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German Pages 100 [106] Year 2008
Reinhard Hesse
Worum geht es in der Philosophie? Grundfragen der Philosophie zwischen Wahrheit und Macht
LIT
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Dedicado à companheira Helga Katia Brockes de Oliveira †, enfermeira, amparo dos Sem Terra, militante pela justiça social e pela paz, que perdeu sua vida no trabalho para os vulnerados.
I NHALT Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Einleitung: Worum geht es überhaupt in der Philosophie? . . . . . . 7 Systematischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Historischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Historischer Überblick: Antworten auf die Frage, wie Erkenntnis möglich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Die drei wichtigsten Schritte (kritisch betrachtet) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Namen- und Sachregister:. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
DANKSAGUNG Ich danke meinem Bruder Wolfgang Hesse, Ministerialrat a.D., Bonn, für seine begleitende kritische Lektüre und für seine konstruktiven Verbesserungsgsvorschläge. Herrn Benjamin Dollenmaier, stud.oec., Universität Konstanz, danke ich für seine Hilfe bei der Niederschrift und für eine Reihe von nützlichen inhaltlichen Hinweisen. Ganz besonders herzlicher Dank gebührt Herrn Professor Dr. Hideshi Funao, Universität Aichi, Japan, für die Übertragung ins Japanische während meiner dortigen Gastprofessur! Sein Interesse hat mich motiviert, das in Arbeit befindliche Manuskript vollends zuendezuschreiben.
VORBEMERKUNG Im Folgenden habe ich einiges von dem niedergeschrieben, worüber ich im Laufe der Zeit mit Studenten, jüngeren Menschen allgemein und sonst an Philosophie und philosophischer Ethik Interessierten gesprochen habe. Dabei habe ich versucht, die Vielfalt der angesprochenen Themen auf die mir besonders wichtig erscheinenden zu reduzieren und das Durcheinander, das bei freien Gesprächen immer entsteht, systematisch und historisch zu ordnen. Gerade jüngere Menschen, die noch nach einem für sie gangbaren Lebensweg suchen, aber auch ältere, die vielleicht an dem, woran sie sich bisher orientiert haben, zu zweifeln beginnen, haben ein lebendiges und legitimes Interesse an der Klärung grundlegender Lebensfragen. Die Philosophie stellt solche Fragen und versucht sie zu beantworten. Mit „Philosophie“ ist hier nicht nur die „scientific community“ der bestallten Philosophen gemeint, sondern allgemein das Bemühen des denkenden Menschen, sich ein möglichst zuverlässiges Bild davon zu verschaffen, wer wir Menschen eigentlich sind, wie wir erkennen können und, nicht zuletzt, wie wir wissen können, was wir tun sollen. Die heutige „akademische Philosophie“ geht auf dieses Interesse, wie mir scheint, nur ungern ein. Und wenn, dann zumeist im Sinne einer historiographischen Darstellung: Welcher Philosoph hat in welchem Zusammenhang welche Frage wie gestellt und ggfls. wie beantwortet? Es gehört offenbar nicht zum guten Ton, zu den einfachen Fragen des Lebens (die sich vielleicht schnell als gar nicht so einfach herausstellen mögen!) selbst klar Stellung zu beziehen: So und so sehe ich das und zwar aus den und den Gründen. Die beschriebene Einstellung ist jedenfalls nicht die, die meinem Text zugrundeliegt. Ich habe mich bemüht, in meiner Niederschrift die in den Gesprächen diskutierten Fragen möglichst klar auf den Punkt zu bringen und in den Antworten ebenso klar Stellung zu beziehen – und zwar jeweils aus meiner Sicht. Dabei kann ich geirrt haben und ich kann Wichtiges übersehen haben. Daß ich möglichst wenig geirrt habe, hoffe ich; daß ich Wichtiges (und zwar vieles Wichtige) übergangen habe, bin ich mir sicher. Das muß ich auf meine Kappe nehmen. Berechtigte Kritik ist mir willkommen.
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Über eine Unterlassung bin ich mir schon jetzt klar: Auf irgendeine Weise hätte auch das, was über die Rolle des Humors gesagt wurde, wenigstens angesprochen werden sollen; und zwar aus einem (ernsten) Grund: In der Philosophie nehmen wir die Dinge (Fragen, Probleme) des Lebens ernst und versuchen, sie gedanklich ‚in den Griff zu bekommen‘; aber wo, wenn nicht im Humor, können wir diese Dinge zwar ernstnehmen, uns zugleich aber auch von ihnen distanzieren? Verlust, Leiden, Unglück, Schmerz, ja sogar der Tod verlieren – wenigstens für einen Moment – ihre Macht über uns und wir werden ihrer Herr, wenn wir uns in einer der Weisen des Humors (lachend) von ihnen distanzieren. Der kundige Leser wird bald herausfinden, daß meine Überlegungen in systematischer Hinsicht inspiriert sind von der sogenannten transzendentalpragmatischen Sprachphilosophie und Ethikbegründung, wie sie in konsistentester Weise von Karl-Otto Apel entwickelt wurde. Seine Schriften, auf die ich hier nur allgemein verweisen kann, wenden sich im wesentlichen an ein akademisches Publikum und dort vor allem an den kleinen Kreis philosophisch Vorgebildeter. Das ist schade, denn das, worum es in der transzendentalpragmatischen Sprachphilosophie und Ethikbegründung geht, geht eben nicht nur einen engen Kreis von „Experten“ an, sondern eigentlich jeden. Ich habe versucht, diesen Kern so darzustellen, daß ihn auch jeder verstehen kann und ich hoffe, daß mir das im großen und ganzen gelungen ist. Darüber hinaus habe ich versucht, die Transzendentalpragmatik in einen größeren Zusammenhang zu stellen: Welche Konsequenzen ergeben sich aus ihr z.B. für unser Verständnis von Religion und von Politik resp. politischer Ökonomie? Zu diesen Fragen hat die transzendentpragmatische Philosophie bisher nicht oder nur am Rande Stellung genommen. Meines Erachtens sind diese Konsequenzen sehr gravierend und sollten klar benannt werden. Ich habe mich bemüht, dies zu tun. Vielleicht habe ich mich dabei manchmal geirrt; vielleicht klingt manches zu scharf; sicher bedarf noch vieles der Ausdifferenzierung. Auch hier hoffe ich, wenigstens im sachlichen Kern nicht ganz gefehlt zu haben! Ich habe mich bemüht, allgemeinverständlich zu schreiben; gleichwohl wird vielleicht ab und an bei manchem Leser das Bedürfnis entstehen, mehr
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über den Hintergrund des Gelesenen in Erfahrung zu bringen. Die Nachschlagewerke, die man dazu heranziehen kann, sind zahlreich. Als meist recht gut verwendbar für Anfänger und „Laien“ hat sich nach meinem Eindruck das „Philosophenlexikon“ von Anton Hügli und Poul Lübcke erwiesen, aus dem in der Regel gut verständliche, nähere Informationen zu den im Folgenden vorkommenden Namen und Fachbegriffen entnehmbar sind. (Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1991) Der Text ist in einen eher systematischen ersten und einen eher historischen zweiten Teil gegliedert. Um die Struktur des offenen Gesprächs ein wenig zu erhalten, ist die Darstellungsform eine Art Frage-Antwort-Essay. Die Absicht ist, den Leser auf lebendige Weise an Fragen heranzuführen, von denen er merken soll, daß sie ihn selbst angehen.
E INLEITUNG : W ORUM GEHT ES ÜBERHAUPT IN DER P HILOSOPHIE ? F: Worum geht es überhaupt in der Philosophie? A: Es geht darum, bestimmte Grundeinsichten zu gewinnen. F: Welche? A: Ich denke, man muß zwei Arten von Grundeinsichten unterscheiden: solche in systematischer und solche in historischer Hinsicht. F: Welches sind die Grundeinsichten in systematischer Hinsicht? A: Erstens, daß es nötig ist, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Sapere aude! (Das ist zugleich auch schon das Schwerste.) Zweitens, daß es keine Instanz außerhalb des Menschen als Gattungswesen gibt, welche ihm sagt, was Wahrheit ist, was Sinn, was gut, was böse. Drittens, daß wir Menschen folglich aufeinander angewiesen sind in unserer ansonsten hilflosen Suche nach Wahrheit und Moral. Viertens, daß „Philosoph“ zu sein, heißt, „Freund der Weisheit“ zu sein, nicht ihr Besitzer. Freund aber bin ich nur solange ich mich bemühe. Fünftens, daß folglich – i.S. dieses Bemühens – Erkenntnis immer offen sein muß für begründete Revision. Daß philosophische Erkenntnis, sechstens, also den Anspruch auf Geltung (Wahrheit) ebensowenig aufgeben kann – auch nicht unter den modischen Vorzeichen „postmoderner“ Beliebigkeiten – wie sie sich in die vermeintliche Sicherheit religiöser oder sonst ideologischer Dogmen flüchten darf. (Der Anspruch auf Geltung soll ja durch eine eventuelle Revision gerade verstärkt werden.) Siebtens schließlich, daß das im obigen Verständnis zur conditio humana notwendig gehörende schlichte Stellen einer ernsthaften Frage zugleich (im sog. performativ-pragmatischen Sinn) ein Sich-Stellen auf den Boden einer virtuell universalistischen Minimalethik ist; daß also der Mensch nicht Mensch sein kann, ohne im Medium der Sprache den anderen implizit immer
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schon anerkannt und sich mit ihm auf ein Geflecht wechselseitiger, gleicher Rechte und Pflichten eingelassen zu haben. F: Und in historischer Hinsicht? A: Vor allem diese: daß die Philosophiegeschichte verstehbar ist als ein allmähliches Sichhinarbeiten, vielleicht sollte man eher sagen: als ein Sichdurchwursteln hin zu den oben skizzierten Einsichten. Man kann hierbei drei wesentliche Stufen unterscheiden: Platon, Kant, Sprachphilosophie. Erstens: Platon, der – m.E. richtig – das dialogische, argumentierende Suchen in den Mittelpunkt stellt, der jedoch zugleich – m.E. falsch – den Dialog versteht als bloßes Mittel zur Wiederentdeckung von dialogunabhängig in einer spekulativen Ideenwelt vermeintlich existierenden, ewigen Wahrheiten. Zweitens: Kant, der – m.E. richtig – den Schritt von der Heteronomie zur Autonomie vollzieht. Nicht mehr die Ideenwelt Platons, der transzendente Gott des Christentums oder die natur-bezogene Sinnlichkeit des Empirismus orientieren uns, wir müssen uns selbst orientieren. Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! Kant, der aber zugleich – m.E. falsch – die Verstandestätigkeit im großen und ganzen als einsamen, bewußtseinsinternen Vorgang versteht. Und schließlich drittens: die Sprachphilosophie, die ausgehend von Peirce und Wittgenstein, das bewußtseinsphilosophische Defizit aufzuarbeiten sucht und, in ihrer Apelschen transzendentalpragmatischen Fortführung, aus der notwendigen Sprachbezogenheit menschlicher Orientierungssuche zugleich eine (aus performativ-pragmatischen Gründen) unvermeidliche ethische Grundpositionierung reflexiv herausarbeitet. Kurz gesagt: Denken ist auf Sprache (Kommunikation) angewiesen, und Kommunikation kommt nicht zustande ohne ethischen Minimalkonsens über, virtuell universalistische, gleiche Rechte und Pflichten. Die Berufung auf Kommunikationssituationen, in denen alle Beteiligten als Freie und Gleiche unverstellt miteinander verkehren können, ist aus mindestens zwei Gründen nicht als utopisch abzutun. Erstens, weil Kommunikationssituationen dieser Art eine wesentliche Grundlage gelingenden realen Lebens faktisch sind – vom Gespräch über die Erledigung trivialer Alltagsnotwendigkeiten im Privatleben bis zu Diskursen in öffentlichen Körperschaften,
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z. B. in den Parlamenten der verschiedenen Ebenen, die, anders als man denken mag, in ihrer Mehrzahl mit einstimmigen Beschlüssen enden. Zweitens, weil, auch wenn Freiheit und Gleichheit empirisch nur unzureichend gegeben sind, von ihnen doch immer schon als kontrafaktische Unterstellung Gebrauch gemacht werden muß. Auch der radikalste Bestreiter ist auf das Stellen ernsthafter Fragen (und seien sie nur strategischer Natur) angewiesen, auch er braucht sichere Erkenntnis (Wahrheit). Neben mangelndem guten Willen, mangelnder Einsicht und natürlich auch mangelnden Kommunikationswegen (im technischen Sinn) ist es vor allem die Ausübung von Herrschaft (Macht), die die beschriebene Idealsituation als utopisch erscheinen läßt. Das ist sie aber nicht. Sie ist eine mit jeder ernsthaft gestellten Frage notwendigerweise immer schon gemachte Antizipation. Je geringer die Hindernisse sind, die ihr im Wege stehen, desto leichter wird es uns gelingen, um mit Kant zu sprechen, Wahrheit zu erkennen, das Richtige zu tun und uns dabei nicht durch leere Hoffnungen narren zu lassen. Die durch Ausübung von Herrschaft bewirkten Verzerrungen der Kommunkationssituation zu analysieren und Wege zu ihrer Überwindung aufzuzeigen, ist Hauptaufgabe der politischen Philosophie. Da Herrschaft insbesondere aus den ökonomischen Verhältnissen resultiert, muß politische Philosophie zugleich immer auch normative politische Ökonomie sein. Denn Philosophie ist der Aufklärung verpflichtet und damit dem großen und ewigen Ziel der Überwindung von Herrschaft.
S YSTEMATISCHER T EIL F: Beginnen wir den systematischen Teil mit den Grundfragen unserer Existenz! Zuallererst: Woher kommt überhaupt die Welt (der Kosmos, die tote Natur)? Anders gefragt: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? A: Meines Erachtens kann hier die Antwort redlicherweise nur lauten: Das wissen wir nicht. Mehr noch: Das können wir nicht wissen, weil alles, was wir dazu sagen könnten ja immer schon „von dieser Welt“ ist. F: Und woher kommt das Leben in den (toten) Kosmos? A: Auch das können wir nicht wissen, weil alles, was wir darüber sagen könnten ja immer schon das Leben voraussetzen muß. F: Und woher kommt, schließlich, der Mensch als vernunftbegabtes Wesen mit seiner Möglichkeit, frei zu handeln, kürzer: Wie kommt Freiheit in die (von Notwendigkeit geprägte) Natur? A: Auch das können wir – leider – nicht wissen, weil alles, was wir darüber sagen könnten ja immer schon, (indem es vom Verstand Gebrauch macht) zugleich Freiheit voraussetzt. F: Das sind aber enttäuschende Auskünfte! Ist ein „leider“ alles, was die Philosophie dazu sagen kann? A: Nein: Sie kann dieses „leider“ auch begründen (nämlich in der Weise, wie es in den eben skizzierten Antworten angedeutet wurde und wie es weiter unten genauer expliziert werden wird) und sie kann zeigen, daß – in einem anderen, wohlverstandenen, Sinn – in der Begründung dieses „leider“ zugleich eine „Antwort“ (nämlich die uns Menschen mögliche „Antwort“) auf die drei Grundfragen unserer Existenz enthalten ist. F: Wie das?
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A: Indem sie zunächst einmal darauf aufmerksam macht, daß die Verwendung des Fragewortes „Woher?“ in jeder der Fragen (Woher kommt die Welt, -das Leben, -die Vernunft?) nur dann Sinn macht, wenn man dabei von einer bestimmten Voraussetzung ausgeht, nämlich von der, daß es ein solches Woher (einen solchen Ursprung, einen Anfang oder Schöpfungsakt) gibt, sodaß man dann fragen kann, wie diese Voraussetzung beschreibbar sei. (Die eigentlich vorausliegende Frage, ob man diese Voraussetzung überhaupt machen kann, bleibt jedoch ungestellt.) Die Fragen nach den Anfängen beruhen daher sprachlogisch gesehen jeweils auf einer petitio principii: Man macht bereits von etwas Gebrauch, was man allererst zu konstruieren hätte. Konkret: Das Fragewort „Woher?“ wird in den oben genannten Grundfragen fälschlich geradeso verwendet wie etwa das gleiche Fragewort (besser: wie das gleich klingende Fragewort) „Woher?“ in der Frage des Kindes an seine Eltern: „Woher komme ich?“ (Antwort: „Deine Eltern haben dich gezeugt“). Kinder werden durch Eltern gezeugt, Blumen entstehen aus Samen, Tuberkulose wird verursacht durch Bazillen. Hier macht die Frage nach dem Ursprung Sinn: Das Fragewort „Woher?“ bezieht sich auf einen Zusammenhang, von dem uns bekannt ist, daß eine Antwort möglich ist (ob sie tatsächlich gegeben werden kann, hängt vom Erfolg unserer Nachforschung ab). Anders gesagt: Wir haben das Wort „Woher?“ für eben diese Zusammenhänge eingeführt: Wenn in unserer Umwelt durch menschliches Handeln oder naturhafte Geschehnisse etwas Neues entsteht und wir wissen möchten, was (im Falle menschlicher Handlungen) der Grund bzw. (im Falle naturhafter Geschehnisse) die Ursache dafür sein mag, so verwenden wir das Fragewort X. Indem nun in den „existenziellen Grundfragen“ umstandslos das gleiche Wort verwendet wird, wird unterstellt, daß der Verwendungszusammenhang derjenige ist, für den das Wort eingeführt wurde und in dem es seine verstehbare Bedeutung hat (d.h.: unter gegebenen Rahmenbedingungen nach dem möglichen Ursprung – dem Grund, der Ursache – des neu Entstandenen zu suchen). Eben dies aber: ob es überhaupt möglich ist, einen Ursprung zu erkennen, ist ja eigentlich die Frage, genauer: dies ist das wirkliche Erkenntnisinteresse. Dieses Frageinteresse bedient sich zu seiner Artikulation einer sprachlichen Form (nämlich des Fragewortes „Woher?“), durch die die Antwort schon mitgeliefert wird: „Ja, im Prinzip können wir wissen, was der Ursprung (der Welt, des Lebens, der Vernunft) ist.“ Wir gehen dem üblichen
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Sprachgebrauch beim Transfer des Wortes „Woher?“ von der Alltags- respektive Wissenschaftssprache hin zur Sprache der Grundfragen auf den Leim. F: Und wo ist die vorhin, wenn auch nur mit Vorsicht, angekündigte „Antwort“? A: Bevor wir von „Antwort“ sprechen können, muß zunächst einmal die Frage klar sein. Wir haben gesehen, daß die ursprünglich gestellte Frage: „Woher kommt die Welt (das Leben, die Vernunft)?“ sprachmißbräuchlich gestellt wurde. Sie liefert implizit ihre Antwort schon mit: „Ja, es ist im Prinzip möglich, den Ursprung (das Woher) zu erkennen“. Diese Aussage ist aber keine Antwort, sie ist als Inhalt in der Frage (qua Verwendung des Fragewortes „Woher?“) schon enthalten. F: Wie müßte denn die Frage besser lauten? A: Sie müßte die Berechtigung der Verwendung des Fragewortes „Woher?“ problematisieren. Etwa in der Form: Gibt es überhaupt etwas der Welt, dem Leben, der Vernunft Vorgängiges? Gibt es etwas, von dem her diese „Existenzialien“ (Welt, Leben, Vernunft) erklärbar (verstehbar, begreifbar) wären? F: Kommen wir damit weiter? A: Erst einmal nicht; denn wenn man die Frage zunächst so nimmt, wie sie gemeint ist: als Aufforderung zur Suche nach einer inhaltlichen Antwort, so wird sofort deutlich, daß in Bezug auf den Frageausdruck „Gibt es. . . ?“ das Gleiche gilt, was oben in Bezug auf das Fragewort „Woher?“ gesagt wurde. Auf dieser Ebene (auf der sog. apophantisch-propositionalen Ebene) ist auch diese Frage sprachmißbräuchlich. Die Frage: „Gibt es etwas der Welt Vorgängiges?“ ist deswegen sprachmißbräuchlich (d.h. nicht als sinnvolle Frage verstehbar), weil das Wort „Welt“ (in der Bedeutung „alles, was es gibt“) gar nicht mehr hinterfragt werden kann. Man kann nicht fragen: „Gibt es etwas außerhalb dessen, was es gibt?“. Außerhalb dessen, was es gibt, „gibt“ es nur das, was es nicht gibt. Genau genommen lautet die Fragestellung also: „Gibt es etwas, was es nicht gibt?“. Oder anders: „Kann man von einem „logischen Gegenstand“ (von einem „Etwas“) sagen, daß es ihn gibt und daß es ihn nicht gibt? Das kann man aus logischen Gründen nicht. (Vermeidung
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von Selbstwiderspruch). Es ist also genau genommen nicht so, daß die Frage nach dem Ursprung der „Existenzialien“ nicht beantwortet werden kann; es ist vielmehr so, daß sie gar nicht erst gestellt werden kann. F: Kann man denn die Sache (d.h. die Frage) auch anders ansehen? A: Ja, und zwar wenn man auf das reflektiert, was die Frage zugleich ja auch ist (außer, daß es in ihr um Inhaltliches geht), nämlich eben eine Frage, genauer: eine sprachliche Fragehandlung. F: Inwiefern hilft uns das weiter? A: Kurz gesagt, weil trivialerweise gar keine Frage möglich ist, die nicht schon von der Existenz der Welt, des Lebens, der Vernunft ausginge. Die Anerkennung der Grundlagen unserer Existenz gehört trivialerweise unhintergehbar zu den Bedingungen der Möglichkeit des Fragens. Die Existenz der Welt, des Lebens, der Vernunft muß nicht eigens „begründet“ werden (i. S. von „abgeleitet“ werden aus etwas vermeintlich Vorgängigem). Ja, sie kann gar nicht „abgeleitet“ werden, weil jede „Ableitung“ implizit schon von eben diesen Grundlagen als gegebenen ausgehen muß. Den Verweis auf die „Bedingungen der Möglichkeit“ nennt man in der Philosophie seit Kant „transzendental“. Die „Antwort“ auf die Grundfragen der Existenz liegt also in der transzendentalen Reflexion, nicht auf der direkt-inhaltlichen Ebene. Sie liegt, genauer gesagt, auf der Ebene der Reflexion über das, was wir tun, wenn wir solche Fragen stellen (auf der sogenannten „transzendental-sprachpragmatischen“ Ebene). In diesem Sinne ist sie indirekt-inhaltlich, was die Unhintergehbarkeit der Existenzialien (Welt, Leben, Vernunft) betrifft und „deliminatorisch“, was die Bezeichnung der Grenzen des Fragenstellenkönnens betrifft: Die Frage nach dem den Existenzialien Vorgängigen ist als sinnvolle Frage (innerhalb der Grenzen der Vernunft) nicht möglich. F: Versucht nicht die Religion eine inhaltliche Antwort auf die drei Fragen zu geben? A: Ja. Ihre Antwort lautet jeweils: Gott ist der Schöpfer (der Welt, des Lebens, der Vernunft). „Religion“ bedeutet ja „Verbindung“, nämlich zu Gott. (lat. religere = verbinden). Aus religiöser Sicht können wir Menschen uns mit Gott in Verbindung setzen.
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F: Wie? A: Hauptsächlich durch den Glauben. F: Wenn man einfach „glauben“ kann, dann glaubt halt jeder irgendetwas, dann ist doch dem Chaos Tür und Tor geöffnet und damit der totalen Unsicherheit darüber, was denn nun „stimmt“ (welcher Glaube der richtige ist)! A: Ja. Und da dies der Hauptmotivation der Religion (nämlich eine sichere Antwort auf die drei Fragen zu finden) widerspräche, ist jede Religion darauf angewiesen, auf irgendeine Weise bestimmte Glaubensüberzeugungen als „die richtigen“ zu etablieren, also eine Art Kanon zu bilden. Die katholische Kirche behauptet ganz in diesem Sinne, sie vertrete die „religio vera“, die wahre Religion. Welche Glaubensüberzeugungen ausgesucht werden, hängt von vielerlei ab, z.B. – von (möglicherweise) vernunftgesteuerten Einsichten, – von den Traditionen der Kultur, in der die betreffende Religion entstanden ist, – von Personen, Funktionsträgern (z.B. dem Papst) oder Institutionen, die als „Autoritäten“ angesehen werden (welchen ein entsprechendes Urteil möglich sei) und natürlich – von der Bereitschaft der Menschen, bestimmte Überzeugungen (als „Dogmen“) ohne weitere Begründung zu akzeptieren. In der christlichen Religion werden solche Festlegungen z. B. abgeleitet aus der Bibel (als Wort Gottes) und aus dem Leben Jesu (als Gottes Sohn). Die hier ggfls. situationsspezifisch immer wieder neu nötige verpflichtende Interpretation geschieht durch die (katholische) Kirche (als notwendiger Vermittlerin zwischen Gott und den Menschen). Gott kann sich auch in Wundern äußern (d.h. im Ausserkraftsetzen von Naturgesetzen – die ja ohnehin nur seine Schöpfung sind). Festzustellen, ob etwas ein Wunder ist, unterliegt wiederum der Interpretationsmacht der (katholischen) Kirche. Ist der Kanon einmal etabliert, werden nicht ins Schema Passende häufig als „Ungläubige“, „Abtrünnige“, „Ketzer“, „Hexen“ usw. verfolgt und ggfls. physisch vernichtet. Die einschlägigen, religiös motivierten Terror- und Ver-
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folgungskampagnen haben allein in Europa über die Jahrhunderte sicherlich Millionen von Menschen das Leben gekostet. F: Haben alle Religionen eine solche Tendenz zur Gewaltanwendung? A: Ja, notwendigerweise; allerdings in unterschiedlicher Stärke. Das mag mit den Inhalten der Religion, dem historischen Kontext und den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umständen zusammenhängen, in denen sie entstanden sind und existieren. F: Warum „notwendigerweise“? A: Weil Religion sich letztlich auf „Glauben“ stützt und nicht auf argumentierend und zweifelnd gewonnenes Wissen (dies inklusive der Anerkennung der Grenzen des Wissens). Und besonders deshalb, weil (bzw. wenn) sie aus ihren Glaubensgrundsätzen die Regeln unseres Handelns ableiten zu dürfen meint. Wenn dann Konflikte entstehen (besonders mit Anhängern anderer Religionen – und das ist sehr häufig der Fall), so ist, wenn die Religion sich selbst wirklich ernst nimmt, letztlich kein Weg zur argumentativen Konfliktregelung möglich. Es bleibt dann nur die Gewalt (im Namen Gottes). F: Steht aber das Christentum mit seiner Grundforderung der Nächstenliebe nicht moralisch sehr hoch? A: Ja, sicher. F: Dann ist letztlich doch alles in Ordnung? A: Leider eben nicht. Das Christentum bedeutet in der Tat einen gewaltigen moralphilosophischen Fortschritt gegenüber anderen Religionen; z. B. gegenüber dem Judentum, in dem es einen Stammes- oder Volksgott gibt, der für dieses (insofern auserwählte) Volk „zuständig“ ist. Historisch hat sich das Christentum ja in der Tat auch vom Judentum (aus dem es als Weiterentwicklung geboren wurde) abgesetzt. Nicht zufällig wurde Jesus vor allem wegen seines Auftretens als „Christus“, d.h. als Heilsbringer für alle Menschen (Juden und Nichtjuden, Priester und Laien) von jüdischen Priestern ans Kreuz gebracht. Was wiederum später dem Christentum einen Grund für wiederholte Judenpogrome lieferte. Schon anläßlich dieser Entstehungsgeschichte des Christentums sieht man, daß keineswegs „alles in Ordnung ist“. Und zwar deswegen
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nicht, weil das moralische Postulat der Nächstenliebe als Glaubenssetzung auf die Welt kommt. Das Gebot der Solidarität mit anderen Menschen (genau genommen letztlich: tendenziell mit allen Menschen – oder, noch genauer: mit allen Vernunftwesen) muß anders begründet werden als durch Glauben, denn sonst kann es letztlich, streng genommen, nicht anders als mit Gewalt durchgesetzt werden (so wie in der Geschichte immer wieder geschehen), denn Argumente stehen ja (letztlich) nicht zur Verfügung. (Hier einen Weg zu zeigen ist die Kernaufgabe der praktischen Philosophie. Dazu später mehr.) F: Was ist von der Antwort der Religion zu halten? A: Sie ist aus den oben dargestellten Gründen leider untauglich. „Leider“, weil es ja unserem menschlichen Bedürfnis entgegenkäme, nicht in eine kalte, anfangs- und endlose, nicht von sich aus mit „Sinn“ ausgestattete Welt geworfen zu werden. Es wäre schön, wenn wir in einer Welt lebten, in der alles von Anfang an und bis zum Ende eine Ordnung hat und einen Sinn, an dem wir teilhaben. Die Welt aber ist teilnahmslos, kalt und sinnlos. Teilnahme (Solidarität), Wärme (Nächstenliebe) und Sinn (Vernunft) kommen nur durch uns (Menschen) hinein. Oder sie kommen nicht hinein. Das ist eine schrecklich große Aufgabe, vor der wir uns lieber in die sichere Geborgenheit religiöser Vorstellungen flüchten möchten. Wir würden uns gern wie Kinder auf den Schoß Gottvaters setzen und uns von ihm schützen und leiten lassen. Leider geht das nicht. An einer Illusion festzuhalten, obwohl man weiß, daß es eine ist, mag einem Kind gestattet sein, einem erwachsenen (mündigen) Menschen aber verbietet es sich (leider), denn: Auf die drei Eingangsfragen haben wir keine Antwort; sie zu beantworten liegt jenseits der Grenzen des menschlichen Verstandes. Wir können nur, ganz klein und demütig, ihre Unbeantwortbarkeit zugestehen. Die Antwort der Religion ist, im harmlosen Fall, ein menschlich verständlicher Irrtum (bzw. ein „Aufschrei der gequälten Kreatur“, wie Marx gesagt hat), im nicht harmlosen Fall eine erschlichene Illusion oder gar eine zynische Lüge. In jedem Fall ist sie (extrem) gefährlich, da (bzw. wenn) aus ihr soziale und politische Handlungsregeln abgeleitet werden. F: Kann man denn sagen, daß es keinen Gott gibt?
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A: Man kann sagen, daß wir das nicht wissen und daß sich das Glauben (an Gott) jedenfalls dann verbietet, wenn aus ihm Handlungsregeln (Werte, Ethiken) abgeleitet werden; denn wenn solche auf bloßen Glaubensüberzeugungen basierende Handlungsregeln in Konflikt miteinander geraten, so stehen Argumente zur (friedlichen) Lösung des Konflikts eben nicht zu Gebote – was in der Praxis dazu führt, daß man versucht, ihn (den Konflikt) durch Gewaltanwendung (Krieg) zu lösen. F: Gehören denn Religionskriege nicht eigentlich der Vergangenheit an? A: Leider ist das überhaupt nicht so. Religiöse Motive spielen bei Kriegen immer noch eine große Rolle. (Natürlich gibt es außerdem noch eine Menge anderer Motive, nicht zuletzt solche ökonomischer Art, und häufig sind verschiedene Motive miteinander verquickt.) Nicht zu Unrecht wird heute sogar von einer Renaissance der Religionen gesprochen. Es genügt, an die Gewaltbereitschaft des islamistischen oder des amerikanisch-protestantischen Fundamentalismus‚ zu denken, zugespitzt etwa in der Aussage des amerikanischen Präsidenten G. W. Bush, Gott habe ihn beauftragt, Krieg gegen den Irak zu führen. Und die schiitischen Priester des Iran schickten hunderttausende junger Männer im Krieg gegen den Irak mit dem Versprechen in den Tod, sie würden als Märtyrer ins Paradies aufgenommen. F: Welche Rolle spielt die Religion unter den spezifischen Bedingungen des Atomzeitalters? A: Eine sehr bedrohliche und letztlich existenzgefährdende! Die im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel (hierzu gehören die Atomwaffen, aber auch die nicht weniger gefährlichen biologischen und chemischen Waffen) erstmalig mögliche Selbstvernichtung der Menschheit ist nämlich in religiöser Sicht als Opfer interpretierbar, welches im Namen des rechten Glaubens hinzunehmen unsere Pflicht sei, ja wodurch allererst wir (genauer: die das jeweils „Richtige“ Glaubenden) qualifiziert würden für die Aufnahme ins eigentliche, ewige, wahre, göttliche, paradiesische, jenseitige Leben (oder was der Ausdrücke mehr sein mögen). Beweise dafür, wie menschenverachtend Religion sein kann, hat es in der Geschichte schon zu viele gegeben, als daß man sich der Hoffnung
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hingeben dürfte, es werde sich schon niemand finden, der zu diesem letzten Schritt bereit sei. Man wird, denke ich, sehen, daß sich jemand finden wird. F: Als was kann es denn dann überhaupt noch Glauben geben? A: Allenfalls vielleicht als (private) Hoffnung. Aber auch das streng genommen eigentlich nicht, denn welchen Sinn sollte das machen außer dem, in dieser Hoffnung eben die Ordnung, die Mitmenschlichkeit und den Sinn zu suchen, den wir zum Leben brauchen und den wir in den kalten Fakten der Welt vorderhand nicht finden? „Ordnung“, „Mitmenschlichkeit“ und „Sinn“ aber sind Begriffe, die wir nicht ihrerseits durch Glauben gewinnen können; sie bedürfen zu ihrer Konstitution kritischer (Unterscheidungen treffender) Reflexion. Hier (in der kritischen Reflexion der Vernunft) liegt ihre Wurzel; dies ist der Weg, die Hoffnung auf etwas anderes ist von Anfang an vergeblich, sie kann sich nicht erfüllen. Die Hoffnung aber, die man auf den Gebrauch der Vernunft setzen kann, ist nicht leer, sie kann sich erfüllen. Sie ist die große Aufgabe der Menschheit(sgeschichte). Die religiöse Hoffnung ist der Anfang eines (potenziell immer gefährlichen) Irrwegs. F: Es gibt aber doch viele Menschen, die Ordnung, Mitmenschlichkeit und Sinn in religiös begründeten Lebensformen gefunden haben und sich darin glücklich fühlen. Wäre es nicht arrogant, ihnen vorzuwerfen, sie fühlten sich soz. „zu Unrecht glücklich“? A: Eine religiöse Antwort auf die großen Existenzfragen (wie sie eingangs benannt wurden) steht uns nicht zur Verfügung. Den Verweis auf diesen Umstand arrogant zu nennen, hilft inhaltlich nicht weiter. Daß Menschen in bestimmten Situationen oder Lebensformen „glücklich“ sind (mag zwar momentan und subjektiv für die Betroffenen angenehm sein) erlaubt (aber) noch nicht notwendig den Schluß, daß das subjektive Befinden mehr ist als eben nur dies: subjektiv. Anders gesagt: Die Aussage: „Die Lebensform X macht mich (uns) glücklich“ ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage: „Die Lebensform X ist ethisch vertretbar“. Hierzu bedarf es einer eigenen Begründung, die jedenfalls durch den bloßen Verweis auf das subjektive Gefühl (des Individuums oder der Gruppe) noch nicht geliefert ist. F: Und die Gottesbeweise?
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A: Es gibt keine Gottesbeweise und es kann keine geben. Die Unhaltbarkeit der historisch immer wieder vorgelegten Gottesbeweise hat Kant dargelegt. Allerdings: Selbst wenn man Gott „bewiese“, so wäre dieser „Beweis“ wertlos, denn Gott wird ja eben als das dem menschlichen Erkenntnisvermögen nicht Unterworfene vorgestellt, seine Existenz ist nicht von uns und unseren kümmerlichen „Beweisen“ abhängig, das eben ist das Besondere an ihm! Eben dieses Spezifikum würde er verlieren, wenn er „bewiesen“ wäre: Er würde ein (beweisbares) Ding der Welt sein – und nicht mehr ihr unvordenklicher Schöpfer. Darüber hinaus würde die „Erklärung“ der Existenz der Welt (des Lebens, der Vernunft) durch einen göttlichen Schöpfungsakt die Frage nach dem Ursprung von alldem nur sozusagen um eine Instanz verschieben. Denn es würde sich ja nun die Frage nach dem Ursprung Gottes stellen. Um hier nicht in einen unendlichen Regreß zu geraten, muß man irgendwo „einen Schlußstrich ziehen“, man muß Gott zusprechen, daß er keinen Anfang hat, daß er unvordenklich da ist. Damit aber ist die Frage nach dem Ursprung nicht wirklich beantwortet. Der unendliche Regreß beantwortet sie ebensowenig wie die mutwillige Setzung eines „anfangslosen Gottes“. Man hat nichts „erklärt“, man hat nur, mit den Worten Kants gesagt, etwas, was man nicht erklären kann (den Anfang von Welt, Leben und Vernunft) durch etwas anderes ersetzt, was man noch weniger erklären kann. F: Auf welche Weise können sich die Menschen aus den religiösen Illusionen befreien? A: Durch „Aufklärung“, d.h. dadurch, daß sie sich ihres Verstandes bedienen und gemeinsam versuchen, herauszufinden (mit Argumenten herauszuarbeiten), wer sie eigentlich sind und wie sie es schaffen könnten, ihrem Leben eine sinnvolle Ordnung und Wärme zu geben. F: Muß man da ganz bei Null anfangen? A: Nein, die Menschheitsgeschichte kennt (in Europa) mindestens zwei Perioden der Aufklärung: bei den Griechen (ca. im 5. Jh. v.u.Z.), als sich das menschliche Denken von den alten Mythen löste und in der Neuzeit (ca. im 18. Jh. n.u.Z.), als es sich von der Bevormundung durch die christliche Religion
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befreite. Auch andere Kulturen haben so etwas wie Aufklärungsperioden erlebt. Darauf können und müssen wir aufbauen. F: Warum soll sich denn der Mensch überhaupt der (oft beträchtlichen und nicht selten ergebnislosen oder zu Irrtümern führenden) Anstrengung unterziehen, sich seines Verstandes zu bedienen? Wäre es nicht viel einfacher, wir folgten unseren natürlichen Bedürfnissen respektive Trieben – die Tiere tun es ja nicht anders? A: Das wäre es. Aber nur auf den ersten Blick. Schaut man etwas genauer hin, merkt man schon an ganz banalen Beispielen, daß es so nicht geht. Um überleben zu können (z. B. um einfach nur den nächsten Winter überleben zu können) müssen wir uns, denkend, von unseren unmittelbaren Bedürfnissen, z. B. dem Eßtrieb, distanzieren und uns, vorausdenkend, etwas vom Munde absparen, was wir als Vorrat für die Winterzeit beiseitelegen. Da gibt es keinen Trieb, der uns dazu treibt; das geht nur per Reflexion. Hier unterscheidet sich der Mensch vom Tier jedenfalls sehr weitgehend: Die Tiere überleben, weil ihre Genausstattung ihnen entsprechende Verhaltensweisen nahelegt. Z. B. bauen die Ameisen ihre Haufen so, daß sie auch kalte Winter überstehen können, sie müssen darüber nicht eigens nachdenken. Die Genausstattung ist auch nicht das biologisch-physiologische Produkt von Überlegungen, die die Ameisen in ihrer Vorgeschichte angestellt hätten. Es ist vielmehr so, daß sie als Art gar nicht überlebt hätten, wenn sie diese Genausstattung nicht gehabt hätten. Die Natur bringt eine unendliche Zahl von unterschiedlichen Arten von Genausstattungen hervor, von denen sich nur einige wenige als überlebensfähig erweisen. Darwin nannte das „survival of the fittest“. Im Unterschied dazu ist der Mensch mit Trieben nicht in dem Maße und nicht in der Weise ausgestattet, daß diese ihm „blindlings“ sein Überleben sichern könnten. Er muß diesen teilweisen Instinktmangel durch Denken (Reflexion) ersetzen. Das müssen übrigens bestimmte Tierarten auch, aber in erheblich geringerem Umfang als der Mensch. In diesem Sinne ist der Mensch also nicht prinzipiell vom Tier unterschieden, sondern nur graduell. Das macht es einsichtig, warum wir jedenfalls die Tierarten, die offenbar auch, wie wir, über ein höher entwickeltes Reflexionsvermögen verfügen, als eine Art
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Verwandte ansehen (und sie dementsprechend mit schlechterem Gewissen töten und verspeisen als wir das bei anderen Tierarten oder bei den Pflanzen tun). F: Statt blindlings den Trieben zu folgen, könnte man den Traditionen folgen (den Sitten und Gewohnheiten unserer Kultur)!? A: Das müssen wir tatsächlich in sehr großem Umfang, da wir nicht alles und jedes immer wieder neu erfinden können (dazu hätten wir gar keine Zeit). Denken wir nur an unsere Alltagssprache: Sie mag versteckte Mißverstehensmöglichkeiten, logische Fallen und andere Mängel enthalten, aber als Kommunikationsmittel ist sie dennoch in den allermeisten Fällen des Alltagslebens recht gut geeignet; sie erfüllt ihre Funktion recht zufriedenstellend. Ein großer Teil der Traditionen, Sitten und Gewohnheiten denen wir, meist ohne viel nachzudenken, folgen, da sie von unseren Vorfahren her auf uns gekommen und wir in sie hineingewachsen sind, verdienen unser Vertrauen. Das hängt damit zusammen, daß unsere Vorfahren in der Regel (mehr oder weniger) vernunftbegabte Wesen waren und das historisch sich ergebende Ergebnis ihrer „Vorarbeit“ daher vermutlich nicht einfach eine Anhäufung von Unvernunft sein wird – so unterstellen wir jedenfalls stillschweigend und wohl auch mit einem gewissen Recht. Aber eben auch nur mit einem gewissen Recht: „Lasset uns am Alten, so es gut ist, halten und auf dem alten Grunde Neues bauen jede Stunde“, sagte Goethe. „So es gut ist“, hier, im „So“, liegt das Problem: Man muß das Alte einer Prüfung unterziehen und sehen: Ist es tatsächlich gut? Daß etwas alt ist, zum überkommenen Bestand der Traditionen, Sitten und Gewohnheiten unserer Kultur gehört, heißt noch nicht, daß es akzeptabel ist. Lange haben die Menschen gedacht, die Erde sei eine Scheibe, über die sich wie eine Käseglocke der Himmel wölbe und von oben sähe der liebe Gott hinein. Das hat sich als unhaltbar herausgestellt. Den Lebensformen, Sozialordnungen und Herrschaftsstrukturen, die sich u.a. auf dieses Weltbild gründeten, war damit die Grundlage entzogen. F: Wenn wir uns also nicht auf die Triebe und auch nicht einfachhin auf die Traditionen verlassen können, worauf dann? A: Auf unseren kritischen Verstand. Das griechische Wort „kritein“ bedeutet „unterscheiden“. Unser kritischer Verstand kann vor allem unterscheiden zwischen dem, was stimmt und dem, was nicht stimmt, mit anderen Worten:
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zwischen dem, was wahr und dem, was falsch ist. Man kann hinzufügen: und dem, von dem wir nicht genau wissen, ob es wahr oder falsch ist; aber auch dies ist eigentlich eine Wahrheitsfrage: Ist es wahr, daß wir (vorläufig) nicht wissen (oder prinzipiell nicht wissen können) ob das stimmt oder nicht? „Dein Wort sei ‚Ja ja, nein nein‘“, heißt es in der Bibel. Allerdings kann unser kritischer Verstand nicht täglich von uns neu erfunden werden. Daß wir über ihn verfügen, verdanken wir auch, wie vorhin schon angedeutet, der „Vorarbeit“ unserer Vorfahren; mit anderen Worten: Auch die Mittel, mit denen unser Verstand seine kritische Arbeit macht, sind ihrerseits geschichtlich zustandegekommen. F: Warum sind wir überhaupt darauf angewiesen zu wissen, ob etwas falsch ist oder nicht? A: Bestimmt nicht aus „akademischen“ Gründen, sondern weil wir sonst nicht überleben könnten. Wenn ich nicht weiß, ob der Pilz, den ich esse, giftig ist oder nicht, gehe ich das Risiko ein, für meine Unwissenheit mit dem Leben zu bezahlen. Wenn ich mich bei der Berechnung des Wiedereintrittswinkels der Raumkapsel in die Erdatmosphäre geirrt habe, so zahlt ggfls. deren Besatzung dafür mit dem Leben. Natürlich ist die Mehrzahl der Situationen, in denen sich die Wahrheitsfrage stellt, nicht so dramatisch. Die allermeisten sind eher trivial und ziemlich unbedeutend: Wird es regnen oder nicht; soll ich einen Schirm mitnehmen? Wie viel Benzin verbraucht das Auto, das ich kaufen möchte; kann ich es mir leisten? usw.. F: Stellt sich die Wahrheitsfrage nur in Bezug auf unsere Erkenntnis der Welt um uns herum oder auch in Bezug auf unser Handeln? A: In Bezug auf beide Bereiche. Denn einerseits müssen wir wissen: Ist es wahr, daß eine Raumkapsel sich beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre in einem Winkel von soundsoviel Grad und einer Geschwindigkeit von soundsoviel km/Stunde um soundsoviel Grad erwärmt? Andererseits müssen wir aber auch wissen: Ist es wahr, daß der Schutzschild um sie herum besser doppelt so dick wäre als er jetzt ist, mit anderen Worten: Ist es wahr, daß der Schutzschild verstärkt werden sollte? Die Wahrheitsfrage stellt sich also sowohl für den Bereich, in dem es
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darum geht, möglichst sicher zu wissen, was der Fall ist, wie auch für den Bereich, in dem es darum geht, möglichst sicher zu wissen, was wir tun und was wir wohl besser lassen sollten. Man kann den ersten als den Bereich der „theoretischen Vernunft“, den zweiten als den der „praktischen Vernunft“ bezeichnen. F: Kann man nicht die Wahrheitsfrage ganz beiseite lassen? A: Das kann man versuchen. Schon zu altgriechischen Zeiten haben Philosophen die Auffassung vertreten, es gäbe gar keine Wahrheit, alles sei Lug und Trug, allenfalls sei Wahrheit „relativ“. Auch in unserer Zeit gibt es diese Auffassung, ja sie ist geradezu in Mode. Was sehr erstaunlich ist, denn das schlagende Gegenargument liegt eigentlich auf der Hand: Wenn die Aussage: „Es gibt keine Wahrheit“ überhaupt etwas bedeuten will (und nicht etwa als bedeutungsloses Gemurmel gemeint ist), dann dies: „Es ist wahr: Es gibt keine Wahrheit“. Wie man sieht, landet man sofort (wenn man die Aussage ernst nimmt) bei einem Selbstwiderspruch. Wenn die Aussage allerdings nicht ernstgemeint sein sollte, dann brauchen wir auch keine Zeit mit ihr zu verschwenden. Daß sie in der Tat nicht mehr als intellektualistische Spielerei ist, davon könnten wir uns sicherlich ziemlich schnell auch dadurch überzeugen, daß wir einen dieser Wahrheitsleugner zu seiner Bank begleiten, wo er sein gestern auf dem Konto eingegangenes Gehalt abholen möchte, der Bankangestellte am Schalter ihm aber erklärt, er (der Bankangestellte) habe gestern sein (des Kunden) letztes Buch über die Unmöglichkeit von Wahrheit gelesen, daher werde er (der Kunde) es ihm sicherlich nicht übelnehmen, nun zu erfahren, das Geld sei gar nicht eingegangen, ja mehr als das: Man könne über sein Geld, sein Konto und allgemein über die Bank ebensowenig irgendeine zuverlässige Aussage machen wie über sonst irgendetwas anderes. F: Was ist denn gegen Selbstwidersprüche zu sagen? Man sagt doch manchmal, halb mit Mitgefühl, vielleicht sogar halb bewundernd, einem Verstorbenen nach: „Er war ein Mensch in seinem Widerspruch“. A: Das sagen wir, weil wir menschliche Schwächen manchmal (wenn es nicht allzu schlimme „Schwächen“ sind!) sympathisch finden. Wir wissen ja auch um unsere eigenen und drücken gern mal ein Auge zu. Das macht uns das Leben etwas leichter. Würden wir aber tatsächlich den Selbstwiderspruch
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unumwunden als Prinzip zulassen, so müßten wir 1. sein Gegenteil, das Verbot des Selbstwiderspruchs, ebenfalls zulassen, 2. würden wir sehr schnell wissen, für welches der beiden Prinzipien wir uns entscheiden würden, wenn es wirklich ernst wird. Wären wir z. B. Inhaber einer Baufirma und würden den Ingenieur, der gerade eine Brücke gebaut hat, fragen, ob seine Brücke die Lasten, die über sie transportiert werden müssen, auch wirklich tragen könne, und er würde antworten: „Ja und nein“, so würden wir ihn (befremdet oder erbost) auf diesen Selbstwiderspruch hinweisen und, wenn er darauf beharrt, ihn vermutlich in die Personalabteilung schicken, damit er sich dort seine Papiere abholt, wenn nicht gar zum Psychiater, um seinen Geisteszustand überprüfen zu lassen. F: Wenn wir uns schon von den natürlichen Trieben in unserem Handeln nicht leiten lassen sollten, so müssen wir aber doch zugeben, daß wir ohne die natürlichen Sinne nichts erkennen könnten oder jedenfalls mit unseren Erkenntnisbemühungen nicht weit kämen! A: Das stimmt (vor allem der letzte Teil des Satzes). Wenn jemandem alle natürlichen Sinne fehlten – wie könnte er etwas erkennen und wie könnten wir von ihm erfahren, ob er etwas erkannt hat? Aber andererseits ist es auch wieder nicht so, daß die „Eindrücke“, welche wir über unsere Sinne vermittelt bekommen, schon „Erkenntnisse“ wären, erst recht nicht gleich Erkenntnisse, auf die wir uns verlassen könnten. Zu solchen können sie erst werden, wenn gleichzeitig zwei weitere „Agenten“ eingreifen: Der Verstand (des sinnliche Eindrücke empfangenden Individuums) und die in der Verstandesleistung des Individuums immer schon enthaltene sprachlich verfaßte Mitmenschlichkeit und Kritik. F: Könnten wir das nicht etwas aufdröseln? – Zunächst: Warum sind die Sinneseindrücke nicht gleich schon Erkenntnisse? A: Weil sie als solche überhaupt erst einmal „zur Kenntnis genommen“ werden müssen. Dieses „Zur-Kenntnis-nehmen“ ist eine Verstandesleistung. Daß uns unsere Sinne vermitteln, da sei „etwas“, ist nur möglich, weil unser Verstand diesen Begriff, diese Idee „Etwas“ hat. (Kant sprach hier vom „Substanzbegriff“.) Daß wir etwas in seiner räumlichen Ausdehnung wahrnehmen, geht nur, weil wir einen Raumbegriff haben. Daß wir etwas als eine
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zeitliche Abfolge wahrnehmen, setzt das Vorhandensein einer „Idee“ von „Zeit“ voraus. (Kant sprach hier von den „Anschauungsformen“ Raum und Zeit). Auch wenn wir zwischen verschiedenen, in Raum und Zeit abgelaufenen Ereignissen einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang feststellen, so ist diese Wahrnehmung nicht etwa schon in den Sinneseindrücken enthalten. Es braucht dazu den „Kausalbegriff“. Daß unsere Sinneseindrücke auf den Verstand angewiesen sind, merken wir z. B., wenn wir geometrische Figuren betrachten, bei denen wir erst nach einer Weile herausbekommen, was sie darstellen sollen (z. B. eine Pyramide mit der Spitze nach unten oder nach oben). „Aha, ja soo muß man das sehen!“, sagen wir dann. Gesehen haben wir es allerdings vorher auch schon und zwar genau so, wir haben das Gesehene nur noch nicht „verstandesmäßig“ bearbeitet. F: Und: Was soll das alles mit den Mitmenschen zu tun haben? A: Das hat in mindestens zweierlei Hinsicht mit den Mitmenschen zu tun. Erstens weil wir Menschen über die genannten „Sinneseindrücke-zu-Erkenntnisverarbeitenden-Begriffe“ (Anschauungen, Kategorien) im Wesentlichen deshalb verfügen, weil wir sie erarbeitet haben und zwar zusammen mit unseren Mitmenschen. Die Erarbeitung der erkenntnisermöglichenden „Begriffe“ ist eine Kulturleistung des Menschen. Zu den erkenntnisermöglichenden Gedankenleistungen, gehören auch die so genannten logischen Partikel (z. B.: und, oder, wenn-dann, alle, kein). Auch diese sind uns so nicht einfach angeboren; wir müssen sie uns erarbeiten und wir erarbeiten sie uns im Medium der Sprache. In der Sprache aber ist immer unser Mitmensch (soz. als Ko-Subjekt der Erkenntnis) präsent. Durch seine, in unseren im obigen Sinn erkenntnisermöglichenden „Begriffen“ enthaltene, Mitwirkung ist er (unser Mitmensch) an jedem Erkenntnisprozeß (auch den äußerlich einsamen) beteiligt. Noch in einer zweiten – eher äußerlichen – Hinsicht hat unser Bemühen um zutreffende Erkenntnis mit unseren Mitmenschen zu tun, nämlich in Hinsicht auf Kritik und Anregungen. Wir können uns nämlich irren; und außerdem ist das Erkenntnisvermögen jedes Einzelnen begrenzt. In beiden Fällen sind wir auf die Hilfe unserer Mitmenschen angewiesen: Die Kritik, die ein anderer an dem übt, was ich erkannt zu haben meine, zeigt mir, daß ich mich geirrt habe. Seine Anregungen machen mich darauf aufmerksam, daß
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ich etwas übersehen habe. F: Gibt es tatsächlich keine „einsame“ Erkenntnis? A: Doch, aber wohl nur in einem rudimentären Sinne. Auch Tiere, die kaum miteinander kommunizieren, erkennen etwas. Und Kaspar Hauser hat mindestens das Essen, das ihm in seinen Stall geschoben wurde, als solches erkannt, obwohl, wie es heißt, nie jemand mit ihm gesprochen hat. Vielleicht ist es so, daß die kommunikativen Potentiale des Gehirns, die es im Sinne echter Kommunikation zwischen den Individuen aktiviert, um z. B. die erkenntnisermöglichenden „Begriffe“ zu bilden und zu verfeinern, daß diese Potentiale, die im menschlichen Individuum vorhanden sein müssen (sonst könnten sie nicht – lehrend/lernend – aktiviert werden), eine rudimentäre einsame Erkenntnisleistung ermöglichen. F: Könnte es nicht, in diametralem Gegensatz zum eben Gesagten, so sein, daß sich alle Erkenntnis nur im Gehirn des Einzelnen abspielt, ja, daß es eigentlich gar keine Welt um ihn herum gibt, also alles nur Einbildung ist? A: Das ist wieder (wie die Frage auf S. 24: „Kann man nicht die Wahrheitsfrage ganz beiseite lassen“) nur ein „paper doubt“ (ein nicht wirklich ernstgemeinter Zweifel), wie der amerikanische Philosoph Peirce gesagt hätte. Diese Art Einwand kennen wir schon und die Antwort ist wieder die gleiche: 1. scheitert die These an sich selbst: Wenn alles Einbildung ist, dann auch die These. So war sie aber nicht gemeint. 2. Angenommen, wir würden tatsächlich alle Dinge der Welt und die Welt insgesamt „eingebildet“ nennen, so würde das (vom sprachlichen Mehraufwand abgesehen) ansonsten gar nichts ändern. Und 3. gehen wir wieder mit dem Vertreter dieser These zu seiner Bank und warten auf seine Reaktion, wenn ihm der Bankangestellte erklärt, er (der Kunde) habe sich den gestrigen Eingang seiner Gehaltszahlung nur eingebildet . . . F: Wir sind also bei dem Versuch, herauszufinden, wie die Welt um uns herum tatsächlich aussieht, auf unsere Mitmenschen angewiesen (jedenfalls wenn es über rudimentäre Orientierungsleistungen hinausgeht)? A: Ja. Schon indem wir nur eine ganz einfache Informationsfrage stellen (z. B. „Ist dieser Pilz giftig?“), überschreiten wir unsere Subjektivität in
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verschiedener Hinsicht: Wir wenden uns an jemand anderen (von dem wir das Wissen zu erlangen hoffen, das uns fehlt) und indem wir das tun, benutzen wir als Mittel die Sprache, die wir zuvor (von Mitmenschen – unseren Eltern, Bekannten usw.) in einem jahrelangen Prozeß erlernt haben. F: Könnte man nicht einfach auf das Stellen von Fragen verzichten? A: Nein. Wir brauchen ja die Informationen, die wir erhalten wollen und nicht selbst ermitteln können. Aber selbst wenn jemand, als Experiment, auf das Fragen verzichten würde, um seinem Diskussionspartner (welcher behauptet, es ginge nicht ohne Fragen, d.h. nicht ohne Intersubjektivität) zu zeigen, daß es durchaus ohne geht – so würde auch diese Demonstration eben eine Demonstration (für jemanden) sein, d.h. in einem intersubjektiven Kontext stehen. Und weiter: Wir könnten diese Auffassung (es sei möglich, auf das Fragen zu verzichten) gar nicht haben, wenn wir uns wirklich schon immer, z. B. als Kinder, konsequent daran gehalten hätten! Als Kinder haben wir nämlich durchaus unsere Eltern und andere Menschen um uns herum bis zum Übergenug verfolgt mit Fragen wie: „Warum ist das so?“, „Wie heißt das?“, „Was hat er gesagt, was hat er gemeint?“ usw.! Ohne einen solchen, durch unendlich viele Antworten auf unendlich viele Fragen zustandegekommenen kindlichen Lernprozeß wären wir gar nicht zu den Erwachsenen geworden, die heute an einer Diskussion über die Vermeidbarkeit oder Nichtvermeidbarkeit von Intersubjektivität teilnehmen können. Hätten wir nicht (ernstgemeinte) Fragen gestellt, wären wir immer noch die kleinen, ahnungslosen Wesen, die wir einmal waren. F: Muß denn gleich jede Frage „ernstgemeint“ sein? A: Natürlich nicht. Man kann auch spielerisch fragen, nur so tun, als würde man etwas wissen wollen etc.. Allerdings sind auch solche „spielerischen“ Fragen als solche, d.h. als eben nicht „ernst“, sondern „spielerisch“ gemeinte, nur verstehbar, wenn man weiß, was „ernstgemeint“ bedeutet: Man muß ja im Ernst sagen können: „Glaube mir, diese Frage habe ich nicht ernstgemeint.“ Und hier kann man die Argumentation der vorigen Antwort wiederholen: Sicherlich könnte man sich, wiederum in einem Gedankenexperiment, dafür entscheiden, gar keine ernstgemeinten Fragen zu stellen. (Streng genommen geht das allerdings nicht, da die Welt, in der wir uns dem ernstgemeinten
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Fragen verweigern, von uns über Rudimentäres hinaus kaum zur Kenntnis genommen werden könnte – weil nämlich das über das Rudimentäre hinausgehende Zurkenntnisnehmen ernsthaftes Fragen voraussetzt). Wie wir schon an einem so schlichten Beispielfall wie dem des giftigen oder ungiftigen Pilzes sehen, wären unsere Lebensaussichten äußerst gering, falls wir diese Unernst-Strategie wirklich ernst nähmen – und zumindest hier käme dann schon wieder das Wort „ernst“ vor! F: Wie kommt es denn, daß wir (schon als Kinder) Fragen stellen? A: Wir machen dabei jedenfalls von einer Fähigkeit Gebrauch, die wir als vernunftbegabte Lebewesen haben. Warum es die Welt, warum es Leben und warum es unsere Vernunftbegabung und damit auch diese Fähigkeit gibt – das wissen wir nicht. Durch das Stellen der Warumfrage(n) werden wir allerdings (reflexiv) verwiesen auf Welt, Leben und Vernunft (Freiheit) als unhintergehbare, im Fragen bereits implizit anerkannte Voraussetzungen dieses Fragens. Das Fragen nach den impliziten Voraussetzungen oder, anders gesagt, die Reflexion auf die „Bedingungen der Möglichkeit für . . . “ hat, wie weiter oben schon erwähnt, Kant „transzendental“ genannt. In diesem Verständnis kann man sagen: Die transzendentale Reflexion ist die pragmatische (d.h. im Sprachhandeln immer schon enthaltene) Antwort auf die in einem inhaltlichen Sinne nicht beantwortbaren drei existenziellen Grundfragen. F: Apropos Freiheit: Gibt es wirklich Freiheit? Was ist von der ganz anderen Auffassung zu halten, daß alles determiniert sei, auch die in unserem Gehirn, dem vermeintlichen Sitz der „Freiheit“ ablaufenden Vorgänge? Diese Auffassung hat sogar viele Anhänger! A: Wieder so ein „paper doubt“. Und wieder die gleiche Antwort: 1. Wenn alles determiniert ist, dann auch diese Auffassung (das kann sie aber nicht von sich wollen; sie kann sich nur in die Diskussion einbringen, wenn sie sich selbst in irgendeinem Sinne als „Argument“ bzw. „argumentfähig“ sieht; das aber setzt denkerische Freiheit voraus). 2. Wenn wir uns um das eben (unter 1) Vorgebrachte einfach hinwegsetzen und schlicht alles (auch das Argumentieren) für determiniert erklären, dann macht es wieder nichts, denn dann ändert sich an unserer Welt (wiederum vom sprachlichen Mehraufwand abgesehen) gar nichts. Und
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3. gehen wir wieder mit einem Vertreter der radikalen Determinismuslehre zu seiner Bank und warten ab, wie er reagiert, wenn der Bankangestellte ihm sagt, es sei nun einmal so (dies sei determiniert), daß er ihm sein gestern eingegangenes Gehalt nicht auszahlen könne . . . F: Zurück zur Frage der unvermeidlichen Intersubjektivität. Wie sieht die in jeder einfachen Frage enthaltene Intersubjektivität genauerhin aus; in welche Art Beziehung setzte ich mich durch das Stellen einer Frage zu meinen Mitmenschen? A: Indem ich eine Frage stelle, gehe ich notwendigerweise aus a) von der Existenz bestimmter menschlicher Grundgegebenheiten und zugleich b) von der Geltung bestimmter (Sprach-)Handlungsregeln i.S. wechselseitig akzeptierter Pflichten (resp. Rechte). F: Zum Beispiel? A: Nun, Grundgegebenheiten, die ich mit jeder Frage notwendig anerkenne (a), sind zum Beispiel: – daß ich den anderen brauche, weil ich selbst die Antwort nicht (oder nicht sicher) weiß, – daß der andere ein Wesen ist, von dem ich unterstelle, daß es die Fähigkeit hat, mir zu antworten (daß er also insofern vernunftbegabt ist), – daß er mich verstehen kann, d.h. daß er merkt: Er wird angeredet, und: Es ist eine Frage, die da an ihn gerichtet wird. Grundpflichten unseres gemeinsamen (Sprach-)Handelns, die ich mit jeder Frage notwendig anerkenne (b), betreffen z.B.: – die Wortverwendung: Ich gehe davon aus, daß zwischen mir und meinem Gesprächspartner bestimmte Wortverwendungsregeln gelten, an die ich mich halten werde und von denen ich erwarte, daß auch er sich an sie halten wird; – die Wahrhaftigkeit: Die von mir gestellte Frage ist ernstgemeint und ich gehe davon aus, daß mein Gegenüber mir ernsthaft (und nicht unwahrhaftig) antworten wird, d.h. auch, daß er mir sagen wird, wenn er in Wirklichkeit keine Antwort weiß oder nur eine unzureichende, zweifelnde; – die transsubjektive Offenheit: Wenn mein Gegenüber keine oder nur eine unzureichende Antwort auf meine Frage weiß, so darf ich erwarten, daß er mir helfen wird, sie von jemand anderem beantwortet zu bekommen, da er
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verstanden hat, daß seine Person hinter dem Frageinteresse (dem Wahrheitsbedürfnis) zurückzustehen hat; mit anderen Worten, daß in diesem Sinne jede ernstgemeinte Frage sich eigentlich an jedes vernunftbegabte Wesen richtet, also virtuell universalistisch ist; die Begründung: Ich darf erwarten, daß mein Gegenüber mir als Antwort nicht nur einen Satz (eine Behauptung) liefert, sondern, daß er bereit ist, mir zu sagen, warum er meint, daß dies die richtige Antwort (seiner Meinung nach also: die Wahrheit) sei; den argumentierenden Diskurs: Ich muß davon ausgehen können, daß mein Gegenüber bereit ist, mir nicht nur die Gründe, die seiner Meinung nach für seine Antwort sprechen, zu erläutern, sondern auch auf eventuell von mir vorgebrachte Gegengründe einzugehen; mit anderen Worten, daß er bereit ist, mit mir ggfls. in einen argumentierenden Diskurs (in ein Gründe und Gegengründe abwägendes Gespräch) einzutreten; die Argumentationsregeln: In einem solchen argumentierenden Dialog gelten bestimmte (logische) Regeln, deren Befolgung durch beide Diskussionspartner vorausgesetzt werden muß; die Revisionsoffenheit: Wenn von außerhalb neue Argumente resp. Informationen, die als Argumente Verwendung finden könnten, bekannt werden, so sind die Gesprächspartner gehalten, sie zu berücksichtigen und das eventuell bereits erarbeitete Ergebnis ihres Dialoges ggfls. zu revidieren; das Konsensziel: Wenn keine neuen Informationen resp. Argumente mehr kommen und der Dialog einstweilen (d.h. bis vielleicht doch noch neue Informationen oder Argumente kommen) beendet ist, so anerkennen beide Dialogpartner, daß das Ergebnis dieses bis hierhin geführten Dialoges das ist, was sie gemeinsam (einstweilen) als Antwort auf die gestellte Frage ansehen, d.h. als die ihnen soweit erkenntliche Wahrheit.
F: Ist diese Auflistung von menschlichen Grundgegebenheiten und wechselseitig notwendigerweise immer schon (im Sinne universell geltender Rechte und Pflichten) anzuerkennender Regeln vollständig? A: Womöglich nicht; vielleicht lassen sich noch weitere finden. F: Wäre es nicht sehr wichtig, solche Grundregeln des Sprachgebrauchs (von den einfachsten Sprachhandlungen angefangen bis zu den mit Hilfe logischer Partikel möglichen komplexen Aussagen) methodisch zu rekonstruieren,
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um uns über die damit verbundenen wechselseitigen Pflichten resp. Rechte Klarheit zu verschaffen? A: In der Tat. Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, die Begründer der sog. Erlanger Schule, haben dies in ihrer 1967 erschienenen „Logischen Propädeutik“ unternommen und zwar sowohl für theoretische Sätze (d.h. für solche, die sagen, was der Fall ist) wie auch für praktische Sätze (d.h. für solche, die sagen, was man tun sollte). Allerdings waren ihnen die eben skizzierten („transzendentalpragmatischen“) Voraussetzungen ihrer normativen Sprachtheorie nicht bewußt. Ihr Ansatz war: Wenn der Mensch vernünftig reden will, so kann er dies tun, indem er bestimmten Regeln folgt (nämlich den in der „Logischen Propädeutik“ beschriebenen) und nicht: Das zur conditio humana gehörende unvermeidbare Stellen ernsthafter Fragen impliziert (als Bedingung seiner Möglichkeit) immer schon die Anerkennung eines ganzen Sets wechselseitig geltender Regeln (und diese werden in der „Logischen Propädeutik“ methodisch rekonstruiert). F: Könnte man diesen „Regelset“ als eine (mit jeder ernstgemeinten Frage immer schon notwendig anerkannte) „Minimalethik“ bezeichnen? A: Das könnte man wohl. So „minimal“ ist diese Ethik allerdings nicht! Wir werden im Folgenden noch sehen, welche praktisch-politischen Konsequenzen der ernsthafte Versuch hat (bzw. hätte), unsere Lebenswelt so zu gestalten, daß die (eigentlich) notwendigen Bedingungen eines wahrheitssuchenden Dialogs auch wirklich realisiert sind. F: Könnten wir etwas innehalten und die wichtigsten Überlegungen einmal kurz zusammenfassen? A: 1. Wir Menschen sind (alle gleichermaßen) existenziell auf das Stellen ernsthafter Fragen angewiesen. 2. Im Stellen einer einfachen, ernstgemeinten Frage anerkennen wir (alle gleichermaßen) notwendigerweise die allgemeine Geltung elementarer Regeln der Sozietätsbildung (mit anderen Worten: der Ethik). 3. Wir Menschen sind insofern gleich. „Insofern gleich“ soll heißen: gleich in unserer Eigenschaft als mit denselben Rechten und Pflichten ausgestattete und der gleichen Verantwortung unterworfene potentielle Dialogpartner.
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F: Lassen sich aus diesen bislang ja nur formalen Regeln auch inhaltliche Schlußfolgerungen bezüglich unseres Handelns in konkreten Situationen ableiten? A: Ableiten nicht, aber mit ihnen erarbeiten. Dafür – für das dialogischargumentierende Erarbeiten – sind sie ja gerade da. Die Frage, ob das Verbot des Verkaufs von Alkohol an Jugendliche unter einer gewissen Altersstufe richtig ist, kann nicht derjenige beantworten, der es sich zur Aufgabe macht, über die Einhaltung der Gesprächsregeln zu wachen (jedenfalls nicht in dieser seiner Funktion). Dazu braucht es Sachkenntnis bezüglich der konkreten Situation. Übrigens ist das Wörtchen „nur“ in der Frageformulierung mißverständlich. Die Regeln sind nicht leider „nur“ formal, sondern sie haben eben gerade diesen Vorteil, „nur“ (d.h. rein) formal zu sein. F: Warum ist das rein Formale dieser Grundregeln ein Vorteil? A: Wenn schon an der Basis Inhalte (Werte) vorausgesetzt würden und diese (z. B. wegen unterschiedlicher Auffassungen darüber, ob Dieses oder Jenes als der betreffende Inhalt oder Wert angesehen werden kann/soll/muß) in Konflikt miteinander geraten würden, so wäre dieser Konflikt nicht lösbar, außer durch Rekurs auf vermeintlich „höhere“ Werte (die aber ihrerseits wiederum kollidieren können usw.) – oder durch Gewalt. Diese (die Gewalt) ist in der Tat häufig das „Verfahren“, mit dem solche Konflikte gelöst werden; im Falle des Konfliktes zwischen Staaten (die behaupten, verschiedene Wertauffassungen zu vertreten) ist dieses Verfahren der Krieg. Den aber können wir uns im Zeitalter der sich immer weiter verbreitenden Massenvernichtungsmittel und globalen Umweltgefährdungen immer weniger leisten. Der Einsatz kriegerischer Mittel ist heute mit einem Risiko verbunden, das es früher nicht gab: Würde heute Krieg in seiner technisch radikalstmöglichen Weise geführt, so bliebe von der Menschheit nichts oder nicht mehr viel übrig. Die Suche nach anderen als kriegerischen Möglichkeiten der Konfliktlösung ist daher existenziell wichtig. Die Charta der Vereinten Nationen trägt dieser Situation bereits durch ein generelles Kriegsführungsverbot Rechnung. Völkerrechtlich sind Kriege den Staaten nur noch mit Zustimmung des Sicherheitsrates oder in unmittelbarer Selbstverteidigung erlaubt. (Auch im letzteren
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Fall muß die Zustimmung des Sicherheitsrates, nachträglich, eingeholt werden.) Im Sicherheitsrat selbst aber wird nicht geschossen. Dort wird nur geredet. Und zwar nach vorher gemeinsam festgelegten formalen Verfahren. F: Gehen den vermeintlich primären formalen „Grundregeln“ nicht mindestens die Wertsetzungen „Ernsthaftigkeit“ (des Fragens) und „Gleichheit“ (aller Menschen) voraus? A: Es ist richtig, daß die Sätze: „Du sollst ernsthaft fragen (wenn Du die Wahrheit wissen willst)!“ und: „Du sollst die Argumente aller Menschen gleichermaßen zulassen (wenn Du die Wahrheit wissen willst)!“ ethische Postulate (allgemeine Sollenssätze) sind. Es handelt sich jedoch nicht um (Wert-)Setzungen. Sie sind nicht (mutwillig oder zufällig) gesetzt. Ihre Anerkennung ist vielmehr unhintergehbare Voraussetzung aller Wahrheitssuche; sie können nicht in Abrede gestellt werden; auch derjenige, der dies (verbal) tut, muß zur Verteidigung und Einsichtigmachung seiner Position (faktisch) Gebrauch von ihnen machen. Der in der obigen Frage steckende vermeintliche Einwand ist also in Wirklichkeit ein (zutreffender) Hinweis auf die jedem ernsthaften Fragen (so auch diesem) immer schon notwendig inhärente Minimalethik. Diese wird nicht „gesetzt“ (oder abgeleitet), sie ergibt sich durch transzendentalphilosophische Reflexion aus der Analyse der Bedingungen der Möglichkeit ernsthaften Fragens. F: Um auf die eben angesprochene Alternative: „Entweder diskursive Konfliktlösung oder Gewalt (Krieg)“ zurückzukommen: Wird es der heutigen Menschheit auf längere Sicht gelingen, ihre Konflikte in einer Weise zu lösen, die nicht ihren eigenen Untergang (ganz oder in großen Teilen) heraufbeschwört? A: Angesichts des Ausmaßes an Dummheit, Religion, Ideologie und anderer Arten von Unvernunft, bei gleichzeitig fortgesetzt hoher Aggressivität und Kurzsichtigkeit sieht es wohl eher düster aus. F: Gibt es keinen Anlaß zu Hoffnung?
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A: Doch, den gibt es und dort gilt es, mit aller Kraft und auf allen Gebieten weiterzuarbeiten und sich nicht durch Rückschläge beirren zu lassen! Ein großer Teil der Menschheit und auch führende Staatslenker haben eingesehen, daß sie Katastrophen und möglicherweise den eigenen Untergang heraufbeschwören, wenn sie nichts Einschneidendes zur Gefahrenabwehr unternehmen. Diese Einsicht verdankt sich in der Regel wohl nicht eigentlich einer hochstehenden Moral, sondern längerfristig angelegten Eigeninteressekalkülen. Das ist aber immer noch besser als wenn sie ganz fehlen würde. Die Staaten haben in Gestalt der UNO und ihrer Unterorganisationen eine sehr wichtige globale Institution geschaffen, in der sie ihre Konflikte nach bestimmten formalen Verfahren lösen können. Sie können es jedenfalls versuchen. In nicht wenigen und sogar in sehr bedeutenden, ja überlebenswichtigen Fällen sind bestehende oder sich abzeichnende Konflikte dort auch tatsächlich gelöst worden. Hieran gilt es weiterzuarbeiten. Der andere Bereich, der zu Hoffnung Anlaß gibt, ist der der (außerhalb der UNO getroffenen) multilateralen Abmachungen zwischen den Staaten, durch die globale ökologische oder militärische Gefährdungen gemindert oder beseitigt werden sollen. Ein dritter Bereich schließlich sind die von Einzelstaaten (ohne UNO und ohne Absprache mit anderen Staaten) unilateral getroffenen, internen Maßnahmen mit der gleichen Zielsetzung. F: Wir haben gesehen, daß Wahrheit streng genommen nur in einer (im weiter oben angedeuteten Sinne) idealen Kommunikationssituation gefunden werden kann. Wo in aller Welt aber gibt es das? Ist das nicht eine gutgemeinte Utopie? A: Eine Utopie kann es schon deshalb nicht sein, weil Wahrheit gar nicht anders gefunden werden kann. U-topia heißt ja: kein Ort. Wie man aber an der immer größer werdenden und immer schneller wachsenden Ansammlung von Wissen, über das die Menschheit heute verfügt, sehen kann, muß es irgendwo einen „Ort“ geben, an dem Wahrheitsfindung möglich ist. Dieser „Ort“ ist die Antizipation: In unseren wahrheitssuchenden Dialogen tun wir so, als befänden wir uns bereits in einer „idealen Kommunikationssituation“, wir antizipieren insbesondere die möglichen Gegenargumente, die
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theoretisch von irgendeinem aus der Gesamtzahl der vernunftbegabten Wesen kommen könnten. Diese Antizipation ist normalerweise in unserem Alltag in einer sehr großen Zahl von Fällen erfolgreich. Aber man weiß trotzdem natürlich nie, ob nicht irgendjemand doch ein Gegenargument hätte (oder eine Information, die als Gegenargument verwendet werden müßte); jemand, der sich nicht zu Wort gemeldet hat, weil er entweder daran mutwillig gehindert wurde (durch Machtausübung) oder weil er gar nicht davon wußte, daß sein Gesichtspunkt von Belang sein könnte (also aus Gründen fehlender kommunikativer Infrastruktur). Beim letzten Punkt (dem der fehlenden kommunikativen Infrastruktur) wird deutlich, daß selbst wenn wir uns als Gedankenexperiment vorstellten, alle Machtausübung auf Erden sei beseitigt und die christlichkommunistische, herrschaftsfreie Gesellschaft der tatsächlich Gleichen, Freien und Solidarischen sei realisiert, daß selbst dann die praktische Unmöglichkeit bliebe, wirklich alle Menschen daraufhin zu befragen, ob ihnen zu der antizipatorisch ausgedachten Beantwortung der Sachfrage X Gegenargumente einfallen. Mit anderen Worten: Antizipation wäre selbst im Idealfall einer wirklich freien Menschheitsgesellschaft weiterhin nötig. Um wieviel mehr aber in einer Menschheitsgesellschaft, die in einem so großen Umfang und in einer so großen Tiefe von Machtstrukturen durchwirkt ist, wie es in der unseren tatsächlich der Fall ist! F: Wenn wir einmal auf Kant und seinen subjektivisch-vordialogischen Vernunftbegriff blicken: Welche Folge hat der Umstand, daß dieser ohne Vorgriff auf eine notwendigerweise (utopisch-)kontrafaktisch zu antizipierende „ideale Kommunikationssituation“ konzipiert ist? A: Vernunft ist für Kant eine Fähigkeit des Individuums. Und die Aufklärung ist ein an die Menschen als Individuen gerichteter Aufruf, eine Hoffnung, ein Wunsch, ein Appell. Sapere aude! (Ausrufungszeichen!) Dieser Appell muß, damit die Welt vernünftiger wird, weltweit von Individuen gehört und befolgt werden. Kant gibt sich allerdings keiner Illusion darüber hin, wie es um die Aussichten dieses Programms bestellt ist. Weitere Fortschritte, auch bedeutende, hält er für denkbar. An ihnen zu arbeiten, macht den Sinn des Lebens aus. Aber daß die Welt tatsächlich vernünftig werde, das zu unterstellen gestattet er sich
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nicht. ‚Aus so krummem Holze, als wie der Mensch gemacht sei, könne man nicht wohl einen geraden Stock machen‘, sagte er. Was bleibt, ist eine „regulative Idee“, eine Hoffnung, die nie aufhören kann, da sie sich nie ganz realisieren wird. Den Sinn des eigenen, endlichen Lebens (nicht ganz, aber auch) auf etwas zu setzen, was nie wirklich erreicht sein wird; das eigene, endliche Leben (nicht ganz, aber auch) einer Unendlichkeit anzuvertrauen, die sich einem entzieht – darin sieht er etwas „Religiöses“, genauer: das, was von der Religion übrigbleibt, wenn sie „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ noch einen Platz haben will. Dieser Kant’sche Religionsbegriff ist jedenfalls nicht transzendenzbezogen, die Kant’sche „Religion“ stellt keine Verbindung zu einem Jenseits her; sie stellt eine aus der Vernunftlogik sich ergebende Verbindung zu dem nicht erreichbaren (utopischen) Ziel der Vernunftarbeit (in dieser Welt) her. Die transzendentalpragmatische Sprachphilosophie und Ethik kann ohne diesen von Kant freundlicherweise noch mitgeführten Religionsbegriff auskommen (der aber schon bei Kant seines ursprünglich-pathetischen Inhalts entkleidet ist), da sie bemerkt hat, daß die Realisierung der Vernunft in der Welt zwar in dem Sinne utopisch ist, als sie immer wieder auch auf kontrafaktische Antizipation angewiesen ist, daß sie zugleich aber auch faktisch ist, insofern diese Antizipation (tatsächlich) antizipatorisch-kontrafaktisch geschieht (und geschehen muß). F: Ist das von jedem Menschen mit jeder ernstgemeinten Frage immer schon implizit anerkannte Prinzip der virtuellen Gleichheit und Reziprozität der Beziehung zwischen allen Menschen nicht eigentlich etwas, das in scharfem Gegensatz zu den bestehenden politischen und ökonomischen Machtverhältnissen steht, also eigentlich ein ständiger latenter Aufruf zur Überwindung eben dieser Verhältnisse? A: So ist es offenbar. Selbst wenn man annähme, daß die Antizipation der Meinung der anderen von ideal gutwilligen Patriarchen durchgeführt würde, so bliebe auch das unzureichend, da man 1. letztlich nie wirklich sicher wissen kann, was die anderen tatsächlich gesagt hätten, außer man fragte sie, und da 2. auch eine patriarchalisch-gutwillige Antizipation nichts anderes ist als eine milde Art der Bevormundung, eine stillschweigende Behinderung vernunftbegabter Wesen dabei, ihre Gründe selbst zur Geltung zu bringen.
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F: Was bedeutet die Angewiesenheit des wahrheitssuchenden Menschen auf den argumentierenden, virtuell universalistischen Dialog unter Gleichen in Bezug auf die politischen Institutionen des Staates? A: Den Aufruf zu immer weitergehender Demokratisierung (imSinne von Herrschaftsüberwindung), d.h. zum immer wieder nötigen Aufbrechen von immer wieder neu sich bildenden Herrschaftsstrukturen! Das ist eine Daueraufgabe, die nie erfüllt sein wird. Allenfalls sind allmählich größer werdende Annäherungen an das Ziel denkbar, bei immer wieder neu sich ergebenden Rückschlägen. Freiheit ist eine „regulative Idee“; einen „Masterplan“ zu ihrer Erreichung gibt es nicht. Erst recht nicht einen, der in kurzer Frist funktioniert. Und auch nicht einen, der meint, die eine Ursache von politischer Unfreiheit erkannt zu haben (z. B. den Besitz an den Produktionsmitteln) und durch die schnelle und gewaltsame Beseitigung dieser Ursache das Übel ein für allemal beseitigen zu können. F: Und was bedeutet diese Erkenntnis in Bezug auf die Wirtschaft? A: Das oben zur Politik Gesagte gilt hier sinngemäß. Denn die eigentliche politische Macht liegt heute (vielleicht mehr noch als früher) in den Händen der großen Wirtschaftskräfte. Und zwar in dem doppelten Sinne, daß a) die Wirtschaftsentscheidungen drastische Auswirkungen auch auf andere Lebensbereiche haben und daß b) die Wirtschaftslenker politische Entscheidungen von vornherein in ihrem Interesse zu beeinflussen suchen. Von hier, von den internen Strukturen der Wirtschaft her und von ihrem Einfluß auf das Gemeinwesen und auf das Zusammenleben der Völker, geht eine wesentliche Ungleichheit zwischen den Menschen aus. Hier ist jedenfalls eine ihrer Hauptquellen. Nicht daß die Wirtschaft Wahrheitsfindung zu verhindern sucht. Sie ist ja selbst vital darauf angewiesen. Das, was sie braucht, will sie wissen. Dieses Wissen muß sicher und verläßlich sein; es muß auf dem neuesten Stand sein und für jede Kritik offen. Aber sie interessiert sich natürlich nur für das Wissen, daß sie braucht; ihr Wissen ist auf ihre Interessen ausgerichtet. Allerdings – und das ist der entscheidende Punkt: Ihre Interessen sind nicht per se die der Gesellschaft oder gar die der Menschheit. „What is good for General Motors is good for the
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United States“ – diese These stimmt nicht. Und selbst wenn sie stimmen sollte, kann nicht General Motors darüber befinden! Das muß General Motors schon den United States, d.h. genauerhin dem amerikanischen Volk überlassen. Im deutschen Grundgesetz gibt es den Artikel 14, Abs. 2: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Das Eigentum hat sich dem Allgemeinwohl unterzuordnen: Es ist ihm verpflichtet. Was aber das Allgemeinwohl ist, darüber kann nicht die Wirtschaft befinden; die ist nur ein Teil der Allgemeinheit; darüber kann allein die Allgemeinheit selbst befinden – der Souverän, in diesem Fall: das deutsche Volk. Den Artikel 14, Abs. 2 des Grundgesetzes in demokratische Lebenswirklichkeit umzusetzen, ist die als verfassungsrechtliches Mandat gefaßte, politisch-ökonomische Variante der regulativen Idee der Freiheit. F: Ist es angesichts der enormen Machtfülle global agierender Wirtschaftskräfte nicht naiv, zu hoffen, einzelne Staaten könnten freiheitliche(re) Wirtschaftsstrukturen durchsetzen? A: Marx war dieser Meinung und hat daher die Weltrevolution gefordert, und Lenins Experiment des „Sozialismus in einem Land“ scheint ihm im Nachhinein Recht gegeben zu haben: Nicht mehr Freiheit war das Ergebnis, sondern Terror. F: Also sollte man diese Hoffnung aufgeben? A:Genau besehen ist eigentlich das Wort „Hoffnung“ hier nicht passend: Es geht nicht darum, eine schöne Hoffnung zu haben; es geht vielmehr darum, nüchtern zu erkennnen, daß der Mensch nicht ohne Wahrheit leben kann, daß Wahrheitssuche denknotwendig Freiheit und Gleichheit voraussetzt und daß daher alle Arten von Unfreiheit und Ungleichheit den Menschen bei der Realisierung dessen, was für sein Menschsein notwendig ist, behindern und folglich die (allmähliche) Überwindung dieser Hindernisse ein notwendiges Postulat, eine „regulative Idee“ ist – und eben nicht eine (naive) schöne Hoffnung. F: Das mag ja in der Theorie stimmen; trotzdem bleibt die Frage, was einzelne Staaten gegen die heutigen globalen Wirtschaftskräfte tatsächlich ausrichten können!
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A: Auch hier gilt es zunächst, im Auge zu behalten, daß es sich um eine Daueraufgabe handelt. Weder ist eine schnelle Lösung zu erwarten noch eine endgültige. Allerdings: Je mehr die blinden Expansions- und Ausbeutungsbestrebungen der globalisierten Wirtschaft die Überlebenschancen der Menschheit (und damit ja auch der Wirtschaft selbst) ökologisch und militärisch in Frage stellen, desto mehr werden sich gesellschaftliche und staatliche Gegenkräfte finden, die (weniger aus „höherer“ moralischer Einsicht als aus zukunftsorientiertem Eigeninteresse) die Unterordnung der wirtschaftlichen Profitinteressen unter die allgemeinen Überlebensinteressen einfordern werden. Bedeutende – freilich bislang sehr unzureichende – Schritte in diese Richtung sind bereits getan worden. Die größte Konferenz von Staatschefs der Menschheitsgeschichte auf der Umweltkonferenz in Rio de Janeiro und die in Kyoto beschlossenen ökologischen Grundregeln sind zwei Beispiele. F: Bedeutet Demokratisierung des Wirtschaftslebens: Vergesellschaftung bzw. Verstaatlichung der Produktionsmittel? A: Es bedeutet, daß die wirtschaftlichen Aktivitäten i. S. von Art. 14, Abs. 2 zugleich dem Allgemeinwohl dienen sollen. Wobei „ Allgemein(wohl)“ für „Demos“ (Staatsvolk) steht und „dienen sollen“ für „kratein“ (herrschen). Auch die Verstaatlichung oder Vergesellschaftung aller Produktionsmittel oder von Teilen der Produktionsmittel garantiert noch nicht, daß diese anschließend dem Allgemeinwohl dienen. Andererseits kann die durch den Privategoismus freigesetzte Energie, wenn sie bestimmten Regeln unterworfen ist, durchaus i. S. des Allgemeinwohls wirken. Zwischen reinem Privateigentum (einer Einzelperson an einem Produktionsmittel) und reinem Staatseigentum lassen sich viele Zwischenformen denken. Welche Art Mischung aus den diversen, denkbaren Eigentumsformen die sinnvollste ist, welche also das „Allgemeinwohl“ am ehesten fördert, läßt sich nicht nach einer einfachen Formel bestimmen. Nicht nur die jeweils situationsangepaßte Definition von „Allgemeinwohl“, auch die Eigentumsformenstrategie, die ihm am ehesten dient, sind nicht ein für allemal festlegbar; sie sind Hauptthema des nie endenden gesellschaftlichen, demokratischen Diskurses. F: Die politischen Institutionen und die Eigentumsformen des Wirtschaftslebens mögen ja wichtig sein, sind sie aber nicht letztlich nur äußere
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Erscheinungsformen; kommt es im ewigen Kampf um mehr Freiheit nicht hauptsächlich auf die innere Einstellung der Menschen an? A: Sicherlich sind die äußeren Institutionen nur leere Hüllen, wenn sie nicht von den Überzeugungen der Menschen (genauer: von ausreichend starken Überzeugungen einer ausreichend großen Zahl von Menschen) mit Leben erfüllt werden. Andererseits ist es ja aber gerade das Ziel von Aufklärung und Erziehung, Veränderungen der Lebenswirklichkeit (der äußeren Lebensumstände) zu erreichen. Aufklärung und Erziehung sind keine l’art-pour-l’artUnternehmungen. Das Verhältnis beider Seiten zueinander muß dialektisch gesehen werden, es besteht eine Wechselwirkung zwischen ihnen: Je demokratischer die äußeren Institutionen strukturiert sind, desto größer ist die Chance für eine gedeihliche Weiterentwicklung von Erziehung und Aufklärung. Und je höher und differenzierter diese entwickelt sind, desto größer wird der Druck auf die äußeren Institutionen, sich dem erreichten Kulturniveau der Gesellschaft anzupassen. Eine Garantie dafür, daß diese dialektische Aufwärtsspirale auch tatsächlich funktioniert, gibt es allerdings nicht. F: Muß man nicht sogar befürchten, daß die an der Beibehaltung (und am weiteren Ausbau) von Herrschaftsstrukturen Interessierten (d.h. vor allem: die Wirtschaftskräfte und ihre Geschäftsträger in Politik und Medien) ihre Macht gebrauchen, um die Köpfe der Menschen so zu beeinflussen, daß ihnen (den Machthabern) keine Gefahr mehr droht, ja daß die von ihnen Beherrschten die Macht der Mächtigen womöglich sogar bereitwillig zu mehren sich bemühen? A: Natürlich. Es wäre eigentlich verwunderlich, wenn das nicht so wäre. So war es schon immer, so ist es auch heute und in Zukunft wird es auch so sein. Allerdings sind einigen Teilen der Menschheit im Laufe ihrer Geschichte dennoch bedeutende Fortschritte im Kampf gegen Willkür und Macht gelungen! Der demokratische Rechtsstaat und die Einrichtungen gesellschaftlicher Solidarität sind hier an erster Stelle zu nennen – trotz aller schwerwiegenden Mängel, die sie an sich haben mögen. F: Welcher Mittel bedienen sich die Mächtigen?
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A: Derjenigen, deren sie sich schon immer bedient haben; zum Beispiel: – Die Menschen dumm halten, jedenfalls auf den Gebieten, aus denen Gefahren erwachsen könnten (d.h. dafür sorgen, daß sich die Beherrschten nicht oder jedenfalls so wenig wie möglich ihrer wirklichen Lebensumstände bewußt werden). – Dazu gehört, daß sie von ihren wirklichen Lebensproblemen abgelenkt werden (etwa durch sensationalistische Medienberichterstattung über irrelevante Themen). – Sie mit Lügen und Halbwahrheiten in die Irre führen. – Die Menschen durch die Religion glauben machen, daß die Verhältnisse, unter denen sie leben, gottgewollt seien. – Die Menschen glauben machen, daß die Verhältnisse, unter denen sie leben, aufgrund von unveränderbaren Sachzwängen so seien, wie sie sind. – Unterdrückung und Lächerlichmachung aller Theorien, Personen oder Kräfte, die 1. die Strukturen der Macht beim Namen nennen und 2. ihre Veränderbarkeit in einer Weise vertreten, die die Macht in Gefahr bringen könnte. Zur Beeinflussung der Massen stehen den heutigen Machthabern sehr viel effizientere, weitreichendere (fast totalitäre) und differenziertere Mittel zu Verfügung als den Machthabern früherer Zeiten – insbesondere die der Massenmedien. Dadurch ist es möglich geworden, den Einsatz a) offener Gewaltanwendung und b) offener symbolischer Machtdemonstration zu reduzieren. Die Macht ist nicht mehr (so sehr) darauf angewiesen, sich mit dem Knüppel durchzusetzen, sie steckt in den Strukturen und vor allem: Sie hat effizientere Methoden, die Köpfe zu beherrschen. „Soft power“ ist wirkungsvoller und härter als „hard power“. Im Gegensatz zu früher, wo die ostentative, geradezu exhibitionistische Prachtentfaltung der Mächtigen (der Kirche, des Adels) ein Mittel nicht nur der Selbstdarstellung, sondern auch der Beeindruckung (der Beherrschten) war, zeigt sich die heutige Macht nicht mehr, sie verschwindet hinter den Spiegelglasfronten der Bank- und Verwaltungsgebäude. (Das V-Zeichen, das der Vorsitzende der Deutschen Bank 2005 vor Gericht dem Volk entgegenhielt, war ein Tabubruch.) Die Mächtigen sind sich ihrer Sache so sicher, daß sie auch Kritik zulassen, wenn dahinter keine Kräfte stehen, die eine Gefahr für sie darstellen. So erzeugen sie den Eindruck von Offenheit, Toleranz und vermeintlicher Freiheit. Marcuse nannte das „repressive Toleranz“.
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F: Neben der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit ist die Wissenschaftsfreiheit, d.h. die Freiheit von Lehre und Forschung, eine der großen Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaates. Könnte man nicht erwarten, daß die hier Tätigen, insbesondere die Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler und die Philosophen, eben diese (oben beschriebene) Grunddiskrepanz zwischen dem zur Würde jedes vernunftbegabten Wesens gehörenden intrinsischen Anspruch auf Freiheit und Gleichheit einerseits und den bestehenden Machtstrukturen andererseits zu einem ihrer Hauptthemen machen? A: In jedem Fall besteht diese Diskrepanz latent, ob die hier tätigen Menschen sich ihrer bewußt sind oder nicht. Insofern geht von ihr unvermeidbar ein, sagen wir, stummer (in den Strukturen der Wahrheitssuche angelegter) Anruf an die Macht aus, eine stille (meist unbewußte) Infragestellung. Für die Macht (wie immer sie heißen mag) kommt es darauf an, diesen latenten Widerspruch möglichst gar nicht erst bewußt werden zu lassen oder ihn, wenn es dafür schon zu spät sein sollte und er sich zu artikulieren beginnt, zu unterdrücken und unschädlich zu machen. Die in den letzten Jahren rasant zunehmende Aushöhlung der Idee und der Institutionen der Wissenschaftsfreiheit, ihre zunehmende Vereinnahmung durch die Wirtschaft im Sinne einer immer direkteren Abzweckung auf unternehmerische Profitinteressen, hat die traditionelle Bedeutung relativ freier Grundlagenforschung bereits im Kern angegriffen. Die Technischen und die Natur-Wissenschaften ebenso wie die für Wirtschaftsinteressen instrumentalisierbaren Teile der Sozialwissenschaften wurden durch die Politik (deren Aufgabe es ihrem eigenen Anspruch nach wäre, dem Allgemeinwohl zu dienen) diesem Angriff weitgehend schutzlos preisgegeben. (Wenn nicht gar behauptet wurde, die Unterwerfung der Wissenschaften unter die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen diene dem Allgemeinwohl.) Aber auch von den weniger direkt instrumentalisierbaren Teilen der Sozialwissenschaften sowie von den Geisteswissenschaften und den großen philosophischen Strömungen unserer Zeit geht keine Gefahr für die Macht aus. Nicht nur weil auch sie sich in materiellen Abhängigkeiten befinden, die ein Aufmüpfen oder gar offenen Widerstand inopportun erscheinen lassen (also sozusagen aus äußeren Gründen), sondern auch aus Gründen ihrer inneren Verfaßtheit. So behauptet der „Kritische Rationalismus“, es gäbe gar keine positi-
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ve Wahrheit (nur die Methode „Versuch und Irrtum“), der „Postmodernismus“ negiert den „modernen“ Vernunftbegriff und behauptet, es gäbe deren mehrere, die „szientistische Wissenschaftstheorie“ meint, sich auf eine logische Kritik der (Natur-)Wissenschaften beschränken zu müssen, die „Analytische Sprachphilosophie“ ihrerseits beschäftigt sich mit subtilen Analysen von Sprechakten. (Diese Einschätzungen im Einzelnen zu entfalten und zu begründen, ist hier nicht der Ort. Eine etwas detaillierte Darstellung dieser Einschätzung findet sich in Teil II.) Das eigentliche Skandalon, nämlich den oben beschriebenen Grundwiderspruch, thematisieren sie, von einigen Individuen (wie z.B. Noam Chomsky) abgesehen, nicht. Herrliche Zeiten für die Macht, „Herrschaftszeiten“ könnte man sagen, Herrschaftszeiten im engeren Wortsinn! Aber für jeden selbständig denkenden Menschen eigentlich beschämend. Wer traut sich noch, die Dinge beim Namen zu nennen und die Mächtigen in ihre Schranken zu verweisen? Nun, das Grundgesetz hat es getan und in der Vergangenheit immer wieder einmal der verstorbene Papst Johannes Paul II. F: Wie sollen denn die demokratischen Institutionen und die Strukturen der Ökonomie aussehen; wer soll wann, wie, welche Entscheidungen treffen? A: Die sich hier stellenden Fragen sind natürlich von ganz elementarer Bedeutung. Zugleich muß man sich allerdings darüber im klaren sein, daß sie nicht einmal gestellt und einmal gelöst werden. Die Debatte um ihre bestmögliche Beantwortung ist eine Daueraufgabe. Das Forum, in dem sie erörtert werden, ist die Gesellschaft insgesamt. Die Ethik kann, wenn sie die Grenzen ihrer Kompetenz nicht überschreiten will, zu den inhaltlichen Fragen nicht Stellung nehmen; ihre Aufgabe ist es, die Diskussionsteilnehmer, d.h.: die Gesellschaft als solche, daran zu erinnern, daß sie, wenn sie ernsthaft an tragfähigen Antworten interessiert ist, dann auch (in dem Maße, in dem es auf dem kulturellen Niveau, auf dem sie sich befindet, möglich ist) ihren Dialog (die gesellschaftliche Debatte) in einer Weise führen muß, die die Erreichung der angestrebten Erkenntnisziele ermöglicht. Es liegt auf der Hand (und wurde schon gesagt), daß die bestehenden Gesellschaften und Staaten und darüber hinaus die bestehende Weltgesellschaft weit von der Erfüllung dieser elementaren Forderung entfernt sind.
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F: Macht es sich die Ethik da nicht sehr leicht? A: Die Grundlagen der Ethik (im Sinne der Reflexion auf die im Stellen jeder ernsthaften Frage notwendigerweise immer schon anerkannten virtuell universell geltenden reziproken Rechte und Pflichten) sind, wie es scheint, sehr leicht einzusehen. Man könnte sagen, sie seien trivial. (Ein etwas präziserer Ausdruck wäre wohl „selbstverständlich“ – hierin käme das Selbstreferenzielle, das auf sich selbst Reflektierende, auch sprachlich zum Ausdruck.) Es wäre ja auch überraschend und sogar sehr bedenklich, wenn diese Grundlagen des (Sprach-)Handelns nicht tendenziell von jedermann leicht eingesehen werden könnten – wenn man sozusagen erst in praktischer Philosophie promoviert haben müßte, um das zu können. Ein Philosophenkollege, dem von einem Vorlesungsteilnehmer ein Buch zur Lektüre empfohlen wurde, sagte, als er es präsentiert bekam, es sei ja „viel zu dick, um wahr zu sein“. Daß es trotzdem Menschen geben sollte, die dicke Bücher über Ethik schreiben, ja dies vielleicht sogar beruflich tun, hängt eigentlich „nur“ mit dem Umstand zusammen, daß es traditionell in den Debatten der praktischen Philosophie bedeutende und ernstzunehmende Denkrichtungen gibt, die für sich diese „Selbstverständlichkeit“ nicht anerkennen – ganz abgesehen von der Notwendigkeit, den Standpunkt der reflexiven Vernunft (der ethisch relevanten Selbstverständigung der Vernunft) gegen religiöses und ideologisches Denken zu verteidigen. Institutionen haben, wie man nicht erst seit Parkinson weiß, oft (oder fast immer) auch eine Neigung zu Aufblähung und Leerlauf, zu einer l’art pour l’art-Mentalität, und ein Gutteil der akademischen Ethikdebatten mag wohl auch hier zu verorten sein. Die Auseinandersetzung mit divergierenden Positionen in der praktischen Philosophie selbst und mit den unterschiedlichen Formen religiösen und ideologischen Denkens ist sicherlich nicht „leicht“. Dazu ist es nötig, diese Positionen a) zu verstehen, sie b) zu analysieren und sie c) kritisch zu würdigen, um zu zeigen, was an ihnen haltbar ist und was nicht. Einfühlungsvermögen (besser: Hineindenkungsvermögen), Sachkenntnis (Gelehrsamkeit) und kritischanalytischer Verstand sowie eine eigene systematische Grundlage sind dafür nötig. Nicht „leicht“ ist weiter die Arbeit an der Verbreitung der gewonnenen Ein-
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sichten durch Erziehung und Aufklärung. Bei der Erziehungsarbeit kommt es insbesondere darauf an, das natürliche kindliche Fragen in voller Konsequenz anzunehmen und das Weiterfragen nicht durch Verweis auf vermeintliche Unreife des Kindes, auf Autoritäten, Glaubenssetzungen, ideologische Axiome oder fixe Ideen willkürlich abzuwürgen, im Gegenteil: es zuzulassen und zu fördern bis man (reflexiv) bei der Erkenntnis der Bedingungen der Möglichkeit des Fragens angelangt ist. Und erst recht nicht „leicht“ ist, drittens, die immer neu nötige Auslotung der Spannung zwischen den unverzichtbaren freiheitlich-egalitären Grundpostulaten menschlicher Gesellschaftsbildung im Medium der Sprache und den in je verschiedener Weise historisch vorhandenen Formen von Herrschaft. Hier ist die Konfrontation mit den gesellschaftlichen Mächten am direktesten. Damit die aufklärerischen Teile der Gesellschaft nicht von vorneherein auf völlig verlorenem Posten stehen, ist es wesentlich, daß die historisch bereits erkämpften demokratischen Einrichtungen der Gesellschaft verteidigt und ausgebaut werden (Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Parlamentarismus u.a. Konkretisationen des Rechts- und Sozialstaates). F: Wird es einmal ein „Ende der Geschichte“ im Sinne eines endgültigen Erreichens von Freiheit und Solidarität geben? A: Ein solches „Ende“ gehört wohl in den Bereich religiöser oder ideologischer Heilsvorstellungen. Eine „Erlösung“ in diesem Sinne ist hienieden nicht in Sicht. Wohl „Lösungen“, um die immer wieder neu gestritten werden muß. Diese „Lösungen“ beziehen ihren Sinn allerdings von ihrem Gerichtetsein auf die (regulative Idee der) Freiheit, pathetisch gesagt, auf die Realisierung der Würde des Menschen oder sachlicher: auf die allmähliche Annäherung der Realität unseres Zusammenlebens an die in jeder ernstgemeinten menschlichen Kommunikation immer schon notwendig anerkannten Grundsätze von Universalität und Reziprozität. Es wäre naiv, zu unterstellen, diese Spannung könne einmal ein wirkliches Ende finden. Allzu leicht werden aus den Vertretern der Nächstenliebe furchterregende Inquisitoren, aus den Kämpfern für die Überwindung des Staates totalitäre Bürokraten, aus den Verteidigern des Sozialstaates seine neo- liberalen Überwinder usw.. Die Arbeit der Aufklärung hört nie auf.
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F: Ist der aufklärerische Impetus, der die geistige Grundlage all dieser Bestrebungen ist – oder es jedenfalls sein sollte –, ist dieser aufklärerische Impetus aber nicht letztlich doch naiv-idealistisch? A: Ihn aufzugeben würde bedeuten, das „Projekt Menschwerdung“ aufzugeben. Denn erst in dem Maße, in dem er frei seine Vernunft entfalten kann, realisiert sich der Mensch. Und es würde bedeuten, daß wir die jahrtausendealte Kulturarbeit des Menschen, seinen leidvollen und zugleich mitreißenden Kampf um Erkenntnis mißachteten. Die Arbeit der Aufklärung ist nicht naiv, sie ist unsere einzige Hoffnung. Sie aufzugeben liegt streng genommen auch gar nicht in unserer Macht, denn schon die ernstgemeinte Frage, ob sie nicht naiv sei, impliziert, ob man es weiß und will oder nicht, in nuce die Anerkennung ihres ganzen Programms. Zu erklären, man wolle sie aufgeben, bedeutete daher nichts anderes als daß man die eigene Situation als Vernunftwesen nicht verstanden hätte. Eben dies wäre naiv (da unreflektiert).
H ISTORISCHER T EIL F: Es ist im ersten (systematischen) Teil deutlich geworden, daß die dort umrissenen Einsichten in die elementaren Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis und in die daraus sich ergebenden ethischen Folgerungen jedem normalsinnigen Zeitgenossen (ohne vorhergehendes Universitätsstudium, sozusagen aus dem Stand heraus) zugänglich sein müßten. Macht es trotzdem Sinn, sich mit der (auf weite Strecken vielleicht eher enttäuschenden) Geschichte der allmählichen Erarbeitung dieser Einsichten in der europäischen Kultur der letzten zweieinhalb Jahrtausende zu beschäftigen? A: Ganz sicher. Und zwar aus mindestens drei Gründen: Erstens, weil uns so bewußt wird, wie schwierig es tatsächlich war, zu diesen Einsichten vorzudringen (trotz aller Irrungen, trotz aller Unterdrückung, trotz aller Rückschläge) und wie hoch wir daher das Erreichte schätzen müssen! Zweitens, weil es immer wieder vorkommt, daß wir die Geschichte wie eine Art Steinbruch verwenden können. Genau in den Fällen nämlich, wo Fragen gestellt und Antworten gegeben wurden, die für uns Heutige auch wichtig wären, die aber im Laufe der Zeit aus dem Blick geraten sind und vergessen wurden. Und drittens schließlich, weil Geschichtsschreibung auch eine identitätskonstitutive Funktion hat: Wir wissen (besser), wer wir sind, wenn wir unsere Geschichte kennen. Das gilt für uns als Individuen, als Angehörige einer Gruppe von Menschen und auch als Menschheit allgemein. – Wenn wir wissen möchten, wer unser Gegenüber ist, so werden wir ihn nicht zuletzt auch nach seiner Lebensgeschichte fragen; Bewerber stellen sich bei ihrem zukünftigen Arbeitgeber mit ihrem Lebenslauf vor. – Eine Nation konstituiert sich (u.a.) dadurch, daß sie sich eine bestimmte Geschichte erzählt, die sie für ihre Entstehungsgeschichte hält. (Von hierher wird übrigens deutlich, daß das Selbstverständnis [die Selbst-Sicht] des Individuums bzw. der Gruppe einerseits und andererseits das, was es/sie als zur eigenen [Entstehungs]-
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Geschichte gehörig begreift, zueinander in einer dem Wandel unterworfenen Wechselbeziehung stehen.) F: Was aber ist „die Identität“ des Menschen, was ist der Mensch? A: Auf diese Frage gibt die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, wie sie z. B. auch im Stellen eben dieser Frage: „Was ist der Mensch?“ unvermeidbar implizit enthalten ist, eine Antwort. „Erkenne dich selbst!“ stand über dem Orakel von Delphi. Nicht anders war für Kant die zentrale Frage der Philosophie: „Was ist der Mensch?“. Und auch Descartes’ „Cogito ergo sum“ ist selbstreflektiv und transzendental, d.h. zielt auf die Aufklärung der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Die Geschichte der Irrtümer und Fortschritte im Bemühen um die Beantwortung dieser Frage (d.h. die Philosophiegeschichte) ist demzufolge zu verstehen als wesentlicher Teil der Geschichte der Identitätskonstitution des Menschen als denkendes Wesen. F: Es klingt unwahrscheinlich, daß die Menschen die Frage nach ihrer Identität erst gestellt hätten, nachdem sie eines schönen Tages über dem Orakel von Delphi eingemeißelt war. A: Natürlich haben die Menschen auch in „vor-philosophischen Zeiten“ schon ein Bedürfnis gehabt, sich selbst in ihrer Eigenheit und Besonderheit zu begeifen und darzustellen. Sie haben das u.a. in ihren Mythen getan. „Mythos“ bedeutet Erzählung. In unvordenklich überlieferten Mythen hat der Stamm seine eigene Entstehung und seine gegenwärtige Existenz in eine kosmologische Weltordnung oder jedenfalls in einen seinen unmittelbaren Lebensbereich übersteigenden Kontext gestellt und damit der eigenen Existenz zugleich auch eine Art Sinn-Bezug zugesprochen. Der Übergang vom Mythos zur Philosophie nun ist der Übergang vom Stammesgeschichtlich-Partikularen zum Menschheitlich-Allgemeinen und zwar insofern als er den Übergang bedeutet vom unreflektierten (Weiter-)Erzählen zur bewußten Reflexion: Was machen wir denn da eigentlich, wenn wir uns diese Mythen erzählen? Warum machen wir das? Und dann weiter: Was ist von diesen Mythen zu halten? Stimmen sie überhaupt? Indem aber die Wahrheitsfrage an die Mythen gerichtet wird, kommt eine reflexive Distanzierung, ein Bruch mit der Welt der Mythen zum
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Ausdruck. Und ineins damit öffnet sich der Horizont vom UnbewußtStammesgeschichtlichen zum Bewußt-Universalen. F: Warum haben denn die Griechen diesem Bemühen den Namen „Philosophie“ gegeben? A: Zunächst eine Vorbemerkung: Der Name stammt zwar aus dem Griechischen und gehört damit in den europäischen Kulturkreis. Die Verwendung dieses Namens sollte allerdings nicht der Auffassung Vorschub leisten, die Philosophie (als Reflexionsbemühen) sei auf den europäischen Kulturkreis beschränkt. Wie man sich leicht denken kann, gab es „Philosophie“ der Sache nach historisch auch in anderen Hochkulturen, vor allem wohl in China. Die griechische Bezeichnung trifft jedenfalls den Kern der Sache recht gut: Philosoph zu sein, bedeutet, Freund der Weisheit (Einsicht, Wahrheit) zu sein. Freund aber ist man nur, indem man sich bemüht. Wenn ich mich für den Menschen, dessen Freund ich zu sein behaupte, nicht mehr interessiere, wenn ich mich nicht mehr um ihn bemühe, dann ist die Freundschaft erloschen. Vor allem aber bin ich als Freund nicht sein Besitzer. Wenn ich ihn besäße, wäre er mein Sklave und damit ein Objekt, welches ausweislich des Kaufdokuments ein für allemal in meinem Besitz ist; er hätte seinen Subjektcharakter verloren und ich wäre des Zwanges enthoben, mich um ihn bemühen zu müssen. Genau das aber wollten die Griechen wohl sagen: Das Bemühen um Weisheit kann nie aufhören, wir „besitzen“ Weisheit nicht (dann wäre sie ein Dogma, wie es die Religion kennt). F: Ist die Geschichte der Philosophie nicht eher eine wüste Ansammlung von irgendwie zufällig sich ausbreitenden Lehren, von Irrtümern, Verwirrungen, Teilwahrheiten, Mißverständnissen und Aneinandervorbeireden, also eigentlich eher ein wirres Chaos als geordnet voranschreitende Entwicklung, als geordnete Entfaltung der Vernunft? A: Sie ist wohl beides. Erfreulicher und bequemer für uns Heutige wäre es natürlich, wenn sie klar überschaubar wäre, wenn wir sie ohne viel interpretierendes Gezerre als eine Art Treppe sehen könnten, auf deren oberster Stufe wir selbst stehen (wo wir jedenfalls stehen könnten, wenn wir wollten). Es scheint aber so zu sein, daß es sich hier ähnlich wie in der Natur verhält, wo eine unendliche Vielzahl von Arten produziert wird und nur einige von ihnen
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sich als überlebensfähig erweisen. (Das ist allerdings eine äußerliche Betrachtungsweise. Sie übersieht den internen Gesichtspunkt, daß jede philosophische These und Begründung ja schon im Prozeß des Entstehens sich an dem von ihr selbst zu verantwortenden Wahrheitsanspruch messen muß, also nicht einfach irgendwie wildwüchsig hervorgebracht wird und erst dann – wie die natürlichen Spezies – an irgendwelchen äußeren Umständen des Lebens scheitert.) Ein anderer Vergleich ist vielleicht besser: Wittgenstein hat einmal in einem anschaulichen Bild von den philosophischen Wolken gesprochen, die am Ende zu einem Tropfen Wahrheit werden. F: Warum ist es zu diesem Übergang vom Mythos zur Philosophie gekommen? A: Warum es dazu gekommen ist, das läßt sich wohl nicht historisch rekonstruieren bzw. theoretisch erklären. Was man aber sicher sagen kann ist, daß dieser Übergang kein punktueller und definitiver gewesen ist. Es hat einen Anfang gegeben, aber es gibt kein Ende. Den Übergang weiter voranzutreiben, ist unendliche Aufgabe der denkenden Menschheit; ihre Geschichte ist wesentlich eine Geschichte des Bemühens, diesen Übergang weiter voranzubringen. Welche bedrohlichen Rückschläge sich dabei ereignen können, machen die politischen Mythen des vergangenen Jahrhunderts (insbesondere der nationalsozialistische Mythos) ebenso deutlich wie nationalreligiöse Mythen unserer Zeit (etwa bei den religiösen Fundamentalisten der USA, die ihr Land als „God’s own country“ ansehen, oder, mit biologistischem Hintergrund, beim Zionismus mit seinem Mythos von der vermeintlich auserwählten Stellung des jüdischen Volkes zu Gott) und schließlich, ohne nationalistische Komponente, aber nicht minder erschreckend, der islamische Fundamentalismus. F: Lassen sich denn in der Geschichte der Philosophie – ohne interpretatorische Überanstrengung – Elemente des Fortschritts erkennen, womöglich sogar in irgendeinem ungefähren Sinne von geordneter Entfaltung der Vernunft? A: Wenn das nicht so wäre, müßten wir wohl verzweifeln. Das Bett des Prokrustes ist dazu hoffentlich nicht nötig ( – obwohl in der Geschichte von Ex-
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egese, Hermeneutik und Interpretation eines der beliebtesten und am meisten benutzten Werkzeuge: Der Wegelagerer Prokrustes lauerte den vorbeigehenden Wanderern auf und ließ nur diejenigen passieren, die in sein Bett paßten; wenn nicht, sägte er das Darüberhinausragende ab oder streckte den Körper bis er den Maßen des Bettes entsprach). In ganz groben Zügen sollen im Folgenden einige derjenigen Aspekte der Philosophiegeschichte beschrieben werden, die sich ohne prokrustischen Zwang als aufeinanderfolgende Bemühungen um eine jeweils bessere Beantwortung der Grundfrage der Philosophie begreifen lassen. Es handelt sich (in unterschiedlicher Gewichtung) um Aspekte – der antiken Philosophie (Platon, Aristoteles), – des Christentums, – der Renaissance und des Protestantismus, – der empiristischen Aufklärung, – der Kantischen Aufklärung, – der Geschichtsphilosophie (Hegel, Marx) und, in geraffter Form: – der Ich-Philosophie des Deutschen Idealismus, – der Analytischen Philosophie (Wiener Kreis), – des Kritischen Rationalismus (Popper) und – des Postmodernismus. F: Ist das nicht eine Auflistung, die eher Verwirrung stiften wird? A: Das soll vermieden werden dadurch, daß an jede Epoche resp. Strömung die gleiche Frage gestellt wird und geschaut wird, welche Schwächen und welche Vorzüge die jeweiligen Antworten haben. So soll zugleich klar werden, auf welche Weise sie vielleicht miteinander in Verbindung stehen, soll heißen: inwiefern die späteren versuchten, Defizite der früheren zu korrigieren. F: Welche Frage ist das? A: Wie oben gesagt: die philosophische Frage: Was ist Wahrheit? Wie ist uns gesicherte Orientierung möglich?: Die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis. F: Aber in der Liste fehlen doch bedeutende Köpfe und Schulen! A: Ja. Das soll aber kein Ausdruck von Geringschätzung sein. Die Absicht ist ja nur, ein systematisch-historisches Gerüst aufzustellen, eine Art
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Grobstruktur, die später weiter auszufüllen (oder zu verändern) jedem Gesprächspartner/Leser überlassen bleibt. Es geht nur darum, einige Schneisen in den Wald zu schlagen und damit auf die typische Situation des Anfängers oder Laien zu reagieren, der ja oft „vor lauter Bäumen den Wald“ nicht sieht. F: Wird dieser Durchgang durch die Philosophiegeschichte nicht notwendigerweise ziemlich oberflächlich sein? A: Es kann bei einem solchen Überblick nicht darum gehen, in den neuesten Stand philosophiegeschichtlicher Forschung Epoche für Epoche, Denker für Denker einzuführen. Oberflächlich sollte er aber dennoch nicht sein. Die Frage, um die es geht, ist es jedenfalls sicher nicht. Und wenn die große Linie der skizzierten Antworten stimmt, dann mag es vielleicht angehen. F: Beginnen wir mit Platon. Wie lautet die Antwort Platons auf die philosophische Grundfrage (nach der Möglichkeit von Erkenntnis)? A: Auf den ersten Blick gibt Platon diese Antwort: Erkenntnis (Wahrheit) ist möglich, wir kommen zu ihr durch den argumentierenden Dialog. Fast alle seine Schriften sind als Dialoge verfaßt. Diese sogenannten sokratischen Dialoge (einer der Dialogpartner ist immer Platons Lehrer Sokrates) haben eine ähnliche Struktur: Sie gehen von einer Frage aus und am Ende der Diskussion soll eine Antwort stehen – d.h.: die Erkenntnis, die gesucht wurde. Genauer betrachtet besteht der typische sokratische (eigentlich: platonische) Dialog aus folgenden Schritten: 1. Sokrates stellt seinem Gegenüber eine Frage (z. B.: „Was ist eigentlich Gerechtigkeit?“). 2. Der Gesprächspartner sagt seine Meinung dazu (griech.: doxa). 3. Sokrates hinterfragt diese Meinung kritisch, klopft sie auf ihre Haltbarkeit hin ab, weist Unklarheiten und/oder Widersprüche nach und bringt den Dialogpartner so dazu, 4. von seiner zu Anfang für wahr gehaltenen Meinung abzurücken und einzusehen, daß sie nicht haltbar ist. Es tritt ein Zustand der Ratlosigkeit ein (griech.: Aporie = Weglosigkeit). 5. Nun beginnen beide gemeinsam, nach einem Weg, nach einer möglicherweise haltbaren Antwort zu suchen. Sie wägen Gründe und Gegengründe
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ab, die für bzw. gegen in Aussicht genommene, mögliche Antworten sprechen. Es beginnt eine gemeinsame, argumentierende Suche. 6. Am Ende des Dialogs steht im Erfolgsfall (der aber nicht notwendig eintritt) die sich auf die geprüften Argumente stützende Zustimmung beider zu der gefundenen Antwort. Als „wahr“ kann eine Aussage dann bezeichnet werden, wenn die am argumentierenden Dialog Beteiligten ihr aufgrund des Dialogs zustimmen (= „Konsenswahrheit“). Nicht die faktische Zustimmung zählt, sondern die argumentativ erreichte. Die gefundene Wahrheit ist revisionsoffen. Wenn neue Argumente vorgebracht werden, die die bis dahin für wahr gehaltene Antwort in Zweifel ziehen, so ist der Dialog neu eröffnet. Das Ergebnis der erneuten Diskussion kann der Nachweis der Unhaltbarkeit der bisherigen Antwort sein, der Nachweis der Notwendigkeit von Modifikationen, aber auch die Bestätigung der zuerst gegebenen Antwort. In keinem Fall setzt die Revisionsoffenheit des Konsensbegriffs den Wahrheitsanspruch außer Kraft. Im Gegenteil: Die Revision geschieht ja gerade in seinem Namen. Die Revisionsoffenheit unterscheidet die philosophische Wahrheit von dogmatischen (religiös oder ideologisch gesetzten) „Wahrheiten“. Revisionsoffenheit bedeutet immer auch: universalistische Öffnung; denn jedes Argument kann zur Wahrheitsfindung beitragen. Beschränkungen der Dialogteilnehmer auf bestimmte Menschengruppen sind unzulässig, da sie dem Zweck des Dialogs, der Wahrheitsfindung, widersprechen. F: Und wie sieht Platons Antwort auf den zweiten Blick aus? A: Wenn man die Struktur der sokratischen Dialoge als Platons Antwort auf die philosophische Grundfrage liest, so wird man denken: Das ist ja schon die richtige Antwort; da kann man sicher noch dies und jenes ausbauen und differenzieren, aber im Prinzip wäre es das! Die Philosophiegeschichte wäre, was die Grundlagen betrifft, beendet bevor sie richtig begonnen hat. (Vielleicht hat der englische Philosoph Whitehead deshalb gesagt, die ganze Philosophiegeschichte sei eigentlich nicht mehr als ein Kommentar zu Platon). Aber leider haben wir da die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Platon selbst sieht den Dialog nämlich letztlich doch nicht als das Werkzeug, das der autonome Mensch braucht, um sich die Erkenntnis von Wahrheit zu erarbeiten. Daß der Mensch als Vernunftwesen notwendig autonom ist, hat mehr als 2000
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Jahre später erst Kant bemerkt und in seiner sog. Transzendentalphilosophie ausgeführt. Der Dialog ist in Platons Augen nur ein Mittel, dessen der Mensch sich bedient, um sich der Wahrheiten, die er schon vorgeburtlich, in der „Ideenwelt“, geschaut hat (griech. theorein = schauen) wieder zu vergewissern; die „Ideenwelt“ Platons ist die Welt der ewig gültigen, vom Menschen unabhängig existierenden Wahrheiten. Damit macht er den Menschen erkenntnistheoretisch gesehen doch wieder zu einem heteronomen Wesen; die anscheinende Autonomie des sokratischen Dialogs wird durch die Ideenweltspekulation widerrufen. Der Dialog ist für Platon nicht wirklich wahrheitskonstitutiv. Da die vorgeburtlich geschauten Wahrheiten ohnehin in jedem einzelnen Menschen vorhanden sind, ist der Dialog nicht mehr als ein Mittel, dem Einzelnen zu helfen, sie zu entdecken. F: Welche Rolle spielt Aristoteles vor dem Hintergrund der platonischen Dialogphilosophie? A: Wenn die Wahrheit durch den argumentierenden Dialog erarbeitet (oder jedenfalls wiederentdeckt) wird, dann stellt sich die Frage, was denn ein argumentierender Dialog eigentlich ist, d.h. insbesondere: was denn Argumente eigentlich sind. Wann ist eine Aussage ein Argument? Wann und wie kann man von einer Aussage auf eine andere schließen? Diese Fragen stellen sich auch dann, wenn man meint, wie es Platon im ‚zweiten Teil‘ seiner Erkenntnistheorie ja tut, der Dialog sei noch nicht das Letzte, er sei eigentlich nur das Mittel, vorgeburtlich geschaute ewige Wahrheiten wieder zu Bewußtsein zu bringen. Auf dieses, durch die Dialogphilosophie Platons entstandene Desiderat hat Aristoteles mit seiner „Argumentationslehre“, der später so genannten „aristotelischen Logik“, geantwortet. F: Sowohl Platon als auch Aristoteles haben sich ja intensiv auch mit Fragen der Staatsphilosophie beschäftigt, d.h. insbesondere mit der Frage: Wie sollte ein guter Staat aussehen? Gibt es zwischen den erkenntnistheoretischen Konzepten Platons und Aristoteles’ einerseits und den von ihnen vertretenen politischen Theorien andererseits einen Zusammenhang? A: In der Tat ist der Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und politischer Theorie in beiden Fällen stringent.
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Für Platon gibt es (im ‚zweiten Teil‘ seiner Erkenntnislehre) unabhängig von uns Menschen, in der „Ideenwelt“ existierende, unvordenklich–ewige Wahrheiten. Das gilt auch für die Idee des „guten Staates“. Wie der „gute Staat“ aussieht, das steht ein für allemal fest. Platon beschreibt ihn in seinem Buch „Der Staat“: Es gibt einen Nährstand, einen Wehrstand und die Leiter des Staates, die (ebenso wie die Angehörigen des Wehrstandes) kein Privateigentum haben dürfen, keine eigenen Frauen, keine eigenen Kinder; sie sollen, anders als die beiden anderen Stände aber die höhere Einsicht in das Gute haben – d.h. „Philosophenkönige“ sein. Für die Fortpflanzung der oberen zwei Stände gibt es genaue Zuchtvorschriften. Kinder, welche aus unerlaubten Verbindungen stammen, müssen getötet werden. Platon hat sich selbst aktiv dafür eingesetzt, daß seine Staatstheorie nicht bloß auf dem Papier stehenblieb; er hat versucht, Herrscher griechischer Kleinstaaten dazu zu bewegen, sein Konzept umzusetzen. Ausgehend von Platons Ideenwelt-Erkenntnistheorie ist es irrelevant, ob es einen solchen (oder ähnlichen) Staat auf Erden bereits gibt. Platons Staat stammt aus der Ideenwelt, er hat in der empirisch vorfindlichen, in unserer alltäglich von uns erlebten Menschenwelt keinen Ort, er ist, griechisch gesagt, u-topisch. Seine Realisierung erfordert gegebenenfalls die völlige Umgestaltung des bestehenden Staates. Platons Staatstheorie ist insofern tendenziell revolutionär (revolutio = Umwälzung). Ist der ideale Staat aber einmal realisiert, dann ist damit das Problem des politischen Zusammenlebens der Menschen ein für allemal gelöst. Sein Staatskonzept ist in diesem Sinne messianisch, d.h. Erlösung versprechend, und es ist, wenn realisiert, erhaben über Kritik und zwar in allen Hinsichten, also ideologisch totalitär. Und da es dann nichts weiter zu kritisieren und zu verändern gibt, ist es zugleich erzkonservativ. Darüber hinaus ist es, wie wir am Beispiel der möglichen Behandlung von unerlaubtem Nachwuchs sahen, potentiell gewaltgeneigt. Aristoteles hat sich zur Erkenntnistheorie und zur daraus sich ergebenden Staatstheorie seines Lehrers Platon nicht explizit geäußert. In seinen Schriften vertritt er jedoch eine sehr andere Position. Wie schon angedeutet, hat er die Argumentationslehre als Instrument der Wahrheitsfindung detailliert ausgearbeitet. (Seine Schriften hierzu sind unter dem Titel „Organon“ = Werkzeug zusammengefaßt.) Wenn er im Blick auf die Wahrheitsfindung das Argumen-
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tieren in den Mittelpunkt rückt und die Rückbindung an eine vom Menschen unabhängige ewige, ideale Wahrheit beiseiteläßt, so ist es naheliegend, daß sich auch seine Staatsphilosophie von der Platonischen wesentlich unterscheidet. Er bezieht seine Staatsidee nicht aus dem Jenseits einer Ideenwelt, sondern er schaut sich in der historisch gegebenen Lebenswirklichkeit daraufhin um, welche Arten von Staaten (Staatsformen) es gibt und welche Vorzüge bzw. Mängel sie jeweils haben. Sein Ansatz ist also nicht utopisch wie der Platons, sondern empirisch. Und er ist eklektisch: Die gefundenen Vorzüge sollen, wenn möglich, übernommen, aus den in Erscheinung getretenen Mängeln sollen Lehren gezogen werden, so daß man sie in Zukunft vermeiden kann. Man soll immer schauen, was gerade „falsch läuft“, welche Gefahren sich aufbauen, und man soll rechtzeitig darauf reagieren bzw. vorbeugend tätig werden. Es sind jeweils „Lösungen“ für konkrete Probleme zu suchen; von einer ein für allemal erreichbaren „Erlösung“ ist nicht die Rede; Reformen sind angesagt, nicht die messianische Revolution. Manche meinen, Aristoteles sei daher eher als konservativ einzuschätzen. Eine solche Einschätzung geht jedoch mindestens dann an der Sache vorbei, wenn Qualität, Ausmaß und Tiefe der Reformen sehr groß sind; dadurch mag ein Staat sehr wohl in relativ kurzer Zeit so weit „reformiert“ werden, daß man ihn anschließend fast nicht mehr wiedererkennen kann. Anmerkung: Es sollte nicht unerwähnt bleiben, daß weder Platon noch Aristoteles es für nötig befunden haben, in ihren Ethiken respektive politischen Theorien das Problem der damals üblichen Sklavenhalterei auch nur zu erwähnen. F: Welche Bedeutung haben diese beiden unterschiedlichen Ansätze für den weiteren Verlauf des politischen Denkens in Europa gehabt? A: Eine prägende, kommen in ihnen doch in der Tat die beiden Positionen zum Ausdruck, die man überhaupt, systematisch gesehen, einnehmen kann. Die politischen Theorien der Folgezeit bis hin zu unseren Tagen lassen sich auf dem von Platon und Aristoteles abgesteckten Felde verorten. F: Dem distanzierten Betrachter könnte die Gegenüberstellung von „Revolution“ und „Reform“ künstlich erscheinen; kann man wirklich sagen: „Entweder Revolution oder Reform?“
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A: Nein (wie oben schon angedeutet). Eine „Revolution“ im Sinne einer vollständigen Umwälzung aller Lebensverhältnisse ist ohnehin unmöglich. Woher sollten die „totalen Revolutionäre“ auch nur das Papier für ihre Aufrufe nehmen, in welcher Sprache sie verfassen, ja welche Kleider sollten sie tragen, was zu Mittag essen, wenn sie alles, was war, ablehnten? Das wäre absurd; einen totalen Neuanfang i.d.S. kann es nicht geben. Wenn es aber so (d.h. total) nicht gehen kann, dann nur partiell: Zwar wurde gestern die Stahlindustrie verstaatlicht (oder privatisiert), dennoch fährt uns heute der Bus wie immer um 6.45 Uhr zur Arbeit. Auch die gewaltigsten Umwälzungen lassen andere Bereiche des Lebens gegebenenfalls ganz unberührt. „Also, bis nach dem Krieg um sechs“, verabschiedete sich Schweijk von seinen Stammtischbrüdern. (Das hätte freilich auch anders kommen können, als es sich Schweijk gedacht hatte.) Und wenn sich der Komiker Werner Fink in einem wunderbaren Sketch als ausgemergelter Frontsoldat inmitten der Ruinen einer deutschen Großstadt Anfang Mai 1945 bei einer Dienststelle der Wehrmacht „zur weiteren Verwendung“ zurückmeldet und ihm der hinter einem mit Staub und Mörtel bedeckten Schreibtisch sitzende Amtsstellenleiter, nachdem er den Staub aus seinen Ärmelschonern geschlagen hat, lakonisch antwortet: „Hat sich erledigt“ – dann weiß man, so schrecklich es sein mag: Da ist eine Welt zusammengebrochen, aber das Leben geht weiter, lakonisch und trivial (und man weiß nicht, ob man darüber wirklich lachen soll). Wenn es also in diesem Sinne eigentlich gar keine „Revolution“ gibt, jedenfalls keine totale, sondern nur eine teilweise, also eigentlich nur so etwas wie gegebenenfalls großangelegte und tiefgreifende Reformen, so muß man dabei doch im Auge haben, daß – unabhängig von ihrem Ausmaß – Reformen nur sinnvoll sein können, wenn man weiß, auf welches Ziel sie gerichtet sind und warum gerade auf dieses Ziel! Auch wenn man nur kleine Schritte macht, so führen sie uns doch irgendwohin und man muß wissen, ob man dahin will und warum. F: Wie lautet die Antwort des Christentums auf die philosophische Grundfrage („Wie ist gesicherte Orientierung, wie ist Wahrheit möglich?“)? A: Durch den Einen, transzendenten Gott. Das oben kritisch zum Christentum qua Religion Gesagte muß hier nicht wiederholt werden. Gleichwohl gilt philosophisch gesehen: Der Monotheis-
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mus des Christentums bedeutet ebenso einen eminenten Fortschritt wie seine Ethik der Nächstenliebe. Der Eine Gott ist vorgestellt als der Gott aller Menschen; alle sind vor ihm gleich, ob arm oder reich, Mann oder Frau, jung oder alt, Eskimo oder Chinese. Das Christentum ist universalistisch, ebenso wie die griechische Philosophie. Das Christentum erhebt nämlich, ebenso wie die Philosophie, einen Wahrheitsanspruch. Einen Anspruch auf Wahrheit ernsthaft zu vertreten, heißt aber ihn gegen jedermann zu vertreten. Der Fortschritt, den das Christentum in diesem Zusammenhang bedeutet, liegt darin, daß es den schon in der griechischen Philosophie theoretisch artikulierten universalistischen Anspruch lebensweltlichpraktisch durchsetzte. Es war in der Lage, sich als Lebensform zu etablieren – in einem hoch ausdifferenzierten und weite Teile der Gesellschaft integrierenden kirchlichen Leben und in einer Durchformung des weltlichen Tages, Jahres- und Lebensablaufs, sowie in einer extrem expansionistischen (eben aufs Universelle zielenden) Missionstätigkeit. „Katholisch“ bedeutet ja nicht zufällig allumfassend. Diesen Erfolg allein auf äußere machtpolitische Geschehnisse oder gar auf den Terror zurückzuführen, den die Kirche ausgeübt hat, nachdem ihre Macht etabliert war, wäre falsch. Äußere Macht und Terror sind moralisch nicht überzeugend. Sie sind moralisch kontraproduktiv. Der überzeugende und die Herzen der Menschen gewinnende Kern des Christentums ist die Lehre der Nächstenliebe: Wir sind vor Gott gleich und wir sind von Gott aufgerufen, einander zu lieben. Auch die Philosophie hatte gelehrt: Wir sind einander gleich (als vernunftbegabte, argumentierende Wesen) und wir sind darauf angewiesen, daß wir uns (bei der Wahrheitssuche) helfen. Aber die Gleichheits- und Solidaritätsidee der Philosophie konnte sich allenfalls in einigen Teilen der gebildeten Schichten der Antike ein wenig Gehör verschaffen. Ein Durchbruch zur Lebensform gelang ihr nicht. Das ist der Menschheit erst in einem zweiten Anlauf (ansatzweise) gelungen: dem der neuzeitlichen Aufklärung und der in ihrem Namen allmählich erkämpften Realisierung des demokratischen Rechtsstaates und der Einrichtungen sozialer Solidarität. Man darf allerdings nicht vergessen: Der Universalismus und das Solidaritätspostulat des Christentums sind religiös abgeleitet: Die universalistischsolidarischen Anleitungen, denen die Menschen folgen sollen, stammen von
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Gott. Die religiöse Ableitung ist sozusagen der Preis, welchen das Christentum für den Fortschritt gezahlt hat, den es der Menschheit brachte. Die (europäische) Menschheit war noch nicht soweit, aus der Geborgenheit der religiösen Weltauffassung hinauszutreten in die ungeleitete Autonomie mündiger Existenz. Dazu bedurfte es offenbar noch einer mehrere Jahrhunderte dauernden Kulturentwicklung. Noch in einer weiteren Hinsicht hat das Christentum zum Fortschritt in der Kulturentwicklung der Menschheit beigetragen, nämlich durch die Entgöttlichung der Welt, in der wir leben – die das Christentum „Diesseits“ nennt, im Unterschied zum „Jenseits“. Gott ist dem Jenseits zugeordnet, dort „existiert“ er, nicht im Diesseits. Die Welt steckt nicht mehr voller Götter, Halbgötter, Dämonen usw., die sich mit Blitz, Unwettern, Erdbeben usw. bekämpfen. Es gibt nur noch Einen Gott und zwar im Jenseits. Die Welt (des Diesseits) ist damit tendenziell sich selbst überlassen, sie wird tendenziell zur bloßen Physis, zur bloßen Natur, die so funktioniert wie sie eben funktioniert. Die Regeln (Gesetze) ihres Funktionierens herauszufinden, kann nun in Angriff genommen werden. Solange die Naturkräfte noch als Spielzeuge in den Händen von Göttern vorgestellt wurden, machte das keinen Sinn. Die methodisch-experimentelle Erschließung der Natur durch die Naturwissenschaften hat die Entgöttlichung der Welt zur Voraussetzung. Diese ist im Christentum tendenziell angelegt – aber eben nur tendenziell. Denn das Christentum ist ja zugleich darauf angewiesen, irgendwelche Arten der Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits zu bewahren. Wenn Gott aus unserer Welt ganz hinauseskamotiert wäre, wie kämen wir (die Menschen) dann in ihr zurecht?: nur durch Rückgriff auf unsere eigenen Kräfte, d.h. auf unsere autonome Vernunft. Für diese Einsicht war die Menschheit aber noch nicht reif. (Und es ist keineswegs ausgemacht, daß sie es heute ist.) Das Dilemma des Christentums, den aus dem Diesseits hinausgedachten Gott als Orientierungselement wieder hineinzubekommen, hat es durch eine Vielzahl von Brückenschlägen zu lösen versucht: durch den Advent Christi als Gottes Sohn, durch den Erhalt des Buches, in dem Gottes Wort nachgelesen werden kann, durch Gottesbeweise, durch die Vorstellung, Gott könne in die Naturgesetze willkürlich eingreifen, d.h. Wunder bewirken, durch die Kirche als Vermittlerin zwischen den Menschen und Gott, den Papst als Pontifex usw.. Insofern ist die Trennung von Diesseits und Jenseits nur halbherzig. Die
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Naturwissenschaften aber setzen für ihre Arbeit die vollständig durchgeführte Entgöttlichung der Natur voraus. Die bahnt sich im Christentum nur an. Durchgeführt wurde sie erst in der neuzeitlichen Aufklärung. „Natur“ im naturwissenschaftlichen Sinn ist all das, was im wiederholbaren Experimentieren auf regelmäßig wiederkehrende Veränderungen hin untersucht werden kann, auf äußere Regelmäßigkeiten hin, die dann als „Gesetze“ bezeichnet werden – ein etwas mißverständlicher Ausdruck insofern er insinuiert, daß die Natur diesen Gesetzen „folge“, daß es mithin zunächst Gesetze gebe, nach denen sich die Natur dann richte. In Wirklichkeit aber können die Naturwissenschaften nichts anderes als Regelmäßigkeiten registrieren. Warum es diese gibt, vermögen sie nicht zu sagen. Daß überhaupt die natürlichen Regelmäßigkeiten in diesem Sinne (als gäben sie Antworten auf Warum-Fragen) mißverstanden werden können, mag noch ein Reflex des Umstandes sein, daß das Christentum das Diesseits (die Natur) eben nur „halb“ entgöttlichte. F: Was bedeutet die eben in einigen Hinsichten skizzierte Antwort des Christentums (auf die philosophische Grundfrage nach der Möglichkeit von Wahrheit) für sein Staatsverständnis? A: Vor allem dies, daß der Staat einer oberen (göttlichen) Instanz unterworfen ist. Macht ist nicht aus sich selbst heraus gerechtfertigt, sie muß sich vor einem höheren sittlichen Gericht, dem Gottes, rechtfertigen. Herrschaft ist nur insoweit legitim, als sie sich einem Auftrag Gottes verdankt und sich ihm unterwirft. Die Menschheitsgeschichte wird verstanden als andauernder Versuch, dem göttlichen Auftrag gerecht zu werden. Sie kann sich dem aber nur annähern. Die eigentliche Erlösung des Menschen kann nur im Jenseits, in der „Civitas Dei“ (Augustinus), geschehen. Soweit die Grundideen des Konzepts. Seine Umsetzung in politische Realität hängt natürlich weitgehend von der Interpretation des göttlichen Auftrags ab. Diese Interpretation obliegt der Kirche als Stellvertreterin Gottes auf Erden. Daß damit faktisch der Willkür Tür und Tor geöffnet sind (insbesondere denjenigen Arten von Willkür, die Macht und Reichtum der Kirche vergrößern), versteht sich von selbst. Als (theoretische) Errungenschaften aber können festgehalten werden: die Verteidigung der Suprematie des Sittengesetzes (der Moral) über die Politik,
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der universalistische Anspruch des Sittengesetzes und der teleologischsinnhafte Charakter der Menschheitsgeschichte. F: Wie lautet die Antwort der Renaissance (auf die philosophische Grundfrage nach der Möglichkeit von Wahrheit)? A: Die Jahrhunderte währende Epoche der Wiedergeburt der antiken Philosophie nach der mehr als tausend Jahre währenden Herrschaft des Christentums ist zu vielgestaltig und widersprüchlich, als daß man sie „über einen Leisten“ schlagen könnte. Als Charakteristika mögen gelten können: die Abkehr vom theozentrischen Weltbild des Christentums und die Aufwertung des Menschen in seiner bewunderten Kraft, mit seinen Fähigkeiten und hochfliegenden Ambitionen. Die Welt des Menschen ist nicht mehr das Jammertal, aus dem uns am Ende der Geschichte nur Gott erlösen kann. Sie ist der Platz, wo der Mensch seine Fähigkeiten ausprobieren, sozusagen seine Muskeln spielen lassen kann. Die Bezeichnung „Renaissance“ ist allerdings insofern irreführend, als eine ganz wesentliche Grundlage des Selbstverständnisses der antiken Philosophie (jedenfalls der platonischen und aristotelischen) eben nicht wiedergeboren wurde, nämlich die Auffassung des Menschen als eines notwendig moralischen Wesens, soll heißen: als eines Wesens, das auf die Frage: „Wer bist du?“ (bzw. auf die Aufforderung: „Erkenne dich selbst!“) antworten muß: „Ich kann mich nur erkennen, wenn ich mich als Mensch unter Menschen begreife; schon meine Ich-Konstitution bedarf der Mitwirkung der anderen; indem ich mich erkenne, anerkenne ich universalistische Regeln des Zusammenseins.“ „Nicht wiedergeboren wurde“ ist dabei vielleicht zuviel gesagt, denn natürlich sind im Zeitalter der Renaissance die moralphilosophischen Traditionen des Altertums und die Morallehren des Christentums nicht einfach abgeschnitten. Sie existieren fort, werden aber überlagert oder durchmischt mit neuen Auffassungen und Einstellungen, die streng genommen mit ihnen nicht vereinbar sind. Selbst bei Machiavelli, dem vielleicht markantesten Vertreter dieser neuen Welt, ist die Moralität nicht einfach völlig aus dem Denken verschwunden. In seiner Schrift „Il Principe“ (Der Fürst), in der er die Grundsätze der Herrschererziehung erörtert, gibt es Invokationen des moralisch Guten; aber das ist nicht mehr als eine marginale Referenz. Der Kern seiner Lehre ist:
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Dem Herrscher ist alles erlaubt, ihm ist erlaubt zu lügen, zu intrigieren, zu betrügen, zu bestechen oder zu morden, wenn es nur dem Erhalt und der Mehrung seiner Macht dient. F: Ist das nicht ein Tiefpunkt in der geistigen Entwicklung der Menschheit? Wie kam es dazu? A: Um zu verstehen, wie es dazu kam, muß man sich ins Bewußtsein rufen, daß mit der zu Zeiten Machiavellis bereits weit fortgeschrittenen faktischen Auflösung des Römischen Reiches, das sich – virtuell – als Weltreich verstand und damit als Wahrer der zwischen den Menschen geltenden Rechtsverhältnisse, diejenige Instanz (weitgehend) verschwunden war, die noch als Hüter der Moral (im Sinne eben der Wahrung des Rechts) hatte aufgefaßt werden können. Stattdessen war etwas ganz Neues entstanden: der neuzeitliche Staat. (Der Römische Staat war nicht im gleichen Sinne irgendein Staat, er war der Rechtskörper der Menschheit.) Die Pointe dabei ist, daß der neuzeitliche Staat eben nicht ein Staat ist; es tritt mit dem schleichenden Zerfall des Römischen Reiches eine zunehmende Zahl von Einzelstaaten in Erscheinung, von denen jeder für sich Selbstbestimmung (Souveränität) reklamiert. Souveränität, was erstens das Recht zur Regelung der internen und was zweitens das Recht zur Regelung der zwischenstaatlichen Verhältnisse betrifft. Zwar hat es auch vor der Entstehung des Römischen Reiches Einzelstaaten gegeben (z. B. die griechischen Stadtstaaten). Das aber hatte auf einer kulturellen Entwicklungsstufe stattgefunden, die die Idee der universalistischen Rechtsgeltung noch nicht gekannt hatte (wie sie im Römischen Reich virtuell präsent war). Der Rechtsdurchsetzungsanspruch des Römischen Reiches hatte mit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion sogar noch eine (theologisch-)moralische Überhöhung erfahren. Entsprechend mußte der Zerfall des Reiches zugleich auch zu einem Zusammenbruch der durch sein Vorhandensein verkörperten Idee von Moralität führen. Das mit dem Auftreten einer Vielzahl von Einzelstaaten in die Welt gekommene Problem der Begründung und Durchsetzung zwischenstaatlicher Rechts-
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verhältnisse, also des Staaten- oder Völkerrechts, war unter diesen Voraussetzungen unlösbar; genauer gesagt: es fehlten die geistigen Mittel dazu. Machiavellis Antwort lautet daher: Die Staaten regeln ihre Konflikte, kommt es zum Letzten, durch Krieg, es gilt das Recht des Stärkeren (Listigeren, Gemeineren, Blutrünstigeren). Genau dies haben die Staaten, bis hin zu zwei Weltkriegen, allzu oft praktiziert – zum großen Teil sogar mit Begeisterung. Wegen der inzwischen erfundenen und gebauten Massenvernichtungsmittel läßt sich das nicht mehr einfach fortsetzen, jedenfalls nicht ohne dabei das Risiko einzugehen, daß es zu Katastrophen kommt, von denen sich auch der von seinem Eigenrecht überzeugteste Angreifer vielleicht nicht wird erholen können. Eine andere Antwort hat Kant gegeben. Sie lautet „Völkerbund“, d.h. freiwillige Unterwerfung unter die Oberhoheit eines Rechtskörpers. Dazu später mehr. F: Welche Rolle spielt der Protestantismus in diesem Zusammenhang? A: Er bereitet der weiteren kulturellen und politischen Unterminierung der Macht der traditionell universalistischen Autoritäten (Katholische Kirche, Kaisertum) den Boden. Für Luther führt der Weg des Individuums zu Gott nicht notwendig über die Kirche. Das Individuum kann sich mit Gott durch die Lektüre des Wortes Gottes selbst in Verbindung setzen. Daher übersetzt er die Bibel ins Deutsche. In dem Maße, in dem das Individuum das kann, wird allerdings tendenziell die Kirche überflüssig. Das greift die raison d’être der Kirche an. Auf Angriffe dieser Art hatte die Kirche in der Vergangenheit erfolgreich mit Umerziehung, Unterdrückung und wenn nötig mit der physischen Vernichtung der „Ketzer“ reagiert. Das war ihr nun wegen der neu entstandenen unübersichtlichen Machtverhältnisse (allmähliche Herausbildung souveräner Einzelstaaten) nicht mehr möglich. Gleichwohl haben die katholischen Kräfte dreißig Jahre lang die protestantischen gewaltsam zu überwinden versucht (wobei ein großer Teil Deutschlands in eine Wüstenei verwandelt und ca. ein Drittel der Bevölkerung vernichtet wurde). Die Abkehr von den universalistischen Autoritäten favorisiert die Stellung der neuen Einzelherrscher (Landesherren), die nunmehr die Verteidiger des
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Glaubens sind, bis hin zum Extrem des „cuius regio eius religio“, in dem die Bevormundung der Menschen und das Willkürrecht des Herrschers zum Prinzip erhoben werden. So begrüßenswert wie der Lutherische Rekurs auf die Erkenntniskraft des Individuums ist, so offensichtlich ist zugleich auch die subjektivistische Konsequenz, zu der das Konzept führt, wenn die jeweilige Interpretation des glaubenden Individuums (Luther: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“) bzw. die machtorientierte Willkür des Landesherren (= Religionsherren) zur nicht mehr hinterfragbaren Richtschnur erklärt werden. F: Ist der Krieg aller gegen alle wirklich das letzte Wort? A: Nein, er ist nur der Tiefpunkt der Moralentwicklung, der vorübergehende, scheinbare Sieg des Tierischen im Menschen. F: Wenn aber die alten, religiös fundierten, universalistischen Autoritäten ihre Kraft verloren haben – was tritt an ihre Stelle? A: Das Konzept der Aufklärung; die autonome, geschichtlich erarbeitete Vernunft des Menschen. Die Katastrophe des 30-jährigen Krieges und die revolutionäre Neuerung, mit der er endete (Anerkennung der Souveränität der Staaten im Westfälischen Frieden) erfordern zwingend eine neue Basis, ein neues Konzept für das Zusammenleben der Völker. Hierfür stehen der katholische Kaiser und die katholische Kirche als gemeinsame Grundlage nicht mehr zur Verfügung. Die Staaten sind darauf angewiesen, sich selbst in ein neues Verhältnis zueinander zu setzen. Aber wie? Zwei theoretische Konzepte, zwei Stadien des Entfaltungsprozesses der Vernunft kommen als neues Fundament in Betracht. Für das eine steht Hobbes, für das andere Kant. F: Was ist der Hobbes’sche Weg aus dem Krieg aller gegen alle? A: Für Hobbes ist der Mensch tatsächlich ein Tier: „homo homini lupus“ – „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ – sagt er. Um zu vermeiden, daß sich die Wölfe gegenseitig zerfleischen (also aus Eigeninteresse) schließen sie untereinander einen Vertrag, in dem sie verabreden, daß sie im Konfliktfall ein noch stärkeres Ungeheuer (als sie selbst es sind), den sogenannten Leviathan, gemeint ist der mit Macht ausgestattete Staat, entscheiden lassen werden und daß sie ihn mit den Machtmitteln ausstatten werden, die es ihm ermöglichen, sich durchzusetzen.
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F: Ist das Hobbes’sche Konzept besser als das Machiavellis? A: Wenn Machiavellis Staatstheorie den moralischen Tiefpunkt markiert, dann kann es eigentlich nur noch aufwärts gehen. In der Tat wäre ein Leviathan-Staat dem Irren- oder besser Schlachthaus vorzuziehen, das sich ergibt, wenn man mit Machiavelli den Wolfmenschen freie Bahn gibt. F: Kann man das Hobbes’sche Konzept als eine befriedigende Lösung des Problems der Staatsbildung ansehen? A: Nein. Auf den ersten Blick mag Hobbes’ Konzept überzeugen. Es sieht aus wie eine moralfreie Begründung des Staates. Das muß es aus Hobbes’ Sicht auch sein, da der Mensch ja (für Hobbes) ein Tier ist. Wenn man genauer hinsieht, stellt man jedoch fest, daß es keineswegs moralfrei ist, denn es geht davon aus, daß sich die Menschenwölfe auch tatsächlich an die getroffenen Verabredungen halten und nicht in geeigneten Momenten (wenn sie sicher sein können, nicht erkannt zu werden) doch ihren Vorteil auf Kosten der anderen wahrnehmen; es geht also von einer vorgängigen Anerkennung einer (moralischen) Pflicht zur Einhaltung von Verträgen aus. Darüber hinaus kann man ganz allgemein sagen, daß der dem Vertragsabschluß notwendig vorausgehende Verständigungsvorgang und der Kommunikationsvorgang, den der Vertrag selbst darstellt, wie auch die Kommunikationsvorgänge, die im Anschluß an den Vertragsabschluß, z. B. bei der Kontrolle seiner Einhaltung, bei der Festlegung der Bestrafung im Falle seiner Verletzung usw., daß all diese unverzichtbaren Kommunikationsvorgänge allein schon in ihrer Eigenschaft als sprachliche Interaktionen, die virtuell universalistische Anerkennung wechselseitiger Rechte und Pflichten in hohem Maße voraussetzen – Voraussetzungen, von denen man im allgemeinen nicht sagen würde, daß sie auch bei Wölfen gemacht werden können. Inwiefern das Konzept Kants einen Schritt vorwärts im Entfaltungsprozeß der Vernunft bedeutet, soll weiter unten dargestellt werden. Soviel kann schon hier gesagt werden, daß Kant jedenfalls den Menschen nicht als Tier sieht, sondern als Menschen, d.h. als vernunftbegabtes, moralfähiges Wesen. F: Welches ist die Antwort der Aufklärung (auf die philosophische Grundfrage nach der Möglichkeit von Wahrheit)?
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A: Hier muß zwischen der empiristischen Aufklärung einerseits und der Kantischen andererseits unterschieden werden. Die Antwort der empiristischen Aufklärung (des Empirismus) lautet: Die allen Menschen von der Natur gleichermaßen mitgegebenen Sinne ermöglichen uns verläßliche Orientierung. Sie zeigen uns an, was der Fall ist, wie die Welt um uns herum aussieht. Und sie ermöglichen uns auch, herauszufinden, was wir tun und was wir lassen sollen; dafür ist ein besonderer Sinn, der „moral sense“ (Hutcheson), zuständig, der seinen Platz in der sogenannten „Zirbeldrüse“ im Gehirn hat. Diese erzeugt angenehme Gefühle, wenn wir das moralisch Richtige tun, im gegenteiligen Fall unangenehme. Die Bezeichnung „Empirismus“ bezieht sich darauf, daß die sinnliche Erfahrung, die Empirie, als Erkenntnisbasis gesehen wird. Diese Erkenntnisbasis ist universalistisch, da die Natur alle Menschen mit dem für das Machen von Erfahrungen nötigen Sinnesinstrumentarium ausgestattet hat. Für den Empirismus sind also alle Menschen gleich („All men are born free and equal“ heißt es in der von der empiristischen Aufklärung inspirierten amerikanischen Verfassung) und sie sind in der Lage, selbst (jedenfalls ohne Inanspruchnahme göttlicher Anleitung) die Wahrheit zu erkennen. F: Gibt es daran etwas auszusetzen? A: Ja. Alle Menschen sind zwar gleich und frei, aber sie sind es nicht „von Natur aus“, sondern nur wenn/weil der Mensch einsieht, daß er schon im einfachsten Erkenntnisbemühen den anderen Menschen (und virtuell die ganze Menschheit) als frei und gleich voraussetzen muß. F: Daß die Menschen (natürliche) Sinne haben, mit denen sie sich orientieren können, wird man aber doch nicht abstreiten können!? A: Doch. Denn mit den von den Sinnen gelieferten Eindrücken können wir uns nicht orientieren, wir müssen sie erst sozusagen gedanklich bearbeiten, d.h. sie als Informationen über Dinge, die in Raum-, Zeit- und Kausalitätszusammenhängen stehen, begreifen. Hierfür sind gegebenenfalls sehr aufwändige Interpretationsvorgänge nötig. Die natürlichen Sinne liefern nur das Material, aus dem der menschliche Geist allererst Erkenntnis macht.
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F: Also ist es eigentlich doch nicht zutreffend, zu sagen, der Empirismus sehe den Menschen als ein Wesen, das aus sich selbst heraus in der Lage sei, sich in der Welt zurechtzufinden? A: Für den Empirismus ist der Mensch ein Stück Natur. Allerdings ist sich der Empirismus nicht bewußt, daß er in den Naturbegriff zuvor stillschweigend das hineinlegt, was er später – als sei es eine objektive Feststellung – wieder aus ihm herausholt. So wie die Religion auf „Gott“ als Quelle der Erkenntnis verweist, so der Empirismus auf die „Natur“. In jedem Fall wird die Existenz einer vom Menschen unabhängigen Orientierungsinstanz unterstellt. Von dort her erhält der Mensch seine Orientierung. Wie die Religion so ist auch der Empirismus erkenntnistheoretisch und ethisch heteronom. F: Besonders deutlich wird das wohl beim „moral sense“? A: Die Naivität dieser Unterstellung springt sofort ins Auge. Die Erfahrung lehrt, daß die Menschen oft in aller Seelenruhe oder sogar mit Freude und Begeisterung die übelsten Verbrechen begehen. Leider gibt es keinen „moral sense“, den wir alle von Natur aus hätten. Von Natur aus sind wir weder gut noch böse. „Natur“ ist gar kein moralischer Begriff. Die Natur ist, wie sie ist, mehr nicht. Sie nimmt nicht Teil an unserem Schicksal. So wie wir sie auch nicht verändern können. Wir können bestimmte Teile der Natur zwar für unsere guten oder schlechten Zwecke benutzen, aber verändern können wir sie als Natur nicht. Selbst wenn es uns gelingen sollte, die Erde auseinanderzusprengen, so würde uns das allenfalls nur deswegen gelingen, weil wir erkannt haben, wie die Natur funktioniert (durch die Veranstaltung welcher natürlichen Prozesse wir die dafür notwendige Sprengkraft zustandebringen können). Aber die Natur funktioniert nur so wie sie funktioniert. Wir können das herausfinden und als Faktum zur Kenntnis nehmen; wir wissen aber nicht, warum das so ist (warum die Teilung des Atomkerns Energie freisetzt, warum die chemischen Reaktionen so geartet sind, daß sich der Zuckerwürfel im Kaffee auflöst etc.). Im übrigen würde das Verschwinden unserer Erde in dem aus Milliarden von Sonnensystemen bestehenden Weltall ein unbedeutendes Ereignis sein – jedenfalls wissen wir von keinem Wesen außerhalb unserer selbst, für das dieses Ereignis irgendeine „Bedeutung“ haben könnte.
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F: Es mag ja sein, daß es keinen „moral sense“ gibt; aber manchmal haben wir doch ein schlechtes Gefühl, wenn wir etwas planen, wovon wir eigentlich denken, es wäre besser, es zu lassen! A: Da ist dann wohl das Gewissen gemeint. Das Gewissen ist aber kein „moral sense“, denn es ist uns nicht von Natur aus eigen. Es ist vielmehr ein durch Erziehung und Sozialisation habituell gewordenes Dispositiv spontan abrufbarer moralischer Haltungen. Wenn wir einen alten Herrn sehen, der eine Straße überquert, auf der sich ein Lastwagen gefährlich schnell nähert, so werden wir ihn spontan zurückreißen. Eine längere Diskussion über Für und Wider ist hier fehl am Platze; es muß schnell gehandelt werden. Das ist uns möglich, weil wir die Fähigkeit haben, erlernte, habituell gewordene moralische Einstellungen spontan abzurufen. Das Vorhandensein (oder Nichtvorhandensein) und die Art der Ausprägung des Gewissens ist das Ergebnis eines von Menschen zustandegebrachten (oder nicht zustandegebrachten) Lernprozesses. Es mag sein, daß wir – wie manche Tierarten – eine Art angeborener Tötungshemmung gegenüber Artgenossen haben, wenn diese uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Man könnte allerdings auch bezweifeln, daß es eine solche Hemmung gibt, denn allzu viele Tötungshandlungen und Morde sind schon in eben dieser Situation geschehen. Wenn wir trotzdem einmal von der Existenz einer solchen natürlichen Tötungshemmung ausgehen, so könnte sie allenfalls als quasimoralisch oder moral-analog, nicht jedoch als moralisch i.e.S. bezeichnet werden und zwar eben weil sie natürlich ist (d.h. nicht auf Einsicht beruht). F: Was ist nun das Besondere an Kant, wie unterscheidet sich seine Antwort von der der empiristischen Aufklärung? A: Kants überragende Leistung in der Geschichte der Philosophie ist, daß er den Schritt von der Heteronomie zur Autonomie tut. Nicht mehr die unabhängig vom Menschen unvordenklich immer schon existenten ewigen Wahrheiten Platons, nicht mehr der unabhängig vom Menschen unvordenklich immer schon existente Gott des Christentums, nicht mehr die unabhängig vom Menschen unvordenklich immer schon existierende Natur der Empiristen leiten den Menschen an. Für Kant ist der Mensch autonom; er ist ohne fremde Anleitung. Es gibt außerhalb seiner selbst keine Instanz, auf die er sich
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bei seiner Suche nach Orientierung beziehen könnte. Er ist allein auf sich angewiesen; nur er selbst kann über die Orientierungen befinden, nach denen sein Leben ausgerichtet sein soll – über wahr und falsch und über gut und schlecht. F: Was bringt Kant dazu, den Menschen als autonom zu begreifen? Und: Was schützt (nach Kant) den Menschen davor, sich zu irren? Anders gefragt: Was zwingt uns (nach Kant) einzusehen, daß wir die Welt (das, was der Fall ist ) und das was wir in ihr tun sollen von uns aus erkennend erarbeiten müssen, und was schützt uns davor, uns dabei zu irren? A: Auf den ersten Teil dieser Frage (den nach der Autonomie) gibt Kant eine überzeugende Antwort, auf den zweiten Teil (den nach dem Schutz vor Irrtum) nicht. Das wird dann erst in der Sprachphilosophie der Gegenwart geschehen. Kants Antwort lautet: Das, was uns dazu bringt, uns als autonomes Wesen in der Welt zu begreifen, ist die Unvermeidbarkeit der (unhintergehbaren) Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, die sogenannte transzendentale Reflexion. (Was mit „transzendentaler Reflexion“ genauerhin gemeint ist, wurde im ersten Teil unserer Überlegungen schon umrissen.) Über die Einsicht in die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis können wir nicht hinaus. (Wir können z. B. das ‚Ding an sich‘ nicht erkennen, und wir können nicht wissen, warum es die Welt, das Leben, die Vernunft gibt.) Die Welt existiert nur insofern wir sie uns selbst konstruieren und zwar mit Hilfe von Begriffen, die wir nicht schon aus der Welt entnommen haben können (denn die „Welt“ kennen wir ja noch gar nicht), die wir vielmehr aus uns selbst heraus erarbeiten (durch Verstandestätigkeit). „Substanz“, „Zeit“, „Raum“, „Kausalität“ sind solche Begriffe. Daß er sich durch seine Verstandestätigkeit die Begriffe bereitstellt, durch die sich dann allererst die „Welt“ – unter Verwendung der Daten, die ihm seine Sinne liefern – konstruieren läßt, darin liegt die autonome Leistung des Menschen. Sinnesdaten und Verstandestätigkeit gehören im Erkenntnisprozeß zusammen: „Begriffe ohne Erfahrung sind leer, Erfahrung ohne Begriffe ist blind“, sagt Kant. Diese autonome Leistung ist (ob der Mensch sich dessen bewußt ist oder nicht) die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Die „Welt“ würde nicht
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„existieren“, würde der Mensch sich nicht die Verstandesbegriffe erarbeiten, nach denen sie sich für ihn allererst (als „existent“) konstituieren läßt. Das ist die „kopernikanische Wende“ der Erkenntnistheorie: Es ist nicht so, daß die Welt existiert und der Mensch sich dann bemüht, sie zu erkennen. Es ist vielmehr so, daß die Welt nur insofern „existiert“ als der Mensch sie erkennt. „Existenz“ ist ein Verstandesbegriff des Menschen, er kommt (außerhalb des Menschen) in der Welt nicht vor. „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten. . . . Man versuche es . . . einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser vorankommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnisart richten . . . “ Diese berühmt gewordenen, provozierend formulierten Sätze Kants aus der „Kritik der reinen Vernunft“ (2.Ausgabe, XVI) sind allerdings nicht in dem Sinne (miß)zuverstehen, daß etwa mit Verschwinden der Menschheit auch die Welt aufhörte zu existieren. Kant verweist lediglich (allerdings in provokativ-mißverstehbarer Zuspitzung) darauf, daß, ob es für uns Menschen die Welt gibt, davon abhängt, daß wir sie erkennen. F: Inwiefern ist die transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie Kants (wie oben angedeutet) unzureichend? A: Kant hat sich den Erkenntnisvorgang wesentlich als einsame Verstandestätigkeit des Menschen (des Individuums) vorgestellt. Er hat noch nicht gesehen, daß die Erkenntnistätigkeit des Menschen, z. B. auch die Erarbeitung der weltkonstituierenden Verstandesbegriffe, immer im Medium der Sprache geschieht, immer Sprache, Kommunikation, Lernen (von anderen Menschen) voraussetzt. Zwar findet man bei Kant auch Stellen, wo der kommunikative Charakter der Erkenntnis oder jedenfalls das Angewiesensein auf Sprache aufscheint. Aber diese Stellen bleiben peripher; die Sprache hat in Kants Erkenntnistheorie keinen wirklich systematischen Platz. Erkenntnis ist für Kant das Ergebnis der Verstandestätigkeit des Subjekts (des Einzelnen); das Ko-Subjekt (der Mitmensch) kommt dabei nicht vor, jedenfalls nicht als ein für den Erkenntnisprozeß notwendiges Gegenüber. Dies geschieht, wie gesagt, erst in der Sprachphilosophie der Gegenwart. Zunächst aber dient dieser transzendentale Subjektivismus Kants dem „Deut-
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schen Idealismus“ (Fichte, Schelling) als Grundlage seiner Ich-Philosophie und noch Husserls solipsistische Phänomenologie ist nur vor dem Hintergrund des fortdauernden dialogischen Defizits der Kantischen Erkenntnistheorie denkbar, wie auch Heideggers subjektivistische Vorstellung von der „Lichtung“, in der das „Sein aufscheint“. F: Wie gelingt es Kant, von einer solchen subjektbezogenen Erkenntnistheorie aus zu seiner formal-universalistischen Ethik zu gelangen? A: Es gelingt ihm eben nicht! So wie Kant das von ihm so genannte „Faktum der Vernunft“ nicht dialogisch konstruiert (sondern als etwas im Einzelnen immer schon Vorhandenes einfach setzt), so ist auch das in seinem höchsten Moralprinzip, dem Kategorischen Imperativ, enthaltene „Du“ und „Wir“ 1 einfach eine Setzung, von der Kant insinuiert, daß sie sich aus den vom isolierten Subjekt angestellten Vernunftoperationen ergibt. Das täte sie aber nur, wenn Kant von vornherein die transzendentale Notwendigkeit der Einbeziehung des „Du“ resp. „Wir“ in den Erkenntnisprozeß (schon im Stellen einer einfachen Frage) gesehen hätte. F: Ist die Kantische Ethik auf die Praxis anwendbar? Was hat es mit dem Vorwurf des Maximenrigorismus auf sich? A: Für Kant gelten die Maximen unbedingt (kategorisch). Die Maxime: „Lüge nicht !“ gilt immer, ohne Ausnahme. Auch wenn wir dadurch, daß wir die Wahrheit sagen, einen unschuldig Verfolgten ans Messer liefern. Die Folgen zählen nicht. „Gut“ ist allein der gute Wille (wie er in der Maxime zum Ausdruck kommt). Maximen ergeben sich für Kant aus rein theoretischen Gedankenoperationen des Individuums. Und wenn die Welt in der Konsequenz der Befolgung der Maxime zugrundeginge, so sind wir dennoch verpflichtet, sie zu befolgen. „Fiat justitia, pereat mundus“, heißt das in letzter Konsequenz: „Es geschehe Gerechtigkeit, möge auch die Welt untergehen!“ Das mag abstrus erscheinen und man mag gleich einwenden wollen, eine Ethik, die den Untergang der Welt in Kauf nimmt, widerspräche sich in diesem extremen Fall selbst, da sie sich ja selbst auflöse, anders gesagt, da sie das Vernunftwesen Mensch an der Realisierung seines Wesens (nämlich: die Vernunft 1
„Handle so, daß Du wollen kannst, daß die Maxime Deines Handelns allgemeines Gesetz sei“; d.h.: daß wir alle sie übernehmen können!
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zur Entfaltung zu bringen) auf die radikalstmögliche Weise hindere; es käme doch darauf an, unsere Welt besser zu machen; wenn die Ethik dazu führe, daß sie verschwindet, verstehe sie sich selbst miß. (Ganz abgesehen davon, daß wir wahrscheinlich lieber ohne Kant leben möchten, als mit ihm würdevoll zu sterben.) Die Abstrusität dieser Position sollten wir Heutige allerdings nicht belächeln; es ist nämlich noch gar nicht lange her, daß – in den Tagen des Kalten Krieges – allen Ernstes auch von namhaften Philosophen die Devise: „Lieber tot als rot“ unters Volk gebracht wurde, was von der Argumentationsstruktur her Kants Maximenrigorismus entspricht. F: Warum hat Kant sich auf diese Position versteift? A: Hätte er seine Ethik nicht-kategorisch verstanden, d.h. hätte er zugestanden, daß es Bedingungen geben kann, unter denen von einer ansonsten moralisch guten Maxime, z.B.: „Lüge nicht!“, Ausnahmen gemacht werden dürfen, so hätte er ihre subjektivische Grundlage aufgeben müssen. Eine andere – nämlich dialogische – hatte er aber nicht. Er hätte sie aufgeben müssen, da die Ausnahmen nicht vorhersehbar (nicht einkalkulierbar) sind. Sie ergeben sich aus dem unvorhersehbaren Gang der Geschichte. Und sie können folglich nur von den dann lebenden Menschen als solche (als berechtigte Ausnahmen) reklamiert werden. Kant kann darüber jedenfalls nicht von Königsberg aus befinden. F: Wenn situationsspezifische Ausnahmen zugelassen werden müssen, wie kann man verhindern, daß die Ethik sozusagen in einem Meer von Ausnahmen untergeht, mit anderen Worten: Wie kann über die Berechtigung von Ausnahmen befunden werden? A: Dies ist sicherlich das kruziale Problem der Anwendung der Ethik. Seine theoretische Lösung lautet: Das, was Kant die „Urteilskraft“ nannte, erlaubt dem Menschen eine Einschätzung der spezifischen Handlungsbedingungen und der Situation, in der er sich gerade befindet. Z. B. muß er sich ein Urteil darüber bilden, ob die Männer, die den unschuldig Verfolgten in seinem Versteck finden würden (wenn er es ihnen in Befolgung der Maxime: „Lüge nicht!“ verriete), diesen tatsächlich töten würden oder ob es womöglich nur zu einem hitzigen Wortwechsel kommen würde, an dessen Ende vielleicht ei-
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ne Aufklärung des Sachverhalts stünde. Diese Situation einzuschätzen, ist nur denjenigen möglich, die sich in ihr befinden und in ihr sofort handeln müssen. Eine dem Gegenargument des Maximenrigorismus den Boden entziehende „Anwendung der Urteilskraft“ würde m. E. aus folgenden Schritten bestehen: – Benennung der miteinander in Konflikt geratenen Maximen, – Abschätzung der Konsequenzen im Falle der Befolgung der einen oder der anderen Maxime, – Präferenz eines der möglichen Ergebnisse und – Begründung der Präferenz durch Rekurs auf eine „Vermittlungs“ – oder „Berufungsmaxime“, auf eine Maxime soll das heißen, die deutlich macht, daß sich die Festlegung auf diese und nicht auf die andere Option der Absicht verdankt, mit dem dadurch angestrebten Ergebnis einen Beitrag zum Erhalt menschlicherer Lebensbedingungen zu leisten. Unter „menschlicheren Lebensbedingungen“ sind diejenigen Bedingungen zu verstehen, die die Entfaltung des Menschen als vernünftigen Wesens besser gewährleisten als andere. Im vorliegenden Fall könnte das z.B. konkret heißen: Man belügt die Verfolger, rettet dem Verfolgten dadurch das Leben und erstattet dann Anzeige gegen die Verfolger (wegen beabsichtigter Tötung) und gegen den Verfolgten (wegen der Straftat, die ihm von seinen Verfolgern vorgeworfen wird). Die Vermittlungs- oder Berufungsmaxime, auf die man dabei rekuriert, würde etwa heißen können: „Mache eine Ausnahme vom Lügeverbot, wenn Du dadurch großen Schaden abwendest und zugleich die Möglichkeit gewahrt bleibt, den vorliegenden Konflikt rechtskonform entscheiden zu lassen.“ Es kann in diesem Fall kein Zweifel sein, daß ein Gerichtsverfahren mit seiner Möglichkeit der Selbstverteidigung eine dem Menschen als vernunftbegabtes Wesen adäquatere Lösung darstellt als ein durch eine wahre Auskunft ermöglichter Rachemord. F: Das mag in der Theorie gut sein, taugt es aber auch für die Praxis? A: Die oben im einzelnen aufgelisteten Reflexionsleistungen zu erbringen, setzt nicht nur den Willen dazu, sondern auch ein entsprechend ausgebildetes Urteilsvermögen voraus. Beides ist in der Praxis sicher oft nur mangelhaft gegeben. Wir würden sonst in einer besseren Welt leben. Daß die Welt in der wir leben jedoch andererseits nicht einfach „die Hölle auf Erden“ ist,
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verdanken wir dem Umstand, daß die Geschichte der Menschheit eben doch auch eine Geschichte der allmählichen Entfaltung der Vernunft und damit auch der Entwicklung der alltäglichen Urteilskraft ist. F: Welche staatsphilosophische Antwort hat Kant (im Unterschied zu Hobbes) auf die allmähliche Auflösung der traditionellen, religiös begründeten, universalistischen Autoritäten gegeben? A: Ihre Ersetzung durch eine aufgeklärte Öffentlichkeit (samt den dazugehörigen Institutionen) innerhalb der Staaten und durch einen Völkerbund zwischen den Staaten. Die Aufgabe des Staates ist es, die äußeren Bedingungen der Möglichkeit der Entfaltung der Vernunft zu gewährleisten. Dazu zählen zuvörderst die Freiheit der Meinungsäußerung und die Befolgung fester Regeln (nämlich des Rechts) bei der Lösung von Konflikten. Die gleiche Aufgabe hat der Völkerbund auf der zwischenstaatlichen Ebene: Gewährleistung freier Äußerung seitens aller Mitgliedsstaaten und regelkonformer Lösung von Konflikten zwischen ihnen (im Wege des Völkerrechts). F: Inwiefern unterscheidet sich seine Antwort von der Hobbes’? A: Für Kant ist der Krieg der Naturzustand. Insofern unterscheidet er sich nicht von Hobbes, der ja den Menschen als Wolf, also als ein Stück Natur sieht. Hobbes’ Lösungsvorschlag ändert allerdings daran nichts: Die Menschenwölfe bleiben Menschenwölfe, auch nach Abschluß des Staatsvertrags; sie schließen ja den Vertrag, um zu verhindern, daß sie sich gegenseitig zerfleischen, um also weiter Menschenwölfe sein zu können. Kant will den Naturzustand überwinden; besser gesagt: Kant hat, im Unterschied zu Hobbes, bemerkt, daß der Mensch etwas anderes ist als ein Stück Natur. Indem die Menschen ihre Konflikte mit Gewalt lösen, lösen sie sie auf eine tierische, naturhafte Weise. Der Mensch realisiert sich nicht, wenn er es genauso macht, er macht sich dadurch zum Tier. Auch für Kant gründet der Staat auf einen Vertrag. Dieser Vertrag ist aber nur deshalb möglich, weil der Mensch kein Tier ist; seine ethische Einsichtsfähigkeit ist Bedingung der Möglichkeit des Vertragsabschlusses.
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F: Wie lautet die Antwort der Geschichtsphilosophie (auf die philosophische Grundfrage nach der Möglichkeit von Erkenntnis)? A: Der Name legt es schon nahe: Gesicherte Orientierung ist möglich durch Geschichte. Denn die Geschichte ist der Ort der (allmählichen Entfaltung der) Vernunft. Was Vernunft ist, können wir wissen, wenn wir auf die Geschichte schauen. „Was wirklich ist, ist auch vernünftig“, formulierte Hegel. Die einzelnen Epochen der Geschichte sind (fortschreitende) Realisierungsstufen der Vernunft. Und wenn es oft nicht so aussieht, so ist das nur eine „List der Vernunft“; denn von einem höheren Standpunkt aus wird man sehen, daß auch die Leiden insofern einen vernünftigen Zweck haben, als sie den Menschen Anlaß geben, daraus zu lernen. Die Geschichtsphilosophie geht nicht von der Einsicht in die Unvermeidbarkeit und Unhintergehbarkeit der transzendentalen Reflexion als (selbstreferentiell sich ergebendem) Ursprung der Vernunft aus. Wie Platon die Wahrheit in der Ideenwelt gefunden zu haben meinte, das Christentum im transzendenten Gott und der Empirismus in einer hypostasierten Natur, so meint Hegel, sie in der Geschichte auffinden zu können. „Wahrheit“ kann aber nicht außerhalb des Menschen „aufgefunden“ werden; sie wird allenfalls dort „gefunden“, weil sie zuvor hineininterpretiert wurde. Die Geschichtsphilosophie steht insofern allerdings in der Nachfolge des Kantischen transzendentalen Subjektivismus, als sie versucht, das bei Kant fehlende Ko-Subjekt durch „die Geschichte“ zu ersetzen. Indem sie das tut, mißversteht sie aber den Kantischen Vernunftbegriff und fällt wieder auf die Stufe vor-Kantischer Heteronomie zurück. Da sie im Unterschied zu den anderen, oben skizzierten vor-Kantischen heteronomischen Philosophien keine ewigen Wahrheiten postuliert, sondern die sich wandelnde Geschichte als Ort der Vernunft glaubt ausmachen zu können, hat sie keine Argumente, um sich gegen ihre Selbstauflösung eben im Namen des Wandels der Geschichte zu wehren – ihr Vernunftbegriff verschwindet im Meer des Relativismus-Historismus. Daß sie gerade die Geschichte der Menschen für den Ort hält, an dem Vernunft aufgefunden werden kann, besser: in dem sie sich konstituiert (und nicht die menschenlose Ideenwelt, die menschenlose Transzendenz oder die
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menschenlose Natur), deutet immerhin schon darauf hin, daß ein Ko-Subjekt als das für die Vernunftkonstitution notwendige Gegenüber gesucht wird. Statt aber den Vernunftbegriff allererst dialogisch-transzendental zu begründen (ihn durch dialogisch-transzendentale Reflexion zu gewinnen) schüttet die Geschichtsphilosophie das Kind mit dem Bade aus und interpretiert in die Geschichte vorschnell einen Vernunftbegriff hinein, den sie zuvor erst hätte gewinnen müssen. F: Hat Marx dadurch die Geschichtsphilosophie gerettet, daß er Hegel „vom Kopf auf die Füße“ gestellt hat? A: Marx hat in der Tat versucht, die Hegelsche Interpretation der Weltgeschichte als allmähliche Selbstentfaltung der Weltvernunft sozusagen materiell auszufüllen. F: Wieso können wir, nach Marx, sicher sein, daß diese Selbstentfaltung tatsächlich stattfindet? A: Das können wir, weil es analog zu den Naturgesetzen Gesetze der ökonomisch-sozialen Entwicklung gibt, die von sich aus dazu führen werden, daß am Ende die kommunistische Gesellschaft als eine Gesellschaft, in der die Herrschaft des Menschen über den Menschen überwunden ist, erreicht sein wird. Erst dann kann sich der Mensch in seiner Eigenschaft als vernünftiges Wesen frei entfalten. Insofern wird die kommunistische Gesellschaft das Ende der (bisherigen Art von) Geschichte sein. Die bisherige Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen (Sklaven – Herren, Adel – Klerus – städtische Berufsstände – Bauern), deren Verhältnis zueinander (ebenso wie das Entstehen neuer Klassen bzw. das Vergehen vorhandener) abhängt von der Entwicklung der (ökonomischen) Produktivkräfte (manuelle oder maschinelle Produktion, Automation, Verkehrsmittel etc.) und der damit verbundenen Produktionsverhältnisse (Art der Beziehung der beteiligten Menschengruppen zueinander). Die Produktionskräfte unserer Zeit sind die des (im England des 18. Jahrhunderts zum Durchbruch gekommenen) Industrialismus, der sich wesentlich auf die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften und eine parallele Entwicklung der technischen Möglichkeiten stützt. Die Produktionsverhältnisse sind die des Kapitalismus. Marx sagt voraus, daß der industrialisierte Kapitalismus notwendig nach einer Periode sich zuspitzender Klassenkämpfe zum Kommunismus führen wird.
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F: Wieso führt für Marx der Kapitalismus zum Kommunismus? Es sieht doch heute eher so aus als wenn Kapitalismus zu noch mehr Kapitalismus führt! A: Das sieht so aus; aber da ist vielleicht das letzte Wort noch nicht gesprochen. Der Kern des Kapitalismus ist die Mehrwerterwirtschaftung. Marx hat im Anschluß an den italienisch-englischen Ökonomen Ricardo erkannt, daß die menschliche Arbeit die besondere Eigenschaft hat, „Mehrwert“ zustandezubringen. Mehrwert ist die Differenz zwischen demjenigen Wert, der für die Erarbeitung eines bestimmten Produkts (eines Gegenstandes oder einer herzustellenden Situation) eingesetzt werden muß und dem Wert des Produkts. Wenn z. B. ein Bauer für die Bestellung eines Getreidefeldes, auf dem er am Ende vier Zentner Getreide erntet, zusammengenommen drei Monate Arbeitszeit aufwendet und während dieser Zeit jeden Monat einen Zentner Getreide verzehrt, um seine Arbeitskraft zu erhalten, so hat er 4-3=1 Zentner „Mehrwert“ erzielt. Zum „Kapital“ wird dieser Mehrwert, wenn er zum Zwecke erneuter Mehrwerterwirtschaftung reinvestiert wird. Unter den Bedingungen des wissenschaftlich fundierten Industrialismus ist das in hocheffizientem Maße möglich. In vorindustriellen Gesellschaften waren die Mehrwerterwirtschaftungsmöglichkeiten begrenzt, da sowohl die Produktionskräfte wie auch die Produktionsverhältnisse noch nicht entwickelt waren. Große Teile des erwirtschafteten Mehrwerts wurden für nichtökonomische Zwecke wie Kirchenbauten oder für die Luxuskonsumtion der Herrschaftsschichten verwendet. Ein eklatantes Beispiel dafür ist die unökonomische, vor- kapitalistische Verwendung (kapitalistisch gesagt: Verschwendung) des „Mehrwerts“, den die spanische Krone und der spanische Adel durch die komplette Ausplünderung mehrerer amerikanischer Hochkulturen erzielten. Voraussetzung für die Entfaltung des Kapitalismus ist natürlich eine Geisteshaltung, die die Erhöhung des Mehrwerts überhaupt für wichtig erachtet. Max Weber hat gezeigt, daß diese Voraussetzung anfänglich insbesondere im kulturellen Milieu Norditaliens und in eher protestantisch-calvinistisch geprägten Gesellschaften gegeben war. Die immer wieder neue Reinvestition des Mehrwerts hat ein entsprechendes Wachstum des produzierenden Unternehmens zur Folge. Je größer die Stückzahl der hergestellten Waren, desto billiger kann das Unternehmen pro-
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duzieren, desto besser kann es sich gegen andere Unternehmen behaupten. Der in diesem System angelegte Expansionismus verlangt nach außen eine ständige Vergrößerung der Märkte (bis hin zum Weltmarkt) und führt nach innen zur Minderung der Zahl der produzierenden Unternehmen (da die stärkeren die schwächeren verdrängen oder schlucken). Die Zahl der Unternehmen geht in dieser Logik streng genommen tendenziell auf 1 zurück. In welch großem Umfang diese Logik sich tatsächlich durchgesetzt hat, kann man sich vor Augen führen, wenn man etwa die Anzahl der Banken, der Autohersteller, der Flugzeugfabrikanten, der Chemiebetriebe oder der Saatguthersteller vor 40 Jahren mit der heutigen Anzahl vergleicht. Dies ist die eine der von Marx gemachten Voraussagen: Die Zahl der Kapitalinhaber schrumpft. Die andere ist: Die Zahl und das Elend der von den Kapitalinhabern (seien es Personen oder Gesellschaften) beschäftigten Arbeiter steigt. Die Kapitalinhaber erzielen ja den Mehrwert nicht dadurch, daß sie ihn sich selbst erarbeiten, sondern dadurch, daß sie andere, die von Marx so genannten Proletarier, arbeiten lassen, ihnen aber von dem durch sie erwirtschafteten Mehrwert möglichst wenig abgeben, da auf diese Weise der erstrebte Mehrwert erhöht werden kann. Die Kapitalinhaber sind also darauf angewiesen, die Proletarier möglichst weitgehend ausbeuten zu können. Die dadurch bewirkte zunehmende Verelendung der Proletarier führt schließlich in Verbindung mit dem Umstand, daß ihre Zahl sehr groß ist und immer größer wird und die Zahl der Kapitalinhaber sehr klein ist und immer kleiner wird, zu einer weltweiten Erhebung der unterdrückten Arbeiter, zur Abschaffung der Klasse der Kapitalinhaber, damit zum Ende der Klassengesellschaft überhaupt (da es nur noch die „Klasse“ der Arbeiter gibt, also eigentlich keine mehr) und damit ineins zur Abschaffung der Herrschaft des Menschen (zuletzt: des Kapitalinhabers) über den Menschen (zuletzt: über die Arbeiter). F: Könnte man nicht einwenden, Marx habe übersehen, daß der Kapitalinhaber ja auch daran interessiert ist, seine Waren an seine eigenen Arbeiter zu verkaufen und ihnen daher einen größeren Teil des von ihnen erwirtschafteten Mehrwerts überlassen muß (Steigerung der sogenannten Binnennachfrage innerhalb einer Volkswirtschaft)? A: Das stimmt und dieses Interesse hat auch in der Tat zu einer erheblichen Steigerung des allgemeinen materiellen Wohlstands in den Kernländern des
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Kapitalismus geführt. Trotzdem gilt, daß der Kapitalinhaber seinen Mehrwert nur in dem Maße mehren kann, indem er davon weniger abgibt. Wenn man den Blick von den Kernländern des Kapitalismus weg auf den Weltmarkt lenkt, müßte man schon die Augen verschließen, um nicht zu sehen, daß die von Marx (und bei weitem nicht nur von ihm, sondern auch von Beobachtern aus ganz anderen politischen Spektren) analysierte Verelendung im Weltmaßstab fortexistiert. Die Ausbeutung erstreckt sich inzwischen nicht nur auf große Teile der Menschheit, sondern auch auf die für die Subsistenz des Wirtschaftsraums Erde essenziellen natürlichen Ressourcen. Allerdings sind in der Tat die Verelendung großer Teile der Menschheit und die fortschreitende Zerstörung der überlebensnotwendigen Naturressourcen nicht monokausal auf kapitalistische Ausbeutung zurückzuführen. Das enorme Bevölkerungswachstum ist z.B. ein weiterer wichtiger Grund. Ob diese Entwicklung der globalisierten Kapitalwirtschaft am Ende zur Beseitigung der Klasse der Kapitalinhaber und damit zur Beseitigung der Herrschaft des Menschen über den Menschen führen wird, mag man angesichts des weit unterentwickelten Aufklärungsniveaus der Menschheit füglich bezweifeln; daß aber die Überlebensinstinkte der Menschheit den selbstzerstörerischen Konsequenzen der globalisierten Kapitalwirtschaft doch noch ein Nein wenigstens in den existenziell wichtigsten Bereichen (Militärtechnologie und Zerstörung nicht erneuerbarer Ressourcen) entgegensetzten und sie so zwingen, ein ihr übergeordnetes Prinzip, nämlich einfach das des Lebenserhalts, anzuerkennen – das mag man wohl hoffen dürfen (umso mehr als dies eigentlich auch im wohlverstandenen, längerfristig kalkulierten Interesse der Kapitalwirtschaft selbst liegt). So interessant und auch für die Gegenwart wichtig die Marx’sche Analyse sein mag, für die Beurteilung der seiner Geschichtstheorie zugrundeliegenden Antwort auf die philosophische Grundfrage (wie Erkenntnis möglich ist) bleibt festzuhalten, daß der Verweis auf die Geschichte erkenntnistheoretisch irreleitend ist, da es die Vernunft, die Marx aus der Entwicklung der Ökonomie ableiten zu können meint, als Begriff ja schon vorher geben muß. Die Antwort darauf aber (woher dieser Begriff kommt) bleibt Marx uns schuldig. F: Kann man den Kapitalismus wieder abschaffen? A: Die Entdeckung des Mehrwerts und die Möglichkeit seiner Verwandlung in
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Kapital als Quelle immenser Wertschöpfung läßt sich nicht wieder rückgängig machen. Sie wird auch nicht dadurch abgeschafft, daß man die Produktionsmittel verstaatlicht oder in sonst eine Art von Gemeinbesitz überführt. Auch ehemals sich als „sozialistisch“ begreifende Gesellschaften (z.B. die Sowjetunion) waren kapitalistisch: auch hier wurde Mehrwert erwirtschaftet und reinvestiert. Diejenigen, die darüber bestimmten, waren jedoch keine Privatpersonen, sondern Staatsbürokraten. Der „Kalte Krieg“, der über Jahrzehnte die Menschheit in ihrer Existenz bedrohte, war kein Krieg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, sondern zwischen Privat- und Staatskapitalismus. Hinzu kommt, daß in keinem der beiden Systeme das jeweilige Prinzip (hier Privat-, dort Staatskapitalismus) in Reinform existierte. Beides waren in Wirklichkeit gemischtwirtschaftliche Systeme (privat und staatlich), wobei in den sogenannten sozialistischen Staaten der Anteil der Privatwirtschaft vermutlich erheblich geringer war als es der entsprechende Anteil der Staatswirtschaft in den privatkapitalistischen Ländern war. In der Sowjetunion gab es eine volkswirtschaftlich bedeutsame private landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft inklusive Kleinhandel; in Polen war der größte Teil der Landwirtschaft privat; in diversen Ländern des „sozialistischen Lagers“ gab es privates Kleinhandwerk und privaten Kleinhandel; in allen diesen Ländern wurde die Familienstruktur erhalten, waren die Hauswirtschaften privat, ebenso die Kindererziehung in den ersten Jahren. In den USA, die als Kernland des heutigen Privatkapitalismus angesehen werden und sich selbst auch so verstehen, sind große Teile des Wirtschaftslebens nicht in den Händen von Privatpersonen, sondern in denen der Union, der Einzelstaaten oder der Kommunen (so im Gesundheitswesen, bei den Strassen, im öffentlichen Nahverkehr, bei der Post u.ä.m.). Außerdem gibt es den sehr großen Sektor der Militärwirtschaft, der zwar privat organisiert ist, aber von staatlichen Aufträgen lebt. Ein großer Teil der technischen Innovationen des Landes wird in diesem indirekt staatlichen Sektor oder in einem der staatlich finanzierten und kontrollierten Technologiezentren (z. B. MIT) erarbeitet. Darüber hinaus ist der öffentliche Dienst der größte Arbeitgeber des Landes. Das alles war schon zu Zeiten des Kalten Krieges so und es ist trotz aller neoliberaler bzw. neokonservativer Kampagnen bis heute im Prinzip so geblieben. Eine ökonomische Analyse der EU würde mit Sicherheit eine noch erheblich
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größere Kontrolle des Wirtschaftslebens durch (zwischen)staatliche Instanzen offenbaren. Als Honecker seinen berühmten Staatsbesuch in Westdeutschland machte, sagte er, Sozialismus und Kapitalismus verhielten sich zueinander wie Feuer und Wasser und sein Gastgeber, der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, stimmte ihm darin zu. Beide waren davon in irgendeinem ernsthaften Sinne sicherlich auch überzeugt. Aber es war pure Ideologie. Allerdings keine harmlose, denn in ihrem Namen wurde über Jahrzehnte eine alle Vorstellungen sprengende Aufrüstung betrieben, die als Ergebnis schließlich eine soundsovielfache sog. Overkill-Fähigkeit hatte (d.h. die technische Möglichkeit, den Gegner mehrfach zu vernichten), mit anderen Worten: Die Welt wurde im Namen dieser sehr schnell als unhaltbar zu erkennenden Ideologie in ein Tollhaus verwandelt. Noch während die beiden Protagonisten dieser unvereinbar feindlichen Systeme ihre Reden hielten, mögen eine Etage tiefer von den Wirtschaftsfachleuten Stapel von Verträgen und Absprachen über Joint Ventures, Zulieferungen, Import-Exportgeschäfte oder zu GATT- und WTO-Regelungen etc. unterzeichnet worden sein. Schon Lenin hatte die deutsche Industrie aufgefordert, an der Elektrifizierung des bolschewistisch gewordenen Rußlands mitzuwirken. Und heutzutage ist das ‚kommunistische‘ China eine der führenden kapitalistischen Wirtschaftsmächte. Kurz: die Kapitalwirtschaft ist unrevidierbar; sie ist nicht an die Besitzverhältnisse gebunden. Welche Art der Mischung (von privater, zentralstaatlicher, einzelstaatlicher, kommunaler oder kooperativer Wirtschaft) die beste ist, kann nicht situationsunabhängig gesagt werden. (Die Ideologen der Staatswirtschaft haben behauptet, sie hätten einen Masterplan, dessen Realisierung der Menschheit die Erlösung von allen Übeln brächte. Die gleiche Art Hoffnung erwecken die Ideologen der Privatwirtschaft, heute insbesondere die Vertreter des eschatologischen Neoliberalismus. Beide haben Unrecht.) Dabei sind viele Aspekte zu berücksichtigen, von rein technischen und ökonomischen bis hin zu historischen, kulturellen, sozialen und politischen, und die eher ‚weich‘ erscheinenden Aspekte des Kulturellen und Historischen mögen sich nicht selten als die eigentlich ‚harten‘ erweisen.
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F: Für Marx war der Kapitalismus die Wurzel allen Übels und dementsprechend sein Ende der Beginn des Paradieses. Hat der Kapitalismus nicht auch gute Seiten? A: Die menschheitsgeschichtlich bedeutsame, große Leistung des Kapitalismus ist die durch ihn geschaffene Möglichkeit der Überwindung der Mangelwirtschaft. Die Reinvestition des Mehrwerts ermöglicht, insbesondere unter den Bedingungen des wissenschaftlich-technischen Industrialismus, die Erhöhung der Wertschöpfung in einem Ausmaß, das nicht nur die Befriedigung ‚normaler‘ Bedürfnisse des Alltagslebens (Essen, Kleidung, Wohnung u. ä.) ermöglicht, sondern auch die von offensichtlichen Luxusbedürfnissen. Die Kernländer des Kapitalismus wurden in der Tat teilweise zu „Konsum-“, wenn nicht zu „Überflußgesellschaften“. Das ist eine in der Geschichte der Menschheit neue Situation. Der Kapitalismus ist also nicht nur nicht abschaffbar, er ist (als Bedingung der Möglichkeit der Überwindung von Mangelwirtschaft) sogar eine große Errungenschaft. Der Kapitalismus kann allerdings seine wünschenswerten Eigenschaften nur entfalten, wenn die ihm innewohnende enorme Kraft in Kanäle geleitet wird, die die Strukturen menschlicher Gesellschaft schützen und sie nicht zerstören. Es bedarf, plakativ gesagt, einer „politischen Ökonomie“, die einerseits die für den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft wichtige Wertschöpfungskraft des Kapitalismus fördert, wie sie andererseits das ihm inhärente Interesse an Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft und der natürlichen Ressourcen unter Kontrolle hält. Auf die deutschen Verhältnisse bezogen heißt das: Es geht darum, den Artikel 14, Abs. 2 des Grundgesetzes mit Leben zu erfüllen. Was nun unsere philosophische Ausgangsfrage betrifft, so muß man, wie gesagt, festhalten, daß offenbar auch die Geschichtsphilosophie darauf keine zufriedenstellende Antwort gibt: Indem sie „die Geschichte“ als Vehikel der Vernunftkonstitution begreift, übersieht sie, daß der Vernunftbegriff allererst als solcher konstruiert werden muß und daß es dazu von Anfang an der Einbeziehung des Ko-Subjekts bedarf. F: Welche Möglichkeiten bleiben nun noch? A:. Man kann:
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Erstens auf das Ko-Subjekt ganz verzichten und auf das geniale Ich, den Übermenschen setzen. Die sog. Ich-Philosophie des Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling) und, in radikaler Konsequenz, Nietzsche stehen für diese Option. Man kann zweitens auf die Suche nach einer eigenständigen philosophischen Antwort verzichten und sich den Lebensbereichen zuwenden, in denen, wie es scheint, Wahrheit tatsächlich gefunden wird und versuchen herauszubekommen, wie das geschieht. Als solche Lebensbereiche bieten sich die Wissenschaften und das Alltagswissen an. Hierauf beziehen sich die Analytische Wissenschaftstheorie (Wiener Kreis), der Kritische Rationalismus (Popper) und die analytische Theorie der Alltagssprache (Moore). Drittens kann man die Ausgangsfrage negativ beantworten: Es bleibt keine Möglichkeit, man muß den Wahrheitsanspruch ganz aufgeben. Diese Position vertreten die „Postmodernisten“ (z.B. Lyotard, Derrida, Foucault, Welsch, Feyerabend, Rorty). Viertens wäre es schließlich vielleicht dann doch eines Versuches wert, so will es mir scheinen, die Kantische Transzendentalphilosophie aus ihrem Subjektivismus herauszuholen und sie durch Miteinbeziehung des Ko-Subjekts vollends tauglich zu machen. F: Gehen wir die Positionen wenigstens andeutungsweise durch! Erstens: Die Ich-Philosophie (Fichte, Schelling, Nietzsche): Verzicht auf das Ko-Subjekt, Setzen auf das geniale Ich, auf den Übermenschen. Wie steht es damit? A: Die Ich-Philosophie des Deutschen Idealismus stellt den Versuch dar, aus dem Kantischen subjektiven Transzendentalismus ein System zu machen, das vom Ich her bis zur Kosmologie vordringt und damit die Welt sozusagen vom Ich her erklärt. Das endet notwendig in autistischer Schwärmerei respektive religiöser Spekulation. Einen „Ausweg“ aus der Sackgasse zeigt Nietzsche; er besteht darin, daß man, in einer verzweifelten letzten Anstrengung, alle Hoffnung auf das eine Individuum setzt, welches uns kraft seiner ihm von Natur aus eigenen Genialität Halt geben kann. Der Nietzschesche Geniebegriff ist eine Verbindung des Naturbegriffs des Empirismus (wonach den Menschen unvordenklich, von Natur her, bestimmte erkenntniskonstitutive Fähigkeiten zukommen) mit dem Subjektivismus der Kantischen Transzendentalphiloso-
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phie. Das Genie ist der Übermensch, er ist über den normalen Menschen, und das heißt auch: er ist über die normale Vernunft, erhaben. Er ist sozusagen der verkörperte Ausnahmezustand. Das Genie hört „den Mantel Gottes durch die Geschichte rauschen“. Es steht, weil es das Göttliche in sich hat, über unserer einfachen Moral. Ja, die Regeln unserer Moral, z. B. die des Christentums, sind ihm ein Gespött, ein lächerliches Menschenwerk, dem Übermenschen bei der Entfaltung seines Genies hinderlich. Mit der hochmütigen Zurückweisung der Mitmenschlichkeit stößt Nietzsche das Tor auf, das zum Wahnsinn führt – („Idiotie“ bedeutet im Wortsinn ja „Privatheit“) – zum Wahnsinn auch in Bezug auf sein eigenes Leben. Daß dieser Geniekult später vom Nationalsozialismus für dessen Zwecke, den Führerkult um Adolf Hitler, benutzt werden konnte, liegt auf der Hand. Noch der „Ausnahmezustand“ der Schmittschen Rechtstheorie ist davon geprägt. Hier wird die Ausnahme, die Kants Ethik kategorisch ausgeschlossen hatte, dem Genie oder dem, den man dafür hält, sozusagen als Dauerlizenz zugestanden. Hat man Hitler vor Augen, wird einem Kants Weigerung jedenfalls menschlich verständlicher. Die Tragödie einiger Teile des protestantischkonservativen, militärischen Widerstands war, daß man sich gut kantisch auch gegenüber Hitler an den Eid gebunden und zu keiner Ausnahme berechtigt fühlte. F: Zweitens: Analytische Philosophie: Wissenschaft und Alltagswissen als empirisch vorfindliche Quellen offenbar sicherer Orientierung. Hätte man nicht Aussicht, zu einer Lösung zu kommen, d.h. zu einer Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis, wenn man die großen philosophischen Theorien einmal ganz beiseiteließe und die Aufmerksamkeit auf das doch eigentlich ins Auge springende Faktum des tatsächlichen Vorhandenseins von Erkenntnis (Wahrheit) richtete, einfach, um zu sehen, wie sie zustandekommt; wäre das nicht des Rätsels Lösung? A: In der Tat: Mag man auch vielleicht der Meinung sein, die Erkenntnistheorie sei bislang nicht in der Lage gewesen, die Möglichkeit von Erkenntnis systematisch schlüssig aufzuweisen, so kann man aber doch wohl nicht bestreiten, daß die stupenden Erfolge von Wissenschaft und Technik eine offensichtlich
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gut funktionierende Erkenntnisarbeit voraussetzen! Es käme dann also einfach darauf an, diese Arbeit zu analysieren; dann wissen wir die Antwort auf die Frage, wie Erkenntnis möglich ist! Das Gleiche gilt, auf einfacherem Niveau, für unser Alltagswissen: Man kann doch nicht im Ernst bestreiten, daß wir normalerweise recht gut mit unseren Alltagsangelegenheiten zurechtkommen – was ebenfalls nicht möglich wäre, wenn wir dabei nicht von zutreffenden Erkenntnissen ausgehen könnten. Wenn wir der Verkäuferin sagen: „Geben Sie mir, bitte, zwei von den Rosinenbrötchen!“, so werden wir sie auch bekommen. Dieser einfache Handlungszusammenhang setzt zutreffende Erkenntnis unsererseits (wir sehen die Brötchen) und seitens der Verkäuferin (die sie ebenfalls sieht) sowie eine gelingende Kommunikation zwischen beiden Seiten voraus. Unser Lebensalltag besteht aus einer Vielzahl täglich sich wiederholender Vorgänge dieser Art. Ausgehend von dieser alltäglichen Lebenserfahrung müssen die Probleme der Erkenntnistheorie mindestens eigentümlich erscheinen. Analysieren wir doch einfach mal, was genau wir machen, wenn wir zwei Brötchen bestellen, dann wissen wir die Antwort auf die Frage, wie Erkenntnis möglich ist! F: Ist das nicht plausibel? A: Beide Strategien bedeuten in der Tat einen (von Kant inspirierten) Forschritt in der Geschichte der Erkenntnistheorie; denn beide versuchen nicht, die Wahrheit als Faktum aufzusuchen (in der Ideenwelt, in der Transzendenz, in der Natur, in der Geschichte), sondern sie begreifen sie als etwas sich Konstituierendes, als etwas zu Erarbeitendes. Sie analysieren dazu den Wissenschaftsund den Alltagsprozeß. Die Analytische Philosophie ist insofern auf dem richtigen Weg, insbesondere wenn sie sich dabei der Analyse von Wissenschafts- und Alltagssprache zuwendet. Denn die Erarbeitung von Erkenntnis geschieht in beiden Bereichen notwendig im Medium Sprache (allgemeiner gesagt: durch Kommunikation). F: Gelingt der Analytischen Philosophie eine befriedigende Antwort auf die philosophische Grundfrage (nach der Möglichkeit von Erkenntnis)? A: So hoch wie die von der Analytischen Philosophie erarbeiteten detaillierten wissenschaftsmethodologischen, wissenschaftssprachlichen und alltagssprachlichen Untersuchungen und die dadurch gewonnenen differen-
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zierten Einsichten in Strukturen und Zusammenhänge, innerhalb der Wissenschaften und zwischen Wissenschaft und Außenwelt, auch einzuschätzen sind 2 – die Analytische Philosophie kann als analytische Philosophie ihrem Selbstverständnis nach keinen Zugang zu den im Kern immer zugleich normativ-ethischen Grundlagen der Erkenntnistheorie finden. Wenn sie sich diese Grundlagen zueigen machte – sie würde, ihrem Selbstverständnis nach, aufhören, wissenschaftliche Analyse zu sein, sie würde zu (unwissenschaftlicher) praktisch-ethisch-politischer Parteinahme herabsinken. F: Waren aber nicht die Angehörigen des Wiener Kreises der Analytischen Wissenschaftsphilosophie z. T. Sozialisten? Gab es nicht einen sog. „linken Flügel“ (Neurath, Carnap, Schlick)? A: Die Angehörigen des Wiener Kreises, die Sozialisten waren, waren das aus einer persönlichen Einstellung heraus, nicht weil sie sich dazu aus philosophisch-wissenschaftstheoretischen Gründen veranlaßt gesehen hätten. Unter „Wissenschaft“ haben die Angehörigen des Wiener Kreises im Kern die Naturwissenschaften und die Mathematik verstanden. Ihnen ging es darum, zu beschreiben, wie die (Natur-)Wissenschaften intern funktionieren. Die Philosophie bekam in diesem Zusammenhang die Aufgabe, zu prüfen, ob die wissenschaftlichen Aussagen logisch korrekt sind. Aussagen, die über das (Natur-)Wissenschaftliche hinausgingen, waren in dieser Logik „metaphysisch“ und spielten für sie keine Rolle. Carnap war sogar der Meinung, aus der Logik der wissenschaftlichen Sätze ließe sich so etwas wie „der logische Aufbau der Welt“ entnehmen. Zwischen der Lebenspraxis und der Wissenschaft gab es in ihren Augen keine interne Verbindung, auf keinen Fall in einem Sinne, der die Wissenschaft als abhängig von der Lebenspraxis hätte erscheinen lassen können. F: Erinnert das nicht an das Wissenschaftsverständnis Max Webers? A: Max Weber hat für seine Wissenschaft, die Soziologie, in der Tat ebenfalls eine strikte Trennung von der Lebenswelt, insbesondere von der politischen Lebenswelt postuliert (auch wenn er darunter persönlich gelitten hat). Die Le2
Darauf hier detaillierter einzugehen, würde den Rahmen dieses Textes sprengen, in dem es ja nur darum geht, einige Grundideen zu skizzieren und zu weiterer Beschäftigung anzuregen.
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benswelt ist für ihn vom „Kampf der Weltanschauungen“ geprägt. Diese stehen unvermittelbar gegeneinander. Als Wissenschaftler könne er zu diesem Kampf nichts sagen – wohl als Mensch und Staatsbürger; dann aber sei er schon Partei. Der Kampf muß ausgetragen werden; der Stärkere wird siegen – so sei die Welt. Die wissenschaftliche Vernunft kann diesen Kampf analysieren, mehr nicht. Hält man sich vor Augen, mit welcher Konsequenz dieser „Kampf der Weltanschauungen“ etwa im Zweiten Weltkrieg (zwischen „nationalsozialistischer“ und „bolschewistischer“ Weltanschauung) und dann im „Kalten Krieg“ (zwischen „demokratischer“ und „totalitärer“ Weltanschauung) ausgetragen wurde, so wird man sich der Tragweite bewußt – und manch ein Zeitgenosse wird sich fragen, was das für Wissenschaften sind, die behaupten, zu solchen Geschehnissen nichts weiter sagen zu können, als daß sie dazu gerne ein analysierendes Forschungsprojekt machen würden. F: Der Kritische Rationalismus K. R. Poppers will aber doch nicht nur eine Analyse der Wissenschaftsmethodik sein, sondern zugleich ein politisches Konzept! A: Das ist richtig; allerdings liefert das Wissenschaftsverständnis Poppers keine tragfähige Grundlage für seine politischen Postulate. Für Popper gibt es keinen positiven Wahrheitsbegriff. Es gibt nur „Versuch und Irrtum“. Wie die Natur eine unbegrenzte Artenvielfalt hervorbringt, so das Bemühen der Menschen um Erkenntnis eine unendliche Vielzahl von „Hypothesen“. Dem Darwinschen Selektionsvorgang in der Natur entspricht in den Wissenschaften das „Falsifikationsverfahren“, das aus zwei Schritten besteht: Zunächst prüft man, welche der (potenziell unendlich vielen) „Hypothesen“ überhaupt einem Falsifikationsverfahren zugänglich sind, d.h. von welchen man angeben kann, wie sie überprüft werden können; der zweite Schritt ist dann die tatsächliche Durchführung des Prüfverfahrens. Die Hypothese: „Engel haben Flügel“ würde schon im ersten Schritt ausgesondert. Die Hypothese: „Auf dem Mond befindet sich ein Fahrrad“ würde nicht schon im ersten Schritt ausgesondert werden, da man angeben kann, wie sie überprüft werden könnte. Sie würde wahrscheinlich den zweiten Schritt nicht „überleben“. Die übriggebliebenen Hypothesen sieht Popper nicht als solche an, deren „Wahrheit“ bewiesen worden sei, sondern lediglich als solche, die bislang alle Falsifikationsversuche überlebt haben.
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Diese Ideen Poppers haben weltweit eine enorme Resonanz gehabt. Man liegt nicht falsch, wenn man den von ihm so bezeichneten Kritischen Rationalismus als die westliche Gegenphilosophie gegen den Marxismus bezeichnet. Verwunderlich erscheint sein Erfolg nicht und zwar aus zwei Gründen, einem explizit deklarierten und einem eher unterschwelligen. Der explizit deklarierte ist, daß diese Wissenschaftsauffassung eine „offene Gesellschaft“ verlangt, d.h. eine Gesellschaft, in der offen beliebige Theorien aufgestellt werden können (die Gesellschaft muß die Toleranz aufbringen, dies zu ertragen) und in der dann ebenso offen alle Möglichkeiten der Überprüfung diskutiert werden können. Dieses Konzept kommt nicht nur dem aufgeklärtdemokratisch-pluralistischen Selbstverständnis der westlichen Gesellschaften entgegen – eine „offene Gesellschaft“ im Sinne einer Gesellschaft, in der unbehelligt diskutiert werden kann, ist ja in der Tat wünschenswert, sie ist Voraussetzung für den freien Umgang der Menschen miteinander (unabhängig davon, ob man sich hierfür das Erkenntnismodell Poppers zueigen macht oder nicht). Der andere Grund mag in der unterschwellig gefühlten impliziten Rechtfertigung des darwinistischen Wirtschaftmodells des Privatkapitalismus in den westlichen Gesellschaften gesehen werden, eine Rechtfertigung, die durch die Analogie zu dem ja offenbar ebenfalls auch nach darwinistischem Muster verlaufenden Erkenntnisprozeß der Wissenschaften nahegelegt wird: Wenn schon die Wissenschaften so funktionieren, dann doch erst recht – und mit Recht – die Wirtschaft! F: Warum ist die Poppersche Wissenschaftstheorie philosophisch gesehen nicht haltbar? A: Weil ihre Grundthese selbstwidersprüchlich ist. Die Behauptung: „Es gibt keine Wahrheit, sondern nur Falsifikation“ kann nur dann als ernstgemeint verstanden werden, wenn man sie liest als: „Es ist wahr: Es gibt keine Wahrheit, sondern nur Falsifikation“. Man kann dieses Argument auch auf den Falsifikationsbegriff beziehen: Er verdankt sich der (uneingestandenen) Anerkennung des Wahrheitsbegriff; denn was „falsch“ ist, wissen wir nur, wenn wir wissen, was wahr ist; z. B. „Es ist wahr: Die Aussage, auf dem Mond befinde sich ein Fahrrad, ist falsch“. F: Wenn man einmal von der Selbstwidersprüchlichkeit ihrer erkennt-
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nistheoretischen Grundlagen absieht – wäre das Poppersche Konzept denn in politisch-soziale Praxis umsetzbar? A: Daß das Konzept einer „offenen Gesellschaft“ etwas Wünschenswertes ist, wurde schon gesagt. Der Inhalt, mit dem diese offene Gesellschaft gem. Popper „gefüllt“ werden sollte (das, worüber von ihr kritisch befunden werden sollte) sind die „piece-meal“ Projekte, die „Stückwerke“, die ganz im Sinne der Popperschen Erkenntnistheorie zunächst einmal versuchsweise installiert werden sollen („trial“) und von denen es sich dann herausstellen soll, ob sie ein Irrtum waren („error“). Die Nichtumsetzbarkeit dieses Popperschen Sozialtechnologiekonzepts wird einem spätestens dann klar, wenn man sich als Beispiel vorstellt, der Versuchsballon, der gestartet werden solle, hieße „Umstellung der Energiewirtschaft auf Atomkraftwerke“: Man würde erst einmal Atomkraftwerke bauen, dann abwarten, ob ein sog. GAU (größter anzunehmender Unfall) eintritt und, wenn ja, die ganze Sache wegen erfolgreicher Falsifizierung wieder abblasen. F: Zu Drittens: der Postmodernismus. Kann man den Wahrheitsanspruch ganz aufgeben? A: Nein. Streng genommen können wir Menschen gar nicht leben ohne Wahrheitsanspruch und ohne konkret Wahrheit gefunden zu haben. Derjenige, der den Satz: „Ich erhebe keinen Wahrheitsanspruch“ an die Tafel schriebe, übersähe dabei, daß er trivialerweise schon „von sehr viel Wahrheit Gebrauch machen“ muß, um den Satz überhaupt schreiben zu können: Er muß – zutreffend – die Tafel als solche erkannt haben, ebenso die Kreide, mit der er schreibt, er muß die Buchstaben zutreffend wählen, er muss (wenn die Kommunikationshandlung des Satzanschreibens Sinn machen soll) zutreffend erkannt haben, daß er ein Publikum hat usw.. In moderater Form wird der Wahrheitsanspruch vom sog. „Postmodernismus“ aufgegeben, der sich u.a. gegen den „unitarischen“ (europazentrischen) Verstandesbegriff wendet, welchem er „totalitäre“ Tendenzen unterstellt. In Wirklichkeit gebe es nicht nur mehrere Vernunften, außer den Vernunften gebe es auch andere Arten der Welterschließung. J.-F. Lyotard stellte in diesem Sinne der von ihm sog. „Metaerzählung“ die vielen „kleinen Erzählungen“ gegenüber, von denen jede ihr eigenes Recht habe.
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In radikalerer Form wird die Aufgabe des Wahrheitsanspruchs von Rorty vertreten, der von sich selbst sagt, er behaupte gar nichts (er stelle gar keinen Wahrheitsanspruch auf), er erzähle nur. Damit aber sind wir wieder bei den vorphilosophischen Mythen, die ja auch nur erzählten und denen in der Tat ein Wahrheitsanspruch fremd war. F: Was soll man davon halten? A: Beide Positionen wären erkenntnistheoretisch gesehen nicht der Rede wert (da ihre Unhaltbarkeit aus den oben genannten Gründen offensichtlich ist), wenn sie nicht eine beträchtliche Resonanz hätten. Wie aber soll man von Menschen denken, die in einer Welt leben, der es – wirklich und wahrhaftig – nicht an Problemen mangelt, und die sich gleichwohl – wirklich und wahrhaftig – den Luxus leisten, eben die Begriffe von Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit von sich zu weisen? Hier handelt es sich offensichtlich nicht um ein wissenslogisches Problem (denn das wäre schnell lösbar), sondern um ein psychologisch-kulturelles. F: Viertens: Wäre es nach all dem vielleicht nicht doch eines Versuches wert, die Kantische Transzendentalphilosophie aus ihrem Subjektivismus herauszuholen und sie durch Miteinbeziehung des Ko-Subjekts (als immer schon notwendigen Bestandteils des Erkenntnisvorgangs) vollends tauglich zu machen? A: Diese Frage soll am Ende als Frage stehenbleiben. Aber nicht als offene Frage (die im ersten Teil skizzierten Überlegungen stellen ja einen solchen Versuch dar) – sondern als Aufforderung an die Leser, sich selbst kritisch (und selbstkritisch) eine Meinung zu bilden und dann Position zu beziehen. Denn wie heißt es doch?: „Unser Wort sei: Ja, ja, nein, nein!“.
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H ISTORISCHER Ü BERBLICK : A NTWORTEN AUF DIE F RAGE , WIE E RKENNTNIS MÖGLICH IST Mythos: Der Mythos (=Erzählung) ist eine un-bewußte Antwort. Erst die Philosophie stellt die Erkenntnisfrage bewußt. Platon: Erkenntnis wird durch den argumentierenden Dialog gewonnen. Aber: Der Dialog ist nur ein Mittel zur Wiedergabe der vorgeburtlich in der „Ideenwelt“ geschauten, ewigen Wahrheiten; diese sind vom Menschen unabhängig (=heteronome Erkenntnistheorie). Aristoteles: Bestreitet Platons Ideenweltspekulation nicht explizit. Entwickelt jedoch eine detaillierte Argumentationslehre, die später so genannte aristotelische Logik. Christentum: Erkenntnis geschieht durch Verbindungsaufnahme (Re-ligio) mit Gott. Gott ist transzendent. Es gibt nur Einen Gott. Renaissance: Anthropozentrismus statt Theozentrismus. Die Erkenntnisfrage wird peripher (auch die nach moralischer Erkenntnis), da auf den Menschen in seiner Kraft gesetzt wird. Empirismus: Erkenntnis ist durch die natürlichen Sinne möglich, inklusive eines moralischen Sinnes. Alle Menschen sind (als Naturwesen) gleich. Kant: Erkenntnis ist durch die autonome Verstandestätigkeit des Menschen (als Individuum) möglich.
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Die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis (=transzendentale Reflexion) liefert die Basis für Erkenntnistheorie und Ethik. Aber: Nicheinbeziehung des Ko-Subjekts im Erkenntnisprozeß. Geschichtsphilosophie: Erkenntnis (Vernunft) konstituiert sich durch Geschichte. Bei Marx: Realisierung der Vernunft innerhalb der kommunistischen, d.h. freien Gesellschaft. Diese ist notwendiges Ergebnis des Wirkens ökonomischer Geschichtsgesetze. Nietzsche: Es gibt keine zwischenmenschliche Vernunft oder Moral. Setzen auf das Genie des Ausnahme- bzw. Übermenschen. Analytische Philosophie: Wie Erkenntnis gefunden wird, kann durch Analyse der Verfahren der Wissenschaften und der Wissenschaftssprache sowie der Alltagssprache ermittelt werden. Aber: Diese Analysen sind notwendig a-normativ. Postmodernismus: Es gibt nicht die Eine Wahrheit, sondern viele; außerdem andere Zugänge zur Wirklichkeit als die Vernunft(en). Rorty gibt den Wahrheitsanspruch ganz auf, will nur erzählen (wie die Mythen es taten). Tanszendentalpragmatische Erkenntnistheorie: Unhintergehbarkeit des Wahrheitsanspruchs. Im Stellen jeder ernstgemeinten Frage ist notwendig eine reziproke Anerkennung von Rechten und Pflichten enthalten und damit die Anerkennung virtuell universalistischer, ethischer Grundregeln. Auch wer dies bestreitet, macht (im Bestreiten) davon Gebrauch.
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D IE DREI WICHTIGSTEN S CHRITTE ( KRITISCH BETRACHTET ) 1. Platon: Wahrheit wird im argumentierenden Dialog gefunden. Dies wäre die zutreffende Antwort, wenn Platon sie nicht durch seine Ideenweltsspekulation entwerten würde, wonach der argumentierende Dialog lediglich ein Hilfsmittel zum Wiederauffinden vorgeburtlich in der „Ideenwelt“ schon geschauter, ewiger Wahrheit ist. Demnach ist es nicht der Mensch selbst, der (autonom) durch argumentierenden Dialog die Wahrheit konstituiert. Wahrheit existiert unabhängig vom Menschen (= heteronomer Wahrheitsbegriff). 2. Kant: Schritt von der Heteronomie zur Autonomie: Der Mensch selbst konstituiert durch seine Verstandestätigkeit Erkenntnis. Wie bei Platon gilt die Wahrheitsfähigkeit sowohl für Fragen der Welterkenntnis (theoretische Vernunft) wie auch für Fragen der Ethik (praktische Vernunft). Kant korrigiert Platons heteronome Erkenntnistheorie und vollzieht so die „kopernikanische Wende“ der Philosophiegeschichte: Unhintergehbare Grundlage jeder Erkenntnis ist die transzendentale Reflexion, d.h. das Sich-Besinnen auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Diese Bedingungen erkennen wir in jedem Erkenntnisbemühen immer schon an. Aber: Kant übersieht, daß die Verstandestätigkeit des Subjekts notwendig immer auch das Ko-Subjekt (d.h. virtuell alle vernunftbegabten Wesen) als erkenntniskonstituierend (als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis) einschließt; insofern fällt er hinter Platons Dialogphilosophie zurück. 3. Transzendentalpragmatik: Der Mensch ist autonom. Der Wahrheitsanspruch ist unhintergehbar. Das Erkenntnisbemühen ist immer dialogisch (virtuell universalistisch), d.h. es setzt immer die Einbeziehung des Ko-Subjekts voraus. Die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis beinhalten unhintergehbar die Anerkennung (virtuell universalistischer) ethischer Grundregeln.
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Die Transzendentalphilosophie nimmt also Platons Dialogphilosophie (gegen Kants Subjektivismus) auf, verteidigt Kants Autonomie gegen Platons Heteronomie und erweitert Kants subjektiven Transzendentalismus zu einem dialogischen (das Ko-Subjekt mit einbeziehenden) Transzendentalismus.
N AMEN - UND S ACHREGISTER :
Allgemeinwohl, 40, 43 Alltagssprache, 22, 85, 87, 94 analytische Wissenschaftstheorie, 53, 85 ff., 94 Antizipation, 9, 35 ff. Anwendbarkeit (der Ethik Kants), 73 ff. Aristoteles, 53, 56 ff., 93 aristotelische Logik, 56 Aufklärung, 9, 20, 41, 46 f., 60, 62 als Geschichtssinn und Menschheitsaufgabe, 9, 47, 66 ff. empiristische -, 68 ff. bei Kant, 36, 53, 70 ff. Augustinus, 62 Ausbeutung, 40, 81, 84 Autonomie (bei Kant), 8, 56, 61, 66, 70 ff., 93
Determinismus, 29 f. Deutscher Idealismus, 53, 73, 85 Diskursregeln, 31 ff. Einbildung, 27
einsame Erkenntnis, 8, 26, 27 f., 72 Ende der Geschichte, 46 f. Entgöttlichung der Welt, 61 Erkenntnis als Ergebnis einsamer Verstandestätigkeit (Kant), 72 Erlanger Schule (Konstruktivismus), 32 Erlösung – Lösungen, 46 ernstgemeinte Fragen, deren Unvermeidbarkeit, 28 ff. Ethik, bloß formal-prozedurale Rolle der -, 33 ff. Unvermeidbarkeit der impliziten Begriffe und Erfahrung (bei Kant), 25 ff., Anerkennung ethischer Grund71 f. regeln, 30 ff. Begriffe, erkenntnisermöglichende -, 26 existenzielle Grundfragen (nach UrCarnap, Rudolf, 88 sprung von Welt, Leben, FreiChristentum, 8, 16, 53, 59 ff., 70, 77, 86, heit), 11 ff. 93 deren explizit-propositionale Unbecuius regio eius religio, 66 antwortbarkeit, 11 ff. deren reflexiv-transzendentale, Darwin, Charles, 21, 89, 90 pragmatische BeantwortbarDemokratisierung, 38 keit, 13 ff., 29 des Wirtschaftslebens, 38 ff. Expansionismus der Wirtschaft, 40, 80 ihre Abhängigkeit vom Aufklärungsstand, 41 f. Falsifikation, 89 f. ihr Verhältnis zur Globalisierung, 39 f. Fichte, Johann G., 73, 85
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NAMEN - UND S ACHREGISTER :
formale Ethik, Notwendigkeit des Formalen, 33 f. formale Regeln – inhaltliche Ableitungen, 33 formal-universalistische Ethik Kants, 73 f. Fragen, existenzielle Unvermeidbarkeit des Fragens, 28 ff. Freiheit als regulative Idee, 38 f., 46 Freiheit der Wissenschaft, ihre Bedrohung durch wirtschaftliche Macht, 43 ff. Freiheit, gibt es -?, 29 f. Genie, 85 f. Geschichte als Entfaltungsgeschichte der Vernunft, 51 f. Geschichtsphilosophie, 53, 77 ff., 94 Geschichtsschreibung, Sinn der Philosophiegeschichtsschreibung, 49 Gewalt, religiös motivierte -, 16 ff. Gewissen, 70 Glauben – Wissen, 15 ff. Glauben, Möglichkeit des Glaubens, 19 Gleichheit, notwendige Anerkennung der Gleichheit aller Menschen qua vernunftbegabte Wesen, 34 ff. Globalisierung – Demokratisierung, 38 ff. Gottesbeweise, 19 f., 61 Grundeinsichten (philosophische -), 7 ff. Grundgesetz, Art. 14, Abs. 2, 39, 44, 84 Hegel, Georg W. F., 53, 77, 78 Heteronomie-Autonomie, 8, 56, 69 f., 77, 93 Hitler, Adolf, 86 Hobbes, Thomas, 66 f., 76 homo homini lupus, 66 Honecker, Erich, 83
Humor, 4 Husserl, Edmund, 73 Hutcheson, Francis, 68 Hypothesenpluralismus, 89 f. Idiotie (Privatheit), 86 Instrumentalisierung der Wissenschaft als Machtmittel, 43 Intersubjektivität (Mitmenschlichkeit), 28 ff. Jenseits-Diesseits, 17, 37, 61 f. Kalter Krieg, 74, 82, 89 Kampf der Weltanschauungen (Max Weber), 89 Kapitalismus, 78 ff., 90 als mögliche Überwindung von Mangelwirtschaft, 84 Kapitalwirtschaft im Sozialismus, 39, 83 kategorischer Imperativ, 73 ff. Kohl, Helmut, 83 Kommunismus, 78 ff. Konsenswahrheit, 55 Konstruktivismus (Erlanger Schule), 32 Konsumgesellschaft, 84 kopernikanische Wende, 72, 95 Ko-Subjekt, 26, 72, 77 f., 84 f., 92 ff. Ko-Subjektivität der Erkenntnis, 26 ff. Kriegsverbot, 33 f. Kritischer Rationalismus, 44, 53, 85, 89 ff. kritischer Verstand (als Orientierungsinstanz), 22 f. List der Vernunft, 77 Luther, Martin, 65 f. Lyotard, Jean-F., 85, 91 Machiavelli, Niccolo, 64 f., 67
NAMEN - UND S ACHREGISTER : Macht (Spannungsverhältnis der Wahrheitssuche zur Machtausübung), 9, 36 ff., 42 ff. Machtmittel, 42 ff. Marx, Karl, 17, 39, 53, 78 ff., 90, 94 Maximenrigorismus (bei Kant), 73 ff. Mehrwert, 79 ff. Mensch, was ist der -?, 50 Minimalethik, 7 f., 34 Mischwirtschaft (staatlich / privat), 82 f. Moore, George E., 85 moral sense, 68 ff. moralfreie Staatsphilosophie (bei Hobbes), 67 Mythos, 50, 52, 93 Nächstenliebe, christliche -, 16 f. Nationalsozialismus, 86 Natur als Erkenntnisquelle, 68 f. Nietzsche, Friedrich, 85 f., 94 offene Gesellschaft, 90 ff. Orientierung, durch Tradition, 22 durch Triebe, 21 durch kritischen Verstand, 22 f. Philo-sophie, Sinn des Wortes -, 51 Philosophiegeschichte, Entwicklungsstufen der -, 53 f. philosophische Grundfrage: Wie ist gesicherte Orientierung möglich?, 53 Platon, 8, 53 ff., 63, 70, 77, 93, 95 f. platonische Ideenwelt, 8, 56 ff., 77, 87, 93, 95 politische Ökonomie, 4, 9, 44, 84 politische Philosophie, 9 Popper, Karl R., 53, 85, 89 ff. Postmodernismus, 44, 53, 91, 94
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Privatwirtschaft - Gemeinwirtschaft, 40, 82 f. Produktionsverhältnisse, 78 f. Produktivkräfte, 78 Protestantismus, 53, 65 Reform – Revolution, 58 f. Relativismus – Historismus, 77 Religion, 4, 14 ff. Religion, bei Kant, 37 Renaissance, 18, 53, 63, 93 Römisches Reich, 64 Rorty, Richard, 85, 92, 94 Schelling, Friedrich W., 73, 85 Selbstaufgabe der Philosophie (interne und externe Gründe der -), 43 f. Selbstwiderspruch, Notwendigkeit seiner Vermeidung, 24 Sinne als Erkenntnismittel, 25 f. sokratische Dialoge, 54 f. Solidarität, christliche, 60 Solipsismus, 27 Souveränität (des Staates), 64 ff. Sozietätsbildung durch Anerkennung ethischer Grundregeln im Diskurs, 32 f Sprachbezogenheit der Erkenntnis, 26 ff. Staatsphilosophie (Platon, Aristoteles), 56 ff. Traditionen (als Orientierungsinstanz), 22 transzendental, 14, 29 transzendentalpragmatische Erkenntnistheorie, 92 f., 95 Triebe (als Orientierungsinstanz), 21 Überflußgesellschaft, 84 Übermensch, 85 f., 94
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NAMEN - UND S ACHREGISTER :
Universalismus der Geltung ethischer Grundregeln, 30 ff. Universalismus des Christentums, 60 UNO, 35 Utopie (der Diskursethik), 8 f., 35 ff. Verelendung, 80 f. Verstand als das die Sinneseindrücke zu Erkenntnis verarbeitende Mittel, 25 ff. Völkerbund, 65, 76 Völkerrecht, 65, 76 Wahrheitsfrage, Notwendigkeit der -, 23 f. Weber, Max, 79, 89 Wertsetzungen „Ernsthaftigkeit“ und „Gleichheit“?, 34 Wiener Kreis, 53, 85, 88 Zukunftsaussicht der Menschheit, 34 f. Zukunftshoffnungen, 34 f.