser Plattform des sozialen Interessenkampfes Aller mit und gegen Alle auf zwei verschiedenen Etagen Einfluss und damit Macht ausüben können – zum Einen, indem sie sich in den Dienst und Sold einzelner mehr oder minder einflussreicher Akteure stellt, und zum Anderen, indem sie mit hehrem Anspruch dort ihre Stimme erheben oder doch zu erheben versuchen, wo dem sozialen Für und Wider im Namen des Gemeinwohls politisch Einhalt und Ausgleich geboten wird. Dass solchen Versuchen – nicht zuletzt im Hinblick auf die Erkenntnisse der Medizin oder der Umweltwissenschaften – oft erst mit erheblichen Phasenverschiebungen Erfolg beschieden ist, weil nicht zuletzt übermächtige Wirtschaftsinteressen (von denen indirekt auch der zum Schiedsrichter berufene Staat profitiert) ihn lange zu verhindern wissen, gehört zum Alltags-Spektrum gesamtgesellschaftlich ausgetragener Machtkämpfe. Als Vermittler und Verbreiter wissenschaftlicher Erkenntnisse, insbesondere aber auch von Nachrichten, und von sozioökonomischen, soziokulturellen und soziopolitischen Meinungs- und Interessenbekundungen kommen aber insbesondere den Medien zwar nicht genau einzuschätzende, in der Regel aber auch kaum zu überschätzende Einflussmöglichkeiten auf die sog. Öffentliche Meinung zu. Was in Zeitungen und in Zeitschriften, im Rundfunk und im Fernsehen täglich notiert und kommentiert wird, wird von den auf gesellschaftliche Zustimmung angewiesenen Trägern der politischen Willensbildung genauestens registriert und im Sinne ihrer jeweiligen institutionellen Macht- und ideellen Richtungsziele frisiert. Ihr Verhalten unterscheidet sich insoweit wohl nicht wesentlich vom Verhalten des Durchschnittsbürgers bei der Aufnahme, der Verarbeitung und der Weitergabe von Informationen. Des Vorsokratikers Heraklit von Ephesus (535–475 v. Chr.) berühmter Ausspruch »Panta rhei« (»alles fließt«) gilt nicht zuletzt auch für die Formen der Kommunikation. Und gerade in diesem Lebensbereich zeichnen sich im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung
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geradezu revolutionäre Entwicklungen ab, die in ihren soziopolitischen Auswirkungen auch zu unverkennbaren Veränderungen der Machtverhältnisse – und damit auch zu einer Teil-Entmachtung herkömmlicher Medien – führen können. Ohne die weitgehende digitale Aufrüstung wäre die zum ›Arabischen Frühling‹ führende Organisation des Protestes kaum denkbar gewesen. Ähnliches gilt auch für die Steuerung der Terroristeneinsätze und der Flüchtlingskarawanen auf ihrem Weg zum ›gelobten Land‹ Europa. Und längst ist auch die überragende Rolle des Internet für die überraschende Wahl Donald Trumps deutlich geworden. Mehr als allem anderen verdankt dieser von staatsmännischer Weisheit weithin unberührte Mega-Populist wohl nicht zuletzt ›Facebook‹ und ›Twitter‹ den Aufstieg in das höchste Amt der U. S. A.20 Das Internet bietet mit diesen ›neuen Medien‹, zu denen auch die zahlreichen ungefiltert ins Netz gestellten »Blogs« zählen, ein Kommunikationsforum, das nicht zuletzt wegen seiner intransparent-anarchischen Textur für viel Verwirrung sorgt. Wie problematisch gerade diese Art von schneller Guerilla-Kommunikation ist, die jeder Art von Verkürzung und Verdrehung bis hin zu Unterstellungen, Verleumdungen und Verfälschungen nicht zuletzt deshalb offensteht, weil sie, weitgehend begründungs- und rechtfertigungsfrei in dieser Kurzform erfolgen und daher gerade ›schlichte Gemüter‹ leicht erreichen und überzeugen kann, ist unverkennbar. Jede Form des Wissens, des Halb- oder Pseudowissens ist nun mal mehrdimensional interpretier- und manipulierbar. Im Prinzip gilt dies selbstverständlich auch für die herkömmlichen Kommunikationsmedien. Ihre Grundtendenzen und Einflusskanäle sind aber leichter durchschaubar und können daher auch von dem um ein eigenverantwortliches Meinungsbild bemühten Bürger besser zu- und eingeordnet werden. Zur Einfluss und Legitimationsmacht verleihenden Faszination des Wissens gehört auch die des Heilungs- und des Heilsversprechens. Seit eh und je kommt dem Heilung von körperlichen und / oder seelischen Leiden in Aussicht stellenden Arzt, Heiler oder Psychotherapeuten eine bedeutende Rolle im Leben jeder Gesellschaft zu. ›Ohne Leben kein Streben‹ lautet eine kaum widerlegbare Binsenweisheit. Sie schuf zu allen Zeiten den sozialen Raum für all Diejenigen, die
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sich um die Gesunderhaltung der Gesunden und um die Heilung der Kranken kümmerten. Dass den Aussicht auf Heilung Versprechenden damit eine besondere Art von Macht zuwächst, ist unverkennbar. Und unverkennbar ist auch, dass sie diese Macht (wenngleich in unterschiedlichem Maße) in aller Regel auch ökonomisch umzumünzen bemüht sind und waren. Keineswegs nur in Europa führte und führt dies noch heute zu schichtspezifischen Differenzierungen. Vom frühen Mittelalter bis zur Säkularisation waren es im christlichen Abendland vor allem die – auf den Anpflanzungsvorschriften des Capitulare de Villis Karls des Großen (um 795), auf dem Heilkräuterbuch Hortulus (809–849) des Reichenauer Mönchs Walahfrid Strabo (809–849) und den Erkenntnissen der Seherin und Heilerin Hildegard von Bingen (1098–1179) gründende – Klostermedizin, die Kunst der Hebammen und »Kräuterhexen« und die Heilpraxis der Bader und Zahnreißer, die sich um die »kleinen Leute« kümmerten, wenn Not am Mann (oder der Frau) war. Die ›studierten‹ Ärzte hingegen, die ihr Wissen ab dem 13. Jahrhundert zunächst vor allem an den Universitäten von Paris, Neapel, Bologna und Padua erwarben, widmeten ihre ärztliche Fürsorge (und nicht zuletzt ihre Honorarerwartungen) eher den Oberschichten. Wegbereiter ihres oft noch sehr fragmentarischen Wissens waren die griechischen Klassiker Hippokrates von Kos (466–375 v. Chr.) und Galenus (1289–199 n. Chr.) sowie auch die großen arabischen Ärzte und Philosophen Avicenna (980–1037) und Averroes (1126–1198), die wesentliche Erkenntnisse der aristotelischen (und zum Teil auch der platonischen) Philosophie auswerteten, weiterentwickelten und miteinander verbanden. Sowohl Ibn Sina (Avicenna) als auch Ibn Rushd (Averroes) erlangten – der Erstere in Isfahan, der Letzere in Cordoba – hohes Ansehen und zeitweise auch hohe Ehrenstellungen. Ähnliches ist auch von dem sibirischen Heiler Rasputin bekannt, der aufgrund seiner heilerischen Kompetenzen vielfältigen Einfluss auf das letzte russische Kaiserpaar auszuüben vermochte. Inwieweit sich solcher ärztlicher »Zugang zum Machthaber« (Carl Schmitt21) dann auch tatsächlich auf politische Entscheidungen auswirkt ist höchstens zu vermuten, kann aber seriöserweise selten, wenn überhaupt, belegt werden.
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Nicht nur die prominenten Ärzte von Prominenten aber, sondern auch sehr viele »normale« Ärzte »normaler« Menschen üben wenn nicht direkten, so doch indirekten Einfluss auf deren Entscheidungen aus. Wie Pfarrer und Lehrer werden auch viele Ärzte für ihre Patienten zu mehr oder minder vertrauten Lebensberatern, soweit dies die Umstände (zu denen auch die ärztlichen Gebührenordnungen zählen) zulassen. Nicht zuletzt nach Unfällen oder gesundheitlichen Zusammenbrüchen, bei denen vielleicht auch ein mehr oder minder starkes Selbstverschulden der Patienten eine Rolle spielt, kann ärztlicher Rat entscheidenden Einfluss auf deren künftige Lebensführung ausüben. Je stärker es der Arzt oder Heilpraktiker als seine Aufgabe betrachtet, sowohl prophylaktisch als auch therapeutisch auf die Lebensführung seiner Patienten einzuwirken, je zuversichtlicher er mithin auf die Heilkraft der ars vivendi vertraut, desto mehr Empfehlungs- und Legitimationsmacht wird er im Zweifel auch ausüben oder doch auszuüben versuchen. Und je mehr Vertrauen der Patient in diese Art der Einflussnahme setzt, desto häufiger und desto mehr wird er ihn vielleicht auch in anderen Angelegenheiten um Rat zu fragen geneigt sein oder auch nur dessen Beispiel (soweit für ihn ersichtlich) folgen. Und Ähnliches gilt selbstverständlich auch im Verhältnis von Patienten zu Ausübenden von paramedizinischen Berufen – Osteopathen also, Logopäden, Krankengymnasten, Chi Gong-, Pilates-, Reiki- und Taichi-Spezialisten, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Geistheilern und Gesundbetern wie auch zahlreichen anderen in den letzten Jahren unter Phantasienamen (Bio-, Vital- oder gar Meta-Energetikern) auf dem Heiler- und Selbstheiler-Markt aufgetauchten Lebens- und Gesundheitshelfern. Eine vergleichbare, aber auch besonders undurchsichtige und daher auch in vielfacher Hinsicht fragwürdige Form und Chance, Macht über Entscheidungen Anderer auszuüben, haben Esoteriker jeglicher Provenienz und Prägung – Astrologen also, Wahrsager, Hellseher, Kartenleger, Runenwerfer, Kaffesatzleser, Engel- und Geisterbeschwörer, Rebirthing-Spezialisten, Rückführungstherapeuten und Karmadeuter. Sie Alle verfügen über ein – von Person zu Person variierendes – Maß an Erleuchtung, Wissen, Halbwissen oder Pseudowissen, soweit es sich nicht schlichtweg um Betrüger
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handelt. Ihr Tun als bloße Scharlatanerie zu verwerfen, wäre jedoch verfehlt. Zum Erfahrungsschatz der Menschheit gehört seit eh und je die Erinnerung an Persönlichkeiten mit einer außergewöhnlich hohen Durchlässigkeit für die Verkettung von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Tatsache ist jedenfalls, dass solche Persönlichkeiten nach den uns bekannten Überlieferungen immer wieder durch ihre – wie auch immer zustande gekommenen – Einsichten und Prognosen Einfluss auf den Lauf der Geschichte genommen haben oder hätten Einfluss nehmen können, wenn man auf sie gehört hätte. Homer berichtet von Kassandra, der Tochter des trojanischen Königs Priamos, die ihrer Vaterstadt die Eroberung und Zerstörung hätte ersparen können, wenn man auf ihre Warnung vor der Bergung des hölzernen Pferdes gehört hätte. Der französische Seher und Sterndeuter Michel de Notre-Dame hätte König Heinrich II von Frankreich seinen grässlichen Tod im Turnierkampf gegen den Grafen Montgomery ersparen können, wenn dieser auf seine Warnung gehört hätte. Umgekehrt hat Nostradamus mit seiner Katharina von Medici erteilten Auskunft, dass Heinrich von Navarra (der spätere Befrieder des Landes) nach zweien ihrer Söhne den französischen Thron besteigen werde, diesem in der blutigen Bartholomäusnacht des Jahres 1572 das Leben gerettet und damit enormen Einfluss auf das Schicksal Frankreichs im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert ausgeübt. Die Reihe der bekannt gewordenen oder auch gezielt bekannt gemachten, teils erfragten, teils ungefragt erteilten esoterischen Auskünfte über den künftigen Gang politisch bedeutsamer Ereignisse ist unübersehbar lang. Und ebenso lang ist damit die Reihe der tatsächlich erfolgten oder gescheiterten Versuche, durch solche Aussagen Einfluss (und damit Macht) auszuüben. Hier nur wenige weitere Beispiele von zahllosen22: Der Haruspex (Eingeweidebeschauer) warnte Caesar vergeblich vor den Iden des März; die baktrische Seherin Veleda prophezeite den Sieg der Gallier unter der Führung des Bataver-Fürsten Civilis über die von dem Feldherrn Classicus (70 n. Chr.) geführten römischen Legionen, Benedikt von Nursia prognostizierte exakt das Schicksal des Ostgoten-Königs Totila; der Seher Robert Nixon verhieß Heinrich VII ., dem Begründer der Tudor-Dynastie, den – die Adelskriege der Weißen und der Roten
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Abb. 9: Nostradamus, Kupferstich von Boulanger (Kupferstich 1650)
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Rose beendenden – Sieg von Bosworth (1485); Wallensteins Leibastrologe Seni sah den Meuchelmord von Eger (1634); Oliver Cromwell (1599–1688) ließ sich von dem Astrologen William Lilly beraten; der Astrologe Ebenezer Sibly kündigte 1787 die Französische Revolution und den Sturz der Monarchie an. Und auch die astrologischen und paragnostischen Ratgeber von Politikern der jüngeren Vergangenheit traten (und treten) sowohl als auf Bestellung in Aktion tretende wie auch als im Blick auf die Öffentlichkeit aus eigener Initiative agierende Prognosten in Erscheinung. Wir wissen von einer ganzen Reihe prominenter Staatsmänner auch des 20. Jahrhunderts, die bei Privat-Offenbarern Vergewisserung und Bekräftigung suchten und suchen. Georges Clemenceau, Aristide Briand und Raymond Poincaré konsultierten die Wahrsagerin Madame Fraya. Josef Stalin suchte bei dem polnischen Hypnotiseur und Astrologen Wolf Messing sowie bei einem georgischen Hellseher Rat. Adolf Hitler ließ sich von den Astrologen Karl Brandler Pracht und Louis de Wohl sowie von der Astrologin Elsbeth Ebertin Horoskope stellen. Einige seiner Paladine standen in Verbindung mit Jan Erik Hanussen (alias Hermann Steinschneider), Leiter des Berliner Okkultismus-Palastes, der u. a. Hitlers Wahl zum Reichskanzler prognostizierte und schon 1933 – wohl gerade wegen seiner prognostischen Potenz – von einem SS -Geheimkommando ›liquidiert‹ wurde. Ein ähnliches Schicksal ereilte den schweizerischen Astrologen Karl Ernst Krafft (1900–1945), der für eine Heinrich Himmler unterstellte Behörde arbeitete und die Protektion von Rudolf Heß genoss. Kurz vor dem Attentat auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller warnte er diesen öffentlich vor einer »großen Gefahr«. Nach unwillkommenen Voraussagen über die Zukunft Deutschlands wurde Krafft dann aber verhaftet; er starb auf dem Transport vom KZ Dachau ins KZ Buchenwald. Für englische Geheimdienste arbeitete während des 2. Weltkriegs der rechtzeitig emigrierte deutsch-ungarische Astrologe und Schriftssteller Louis de Wohl, der nach eigenem Bekunden auch an der Festlegung des Datums für die Invasion der West-Allierten in der Normandie beteiligt war. Franklin Roosevelt hörte auf die Astrologin und Hellseherin Jeanne Dixon (die 1956 die Wahl und die Ermordung von John F. Kennedy wie auch die Entmachtung des Schahs von Persien vorhersagen sollte), Charles de Gaulle
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auf Barbara Harris. In Bonn beriet die Astrologin Buchela ganze Generationen von Politikern der Adenauer- und Nach-Adenauer-Ära, verkündete aber auch ungefragt, was sie für die Zukunft sah. Und auch in Moskau ließen sich einige Kreml-Herren von der Hellseherin Dunja und anderen Medien übersinnlicher Wahrnehmung beraten. In der neuen ›Berliner Republik‹ könnte diese Rolle die Hellseherin Gabriele Hoffmann übernehmen – sofern sie sie nicht schon längst übernommen hat. Während jedoch politischen Rat solcher Art suchende Staatsmänner mit Rücksicht auf die überlieferte voraufklärerische und aufklärerische Tabuisierung derartiger Erkenntnisquellen (und damit letztlich aus Rücksicht auf die Vorstellung, die sich die Öffentlichkeit von einem seriösen Staatsmann macht) dazu neigen, die Hintereingänge ihrer Sybillen und Auguren zu benutzen, wandten und wenden sich diese selbst – nicht zuletzt aus kommerziellen Gründen – von Zeit zu Zeit über die Medien an die Öffentlichkeit. Die Genfer Astrologin Tessier etwa, die jahrelang den französischen Präsidenten Mitterand beriet, war nicht selten bei Talk-Shows oder auf der Neujahrs-Titelseite der »Schweizerischen Illustrierten« oder anderer entsprechender Magazine zu finden, in denen sie (selbstredend gegen Honorar) ein Zukunftsfenster mit Blick auf soziale, ökonomische und politische Entwicklungen öffnete. Und wer einen Blick in astrologische Jahrbücher und dergleichen wirft, wird feststellen, dass die bekanntesten Astrologen und Paragnosten mit der stereotypen Floskel »bekannt aus Film, Funk und Fernsehen« für die Inanspruchnahme ihrer esoterischen Dienste werben. Davon, dass ihre Verlautbarungen in der Öffentlichkeit auf Interesse stoßen, kann man ausgehen, wenn man bedenkt, dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung Horoskope liest – und selbst vor wirtschaftlichen Großaktionen wie der Fusion der Schweizerischen Bankgesellschaft mit dem Schweizerischen Bankverein von der Firma Astrodata ein astrologischen Gutachten eingeholt wurde. Der Unterschied der heutigen – meist geheimgehaltenen – Konsultationspraxis zu den antiken Vorbildern liegt vor allem darin, dass
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die soziopolitischen Konsultationen zu jenen Zeiten in aller Öffentlichkeit, zumindest aber im Angesicht einer selektiven Öffentlichkeit durchgeführt wurden. Auch Tibet kannte noch bis zur Annektion durch China im Jahre 1951 ein Staatsorakel. Selbst im Zeitalter einer – zumindest im euroamerikanischen Kulturkreis scheinbar grenzenlos gelebten – Liberalität gibt es noch gewisse De-factoTabus. Sich unter mehr oder minder direkter oder indirekter Berufung auf Jenseitsmächte öffentlich zu artikulieren, ohne sich Spott, Häme oder noch drastischere Formen der sozialen Diskriminierung einzuhandeln, können auch in scheinbar aufgeklärten Gesellschaften nur die soziokulturell akkreditierten und politisch etablierten Repräsentanten tradierter Religionsgemeinschaften wagen. Dass für alle anderen Prätendenten himmlischer Protektion und Legitimation im »christlichen« Mittelalter bis ins späte 18. Jahrhundert die Scheiterhaufen loderten, ist hinreichend bekannt. Und unter den Richtschwertern des islamistischen »Islamischen Staats« sterben im Irak und in Syrien vorzugsweise »Ungläubige«. Die Machtposition, die den Vertretern der islamischen Staatsreligion im Iran zukommt, ist ebenfalls bekannt. Selbst in Europa (und nicht zuletzt in Deutschland) haben sich die etablierten Religionsgemeinschaften noch immer Macht und Einfluss auf soziokulturelle und damit indirekt auch politische Entscheidungen sichern können. Im Gegensatz zu den U. S. A. und zu Frankreich, wo das aufklärerische Prinzip der Trennung von Kirche und Staat strikt durchgeführt ist, wird in Deutschland die »Kirchensteuer« vom Staat eingetrieben und die Bischöfe vom Staat bezahlt. Die Begründung hierfür (dass es sich dabei um einen Ausgleich für die im Zuge der Säkularisation, d. h. also zu Beginn des 19. Jahrhunderts, durchgeführte Enteignung von kirchlichem Eigentum handle) ist weniger bemerkenswert als die Tatsache selbst. Sie zeigt, wie groß die tatsächliche Machtstellung insbesondere der katholischen, aber – vor allem in Nord- und Ostdeutschland – auch der Evangelischen Kirche(n) noch heute ist. Trotz ständig schwindender Mitgliederzahlen kommt den in Deutschland als Körperschaften des Öffentlichen Rechts organisierten Religionsgemeinschaften samt ihren Laienorganisationen in gewisser Weise noch ein Alleinvertretungsmonopol in geistlichen Angelegenheiten zu. Aller Voraussicht nach ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich
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die Vertretung(en) der islamischen Religionsgemeinschaft zu diesen altetablierten Kirchen gesellen werden. Auch heute noch sitzen Vertreter der Kirchen in zahlreichen Kommissionen, Räten und Ausschüssen, in denen Fragen der Religion, Ethik und Kultur diskutiert werden und mehr oder minder direkte Politikberatung erfolgt. Wie sich diese Situation weiter entwickeln wird, muss dahingestellt bleiben. Abhängen werden Einfluss und Macht der Kirchen wohl nicht zuletzt von der weiteren Entwicklung unseres zivilisatorischen (Wohlstands-)Niveaus. In Zeiten der Fülle pflegen sich die Liberalisierungs- und Säkularisierungstendenzen zu verstärken; in Zeiten von Kargheit und Not gewinnen die Brückenbauer zu potentiell hilfreichen Himmelsmächten regelmäßig an Bedeutung. Nach zahllosen Menschheitserfahrungen kommt dieser schlichten Dialektik eine fast naturgesetzliche Konsequenzlogik zu. Aus heutiger Sicht ist es zwar schwer vorstellbar, dass der Religion im euroamerikanischen Kulturkreis jemals wieder eine ähnlich einflussreiche oder gar beherrschende Rolle zukommen könnte wie sie die Menschen im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit erfahren konnten (und mussten). In der Spätzeit des Römischen Reiches hätte man sich in der weithin säkularisierten römischen »Zivilgesellschaft« (wie die heute modisch gewordene Tautologie lautet) freilich ebenso wenig vorstellen können, dass die individuelle Glaubensrichtung in der Zukunft wieder eine derart bedeutende Rolle spielen würde wie dies dann einige Jahrhunderte später tatsächlich der Fall sein sollte. Nachdem jedoch die Stürme der Völkerwanderung die römische Zivilisation in Schutt und Asche gelegt hatten und es während der sogenannten »dunklen Jahrhunderte« außer dem »appeal to heaven« (John Locke23) und dem Aufblick zu den »ewgen Rechten, die droben hangen unveräußerlich« (Friedrich Schiller24) wenig Trost und Hilfe gab, waren die Ausgangsvoraussetzungen für die auch soziale und politische »Er-mächtigung« der irdischen Stellvertreter überirdischer Mächte geschaffen. Im Zeichen einer von ihnen autoritativ interpretierten Himmelsordnung sollte die in Jahrhunderten der Zerstörung und Verwirrung entstandene Unordnung mithilfe der weltlichen Mächte neu geordnet und verfasst werden. Dass die Letzteren sich gegen die Bevormundung durch die Kirche mit mehr oder minder nachhaltigem Erfolg zu wehren wussten, führte im »christ-
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lichen Abendland« zu den sattsam bekannten jahrhundertelangen Machtkämpfen zwischen Thron und Altar – ein Machtkampf, der heute noch in manchen islamisch geprägten Ländern deutlich zu verfolgen ist. Eine imaginäre, sich jedoch stets aufs Neue und in vielfältiger Weise sozial und politisch manifestierende Größe ist (auch) die »Macht der Schönheit«25. Sie ist es, die mit den irdischen Repräsentanten überirdischer Mächte stets eine innige Verbindung einzugehen wusste. Im Hinblick auf das Morgenland ist dies bei den Relikten der antiken Hochkulturen allenthalben erkennbar. Im Abendland galt dies für die Götterkulte Griechenlands und Roms wie auch – nach Roms siegreicher Aneignung des alexandrinischen Erbes – für die im Zeichen des Hellenismus im Römischen Reich akkreditierten orientalischen Mysterienkulte. In gleichem Maße galt dies aber auch für die sich seit dem konstantinischen Toleranzedikt von Mailand (313) und der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion (381) durch Kaiser Theodosius I sozial und politisch etablierenden »Nazarener« (wie die Christen in den ersten Jahrhunderten ihrer erfolgreichen Mission genannt wurden). Auch sie wurden zu Erben des griechisch-römischen und des hellenistischen Kulturguts und suchten es ad maiorem gloriam Dei (und der eigenen gesellschaftlichen Machtpositionen) zu nutzen. Die Macht der Schönheit und der Phantasie wurde mithin zu einem unverzichtbaren Trabanten der Ausbreitung auch dieser neuen, zur Stützung des altersschwachen Imperium Romanum vortrefflich geeigneten, weil tendenziell (zwar durch das Konzil von Nicäa von 325 polytheistisch modifizierten, aber letztlich doch tendenziell) monotheistischen, Religion. Und dies umso mehr, als die Zahl der des Lesens und Schreibens Kundigen nach dem Zusammenbruch der römischen Zivilisation in den ersten Jahrhunderten der Etablierung des Christentums äußerst begrenzt war. Über die bildnerische Darstellung ließen sich die Inhalte des Alten und des Neuen Testamentes auch Analphabeten überzeugend vermitteln. Und da die Menschen für optische Reize seit eh und je besonders empfänglich zu sein pflegen (»Ein Bild sagt mehr als tausend Worte«, weiß der Volksmund), war die bildnerische und gestalte-
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rische Betonung der Hoheit und Würde überirdischer Mächte wie deren »Herablassung« zur Sphäre des Irdischen auch für die Schriftkundigen ein wichtiger Stabilisator ihres Vertrauens nicht nur in die vermittelten Glaubensinhalte, sondern auch in die Legitimation der Mittler. Solange und soweit diese Legitimationskraft auch den weltlichen Mächten zugute kam, d. h. also zur Stärkung von deren sozialer Akzeptanz und Legitimation genutzt werden konnte, konnte sich auch die Symbiose von weltlichem und geistlichem Machtstreben zur Grundlage der gesamten Sozial- und Rechtsverfassung der sich nach den Stürmen der Völkerwanderung neu formierenden Gemeinwesens entwickeln – eine Symbiose, von der dann auch die Künste sowohl im Hinblick auf ihre ästhetische Unterstützung der geistlichen wie der weltlichen Machthaber profitieren konnten. In wieweit erfolgreiche bildende Künstler – abgesehen von den ihnen durch mehr oder minder üppige Honorare zufließenden Mitteln und abgesehen von ihren Einflussmöglichkeiten durch die Suggestionskraft ihrer Künste – auch direkten Einfluss auf politische Entscheidungen gewinnen konnten, ist schwer nachweisbar. Bei einzelnen Großmeistern wie Leonardo da Vinci und Michelangelo (aber auch bei Adolf Hitlers Baumeister Albert Speer) scheint dies der Fall gewesen zu sein. Die Regel allerdings war es sicher nicht. Eher schon kam ein solcher Einfluss Gelehrten, Dichtern und Schriftstellern zu, obwohl dies auch im Hinblick auf sie nur in wenigen Einzelfällen belegt werden kann. Am ehesten lässt es sich dort nachweisen, wo Dichtern und Schriftstellern auch politische Ämter übertragen wurden, wie dies etwa bei Johann Wolfgang von Goethe in Sachsen-Weimar, bei André Malraux in der 5. französischen Republik und bei Johannes R. Becher in der DDR der Fall war. Bei den meisten Wort- und Schriftkünstlern blieb und bleibt ihr Einfluss wohl im Wesentlichen auf eine mehr oder minder gezielt wirkende Mitformung des gesellschaftlichen Bewusstseins beschränkt. Dies galt für Dichter wie Horaz, Vergil, Martial und Juvenal in Rom ebenso wie für den Exilanten Dante Alighieri, für Torquato Tasso im Umfeld des Hofes der Herzöge von Ferrara, für William Shakespeare im sozialen Dunstkreis des elisabethanischen Hofes in England, dem scharfzüngigen Spötter Voltaire im vorrevo-
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lutionären Frankreich, den heimatlos gewordenen Heinrich Heine oder auch für den – wohl auch für die dortigen Machthaber im Zwielicht stehenden – Bert Brecht in Ost-Berlin, um nur einige Wenige aus dem Heer der mehr oder minder indirekt bewusstseinsbildenden Autoren hervorzuheben. Nicht für die Dichter und Schriftsteller, wohl aber für die bildenden Künstler bildete die Säkularisation einen schmerzlichen Einschnitt in ihre soziokulturelle und sozioökonomische Existenz. Zwei ihrer bisherigen Haupt-Auftraggeber – die Kirchen und die Klöster – waren entweder überhaupt nicht mehr oder nur noch in einem sehr begrenzten Maße in der Lage, ihnen Arbeit und damit auch Wirkungsmöglichkeiten zu verschaffen. Übrig blieben als mögliche Auftraggeber staatliche Instanzen und Teile des noch nicht völlig verarmten, aber durch die Schockwellen der französischen Revolution im Allgemeinen und die Mediatisierung im Besonderen politisch, ökonomisch und sozial geschwächten Adels. In verstärktem Maße trat nun allerdings das – durch die sich stürmisch durchsetzende industrielle Revolution wirtschaftlich gestärkte und erweiterte – Großbürgertum an die Stelle des ökonomisch weichenden Adels. Um die Auftragsgunst dieser Schicht mussten die Künstler nun konkurrieren, wobei sie sich (im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen ein höheres Maß an Konformität gefragt war) nicht mehr nur durch Kunstfertigkeit, sondern vor allem auch durch Originalität, durch die Manifestation der Lust am Neuen und bislang Unerhörten Wettbewerbsvorteile zu verschaffen suchten – eine Tendenz, die sich nach einer Phase der rasch aufeinanderfolgenden Wiederholungen historischer Stilrichtungen im 19. Jahrhundert ab der Wende zum 20. Jahrhundert verstärkte, recht eigentlich bis heute anhält und den Wechsel künstlerischer Moden immer hektischer werden lässt. Recht besehen lässt sich dieser Versuch, ständig neue ästhetische Topoi zu besetzen, als eine unaufhörliche Folge künstlerischer Machtergreifungsversuche betrachten. Dass dabei zumeist keine Revolutionen, sondern nur Revolutiönchen entstehen, ist ein allenthalben erkennbares Phänomen. Auch der Applaus für solche Revolutiönchen freilich wird eifrig gesucht und dankbar entgegengenommen.
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Unverkennbar ist jedenfalls die – je nach den sozialen, ökonomischen und politischen Zeitumständen variierende – Eintauschbarkeit von Schönheit und Phantasie gegen soziokulturelles Prestige, wirtschaftlichen Wohlstand und politischen Einfluss. Nicht unerwähnt bleiben darf bei dem Blick auf die Formen der Macht der heute wie schon in den Hoch-Zeiten des antiken Griechenland hohe Tauschwert sportlicher Höchstleistungen. Ablesbar ist dieser keineswegs nur an den – allenfalls mit denen von Führungskräften großer Wirtschaftsunternehmen vergleichbaren – Spitzengehältern und Ablösungssummen bekannter Fußballstars und deren Trainer. Wenn gerade die Letzteren auch nicht – wie die ritterlichen Kampfhelden des Mittelalters – gegen innere und äußere Feinde aufs Schlachtfeld ziehen, um dann noch Jahrhunderte später als Romanhelden die Herzen halbwüchsiger Jungen und Mädchen höher schlagen zu lassen, so simulieren sie doch Woche für Woche in den Wochenend-Turnieren und den regelmäßig abgehaltenen Meisterschaften auf regionaler, nationaler und internationaler Eben den zwischenmenschlichen Wettstreit Aller mit Allen, wie ihn Thomas Hobbes als fiktive conditio humana voraussetzt. Der Kampf um irgendeine Sport-Trophäe verschafft dem oder den Siegern stellvertretend für Alle, die diesen Kampf gerne mitgekämpft und diesen Sieg gerne miterrungen hätten, eine unverkennbare Stellvertreter-Macht. In seinem oder ihrem Sieg wird die erfüllte Hoffnung Aller sich mit ihnen und ihrem Kampf identifizierenden mentalen Unterstützer und fanatischen Bewunderer gespiegelt. Nicht zuletzt die fast grenzenlose Bewunderung ihrer »Fans« verschafft den Spielern sowohl ideelles Ansehen als auch materiellen Wohlstand. Indem sie die Stadien füllen und damit riesige Summen in die Taschen der Vereine leiten, sich im Fernsehen die Sendungen anschauen, für die weitere Geldströme als Entgelt für die Übertragungsrechte in die Kassen der Vereine und damit indirekt auch des Sportmanagements und der Protagonisten fließen, verschaffen sie diesen sozialen Größen Wohlstand und Prestige – Potentiale also, die dann wieder in Form von vielfältigen Einflussmöglichkeiten auf die Gesellschaft zurückwirken können. Würde die Fußball-Elf des mehrfachen Deutschen Meisters FC Bayern geschlossen eine politische Wahlempfeh-
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lung abgeben oder geschlossen für ein irgendwie geartetes Produkt werben, so würde diese wahrscheinlich einen erheblichen Einfluss auf die betreffende Wahl oder den Markterfolg des betreffenden Produktes ausüben können. Zahlreiche Zugangsarten sind es also, die mächtig machen, viele Wege, die zu mehr oder minder deutlichen Machtstellungen führen – und mannigfache Formen, in denen sich Macht manifestieren kann. Die sublimste freilich dieser Formen ist die – um es paradox zu formulieren – Macht der Ohnmacht. Auch die Macht der Ohnmacht kann sich in sehr unterschiedlicher Weise offenbaren, abhängig davon nämlich, ob die Ohnmacht eine unfreiwillig eingetretene oder eine freiwillig herbeigeführt ist. Spektakulärste Form der mehr oder minder unfreiwillig verursachten Ohnmacht ist die Gefangenschaft. Ihr latentes Machtpotential ist in der Regel vergleichsweise gering. Soweit man überhaupt von einem solchen sprechen kann, ist es von Faktoren abhängig, die in der Bedeutung der Gefangenen für den soziokulturellen und rechtlich-politischen Kontext ihrer Gefangenschaft liegen. Bei unzweifelhaften Schwerverbrechern ist es zu verneinen, bei Kriegsgefangenen und politischen Gefangenen kann es höher sein, wenn ein Tauschinteresse an ihrer Auslieferung besteht. Ein Gandhi oder Mandela in Ketten kann den Gang der Geschichte verändern. Während der Zeit der indischen Unabhängigkeitskämpfe wurde die Bemerkung »Wenn Gandhi fastet, zittert Whitehall« zum geflügelten Wort. Eindeutiger ist die Situation bei einer durch Krankheit verursachten unfreiwilligen Ohnmacht. Der Kranke kann unterschiedliche Grade der Ohnmacht erleiden, die von einer leichten Einschränkung seines Wohlbefindens und seiner Wirkungsmöglichkeiten bis zur völligen Hinfälligkeit reichen können. Paradoxerweise steigt die Macht seiner Ohnmacht mit dem Grad seiner Hilfsbedürftigkeit. Zumindest gilt dies für Gesellschaften, zu deren selbstverständlicher Sozialpraxis ein mehr oder minder hohes Maß an mitmenschlicher Daseinsvorsorge und Heilungsfürsorge zählt. Einen Kranken oder sonstwie Hilfsbedürftigen völlig seinem
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Schicksal zu überlassen ist in solchen Gesellschaften weder für die Familienangehörigen und die (echten) Freunde noch für das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein akzeptabel und überdies auch auf mehrfache Weise zivil-, sozial- und strafrechtlich sanktioniert. Beneidenswert ist die Situation von Kranken nie. Nüchtern betrachtet ist aber unverkennbar, dass – zumindest unter der Ägide unserer sozialen und politischen Kultur – auch ihnen ein gewisses Machtpotential zuwächst, das sie in die Lage versetzt, auf das Verhalten ihres sozialen Umkreises Einfluss zu nehmen. Erst recht gilt dies für das unter Umständen äußerst komplizierte persönliche Beziehungsgeflecht der scheinbar Ohnmächtigen. Schon durch ihre bloße Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit werden sie in aller Regel Einfluss auf das Verhalten der ihnen Nahestehenden ausüben. Je nach Ausmaß der Hilflosigkeit und Hilfsbedürftigkeit wird in aller Regel ein Betreuungsimpuls ausgelöst. Und dies ganz unabhängig davon, ob der Hilflose und Hilfsbedürftige darum bittet oder nicht. Nicht selten wird dieser Impuls auch auf eine längerfristige oder (in Ausnahmefällen) Dauerbetreuung gerichtet sein, der bei Familienangehörigen bis zum Verzicht auf eigene hausferne berufliche Betätigung oder (bei Partnerschaften und in ehelichen Verhältnissen) gar bis zum Verzicht auf eine eigentlich geplante Trennung oder Scheidung reichen kann. Ganz unabhängig davon, ob die Krankheit nur eine vorübergehende ist oder chronische Formen angenommen hat, ist unübersehbar, dass von nicht wenigen Kranken ihre Hilfsbedürftigkeit bewusst eingesetzt wird, um seelische Abhängigkeit zu nutzen oder zu schaffen – ein nicht gerade liebenswertes, aber eben auch nicht zu verkennendes Syndrom. Eine der Situation der Kranken vergleichbare Situation ist die der körperlich noch oder wieder Schwachen – der ganz jungen und der ganz alten Menschen, deren Hilfsbedürftigkeit augenfällig ist. Und – wenn auch auf einer anderen Ebene – mit der der körperlich Schwachen vergleichbar ist auch die Situation der sozial Schwachen – der Obdachlosen, Bettler, Flüchtlinge oder sonstwie Bedrohten, Bedrängten und Notleidenden. Auch ihre Aura der Hilfsbedürftigkeit verleiht ihnen eine nicht zu unterschätzende, weil ethisch fundierte Erwartungsmacht, die wenn nicht direkten, so doch indirekten Einfluss auf das Verhalten der mit ihrer Notsituation Konfrontierten
Herkunft und Formen der Macht
auszuüben vermag. Die Bürger einiger von Asylanten- und Flüchtlingsströmen überschwemmter europäischer Länder – darunter nicht zuletzt auch die wegen ihres Noch-Wohlstands und ihres attraktiven Sozialsystems zum Traumziel der Migration gewordene Bundesrepublik Deutschland – wissen davon »ein (inzwischen auch politisches) Lied zu singen. Ganz anders verhält es sich mit den Machtkonstellationen bei einer freiwillig gesuchten Situation soziokultureller, sozioökonomischer oder soziopolitischer Ohnmacht. Im Rückblick auf die abendländische Geistesgeschichte waren es vor allem die spätantiken Philosophenschulen der Kyniker, der Epikuräer und der (frühen) Stoiker, die unter dem Eindruck des Zerfalls der athenischen Demokratie und des Siegeszugs der alexandrinischen und diadochischen Despotien nachdrücklich zu politischer Abstinenz, sozialer Bescheidenheit und persönlicher Genügsamkeit rieten. Mit großem Abstand spektakulärster Exponent der zeitlich ersten dieser Schulen war der Kyniker Diogenes von Sinope (ca. 410–323 v. Chr.), der seinen sozialen und politischen ›Willen zur Ohnmacht‹ bis zum augenfälligen Exzess trieb, indem er sein asketisches Leben in einer Tonne fristete. Die geradezu prostitutiv gelebte Selbstgenügsamkeit und Bedürfnislosigkeit seines in aller Öffentlichkeit gelebten Lebens ließen ihm jedoch eine geistige Aura der Macht zuwachsen, die u. a. in die bekannte Anekdote von einem angeblichen Besuch Alexanders des Großen bei Diogenes mündete. Auf Alexanders Angebot, ihm jeglichen nur denkbaren Wunsch zu erfüllen, habe Diogenes – so die Pointe – Alexander gebeten, ihm aus der Sonne zu treten. Wem ein König nichts zu bieten vermag, der ist selbst ein Souverän – zumindest seines eigenen Lebens. Die gleiche geistige Souveränität im Leben wie im Sterben kennzeichnete schon den philosophischen Ziehvater auch der kynischen Schule – Sokrates nämlich, von dem überliefert wird, er habe bei einem Gang über den Hauptmarkt (die Agora) von Athen angesichts der dort ausgebreiteten Warenfülle ausgerufen »Wieviele Dinge es doch gibt, derer ich nicht bedarf.« Die Macht der Ohnmacht, von der hier die Rede ist, ist die Macht, auch gegen den Strom zu schwimmen, vielleicht aber auch,
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Abb. 10: Diogenes in der Tonne, Gemälde von Jean-Léon Gérome (Ölgemälde von 1860)
Macht über die eigenen Triebtendenzen zu gewinnen, es also nicht nur »den Anderen zu zeigen«, wozu man fähig ist. Ähnliche Gedanken wie einst Sokrates dürften wohl auch heute so manche Kaufhäuser oder Märkte durchstreifende Zeitgenossen bewegen. Auch ihre Macht liegt in ihrer inneren und dann nach außen hin manifestierten Haltung zum Waren- und Dienstleistungsangebot der Wirtschaft. Nicht nur die Art ihrer Kaufentscheidung ist es, die ihnen »Marktmacht« verleiht, sondern nicht zuletzt auch die Möglichkeit ihrer Kaufenthaltung. Nichts wird von der Ökonomie und der von ihr in vielfacher Hinsicht abhängigen Politik mehr gefürchtet als diese Art von selbstauferlegter Abstinenz26. Um diese Form der potentiellen Macht der Ohnmacht zu brechen, bliebe – falls in
Herkunft und Formen der Macht
großem Stil praktiziert – der Politik nur die Möglichkeit, unter Gemeinwohlvorwänden Konsumzwänge zu verordnen und zu erzwingen – eine Praxis, die schon heute in vielen Ländern der Welt in vielfacher Form erkennbar ist: Eines der zahlreichen Foren dies, auf denen soziale Macht politischer Gegenmacht begegnet.
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as Mit- und Gegeneinander von Macht und Recht bildet den Stoff einer unendlichen Geschichte – einer Geschichte, an deren Entwicklung Jahrtausende menschlichen Zusammenlebens gewirkt haben und deren direkte und indirekte Beschreibung ein gut Teil der Regale aller Bibliotheken dieser Welt zu füllen in der Lage wäre. Trotz dieser entmutigenden Feststellung soll hier versucht werden, wenigstens einige stets wiederkehrende Hauptlinien und Grundmuster dieses Mit- und Gegeneinanders mit hinreichender Deutlichkeit zu skizzieren. Der Diogenes-Schüler Anaxarchos war es, dem wir das (angeblich an Alexander den Großen gerichtete) Wort verdanken: »Neben dem Thron der Könige sitzt Themis und stempelt ihre Willkür zu Recht«.27 Der Satz ist zwar nur als ein aus dem Zusammenhang gerissenes Fragment erhalten geblieben, hätte aber zumindest für die im Griechenland des 4. vorchristlichen Jahrhunderts lebenden Zeitgenossen seines Autors kaum einer weiteren Erklärung bedurft. Themis nämlich, nach dem Zeugnis Homers die Tochter des Himmelsgottes Uranos und der Erdenmutter Gaia, nahm im griechischen Olymp den Rang einer Gemahlin des Göttervaters Zeus ein und galt als Schutzgöttin von Recht und Ordnung. Für uns Heu-
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tige wirkt die Aussage des Fragmentes in der hier wiedergegebenen Übersetzung des großen Juristen P. J. A. Feuerbach (1755–1833) etwas befremdlich, weil wir einen nicht selten die Grenzen des Rechtes überschreitenden Akt als ›willkürlich‹ zu bezeichnen pflegen. Gemeint ist aber wohl nur das von den Königen ›Gewollte‹, ganz unabhängig von der Wertigkeit dieses Gewollten. Zumindest im Lichte eines nüchtern-positivistischen Rechtsverständnisses ist die Richtigkeit der zitierten Aussage unabweisbar. Thomas Hobbes, einer der Größten (wenn nicht der Größte) in der langen Reihe der Positivisten, hat denselben Sachverhalt in der lateinischen Fassung seines »Leviathan« in den zum geflügelten Wort gewordenen Satz gegossen: »Authoritas, non veritas facit legem«28 (»die Autorität, nicht die Wahrheit, schafft das Gesetz«). Auf den ersten Blick erscheint auch diese Maxime befremdlich, wenn nicht geradezu verstörend, weil man die »Wahrheit« in einem engen Zusammenhang mit dem Recht zu sehen gewohnt ist. In erster Linie denkt man dabei wohl zumeist an den Rechtsvollzug, an Sachverhaltsermittlungen und Zeugenaussagen in Straf- und Zivilverfahren. Ebenso mag man aber auch an Sachverhaltsklärungen als Voraussetzung von legislativen Rechtssetzungs- und administrativen Rechtsanwendungsverfahren denken. Unter der »Wahrheit« freilich, die Hobbes mit seinem Authoritas-non-veritas-Satz im Auge hat, dürften wohl am ehesten die politischen Richtungsentscheidungen des gesetzgebenden und die in deren Sinne die Gesetze auslegenden Akte der judikativen und exekutiven Hoheitsinstanzen zu verstehen sein. Dass der Begriff der »Wahrheit« ein schwer fassbarer ist, stand für den nüchternen Analytiker ohnedies fest. Worte galten ihm als »kluger Männer Rechenpfennige«. »Nur Toren«, so Hobbes, gälten sie als »bare Münze«29. Auch ihm dürfte deshalb (zumindest sinngemäß) klar gewesen sein, dass die sowohl in dem lateinischen Begriff »veritas« als auch in dem englischen Begriff »verity« und dem deutschen Begriff »Wahrheit« fortlebende Sanskrit-Wortwurzel »Wara« nicht mehr als »Obacht« oder »Aufmerksamkeit« bedeutet, die man diesem oder jenem (Haupt-)Aspekt eines Sachverhaltes zuwenden kann – dass man angebliche »Tatsachen« mithin so oder ganz anders »wahr-nehmen« kann, ohne damit schon ein erkenntnistheoretisches Sakrileg zu begehen. Der normative Aspekt, um
Macht und Recht
den es ihm, dem unter der Friedlosigkeit seines Landes und seiner Zeit leidenden Engländer, ging, war die theoretische Begründung einer dauerhaften, durch eine gesetzgebende, verwaltende und richtende Autorität zu schaffenden und zu erhaltenden Friedensordnung. Die dem Bewegungsstil seines Denkens durch die qualità dei tempi (Machiavelli) nahegelegte Dialektik von Erkenntnis und Interesse konnte daher auch schwerlich in eine andere Bestimmung des Verhältnisses von Macht und Recht münden als der von Hobbes vorgenommenen. Zwei Jahrhunderte später mochte der Oxforder Mathematik-Dozent Lewis Carrol an den einstigen Oxforder Philosophie-Dozenten Hobbes gedacht haben, als er in seiner phantastischen Erzählung »Alice im Wunderland« von 1865 Humpty Dumpty, den sich zynisch gebenden Gesprächspartner von Alice auf deren Frage, ob man Worten (wirklich) jede beliebige Bedeutung zuordnen könne, sinngemäß antworten ließ: »Es kommt (nur) darauf an, wer das Sagen hat.« Ein gnadenlos resignativ-realistisch anmutender Satz dies, dessen hoffnungsvoll-idealistisches Gegenstück der Welt mehr als 1000 Jahre zuvor von Konfuzius geschenkt wurde als er schrieb, dass die Welt in Ordnung zu bringen vermöge, wer die Worte in Ordnung bringe. Die von Skeptikern wie Hobbes und Humpty Dumpty geteilte Überzeugung freilich geht davon aus, dass ein Jeder die Worte im Licht der eigenen Erfahrungen zu verstehen geneigt ist und sie dann im Zweifel auch in eine diesen Erfahrungen und den aus ihnen erwachsenen Zielvorstellungen, Befürchtungen und Hoffnungen entsprechende Ordnung zu bringen versucht. Im englischen Text von ›Alice in Wonderland‹ lautet Humpty Dumptys Antwort auf die naiv vorgetragene Frage von Alice wörtlich: »The question is, who ist the master«. Diese Frage nach dem »Master« aber pflegt die Faktizität der Ereignisse zu beantworten. In einem – dem Autor in einer entspannungsheischenden Stunde in die Hände gefallenen – Kriminalroman von Robert Arden (Sergeant Berry und der Zufall, Berlin 1937) belehrt ein Polizeikommissar seinen anscheinend etwas einfältig-begriffsstutzigen Gesprächspartner auf denkbar schlichte Art und Weise: »Alter Herr, sprach Berry, …, es kommt hier nicht darauf an, die Wahrheit zu sagen, es kommt darauf an, recht zu behalten. Um recht zu behalten, braucht man gut funktionierende Gewehre, das waren die stärksten Argumente,
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über die die teure Menschheit stets verfügte. Um genügend Gewehre zu haben, also auch um genügend Leute zu haben, die sie losgehen lassen, muss der Rechtstitel in erster Linie einmal gefälscht sein. Ist Ihnen das verständlich?« Auch wir – Autor und Leser dieser Zeilen – verstehen, dass der »Rechtstitel« alias Anspruch auf Gestaltung eines Lebensverhältnisses zwar nicht »gefälscht«, aber eben behauptet werden muss. Jeder Anspruch, politisch oder rechtlich, ist eine faktische Größe. Ob er sich durchsetzen lässt, hängt von den gegebenen Umständen ab. Ist es ein Anspruch aus althergebrachtem Recht oder althergebrachter Übung, so hängt seine Durchsetzung davon ab, ob er von den über dieses Recht oder diese Übung wachenden obrigkeitlichen Instanzen anerkannt und erzwungen wird. Ist es ein gegen die herrschende Ordnung gerichteter, revolutionärer Anspruch, so hängt auch dessen Durchsetzung davon ab, ob er – gewaltlos oder mit Gewalt – behauptet werden kann. Und dies ganz unabhängig davon, worauf er sich zu seiner Legitimation beruft. Auch der Eidgenosse Stauffacher, der sich in Friedrich Schillers »Wilhelm Tell« auf »die ew’gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich« beruft, muss seinen Anspruch gegen die herrschende Macht- und Rechtsordnung durchsetzen. Nur dann kann er erwarten, dass seine Gegenmacht in eine neue Macht- und Rechtsordnung überführt werden kann. Den gegen die geltende Machtund Rechtsordnung Revoltierenden erwartet daher im Erfolgsfall ein Denkmalsockel, bei Misserfolg Kerker und / oder Schafott. Die Geschichte der Menschheit kennt zahllose Beispiele für dieses zwiespältige Syndrom. Die Trennungslinie, die diese Eventualitäten voneinander scheidet, ist hauchdünn. Der den – im logischen Mythos dem status civilis vorausgehenden – ständigen Krieg Aller gegen Alle wiederaufnehmende »Re-bell« (von lat. re-bellare) kann siegen oder unterliegen. Im letzteren Fall ist die wenn nicht Ruhe, so doch zumindest Normalität des vorherigen Zustandes wiederhergestellt, im ersteren beginnt das »Nehmen, Teilen, Weiden« auf Neue, wird eine neue Machtordnung begründet und eine neue Rechtsordnung begründet (oder auch nur mit Akzentverlagerungen der neuen Machtordnung angepasst). Die Ergebnisse des neuen Nehmens und Teilens müssen abgesichert, der New Deal muss »geweidet« werden, um ein gedeihliches Miteinander auch unter neuen Vorzeichen zu
Macht und Recht
ermöglichen. Politik nämlich ist der Bewegungs-, Recht der Hegungsstil des sozialen Lebens.30 Der erstere setzt Tatkraft voraus, der letztere Akzeptanz und Vertrauen. Der Erste, schreibt Jean-Jacques Rousseau in seinem ›zweiten‹ Discours, der Abhandlung über den Ursprung und die Begründung der Ungleichheit unter den Menschen von 1754, der ein Stück Land eingezäunt und erklärt habe, dieses gehöre nun ausschließlich ihm (und zudem so schlichte Gemüter gefunden habe, die dies ohne Weiteres hinnahmen) sei der wahre Begründer der menschlichen Gesellschaft.31 Dass dieses »Einzäunen« von Land bei den frühen und auch zahllosen späteren Landnahmen in aller Regel gewaltsam erfolgt sein dürfte, erwähnt Rousseau nicht. All diesen Einzäunungen unterschiedlichster Art gemeinsam ist jedenfalls, dass der durch sie faktisch garantierte Zustand auch noch normativ ge- oder umhegt werden muss und musste. Die Art und Weise freilich dieser normativen Hegung von Land und anderen Gütern kann von Gemeinwesen zu Gemeinwesen erheblich variieren. Je nach Raum, Zeit und sonstigen soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Gegebenheiten mag die Ausgestaltung der Rechtsordnung und insbesondere die Dichte des von den einzelnen Gesellschaftsgliedern Eingezäunten oder auch nur Einzäunbaren sehr unterschiedlich ausfallen. Die Unterschiedlichkeit des politischen Bewegungs- wie auch des rechtlichen Hegungsstils der sich in einem raumzeitlichen Zusammenhang »mit Macht« Etablierenden steht jedoch unter dem ehernen Erfolgsgesetz einer Minimal-Akzeptanz durch die der jeweiligen Ordnungsmacht Unterworfenen. Wie immer deren Rechtsregime auch verfasst und gestaltet sein mag – ohne ein gewisses Maß an (wie auch immer gewonnener) Zustimmung kann sie auf Dauer nicht aufrechterhalten werden. Autoritäre oder gar totalitäre Monokratien, Oligarchien und Pseudodemokratien können auf Dauer nur in Gemeinwesen überleben, deren Bevölkerung entweder nach voraufklärerischen, traditionellen Glaubensmustern sozialisiert wurde (wie dies in der Vergangenheit zumeist der Fall war, aber auch in der Gegenwart noch in manchen sozial und ökonomisch unterentwickelten Ländern der Fall ist) oder sich (wie dies in den kommunistischen und faschistischen Diktaturen erfahrbar wurde) im Griff einer perfekt organisierten politischen Propaganda- und Unterdrü-
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ckungsmaschinerie befand. Selbst solche Regime scheitern jedoch erfahrungsgemäß über kurz oder lang an ihrer internen und / oder externen Inakzeptanz. Ganz ohne soziale Akzeptanz lässt sich die ständige Transformation von Macht in Recht jedenfalls nicht aufrechterhalten. Die Schwelle freilich, die Akzeptables von Gerade-noch-Akzeptablem oder eben Nicht-mehr-Hinnehmbarem scheidet, kann sehr unterschiedlich hoch sein. Rechtsbrüche, die in einem hochentwickelten Rechtsstaat mit einer vergleichsweise gebildeten und selbstbewussten Bevölkerung helle Aufregung auslösen, werden in einem Land autoritärer Sozialisation und Praxis mit einem resignierten Achselzucken quittiert werden. Durch Erfahrung gefestigtes Vertrauen in die Gewährleistung eines hohen Maßes an Rechtssicherheit hat selbst eine stabilisierende Wirkung. Wo sich ein solches Vertrauen nicht bilden konnte, kann die gegebene Rechtsordnung auch keine Stabilisierung von der sozialen Basis her erfahren. Deren (wenn nicht Erwartung, so doch) Hoffnung wird im Zweifel stets darauf gerichtet sein, dass das im jeweiligen raumzeitlichen Kontext für »recht und billig« Gehaltene und als solches rechtsförmig Gewordene auch tatsächlich um- und durchgesetzt wird. Deutschen Rechtsstudenten wird schon im ersten Semester ihres Studiums als Richtlinie nahegelegt, dass sich das positive Recht stets auf einer gleitenden Skala zwischen den Polen einer dem Gerechtigkeitsideal genügenden Billigkeit einerseits und einer Stabilität garantierenden Rechtssicherheit andererseits sowohl bewege als auch zu bewegen habe. Dass diese schlichte Daumenregel sowohl für den Bereich des gesellschaftlichen Miteinanders gilt, wo sich (in demokratischen Gesellschaften durch Wahlen, in autoritären durch Gewaltakte erzeugte oder aufrechterhaltene) politische Macht verfassungsgebend und rechtssetzend manifestiert, als auch dort, wo sie auf die Delegationsstufen der Gesetze vollziehenden Verwaltung und Rechtsprechung ausstrahlt, liegt auf der Hand. Auf all diesen Stufen der Transformation von Macht in Recht bleiben den Rechtsanwendern mehr oder minder weit gespannte Interpretationsspielräume, die sie zu kleinen Ad-hoc-Gesetzgebern werden lassen. So gesehen sitzt Themis nicht nur neben dem »Thron der Könige«, d. h. also heute den Regierungen und Parlamenten in
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demokratisch verfassten Staaten. Sie sitzt auch neben den sie beratenden Rechtswissenschaftlern. Und sie sitzt neben jedem Richterund selbst Prüferstuhl (bei staatlichen und staatlich anerkannten Prüfungen) und dem Sessel eines jeden Verwaltungsbeamten bis hin zum Zöllner und Verkehrspolizisten, wenn die Interpretationsspielräume auch mit absteigender Delegationskompetenz ebenfalls abnehmen. Ein letzer Freiraum jedoch, bei dessen Ausfüllung sich die Einschätzung der Sach- und Rechtslage und der daraus resultierende »Wille« zu dieser oder jener Entscheidung – die »Willkür« also in P. J. A. Feuerbachs altertümlicher Übertragung des Anaxarchos-Zitates – artikulieren kann, bleibt stets. Selbst wenn es um das Verhältnis von Macht und Recht geht, bleibt der Macht stets das letzte Wort – auch wenn dieses letzte Wort nur noch mit Miniatur-Buchstaben oder aber – wie stets bei sogenannten Reformen nach einem Putsch, einem Staatsstreich oder einer militärischen Eroberung – mit den Lettern des Rechtes selbst geschrieben wird. Letzteres geschieht dann, wenn von den neuen Machthabern das bisherige durch neues, ihren Zielen besser dienstbar zu machendes Recht ersetzt wird. Es ist dies ein Vorgang, der in unterschiedlichem Ausmaß bei jedem Machtwechsel – sei er nun schleichend oder abrupt – zu beobachten ist. Ein besonders spektakuläres Beispiel für einen schleichenden Machtwechsel war die allmähliche Ausprägung der – im Westfälischen Frieden von 1648 ihren Abschluss findenden – fürstlichen Territorialhoheit. Im Zuge dieses politischen Prozesses wurden vom 15. – 17. Jahrhundert Schritt für Schritt die »guten alten Rechte und Gewohnheiten« der deutschen Rechtstradition durch das Römische Recht ersetzt, das dem wachsenden Anspruch der sich aus dem feudalen Reichsverband emanzipierenden Landesherren auf Durchsetzung ihrer Souveränität förderlich war und den an den italienischen Universitäten ausgebildeten Doctores utriusque iuris besondere Privilegien (wie u. a. das Recht, den sonst dem Adel vorbehaltenen Bügelhelm im Wappen zu führen und sich vor dem Landesherrn nicht decouvrieren zu müssen) bescherte. Eindrucksvolle Beispiele für abrupte Rechtsstürze bietet die Einführung des napoleonischen Rechts nach der Französischen Revolution sowie die neuen Rechtssetzungen nach der bolschewistischen Revolution am Ende des 1. Weltkriegs und der faschistischen Machtergreifun-
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gen im Laufe der 20er und der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, aber auch der angelsächsisch akzentuierte New Deal nach dem Ende des 2. Weltkriegs. Und gegenwärtig erleben wir im Gefolge des labilen »Arabischen Frühlings« im Nahen Osten mannigfache Variationen desselben Musters. Das eingangs zitierte Sprichwort »Kommt die Macht, fällt das Recht in Acht«, muss also im Hinblick auf solche Umbrüche präzisiert werden: »Kommt die Macht, fällt das alte Recht in Acht«. Und dies seit eh und je. Dass es im menschlichen Mit-, Neben- und Gegeneinander »nichts Neues unter der Sonne« gebe, wussten die Weisen aller Zeiten.
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elches Kind hätte nicht schon einmal von seinen Eltern, Erziehern oder Lehrern den Satz gehört: »Das macht man nicht« – nachdem es etwas »gemacht« hatte, was offenbar als »Makel« (auch das lateinische maculum dürfte auf die Sanskrit-Wurzel mag zurückgehen und ein falsches »Kneten« bezeichnen) empfunden wurde. Dass das von den Getadelten Gemachte und Gewollte und das nach Ansicht ihrer sozialen Um- und Mitwelt Gesollte oft genug auseinanderfällt, ist wohl eine Urerfahrung der Menschheit. In erster Linie führt dieses Auseinanderfallen von Gewolltem und angeblich Gesolltem zu einem faktischen Problem, weil es Unbehagen und Unfrieden stiftet. Zum normativen Problem wird es erst, wenn sich im Bewusstsein der Kontrahenten und im Bewusstsein ihrer sozialen Umwelt – aus welchen Gründen auch immer – feste (und schlimmstenfalls unterschiedliche) Überzeugungen über den Inhalt und die Reichweite des Gesollten entwickelt und durchgesetzt haben. Mit anderen Worten: Zum normativen Problem wird die faktische Abweichung vom sozial gewünschten und erwarteten Verhalten dann, wenn sie auf einen Dissens über die Stimmigkeit der sprachlich zur »Moral« gewordenen Sitten der Vorfahren (= lat. mores) und deren als korrekt unterstellten Verhaltens (= gr. ethos)
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zurückzuführen ist, wenn also unterschiedliche Ansichten über die Anforderungen der zur allgemein anerkannten Richtschnur sozialen Verhaltens gewordenen ›Ethik‹ bestehen. Rationaler Urgrund für die Herausbildung eines von der jeweiligen Familie, Horde, Stammes- oder Volksgemeinschaft von ihren Gliedern erwarteten Verhaltens dürfte das nachdrückliche und nachhaltige Interesse am Überleben und Gedeihen der jeweiligen Gruppierung gewesen sein. Was ihr und damit auch jedem einzelnen (Mit-)Glied der (Über-)Lebensgemeinschaft zu nützen versprach, sollte zur Richtschnur des individuellen und kollektiven Verhaltens und damit zur gefestigten Sitte, zur alle mores umfassenden »Moral« werden. So weit, so gut. Das Problem freilich, das sich dabei ergab und immer wieder aufs Neue ergibt, ist ein doppeltes: Zum Einen war selten völlige Übereinstimmung über das moralisch oder ethisch Gebotene zu erzielen, weshalb dessen Grenzlinien auch in mancherlei Hinsicht im öffentlichen Diskurs bleiben. Soweit das moralisch oder ethisch Gebotene von der jeweiligen Gesellschaft auf die Ebene der Rechtserheblichkeit gehoben wird, werden die Grenzlinien dann von der Rechtssetzung und der Rechtsprechung gezogen und gegebenenfalls auch durchgesetzt, was freilich nicht unbedingt bedeutet, dass sie damit dem öffentlichen Diskurs völlig entzogen sind, da sich die Transformation von Ethik zu Recht stets aufs Neue vollziehen und dabei ihr Profil verändern kann. Ganz abgesehen von der allgemeinen Schwierigkeit, völlige Übereinstimmung über das ethisch Gebotene zu erreichen, gilt dies im Besonderen auch für die Abgrenzung zwischen der dem Einzelnen und der dem jeweiligen Gemeinwesen vernünftigerweise zuzumessenden Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit. Für sie gilt dasselbe wie für die Abgrenzung der den Individuen innerhalb des Kollektivs in ihrem Verhältnis zueinander zuzugestehenden Selbstentfaltungs-(sprich: Macht-)Sphären. Immanuel Kant (1724–1804) war es, der sinngemäß zum Ausdruck brachte, dass ein Gemeinwesen nur dann gedeihen könne, wenn »die Willkür des Einen mit der Willkür des Anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit« in Einklang gebracht werden kann. Durch ein Übermaß an Zuordnung von Bewegungs- und Gestaltungsmacht können jedenfalls Beide, die Individuen wie das Kollektiv (und damit der gesamte in
Macht und Ethik
Frage stehende soziale Oikos) in ihrer Lebens- und Überlebenskraft geschädigt werden. Eine Alle in diesem Oikos Verbundenen in ihrer Entfaltungsdynamik sowohl hemmende als auch schützende Linie – eine Linie, die Verbindungs- und Trennungslinie zugleich ist – markiert mithin die Grenze zwischen Macht und Ethik. In allen Kulturen zerfällt der Macht und Ethik sowohl trennende als auch verbindende Raum in zwei klar voneinander geschiedene Sektoren – einen im Vorfeld der Rechtsförmigkeit befindlichen und einen der Herrschaft des Rechtes unterliegenden. Im Bereich des ersteren wird zwischenmenschliches Verhalten durch die bloße Option darauf »was sich gehört« oder »was sich nicht gehört – ob nun als Mahnung bzw. Tadel ausgesprochen oder von dementsprechend Sozialisierten bereits internalisiert – vergleichsweise milde gelenkt. Im Bereich der Rechtserheblichkeit freilich, wo die Untunlichkeit eines zwischenmenschlichen Verhaltens so deutlich zutage treten kann, dass sie der verschärften Tabus der Rechtsordnung bedarf, um Unheil zu verhüten, sind dann auch der Schwere des Tabubruchs entsprechende Sanktionen fällig. Wo im Vorfeld der Rechtsförmigkeit in der Regel mehr oder minder deutlich artikulierte Missbilligung ausreicht, tritt jenseits dieses Vorfeldes die rechtliche Sanktion in Form von Geld-, Freiheits- oder (in manchen Staaten nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute noch) Körperstrafen. Soweit der empirisch erfahrbare Praxis-Befund quer durch Zeit und Raum. Die in diesem Zusammenhang bedeutsamste Frage jedoch ist die Frage, wie die normative Bestimmung dieser für ein gedeihliches Zusammenleben unverzichtbaren Verbindungs- und Trennungslinie erfolgen soll. Im Hinblick auf die Ethik des zwischenmenschlichen Mit- und Gegeneinanders folgt sie traditionellerweise der sogenannten goldenen Regel der Stoa, die sich bis in unsere Tage in dem schon Kindern in der Grundschule vermittelten Merkvers erhalten hat: »Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füge auch keinem Anderen zu«. In der neutestamentarischen Bergpredigt hat Jesus von Nazareth dieser Ermahnung dann eine andere Wendung gegeben: »Was du willst, dass man dir tue, das tue auch Anderen«. Und bei Immanuel Kant schließlich präsentiert sich die Quintessenz dieser ethischen Grundregel in seiner »Kritik der prak-
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tischen Vernunft« von 1788 als kategorischer Imperativ: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte«.32 Der große deutsche Aufklärer hat damit eine ethische Handlungsanweisung gegeben, die für den Vorraum des Rechtes ebenso Geltung beanspruchen kann wie für das Leben unter der Ägide des Rechtes. Zugleich unterstellt er mit seinem kategorischen Imperativ dem Gesetzgeber indirekt eine weise Gesetzgebungspraxis – die achtsame Wahrung der Linie also, die billigerweise das, was im Sinne des Paulus-Wortes aus dem Römerbrief »des Kaisers« ist, von dem, was »des Bürgers ist« (wie es heute heißen müsste) auf gemeinwohlverträgliche Weise scheidet. Schon im Mittelalter werden im Blick auf diese Linie die »maze, milte und stête«33 als Qualitäten fürstlichen Herrschaftsstiles sowohl gefordert als auch gepriesen. Und noch Jean Paul schreibt in seiner »Erziehungslehre« von 1807, dass »die Macht« sich »nicht milde genug« zeigen könne. Dass solche (schon von Seneca in der Schrift ›De clementia‹ seinem Zögling Nero ebenso nachdrücklich wie erfolglos empfohlene) Milde34 auch für heutige Regierungen oder Parteien ein wesentlicher Baustein der Akzeptanzsicherung ist, wenn sie vor entscheidenden Wahlgängen u. a. Steuererleichterungen gewähren oder wenigstens ankündigen, ist unverkennbar. Andererseits bleibt aber auch zu achten, was »des Kaisers ist«, da die Staatsmacht ihre Schutz-, Ordnungs- und Ausgleichsaufgaben nur dann wirkungsvoll wahrnehmen kann, wenn ihr die hierzu erforderliche Gefolgschaft und die hierfür erforderlichen Mittel in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt werden. Das Verhältnis von Macht und Ethik unterliegt mithin einer unverkennbaren, sowohl faktischen als auch normativen Wechseldynamik. Wer Macht hat, tut gut daran, im Umgang mit den dieser Macht Unterworfenen die durch die Gesetze der Gemeinwohlverträglichkeit definierten Interventionsgrenzen zu wahren, um nicht unversehens Opfer einer – durch Grenzüberschreitungen provozierten – Gegenmacht zu werden. Dies gilt für jede menschliche Gruppierung, von der Familie über die Gemeinde bis hin zum Staat und überstaatlichen Organisationen. Nicht nur, aber insbesondere im Hinblick auf das Leben in größeren politischen Gruppierungen bedarf es zur Begründung und Einhaltung der erwähnten Inter-
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ventionsgrenzen klarer rechtlicher Organisations-, Aktions- und Sanktionsregeln. Fehlen sie, so besteht das Risiko der Missachtung solcher Grenzen. Das häufige Versagen des zur internationalen Friedenssicherung berufenen UNO -Sicherheitsrates angesichts kriegerischer Konflikte spricht insoweit eine deutliche Sprache. Nicht zuletzt dieses zeigt, wie es um das Verhältnis von Macht und Ethik steht, wenn sich Regionalmächte rücksichtslos durchzusetzen versuchen und sich die zur Friedenssicherung berufenen Schutzmächte aufgrund divergierender politischer Eigeninteressen wechselseitig blockieren. Schon bei der Konzeption des UNO -Sicherheitsrates, bei der sich die Siegermächte des 2. Weltkriegs als ständige Mitglieder ein Veto-Recht vorbehielten und damit die Achillesferse der angestrebten internationalen Friedenssicherung ungeschützt ließen, hätten sich sowohl die Architekten als auch die Bauherren der UNO -Charta die althergebrachte Frage »Quis custodiet ipsos custodes?« (Wer wird die Wächter selbst bewachen?) stellen und durch den Verzicht auf das Vetorecht beantworten müssen. Im Nachhall ihrer Siegestrompeten und im Vorgriff auf potentielle strategische Zukunftsinteressen waren sie aber hierzu nicht bereit und bestätigten damit wiederum den Sinngehalt des überkommenen Sprichwortes »Kommt die Macht, so fällt das Recht in Acht« – eine Weisheit, die für den vorrechtlichen Bereich der Ethik in noch stärkerem Maße zutrifft als für den oft genug durchlässigen Schutzraum des Rechtes. Die zu dessen machtpolitisch asymmetrischer Architektur führende Entstehungsgeschichte des UNO -Sicherheitsrates ist nur eines von vielen anführbaren Fallbeispielen. Sie steht für ein allenthalben zu beobachtendes, para-physikalisch erklärbares Phänomen: Wo ein Energiepotential höherer Spannung einem Raum mit geringerer Spannung gegenüberliegt, tendiert es dazu, sich in diesen Raum hinein zu entladen. In einem soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Kontext heißt dies, dass ein entsprechend akzentuiertes Machtpotential dazu tendiert, sich – mit oder ohne mehr oder weniger einleuchtende Begründungen bzw. Vorwände – in solche schwächer »geladenen« bzw. weniger verdichteten Räume hinein zu entladen. Dies ist es wohl auch, was hinter dem viel zitierten Satz des vielgereisten, in Neapel geborenen und am Tegernsee verstorbenen englischen Historikers und Politikers
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Lord Acton (1834–1902) steht: »Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely«. Die Korrumpierbarkeit, von der Acton spricht, dürfte sich wohl in erster Linie auf die Versuchung der Inhaber von Machtpositionen beziehen, ihre Macht ohne Rücksicht auf die Interessen Schwächerer zu nutzen und sich damit über das Gemeinwohlinteresse an einer nachhaltigen Ordnung hinwegzusetzen, deren Stabilität stets nur auf einem steten Interessenausgleich beruhen kann. Ähnlich zu verstehen ist wohl auch das 46. Hexagramm des chinesischen I Ging, des ältesten Weisheits- und Orakelbuches der Welt. Dort heißt es im 5. Wechselbild (neun auf drittem Platz): »Man dringt empor in eine leere Stadt35 – eine Auskunft, die dem das I Ging Befragenden mit warnendem Unterton gegeben wird. Es ist jener Unterton, der auch dem deutschen Sprichwort »Der Krug geht so lange zum Brunnen bis er bricht« eignet. Allerdings gibt es auch noch eine andere Dimension machtbedingter Korruption und Korrumpierbarkeit – das »Einknicken nämlich vor den Mächtigen unter Verletzung der Lebensinteressen weniger Mächtiger, um sich selbst »mit heiler Haut« aus einer mehr oder minder prekären Gefährdungssituation herauszuwinden. Werner Bergengruen war es, der dieses Syndrom in seinem (wohl nicht zuletzt im Rückblick auf eine bedrückende Situation der deutschen Geschichte 1949 erstmals in Zürich erschienenen) Roman »Der Großtyrann und das Gericht« auf meisterhafte Weise literarisch verarbeitet hat. Macht und Ethik – ein schwieriges Verhältnis also. Ihre Vereinbarkeit allein dem gesunden Menschenverstand und dessen Einsicht in das ihr jeweils Förderliche zu überlassen, schien fast allen Weisen der Menschheitsgeschichte als zu riskant. Deshalb wohl auch die seit jeher bezeugte enge Verbindung von Religion und Ethik. Die erahnten, jedenfalls aber vorgestellten Himmelsmächte als Paten, Wächter (und notfalls Rächer bei Nichtbeachtung) des vernünftigerweise Gesollten anzurufen scheint in (fast) allen Menschheitskulturen ein zentrales Anliegen gewesen zu sein. Für den jüdisch-christlich-islamischen Religionskontext wurde durch den mosaischen Dekalog der Akkord angeschlagen, der dann durch alle weiteren Ausgliederungen dieses frühen Kanons der Tunlichkeiten und Untunlichkeiten hindurchklingen sollte. Eine durch eine göttliche Sanktionsmacht und eine ständig auf sie verweisende Pries-
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terkaste abgesicherte Moralität konnte ihren Stellenwert gegenüber den Unwägbarkeiten eines auf allen gesellschaftlichen Ebenen von der Familie bis hin zum Staat potentiell übergriffigen soziopolitischen Machtvolumens jedenfalls besser behaupten als die – nach Intelligenz, Gemüts- und Charakterstärke variierende – Einsicht in eine noch so nachvollziehbare Gegenseitigkeitslogik. Über diese Einsicht verfügten und auf sie vertrauten wohl ohnedies nur vergleichsweise wenige »Freidenker« von der Vorsokratik bis hin zur Schwelle der europäischen Aufklärung, in deren Verlauf diese Art der Fundierung von Ethik noch weitere Vertiefungen und Verstärkungen erfahren sollte. Selbst im vergleichsweise stark säkularisierten, »aufgeklärten« Europa des 21. Jahrhunderts jedoch dürfte der – wenn vielleicht auch nur noch äußerst verhaltene (um nicht zu sagen: verkümmerte) Glaube an eine irgendwie geartete jenseitige »Seelenwaage«, wie sie in der metaphysischen Vorstellungen vieler Religionen verankert ist, noch nicht gänzlich obsolet geworden sein. Dafür sorgt schon die Unerbittlichkeit, Unausweichlichkeit und Unüberhörbarkeit des nicht nur siegreichen römischen Feldherren auf ihren Triumphwagen, sondern auch jedem einzelnen Menschen aus allen Ecken und Enden seines Lebensweges zugeraunten memento mori (»Denk daran, dass [auch] Du sterblich bist). Die Sterblichkeit als Fingerzeig also auf die jenseitige »Garantiemacht« der Ethik. Wenn von einer jenseitigen Sanktionsperspektive als Korrektiv unethischen Verhaltens die Rede ist, so wird man in der Regel an die schwereren Verstöße gegen die Regeln der Mitmenschlichkeit denken. Das Verhältnis von Macht und Ethik kann aber auch im alltäglichen, unterhalb der Schwelle der Rechtserheblichkeit liegenden Bereich des zwischenmenschlichen Umgangs miteinander von Bedeutung sein – überall dort nämlich, wo ein soziales Machtgefälle besteht. Es kann den Umgangston betreffen, den Eltern mit ihren Kindern pflegen oder Lehrer mit ihren Schülern. Es kann die Art und Weise betreffen, in der Unternehmer mit ihren Angestellten verkehren oder Staatsbeamte mit Antragstellern oder sonstwie – und sei es auch nur in einem Detailbereich – von der Öffentlichen Hand Abhängigen. Auch hier mag sich erweisen, ob sich die in einer höheren Machtstellung Befindlichen aufs »hohe Ross« setzen und einen barschen bis herablassenden Ton anschlagen oder aber einen
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höflich bis freundlichen oder (im familiären Umfeld) gar liebevollen Umgangsstil pflegen. Macht und Ethik stehen keinesfalls zwingend in einem Spannungsverhältnis. Überall dort, wo sich Verantwortungsbewusstsein, Gerechtigkeitssinn, Einfühlsamkeit und Fürsorglichkeit bei den – in welchen Bezügen auch immer – Mächtigen findet, wird das Zusammenwirken von Macht und Ethik zu einem Glücksfall für die betreffende Lebenssituation. Dies ist überall dort der Fall, wo das Gewissen die Macht übernommen hat. Überall dort etwa, wo Menschen unberechtigter und unangemessener Gewalt selbstlos in den Arm gefallen oder schon im Vorfeld unter Nutzung ihrer eigenen Machtmittel dafür gesorgt haben, dass Derartiges nicht geschehen kann. Die Regel freilich ist dies nicht. Oft genug wird Lord Actons Erkenntnis, dass Macht korrumpiert, auf allen sozialen und politischen Ebenen durch die Erfahrung des Lebens bestätigt. Und oft genug behält dann auch die Macht im Spannungsverhältnis von Macht und Ethik fürs Erste die Oberhand. Zu den tröstlichen Menschheitserfahrungen zählt allerdings auch die nicht minder verbreitete Erfahrung, dass die Dinge … »einander Buße und Vergeltung leisten für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit«36 wie es der Thales-Schüler und – Nachfolger Anaximandros von Milet (611–546 v. Chr.) formuliert hat, dass also (wie ein christlich angehauchtes Sprichwort weiß) »Gottes Mühlen« auch schon im Diesseits zwar »langsam mahlen, aber trefflich fein«.
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Machtlosigkeit als Utopie
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s gab Zeiten, in denen das Substantiv ›Macht‹ und das Adjektiv ›mächtig‹ angesichts eines allgegenwärtigen Machtmissbrauchs unter Generalverdacht gerieten oder gar vollends zu Schimpfworten verkamen. Und dies, obwohl der Begriff der Macht, wie eingangs dargelegt, im Grunde nicht mehr bezeichnet als ein von »Gott oder [der] Natur« (Spinoza37) verliehenes Lebens-, Entwicklungs- und Verhaltenspotential – sprach- und kulturgeschichtlich betrachtet mithin nichts anderes bedeutet als die Fähigkeit, sich ein Dach über dem Kopf zu schaffen, die Flechtwerkwände seines (Ständer-)Hauses mit Lehm oder Ton zu bestreichen und sich die hierfür erforderliche »Knetmasse« zu besorgen: Macht als Lebenserhaltungs- und Lebensentfaltungsenergie also. Wie es um diese Grundqualität des menschlichen Lebens faktisch und normativ bestellt ist, wurde in den vorhergehenden Abschnitten dieser »Kleine(n) Philosophie der Macht« skizziert. Und was sich aus ihr alles zu entwickeln vermag, erzählt die Weltgeschichte der Macht und der Mächte und bedarf hier über das bereits Gesagte hinaus keines weiteren Kommentars, zumal wir uns nach wie vor inmitten dieses individuell und kollektiv, innerstaatlich und zwischenstaatlich, blutig und unblutig ausgetragenen Ringens um einen Platz an der Sonne bewegen und stets
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aufs Neue unseren eigenen Stand- und Wirkort wie auch unsere Blickrichtung auf dieses Welttheater neu bestimmen müssen. Von den zwischenstaatlichen Machtkämpfen, aber auch von Bürgerkriegen, ist das Leben der in den Konfliktzonen lebenden Menschen unmittelbar, zahlloser anderer, außerhalb dieser Konfliktzonen lebender Menschen aber auch mittelbar betroffen – sei es nun, dass sie durch Wirtschafts- und Finanzembargos, durch Verknappungen und Verteuerungen, durch Reise- und Transportbeschränkungen beeinträchtigt oder auch durch den Druck von Flüchtlingsströmen aus der Normalität ihres Alltags gerissen werden. Geprägt wird diese – von den meisten Menschen in der westlichen Welt und darüber hinaus durchaus begrüßte – Normalität ihres Lebens durch eine sozialpolitisch mehr oder minder abgefederte kapitalistische Gesellschaftsordnung, deren Handel und Wandel zu einem Großteil in der Produktion, Distribution und Konsumtion – heute weitgehend industriell gefertigter – Güter zum Ausdruck kommt. In der Teilhabe an diesem Geschehen sowie auch in seiner Regulierung, Kommentierung und Ästhetisierung manifestiert und aktualisiert sich in Friedenszeiten das menschliche Machtpotential auf der gegenwärtigen Entwicklungsstufe unserer Zivilisation. Wie sich in einer solchen zwischenmenschlichen Atmosphäre dieses auf individuelles und kollektives Wachstum ausgerichtete Geschehen vollzieht, hat der aus den Niederlanden stammende und in London praktizierende Arzt Bernard de Mandeville (1670–1733) schon in der Zeit des europäischen Frühkapitalismus in seiner »Bienenfabel« auf ironisch-sarkastische Weise geschildert. Den Tenor der in mehreren Versionen erschienenen und zu Mandevilles Lebzeiten heftig angefeindeten Schrift intoniert schon der Untertitel der »Fable of the Bees« – nämlich: »Private vices public virtues« (»Private Laster, öffentliche Tugenden«). Im Geiste eines illusionslos-nüchternen Utilitarismus wird in zahlreichen Bezügen dargelegt, wie sich Eigennützigkeit trotz oder gerade wegen ihrer unwürdigen Begleiterscheinungen zu einem durchaus willkommenen Gemeinnutzen addiert. Daran, dass er mit den »bienenfleißigen« Protagonisten seiner Fabel zugleich auch seinesgleichen meint, lässt Mandeville keinen Zweifel:
Machtlosigkeit als Utopie
»Das Leben dieser Bienen glich Genau dem unsern, denn was sich Bei Menschen findet, das war auch En miniature bei ihnen Brauch38 Und dies wird dann auch ausführlich dargelegt: »Millionen widmen Kraft und Zeit Der Andern Lust und Eitelkeit, Millionen wieder sind berufen, Um zu zerstören, was jene schufen. Trotz des Exports in alle Welt Es noch an Arbeitskräften fehlt. Manch Reicher, der sich wenig mühte, Bracht sein Geschäft zu hoher Blüte, Indes mit Sense und mit Schaufel Gar mancher fleiß’ge arme Teufel Bei seiner Arbeit schwitzend stand, Damit er was zu knappern fand. Auch gab es manchen Dunkelmann Des Kunst man nirgends lernen kann, Der sich ganz dreist und ungeniert Mit leerem Beutel etabliert. Wie Kuppler, Spieler, Parasiten, Quacksalber, Diebe und Banditen Falschmünzer und andre Arbeitsscheue, Die es verstehn, mit großer Schläue Aus ihres simplen Nächsten Mühen Gehörigen Profit zu ziehen. Nur solche zwar man »Schurken« schalt, Doch war’s auch, wer als ehrlich galt; Es gab kein Fach und Amt im Land, Wo Lug und Trug ganz unbekannt.«39 Kurzum: »S’ gab keine Biene, die nicht wollte / mehr kriegen … als sie sollte.40 Bissig porträtiert wird von dem mit jedem Berufsstand ins Gericht gehenden Moralisten der ›ganz normale Wahnsinn‹ je-
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der (keineswegs nur bürgerlichen) Gesellschaft. Mandevilles realitätsnahe Satire wäre also letztlich wohl nur wegen ihrer witzigen Knittelverse bemerkenswert, wäre da nicht die auf die Schicksalhaftigkeit und Unausweichlichkeit dieses zivilisatorischen Geschehens verweisende Pointe der »Bienenfabel«: Die allgegenwärtige Amoralität des emsigen Bienenschwarms scheint ihm – zumindest materiell – wohl zu bekommen: »So nährte das Laster die Findigkeit, Und diese, im Bund mit Fleiß und Zeit, Hatte das Leben so angenehm, So wahrhaft lustvoll und bequem Gemacht, daß jetzt der Arme sogar Noch besser dran als einst der Reiche war. Vollendung herrschte offenbar.«41 Trotz des gewachsenen Wohlstands herrscht jedoch allgemeine Unzufriedenheit, man beklagt sich wegen jeder kleinsten Unannehmlichkeit und ruft deretwegen mutwillig die Götter an – bis Jupiter der Kragen platzt und er den Bienenschwarm zur Tugendhaftigkeit verurteilt: »Doch Jupiter, der länger sehen Den Zank nicht mochte, rief: Genug So seid befreit denn vom Betrug!«42 Jupiters Entscheidung freilich war der Anfang vom Ende des Bienenschwarms: »Oh Gott, wie war der Schreck entsetzlich! Der Wandel war auch gar zu plötzlich. Da man auf Luxus jetzt verzichtet, So ist der Handel bald vernichtet. Manch Handwerk mehr und mehr verfällt, Betriebe werden eingestellt.«43
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Der Verzicht auf wirtschaftliche Expansion führt zu einem unaufhaltsamen Machtverlust des Bienenschwarms als Ganzem wie auch aller seiner Glieder. Der Niedergang des Wirtschafts- und Sozialsystems hat auch den Zerfall des Sicherheitssystems zur Folge. Der aus seinem zwar wenig moralischen, jedoch einträglichen und deshalb machtsteigernden Handel und Wandel Kraft schöpfende Bienenschwarm kann sich der Raub- und Machtgier seiner Nachbarn, die diesen Weg der Bekehrung nicht einschlagen konnten, kaum mehr erwehren, wird in Abwehrkämpfen völlig zermürbt, verliert seinen Wirk- und Ruheort, überlässt den Siegern sein Terrain und zieht sich in einen hohlen Stamm zurück. Mandevilles lakonisches Resumé: »So klagt denn nicht: für Tugend hat’s In großen Staaten nicht viel Platz. Mit möglichstem Komfort zu leben, Im Krieg zu glänzen und doch zu streben, Von Lastern frei zu sein, wird nie Was andres sein als Utopie.«44 Angesichts der quer durch Zeit und Raum erfahrbaren anthropologischen und soziopolitischen Gegebenheiten ist freilich schon die Vorstellung einer solchen kollektiven Bekehrung eine Utopie, weshalb Mandeville auch einen verärgerten Deus ex fabula einführen musste, um seine Pointe platzieren zu können. Ein freiwilliger Machtverzicht ist (wenn nicht durch himmlische Interventionen veranlasst) höchstens als taktischer, nicht aber als finalstrategischer Schritt vorstellbar. Wenn die Schweizer nach ihrer Teilniederlage und ihrem geordneten Rückzug aus der Schlacht von Marignano (1516) keine Angriffskriege mehr geführt haben (eine Haltung, die sich dann im Gefolge des Wiener Kongresses 1814/15 zum Gelöbnis dauernder Neutralität entwickeln sollte), so wird man dies in diesem Lichte sehen können. Und Ähnliches gilt auch dort, wo sich einst miteinander verfeindete Nationen zu politischen Unionen verbunden haben, wie dies u. a. in Europa der Fall ist. So segensreich sich aber gerade diese letztere Entwicklung erwies, so deutlich trat doch auch im Lauf der Zeit zutage, dass sich das nationale Eigeninteresse
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mancher Glieder dieser Union nur zu taktischen Rücknahmen und Kompromissen verstehen konnte und das erreichte Gleichgewicht stets gefährdet war und ist. Zur Kategorie der lediglich taktischen Machtverzichte zählt auch der im Zeichen der weltweiten Umweltkrise entwickelte Zielbegriff des »qualifizierten« oder »nachhaltigen« Wachstums. Letztlich besagt er und alle in seinem Zeichen erfolgenden sozioökonomischen Bestrebungen nichts anderes als die Bemühung, die Kollateralschäden eines ungehemmten Wirtschaftswachstums einzudämmen. Die ökologisch motivierte Forderung nach »Nullwachstum« bleibt trotz aller Politrhetorik marginal, weil ihre absehbaren Konsequenzen angesichts der weltweiten Wohlstands-Disparitäten und angesichts der von Mandeville aufgezeigten Perspektiven für jede radikalökologisch reformierte Gesellschaft schwerlich auf Akzeptanz hoffen dürfen. Wie alle bisherigen Menschheitserfahrungen lehren, präsentieren sich scheinbare Machtverzichte mithin in (zumindest) drei Erscheinungsformen: Der Machtverzicht, den Diogenes von Sinope geradezu prostitutiv zelebrierte, lässt sich unschwer als triumphale Geste decouvrieren – als Pseudoverzicht also, der in dieser augenfälligen Rigorosität auch schwerlich zur Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung im Sinne Immanuel Kants taugen würde. Der kynischen Askese verwandt ist der religiös fundierte Machtverzicht – ein Verzicht auf persönlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Machtgewinn, der ad maiorem gloriam Dei zu erfolgen scheint. Auch bei ihm handelt es sich jedoch um keinen wirklichen Machtverzicht. Zum Ersten deshalb nicht, weil der persönliche Verzicht auf Macht dann oft genug dem dieselbe religiöse Blickrichtung verfolgenden Kollektiv – d. h. also einer Kirche, einem Kloster oder einer sonstigen Kongregation oder Organisation – zuwächst. Zum Zweiten deshalb nicht, weil der zugunsten Anderer erfolgende Machtverzicht dem Verzichtenden vielfach eine andere Form sozialer Macht zuwachsen lässt. Nicht nur an den Lippen heiliger Asketen, sondern auch anderer Wohltäter unterschiedlichster Provenienz und Prägung pflegen zahlreiche Bewunderer zu hängen. Zum Dritten aber schließlich auch deshalb nicht, weil die meisten aus religiösen Gründen auf weltliche Macht Verzichtenden einen
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Ehrenplatz im – wie auch immer vorgestellten – Jenseits erhoffen. Das Paradebeispiel für den letztgenannten Typus ist der um seines Glaubens willen verfolgte und so zum Märtyrer gewordene christliche Bekenner zu Zeiten der römischen Christenverfolgungen. Dieser wiederum ist deutlich zu unterscheiden von dem (von seinen Anstiftern missbräuchlicherweise ebenfalls als Märtyrer bezeichneten) islamistischen Selbstmordattentäter, der zwar ebenfalls sein Leben opfert, um sich einen Platz im Paradies zu sichern, jedoch durch seine Selbstaufopferung zugleich auch in einem rücksichtslosen und menschenverachtenden Gewaltakt Macht über Menschen und Sachen ausübt und insofern dem anthropologischen Grundmuster eines machtbesessenen Homo (non satis) Sapiens folgt. Einem ganz anderen Stern folgt jener Umgang mit dem menschlichen Machtstreben und Machtpotential, der von manchen Zen-Meistern praktiziert und gelehrt wird. Sie weisen ihre Schüler an, ein bestimmtes Werk zu vollbringen und es dann nach vollbrachter Tat wieder zu zerstören, um anschließend ein neues zu verwirklichen und mit diesem letztlich ebenso zu verfahren etc. etc. Diese vor dem Hintergrund einer tendenziell buddhistischen Vanitas – Vanitatum (Alles-ist-eitel-)Philosophie gelebte und gelehrte Dialektik von Schöpfung und Vernichtung, Aufstieg und Niedergang mag einzelnen Menschen angesichts der allgegenwärtigen Erfahrung einer unaufhörlich wirkenden Wechseldynamik von Werden und Vergehen (und nicht zuletzt auch ihrer eigenen Sterblichkeit) ein hohes Maß an persönlicher Souveränität zuwachsen lassen. Und in gewissem Sinne könnte man den im Bewusstsein eigener Machtvollkommenheit freiwillig über die Fortsetzung oder Beendigung seines eigenen Lebens entscheidenden, aber keine Gewalt gegen Andere planenden potentiellen Selbstmörder ebenfalls im Lichte dieser Art von Souveränität sehen. Als Rezept für eine aus einer Vielzahl von Menschen unterschiedlichen Alters und Entwicklungsgrades bestehenden Gesellschaft freilich ist auch eine solche Machtverzichtsstrategie schwerlich geeignet oder auch nur vorstellbar. Ganz abgesehen von der Frage der Generalisierbarkeit einer solchen Strategie scheidet ein Mensch aber auch mit einer derartigen Perspektive scheinbaren Machtverzichtes bei gleichzeitigem Ringen um ein Höchstmaß an Autonomie keineswegs aus dem unaufhör
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lichen Wett- und Kreislauf des Machtstrebens aus. Der »Hunger nach Macht und abermals Macht, der erst im Tode endet« (Thomas Hobbes) verändert lediglich seine Zielrichtung, nicht aber seine Natur. Eine menschliche Wohnstatt jenseits der Macht ist im Diesseits nicht vorstellbar. Solange sich die anthropologische Grundausstattung des Menschen nicht durch einen Evolutionssprung verändert, ist er zum Streben nach Machtentfaltung – je nach Sichtweise – sowohl berufen als auch verdammt. Wie er mit diesem Schicksal umgeht freilich ist eine Frage seiner jeweiligen intellektuellen und spirituellen Entwicklung – oder auch dessen, was man mit sehr unterschiedlichen Begründungen als »Gnade« zu bezeichnen pflegt. Auch im Hinblick auf den jeweiligen Umgang mit der jedem Einzelnen auf Zeit verliehenen Machtpotential wird man daher mit dem früh vollendeten Renaissance-Philosophen Pico della Mirandola (1465–1494) gebannt auf das Wesen blicken können, dem es freizustehen scheint, pflanzenhaft dahinzuvegetieren, sich als Mensch seinen [auch niedrigen] Instinkten hinzugeben oder aber sich diesseits wie jenseits der Macht in engelgleiche Höhen aufzuschwingen. Und vielleicht wird man Pico dann auch zustimmen können, wenn er in seinem Werk »Über die Würde des Menschen« ausruft: »Wer sollte ein solches Chamäleon nicht bewundern?«
Die Gartenkunst als Medium der Machtentfaltung
Annex Gärten der Macht Die Gartenkunst als Medium der Machtentfaltung
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Die Gartenkunst als Medium der Machtentfaltung
I Der Garten als Lebensraum »Seid Ihr glücklich? Wir sind mächtig!«
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ie lakonische Frage und die nicht minder lakonische Antwort sind Zitate aus einem Text Lord Byrons, die Carl Schmitt seinem »Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber« vorangestellt hat. Mächtig zu sein gehört in der Tat zu den zwiespältigen Implikationen der conditio humana – ob dies von den Mächtigen wie von den Ohnmächtigen erkannt wird oder nicht. Und mächtig ist der Mensch nicht zuletzt im Garten, in jenem umhegten Raum, der ihm seit Jahrtausenden zum Lebensraum geworden und durch alle Wandlungen hindurch auch geblieben ist. Zuvörderst allerdings, so möchte man meinen, ist der Garten ein Ort der Wahrnehmung der Macht der Natur. Zugleich aber auch ist er ein Ort der Machtentfaltung des Menschen. Beide Dimensionen durchdringen und durchkreuzen sich, wenn vom Garten als Lebensraum die Rede ist. Und wenn der Garten dem Menschen dauerhaft zum Lebensraum werden soll, so müssen sie sich durchdringen und durchkreuzen. Ein Ort der Wahrnehmung der Macht der Natur ist der Garten, weil er ohne die natürlichen Vor- und Beigaben nicht zu dem werden könnte, was er dem um sein Überleben und ein (im aristotelischen Sinne) gutes Leben bemühten Menschen bedeuten
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muss. Ohne den Pflanzgrund der Erde, ohne Sonne, Regen, Wind und Wetter gäbe es nichts, was sich einzuhegen und damit zum Garten zu machen lohnte. In diesen Vor- und Beigaben aber manifestiert sich die Gegenwärtigkeit und Wirklichkeit der Natur – für den einen oder anderen in Überhöhung der Natur durch eine imaginäre himmlische Daseinsvorsorge auch »Gott oder die Natur« (Spinoza). Diese Daseins- und Wirkmacht der Natur setzt die Grenzen, innerhalb deren sich die Daseins- und Wirkmacht des Menschen (der selbst ein Teil der Natur ist) entfalten kann. Diese Grenzen freilich sind nicht allesamt offenkundig. In vollem Umfang erfahren kann sie der Mensch erst dann, wenn er seine eigene Geistes- und Körperkraft und -macht mit der Kraft und Macht der Natur misst. Dieser Prozess des Kräftemessens wird anhalten, solange es Menschen gibt. Eingesetzt hat er schon mit dem täglichen Daseinskampf der frühen Jäger und Sammler. Fortgesetzt wurde er nach dem allmählichen Sesshaftwerden des Menschen der Frühzeit inmitten eines »Gartens« – eines per definitionem umhegten Lebensraumes. Schon die Umhegung selbst ist Ausdruck einer ausgrenzenden – wilde Tiere und potentielle wie aktuelle Konkurrenten um die Nutzung dieses Lebensraums ausgrenzenden – Kraft- und Machtentfaltung. Der potentiellen wie der aktuellen Invasions-Macht des Gefährlichen und Bedrohlichen wird die Gegenmacht des Abwehrenden und Bergenden, wird der »Hort« entgegengesetzt. Der zum griechischen chórtos, zum lateinischen hortus, zum französischen jardin, zum spanischen jardin, zum italienischen giardino, zum englischen garden und zum deutschen Garten ausgewachsene indoarische Wortstamm ghordo bedeutet nichts anderes als Flechtwerk, Hürde, Hag. Der Garten ist mithin wesenhaft Hort des Lebens, solange und soweit er hortus conclusus, umhegter Raum also, ist. Mehr noch: Er kann dem Menschen zum »Paradies« (das altpersische pairida-eza bedeutet ebenfalls Umwallung, Umzäunung) werden, weil er im Vollbesitz seiner Schutz- und Hegungsmacht Überlebens- und Lebensraum ist – ein Raum, innerhalb dessen der Mensch als Geschöpf der Natur die ihm eingeborene Schöpferkraft und -macht mit der Schöpferkraft und -macht der ihn umgebenden Natur synergetisch verbinden kann und muss, um die weiteren Bedingungen
Die Gartenkunst als Medium der Machtentfaltung
eines mehr oder minder glückhaften Lebens zu schaffen. Unsere Sprache spiegelt diese Sequenz aufs deutlichste. Die – nicht zuletzt mittels einer Einfriedung erreichte – Befriedung des sozialen Raumes wird zur grundlegenden Voraussetzung für die Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse. Und die Bemühung um diese Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse innerhalb des befriedeten Raumes wird zu einem weiteren Ausdruck menschlicher Kraft- und Machtentfaltung. Stets war und ist es der Kampf um die Geheimnisse, die Energien und die Früchte der Natur, die den Elementen mit Hilfe immer folgerichtiger erdachter und immer kunstvoller geschaffener Werkzeuge abgerungen werden. Eine Dimension dieses Kampfes war und ist das Ringen um das Wissen, das dieser Form der Kraft- und Machtentfaltung die Wege weist. Scientia propter potentiam heißt es in Francis Bacons Novum Organum sinngemäß. Eine weitere Dimension dieses Kampfes ist der Kampf um die Bestimmung der Bahnen, innerhalb deren die Bemühung um eine Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse verlaufen soll. Dass es dabei sowohl um die Befriedigung materieller wie intellektueller und spiritueller Grundbedürfnisse gehen kann, lehrt die Geschichte der menschlichen Kultur auf vielfältige Weise. Der Garten im heutigen Wortsinne – der das Haus umgebende oder ihm in irgendeiner anderen Form zugeordnete Naturraum also – wird vor diesem Hintergrund zum räumlichen Paradigma für die Ordnung des gesellschaftlichen Ganzen. Seine Gestaltung folgt unterschiedlichen Funktions- und Formationsbedürfnissen. Wo es lediglich um Subsistenz geht, um die Gewinnung der Früchte der Erde also, wird sich die Gestaltung der Gärten in erster Linie den jeweiligen geographischen, geologischen und klimatischen Fruchtbarkeitsbedingungen – der Macht der Natur also – anzupassen suchen. Und auch die Formen der konkreten menschlichen Machtentfaltung – die Gartenarbeit also – wird deren Gegebenheiten folgen. Wo spirituelle Bedürfnisse im Spiel sind, wie dies bei Tempel- und Klostergärten in besonderem Maße der Fall ist, wird nicht zuletzt auch die Meditationskraft von Symbolen um Ausdruck ringen. Wo Gärten in erster Linie der körperlichen, geistigen und seelischen Entspannung und Erholung dienen sollen – in dereinst so genannten Lustgärten also – pflegen sich die verschiedensten Gestaltungs-
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elemente spielerisch zu durchdringen. Dies galt und gilt für die hängenden Gärten von Babylon ebenso wie für die Gärten des Fernen Ostens, für die griechischen und römischen Gärten wie für die byzantinischen und für die maurischen Gärten, für die Schloss- und Patriziergärten der Renaissance, des Barock und des Rokoko wie für die im Zusammenhang mit Bundes- und Landesgartenschauen entstandenen deutschen Bürger-Parks des 20. Jahrhunderts. Und wo schließlich politische Ambitionen die Gestaltung von Gärten maßgeblich bestimmten, wie dies in besonders augenfälliger Weise bei den geometrischen Gärten des Renaissance-, Barock- und Rokokozeitalters der Fall war, wurde der in markanter Weise dem Zu- und Eingriff des Menschen unterworfene Naturraum als Paladin der Macht zum wirkmächtigen Lebensraum für das Geltungsbedürfnis dessen oder derer, die ihn gestalten ließen.
Die Gartenkunst als Medium der Machtentfaltung
II Der geometrische Garten als Medium fürstlicher Machtentfaltung Macht hat viele Formen und Masken. Eine ihrer aus- und eindrucksvollsten ist die der Territorialität. Landnahme, Landsicherung, Raumordnung und Raumnutzung bestimmen in hohem Maße den Rang von Akteuren auf der sozialen und politischen Bühne. Der Gründungsakt ist der Akt der Landnahme. Und dies ganz unabhängig davon, ob er unter Einsatz militärischer, politischer oder wirtschaftlicher Macht erfolgt. Der – stets aufs Neue zu leistende – Folgeakt ist die militärische, politische oder wirtschaftliche Sicherung des erworbenen Territoriums. Zum unmittelbaren und ständigen Ausdruck jedoch gelangt die – in der rituell gefeierten Erinnerung an die Landnahme und in der täglichen Routine der Landsicherung gespeicherte – Macht durch die Augenfälligkeit der kontinuierlichen Raumordnung und Raumnutzung. Wo vom geometrischen Garten als Ausdruck fürstlicher Machtentfaltung die Rede sein soll, liegt der Gedanke an den seine Politische Philosophie more geometrico entwerfenden Engländer Thomas Hobbes (1588–1679) nahe, der sein Bild vom Staate aus einem Bild des Menschen erstehen lässt, für das ein teils evidentes, teils latentes »Verlangen nach Macht und abermals Macht, das erst im Tode
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endet« charakteristisch ist. Wer der Hobbes’schen Anthropologie zu folgen bereit ist – und nicht zuletzt seine Sozial- und Politikphilosophie steht für die das ganze Zeitalter des Barock überspannende Dialektik von Bürgerkriegsdrohung und machtvoll-autoritärer Friedenssicherung – hält den Schlüssel zum Verständnis des weitausgreifenden, geometrisch durchstilisierten Barock- und Rokokogartens in der Hand. Von der (Hypo)these eines unstillbaren menschlichen Machthungers zur weiteren Hypothese eines unstillbaren menschlichen Landhungers ist kein weiter Weg. Nicht zuletzt auch im Hinblick auf den Zuschnitt und die Gestaltung der aristokratischen und fürstlichen Gärten musste den Herrschenden Territorialität in Form einer Selbsterhaltung und Selbstentfaltung sichernden und fördernden (und deshalb auch auf Abstand zu den Beherrschten bedachten) Raumordnung und Raumnutzung ein besonderes Anliegen sein. Nachdem aufgrund der fortschreitenden Entwicklung der Waffentechnik Burg- und Stadtmauern militärisch überflüssig geworden waren, konnten Schlösser mit weitem Umgriff auch in der Ebene errichtet werden. Und spätestens nach dem rechtlich-politischen Innovationssprung des den 30 jährigen Krieg beendenden Friedens von Münster und Osnabrück, der den Landesherren neben dem Bündnisrecht (ius foederis) auch die unbegrenzte Landeshoheit (ius territorii) zuerkannte, war auch die Motivation für die Errichtung derartiger Residenzen nachhaltig gestärkt worden. An die Stelle des feudalen Lehensstaates war nun endgültig der territoriale Flächenstaat getreten. Sinn- und augenfälliger Ausdruck dieser Entwicklung ist die Territorialität und Autorität signalisierende Aura des Barockgartens. Selbst in ihrer sozialen Abfolge und Abschwächung vom monarchischen über den adeligen und (groß-)bürgerlichen bis hin zum Bauerngarten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wusste sich diese stets noch einen Abglanz jener epochalen »Kraft und Herrlichkeit« zu bewahren, die dem Neubeginn des politischen Lebens nach der Periode der konfessionellen Bürgerkriege zugewachsen war. Charakteristisch für den fürstlichen Garten des Barock war zum einen die raumgreifende Flächenausdehnung. Und charakteristisch war zum anderen die Unterwerfung heischende und Ordnung gebietende Hoheitsgebärde. Die zumindest im Ansatz geometri-
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schen Ausdrucksformen dieser Hoheitsgebärde freilich folgen uralten Mustern. Selbst der Schöpfungsbericht des Alten Testaments (1. Mose 2,10), dem zufolge sich der im Garten Eden entspringende Quellstrom in »vier Hauptwasser« teilt und damit die Form des Gartenkreuzes vorgibt, geht auf ältere Überlieferungen zurück. Die Vierteilung als Grundmuster der antiken Gartenanlagen des Mittleren Orients – und damit wohl auch der ihm zugrundeliegende Mythos vom Wasser des Lebens, das sich aus einer mehr oder minder definierbaren Mitte heraus in alle vier Himmelsrichtungen ergießt – wird bereits durch akkadische Quellen belegt. Diesen ist zu entnehmen, dass schon die frühbabylonischen Könige nach der Unterwerfung der Sumerer (um 2250 v. Chr.) den Titel »Herr der vier Quartiere« annahmen, was nicht nur auf potentielle mythologische Aszendenzen, sondern auch auf die unverkennbare imperiale Wertigkeit einer solchen Wort- und Bildsymbolik verweist: Wer die vier Ecken eines Territoriums abzustecken und die Verbindungslinien zu sichern vermag, wessen Befehl in allen vier Himmelsrichtungen gehört und gehorcht wird, kann den Anspruch erheben, wenn nicht Herr der Welt, so doch zumindest Herr seiner Welt zu sein. Für den beispiellosen Erfolg, den der gartenarchitektonische Topos der »vier Quartiere« – das Grundmuster des geometrischen Gartens – im Verlauf der gesamten Kulturgeschichte stets aufs neue erfahren sollte, dürfte nicht zuletzt dieser Bedeutungsaspekt eine wichtige Rolle spielen. Um sich als »Herr der vier Quartiere« fühlen zu können, brauchte man nicht unbedingt »Persarum Rex« – eine noch von Horaz als Chiffre der Glückseligkeit gebrauchte Metapher – zu sein. Als »Herr der vier Quartiere« konnte sich jeder fühlen, der es vermochte einen diesem Strukturmuster entsprechenden Garten anzulegen. Und auch die »vier Hauptwasser« brauchten sich nicht unbedingt als Wasserführungen zu präsentieren. Was sehr viel später im japanischen Zen-Garten zur Regel wurde – die Darstellung von Wasser mit Sand oder Kies – war auch für die Entwicklungsgeschichte der »vier Hauptwasser« des Gartens Eden typisch: Sie verwandelten sich zumeist in Gartenwege. In der Folge war es dann tatsächlich der persische und danach der arabische Garten, für den das Strukturmuster der vier Quar-
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tiere und seine geometrischen Weiterbildungen charakteristisch wurde. Als Siedlungsgut trugen mohammedanische Eroberer es im Osten bis Indien und im Westen bis Spanien. Eine indische Miniatur aus dem späten 16. Jahrhundert zeigt den Großmogul Babur bei der Beaufsichtigung der Anlage eines Blumenbeetes, das von einem Wasserkreuz durchschnitten wird. Und Manifestationen einer derart inspirierten Gartenarchitektur lassen sich noch heute in der von maurischen Fürsten und Künstlern geschaffenen Alhambra in Granada bewundern. Nicht allein, aber auch nicht zuletzt unter islamischem Einfluss gelangten die »vier Quartiere« in den Bannkreis der abendländischen Gartenkultur. Die sich zwischen 711 und 1492 erstreckende Periode von maurischer Conquista und spanischer Reconquista, diverse Kreuzzüge, die multikulturelle Ausstrahlung des Hofes von Palermo unter Normannen und Staufern sowie auch der rege Handel im Mittelmeer schufen ein bewegtes Forum für Kulturtransfer. Zum Katalysator aber des weiteren Siegeszuges der ›vier Quartiere‹ wurde der von der griechisch-römischen wie der orientalischen Tradition inspirierte Klostergarten. Inmitten des vom Kreuzgang umschlossenen, den Garten Eden nachbildenden, Gevierts ist es nunmehr ein Brunnen, der das Wasser des Lebens spendet. Der innere Klostergarten wird so zur Symbolgestalt für die sich manifestierende ›Kraft und Herrlichkeit‹ Gottes. Wer den Kreuzgang andächtig umschreitet, kreist um die zentrale Größe der Welt. Im Bild Karls V, um den alle weltlichen Mächte seines Großreiches kreisten, der dann aber gegen Ende seines Lebens im gewollten Rückzug aus der Welt demütig das Gartengeviert des Klosters San Yuste umrundet, wird der Bann dieser Symbolik sinn- und augenfällig. Verkörperte er als Herrscher die Sonne des weltlichen Planetenkreises, so wird er selbst nun zu einem die Lichtkraft Gottes umkreisenden Planeten – zu einem Trabanten des Reiches, das »nicht von dieser Welt« war und ist. Aus der Überwindung der konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts entwickeln sich im Rahmen des geschwächten und immer schwächer werdenden Reiches territorial fest umrissene, souveräne Leviathane, die von Hobbes als »mortal god(s)« gesehen werden, denen aber zumindest Herrscher als »lieutenant(s) de Dieu« (Bodin) vorstehen. Was läge näher als dass nun die fürst-
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lichen Gärten um die fürstliche Sonne kreisen? Als mehrdimensionaler Mittelpunkt eines klar umrissenen Herrschaftskreises sieht sich der jeweilige Landesherr nun gerne »mit vergnügten Sinnen auf seines Daches Zinnen« (oder doch wenigstens auf dem Balkon oder Hoch-Parterre seines Residenzschlosses) stehen und auf das »beherrschte (Garten-) Samos hin« blicken (um Friedrich Schillers »Ring des Polykrates« zu paraphrasieren). Während die fürstlichen Gärten der Renaissance bei aller gestalterischen Nähe zu Formalisierung und Geometrie häufig noch den meditativen Geist des mittelalterlichen Paradiesgärtleins atmen, wird der herrschaftliche Barockgarten samt seiner extrovertierten Geometrik und Allegorik zur – halb kunstförmigen, halb naturförmigen – Spiegelung des Geltungswillens seines Herrn und damit zu einem Medium sozialer und politischer Repräsentation. »Salutierend sind die Hecken eingeschlafen«, heißt es in einem Gedicht (des Autors) über den fürstbischöflich-würzburgischen Lustgarten zu Veitshöchheim am Main. Gärten aber, in denen selbst Hecken zu salutieren hatten, waren nicht mehr ausschließlich Orte der Erbauung und Ergötzung, sondern zumindest auch Stätten der Inszenierung obrigkeitlicher Machtvollkommenheit. Was im Renaissancegarten noch »im Rahmen« blieb und an der anmutig mäandrierenden oder auch wohlgezirkelten Ausarbeitung der Details sein Genügen fand, dehnt sich im Barockgarten ins Weite und Breite. Die Folge der – wie an einer Perlschnur an Alleen und Kanälen aufgereihten – Parterres und Boskette verlängert oder verkürzt sich unter dem Diktat der Perspektive. Die Grundformen aber bleiben weiterhin geometrisch. Im Basisentwurf verdichtet sich sogar die Stringenz der Linienführung, fächert sich freilich auch in eine Vielfalt von Lineaturen und Legaturen auf. Und dies in einem solchen Maße, dass im Blick auf die überlieferten Gartenprospekte nostalgische Sehnsucht nach den schlichten Transfigurationen der »vier Quartiere« bzw. der »vier Hauptwasser« des Buches Mose aufkommen mag. Immerhin bestimmen Axialität, Parallelität und Symmetrie weiterhin den Duktus der barocken Gartenarchitektur. Die theoretische Umsetzung und Weiterentwicklung der überkommenen Gestaltungsmotive gingen von Werken wie Olivier de
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Abb. 11: Lustgarten zu Stuttgart, Kupferstich von Matthias Merian (Kupferstich 1643)
Serres – um 1600 erschienenes – ›Théatre d’Agriculture‹ aus; die praktische Umsetzung besorgten Gartengestalter wie Etienne de Pérac, Claude und André Mollet sowie schließlich André Le Nôtre. Immer vollkommener geriet unter ihren unermüdlich ordnenden Händen die Verbindung von Schloss und Park, immer perfekter die Spiegelung, immer unterwürfiger der vor den Füßen der Herren ausgebreitete Gartenteppich und die vor ihnen salutierenden Hecken, immer arroganter die tief ein- und weit ausgreifende Herrschaftsgebärde. In Frankreich, das – im Gefolge der italienischen Feldzüge und der Verbindung der Valois mit dem Hause Medici – im 16. Jahrhundert einen lebhaften Motiv- und Strukturimport aus den italienischen Renaissancegärten betrieben hatte und das gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu einem weit aus-
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strahlenden Ausgangs- und Mittelpunkt der aufs äußerste verfeinerten formalen Gartenarchitektur geworden war, zeigten die Gärten von Vaux-Le-Vicomte, Fontainebleau, den Tuilerien und schließlich Versailles die Hauptstationen dieser Entwicklung. In Deutschland folgten die Gärten von Potsdam (Sanssouci), Herrenhausen, Kassel (Wilhelmshöhe), Heidelberg, Karlsruhe, Schwetzingen, Ludwigsburg, Stuttgart (Solitude), Schleißheim und Nymphenburg, in Schweden Drottningholm, in Rußland Petersburg dem vielbewunderten französischen Vorbild. Landauf, landab gerieten diese Gärten zu beeindruckenden Zeugnissen symbolischer Politik. Was den fürstlichen Untertanen nicht nur in die Köpfe, sondern auch in die Sinne gepflanzt werden sollte war die Botschaft erhabener Autorität und Potenz – einer Autorität und Potenz, der zu widerstehen sowohl sinn- als auch aussichtslos war. Die Gärten des Barock wurden mithin zu Herolden des Absolutismus, denen es bestimmt war, im Aufstieg wie im Niedergang das Schicksal ihrer politischen Epoche zu teilen.
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III Der Landschaftsgarten als Medium bürgerlichen Freiheitsverlangens Macht erzeugt Gegenmacht, wenn sie auf markante Weise ausgelebt wird. So wenigstens lautet die Erfahrungsregel im Blick auf die vielfältigen anthropologischen Implikationen der conditio humana. Während die Herren der großen Barockgärten der Natur ihre Machtträume aufzupfropfen suchten, bewegte sich längst der Boden unter ihren Füßen. Was in der Politischen Philosophie von Denkern wie James Harrington, John Locke und Bernard de Mandeville, den schottischen Utilitaristen und den französischen Aufklärern vor- und nachgezeichnet wurde – die Heraufkunft der (um mit Macpherson zu sprechen) »besitzindividualistischen« bürgerlichen Gesellschaft nämlich – erfuhr vom frühen 17. bis zum 19. Jahrhundert eine unaufhaltsame Entwicklung. Den absolutistischen Strukturen und Tendenzen die Stirne zu bieten gab es Gründe zuhauf. Die Wahrnehmung der sich in megalomanen Gärten der Macht manifestierenden Arroganz und Verschwendungssucht kostete der Fürstenherrschaft – trotz aller Bewunderung für die zur Schau gestellten gartenarchitektonischen Kunstfertigkeiten – noch zusätzlich Sympathien. Und so kam es denn nicht von ungefähr, dass der zunächst schleichend verlaufenden Vorbereitung
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der bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts auch in der Gartenkunst ein Paradigmenwechsel voranging. Jean-Jacques Rousseaus, der Heldin seiner »Julie ou la Nouvelle Heloise« in den Mund gelegtes, Dictum, dass »die Natur nichts nach der Schnur« pflanze, bringt diesen Paradigmenwechsel aufs deutlichste zum Ausdruck. Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte er sich u. a. in einem kritischen Text Lord Shaftesburys im ›Moralist‹ von 1709 sowie in einem viel beachteten Brief Alexander Popes an Lord Burlington von 1731 angekündigt. Geschichtsmächtig geworden ist dieser Aufstand der – von Ombudsmännern verschiedenster Provenienz und Prägung vertretenen – Natur wider die Dressur im englischen Landschaftsgarten, den man im Blick auf seine fernöstlichen Inspirationsquellen zunächst europaweit als ›Jardin Anglo-Sinois‹ zu bezeichnen pflegte. Aus der Fülle der im Laufe des 18. Jahrhunderts in England entstandenen Landschaftsgärten ragt der – von einem ihrer Großmeister, »Capability« Brown, geschaffene – Park des Marlborough-Schlosses ›Blenheim Place‹ hervor. In Deutschland eröffnete um 1744 der – von der Schwester Friedrichs des Großen, der Markgräfin Friederike Sophie Wilhelmine von Bayreuth, in Auftrag gegebene – Park von Sanspareil bei Bayreuth den Reigen. Es folgte der – ab 1765 von F. W. von Erdmannsdorff und J. F. Eyserbeck angelegte – Wörlitzer Park des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau, der noch zu den Pionieren des neuen Gartenstils zu zählen ist, während der zwischen 1815 und 1845 gestaltete Landschaftspark des hortophilen (um nicht zu sagen: hortomanen) Fürsten Hermann von Pückler-Muskau schon den Höhepunkt dieser Gestaltungsvariante markiert. Während jedoch hier die ästhetischen Motive im Vordergrund standen, lagen der Schaffung und Öffnung des Englischen Gartens in München durch den Kurfürsten Karl Theodor dezidiert politische Motive zugrunde. Nach dem Pariser Sturm auf die Bastille ließ er die Münchner Stadtwälle schleifen und im Jagdrevier des Hofes durch Ludwig v. Sckell einen für die Bevölkerung offenen ›Englischen Garten‹ anlegen, um dem wachsenden bürgerschaftlichen Freiheitsverlangen mit einer Good-will-Geste entgegenzukommen und so dem Übergreifen des revolutionären Flächenbrandes auf Bayern vorzubeugen. Wie immer man diese epochale politische Geste im Einzelnen beurteilen mag – unverkennbar ist jedenfalls,
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dass in ihr jener frische Wind zum Ausdruck kam, der im Kreise der aufklärerischen République des lettres schon seit dem 17. Jahrhundert wehte und sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich zu einem politischen Orkan aufgewirbelt hatte. Dass die neue Gartenmode aus England auf das europäische Festland gelangte, dass die Insel mithin – pomologisch gesprochen – als »Zwischenwirt« für den chinesischen Gartenstil fungierte, fand seine Entsprechung in dem Umstand, dass kontinentale Vordenker bei der Formulierung und Postulierung politischer Freiheits- und Mitwirkungsrechte seit dem 17. Jahrhundert stets nach England geblickt hatten, wo vergleichsweise progressive Verfassungsideen entwickelt und zum Teil auch durchgesetzt worden waren. Dass die mit dem englischen Landschaftsgarten assoziierte Freiheits-Symbolik der Wirklichkeit nur zum Teil gerecht wird, ist jedoch unverkennbar. Im Grunde täuscht die englische Gartenkunst die Ursprünglichkeit der Landschaft und die natürliche Freiheit des Wachstums nur vor; sie inszeniert eine Freiheitsillusion, die einem genaueren Blick nicht standhält. Auch die englischen Gartenlandschaften sind gestaltete Landschaften. Dass sie Mensch und Natur im Vergleich mit den geometrischen Gärten französischer Prägung ein Mehr an Spontaneität boten, liegt auf der Hand: Bäume und Büsche zeigen ihre natürliche Gestalt. Dem den Park Durchschreitenden bietet sich ein reicher Wechsel von Ansichten. Immer wieder öffnen sich Schneisen und Durchblicke, vermag der Blick ins Weite zu schweifen, begegnet er Randzonen, die sich im Ungefähren verlieren. Anzunehmen, dass der englische Landschaftspark ein nur behutsam »korrigiertes« Naturprodukt (gewesen) sei, wäre jedoch verfehlt. In Wirklichkeit war er Ergebnis einer den Kunstgriff raffiniert verbergenden Dramaturgie. »Und alles scheint Natur, so kunstvoll ist die Hand versteckt.« Der dies niederschrieb, musste es wissen, war er doch an der Gestaltung bedeutender Landschaftsparks seiner Zeit beteiligt: Es war Peter Joseph Lenné (1789–1866), der bei Ludwig Sckell in München volontiert hatte und seit 1816 den Preußenkönigen Friedrich Wilhelm III und dann Friedrich Wilhelm IV an führender Stelle als Gartengestalter diente, sich u. a. um die Anlage von Parks in Potsdam verdient machte und schließlich auch – 1850 an König Max II von Bayern ›ausgeliehen‹ –
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den Feldafinger Park am und die Roseninsel im Starnberger See gestaltete. Der frische Wind, von dem im Zusammenhang mit den neuen Gestaltungsformen die Rede war, braucht im Übrigen nicht nur im Blick auf die in Bewegung geratenen liberaldemokratischen Ansätze verstanden werden. Er wehte dem Englischen Landschaftspark auch aus seinem chinesischen Erbe zu. Eine bedeutsame Rolle nämlich spielt beim ›jardin anglo-sinois‹ die Bemühung um die Verwirklichung von Feng-Shui(=Wind-Wasser)-Prinzipien – von Prinzipien also der traditionellen chinesischen Geomantie. Das Hauptziel jeder Feng-Shui-Maßnahme liegt in der Abwehr von negativer Lebensenergie (Cha) und der Förderung positiver Lebensenergie (Chi). Da sich das Chi nach chinesischer Tradition am besten durch geschwungene Linien sowohl herbeilocken und verstärken als auch dosieren lässt, achteten die Gartengestalter beispielsweise darauf, dass die Parkwege von den Kreuzungen aus nur wenige Schritte weit überschaubar waren, um sich dann sanft weiterzuschwingen. Überdies wurden Kreuzungen stets dicht bepflanzt, um dann nach einer kurzen Strecke Weges den Blick wieder freizugeben – dem Auge eine neue Chance bietend, in sanftem Blickschwung über Lichtungen und ferne Busch- und Baumgruppen hinzugleiten und sich so mit Lebenskraft und Lebensfreude vollzutrinken. Vor dem Hintergrund einer – noch nicht sehr lange zurückliegenden – Vergangenheit, in der sich der »Untertan« allenfalls zu niederen Diensten im höfischen Garten aufhalten durfte und auch in den fürstlichen Wäldern am ehesten noch als Treiber bei fürstlichen Jagden gelitten, ansonsten aber als potentieller Wilderer misstrauisch beäugt und kontrolliert wurde, kommt auch diesem Aspekt eine nicht unerhebliche emanzipatorische (und damit soziopolitische) Bedeutung zu: Der sich im Park Ergehende gerät nicht mehr in den Sog der Zentralperspektive, erfährt sich nicht mehr als namenloser Untertan, sondern vielmehr als Individuum, das die Natur auf seine eigene, ganz besondere Weise erleben darf. Der fortschreitenden politischen Befreiung entspricht die Freisetzung des Gefühls. Der Park wird mithin vom fürstlichen Lust- und Imponiergarten Schritt um Schritt zum Bürgerpark und schließlich gar zum Volkspark. Der evidenten Macht des Fürsten begegnet die latente Macht des
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Volkes (wenn auch zunächst auf leisen Sohlen) im englischen Landschaftspark. Zwischen dem Roi Soleil, der inmitten seiner Entourage hoheitsvoll die Alleen, Boschetterien und Broderien von Versailles durchschreitet und König Wilhelm II von Württemberg, der in Begleitung seines weißen Spitz-Hundes beim morgendlichen Parkspaziergang den Gruß der ihm begegnenden Stuttgarter Bürger mit dem Lüften des Hutes und einem sonoren »Guada Morga« zu beantworten pflegte, liegen jedenfalls Welten. Die versteckte Hand, von der Lenné sprach, erinnert sehr nachdrücklich an jene andere unsichtbare Hand, die im Denken seiner Zeit eine wachsende Rolle spielen sollte – an die »invisible hand« nämlich, von der in Adam Smith’ »Wealth of Nations« aus dem Jahre 1775, der Bibel des Wirtschaftsliberalismus, die Rede ist. Auch die – oft missverstandene – unsichtbare Hand des großen Nationalökonomen ist und bleibt eine eingreifende Hand – eine Hand, deren Eingriff aber eben wenn nicht versteckt, so doch behutsam und insoweit bis zu einem gewissen Grade auch »sozialverträglich« erfolgt. Und was für die von Adam Smith inspirierte Wirtschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts gilt, gilt für Politik und Recht im euroamerikanischen Verfassungskreis ganz allgemein: Trotz ›der Parteien Streit und Hader‹ empfindet der Bürger die Eingriffe der Öffentlichen Hand zumeist als erträglich und annehmbar. Und dies oft selbst dann, wenn diese Hand nicht halb versteckt oder gar »unsichtbar« agiert. Insofern ist auch der Typus des Englischen Landschaftsparks wohl die der liberalen und sozialen Demokratie angemessenste Form des Öffentlichen Gartens. Die kritische Diskussion, der auch er seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zuweilen ausgesetzt ist – der Forderung insbesondere nach einer stärkeren Ökologisierung (der für die Privatgärten der ›Naturgarten‹-Trend entspricht) – trifft ihn nur peripher. Von der Multifunktionalität der Gärten der Macht ist heute recht eigentlich nur die Erholungsfunktion geblieben – eine Funktion, die ihre Exklusivität verloren hat, gewissermaßen liberalisiert und demokratisiert worden ist. Geblieben ist das Moment der Exklusivität im öffentlichen Raum gleichwohl, eingegrenzt freilich auf wenige Reservate präsidialer und sonstiger hoheitlicher Amtsführung, wo die Distanzierung mit Sicherheitsbelangen Hand in Hand geht. Ge-
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blieben ist das Moment der Exklusivität auch im sozialen Umkreis privater Gärten – dort also, wo sich privater Wohlstand und privates Kulturbewusstsein seine eigenen Lebens- und Abgrenzungsräume schafft. Und auch in dieser nicht-öffentlichen oder allenfalls teil-öffentlichen Sphäre sind Gärten Gärten der Macht: Ausdruck der Macht des Menschen über Natur und Ausdruck der Macht von Menschen über Menschen. Macht über Natur nämlich – und sei es nur die in der rechtlichen Verfügungsmacht gespeicherte Macht, die das Eigentum und der Besitz an Grund und Boden impliziert – setzt (wie auch immer verstandene) Macht über Menschen voraus. Mächtige erwirtschaften den (Mehr) Wert, der in den Erwerb und die Gestaltung von Gärten investiert werden kann. Und das Ergebnis dieser wirtschaftlichen und kulturellen Investition kann dann selbst wieder als Nachweis sozialer Macht in Erscheinung treten und seine Wirkung entfalten. Wie immer man es auch dreht und wendet: Die Geschichte der Gartenkunst ist zugleich eine Geschichte der Macht – oder auch eine Geschichte der Mächtigen. Überwölbt freilich wird auch diese Geschichte der Macht und der Mächtigen von der latenten Macht der Natur, die spätestens dann evident wird, wenn eine Dürreperiode die Pflanzen dahinsiechen lässt, eine Flutwelle die Erde hinwegspült oder ein Hagelsturm Bäume knickt und Büsche entlaubt.
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Anmerkungen 1
Vgl. die Stichworte ›Macht‹ und ›Mächtigkeit‹ in: Der Große Duden, Bd. 7 (Etymologie), Mannheim 1963 ff. 2 Das Lied von der Glocke (Knaurs Klassiker, Schillers Werke in zwei Bänden, Bd. 1, München 1954, S. 145) 3 Vgl. Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch mit dem Diözeseanteil Augsburg, hrsg. von den Bichöfen Deutschlands und Österreichs und der Bistümer Bozen-Brixen und Lüttich, München 1975, Nr. 257 (S. 316 f.) 4 Vgl. dazu William Harrison-Zehelein, Was Macht mit einem macht, in: Augsburger Allgemeine v. 19. 11. 2016 5 Zitiert nach Harrison-Zehelein, a. a. O. 6 Baruch de Spinoza, Theologisch-politisches Traktat, übertragen und eingeleitet, nebst Anmerkungen und Registern herausgegeben von Carl Gebhardt, 5. Aufl., Hamburg 1955, Kap. 6, S. 122 ff. 7 Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. Mit Peter Gasts Einführung und einem Nachwort von Alfred Baeumler, Leipzig 1930, S. 124 8 Leviathan oder Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates, Teil 1, Kap. XI . In der Übersetzung von Dorothee Tidow mit einem Essay ›Zum Verständnis des Werkes‹, einem biographischen Grundriss und einer Bibliographie, herausgegeben von Peter Cornelius Mayer-Tasch, 3. Aufl. Stuttgart 2015, S. 79) 9 Leviathan or the matter, form and power of a Commonwealth ecclesiastical and civil, Part 1, Chap. XIII (Edited with an Introduction by Michael Oakeshott, Oxford 1960, S. 82) 10 Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen (Klassiker
Anmerkungen
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der Politik, hrsg. von Friedrich Meinecke und Hermann Oncken, Bd. 13). Mit einer Einführung von Ferdinand Tönnies, Berlin 1926, Teil I, Kap. IX , evt. 21. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Also sprach Zarathustra, a. a. O., S. 317 ff. (319) Vgl. Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Ausgewählt und geordnet von Peter Gast unter Mitwirkung von Elisabeth Förster-Nietsche. Mit einem Nachwort von Alfred Baeumler, Stuttgart 1964, §§ 689, 691, S. 466 ff. a. a. O., § 691, S. 468. a. a. O., §§ 693, 468. Vgl. die Stichworte ›Herr‹, ›Herrlichkeit‹, ›Herrschaft‹, ›herrschen‹ in: Der Große Duden, Bd. 7 (Etymologie), a. a. O. Vgl. I Ging. Text und Materialien. Übersetzt von Richard Wilhelm, München 2008 [1924], 43. Wandlungsbild, Das Urteil). Vgl. auch a. a. O., S. 219 (60. Wandlungsbild, sechs auf drittem Platz): »Wer keine Beschränkung kennt, wird zu klagen haben«, S. 165 Vgl. hierzu u. a. Mayer-Tasch, Stichwort ›Niccolo Machiavelli‹, in: Porträtgalerie der Politischen Denker, hrsg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch und Bernd Mayerhofer, Bern und Göttingen 2004, S. 83 ff. Vgl. oben, S. 27. Zu Bacon vgl. u. a. Veronika Weinberger, Stichwort ›Francis Bacon‹ in: Porträtgalerie der Politischen Denker, a. a. O., S. 125 ff. sowie: Heimisch, Einführung zu ›Der utopische Staat‹, Morus-Campanella-Bacon, übersetzt und herausgegeben von Klaus J. Hei isch, Reinbek 1962, S. 126 ff. Vgl. hierzu Michael Pohl, Wie Facebook Trump zum Präsidenten machte, in: augsburger Allgemeine v. 24. 11. 2016, S. 6.Vgl. auch Susanne Ebner zu diesem »disruptiven Moment« (Angela Merkel) in der Kulturgeschichte (Wie das Smartphone uns du unsere Welt verändert, in Augsburger Allgemenie vom 07. 01. 2017, S. 6 Vgl. Carl Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaben, Pfullingen 1954, passim Die Darstellung folgt hier P. C. Mayer-Tasch, Über Prophetie und Politik, München 2000, S. 20 ff. The Second Treatise of Government / Über die Regierung. Englisch / Deutsch. Übersetzt von Dorothee Tidow. Herausgegeben von Peter Cornelius Mayer-Tasch, Stutgart 2012, Chapter XIV , Ziff 168 (S. 274). Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2. Szene (S. 108 des 2. Bandes der Knaur’schen Schillerausgabe, München 1954). Vgl. hierzu P. C. Mayer-Tasch, Die Macht der Schönheit, Wiesbaden 2014, passim Vgl. hierzu ausführlich: Franz-Theo Gottwald / Bernd Malunat / Peter Cornelius Mayer-Tasch (Hrsg.), Die unerschöpfliche Kraft des Einfachen, Wiesbaden 2016, S. 283 ff. und passim.
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Anmerkungen
27 Zitiert nach Paul Johann Anselm Feuerbach, Anti-Hobbes oder Über die Grenzen der höheren Gewalt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn, Erfurt 1798, S. 127. 28 Opera, Vol. III , Leviathan, Cap. XXVI , p. 202 (Thomas Hobbes Malmesburiensis Opera philosophica Quae Latine scripsit Omnia. Ex Labore Gulielmi Molesworth. Reprint of the edition 1839–45, Aalen 1961, Vol. I – III . 29 Vgl. Leviathan, Teil I, , Kap. IV (ed. Mayer-Tasch, a. a. O., S. 26) 30 Vgl. hierzu ausführlich P. C. Mayer-Tasch (unter Mitwirkung von Franz Kohout, Bernd Malunat, Kurt-Peter Merk und Patrick Schwan), Politische Theorie des Verfassungsstaats, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 11 ff. 31 Vgl. Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, abgedruckt in der zweisprachigen Ausgabe der Rousseau’schen Schriften zur Kulturkritik (übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand, Hamburg 1955), S. 190. 32 Erster Teil, I. Buch, 1. Hauptstück, § 7 (in der von Joachim Kopper herausgegebenen Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1964, S. 53 33 Vgl. dazu P. C. Mayer-Tasch, Mitte und Maß – Leitbild des Humanismus von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, Baden-Baden 2006, S. 106 f. 34 Vgl. L. Annaeus Seneca, De clementia. Über die Güte. Lateinisch und Deutsch. Hrsg. von Karl Büchner, Stuttgart 1977, S. 7 ff. 35 Ging-Text und Materialien. Aus dem Chinesischen von Richard Wilhelm, Kreuzlingen / München, 2008 [1924], S. 174. 36 Abgedruckt in: Natur denken. Eine Genealogie der ökologischen Idee, Texte und Kommentar, hrsg. von P. C. Mayer-Tasch, in Verbindung mit A. Adam und H.-M. Schönherr-Mann, Bd. 1 Von der Antike bis zur Renaissance, Frankfurt 1991, S. 32 37 Vgl. oben, S. 16, Anm. 6 38 Die hier wiedergegebenen Übersetzungen folgen der Suhrkamp-Ausgabe: Bernard de Mandeville, Die Bienenfabel oder Private Laster öffentliche Vorteile. Einleitung von Walter Euchner, Frankfurt 1963. 39 a. a. O., S. 81 40 a. a. O., S. 83 41 a. a. O., S. 85 42 a. a. O. 43 a. a. O., S. 91 44 a. a. O., S. 92 45 Giovanni Pico della Mirandola, De dignitale hominis [Über die Würde des Menschen], eingeleitet von Eugenio Garin, Bad Homburg 1968, S. 31
Abbildungsverzeichnis
Die Gartenkunst als Medium der Machtentfaltung
Abbildungsverzeichnis S. 15 Abb.1: Germanisches Gehöft Aus: Scherr, Johannes / Prutz, Hans, Germania: zwei Jahrtausende deutschen Lebens, 6. Auflage, Stuttgart: Union Dt. Verl.-Ges. 1905. S. 18 Abb. 2: Der fränkische Hausmeier Karl Martell in der Sarazenenschlacht von Tours und Poitiers (732), Darstellung von Alfred Rethel © Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden / SLUB , Deutsche Fotothek, Hans Loos S. 25 Abb. 3: Anbetung der Madonna durch alle machthungrigen Stände, Detaildarstellung der »Madonna of Recommended« von Cola da Orte und Giovanni Antonio da Roma © Cola da Orte and Giovanni Antonio da Roma / De Agostini Picture Library / Bridgeman Images S. 35 Abb. 4: Moses empfängt die heiligen 10 Gebote, Darstellung aus der KinderBilderbibel von Julius Schnorr von Carolsfeld © akg-images, Bildnr. AKG 120007
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Abbildungsverzeichnis
S. 37 Abb. 5: Thomas Hobbes, Gemälde von John Michael Wright © National Portrait Gallery, London S. 43 Abb. 6: Eroberung Jerusalems durch Kaiser Titus (70 n. Chr.), Gemälde von Nikolaus Poussin © KHM -Museumsverband S. 46 Abb. 7: Jakob II Fugger verbrennt Karls V. Schuldschein, nach einem Gemälde von Karl Becker © akg-images, Bildnr. AKG 86434 S. 49 Abb. 8: Niccolo Machiavelli, Detail aus einem Gemälde von Santi di Tito © akg-images / Erich Lessing, Bildnr. AKG 291729 S. 62 Abb. 9: Nostradamus, Kupferstich von Boulanger © akg-images, Bildnr. AKG 156641 S. 74 Abb. 10: Diogenes in der Tonne, Gemälde von Jean-Léon Gérome © The Walters Art Museum, Baltimore S. 118 Abb. 11: Lustgarten zu Stuttgart, Kupferstich von Matthias Merian © akg-images, Bildnr. AKG 177203
Alltagsgeschichte(n) In Geschichtsbüchern ist fast immer nur von Kriegen und Verträgen, Schlachten und diplomatischen Schachzügen zu lesen. Der Alltag der einfachen Menschen bleibt meist außen vor. Nicht so bei Manfred Vasold. Es ist verblüffend, dass der Blick auf scheinbar unbedeutende Themen wie das Tragen von Unterhosen sehr viel über die Alltagszeitgeschichte der sogenannten kleinen Leute erzählt. Ob Sterblichkeit, Hygiene, das leidige und lange weitverbreitete Thema Ungeziefer … so vieles lässt sich am Unterkleid und den sich verändernden Tragegewohnheiten ablesen. Vor allem nimmt Vasold unter die Lupe, wie die Industrialisierung das Leben verändert hat. Und zeigt, dass Revolutionen nicht nur Gesellschaften, sondern auch deren Gewohnheiten nachhaltig verändern können.
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Manfred Vasold Hunger, Rauchen, Ungeziefer Eine Sozialgeschichte des Alltags in der Neuzeit 424 Seiten, 17 s/w-Abbildungen, 7 Tabellen Gebunden mit Schutzumschlag € 29,– [D] ISBN 978-3-515-11190-4 E-Book: PDF. € 29,– [D] ISBN 978-3-515-11191-1
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Von „Wolfsjungen“ und „Affenmädchen“ Am Rande der Zivilisation – eine Chronik des „wilden Menschen“ Was macht den Menschen zum Menschen? Sind wir das Ergebnis unserer Natur, oder macht uns erst das Leben in der Gesellschaft zu dem, was wir sind? Immer wieder gibt es Meldungen von Menschen, die ohne soziale Kontakte überlebt, ja unter Tieren gehaust haben sollen. Kaspar Hauser ist wohl einer der bekanntesten Fälle – aber bei weitem nicht der einzige. P. J. Blumenthal hat weit über einhundert authentische, spannende und erschütternde Fälle aus den letzten 1500 Jahren zusammengetragen. Anhand dieser beleuchtet Blumenthal nicht nur das Phänomen selbst, sondern ebenso die oft tragischen Geschichten hinter dem Mythos des „wilden Menschen“.
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P. J. Blumenthal Kaspar Hausers Geschwister Auf der Suche nach dem wilden Menschen Mit einem Geleitwort von Elfriede Jelinek 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2018 442 Seiten, 4 s/w Abb., 10 s/w Fotos Gebunden € 26,– [D] ISBN 978-3-515-11646-6 E-Book: PDF. € 26,– [D] ISBN 978-3-515-11647-3
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Macht ist allgegenwärtig; sie kann soziale, wirtschaftliche oder politische Formen annehmen und wirkt zu jeder Zeit in und um uns. Die Beschäftigung mit Macht und Ohnmacht ist daher auch keineswegs neu – seit Jahrtausenden steht sie im Mittelpunkt des Denkens berühmter Philosophen wie Thukydides, Machiavelli oder Thomas Hobbes. Was aber heißt und ist Macht eigentlich? Wie entsteht und vergeht sie? Was bewirkt sie? Was macht mächtig? Können Recht, Ethik oder Religion ihr Grenzen setzen? Diesen Fragen geht der Rechts-, Politik- und Kulturwissenschaftler Peter Cornelius Mayer-Tasch nach. Facettenreich und kurzweilig führt er die verschiedenen Phänomene und Ausprägungen von Macht in diesem Band zusammen: Angefangen beim Begriff der Macht über die Anbetung von Macht – etwa in Religion oder Politik – schlägt Mayer-Tasch den Bogen bis hin zur Dialektik von Segen und Fluch der Macht und der Utopie von Verzicht auf Macht.
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