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German Pages [379] Year 2020
Kai Gregor (Hg.)
Philosophie der Zukunft – Zukunft der Philosophie Zu den Perspektiven der Philosophie als Grundlagenwissenschaft
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495820575
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B
Kai Gregor (Hg.) Philosophie der Zukunft – Zukunft der Philosophie
ALBER PHILOSOPHIE
A
https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Kai Gregor (Hg.)
Philosophie der Zukunft – Zukunft der Philosophie Zu den Perspektiven der Philosophie als Grundlagenwissenschaft
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Kai Gregor (Ed.) Philosophy of the future – future of philosophy On the Perspectives of Philosophy as a Fundamental Science This volume examines what role philosophy can still play today as a critical basic science in the face of a fundamental crisis experienced as having no alternative. In this field, the essays assign a central constructive role to transcendental philosophy and present radical approaches and alternative research perspectives for discussion.
The Editor: Kai Gregor is a philosopher, performance artist and Zen monk. He lives in Berlin.
https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Kai Gregor (Hg.) Philosophie der Zukunft – Zukunft der Philosophie Zu den Perspektiven der Philosophie als Grundlagenwissenschaft
Dieser Band untersucht, welche Rolle die Philosophie heute angesichts einer als alternativlos erlebten Grundlagenkrise allen fundierten Wissens als kritische Grundlagenwissenschaft noch spielen kann. Die Aufsätze weisen in diesem Feld insbesondere der Transzendentalphilosophie eine zentrale konstruktive Rolle zu und stellen radikale Denkansätze und alternative Forschungsperspektiven zur Diskussion.
Der Herausgeber: Kai Gregor ist Philosoph, Aktionskünstler und Zen-Mönch. Er lebt in Berlin.
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gefördert durch die
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48899-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82057-5
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Inhalt
Vorwort
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9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Vom transzendentalen Argument zur transzendentalen Methode Christian Spahn (Daegu)
46
Cassirers dritter Weg der Philosophie . . . . . . . . . . . . . Nico Nuyens (Groningen)
65
Transzendenz und Transzendentalität Martin Bunte (Münster)
. . . . . . . . . . . . .
81
Die Phänomenologie des Geistes und die Zukunft der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Cobben (Tilburg)
105
Philosophie und Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Binkelmann (Berlin) Philosophie in Geschichte, Gegenwart und Zukunft Matthias Scherbaum (Bamberg)
121
. . . . . . 140
Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fabian Völker (Münster)
184
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Inhalt
Ein unbekanntes Systemfragment des klassischen deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kai Gregor (Berlin)
243
Zur künftigen Aufgabe der Philosophie, dargestellt an der Biologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Mues (München)
314
Die Zukunft der Philosophie – Schicksal oder frei und vernünftig zu gestaltende Aufgabe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Gerten (Bamberg)
337
Universalitätsanspruch des philosophischen Diskurses und Globalität der Zukunftsproblematik . . . . . . . . . . . . . . Cristiana Senigaglia (Triest/München)
353
Autorenangaben
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
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Vorwort
.. die Frage nach der Zukunft der Philosophie ist sicherlich ein Oxymoron bzw. stets eine Frage ihrer Gegenwart. Sie stellt das jederzeit Gültige gegen das Zeitbedingte und Veränderliche und erörtert dessen projizierte Wechselwirkung in Bezug auf die Philosophie. Die Frage nach einer Zukunft der Philosophie setzt also der Sache nach die Philosophie der Zukunft voraus, und das heißt, sie setzt den Begriff einer zeitlosen, einer jederzeit gültigen Philosophie in den Denkraum (selbst dann übrigens, wenn man eine ewige Philosophie leugnet) und stellt diesen dann, unter Anwendung des Entwicklungsbegriffs, in Relation und Disposition zur gegenwärtigen geistigen Situation. Aber was wird dadurch für eine Philosophie in die Zukunft projiziert? Eine unverkrampfte Herangehensweise an diese Frage erfordert experimentellen Spielraum bzw. Möglichkeitssinn, den wir erst erschaffen müssen – durch die frische Kraft unseres Denkens. Die Gefahr ist, dass wir uns durch Selbstverliebtheit in unser altes Denken nur in unserem Zukunftsbild selbstbestätigen wollen. Die Frage wird also eigentlich erst interessant, wenn wir aus den gewohnten Bahnen des Denkens ausscheren, sie macht nur Sinn, wenn die Möglichkeit einer Veränderung, ja einer Erneuerung der Philosophie grundsätzlich zur Disposition steht, und wir, vor der Folie des Unfertigen, über deren Erfordernisse und Bedingungen zu sprechen beginnen? Dafür muss nun jeder selbst sorgen, indem er sich öffnet. Es sei hier also ein Ort, um einige begründete Spekulationen anzustrengen, unter Umständen auch wagemutige Denkwege und unerhörte Optionen der Philosophie auszuloten, die, gleichgültig ob alt oder neu, bedenkenswert, ja vielleicht sogar zwangsläufig – jedenfalls nicht ohne Grund – auf ihrem zukünftigen Weg liegen … Wir sagen also auch wenn die heutigen Strukturen eine Erneuerung der Philosophie nicht wahrscheinlich erscheinen lassen, wird eine neue Generation kommen und wieder jene brennenden Fragen stellen, die das 9 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Vorwort
Wesen der Philosophie ausmachen … der gegenwärtige Burgfrieden scheint zwar stabil, aber er ist doch nicht wahr – es ist nur das ermattete Atemholen nach der großen Erschöpfung, zu der der Sinnverlust des philosophischen Betriebs in den Spiegelkabinetten seiner selbst geführt hat. Es wird eine Zukunft der Philosophie kommen, eine Zeit, in der sich Menschen in der Universität und auch außerhalb derselben, bewegt durch die radikaleren Kräfte des Denkens, wieder auf den Weg begeben werden, der dann sichtbar vor Ihnen liegen wird … Um von dieser Ahnung wenigstens eine Spur zu hinterlassen, scheint uns die Publikation dieser unscheinbaren Tagungsakten wichtig: Sie legen Zeugnis ab für jene nie versiegende Kraft jungen Denkens, die die etablierten Strukturen hinterfragt, um sie wieder zu verlebendigen .. Wir sind der Gerda-Henkel-Stiftung – sie finanzierte sowohl die Tagung als auch den Druck dieser daraus hervorgegangenen Publikation – zu außerordentlichem Dank verpflichtet, nicht nur für die großzügige Bereitschaft, dem experimentellen Denken einen Raum zu geben, sondern vor allen Dingen für die ungewöhnliche Freiheit, Treue und Geduld, die sie für das Thema und den Prozess aufgebracht hat. Ich danke den Beiträgern und Teilnehmern für ihren Mut, ihre Geduld, und ihre Entschiedenheit. Dem Karl Alber Verlag danke ich herzlich für die entgegenkommende Kooperation bei der Drucklegung. Allen Teilnehmern und Helfern der Tagung und der Publikation danken wir aufs Herzlichste für ihre unschätzbare Hilfe.
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Einleitung
Wenn Philosophie sich in eigener Sache ihrer Zukunft zuwendet, sorgt sie sich um ihr Werkzeug – das Denken: seine Aufgaben, Gegenstände, Möglichkeiten und seine Grenzen. 1 Das ist auch hier der Fall, wir unternehmen ein kontrolliertes Experiment mit neuen Perspektiven, veränderten Denkarten und erweiterten Paradigmen. Unsere selbstgewählte Aufgabe ist, experimentell Denkräume und begründete Szenarien zukünftigen Denkens zu erschließen, um Hebel und Ansätze zu bekommen, die aus eingefahrenen und sich selbstbestätigenden Feedbackschleifen herausführen; auch wenn sich das experimentelle Denken als falsch erweisen sollte, wären wir doch einen Schritt weiter. Gewiss bräuchte ein solches Projekt, gerade in der Moderne, eine starke kritische Selbstverständigung, die den Legitimierungsforderungen kritischer Rationalität genügt, und die Gedankenexperimente an dieselbe anschlussfähig macht. Aber das braucht vielleicht nicht gesagt werden, angesichts der profunden Arbeiten in diesem Band. Heute zeigt sich diese Sorge der Philosophie anhand eines bereits zur Gewohnheit gewordenen Gefühls von Unbehagen, das sich angesichts der zusehends sich steigernden Rationalisierung, Komplexität und Beschleunigung der Welt vor dem sehr konkreten Möglichkeitssinn der Menschen beinahe zwangläufig einstellt: Haben wir diese Welt und deren Probleme, denen wir nun entfremdet hinterher laufen und die uns über den Kopf zu wachsen drohen, nicht selbst gemacht? Wo war der Punkt, an dem uns der Prozess entglitten ist? Es geht hier um eine grundlegende Selbstverständigung, anlässlich einer Vgl. Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. Frankfurt a. M. 1967; Brentano, Franz: Über die Zukunft der Philosophie. Leipzig 1929; Körner, Stephan [Mitarb.]: Zur Zukunft der Transzendentalphilosophie. In: Neue Hefte für Philosophie 14, hgg. v. Rüdiger Bubner u. a. Göttingen 1978; Rorty, Richard: Philosophie & die Zukunft. Essays Frankfurt a. M. 2001; Gloy, Karen: Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft. Wien 2002.
1
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Einleitung
tiefgreifenden mehr fühl-, als noch verstehbaren Krise – das ist der eigentliche Skandal, die eigentliche Herausforderung. Wir finden, dass wir, obwohl wir versuchen, verantwortlich und besonnen zu organisieren, was wir tun, häufig, ja immer häufiger das Gegenteil von dem erreichen, was wir wollen. 2 Die Theorie der reflexiven Modernisierung (Ulrich Beck) beschreibt das seit Längerem als »unreflektierte« und »ungewollte Nebenfolgen« der eigenen industriegesellschaftlichen Modernisierung, die durch die »Selbsttransformation, die Auf- und Ablösung der ersten durch eine zweite Moderne« notwendig entstehen, als die strukturellen »Rückwirkungen des ganz gewöhnlichen ›Fortschritts‹ auf die Grundlagen desselben«. 3 Aber auch die kritische Analye der Kolateralschäden der Modernisierung ist ein moderner Blick und dreht sich im Kreis. Der Zweifel der Philosophie geht tiefer und muss tiefer gehen, als der der Soziologie: Er dringt aus alten Fundamenten, und gilt uns selbst, dem modernen Menschen, unserer westlichen säkularen Weltsicht, unserer Bildung, im Weiteren der Aufklärung und Rationalisierung, der wir sie verdanken, der Wissenschaft und Technologie, die wir täglich nutzen. Wo liegt der point of no return heutiger Pfadabhängigkeiten? Wir finden, das Leitmedium der Aufklärung, wahres begründetes Wissen und ihr Werkzeug, das reflexive Denken, steht nach 200 Jahren Aufklärung und Wissenschaft in allen Lebensbereichen in Frage, und zwar nicht obwohl, sondern weil Aufklärung und »Die Lösungen von gestern sind die Probleme von heute. Anders als vormoderne Gesellschaften, die in einer statischen Kreislaufwirtschaft verharren, beziehen moderne Gesellschaften die ihr eigentümliche, gemeinhin als Fortschritt bezeichnete Eigendynamik aus der vergeblichen Abarbeitung selbst erzeugter unlösbarer Probleme. Als man zum Beispiel feststellte, dass Kohlekraftwerke die Umwelt belasten, versuchte man es mit Kernkraftwerken. Seit man gewahr wurde, dass sie noch viel gefährlicher sind, versucht man es mit erneuerbarer Biomasse, mit Solar- und Windkraft. Aber auch hier zeichnen sich bereits Grenzen sowohl umwelt- wie sozialverträglicher Belastbarkeiten und zur Verfügung stehender Ressourcen ab. Die Substitution der einen durch eine andere Energieform hat das zugrunde liegende Problem nicht gelöst, sondern lediglich verschoben. Die Lösungen von heute erzeugen die Probleme von morgen. Die sich hieraus ergebende soziologisch interessante Frage lautet: Was tun, wenn absehbar ist, dass die Kumulation unlösbarer Probleme dazu führt, dass Gesellschaften zu kollabieren drohen? Steht dem Raumschiff ›Erde‹ das Schicksal der Osterinsel bevor?« (Vgl. Bammé, Arno: Unlösbare Probleme. Warum Gesellschaften kollabieren. München 2014.) 3 Beck, Ulrich, mit Anthony Giddens und Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a. M. 1996, S. 26 f. 2
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Einleitung
Modernisierung so einen unwahrscheinlichen weltverwandelnden Erfolg haben. Aufklärung hat für uns heute einen ambivalenten Beigeschmack, das gehört zu ihrem Stolz, unserem Selbstverständnis, und ist das instabile Fundament, auf dem wir balancieren: Spätestens mit Beginn der Moderne verdichten sich die Hinweise, dass reflexives Wissen, und damit das Leitmedium moderner Gesellschaften, haltlos ist. Heute gilt, in allen wissenschaftlichen Disziplinen, der radikale, obgleich kritische Rationalismus bzw. der ebenso empirische wie pragmatische Konstuktivismus, es herrscht eine allgemeine Grundlagenkrise des Wissens. Das Selbstverständnis moderner Gesellschaften hält sich, in seiner Ambivalenz pragmatisch aufrecht, bauend auf provisorischen Hypothesen, falliblen Axiomen, Verträgen, positiv gesetzten Grund- und Menschenrechten, die dem Verstand wohl genügen, dem Lebensgefühl der Menschen aber keineswegs. Es besteht hier eine Lücke zwischen Kopf und Herz. Die innere Ambivalenz der Moderne scheint für das Gefühl vieler Menschen zu kompliziert, und für die Welt geradezu tödlich zu sein. Wir wollen uns hier den unterstellten langfristigen Nebenfolgen einer seit Langem bekannten, nichtsdestoweniger persistenten, zudem alternativlos erscheinenden, offen zugestandenen, ja geradezu bewiesenen und mit Nachdruck verteidigten Grundlagenkrise reflexiv fundierten Wissens in Logik, Mathematik, Theologie etc. – und eben auch, und schon seit Langem, in der Philosophie, stellen: Wir werden sie aber aus einer anderen, umfassenderen philosophischen Perspektive zu betrachten suchen. *
* *
Wir sagen: Ganz am unbewussten Anfang der Grundlagenkrise des Wissens, soweit sich das rekonstruieren lässt, steht eine fundamentale Entscheidung: die Trennung von Herz und Verstand, Gefühl und Denken, Welt und Subjektivität. Sie veränderte grundsätzlich die Bedeutung des Denkens, und damit unser Verhältnis zur Welt. (Es war eine intrikate Veränderung, die erst sehr viel später und nur unter großem reflexiven Aufwand wieder eingeholt und zur Disposition gestellt werden konnte.) Die Idee intellektueller Erfassung, Differenzierung und Durchdringung der Wirklichkeit war eine der folgenreichsten Entscheidungen der Menschheit: reflexives Wissen und Handeln, kurz reflexive Rationalität, bestimmt seitdem die Maßstäbe des Guten und Wahren. 13 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Einleitung
Die Trennung von Gefühl und Verstand war die Voraussetzung, die die Durchdringung der Wirklichkeit ermöglichte. Dadurch stellte sich der Mensch auf den neutralen ungebundenen Standpunkt, über sich selbst und die objektivierte Natur, er stellt sich in seinen Verstand: frei, sein Leben, sein Weltbild, sein Wissen, selbst in die Hand zu nehmen, und nach seinem Bilde zu formen. Die Folgen reichen bis heute: welche? 4 Einerseits wurde es durch diese Entscheidung tunlich und notwendig, das Gefühl unter die Botmäßigkeit des Denkens zu bringen, es zu kontrollieren, es zu kanalisieren, es zu disziplinieren. In den Naturwissenschaften geschah dies beispielsweise durch ausgeklügelte Verfahren der Filterung des Erfahrungsinhaltes und durch noch raffiniertere mathematische Konstruktionen und statistische Prog-
4 Es geht hier um die berühmte These Max Webers von der Entzauberung der Welt (WL 536) durch Intellektualisierung und Rationalisierung der modernen Welt. Muss sie heute immer noch, wenigstens in Bezug auf die fortschreitende Rationalisierung, als zutreffend gewertet werden? Wenn man sie differenziert und erweitert. Sie müsste erweitert werden, weil sie, wenn auch zunächst schleichend, viel früher angefangen haben dürfte, nicht erst in der Moderne, auch nicht erst im Protestantismus, sondern schon viel früher. Es wäre zu überlegen, ob sie einen für exponentielle Prozesse charakteristischen Kurvenverlauf hat: Anfangs und über sehr lange Zeit ist nur ein sehr langsamer, kaum merklicher Anstieg zu verzeichnen, der sich dann aber ab einem bestimmten Punkt rasant, eben exponentiell zu steigern beginnt. Aus dieser Sicht wären wir heute in dieser explosiven Phase, sie kennzeichnet die Moderne, die Postmoderne etc. Aber, auch wenn es erst heute sichtbar wird, ist es doch derselbe Prozess. Und warum exponentiell? Es wäre die Grundstruktur rückgekoppelter reflexiver Rationalisierung, Reflexion der Reflexion = R2, die für die selbstbewusste philosophische und wissenschaftliche Kommunikation ebenso grundlegend wie kennzeichnend ist, dies gäbe strukturell eine intrinsisch exponentielle Dynamik innerhalb der sozialen Kommunikation. Andererseits muss die These von Max Weber differenziert werden. Denn inzwischen bringt die fortschreitende Rationalisierung nicht nur starke Tendenzen zur Anti-Intellektualisierung und Dysfunktionalisierung mit sich, sondern eben auch, neue Formen quasi-religiösen, magischen, verzauberten Denken, indem durch Digitalisierung und Robotisierung immer mehr anonyme verselbständigte und widersprüchliche Prozesse entstehen, durch die das verantwortliche Individuum eher entmündigt und vom eigenständigen Gebrauch der Intelligenz eher entwöhnt wird. Man kann daher inzwischen von einer um sich greifenden strukturellen Ignoranz durch technische Rationalisierung sprechen, was Derrida zur These geführt hat, die strukturelle Entwurzelung der Menschen durch Fernwissenschaftstechnik kulminiere heute in technoiden Formen des Animismus. (vgl. Derrida, Jacques: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an den Grenzen der bloßen Vernunft. In: Die Religion. hgg. v. Jacques Derrida u. Gianni Vattimo, Frankfurt a. M. 2001, S. 85 ff.)
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Einleitung
nosen über den abgefilterten Rest. 5 Sukzessive wurden in der europäischen Aufklärung die Institutionen weiterentwickelt, mit der impliziten Nebenfolge, einer ebenso nachhaltigen wie effektiven rationalen Kontrolle des Gefühls. Heute nehmen wir das gewiss spiegelverkehrt wahr: Der Wohlstand und Fortbestand unserer Gesellschaften erfordert eben Menschen, die sich derart beherrschen und disziplinieren können, und also sorgen wir unter diesem Gesichtspunkt mit Nachdruck für deren Erziehung und Sozialisierung: selffullfilling prophecy. Technologie, Verwaltung, Markt funktionieren nur, wenn sich Individuen zweckrational zu verhalten vermögen (Kompensationsvehikel wie Pornographie, Karneval, Glücksspiel, psycho-soziale Therapie-Einrichtungen, Sport etc., um nur einige zu nennen, sind seit langem erpropte Systemstabilisatoren). Auch wenn diese Kontrolle zweifellos auf Basis der Erkenntnisse der Psycholanalyse im Laufe des 20. Jahrhunderts immer subtiler geworden ist, und heute auch gezielt Kreativität, Empathie und emotionale Intelligenz durch große Unternehmen gefordert und gefördert wird, ist sie nichtsdestoweniger Kontrolle und Subordination geblieben. Andererseits musste das freie Denken damit beginnen, sich selbst Grenzen und Regeln zu setzen: die kodifizierten Systeme der Moral, der Religion, des Rechts, der Wissenschaft etc. entstehen und werden wieder relativiert. Ein kritisch-reflexives Verhältnis des Denkens zu sich selbst setzte sich performativ auch dort durch, wo man der Begründungsprobleme des Wissens eingedenk war. Das liegt in der Struktur des Denkens, es wird Programm der Aufklärung, alle überkommenden Maßstäbe durch kritische Legitimationsforderungen in Frage zu stellen, Glauben in Wissen umzuwandeln, indem sie ihn dem Zweifel aussetzt. Aber, indem diese Bewegung eigentlich auf letzte Begründungen zielt und zielen musste, brachte sie implizit mehr und mehr Maßstäbe und Selbstverständlichkeiten ins Wanken. In dialektischen Feedbackschleifen wurden so systematisch die Wahrheiten der Philosophie, der Wissenschaft, der Theologie, der Moral, ebenso wie auch aller anderen alternativ vorgeschlagenen ideologischen Koordinatensysteme untergraben. Wo auch immer das Lebensgefühl Halt suchte, wird es durch den Begriff vertrieben und zwar so weitgehend, dass der Begriff am Ende sich selbst gründlich in Frage stellen musste und beweist, dass er grundlos ist. https://www.slm.uni-hamburg.de/germanistik/personen/benthien/downloads/ emotionalitaet-schmitz.pdf, S. 43.
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Einleitung
Und völlig zu Recht! Denn, nicht wahr? – ein »Gott«, den das freie Denken fassen kann, war noch nie der wahre Gott, »jede Fliege«, das sah schon Meister Eckehard völlig klar, hatte mehr Göttlichkeit als ein solcher gedachter Gott. 6 Und das gilt eben auch für all die anderen Produkte und Gegenstände reflexiven europäischen Denkens. In den Formen reflexiven Wissens waren nie mehr als modellhafte Fiktionen und heuristische Projektionen der Realität möglich. Dogmatische Reifikationen und ontologische Substantialisierungen wissen wir zu vermeiden, darum haben wir mit Gott die Welt hinter der rational zugänglichen Welt (die sogenannte Metaphysik) abgeschafft; wir wissen (reflexiv), dass Wissen durchweg hypothetisch, Wissenschaft darum fallibilistisch und Politik eben nur provisorisch sein kann. Auch wenn mit Objektivität im mathematischen Raum nur noch statistisch und im Raum der Gründe nur noch pragmatisch gerechnet wird, sind wir überzeugt, die Grenzen unseres reflexiven Denkens sehr gut zu verstehen, denn unsere Brücken halten und unsere Autos fahren. Aber die Trennung von Gefühl und Verstand führt nicht nur zur Notwendigkeit systematischer Kanalisierung und Instrumentalisierung des Gefühls, sondern auch zur Selbstkontrolle freien Denkens durch immer neues Denken, kurz zu endloser endlicher Reflexion, mit Nebenfolgen: Ersteres führt dazu, dass jeder sein Leben nur noch stellvertretend leben kann, gewissermaßen historisch und symbolisch, zweiteres dazu, dass in der Bugwelle der Reflexion strukturell Hyperkomplexität entsteht, da Komplexität nur durch Produktion weiterer Komplexität reduziert werden kann – anders gesagt, wir können Probleme nur durch Schaffung neuer Probleme lösen. *
* *
Das ist zunächst irritierend, funktioniert dann aber, wenn man sich an diesen neuen Kreis gewöhnt hat, sehr gut. Aber weil es vorderhand so gut funktioniert, sehen wir hinterderhand nicht, was wir dadurch schon verloren haben; und es schwant uns auch nur langsam, was wir dadurch noch verlieren könnten bzw. gerade dabei sind zu verlieren. Zunächst, unser Gefühlsleben war eben nicht immer diese An6 Vgl.- Meister Eckehart: Predigt 32. Beati pauperes spiritu, quia ipsorum es regnum coelorum. In: Deutsche Predigten und Traktate, hgg. v. Joseph Quint, Zürich 1979, S. 305.
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Einleitung
einanderreihung subjektiver, privater, kontrollierbarer Seelenzustände, wie es uns heute selbstverständlich erscheint. Wir sagen aber, der mittelalterliche, der antike Mensch war und fühlte ganz gewiss anders, als wir ihm heute historisch-kritisch rekonstruieren. Erst mit Einzug und Durchsetzung des intellektualistischen Paradigma begann der Mensch sein Gefühlsleben derart zu konstruieren, und, wie es beispielsweise Hermann Schmitz (und in ähnlicher Weise eine Vielzahl weiterer Denker wie Maslow, Gebser, Assagioli, Aurobindo, Fromm, Grof, Rosa, Husserl, Fichte, etc. pp.) 7 aufzeigt, als »psychoEine beschränkte Auswahl: Aurobindo, Sri: Das göttliche Leben. 3 Bde. Gladenbach 2013; Assagioli, Roberto: The Act of Will. London 1980; Baas, Bernhard: Das reine Begehren. Wien 1995. Bahro, Rudolph: Die Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen der Politik. Stuttgart, Wien 1989. Dahme, K.: Der mystische Strom. Von Paulus bis Pascal. Salzburg 1986; Dogen: Shobogenzo. Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges. Bde. 1–4, Heidelberg/ Leimen 2001–2008; Dürckheim, K.: Der Ruf nach dem Meister. Weilheim 1972; Ders.: Hara. Die Erdmitte des Menschen. Weilheim 51972; Ders.: Vom doppelten Ursprung des Menschen Freiburg/Br. 1973; Enomiya-Lassalle, H. M.: Zen-Buddhismus. Köln 21972; Ders.: Zen-Kontemplation für Christen. Weilheim 1969; Ders.: Zen-Unterweisung. München 31988; Fasching, Wolfgang: Phänomenologische Reduktion und Mushin. Edmund Husserls Bewusstseinstheorie und der Zen-Buddhismus. München 2003; Gebser, Jean: Der unsichtbare Ursprung – Evolution als Nachvollzug. In: Vorlesungen und Reden zu Ursprung und Gegenwart. GA Bd. V/II. Schaffhausen 1976, S. 19–55; Ders.: Ursprung und Gegenwart. DVA, Stuttgart 21966; Grof, Stanislav: Die Psychologie der Zukunft. Erfahrungen der modernen Bewusstseinsforschung. Wettwills 2002; Ders.: Spirituelle Krisen. Chancen der Selbstfindung. München 1990; Gurwitsch, Georg: Fichtes System der konkreten Ethik, Tübingen 1924; Huxley, Aldous: Die Pforten der Wahrnehmung. Meine Erfahrung mit Meskalin. München 41970; Izutzu, Toshihiko: Philosophie des Zen-Buddhismus. Reinbek bei Hamburg 1986; Johannes vom Kreuz: Aufstieg zum Berge Karmel. München 1927; Jost Schieren: Anschauende Urteilskraft. Methodische und philosophische Grundlagen von Goethes naturwissenschaftlichem Erkennen. Düsseldorf 1998; Jung, Carl Gustav: Synchronizität, Akausalität und Okkultismus. München 1990; Katsuki Sekida: Zen-Training. Praxis, Methoden, Hintergründe, Freiburg 51993; Kodo Sawaki: 坐禅の仕方と心得 (Zazen no shikata to kokoroe – Erkenntnisse über den Weg des Zazen), 1939; Ders.: 禅談 (Zendan – Zen-Geschichten), 1938; Ders.: 道元禅の神髄 (Dōgen zen no shinzui – Das Wesen des Zen von Meister Dōgen), 1963; Lauth, Reinhard: Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie. München 1967; Ders.: Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998; Ders.: Die Frage nach dem Sinn des Daseins. München 1963; Ders.: Ethik. Stuttgart 1969; Maslow, Abraham A.: Psychologie des Seins. Ein Entwurf. Frankfurt a. M. 1985; Pörtner, Peter: Das Heilige in Japan. Vollendete Sakralisation? In: Das Heilige. Seine Spur in der Moderne. hgg. v. D. Kamper, Ch. Wulf, Frankfurt a. M. 1987, 644–664; Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M. 2016. Ders.: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005; 7
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Einleitung
logistisch, reduktionistisch und introjektionistisch« zu verstehen und eben zu kontrollieren. Alle diese disziplinierten und rationalisierenden Formen des Gefühls lassen sich zurückführen auf die Machtergreifung des vergegenständlichenden Denkens bzw. auf die Subordination der Realtät unter das Schema der differenziellen reflexiven Intentionalität, der Subjekt-Objekt-Unterscheidung. Was Schmitz hier anspricht, lohnt sich, etwas genauer anzuschauen: »Psychologistisch, das heißt: Das Erleben des einzelnen Menschen, das anfangs auf halbautonome Regungsherde verteilt und für ergreifende Mächte – etwa Götter und Gefühle wie Eros und Wut (Lyssa) – offen war, wird in einer privaten Innenwelt abgeschlossen und dort der Regie einer zentralen Instanz (etwa der Vernunft oder des freien Willens) über die unwillkürlichen Regungen anvertraut. Demokrit, der Pionier des neuen Paradigmas, bezeichnet demgemäß das Innere des Menschen als buntes und leidensreiches Vorratshaus von Übeln und rät dagegen: ›Das unbotmäßige Leid einer schmerzerstarrten Seele verjage durch Vernunft!‹ ›Seele‹ (psyché) ist der erste Name dieser Innenwelt, mit der die Person gleichsam ein Haus bekommt, in dem sie Herr sein kann.« 8 Nach Schmitz muss man sich die voraufgeklärte Welt, und damit den latenten Untergrund der aufgeklärten, also nicht wie eine in die Vorzeit entrückte Version der unsrigen vorstellen, sondern erstens qualitativ vollkommen anders 9, und zweitens unter den Schleiern der Ratio nach wie vor präsent, wirkunsmächtig und real. Schefer, Christina: Platons unsagbare Erfahrung. Ein anderer Zugang zu Platon. Basel/Muttenz 2001; Schmitz, Hermann: Die Verwaltung der Gefühle in Theorie, Macht und Phantasie. In: Emotionalität: zur Geschichte der Gefühle, hgg. v. Claudia Benthien, Köln u. a. 2000, S. 42–60; Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 2007; Soller, Alois K.: Die Unbegreiflichkeit der Wechselwirkung der Geister. Das Problem einer ›Interpersonalitätslehre‹ bei Fichte. In: FichteStudien 6, 1994, 216–227; Steiner, Rudolph: Die Geheimwissenschaft im Umriss. Dornach 1979; Ders.: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? Dornach 2014; Taisen Deshimaru: Die Praxis der Konzentration. Zen u. Alltagsleben. Braunschweig 21992; Ders.: Hannya Shingyo. Das Sutra der höchsten Weisheit. Heidelberg/ Leimen 1988; Wehr, Gehard: Europäische Mystik. Eine Einführung. Wiesbaden o. J.; Ders.: Deutsche Mystik. Köln 2006; Weil, Simone: Schwerkraft und Gnade. [La pesanteur et la grâce]. Übers. F. Kemp. München 1952; Dies.: Zeugnis für das Gute: Traktate, Briefe, Aufzeichnungen. Hgg. u. Übers. F. Kemp. München 1990; Wulff, Erich: Wahnsinnslogik: Von der Verstehbarkeit schizophrener Erfahrung. Bonn 1995. Etc. pp. 8 Ebda : 43. 9 Man muss mit Schmitz – (Schmitz 2007) – klar sehen, dass der Raum, in dem sich der »Gefühlsraum« (292) verwirklichen kann, nicht Abstraktionen wie der bloße
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Einleitung
Die Psychologisierung ist mit einer zweiten Deformation verbunden, die Wahrnehmung der Gefühle ist reduktionistisch: »Reduktionistisch bedeutet: Die Außenwelt, d. h. die empirisch zugängliche Welt abzüglich aller Innenwelten, wird abgeschliffen bis auf Merkmale aus wenigen Standard-Sorten, die bequem intermomentan und intersubjektiv identifizierbar, quantifizierbar und selektiv variierbar, daher für Statistik und Experiment tauglich sind, und deren hinzugedachte Träger, die bei Demokrit, der auch Protagonist des Reduktionismus ist, die Atome und später – mit metaphorischer und großenteils unaufrichtiger Anleihe beim Leitbild des festen Körpers – die Substanzen sind. Was übrig gelassen wird, sind hauptsächlich Gestaltmerkmale an der Oberfläche fester Körper, allgemeiner die später so genannten primären Sinnesqualitäten wie Größe, Gestalt, Zahl, Ruhe, Bewegung, Anordnung, Lage im Raum. Sie bilden heute noch die gesamte Abstraktionsbasis der Physik, d. h. alles, was diese vom empirischen Weltstoff registriert.« 10 Das gilt aber nicht nur für die Konstruktion der Außenwelt, sondern eben auch für die der Innenwelt. Denn die Psychologisierung wird nach Schmitz von einer dritten, der introjektionistischen Deformation begleitet: »Introjektionistisch, das heißt: Der Abfall der Abschleifung wird in den Innenwelten abgeladen und als ›bloß subjektive‹ Privatsache, als nicht ganz verläßlich bestimmbarer und unübersichtlicher Restposten der Vergegenständlichung, behandelt. Auch damit geht Demokrit voran, indem er die spezifischen, später ›sekundär‹ genannten Sinnesqualitäten als konventionell (νόμω, nomo) hinstellt, während bloß die Atome und das Leere echt seien. Damit ist auch schon der gröbste Fehler dieser psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung getroffen: Beim Abschleifen der Außenwelt und summarischen Wegstopfen des Abfalls in die Innenwelten hat man das Abgelegte zum größten Teil gar nicht zur Kenntnis genommen und nur auf die Farben, Töne, Gerüche usw., die sekundären Sinnesqualitäten, geachtet. Vergessen wurden der spürbare Leib und die leibliche Kommunikation, ferner die Bedeutungen, d. h. die Sachverhalte, Programme und Probleme und ihre binnendiffusen Ganzhei-
»Ortsraum« (284), oder der »Richtungsraum« (281) sind, sondern ein unendlich begrenzbarer »Weiteraum« (280): »Der Weiteraum besteht in Weite, sofern in dieser ein absoluter Ort (oder eine Mannigfaltigkeit solcher Orte) als Hier der primitiven Gegenwart sich abhebt.« (280) 10 Ebda : 43.
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ten, nämlich die Situationen in dem von mir oft und ausführlich explizierten Sinn und darunter die vielsagenden Eindrücke, die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung, schließlich auch die hier thematischen Atmosphären in jedem Sinn, sowohl als Wetter wie als Gefühl und in den Zwischenformen zwischen Wetter und Gefühl.« 11 Das, was Schmitz hier andeutet, muss uns als Teilnehmern am wissenschaftlichen Betrieb suspekt sein. Die allermeisten haben es nie anders erfahren, und finden es natürlich müßig, sich damit zu beschäftigen; und, wenn wir jemanden davon berichten hören, können wir nur mit dem Kopf schütteln, wie ein Volk von Blinden, dem man von Farben erzählt. Aber was wäre, wenn es stimmte, dass Gefühle, und damit die erste unmittelbare tiefste Realitätsauffassung, die uns allein durch Gefühle vermittelt werden kann, eine fundamental andere gewesen ist, und – das würde es ja implizieren – wieder eine andere werden könnte? Was wäre ein authentisches Gefühl, wenn die intellektualistische Gefühlswelt eine strukturelle Introjektion darstellt? Und was wäre unsere Realität hinter dem intellektualistischen Schleier, mit dem unsere Rationalität ihre Grenzen sichert? Nach Schmitz sind authentische, nicht-verobjektivierte Gefühle in Wahrheit, wenn sie im eigenleiblichen Spüren wirksam sind, tatsächlich in den »Leib eingreifende Mächte«. 12 Und da, wo sie jenseits des eigenen Leibes wahrgenommen werden, erfahren wir sie als »räumlich ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären«. 13 Gefühle sind nach Schmitz also ursprünglich keine in »in einer privaten Innenwelt« abgeschlossene kontrollierbare Phänomene, sondern – wie soll man das Inkommensurabke, das nur Fühlbar- aber Unsagbare sagen –, vielleicht so etwas wie räumlich ausgedehnte unmittelbar wahrnehmbare, interpersonale Ganzheitfelder, ja, man müsste am Ende geradezu sagen, direkt erlebbare räumliche Wesenheiten. Es liegt in der Logik der Sache, dass uns diese Sichtweise höchst fremd und unverständlich ist, und eine überwundene, ja geradezu atavistische Wirklichkeit durchscheinen lässt. – Aber gewiss ist auch, wer die Trennung von Gefühl und Verstand auch nur experimentell in Frage stellt, rüttelt an den uralten Glaubenssätzen der westlichen intellektuellen Kultur und den tiefsten Fundamenten unserer sozialen Organisationen. 11 12 13
Ebda : 44. Ebda : 42. Ebda.
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Schmitz’ Argument, diese Trennung in Frage zu stellen, ist letztlich ein praktisches: Jeder, wenn auch mit einiger Übung in der Blicklenkung, kann es am eigenen Leib erfahren, wenn er sich unvoreingenommen darauf einlässt, was er erlebt, und zweitens darauf achtet, eingewöhnte Rationalisierungsmuster und stereotype lineare Reaktionsweisen zu vermeiden. Gerade das letztere bringt das Individuum heute aber in einen Konflikt mit seinen sozialen Rollen und Eingebundenheiten in die gesellschaftlichen Systeme, die wesentlich auf der Kanalisierung und Konzeptualisierung von Gefühlen aufgebaut sind: Große Gefühle sind heute an künstlich organisierte Räume wie Kino, Sportereignisse, Shows, Events, Bestattungsinstitute, Magazine delegiert und sind sowohl inszeniert als auch domestiziert. Unter dem Trennungsparadigma gehört, was auch immer ein authentisches Gefühl sein soll, natürlich zur Mythologie der Moderne. Es ist ja heute gut bekannt, dass wir durch Identifikation (Affektübertragung), Teile oder sogar den Kern unseres individuellen emotionalen Erlebens an Stellvertreter binden können. Durch dieses Delegationsprinzip kann die tatsächliche Entfremdung der Masse sowohl betäubt als auch politisch gesteuert werden. 14 Unsere Institu-
Durch das Delegationsprinzip kann auch die entfremdete Masse Zugang zum Schein großer Gefühle erhalten, und zwar indirekt, mittels medialer Aufbereitung und Kommunikation, indem sie an den wie unter einem Brennglas stattfindenden Schicksalen einzelner herausgehobener Individuen teilnimmt (der ›Führer‹ ist hier ebenso Beispiel wie ›Regierungschef‹, ›Popstar‹, ›Papst‹, ›Topmanager‹, ›Spitzensportler‹, ›Queen‹, ›Nobelpreisträger‹ etc.), in denen es um symbolisches Kapital, also Geld, Macht, Einfluss, Anerkennung, Prestige geht. Jede Gesellschaft versucht, die für diese informellen Identifiktionsfunktionen Systemstellen besetzt zu halten, und irgendwie nimmt jeder an diesen Netzwerken teil, man kann sich nicht nicht zu ihnen verhalten. In diesen symbolisch-interpersonalen Anerkennungsligen scheinen aber – die rechtliche, wirtschaftliche und funktionale Differenzierung und Arbeitsteilung überlagernd und durchdringend – informelle und nicht-schriftliche Regeln der ›Fallhöhe‹, des ›Heerschildes‹ ebenso wie die klassischen Dramturgien der ›Tragodie‹, ›TragiKomödie‹, ›Komödie‹ etc. fortzubestehen. Es ist interessant, dass unsere Gesellschaften – weitgehend unabhängig davon, wie liberal, rational, genderneutral sie sich rechtlich und intellektuell verfassen – neben der funktionalen Differenzierung von solchen informellen symbolischen Identifikationen bzw. kollektiven Identitäten durchzogen, zusammengehalten und ja auch gesteuert werden. De facto dürften sich diese weichen Hierarchien vielfach sogar als die härteren und eigentlich wirksamen entpuppen. Die Unterscheidung zwischen offiziellen und inoffiziellen sozialen Differenzierungen gründet in der Trennung von Gefühl und Verstand, ja dokumentiert sie. Ein Mensch, der diese Trennung hinterfragt, stellt implizit die Möglichkeit absoluter Indifferenz von Gefühl, Denken und Sein zur Disposition; wenn jemand die Trennung
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tionen, die Politik, die Wirtschaft, die Medien, die Werbung etc. setzen so ihre Interessen durch. Wenn wir für einen Augenblick unsere feste Überzeugung, dass es um intellektualistischen Status quo keine Alternative gibt, mal einklammern, dann bedeutet das, dass heute tatsächlich, wie Fichte bereits 1804 festgestellt hat, der »Grundzug unseres Zeitalters ist […], daß in ihm das Leben nur historisch und symbolisch geworden ist.« 15 Aber für Fichte war es noch denkbar, was wir heute ausschließen, nämlich dass es, wenn auch selten, »zu einem wirklichen Leben« 16 kommen könnte. Gerade dann nämlich, wenn das eigene Fühlen der erste (allgemeine wie auch individuelle) realitätvermittelnde Sinn wäre. Wir denken, dass wir heute wissen, dass man immer nur eine gefilterte, manipulierte Realität zu Gesicht bekommen kann; aber es könnte sein, dass gerade darin die Hybris des Stolzes der Aufklärung auf ihre Ambivalenz liegt. 17 Wir sagen also: Wenn das stimmt, und dafür, dass hier systematisch etwas dran sein könnte, sprechen eine erstaunliche Menge an Indizien 18, könnte es sein, ja, ist es sogar wahrscheinlich, dass es auf die Grundlagenkrise des Wissens nicht nur eine reflexive, sondern auch eine transzendentale Antwort gibt (die Möglichkeit eines paradigmatischen Perspektivenwechsels), und zwar genau dann, wenn man zeigen würde, dass am Grunde des reflexiven ein intuitives, mit anderen Worten, ein integrales Wissen bzw. Bewusstsein ruht, in welchem Bewusstsein, Realität, Gefühl, Verstand, Freiheit und Sinn in so etwas wie einem strukturierten Kontinuum koinzedieren. Das wäre jedenfalls einer Untersuchung anzuempfehlen, denn wir könpraktisch überwunden hat, tritt er aus diesen Hierarchien aus. Man ist nicht länger Opfer dessen, was man sehen und beeinflussen kann. 15 Fichte: SW X : 89. 16 Ebda. 17 Die sich in der Trennung von Verstand und Gefühl ausdrückende Grundlagenkrise des Wissens führt in letzter Konsequenz zu einem strukturellen Verlust der Realität (Heidegger hat es Seinsvergessenheit genannt), und zwar bedingt durch strukturelle Kompensationsdissoziation und Komplexitätsüberlastung der in die gesellschaftlichen Abläufe hyperinkludierten Individuen. Man könnte diese Pathologien der Normalität auch einfach als Ablenkung durch Betäubung bzw. umgekehrt als Betäubung durch Ablenkung nennen, jedenfalls können strukturell dissozierte Individuen vielfach schon auf der basalen Ebene alltäglicher Gefühle kaum wirkliche Grenz- und Realitätserfahrungen machen, wie sie zu ihren tieferen Grund- und Seinserfahrungen (Dürkheim) vorstoßen sollen. 18 Vgl. Fußnote 7.
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nen es natürlich nicht hinnehmen, den Verstand zu verlieren, ohne einen neuen erweiterten Verstand dabei zu aktualisieren. Wenn sich diese Überlegungen bestätigen, würde das nicht nur die Denk- und Freiheitsräume des Menschen beträchtlich erweitern, sondern auch den Selbstverständigungshorizont der säkularisierten Moderne, deren Hauptproblem im Grunde immer noch ein fundamentales Geltung- und Rationalitätsdefizit darstellt (eben die selbst induzierte, nach wie vor aber ungelöst aufgeschobene Letztbegründungsproblematik), in ihrer Auseinandersetzung mit sich selbst, und hier insbesondere mit ihrer massiven strukturellen Pfadabhängigkeit von einem reduktionistischen Begriff endlicher Vernunft. Die alternativen theoretischen Konzepte, Ansätze und empirischen Befunde dazu werden seit mindestens 200 Jahren in der Schublade gesammelt, sie werden aber aus unterschiedlichen Gründen nicht flächendeckend systematisch erforscht und haben es deshalb auch schwer, zur common opinion durchzudringen. Sagen wir es so: Wenn sich im Mainstream, im Sinne des Thomas-Theorems 19 die Pfadabhängigkeit des Trennungsparadigma, von einer Generation auf die nächste vererbt, blockiert die reduzierte Wirklichkeitssicht fortwährend systematisch die Möglichkeit anderer neuer Erfahrungen und damit anderer und neuer Gesellschaftsformen. 20 Das Problem der Bewußtseinserweiterung war schon immer, daß dieser Weg elitär war, also langwierig, tiefgreifend und nicht profitorientiert. Sollte sich zeigen, dass diese self-fullfilling prophecy der moderVgl. »If men define situations as real, they are real in their consequences.« W. I. Thomas and D. S. Thomas: The child in America: Behavior problems and programs. New York 1928, S. 571–572. 20 Das Thomas-Theorem gilt ja auch umgekehrt: »Wenn Menschen Situationen nicht als real definieren, erzeugen sie auch keine Konsequenzen«, ergo sind sie im sozialen Sinn inexistent. Eine Voraussetzung, wie die unsere, die nicht nur das eigene authentische Fühlen zum Dreh- und Angelpunkt individueller Autonomie und zur Wurzel der Realitätsauffassung überhaupt macht, sondern darüber hinaus am Grunde der Moderne eine verdrängte Tiefendimension einer integralen Verbindung von Verstand, Gefühl und Sein supponiert, wird von soziologischen Theorien wie der Theorie reflexiver Modernisierung (für die Systemtheorie, soziologische Handlungstheorien, strukturalistische Theorien gilt dasselbe) in ihrer Gesellschaftsdeutung (unabhängig davon, ob sie menschliches Erfahrungswissen nun reflexiv berücksichtigen oder nicht) natürlich ausgeblendet; nichtsdestoweniger sind die soziologischen Erklärungsansätze recht erfolgreich, weil diese integrale Tiefendimension tatsächlich in unseren öffentlichen Kommunikationsströmen bisher kaum eine Rolle spielt, daher können sie viele der sichtbaren gesellschaftlichen Dynamiken erfassen, reproduzieren jedoch dadurch zugleich den reduktionistischen Status quo. 19
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nen Gesellschaft tatsächlich faktisch weitgehend geschlossen ist, könnte es sogar sein, dass es nur eine transzendentale Antwort gibt: Wenn die gesellschaftlichen Subsysteme den Status quo reproduzieren, kann es nur einen stillen, informell-oralen, gleichsam subkutanen, inneren Paradigmenwechsel der kognitiv-emotionalen Voraussetzungen der Individuen geben, innerhalb der noch bestehenden gesellschaftlichen Freiräume und Nischen, mehr oder weniger unbemerkt von der öffentlichen gesellschaftlichen Kommunikation und ihren soziologischen Interpreten. Wir können an dieser Stelle natürlich nicht alle Voraussetzungen erörtern, die eine solche veränderte Sicht des Verhältnisses von Gefühl, Verstand und Wissen betreffen, dazu verweise ich den Leser auch an die aufschlussreichen Arbeiten in diesem Band und die zahlreichen Gewährsleute, die zu diesem Thema forschen. 21 Und natürlich sei hier das letzte Wort auch noch nicht gesprochen, weder bei Schmitz noch in diesem Band. Aber, nach allem, was wir wissen, scheint es ein langer und vor allem schleichender Prozess gewesen zu sein, der zunächst untergründig stattfand, und erst mit der Aufklärung und Moderne aus der Latenz in die sichtbare Manifestation getreten ist und aller Voraussicht nach wird auch das bestehende reduktionistische Paradigma ebenfalls nur langsam ausgeschlichen werden können. Schmitz verlegt den Beginn dieses gewaltigen Trennungsparadigmas in die klassische Antike, und versteht ihn als Produkt eines für die europäische Kultur insgesamt charakteristischen tiefen Rationalismus, führt ihn aber – aus meiner Sicht zu einseitig – allein auf das »Erbe des Diktats der antiken Philosophen« 22 zurück. Und es ist Vgl. Fußnote 7. Vgl. Schmitz: »Die von mir vertretene, phänomenologisch gestützte Gefühlsauffassung schlägt dem ins Gesicht, was der aufgeklärte Europäer bisher mit völliger Selbstverständlichkeit vom Gefühl hält. Nach ihm sind Gefühle private Seelenzustände, während der Raum die Domäne der Physik sein soll, in der keine Gefühle vorkommen, wohl aber Gehimzustände, auf die man neuerdings, um die Domäne der Physik total zu machen, Seelenzustände zurückführen will. Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit ist das Erbe des Diktats der antiken Philosophen, genauer eines Paradigmenwechsels, der sich unter deren Federführung – aber nicht nur in ihren Reihen – in der zweiten Hälfte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts (noch kurz vor Platons öffentlicher Wirksamkeit) ereignet hat und seither die europäische Intellektualkultur mit wenigen Ausnahmen (z. B. im spätantiken Neuplatonismus) beherrscht. Das neue Paradigma ist psychologistisch, reduktionistisch und introjektionistisch.« https://www.slm.uni-hamburg.de/germanistik/personen/benthien/down loads/emotionalitaet-schmitz.pdf, S. 43.
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vielleicht auch zu billig und aufgrund der unzweifelhaften wissenschaftlichen und technologischen Erfolge der Reflexion zudem auch unwahrscheinlich – von einer reinen Verlust- bzw. Verfallsgeschichte der europäischen Kultur und des reflexiven Denkens auszugehen. Zutreffender scheint eine Deutung wie die Fichtes zu sein, der das gegenwärtige Zeitalter als notwendige Durchgangsstufe betrachtet zu einer voller entwickelten Freiheit. 23 Das gegenwärtige Zeitalter freien reflexiven Denkens macht das Leben dadurch, dass es alle Dogmen hinterfragt, ohne Zweifel flüssig, plastisch, gestaltbar und versetzt den Menschen überhaupt erstmal in Disposition, die Strukturen selbstverschuldeter Unmündigkeit tiefer zu verstehen und eventuell zu überwinden, denn vorher war das Leben in der Breite ja keineswegs freier. Also, man darf nicht die Augen davor verschließen, dass dem reflexiven Denken in seiner ganzen Quecksilbrigkeit ein strukturell zutiefst dogmatisches Element zueigen ist, das es mit seinen eigenen Mitteln nicht zu überwinden in der Lage ist. Seine Krankheit kann man einen performativen Realismus nennen. Ja, hier muss sogar von einer struktruellen Pathologie der Moderne die Rede sein, gründend auf den in-sich-geschlossenen Strukturen des endlichen rationalen Selbstbewusstseins (cogito), die einen latent autoimmunen Krankheitsverlauf hat, durch den sie sich auf den Wegen der fortwährenden Selbstoptimierung selbst innerlich aufzehrt und erschöpft. 24 Die Unwissenheit der Moderne nährt sich aus ihrem Glauben an das Wissen. Vgl. Fichte: Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. SW VII : 1–256. Derrida hat diese strukturelle Ambivalenz der Aufklärung sehr klar gesehen und erklärt sie aus dem fehlgeleiteten metaphysischen Anspruch. Einerseits hat die Aufklärung durch den notwendigen Tod Gottes die Würde des endlichen und fehlbaren Menschen wie keine andere Epoche vor ihr geadelt, gewissermaßen heiliggesprochen. Andererseits hat sie sich dadurch aber auch wie keine andere vor ihr in einen furchtbaren double bind gesetzt, in eine doppelte Ambivalenz, deren Gesetz, mit Derrida gesprochen, darin besteht: »dass das Gesetz des Heilen, das Heil des Geborgenen, die schamhafte Achtung und Ehrfurcht vor dem Sakrosankten (heilig, holy) das Opfer sowohl fordert, als auch ausschließt.« (85 f.) Der moderne Mensch lebt in diesem irreduziblen Paradox, das sich mit der Absolutsetzung der endlichen Subjektivität zwangsläufig ergibt, und es konfrontiert ihn fortwährend mit sich selbst, seinen Grenzen. Unter den Bedingungen fortgesetzter Rationalisierung ist es kein Wunder, dass das überforderte Individuum nach technisch-praktischen Lösungen sucht, um aus diesem double bind herauszukommen. Es herrscht nach Derrida die »Gewalt des Opfers im Namen des Nicht-Gewalttätigen. Die bereits von Immanuel Kant geforderte absolute Achtung des Menschen vor sich selbst, befiehlt zunächst die Selbstaufopferung, das Opfer des Wertvollsten und Wichtigsten.« (86) und führt so zur
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Wir sagen also: Was wäre beispielsweise, wenn die Moderne nicht nur, wie Ulrich Beck annimmt, einen strukturell reflexiven Prozess darstellt 25, sondern radikaler einen älteren, in-sich-geschlossenen, strukturell exponentiellen Prozess, in welchem ein linearer Zuwachs an materialen Freiheitsleistungen, Rechten und Erkenntnissen von einer formal-exponentiellen Steigerung an struktureller Komplexität und Ignoranz begleitet und konterkariert würde – gewissermaßen ein reflexiver Prozess mit transzendentalem Speicherbewusstsein. 26 Oder anders gesagt: Wenn Verstand, Sein und Gefühl ein Kontinuum bilden und indifferent zusammenfallen, kann kein Gedanke von keinem folgenlos bleiben, nur dass, wo dieser Umstand strukturell ausgeblendet würde, die Folgen nicht anders als überraschend, plötzlich und eben zufällig erschienen, und zwar selbst dort, wo der höchste Planungsaufwand getrieben würde sie zu prognostizieren. 27 strukturellen Selbstkastration. Denn sie führt nicht nur zur verherrlichenden Selbstunterwerfung des Menschen unter die anonyme Maschine, sondern fordert stets auch den Kampf dagegen: beides im Namen derselben Achtung und Ehrfurcht. Vgl. Derrida, Jacques: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an den Grenzen der bloßen Vernunft. In: Die Religion. hgg. v. Jacques Derrida u. Gianni Vattimo, Frankfurt a. M. 2001, S. 9–106. 25 Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986; bzw. Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a. M. 1993; bzw. Ders. mit Anthony Giddens und Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a. M. 1996. 26 Vgl. die buddhistische Vorstellung eines Speicherbewußtseins, ālaya-vijñā nā, z. B. auf https://de.wikipedia.org/wiki/Speicherbewusstsein. 27 Vgl. auch Fußnote 4. Was es mit einer strukturell exponentiellen Modernisierung auf sich hat, kann anhand der These einer Beschleunigung der Moderne, also einer Veränderung ihrer Zeitstruktur, von Hartmut Rosa verdeutlicht werden. Rosa definiert »Beschleunigung als Mengenzunahme pro Zeiteinheit bzw. gleichbedeutend als Reduktion der benötigten Zeit pro Mengeneinheit; bei der Menge kann es sich um so verschiedene Sachen handeln wie eine zurückgelegte Wegstrecke, eine kommunizierte Datenmenge oder produzierte Güter.« (S. 115) Beschleunigung wird von Rosa also quantitativ gefasst, auch wenn er die Beschleunigungsraten und die Wachstumsraten miteinander in Beziehung setzt, arbeitet er mit einem quantitativen Beschleunigungsbegriff: »In dem Maße, wie Beschleunigungsraten hinter den korrespondierenden Wachstumsraten zurückbleiben, vergrößert sich die Zeitknappheit; in dem Maße, wie Beschleunigungsraten die korrespondierenden Wachstumsraten übersteigen, steht mehr Zeit zur Verfügung; sind Beschleunigungs- und Wachstumsraten identisch, dann bleibt auch die Ressource Zeit identisch« (S. 119). Sie bleibt aber nur quantitativ identisch. Wenn man bspw. annimmt, dass sich die Wachstumsraten und Beschleunigungsraten entsprechen, dann hätte das Individuum durch technologischen Fortschritt zwar quantitativ genauso viel Zeit zur Verfügung, wie vor der Be-
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Schon Beck schreibt: »Reflexive Modernisierung meint […] eine potenzierte Modernisierung mit gesellschaftsverändernder Reichweite« 28. Er kann daraus auf Basis seiner Prämissen (gemäß des Trennungsparadigma) aber noch nicht die Konsequenz eines intrikaten exponentiellen Verlaufs ziehen, sondern versteht den Prozess abstrakt als eine einfach selbstbezügliche, sozusagen digitale Selbstreferenzialität der einfachen Moderne auf sich selbst. Reflexive Modernisierung heißt daher bei Beck »eine zunächst unreflektierte, gleichsam mechanisch-eigendynamische Grundlagenveränderung der entfalteten Industriegesellschaft, die sich im Zuge normaler Modernisierung ungeplant und schleichend vollzieht und die bei konstanter, möglicherweise intakter politischer und wirtschaftlicher Ordnung auf dreierlei zielt: eine Radikalisierung der Moderne, welche die Prämissen und Konturen der Industriegesellschaft auflöst und Wege in andere Modernen – oder Gegenmodernen – eröffnet. Reflexive Modernisierung behauptet also das, was von den beiden Kronzeugen ›einfacher‹, schleunigung, so dass sich sogar eine angenommene exponentielle Beschleunigung neutralisieren würde, wenn das Wachstum von Fortschritt und Beschleunigung pari ist. Aber faktisch produziert, transportiert und kommuniziert man selbst dann nicht nur schneller und mehr, sondern auch qualitativ und das heißt gefühlsmäßig anders. Ein Beispiel Rosas mag das »Zwar mag das Schreiben und Absenden einer E-Mail nur halb so viel Zeit in Anspruch nehmen wie das eines herkömmlichen Briefes, doch wenn man heute täglich viermal so viele E-Mails schreibt, wie man früher Briefe geschrieben hätte, so wäre das eine Verdoppelung der der Kommunikation gewidmeten Zeit.« (S. 119, Fußnote 11) Aber wird wirklich mehr gesagt, wenn schneller geschrieben wird? Wie jeder einsehen kann, schreibt und denkt man, wenn man vier EMails anstelle eines Briefes schreibt, völlig anders. Es ist vor dem Horizont der gefühlsmäßigen Realität (und um die geht es, wenn man die Trennung von Gefühl und Verstand nicht mitmacht), einfach etwas völlig anderes, einen Brief zu schreiben. Es sind aus dieser qualitativen Perspektive zwei vollkommen unterschiedliche Handlungen und Realitäten. So verändert sich eben die Welt durch Modernisierung auch in einem qualitativen Maß. Es ist insofern konsequent, dass Rosa nach seiner Beschleunigungstheorie eine Theorie zur soziologischen Resonanz erarbeitet habt, um diesen qualitativen oder gefühlsmäßigen Aspekt sozialen Lebens zu beschreiben. Jedoch sind Resonanzen keine ergreifenden Atmosphären (Schmitz) und stellen wiederum eine Rationalisierung und Quantifierung eines absolut Qualitativen dar, welches mit einem intuitiven Verstand am Grunde des Bewusstseins gegeben wäre. Die Frage, wie man die Beschleunigung wahrnimmt, dürfte zudem nicht nur eine technologische Frage des Verhältnisses von Beschleunigung und Wachstum sein, sondern zentral auch davon abhängen, womit ein Individuum identitfiziert ist: mit Begebenheiten seiner Umwelt, mit seinem reflexiven Verstand, mit seiner transreflexiven Kern-Intuition. (Zitate aus Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005). 28 Beck 1996 : 30.
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d. h. klassischer, industriellgesellschaftlicher Modernisierung – Marxisten und Funktionalisten – im Konsens ihres Gegensatzes ausgeschlossen wird: keine Revolution, aber eine andere Gesellschaft.« 29 Eine Theorie reflexiver Modernisierung kann hervorragend – hier liegt sicherlich ihre Stärke – die ambivalente, schleichende, unpolitische und ungewollte Seite der gesellschaftlichen Transformation beschreiben, aber keine intrikate exponentielle Beschleunigung und struktuelle Hyperverkomplexierung erfassen, die gewissermaßen rational inkommensurabel, nur noch intuitiv erfahrbar sein würde. Dazu fehlt ihr das stehende innere transzendente Kontinuum der ursprünglichen Einheit von Verstand und Gefühl als Voraussetzung, in die sich alle individuellen Freiheitsakte gleichsam eingravieren und Wirkungen und Resonanzen auf das Ganze hinterlassen. 30 Gewiss, Ebda : 29 f. Um einen derartigen Prozess zu beschreiben, muss man eher auf eine transzendentale Theorie zurückgreifen, wie Schelling sie in seiner Freiheitsschrift oder Denker wie Fichte, ab 1813, der späte Husserl und Michael Henry entwickelt haben. Vielleicht gibt es Ansätze dazu bei Hartmut Rosa (vgl. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M. 2016.). Auch diese müsste allerdings noch dahingehend spezifiziert und erweitert werden, dass sie die hier supponierten exponentiellen Entgleisungen von reflexiven Ratioalisierungsprozessen zu beschreiben vermag. Jedenfalls läge in dem Konzept einer resonanten Weltbeziehung, einer »Subjekt-Objekt-Beziehung als schwingendem System«, zumindest ein quantitativer Ansatz, sich der von der Theorie reflexiver Modernisierung ausgeblendeten qualitativen und gefühlsmäßigen Dimension menschlicher Existenz wieder anzunähern. Eine solche Resonanz ist nach Rosa wesentlich dadurch charakterisiert, dass sie nicht planmäßig oder willentlich hergestellt werden kann, also unverfügbar ist. Dieses nichtoder a-rationale Moment würde sich mit dem Gefühls- bzw. Atmosphärenbegriff von Schmitz wenigstens strukturell decken. Die Kritik am Resonanzbegriff, dass dieser »nahezu beliebig wirke« und »dem Begriff Präzision fehle und er daher als sozialphilosophischer Grundbegriff, als den Rosa ihn postuliere, letztlich ungeeignet sei« (vgl. Martin Hartmann: Im Resonanzhafen bekommt die Welt ein anderes Gesicht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 5. April 2016; Jens Bisky: Mehr Resonanz wagen. In: Süddeutsche Zeitung. 28. Juli 2016), könnte man philosophisch dadurch entkräften, dass man zeigt, dass resonante Weltbeziehungen trans-reflexiver Natur sind und von daher nicht ohne weiteres an einem wissenschaftlichen Erklärungsbedürfnis gemessen werden dürfen, das die Trennung von Gefühl und Verstand voraussetzt. Auch der Kritikpunkt, dass der resonanztheoretische Ansatz keine konkreten gesellschaftspolitischen Lösungen aufzeige, ist nur dann ein Argument, wenn man an dem reflexiven Rationalitäts- und Realitätsbegriff der Moderne festhält. Es spricht vieles dafür, dass im trans-reflexiven Kern der Wirklichkeit eine anders geartete, unbegreifliche Rationalität wurzelt, die beispielsweise religiöse Lebensentwürfe ebenso motiviert wie begründet. Das Verhältnis von Religion und Aufklärung, Sakralität und Säkularität lässt sich m. E. auf zeitgemäße Weise nur durch einen starken fundamentalen
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wie gesagt, man müsste das Fühlen aus der rationalen Introjektion befreien, es als tieferes Erkenntnisorgan zulassen, als unbegreiflichen intuitiven Verstand, die Welt gleichsam zu sehen wie sie ist. 31 Die Überwindung der Unwissenheit der Moderne könnte gewissermaßen nur aus einem wissenden Nichtwissen gelingen, aus dem heraus die reflexive Freiheit in ein absichtsloses Handeln überginge und die reflexive Wissenschaft in einem Begreifen des Unbegreiflichen fundiert würde. Dogmatische Geschlossenheit bedeutet eben nicht nur, dass die Pfadabhängigkeit des Trennungsparadigmas für die reflexive Rationalität intrikat und insofern strukturell irreversibel wäre (aus eigenen Kräften kann sie die Trennung und Subordination des Gefühls nicht rückgängig machen), sondern eben auch und vor allem, dass jeder einzelne individuelle Freiheitsakt – jeder blinde ebenso wie jeder sehende – konkrete, also fühlbare, aber nicht unbedingt reflexiv verstehbare Folgen für das Ganze haben kann, die sich durch strukturelle Synergien und Rückkopplungen auch zu exponentiellen Peaks des Ganzen aufschaukeln können. 32 Erst unter dieser Perspektive würde Rationalisierung und Säkularisierung eine strukturelle ignoBegriff des Säkularen angehen, wie er im klassischen deutschen Idealismus in Ansätzen vorgelegt wurde. 31 Die Idee, dass die eigentliche Rationalität aus dem reflexiv inkommensurablen Gefühl spricht, findet man nicht nur in der negativen Theologie und in der Mystik durch das ganze Mittelalter hindurch (bei Augustinus, Platonismus, Neuplantonismus etc.), sondern auch in der Neuzeit bei Pascal, im Deutschen Idealimus bei Fichte, in der Moderne z. B. bei Max Scheler, Michel Henry, Hermann Schmitz. Es ist insofern keine Abstrusität, sondern ein philosophischer Gemeinplatz. 32 Exponentielle Verläufe, woher kennen wir das überhaupt und ist es eine signifikante Erscheinung unserer Zeit? Wir kennen es von jedem biologischen Zellwachstum, der Mitose, wo es aber nach einer Zeit in einen homöostatischen Prozess übergeht, und von exponentiellen Reproduktionraten (beispielsweise von Falter-Populationen), die sich aber durch Rückkopplungseffekte neutralisieren, bspw. dann wenn die Tiere nicht mehr genügend Nahrung finden. Wir kennen es vom Bevölkerungswachstum des Menschen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, der bisher aber aufgrund von Technologie die Probleme des Transports und der Nahrungsmittelproduktion immer effektiver zu lösen vermochte, sodass immer mehr Menschen sich erhalten und zudem vermehren können. Wir wissen von exponentiellen Verläufen bei Epidemien, ebenso bei atomaren Kettenreaktionen, Kernschmelzen. Wir kennen exponentielles Wachstum beim Krebs, wo das Zellwachstum in einen ungehemmten exponentiellen Verlauf eintritt, der für den Patienten tödlich ist. Wir kennen es vom Zinseszins, durch den sich die Geldmenge einerseits und andererseits der Betrag der Verbindlichkeiten exponentiell entwickelt. Wir kennen es von Schwingungskatastrophen, neuronalen Verschaltungen, Schwarmverbindungen und Rückkopplungsschleifen und wir kennen es
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rante Unkontrollierbarkeit annehmen, durch die reflexive Modernisierungsprozesse zwangsläufig auf faktische, wenn auch unberechenbare Grenzwerte hinauslaufen würden und dort immer schneller immer mehr ungeplante und unplanbare Nebenfolgen und Kollateralschäden erzeugte. Wenn sich das bestätigen sollte, würde das bedeuten, ja erfordern, die Hoffnungen auf eine Lösung der Modernisierungsprobleme innerhalb des Trennungsparadigma reflexiver Rationalität teilweise aufzugeben, und a forteriori, dass wir uns mit dem Gedanken anfreunden müssten, die Entscheidung für reflexive Rationitätstypen (denen wir die Trennung von Gefühl und Verstand ja verdanken) zugunsten einer reicheren Rationalität (sic!) zu revidieren. Dann läge auf dem Wege der Modernisierung nicht nur ihre reflexive Selbsttransformation, sondern ihre transzendentale Selbsttranszendierung. Nach Lage der Dinge würde, aufgrund der unterstellten Geschlossenheit und strukturellen Ignoranz reflexiver Rationalitätstypen, der experimentelle Ansatz bei einem problematischen, aber reflexiv inkommensurablen intuitiven Rationalitätsvermögen nicht einmal unter Voraussetzung des Trennungsparadigma ein argumenatives Problem darstellen, jedenfalls wenn die Erforschung und Beschreibung der Leistungscharakteristika desselben kritisch, systematisch und hypothetisch vorgetragen würden, indem der Sache nach (seit je) nur aus einem solchen höheren Vermögen heraus die insich-geschlossene Unwissenheit reflexiven Denkens zu relativieren ist. Die Theorie der reflexiven Modernisierung würde gegenüber diesem Szenario nur eine teilweise zutreffende, aber strukturell inkonsequente, gewissermaßen abstrakte Situationsbeschreibung abliefern und in der Gefahr sein, auch dann noch den Schein einer politischen Gestaltbarkeit und rationalen Beschreibbarkeit der Krise zu reproduzieren, wenn diese schon längst aus dem Ruder gelaufen ist. Die Frage ist also, welcher Situation nähern wir uns heute, wie ist die fortgesetzte Verselbständigung, Beschleunigung und Anonymisierung rationaler Prozesse durch KI und Robotik bei gleichzeitig wachsender Abhängigkeit des Menschen zu bewerten. Hier läge eine wichtige Aufgabe für eine zukünftige Philosophie. eben auch von reflexiven, iterativen und rekursiven Prozessen, wie der komplexen Verwaltung von Komplexität.
30 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Einleitung
Nimmt man einen strukturell exponentiellen Prozess der Rationalisierung an, könnte verständlich werden, dass es sich bei der Modernisierung um einen viel älteren langwierigeren schleichenden Prozess handelt: Ein und dieselbe Struktur kann in ihren intrikaten Nebenfolgen sehr lange Zeit latent, kaum merklich und vollkommen handhabbar scheinen und sich trotzdem, bloß durch Fortsetzung der derselben Problemlösungsstrategien, plötzlich wie eine Explosion ins entgleisend Unkontrollierbare und Dysfunktionale hinein entladen. 33 Was für die rationale Zeitgenossenschaft strukturell unfassbar wäre, könnte auf der gefühlsmäßigen Ebene von einzelnen Individuen (Warnern, Visionären, Sehern, Schamanen, Propheten), die für diese Dimension Augen hätten, bereits in den ersten Anfängen gesehen werden (ohne dass sie sich ironischerweise Gehör verschaffen könnten). Ist das bloße Spielerei? Diese Auffassung würde jedenfalls formal vielen Ergebnissen der Theorie reflexiver Modernisierung (und Warum überhaupt die Idee einer exponentiellen Modernisierung, statt einer reflexiven: Um ein transzendental noch begreifliches Momentum eines der reflexiven Rationalität strukturell Entzogenen und Entgleisenden thematisieren zu können, ohne die Trennung von Gefühl und Verstand bzw. von Welt und Subjekt zu iterieren bzw. zu reproduzieren. Daher beschreiben wir hier die intrikaten, nur noch fühlbaren Folgen reflexiver Modernisierungsdynamiken, die einer Rationalisierung unter dem Trennungsparadigma entzogen sind, mithin für diese Perspektive arational, zufällig und kontingent erscheinen müssen. Auf Basis des vorausgesetzten Gefühl-VerstandKontinuums sind diese Resonanzen bzw. Entladungen jedoch die konkreten Folgen der strukturellen Ignoranz und Gewalt des eingeschränken Freiheitsbegriffs. Was ist konkret gemeint: Krankheiten, Kriege, Erdbeben, Katastrophen, Epidemien, Unglücke erscheinen nur auf Basis des Trennungsparadigma zufällig, könnten aber auf Basis des integralen Paradigma den sehr konkreten Sinn einer Entladung exponentieller peaks annehmen. Sie ließen sich auch dann nicht rational prognostizieren, wären jedoch einem intuitiven Verstande durchaus als konkrete Rückwirkungen kollektiven Freiheitsmissbrauchs transparent und erschienen hier faktisch in der Tat als den Leib ergreifende, verletzende Mächte und bedrohliche, mörderische und unwirtliche Atmosphären, durch die sich kollektiver Freiheitsmissbrauch gefühlsmäßigen Ausdruck verschaffen würde. Das ist nicht nur ein alter Gedanke der Religionen, sondern auch Schellings, aus der Freiheitsschrift von 1809: »Das treffendste Gleichniß bietet hier die Krankheit dar, welche als die durch den Mißbrauch der Freiheit in die Natur gekommene Unordnung das wahre Gegenbild des Bösen oder der Sünde ist.« (SW VII : 366). Dem müsste aber mit dem späten Fichte eine sauberere epistemologische Ableitung und Durchdringung gegeben werden (vgl. Wissenschaftslehre 1813, SW X : 25 ff.), sodass nicht Gott, sondern der Mensch als Kollektiv die Verantwortung für die Inkontingenz der Welt trüge. Freilich ist hier aus begreiflichen Gründen die Forschungsarbeit noch im Anfangsstadium.
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Einleitung
anderer moderner Soziologien) keineswegs widersprechen (und könnte an viele Forschungsergebnisse anknüpfen), derzufolge die Selbstbezüglichkeit der Moderne ohnehin ein Momentum unintentierter Selbstverstärkung enthält, durch die fortgesetzte Optimierungen zu Dysfunktionalität und ungebremste Rationalisierung zu struktureller Irrationalität führen. 34 Es wäre hierdurch wie gesagt auch klar, warum die Rationalisierung eine Revision jener uralten vorreflexiven Entscheidung nicht aus eigenen reflexiven Beständen erreichen könnte, sondern nur durch einen Sprung, einen völlig neuen Gedanken – und bekanntlich gibt es in allen Zeiten und aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen zahllose Belege für Menschen, die von solch einem Sprung berichten. Ohne Frage dürfte eine solche Revision keine Rückkehr zu einer archaischen oder irrationalen Einstellung bedeuten. Der Ausgang aus der strukturellen Ignoranzfunktion der Moderne wäre überhaupt nur durch einen absichtslosen Sprung, in eine andere transintentionale Binnenlogik der Subjektivität zu erreichen. Es müsste sich also die jenseits und als Voraussetzung der reflexiven Intentionalität im problematisch vorausgesetzten ›vorreflexiven‹ Grund der Subjektivität die Möglichkeit eines zeitlosüberzeitlichen Sinnes für eine höhere oder integrale Form von Rationalität kritisch erweisen lassen, durch den sich – wir wissen noch nicht wie und ob – die Integration von Gefühl und Verstand auch reflexiv nachvollziehen ließe. Vergessen wir nicht, dass wir hier ein experimentelles Denken an den Grenzen des Wissens wagen, bei dem wir auch dann gewinnen, wenn wir falsch liegen sollten. *
* *
Wo stehen wir heute? Unter dem Trennungsparadigma führt der Aufklärungsprozess neben seinen vielen unzweifelhaften Errungenschaften für die Etablierung der Humanität eben auch zu einer fortgesetzten Untergrabung des humanen Maßes und steuert in struktureller Ambivalenz sowohl auf immer höhere Grade individueller Freiheit und Selbstbestimmung wie auch auf immer schlimmere technoide wie anonyme Formen strukturell entgleisender auto-immuner Gewalt bzw. Ungerechtigkeit zu. Aber Halt! Sprung! Das Absolute ist das Absolute und jedes weitere Wort ist von Übel. Über das Wichtige im Leben spreche nicht; 34
vgl. Fußnote 24.
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Einleitung
das Wichtige lässt sich nicht aussprechen! Schweige! Das Absolute öffnet sich nur dem gedankenleeren Schweigen, der reinen Stille. Aus diesem Grund liegt das Tiefste im Lebensgefühl der Menschen im toten Winkel der Interessenvertretungen der Moderne und rutscht dadurch als Kriterium rationaler Selbststeuerungsprozesse eben auch dann vom Tisch, wenn versucht wird, eine menschenwürdigere Welt zu schaffen und Ungerechtigkeiten, Gewalt und Krieg zu bekämpfen. Erst dies ist es, was die Moderne so halt- bzw. bodenlos macht, warum ihr etwas Maßloses und Selbstzersetzendes innewohnt, warum viele Entwicklungen auf der Erde so eine krebsartige Gestalt annehmen und der Glaube an Fortschritt so naiv und eindimensional erscheint. Aufgrund der Unsagbarkeit, der Unaussprechlichkeit des Tiefsten und Wichtigsten im Lebensgefühl der Menschen entgleitet modernen Gesellschaften der Diskurs über das Maßgebliche, deshalb können die zur Maßlosigkeit neigenden rationalen Prozesse der Modernisierung weder gemessen noch gemäßigt werden – wohl aber gefühlt. 35 Heute stehen wir in einer Situation, in der die durch technologische Entwicklung (v. a. Digitalisierung, KI, Robotik, Nano-Technologie etc.) induzierte sich verselbständigende Reaktionsgeschwindigkeit des globalen Informationsaustausches, des Sagens und Sprechens, der Kommunikation, in eine exponentielle Steigerung hineinläuft, die sich irgendwann energetisch entladen und dazu führen kann, dass eine Vielzahl von Individuen ihren reflexiven Verstand, und damit ihre Existenzgrundlage, ihr Ich, nicht mehr aufrecht erhalten können. Unter der angesetzten Prämisse der Exponentialität des Prozesses bleibt sogar der technologischen aber von endlichen natürlichen Faktoren abhängigen Rationalität letztlich keine Chance, reflexiv hinterher zu kommen: Selbstkontrolle, Gewaltenteilung, Technikfolgenabschätzung, Regulierungs- und Präventionsmaßnahmen – erfunden, um uns vor den tödlichen Auswirkungen menschlicher Freiheit- und Erfindungsgabe zu bewahren – können das ÜberWo Gefühl subjektiv aber irrational und objektives Wissen fallibel ist, ist Gewissheit und Sicherheit verloren. Wissen, an sich wertneutral, bräuchte eine endlose Reflexion zur Bewertung: eine schlechte Unendlichkeit, die nie bei einem authentischen Gefühl für Wert anlangt. Der rationale Mensch weiß heute der Tendenz nach nicht mehr, was er tun soll: Seinem Gefühl soll er nicht trauen, seinem Verstand fehlt die gefühlsmäßige Selbstverständlichkeit, er muss entweder willkürlich entscheiden oder er bleibt unentschieden. Dabei muss er heute immer mehr Entscheidungen in immer kürzerer Zeit treffen.
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Einleitung
maß an Information heute nicht nur nicht mehr verarbeiten, sondern sind immer mehr selbst der schlimmste Teil des Problems. 36 Die Rede ist von einer technisch induzierten Hyperkomplexität, da, wie gesagt, heute Komplexität nur durch Produktion weiterer Komplexität reduziert wird. Ein schleichender Informationsoverkill, bei gleichzeitiger begleitender technologischer Ignoranz der Nutzer, drängt die individuellen Selbstbewusstseine entweder in Richtung Kollaps oder in Resignation durch Kompensation. Das einzelne Individuum vermag die Dramatik exponentieller Dynamiken, denen es kaum rational zu folgen in der Lage ist, erst Recht nicht subjektiv, also gefühlsmäßig zu verarbeiten, d. h. es erleidet sie und entfremdet sich zusehends (wenn es nicht einen anderen Ausweg findet). Die Schere zwischen rationaler Weltsicht und emotionaler Überforderung des ins Private abgespaltenen Gefühlshaushalts geht immer weiter auf. Diese Problematik verschärft sich noch einmal aufgrund global schrumpfender Ressourcen (peak of everything), überreizter psychischer Kompetenzen und multilateral interferierender Machtblöcke, Ebenen (lokal, national, international, transnational, interkontinental) und Handlungskausalitäten. Die Grundlagenkrise des Wissens äußert sich heute also vor bzw. durch einen fühlbaren Untergrund galoppierender Beschleunigung, Atomisierung, Anonymisierung und Verkomplizierung des modernen Lebens, verbunden mit vielfältigen Kompensationspraktiken, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Sie zeigt sich als schleichende Nivellierung und umwertende Verwandlung der traditionellen Begriffe, der kulturellen Überlieferung und Traditionen (in Medien, Bildung, Wirtschaft, Politik, Gemeinwesen etc.); sie zeigt sich global an einem bis zu Krieg und Terror sich verschärfenden inneren wie äußeren Konflikt von dysfunktional gewordenen gesellschaftlichen Teil- und Subsystemen, von Nationen und transnationalen Syndikaten. Sie zeigt sich dem kritischen Auge im Grunde überall. – Aber genau darum, könnte man sagen, zeigt sie sich eben gerade nicht! Jede Information wird von einem ihr gewissermaßen genau proportionierten Maß an faktischer oder möglicher (weil faktisch aus Zeitnot nicht überprüfbarer) Desinformation und multilateraler HintergrundkomDie bestehenden gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme laufen aufgrund rational erzeugter Hyperkomplexitäten in immer schwierigere strukturelle Insuffiziensleistungen hinein, die gefühlsmäßig immer weniger zu integrieren sind. Mit Bazon Brock gesprochen: Wir vermögen Probleme nur durch Schaffung neuer Probleme zu lösen. Ich muss die zahllosen Beispiele hier als bekannt voraussetzen.
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Einleitung
plexität derart neutralisiert und verhüllt, dass vor lauter Initiativen kein klares Bild zu einer politischen Initiative entstehen kann. Das Übermaß an Information und Perspektivität verhindert die Bildung eines stabilen Willens für eine gesellschaftliche Richtungsänderung bzw. wenn es dann doch – per Machtspruch weniger – zur Bildung einer Partei oder Bewegung kommt, passiert dies abstrakt, mehr aus Zufall, über eine disparate Mischung sehr heterogener Gründe und Motive hinweg, also ohne wirkliche Sammlung. Information und Desinformation werden heute, absolut betrachtet, zusehends relativ. In diesem Verblendungszusammenhang gibt es keinen Verführer (auch wenn sich gerade angesichts der Hyperkomplexität als Kompensation lineare Verschwörungstheorien mit eindeutigen Feindbildern anbieten), vielmehr ist die Selbstverführung strukturimmanent. Das reflexive Denken verantwortlicher Individuen, in dem Kant oder Habermas das Selbstvertrauen und zentrale Movens der modernen Welt und ihrer Errungenschaften begründet sein lassen wollen, ist heute an ein faktisches und zwar technisch induziertes Ende gekommen. Der Versuch des Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zeigt sich mehr und mehr als strukturelle Ignoranz: Dies ist die eigentliche selbstverschuldete Unmündigkeit der Aufklärung. Aber diese Tendenz ist für die gesellschaftliche Selbstbeobachtung natürlich unsichtbar, da sie einerseits wie ein Virus gerade auch jene rationalen Normenkontrollverfahren kapert, die der Selbstkontrolle und Aufdeckung dieses Zusammenhangs dienen und andererseits ein unabhängiger Standpunkt fehlt, denn die interdependenten reflexiven Kommunikationsprozesse der Gesellschaft inkludieren sich formal vollständig, selbst wenn sie sich materialiter thematisieren. So führt der rationale, in soziale Interdependenzen und Systeme eingebundene Akteur sich heute selbst – wie Hamlet – durch den Anspruch verantwortlichen Handelns ad absurdum, reproduziert aber ein historisches Geschichtsbild, dass weiterhin reflexive Lösungen und Modernisierungen möglich erscheinen. Es geht, wie gesagt, nicht darum, dass die Prozesse sich nicht technisch weiter rationalisieren und beschleunigen ließen (dieser Teil der Rationalisierung und Technisierung war ja nie das Problem) und es geht auch nicht darum, dass es nicht en detail und teilweise auch en gros materialen Erkenntnisfortschritt gäbe. Es ist vielmehr genau umgekehrt, gerade deswegen läuft ja die reflexive Rationalisierung strukturell in immer mehr exponentielle Insuffizienzen einer Komplexitätsfalle: Das menschliche Maß wird überschritten und sukzessive überspannt, indem der 35 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Einleitung
Mensch sich unter die Anforderungen einer Maschine setzt, die er geschaffen hat, um seinen eigenen Erfindungen gerecht werden zu können; und so werden nicht nur emotional, sondern vor allem auch rational, aus guten Absichten immer mehr Umstände erzeugt, die keiner gewollt hat und auch keiner wollen kann – zugleich fordert aber die zweite Unmittelbarkeit der Aufklärung das fortgesetzte Selbstopfer unter die allgemeine Maschine. 37 Hierzu, ohne weitere Worte, die kleine Erzählung aus dem südlichen Blütenland: »Dsi Gung war im Staate Tschu gewandert und nach dem Staate Ding zurückgekehrt. Als er durch die Gegend nördlich des Han-Flusses kam, sah er einen alten Mann, der in seinem Gemüsegarten beschäftigt war. Er hatte Gräben gezogen zur Bewässerung. Er stieg selbst in den Brunnen hinunter und brachte in seinen Armen ein Gefäß voll Wasser herauf, das er ausgoß. Er mühte sich aufs äußerste ab und brachte doch wenig zustande. Dsi Gung sprach: ›Da gibt es eine Einrichtung, mit der man an einem Tag hundert Gräben bewässern kann. Mit wenig Mühe wird viel erreicht. Möchtet Ihr die nicht anwenden?‹ Der Gärtner richtete sich auf, sah ihn an und sprach: ›Und was wäre das?‹ Dsi Gung sprach: ›Man nimmt einen hölzernen Hebelarm, der hinten beschwert und vorne leicht ist. Auf diese Weise kann man das Wasser schöpfen, daß es nur so sprudelt. Man nennt das einen Ziehbrunnen.‹ Da stieg dem Alten der Ärger ins Gesicht, und er sagte lachend: ›Ich habe meinen Lehrer sagen hören: Wenn einer Maschinen benützt, so betreibt er all seine Geschäfte maschinenmäßig; wer seine Geschäfte maschinenmäßig betreibt, der bekommt ein Maschinenherz. Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiß in den Regungen seines Geistes. Ungewißheit in den Regungen des Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren SINNE nicht verträgt. Nicht daß ich solche Dinge nicht kennte: ich schäme mich, sie anzuwenden.‹« 38 *
* *
Vgl. Derrida, Jacques: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an den Grenzen der bloßen Vernunft. In: Die Religion. hgg. v. Jacques Derrida u. Gianni Vattimo, Frankfurt a. M. 2001, S. 86 ff. 38 Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Köln, Düsseldorf 1979, S. 135 f. 37
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Einleitung
Wir sagen: Die von uns allen erlernte und internalisierte Vorentscheidung, Wissen nur unter Voraussetzung einer Trennung von Gefühl und Verstand anzuerkennen, bringt zwischen die ursprüngliche Lebenswelt, das alte Wissen, die erste Unmittelbarkeit, das neue Wissen, einen konstitutionellen Willkürakt und damit faktisch irgendwo eine letztlich zufällige (Verstandes-) Grenze. Durch diesen quasitranszendentalen Konstitutionsakt des selbständigen reflexiven Verstandes wird scheinbar objektives Wissen, das in letzter Konsequenz unter Bedingungen zunehmender technologisch induzierter Komplexität nur noch als informationel verarbeitet werden kann, faktisch relativistisch, rational kontingent und exponentiell hyperkomplex. Aber urprünglich waren wir – hinter dem Eindeutigkeitsanspruch des Verstandes sind wir es noch – nicht nur mit diesem oder jenem Versatzstück des Lebens gefühlsmäßig verbunden, sondern eben auch und unmittelbar mit dessen Gesamtzusammenhang. 39 Schleiermacher nennt dies unseren Sinn und Geschmack fürs Unendliche, ein subtiles Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, das uns mit dem Gesamtzusammenhang verbindet, Fichte nennt es den Affect absoluten Seyns, durch den wir wissen, dass Realität ist, was ›Realität‹ ist und dass es nur eine Realität ›gibt‹. Sobald wir nun Gefühl und Verstand trennen, kann dies nur willkürlich geschehen, durch Freiheit. Dadurch bringen wir das ursprüngliche Realitätsgefühl unter die Botmäßigkeit des Verstandes und damit in die Differenzialität der Kategorie und unterstellen es – das ursprünglich Eine und Unbedingte – Bedingungen, Deutungen, Perspektiven. Damit entsteht erst die Notwendigkeit, Gründe und Interpretationen für den Zusammenhang der Realität anzuführen. Sobald wir aber (in der Kindheit) durch freie Reflexion diesen Akt der Trennung inauguriert und die Trennung als Haltung stabilisiert haben, ist der Prozess mit den Mitteln der freien Reflexion eben nicht mehr rückgängig zu machen. Es ist ein struktuelles Problem freier Reflexion, der Freiheit des Menschen. Sie kommt mit Bordmitteln nicht in die erste, absolute Unmittelbarkeit zurück, sondern vermag sich nur in der zweiten formalen Unmittelbarkeit ihres Agierens rational zu erhalten, indem sie diese – per hiatum irrationalem von Wie das unter geltungtheoretischer Fragestellungen hergeleitet und gedacht werden kann, dazu mein Buch: Gregor, Kai: Freiheit – Reflexion – Erfüllung. Der Begriff der Glückswürdigkeit bei Kant und Fichte und seine Folgen für unser Bild vom Menschen. Bamberg 2017.
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Einleitung
irgendeiner Differenz ausgehend – fortwährend grenzwerthaft reproduziert. Unter dieser Grundentscheidung stehend, dieselbe fortwährend reproduzieren, affirmieren und differenzieren müssend, um bei Verstand zu bleiben und weiter handeln zu können, kommt sie nicht aus dem Kreis heraus, den sie durch den ersten Gedanken um sich gezogen hat, erzeugt aber von Reflexion zu Reflexion, von Theorie zu Theorie, mehr und mehr Komplexität – ein exponentieller Prozess, der, basierend auf der Trennung von Gefühl und Verstand, zwangsläufig das menschliche Maß, welches durch den Zusammenhang von Gefühl und Verstand bestimmt ist, überschreitet. *
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Der Trieb zur Unmittelbarkeit ist im Menschen unauslöschbar, er ist so alt wie die Menschheit, Ausdruck eines grundlegenden integralen Ganzheitsgefühls, das den Menschen über sein Gedankenbild von der Natur nach einem unmittelbaren Weltverhältnis suchen (und es gerade durch das Suchen fortgesetzt verpassen) lässt. 40 Aber der Mensch muss nicht denken. Er kann auch versuchen, durch meditative Praktiken und heilige Rituale wenigstens zeitweise hinter den Saum seiner endlichen Intelligenz unmittelbar ins Antlitz Gottes zu blicken (kurz, interesseloser Schau teilhaftig zu werden) oder aus der Platonischen Höhle zu entkommen. Das ist eine religionsübergreifende Tatsache, ein Umstand, der heute genauso aktuell ist wie vor tausend Jahren. Es ist immer wieder dieselbe von uns allen geteilte und affirmierte Voraussetzung einer Trennung von Gefühl und Verstand, die dafür verantwortlich ist, dass wir unter ›Wissen‹ nicht Erfahrung im Vollsinne, sondern nur deren sekundäre Objektivierung verstehen, ja überhaupt nur erwarten, anerkennen, erhoffen. Aber auch heute kann jeder von uns (durch Reflexion der Reflexion) wenigstens punktuell diese allgemeine Tendenz der Objektivierung als solche erkennen, und jeder versteht, dass die Relativität des Relativen ebenso eine Objektivierung darstellt wie eine Absolutsetzung. Gleichwohl, ob-
Viele Denker, insbesondere Konstruktivisten, glauben, dass Unmittelbarkeit gleichzusetzen ist mit Essentialismus, also letztlich mit eineer naiv-ontologischen oder naiv-metaphysischen dogmatischen Postion, und insofern nicht trivialerweise ernstzunehmen ist. Das ist natürlich Unsinn, Unmittelbarkeit ist genau das Gegenteil, es ist die letzte, die höchste Integrationsleistung der freien Subjektivität.
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Einleitung
wohl es ja immerzu und überall gilt, fühlen wir das nicht als unsere lebendige Realität, sondern können es meist nur punktuell erfassen, in einem Gedanken, einer Reflexion, die darüber hinaus aber auch die Trennung reproduziert. Es gibt also in uns einen Punkt, eine unbegreifliche Kompetenz, ich will sie hier einen Sinn nennen, durch den wir noch sehen können, dass unser wirkliches Sehen, unser bewusstes Tun und Sagen (also die Form unseres Selbstbewusstseins), unser reflexives Denken, nichts anderes als binäre Objektivierungen hinbekommt. Dann stellt sich natürlich sofort die Frage, ob wir nicht auch aus diesem Sinn leben, arbeiten und handeln können, ob nicht das Leben aus diesem Sinn zur invarianten, gleichsam ständigen Realität unseres Lebens werden kann. Fichte nennt diesen fühlenden Ort das Sehen sichsehenden Sehens. Nach Fichte kann der Mensch seine reflexive Freiheit dadurch vollenden, dass er sich zur Freiheit von der Freiheit erhebt. 41 Das geht nicht durch Wissenschaft, Reflexion und Absichten, sondern nur durch eine umfassende Revolution seines praktischen Lebensstandpunktes. Heute suchen, an den ausweglosen Widersprüchen der Gesellschaft irre geworden, immer mehr Menschen alternative Lebensund Erfahrungsräume, versuchen den aufzehrenden rationalen Strukturen des Alltags zu entkommen und öffnen sich Praktiken des Yoga, der Körperarbeit, der Psychotherapie, des Vipassana, des Zen, der Anthroposophie oder Erfahrungen mit bewusstseinsverändernden Drogen wie LSD, DMT, MDMA, Psylocibin, THC. Alles scheint recht, um jenem dauernden Reden und endlosen Diskutieren zu entkommen, wo Worte kaum noch etwas bedeuten. Wir lesen Rudolph Ottos oder Mircea Elliades Bücher über das ›Heilige‹ und der eine oder andere hat vielleicht selbst schon an dem einen oder anderen der dort beschriebenen Rituale oder Zeremonien teilgenommen, einen unaussprechlichen ›ichlosen Zustand‹ am eigenen Leibe erlebt. Alternative nicht-reflexive Wirklichkeiten sind auch heute praktisch durchaus zugänglich: Man muss diese Versuche nur nicht gleich wieder unter das kognitive Standardmodell der Trennung von Gefühl und Verstand subsumieren und wissenschaftlich oder instrumentell oder profitorientiert verwerten, auch wenn das nahe liegt und de facto vielleicht fast ausschließlich passiert. Wir können uns in integralen Erfahrungen auch mit unserem tieferen Gefühl verbinden, statt es zu bewerten, zu kategorisieren, und uns fragen, wie sich die41
Vgl. Fichte: Wissenschaftslehre 1812, SW X : 315–492.
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Einleitung
ses andere intelligible Weltgefühl nachhaltig in unserem Leben stabilisieren lässt, oder welche Rolle eine integrale Seinserfahrung (Dürckheim) in unserem Leben haben soll. Welche Entscheidungen müssen wir treffen, wie müssen wir uns verhalten? Vielleicht entwickelt sich gerade, mitten unter den überhitzten Bedingungen des kapitalistischen Hochleistungsbetriebs, eine andere stille Kultur sehenden nichtwissenden Wissens und absichtslosen Handelns, denn das ist es schließlich, worum es in einer Freiheit von der Freiheit geht. Denn letztlich werden wir, da die reflexiven Lösungsansätze auf eine sichverschlimmernde Reproduktion des Status quo hinauslaufen, aus der Exponentialitätsfalle der Moderne nur dann herausfinden, wenn jeder von uns sein eigenes Leben und damit seine Sinnansprüche, seine Verhaltensweisen und seinen Lebensmittelpunkt transponiert. Hier liegt ein torloses Tor, das aus den Komplexitätsfallen der Moderne führen kann – das einzige! *
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Aber wir sagen: Hier kann und sollte die Beschäftigung mit Philosophie systematisch und kritisch ausgerichtet bleiben. Das kann helfen, bei sich selbst, im besonnenen Fühlen, zu bleiben, ohne sich in den unvermeidlichen Objektivierungen der Reflexion und also in der Trennung von Gefühl und Verstand zu verlieren. Der späte Fichte hat gezeigt, dass sich in einer vollreflexiven Philosophie der differenzielle Modus des Wissens auch systematisch selbst zu relativieren vermag, um an einen integralen Modus des Wissens (des wissenden Nichtwissens) zu verweisen. Wo dies sauber geschieht, kann Philosophie die Einordnung integraler Ausnahmezustände in die Alltagsrealität begünstigen, indem sie Orientierung und Klarheit schafft. Aber man muss sich nichts vormachen, die Integration geschieht nicht durch Philosophie, nicht durch Reflexion und auch nicht durch transzendentale Reflexion der Reflexion, sondern nur durch die wirkliche Integration, also rein praktisch. Der Punkt ist, dass man mittels Reflexion und Philosophie nicht aus der Differenzialität des Denkens herauskommt, wo man ›erste Unmittelbarkeit‹ auch nur ausspricht, steht man faktisch schon in der zweiten. Was dabei die Transzendentalphilosophie vor anderen Ansätzen auszeichnet, ist, dass sie die zweite Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins voll durchdringen und auf den formalen Freiheitsakt in ihrem Zentrum zurückführen kann. Dadurch wird es 40 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Einleitung
möglich, die Lücke zwischen der ersten und der zweiten Unmittelbarkeit systematisch zu beschreiben, und den hiatus irrationalis zwischen beiden (zwischen Glauben und Wissen) als das zu begreifen, was er ist: Ein Akt endlicher, sich dadurch konstituierender Freiheit und Intelligenz. Auch die Transzendentalphilosophie verbleibt gewiss in der zweiten Unmittelbarkeit (im differenziellen Bilde), aber sie vollendet sie und kann sie dadurch nicht nur nahtlos, d. h. in reflexiver Besonnenheit, an die erste anschließen, sondern auch jene Bedingungen aufstellen, unter denen sich die zweite Unmittelbarkeit aus der ersten, und vice versa, legitimieren ließe. Dadurch kann überhaupt die erste Unmittelbarkeit, das absolute Integral, wieder hoffähig werden für die endliche Rationalität. Das wäre jedenfalls zu diskutieren, ob hier ein gangbarer Weg vorliegt, in eine beide Unmittelbarkeiten integrierende dritte und letzte Unmittelbarkeit eintreten zu können. 42 Das könnte eine Verheißung der Philosophie der Zukunft sein. *
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Dieser Band geht aus einer Tagung hervor, die im Winter 2008, also vor einiger Zeit, an der Technischen Universität in Berlin Tagung stattfand, zum Thema Philosophie der Zukunft – Zukunft der Philosophie – Die Perspektiven der Transzendentalphilosophie als Grundlagenwissenschaft. Der Deutschlandfunk berichtete damals darüber. 43 Sie wurde mit großzügiger Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung und der TU Berlin ermöglicht und begleitete die Gründung der Internationalen Gesellschaft für Transzendentalphilosophie e. V., welche mit dem Ziel aus der Taufe gehoben wurde, die Erforschung des transzendentalen Ansatzes international zu entwickeln. Und dies eben nicht nur in dem engen historisch-systematischen Referenzrahmen universitärer Philosophie, also einem Feld, in dem selbst praktische Philosophie durchweg nur theoretisch betrieben wird, sondern als innovativer Gesprächspartner und Impulsgeber für die fundamentalen epistemopraktischen Fragestellungen moderner Gesellschaften. Ausgehend von neuen Erkenntnissen und Interpretationen, die sich Die seit 1804 von Fichte entworfene Theorie der Lebensstandpunkte wäre ein Kanditat, genau dies zu tun. 43 vgl. http://www.deutschlandfunk.de/die-zukunft-der-philosophie.1148.de.html? dram :article_id=180292 42
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Einleitung
aus dem Gedankengut des sogenannten Deutschen Idealismus, insbesondere der späten und letzten Arbeiten Johann Gottlieb Fichtes sowie der romantischen Schule ergaben, erschien eine solche Gründung lohnenswert und hoffnungsvoll. Die Idee zu der Tagung und diesem Band entsprang der Frage, ob es nicht neue radikale Weisen der Selbst- und Weltverständigung geben könnte, die der Grundlagenkrise der Wissenschaften Einhalt gebieten bzw. kreative Neuansätze sichtbar machen können. Die Frage nach einer Zukunft der Philosophie bzw. einer Philosophie der Zukunft drang also letztlich, auch wenn uns das damals noch nicht so richtig klar war, auf die alte Idee einer höheren Einheit und also darauf, ob denn die Philosophie und näherhin die Transzendentalphilosophie nicht am Ende zu voreilig bei der Frage nach einem inneren Zusammenhang der Welt verabschiedet worden sind. Vielleicht steht uns eine Revision, vielleicht sogar eine Renaissance bevor. Gibt es vielleicht Theorien, Reflexionsformen, Wahrnehmungen und Praktiken, die dieses Bild einer grundlosen Welt und einer ungrundgelegten Wissenschaft relativieren können? Steht die Moderne wirklich im Nichts, oder ist auch dies wieder nur ein geglaubtes in sich geschlossenenes Zerrbild, das uns in einigen Jahrzehnten ebenso peinlich berühren wird, wie uns heute die ideologische Enge und Phantasielosigkeit des Löwenanteils wissenschaftlicher Literatur des realexistierenden Sozialismus indigniert, von der man ja auch kaum mehr so recht glauben will, dass dies einmal als Wahrheit erlebt, gefühlt und geschrieben wurde. Da wir, wie unschwer zu erkennen ist, ja nun auch nicht zurückkehren können, denn auch die Philosophien des 19. und 20. Jahrhunderts sind ja von diesem Seinsverlust betroffen (auch Heideggers These vom Seinsverlust ist nur eine Station desselben), stehen wir hier an einer Schwelle, die den Beginn von etwas Neuem einleitet: Es ist die Geburt eines neuen Seins, oder die Wiedergeburt Gottes. Der alte Gott ist spätestens durch die Aufklärung vernichtet, die Aufklärung heute durch sich selbst in ihrem Wesen annihiliert worden; ist dadurch vielleicht Platz entstanden für die Entstehung eines neuen, eines atheistischen Gottes in uns? Der Band versammelt Aufsätze, die die Aufgabe der Philosophie hinterfragen und radikale Neuansätze und experimentelle Forschungsperspektiven in Erwägung bringen:
42 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Einleitung
Christian Spahn untersucht die Struktur transzendentaler Argumente klassischer Denker aus dem angelsächsischen Philosophieraum, ob sich aus ihnen nicht eine belastbare transzendentale Methode entwickeln lässt. Spahn setzt sich auf dieser Basis insbesondere mit dem Denken von Vittorio Hösle auseinander und betont dabei die Wichtigkeit der Intersubjektivität für den transzendentalen Ansatz. Nico Nuyens untersucht mit demselben Ziel der Erweiterung der transzendentalen Fragestellung die Davoeser Kontroverse zwischen Cassierer und Heidegger. Seine Frage ist: Kann die Geltungsfrage die Probleme der Philosophie lösen, oder muss nach anderen erweiterten Qualitäten von Wissenschaftlichkeit gesucht werden? Martin Bunte, den wir für diesen Band gewinnen konnten, zeichnet die zentralen Strukturen des Kantischen Systems der Philosophie nach und zeigt einerseits den beträchtlichen Erklärungswert einer solchen dualistischen Transzendentalphilosophie auf, macht aber auch völlig klar, dass Kant – anders als es viele Kantianer heute wahrhaben wollen – das Problem der Transzendenz nicht nur nicht losgeworden ist, sondern auch ohne dieses ungelöste Problem nicht richtig verstanden werden kann. Am Ende stellt er uns vor die Option, ob wir das einfach hinnehmen, oder die Fichte’sche Alternative einer Transzendentalphilosophie auf Basis eines höheren intuitiven Erkenntnisvermögens hier in die Zukunft führen. Die Möglichkeiten einer zukünftigen Philosophie aus Hegels Sicht, insbesondere, wenn man die Phänomenologie des Geistes zugrunde legt, erörtert Paul Cobben. Seine zentrale und weitführende Frage ist: Kann die Herr-Knecht-Kausalität eine tragende Rolle bilden, um in den interpersonalen Zusammenhängen der Moral und Religion zwischen dem reinen Bewusstsein und dem endlichen zu mitteln? Auch Paul Cobben stellt die Intersubjektivität ins Zentrum eines zukunftsfähigen transzendentalen Ansatzes. Christoph Binkelmann stellt zehn provokante Thesen zur Zukunft der Philosophie auf, indem er aufzeigt, dass die zukünftige Philosophie vor radikaler innerer Widersprüchlichkeit keine Angst zu haben braucht, da sie im Schweben zwischen Sein und Nichts ihre Bestimmung findet. Binkelmann demonstriert dadurch die enorme Konsequenz und Robustheit der reflexiven Form in Auseinandersetzung mit ihrer inneren Ambivalenz. Matthias Scherbaum zeichnet umfassend die systematischen Optionen und Leistungsmerkmale eines transzendentalen Letztbegründungsunternehmens im Ausgang von den begrifflichen In43 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Einleitung
strumenten Descartes’ nach und demonstriert insbesondere die fortbestehende Aktualität eines solchen Projektes. Die Aktualität, ja historische Notwendigkeit der Frage einer Letztbegründung thematisiert auch Fabian Völker, dem ich an dieser Stelle auch noch einmal für die Teilnahme an diesem Projekt danken möchte. Was Letztbegründung bedeuten kann, zeigt er minutiös mit den begrifflichen Mitteln des späten Fichte auf, er vermag darüber hinaus aber noch analoge Strukturen im Raum der indischen Philosophie nachzuweisen, die seine Fichte-Deutung sozusagen transkulturell abstützen. Kai Gregor stellt im Rahmen einer kritischen Auseinandersetzung mit impliziten historisch-systematischen Eindeutigkeitskonstruktionen und unseren diesbezüglichen intrikaten Vorentscheidungen darüber, was Realität ist oder war, eine starke metafiktionale Behauptung auf, indem er uns einige rätselhafte unbekannte Fragmente des klassischen deutschen Idealismus präsentiert. Systematisch zeigen sie transzendentale Strukturbedingungen einer unbeschreiblichen geistig-interpersonalen Letzt-Realität unserer Wirklichkeit auf. Die vorgelegten Dokumente eröffnen weitreichende Perspektiven auf die eminente Rolle und Bedeutung, die eine Poetisierung der Welt für die Menschen und eine zukünftige Philosophie spielen könnte; bzw. schon immer gespielt hat, wo es Einzelnen oder Gruppen gelungen ist, den strukturellen Autismus der reflexiven Form zugunsten von erweiterten oder vertieften Formen reinen nicht-denkenden Denkens (hishiryō) im Denken und Wahrnehmen zu überwinden. Im Bereich der angewandten Transzendentalphilosophie und Wissenschaftstheorie erörtert Albert Mues die transzendentalen Implikationen des Lebensbegriffs anhand der begrifflichen Voraussetzungen der Biologie und setzt diese mit großer Evidenz in einen apriorischen Zusammenhang zur Existenzweise freier endlicher Vernunftwesen wie dem Menschen. Am Ende des Bandes stellen uns Michael Gerten und Cristiana Senegaglia in systematischen Betrachtungen und jeweils 10 Thesen Ihre Diagnosen und Postulate für die Zukunft der Philosophie vor, insbesondere in der Hinsicht, wie sich die Universalität des philosophischen Projektes in einer globalisierten Zukunft denken lässt und ob diese Auseinandersetzung seitens der Philosophie gestaltbar ist oder doch eher strukturellen Zwängen unterliegt, die uns nur die Reaktion übriglassen. 44 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Einleitung
Literatur Bammé, Arno: Unlösbare Probleme. Warum Gesellschaften kollabieren. München 2014. Beck, Ulrich, mit Anthony Giddens und Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Frankfurt a. M. 1996. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986; bzw. Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a. M. 1993. Brentano, Franz: Über die Zukunft der Philosophie. Leipzig 1929; Derrida, Jacques: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der »Religion« an den Grenzen der bloßen Vernunft. In: Die Religion. hgg. v. Jacques Derrida u. Gianni Vattimo, Frankfurt a. M. 2001. Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland. Köln, Düsseldorf 1979. Fichte, J. G.: Briefwechsel. 2 Bde., hgg. v. H. Schulz, Leipzig 21930. Fichte, J. G.: Nachgelassene Werke, hgg. v. I. H. Fichte, Berlin 1834–1835. Fichte, J. G.: Sämmtliche Werke, hgg. v. I. H. Fichte, Berlin 1845–1846. Gloy, Karen: Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft. Wien 2002. Gregor, Kai: Freiheit – Reflexion – Erfüllung. Der Begriff der Glückswürdigkeit bei Kant und Fichte und seine Folgen für unser Bild vom Menschen. Bamberg 2017. Körner, Stephan [Mitarb.]: Zur Zukunft der Transzendentalphilosophie. In: Neue Hefte für Philosophie 14, hgg. v. Rüdiger Bubner u. a. Göttingen 1978. Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. Frankfurt a. M. 1967 Meister Eckehart: Predigt 32. Beati pauperes spiritu, quia ipsorum es regnum coelorum. In: Deutsche Predigten und Traktate, hgg. v. Joseph Quint, Zürich 1979. Rorty, Richard: Philosophie & die Zukunft. Essays Frankfurt a. M. 2001. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt a. M. 2016. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a. M. 2005. Schellings, Friedrich, Wilhelm, Joseph: Werke, Vorlesungen, Nachgelassenes und Briefwechsel, hgg. Carsten Worm (Komplettausgabe 1788–1853), Berlin 2009. Thomas, W. I., Thomas, D. S.: The child in America: Behavior problems and programs. New York 1928.
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Vom Transzendentalen Argument zur Transzendentalen Methode Möglichkeiten einer Transzendentalphilosophie der Zukunft Christian Spahn (Daegu) Drei Aufgaben der Gegenwartsphilosophie Fragt man nach der Zukunft der Philosophie oder noch gewagter nach einer Philosophie der Zukunft, so empfiehlt es sich zunächst mit einer Gegenwartsdiagnose zu beginnen. Eine Gegenwartsdiagnose des heutigen ›Zustandes der Philosophie‹ zu versuchen, ist allerdings sicher alles andere als einfach, und dies aus mehreren Gründen. Zunächst ist erstens nicht klar, welchen Philosophien man sich zuwenden soll, von welcher Strömung oder Schule man ausgehen will, um überhaupt einen Überblick zu gewinnen. Zählt die Mehrheit der Stimmen, zählen die vernachlässigten Argumente von Minderheitspositionen, zählt überhaupt nur das akademische Geschäft der Philosophie oder alle ihre Erscheinungsformen in Kunst, Kultur und Literatur? Schon wenn man das Problem der Vielfalt der Schulen auch nur bewältigen will – ja, es überhaupt als ein Problem und nicht als einen Segen bezeichnet, ist bereits eine implizite Wertung im Spiel, mit der man so oder so die Zugehörigkeit zu einer Schule bekennt, die zunächst als partikulare Strömung diesen Anspruch einer globalen Bewertung anderer Positionen rechtfertigen müsste. Kurz gesagt: Es gibt also heute nicht die Philosophie, es gibt die Philosophien; Pluralität oder gar Konkurrenz der philosophischen Richtungen ist sicher eines der zentralen Kennzeichen der gegenwärtigen Philosophie. Immerhin ist damit eine der ersten Grundfragen der Gegenwartsphilosophie benannt: Das erneute Austarieren zwischen der Idee der einen Wahrheit (›Philosophie im Singular‹) und der Vielfalt der pluralen und gleichzeitigen Gestalten der Gegenwartsphilosophie (›der Philosophien‹) verlangt – mehr als in anderen Zeiten – nach einer Explikation des eigenen Philosophiebegriffs. Selbstfundierungs-, Abgrenzungs- und Anknüpfungsbemühungen gehören damit zum wesentlichen Kern jeder aktuellen Philosophie, die nicht vor der Vielfalt die Augen verschließen will und die nicht mehr dog46 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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matisch ihre Voraussetzungen verabsolutieren kann. Begründungsanstrengungen, ja genauer Grundlegungsbemühungen, also Begründungen erster Prämissen und Entscheidungen sind vor dieser Perspektive durchaus ein Gebot der Stunde und sicher mehr noch das Gebot der Zukunft. Schließlich ist zweitens unsere Epoche nach wie vor neben dem Problem der synchronen Pluralität mit dem Problem der Pluralität vergangener philosophischer Entwürfe belastet, die gleichermaßen betrachtet werden können entweder als Fundgrube ewiger Wahrheiten oder als Relativierungen just solcher Ansprüche, als das zu verteidigende Erbe, das in jeder Gegenwartsphilosophie eingehen muss, oder gerade umgekehrt als der Ballast, den erst hinter sich zu lassen einen echten Neuanfang erlaubt. Eine Philosophie, der eine schlüssige Selbstdeutung vor dem Hintergrund der Philosophiegeschichte nicht gelingt, kann ebenso wenig überzeugen, wie eine Philosophie, die das Problem der ›anderen Schulen‹ außen vor lässt. Begründungs- und Grundlegungsbemühungen müssen damit in Bezug gesetzt werden können zu einer expliziten philosophiegeschichtlichen Selbsteinordnung. Sodann ist neben diesen doppelten inneren Problemen der Pluralität der Philosophie im eigenen Haus – dem Zusammenleben mit mehreren Genossen und dem Zusammenleben mit oder Ignorieren der Eltern und Großeltern – sogleich die Abgrenzung der Philosophie ›nach außen‹, also der Streit mit den Nachbarn ein Kennzeichen der Gegenwartsphilosophie. Nachdem der unliebsame direkte Nachbar ›Religion‹ ausgezogen ist, sich vermutlich aber nur ein paar Blöcke entfernt doch wieder eine Wohnung gekauft hat, ist nebenan ein anderer Störenfried eingezogen: die Naturwissenschaft. Und sie hat einen lauten Untermieter mitgebracht, den naturalistisch-reduktionistischen Philosophen, von dem man gehört haben will, dass er zumindest auf manchen seiner exzessiven Feiern gleich die Wahrheitsfähigkeit aller Philosophien – gleich welcher Schule – bestreitet und eine Auflösung aller Philosophie in Wissenschaften fordert. Die Suche nach einem Frieden mit dem Nachbarn, sei es durch Sicherung eigenen Terrains oder durch ›interdisziplinäre‹ Kooperation oder gar in der Tat durch Aufgabe philosophischer Ansprüche und Umzug in die Nachbarwohnung als Untermieter der Wissenschaft ist eine weitere Hauptaufgabe der Gegenwartsphilosophie. Genauso wenig wie Einigkeit nach Innen zwischen den philosophischen Schulen herrscht, so wenig herrscht Einigkeit nach außen. Neben philosophischen 47 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Grundlegungsbemühungen, neben geschichtlicher Selbsteinholung ist damit ein reflektiertes Verhältnis zu den Wissenschaften die dritte Hauptaufgabe für die Gegenwartsphilosophie. Erst eine Antwort auf diese drei Herausforderungen kann der Ausgangspunkt für eine Vorstellung dessen sein, was die Konturen einer zukünftigen Philosophie sein mögen.
Die Transzendentalisierungsbewegungen in der Philosophie als Option für die Zukunft: transzendentale Ansätze in der Gegenwartsphilosophie Eine erste sich aufdrängende Anforderung für eine zukünftige Philosophie ist damit notwendig durchaus der Aufruf zu einer erneuten Phase des Autismus: Angesichts der genannten Abgrenzungsaufgaben muss sich zukünftige Philosophie zunächst einmal primär mit sich selbst beschäftigen, bevor sie auf andere Disziplinen und Schulen zugeht oder vor diesen davon läuft. Philosophie muss wieder mehr Zeit in eine ›Philosophie der Philosophie‹ investieren, statt sich in Bindestrichphilosophien zu verlieren. Sie muss damit, knapp gesagt, wieder Transzendentalphilosophie werden. Nach den Bedingungen der Möglichkeit und Grenzen allen Philosophierens überhaupt zu fragen, mag ein fruchtbarer Weg sein, um zwischen den Schulen nach innen und den anderen Quellen menschlicher Weltbildproduktion nach außen zu vermitteln. Nicht mehr derartige Fragen, wie ›was ist im Rahmen des Naturalismus‹, ›im Rahmen einer postmodernen Ablehnung von Identitätsphantasien‹, ›was ist mit Blick auf den Stand der Wissenschaften usf. eine sinnvolle philosophische Aussage‹, müssen gestellt werden, sondern nur Fragen derart, was ist der gemeinsame Ermöglichungsrahmen für alle diese Arten von Philosophie, ja für das philosophische, das wissenschaftliche und das religiöse Denken überhaupt können einen Ansatzpunkt zu einer echten Vermittlung darstellen. Geht es den Bindestrichphilosophen darum, implizite Voraussetzungen ihres Gebietes zu reflektieren, muss eine Transzendentalphilosophie die Explikation der Voraussetzungen selbst des Suchens und Reflektierens von Voraussetzungen sich zur Aufgabe machen. Sucht man nach Neubelebungen transzendentalphilosophischer Ansätze in der jüngeren Philosophiegeschichte, so fällt zum einen die Debatte um »transcendental arguments« in Anknüpfung an Straw48 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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sons Kant-Interpretation im anglo-amerikanischen Sprachraum ins Auge, wohingegen in Deutschland sicher Apels neo-kantischer Versuch einer ›Transformation der Transzendentalphilosophie‹ 1 und Hösles neo-hegelianischer Versuch einer transzendentalen ›Begründung des objektiven Idealismus‹ 2 als prominenteste Ansätze zu nennen sind. Es sei nun zunächst kurz ein Blick auf den Rahmen geworfen, in dem sich die anglo-amerikanische Debatte bewegt, um Leistungen und Grenzen dieser Wiederbelebung im Unterschied zu den deutschsprachigen Ansätzen auszutarieren.
Die anglo-amerikanische Debatte In der anglo-amerikanischen Debatte sind insbesondere in Anknüpfung an Strawson und Gewirth und andere 3 transzendentale Argumente vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, in der Realismusdebatte verwendet worden, um genauer den Realismus-Skeptiker zu widerlegen. 4 Stroud definiert ein transzendentales Argument wie folgt: Transcendental Arguments are supposed to demonstrate the impossibility or illegitimacy of […] [a] skeptical challenge by proving that certain concepts are necessary for thought or experience. 5 1 Vgl. Apel, Karl-Otto, Transformation der Philosophie. Frankfurt a. M. 1973 (2 Bde.). 2 Vgl. Hösle, Vittorio: »Begründungsfragen des objektiven Idealismus«, in: Philosophie und Begründung. (Hg.) Forum für Philosophie, Bad Homburg: Köhler, Wolfgang R.; Kuhlmann, Wolfgang; Rohs, Peter, Frankfurt a. M. 1987, 212–276 und vgl. Hösle, Vittorio, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie: Transzendtalpragmatik, Letztbegründung, Ethik. München 1990. 3 Vgl. etwa Strawson, Peter F., Individuals. London 1958, Strawson, Peter F., The Bounds of Sense: An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason. London 1966, Shoemaker, Sydney, Self-knowledge and self-identity. Ithaca 1963, Gewirth, Alan, Reason and Morality. Chicago 1978, vgl. zum Überblick auch Stern, Robert (Ed.), Transcendental Arguments. Problems and Prospects. Oxford, New York 1999. 4 Insbesondere Alan Gewirth hat sich um eine Ausbuchstabierung transzendentaler Argumente für den Bereich der praktischen Philosophie bemüht, siehe Gewirth, Alan, Reason and Morality. Chicago 1978. Eine kritische Übersicht zur Reichweite transzendentaler Argumente für die Moralphilosophie gibt Illies, Christian, The grounds of ethical judgement: new transcendental arguments in moral philosophy. Oxford, New York 2003. 5 Stroud, Barry: »Transcendental arguments«, in: Journal of Philosophy, 65, 9, 1968, 241–56, 242. Stroud hat vor allem Argumente des kantischen Typs vor Augen, die,
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Bekanntermaßen sind drei grundsätzliche Einwände gegen solche transzendentalen Selbstwiderspruchsargumente vorgebracht worden. Rorty verweist darauf, dass mit solchen Selbstwiderspruchsaufweisen zunächst nur ein ›ad hominem‹ Argument gewonnen sei: Es wurde nicht positiv gezeigt, dass etwa eine in Frage stehende Denkkategorie wirklich unhintergehbar ist, sondern nur, dass dieser untersuchte Versuch sie zu hintergehen nicht funktioniert. 6 Aber woher wissen wir, dass nicht dereinst ein viel kreativerer Skeptiker geboren wird, der eine Methode findet jene Kategorie zu bezweifeln, ohne sie direkt dabei vorauszusetzen? »To show that every alternative proposed would have the same defect would be to know in advance the range of the skeptics’s imagination«. 7 Solange es nicht gelingt zu zeigen, dass die Verwendung einer spezifischen Denkbestimmung konstitutiv ist auch für ihre Negation, hat man mit Rorty die Frage nach der Geltung der entsprechenden Kategorie offen zu lassen. 8 wie weiter unten ausgeführt wird, nicht reflexiv angelegt sind. Erst die Untersuchung der ›priveligierten Klasse‹ von Sätzen am Ende des Aufsatzes, wo Stroud sich fragt, ob Shoemakers und Strawsons Argumente vielleicht nicht »limited in scope« seien, kreist um das Problem strikt reflexiver Argumente, vgl. ebd., 254 f. Der Einwand, dass ein ›verifikationistisches Prinzip‹ (ebd.) immer schon vorausgesetzt wird, bezieht sich damit ebenfalls auf die kantische Variante jener Argumentation: Ein solches Prinzip müsste selbst-referentiell, also reflexiv transzendental begründet werden, allerdings durch einen Typus transzendentaler Argumentation, der erst weiter unten besprochen wird. 6 Rorty, Richard: »Transcendental arguments, self-reference, and pragmatism« in: Transcendental Arguments and Science, (Ed.) Bieri, Peter; Horstmann, Rolf-Peter, Krüger, Lorenz, Dodrecht 1979, 77–103, 82. Auch Rortys Text orientiert sich an der kantischen Variante transzendentaler Argumentation, vgl. 79 f. 7 Ebd. 82. 8 Allerdings scheint hier Rorty selbst ein generelles Argument gegen generelle Argumente zu liefern: Da gewisse ihm vor Augen stehende Widerlegung skeptischer Attacken die Möglichkeit offen lassen, dass eine andersartige Attacke gegen die infrage stehende Denkbestimmung noch vollzogen werden kann, folgert er vielleicht zu vorschnell, dass es generell so ist, dass jede transzendentallogische Widerlegung per Selbstwiderspruch immer nur ad hominem ist: So spricht er davon, dass »[a]ll selfreferentiell arguments are ad hominem arguments« (ebd., 82). Er unterliegt damit der gleichen Versuchung (von speziellen Fällen schnell aufs Allgemeine zu schließen), die er zurecht bei einigen kantischen Transzendentalisten sieht. Dennoch hat Rorty einen wichtigen Punkt vor Augen: So ist zunächst genau zu untersuchen, ob die Inanspruchnahme des Skeptikers einer bezweifelten Denkbestimmung nicht vielleicht kontingent war für das, was er zeigen wollte. Es ist aber ebensowenig im Voraus auszumachen, ob nicht konkrete Kriterien angegeben werden können für die Fälle, in denen doch eine generelle Widerlegung möglich ist. Der mögliche Spielraum skeptischer Einwürfe etwa gegen die selbst-referentiell zu begründende These ›Es gibt
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Den zweiten klassischen Einwand gegen diese Form der Selbstwiderlegung des skeptischen Versuches der Bezweiflung einer Denkkategorie formuliert Rorty in Anknüpfung an Stroud. Dieser Einwand ist vor allem für die kantische Variante transzendentaler Argumentation einschlägig. Nehmen wir an, ich kann einem Skeptiker nachweisen, dass eine These x als Bedingung der Möglichkeit ihrer Formulierbarkeit ein Kategorienset Ky impliziert, so dass der Skeptiker Ky nicht sinnvoll bestreiten kann, ohne zugleich die Rede über x aufzugeben. Ein guter Skeptiker würde dann vielleicht nicht Ky akzeptieren, sondern diese Implikation, wenn sie besteht, just andersherum interpretieren: Bedingung der Möglichkeit für x ist Ky, aber ich leugne x, also bin ich nicht gezwungen, Ky zu akzeptieren, sondern muss auch Ky leugnen. Ein Beispiel möge dies verdeutlichen: Nehmen wir an, zur Vorstellung des Konzeptes des sinnvollen Sprechens über Welt gehört die Idee einer Referenz auf äußere Objekte. Nehmen wir ferner an, dass ich zeigen kann, dass unter der Vorstellung eines Dualismus zwischen ›Satz‹ und ›Realität‹ echte Referenz unmöglich ist, so dass ich also, damit die Idee der Referenz auf äußere Objekte sinnvoll ist, eine andere Konzeption über das Verhältnis von Satz und Realität brauche. Als Skeptiker habe ich, nachdem ich diese Implikation eingesehen habe (nehmen wir an sie besteht) immer noch zwei Möglichkeiten. Ich kann im Sinne des Erkenntnisoptimismus jene Revision der Startbedingungen vollziehen und sagen, damit ich an dem Konzept der Referenz auf Objekte außer uns festhalten kann, brauche ich eine andere Grundkonzeption des Verhältnisses von Sprache und Welt. Ich kann aber mit gleichem Recht an der Idee des Dualismus festhalten und die Idee der Referenz auf äußere Objekte aufgeben. 9 Die transzendentale Reflexion darauf, dass etwa Ky BedinWahrheit‹ wird in dem Buch von Braßel, das uns noch beschäftigen wird, ausgelotet, vgl. Braßel, Bernd, Das Programm der idealen Logik. Würzburg 2005, 19 f. sowie das gesamte erste Kapitel. Auch Stroud geht nicht davon aus, dass es leicht ist, im Club der Denkbestimmungen diejenigen herauszugreifen, die tatsächlich Bedingung der Möglichkeit für sinnvolles Sprechen überhaupt sind. Ihm ist nicht klar, wie ein Kriterium aussehen könnte, dass zwischen ›faktischen Denkzwängen‹ und ›echten Denknotwendigkeiten‹ unterscheidet, vgl. Stroud, Transcendental Arguments 254 f. 9 Dies ist etwa die überraschende, aber durchaus intern schlüssige Konsequenz, die Rorty aus dem Scheitern des epistemtischen Rechtfertigungsspiels des empirischen Realismus zieht. Er spricht davon, dass mit der Aufgabe des Dualismus von ›scheme‹ und ›content‹, die Davidson (vgl. Davidson, Donald, »On the very idea of a conceptual scheme«, in: Proceedings of the American Philosophical Association, Vol. 47, (1973– 1974), 5–20) mit transzendentalen Überlegungen voran treibt, ein »transcendental
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gung der Möglichkeit für x ist, zwingt mich dann und nur dann zur Annahme von Ky, wenn ich bereits die Gültigkeit oder Wirklichkeit von x – hier die Annahme der Möglichkeit der wahrhaften Referenz auf äußere Objekte, die ein Skeptiker ja gerade bezweifeln will – anerkenne. Der dritte Einwand schließlich ist allgemeiner Natur und betrifft die Form des transzendentalen Argumentes überhaupt, selbst in den Fällen, in denen man annimmt, dass eine solche Argumentation gelingen könnte: Es handle sich dann schlicht um einen Zirkel, da zwar vielleicht gewisse Denkbestimmungen vorausgesetzt werden, will man sie bezweifeln, doch können sie zugleich auch nicht bewiesen werden, ohne dass sie schon vorausgesetzt sind. Mit diesem Einwand ist ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen Transzendentalisierung der Philosophie formuliert. Der Versuch einer Selbstuntersuchung der Vernunft just mit Mitteln der Vernunft ist demnach nichts anderes als eine unvermeidlich zirkuläre Angelegenheit, da die sich selbst prüfende Instanz schon die Kriterien ihrer Selbstbeurteilung mit sich bringen muss. Damit steht das transzendentale Philosophieren auf den ersten Blick, das ja als Ausweg aus der Fragmentierung der Philosophie in der Gegenwart anempfohlen wurde, offensichtlich vor dem Dilemma, entweder nur hypothetisch Grundprämissen gewisser Diskussionen aufdecken zu können, die aber nur weiterhelfen, wenn man ohnehin Teil des Diskurses ist, oder aber, wenn es mehr leisten will, so muss es sich anscheinend in einem Zirkel bewegen.
argument to end all transcendental arguments« gefunden sei (Rorty, Richard: »Transcendental arguments«, 78). Solange, wie schon angemerkt, sich das transzendentale Argumentieren auf ein kantisch-idealistische Variante beschränkt, mag in der Tat das Argument von Davidson als ›Todesstoß‹ für realistische transzendentale Argumente betrachtet werden. Für eine andere Interpretation jenes Argumentes, in der transzendentale Reflektionen für den subjektiven Idealismus von denen für den objektiven Idealismus unterschieden werden müssten, siehe Ch. Spahn, »Ein anderes Argument für den Realismus? Nagels Ausweichen vor der Idealismusfalle«, in: Perspektiven philosophischer Forschung, Bd. II. (Hg.) Geier, Fabian; Spahn, Andreas; Spahn Christian, Essen 2013, 23–51.
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Apels und Hösles Versuch der Lösung des Zirkelproblems und des Problems der Hintergehbarkeit In Deutschland haben vornehmlich Karl-Otto Apel und Vittorio Hösle 10 sich um eine Wiederbelebung transzendentalphilosophischer Einsichten bemüht. Apel versucht in seinem Aufsatz ›Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft‹ mit reflexiven Argumenten ein Fundament einer Diskursethik zu legen. Jeder Versuch, die Geltung ethischer Normen zu bestreiten, setzt, insofern es sich dabei um einen kommunikativen Akt handelt, die Gültigkeit der Diskursnormen voraus, damit jene Bestreitung überhaupt erst formuliert und als begründete Theorie in den Diskurs eingespeist werden kann. Apels Ausgangspunkt ist also der Versuch einer diskurstheoretischen Fundierung der Transzendentalität der ›Idee des Guten‹ für jeden Erwägungs- und Begründungsdiskurs. 11 Hösle nimmt seinen Ausgangspunkt von der Unhintergehbarkeit der ›Idee des Wahren‹, genauer von der Frage, ob es notwendige Wahrheiten geben könne. Dies bestreitet bekanntlich der kritische Rationalismus unter Verweis auf das Münchhausentrilemma: Alle Erkenntnis könne bloß hypothetisch gültig sein, da Begründen einer Aussage heißt, sie durch andere Aussagen zu stützen. Diese müssen nun ihrerseits, damit sie Vgl. die in Anmerkung 1 und 2 genannte Literatur. Konstruktiv weiterführend zu diesen Ansätzen sind Kuhlmann, Wolfgang, Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik. Freiburg/München 1985, Wandschneider, Dieter: »Letztbegründung und Logik«, in: Letztbegründung als System (Hg.) Klein, Hans-Dieter, 84–103, Bonn 1994, 84–103, Wandschneider, Dieter: Grundzüge einer Theorie der Dialektik: Rekonstruktion und Revision dialektischer Kategorienentwicklung in Hegels »Wissenschaft der Logik«. Stuttgart 1995 sowie Wandscheider, Dieter: »Letztbegründung und Dialektik«, in: Diskurs und Leidenschaft: Festschrift für Karl-Otto Apel (Hg.), Fornet-Betancourt, Raúl, Aachen 1996, 317–336, Wandschneider, Dieter: »Zur Struktur dialektischer Begriffsentwicklung«, in: Das Problem der Dialektik. (Hg.) Klein, Hans-Dieter, Bonn 1996, 114–169, sodann Ossa, Miriam: Voraussetzungen voraussetzungsloser Erkenntnis? Das Problem philosophischer Letztbegründung von Wahrheit. Paderborn 2007 und Braßel, Programm. 11 Apel, Karl-Otto: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. Zum Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft«, in: Ders. Transformation, Bd. 2, 358–435. Apel geht allerdings – anders als Hösle – von einem sprachpragmatischen Apriori aus. Schlussfolgerungen mit ontologischer Valenz hält er nicht für möglich, siehe seine Kritik an Hösle in: Apel, Karl-Otto: »Metaphysik und die transzendentalphilosophischen Paradigmen der ersten Philosophie«, in: Metaphysik. Herausforderungen und Möglichkeiten. StuttgartBad Cannstatt 2002, 1–30, 14 f. 10
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begründet sind, gestützt werden. Dies führt entweder zu einem infiniten Regress, einem dogmatischen Abbruch des Begründungsverfahrens oder zu einem Zirkel. 12 Hösle argumentiert nun, dass in der Tat jenes Argument selbst zirkulär oder tautologisch sei. Unter der Voraussetzung, dass die Begründung einer Proposition immer der Rückgang auf andere Propositionen ist, jede Begründung also axiomatisch-deduktiv ist, hängt natürlich, gleichsam definitorisch, jedes Wissen von Voraussetzungen ab. Hösle sieht in dem reflexiven Begründungsverfahren transzendentaler Reflexion auf implizite Voraussetzungen eine Alternative zum bloß hypothetisch-deduktiven Verfahren. 13 Er argumentiert vereinfacht dargestellt, dass offenkundig die Aussage, es gäbe keine notwendige Wahrheit, selbst nicht notwendig wahr sein kann, sie ist also umzuformulieren in die Behauptung, es gäbe möglicherweise notwendige Wahrheit. Doch kann notwendige Wahrheit nicht nur unter kontingenten Voraussetzungen bestehen, dann wäre es unmöglich, dass es notwendige Wahrheit gibt und die zweite These würde auf die erste schon widerlegte zurückfallen. Wenn es also tatsächlich möglicherweise notwendige Wahrheit gibt, so muss es sie Hösle zufolge wirklich geben. Per Explikation schlussfolgert Hösle, dass das, was tatsächlich notwendig wahr ist, auch ontologische Valenz haben muss, weil es sonst in der Tat keine notwendige Wahrheit wäre, sondern ein bloßer Denkzwang. Somit folgert Hösle über Apel hinausgehend, dass die Einsicht in die Existenz notwendiger Wahrheit eine hegelianische Position, einen objektiven Idealismus impliziert. 14 Es ist hier nicht der Ort, alle Einwände und Gegeneinwände nachzuzeichnen 15, stattdessen soll der Unterschied dieses Programms zur Diskussion in der analytischen Debatte hervorgehoben werden, um zu sehen, ob sich die dargestellte Paradoxie auflösen lässt. Der entscheidende Unterschied scheint zu sein, dass sowohl Hösle als auch Apel nicht punktuelle ›ad hominen‹ Argumente gegen eine spezifische Form der Wahrheitsskepsis oder der ethischen Skepsis hervorVgl. Albert, Hans, Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968 Hösle, Krise, 152 ff. 14 Hösle, Begründungsfragen, Hösle, Krise, insbes. 152–159, 205–219. 15 Dies wäre Thema eines ganz anderen Vortrages. Eine konstruktiv-kritische Übersicht über einige der wichtigsten Kritiken an Hösle gibt Ossa, Voraussetzung, 16–54. Systematisch lotet Braßel, Programm, insbes. 17–132, verschiedene Typen von Einwänden aus. 12 13
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bringen, sondern jeweils versuchen, auf einer universalen und prinzipiellen Ebene zu diskutieren. Die im Hintergrund stehende Frage ist hierbei, was die Voraussetzungen allen Bestreitens und Behauptens überhaupt sind. Die hier verwendeten transzendentalen Argumente sind nach einer typologischen Unterscheidung von Illies also nicht irreflexiv, sondern strikt reflexiv. Illies unterscheidet transzendentale Argumente heuristisch-explorativer Art, wie wir sie schon vorhin kennen gelernt haben, streng von diesem zweiten Typ des retorsiven Arguments. 16 Eine Fähigkeit oder Tatsache (im kantischen Fall etwa, dass es Erfahrung gibt) wird vorausgesetzt, um sodann explorativ zu sehen, welche impliziten Voraussetzungen mit jener scheinbar harmlosen Aussage schon akzeptiert sind. Solche Argumente haben durchaus ihren Wert, sie helfen Bedingungen der Möglichkeit offen zulegen, die oftmals explizit in gewissen Theorien geleugnet werden, obwohl sie zugleich vorausgesetzt sein müssen. Aber diese Argumente sind hintergehbar und lassen, wie gesagt, jederzeit die Umkehrung der Argumentation zu. Wenn Moralität möglich sein soll, dann müssen gewisse Postulate als Bedingung der Möglichkeit der Wirklichkeit praktischer menschlicher Vernunft gelten. Wenn es Allgemeingültigkeits- und Notwendigkeitsaussagen zurecht in den Wissenschaften gibt, diese aber nicht nach Hume aus der Erfahrung stammen können, dann muss man eine andere Wissensquelle (die Vernunft) als ermöglichende Bedingung dieser Aussagen akzeptieren. Aber in heutiger, durch eine viel radikalere Skepsis geprägten Zeit stellt sich zunächst die Frage, ob Moralität wirklich oder möglich ist, ob Wissenschaften oder Philosophie überhaupt zurecht Notwendigkeits- und Allgemeingültigkeitsaussagen machen können. Illies führt weiter aus, dass explorative transzendentale Argumente, um den Skeptiker zu überzeugen, mit möglichst minimalen Voraussetzungen starten müssen, 17 zu denen dann die impliziten Bedingungen der Möglichkeit aufgedeckt werden können. Je minimaler aber die Voraussetzungen sind, die auch noch ein Skeptiker zugeben mag, umso uninteressanter sind dann aber auch die explorierten Bedingungen der Möglichkeit. Bezeichnend für Apels und Hösles Ansatz ist nun, dass sie in ihrer Argumentation sich auf reflexiv-transzendentale Argumente berufen. Wer nach den Bedingungen der Möglichkeit allen Denkens und Behauptens fragt, der fragt reflexiv, ja er fragt zugleich nach den 16 17
Vgl. Illies, Grounds, 30–49. Vgl. ebd. 41 ff.
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Bedingungen der Möglichkeit des Suchens nach Bedingungen der Möglichkeit – er betreibt tatsächlich ›Philosophie der Philosophie‹. Wenn es um die Aufdeckung prinzipieller und universaler Strukturen von Vernünftigkeit überhaupt geht, ist es damit im Vorhinein klar, dass es sich hierbei um ein reflexives – aber nicht um ein vitiös zirkuläres – Geschäft handelt. Denn was Bedingung der Möglichkeit für alles Denken ist, muss, insofern es gedacht wird, auch für sich selbst gelten. Könnte es gedacht werden, ohne zugleich vorausgesetzt zu sein oder in dem es aus Anderem abgeleitet wird, wäre es schlicht nicht universell oder unhintergehbar. Apel formuliert entsprechend: Ein Satz ist dann letztbegründet, wenn er a) nicht bestritten werden kann, ohne vorausgesetzt zu werden, und er b) nicht bewiesen werden kann, ohne vorausgesetzt zu sein. 18 Was dies von einem fehlerhaften Zirkel unterscheidet ist genau, dass beide Bedingungen zugleich auftreten, dies ist gerade bei einem Zirkel nicht der Fall, und just weil dies nicht der Fall ist, ist der vitiöse Zirkel problematisch. Doch wie weit sind wir damit in dieser bisher durchaus zugegebenermaßen knappen Wiedergabe der jüngeren Widerbelebung transzendentalen Argumentierens gekommen? Zuzugeben ist, dass dem Zirkelvorwurf und dem Vorwurf der ad hominem-Argumentation durch die Unterscheidung explorativtranszendentaler von reflexiv-transzendentaler Argumentation begegnet werden kann. Zuzugeben ist auch, dass in Zeiten der Sprachlosigkeit zwischen den Schulen eine reflexiv-transzendentale Debatte über die Fundierung der Grundannahmen selbst statt des fraglosen Ausgehens von innerschulischen Selbstverständlichkeiten an der Tagesordnung ist und weiter sein wird. Doch selbst wenn man dies zugesteht, stellt sich die Frage, ob jene Ansätze von Hösle und Apel, die vielen in vielen Punkten viel zu weit zu gehen scheinen, für eine Philosophie, die die in der Einleitung genannten Herausforderungen bewältigen will, immer noch nicht weit genug gehen. Auch Hösles und Apels Argumentationen gegenüber kann man den Eindruck des Punktuellen haben, wenn auch in einer anderen Hinsicht. Es mag Diskursnormen geben, die in jeder Diskurssituation, auch im Diskurs des ethischen Nihilismus noch vorausgesetzt sind, es mag notwendig Apel, Karl-Otto, »Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik«, in: Sprache und Erkenntnis. Festschrift für G. Frey. (Hg.) Kanitscheider, Bernulf, Innsbruck: 1976, 55–82, 72., vgl. auch Hösle, Krise, 163 f.
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wahr sein, dass es notwendige Wahrheit gibt, und wenn dies, dann mag die Vernunft, ja muss sie ontologisch valent sein. Doch wie weiter? Wie gelangt man von der Widerlegung des ethischen Skeptikers zu konkreten Diskursnormen, wie von dort zu materialen Normen, wie zu einer konkreten Ausfaltung der verschiedenen Formen der Vernunft. 19 Wie gelangt man von der Absicherung des Grundgedankens des objektiven Idealismus, demzufolge es Wahrheit geben muss, die Welt erkennbar sein muss, demzufolge Vernunftkategorien und Weltlogik homolog sein können müssen, wie gelangt man von diesen sehr allgemeinen Thesen zu einer konkreten Entfaltung und Generierung der Vernunftformen und Vernunftkategorien. Wenn ich weiß, dass es wahr ist, dass es Wahrheit gibt, würde ich auch gerne wissen, was denn dann sonst noch wahr ist, oder endet genau hier die transzendentale Methode? Dieser Frage soll abschließend, durchaus programmatisch, nachgegangen werden.
Vom Transzendentalen Argument zur Transzendentalen Methode? Abschließende Überlegungen Zunächst ist sicher auffällig, dass die Philosophien von Apel und von Hösle stark integrativen Charakter haben. Apel kommt das Verdienst zu, als erster Brücken zwischen der hermeneutisch-kontinentalen Tradition und der analytischen Schule geschlagen zu haben, und zwar genau durch die transzendentale Reflexion auf implizite Gemeinsamkeiten beider Richtungen 20, allerdings bleiben die Naturwissenschaften bei Apel weitgehend außen vor. Dies ist wohl sicher ein Resultat des Versuches von Apel gegen den Szientismus und Positivismus Boden für eine genuin philosophische Vernunft zu gewinnen. Der Objektivitätsanspruch noch des Szientismus setzt auf der Metaebene eine normative (hermeneutische) Vernunft voraus, dies ist eine transzendentallogische Grundeinsicht des Aufsatzes zum ›Apriori der Programmatisch beschreibt Apel die Grundzüge einer Enfaltung verschiedener Rationalitätstypen in: Apel, Karl-Otto: »Das Problem einer philosophischen Theorie der Rationalitätstypen«, in: Rationalität. (Hg.) Schnädelbach, Herbert, Frankfurt a. M. 1986, 15–31. 20 Wegweisend ist etwa der Vergleich der philosophischen Anliegen von Wittgenstein und Heidegger in: Apel, Karl-Otto: »Wittgenstein und Heidegger: Die Frage nach dem Sinn von Sein und der Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle Metaphysik«, in: Ders. (Hg): Transformation, Bd. 1, 225–275. 19
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Kommunikationsgemeinschaft‹. 21 Hösles neohegelscher enzyklopädischer Integrationsversuch der verschiedensten Wissensgebiete ist sicher ebenfalls Ausdruck des Glaubens an die Integrationskraft transzendentaler Reflexion, sie umfasst just in Umkehrung zu Apel eine Auseinandersetzung mit der Naturphilosophie, speziell der Philosophie der Biologie, 22 vernachlässigt allerdings die Debatten der aktuellen analytischen Philosophie. Gemeinsam sind beiden Autoren darüber hinaus die folgenden integrativen Thesen, die durch das transzendentale Aufdecken impliziter Voraussetzungen für die Verbindung der Schulen innerhalb der Philosophie als auch für das Verhältnis der Philosophie nach außen entscheidend sind. Apel und Hösle argumentieren, dass gegen eine Auflösung der Philosophie in Wissenschaft oder bloßer Wissenschaftstheorie ein eklatanter Selbstwiderspruch in dem dieser Vorstellung zugrunde liegenden Wahrheitsverständnis spricht. Eine Auflösung dieser Art kann man nur fordern, wenn man empirisch-abbildende Sätze für prinzipiell wahrheitsfähig und sinnvoll hält, reflexive oder normative Sätze aber nicht. 23 Der erste nicht zu unterschätzende Gewinn einer transzendentalen Perspektive auf Philosophie und auf ihr Verhältnis zur Wissenschaft ist sicher die Einsicht, dass eine prinzipielle Ablehnung der Wahrheitsfähigkeit philosophischer Sätze (etwa im Unterschied zu empirischen Aussagen) direkt selbstwidersprüchlich bleibt. Bedingung der Möglichkeit etwa einer semantischen Theorie, wie sie paradigmatisch im Tractatus von Wittgenstein vorgeführt wird, ist just die Anerkenntnis, dass solche philosophischen Meta-Aussagen, wie sie den Tractatus selbst durchziehen, doch sinnvoll und wahrheitsfähig sein müssen, soll durch den Tractatus etwas ausgesagt werden. In der Nachfolge der Grenzziehungsversuche für einen sinnvollen Sprachgebrauch im frühen Positivismus hat durchaus die Reflexion auf das, was Bedingung der Möglichkeit noch des Formulierens jener Grenze ist, zu einer Überwindung der primitiven Beschränkung des sinnvollen Sprechens auf den Sprachgebrauch der Apel: »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft«, 394 ff. So enthält neben zahlreichen Aufsätzen zum Darwinismus und zur Philosophie der Biologie das Buch Moral und Politik die Grundzüge einer Theorie des Organischen und der biologischen Seite des Menschen, vgl. Hösle, Vittorio, Moral und Politik. München 1997, 252–287. 23 Kritisch gegen diese etwa im Tractatus von Wittgenstein und in Carnaps ›Die Überwindung der Metaphysik‹ zum Ausdruck kommende Wahrheitstheorie siehe Apel: »Apriori der Kommunikationsgemeinschaft«, 394 ff. und Hösle, Krise, 74 ff. 21 22
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Wissenschaften geführt und damit zu einer nicht zu unterschätzenden Erweiterung des Vernunftbegriffs über das logisch-empiristische Verständnis hinaus. 24 Zweitens, so betonen unabhängig voneinander Apel und Hösle, erweist sich die Annahme echter Differenz und Inkommensurabilität der Vernunftformen, die je für sich autonom und geschlossen sein sollen, nach transzendentaler Reflexion ebenfalls als problematisch. Auch eine solche Sicht stellt natürlich selbst wiederum eine einheitliche Metaperspektive dar, aus der heraus sie zum einen die Inkommensurabilität feststellen als auch die Gleichberechtigung postulieren will. Sie bedarf also just der Form des übergreifenden Denkens, dass sie verabschieden will. 25 Trotz dieser integrativen Leistungen beider Ansätze – und weit mehr wäre natürlich hier noch auszuführen – trotz der beeindruckenden Ausführungen sowohl des Programms einer Diskursethik bei Apel als auch des Programms einer objektiv-idealistischen Philosophie für die Gegenwart bei Hösle – bleibt allerdings die aufgeworfene Frage bestehen: Lässt sich eine selbständige transzendentallogische Semantik und Kategorienlehre entwickeln, oder ist transzendentales Argumentieren ein punktuelles Mittel zum Aufweisen begangener Widersprüche, eine Methode, die arbeitslos bleibt, wenn niemand mehr einen Selbstwiderspruch begeht? Es seien abschließend die Gründe genannt, warum eine Transzendentalphilosophie ›der Zukunft‹ nicht ohne eine transzendental-dialektische Untersuchung der Grundkategorien des Denkbaren auskommt und welche Methode eine solche Kategorienlehre zu verfolgen hätte. Zunächst ist klar, dass das letzte Einheitsprogramm der Philosophie sicher der Versuch des Logischen Positivismus war, alle Philosophie, ja alles sinnvolle Sprechen auf logisch-deduktive Ableitungen festzulegen. Dabei stand vor allem die Klärung der formalen Strukturen des Schließens im Vordergrund, wohingegen der Inhalt Vgl. etwa Apel: »Wittgenstein und Heidegger«, 234 f. Ausführlicher mit Rückgriff auf Apel und Hösle dargestellt ist jene Kritik am szientistischen Sinn-Kriterium in: Spahn, Christian, Lebendiger Begriff – begriffenes Leben. Zur Grundlegung der Philosophie des Organischen bei G. W. F. Hegel, Würzburg 2006, 50–63. 25 Erwägungen zur Entfaltung und Hierarchisierung unterschiedlicher Rationalitätstypen finden sich bei Hösle und Apel etwa in: Apel: »Das Problem der Rationalitätstypen« und Hösle, Vittorio: »Zur Dialektik von strategischer und kommunikativer Rationalität«, in: Ders., Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1995, 59–86. 24
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durch die Empirie gegeben werden sollte. Dieses Programm hat sicher seine Grenzen an beiden Punkten gefunden: das Problem der Protokollsätze und des Verhältnisses von propositionalen Gehalt und ›äußerer Realität‹ des ›Gegebenen‹ ist ungeklärt und hat zu Internalisierungs-, ja Idealismustendenzen geführt, ja sogar den Wechsel ins postmoderne Lager bei Rorty ausgelöst. 26 Auch das Problem der Logik hat sich durch die Pluralität möglicher logischer Systeme verschärft, es ist nicht mehr ohne weiteres klar, welche Logik die Logik unseres Denkens und Argumentierens sein sollte. Kurz: Deduktivlogisches Denken setzt sowohl Annahmen voraus, die auch anders gesetzt werden können (womit man dann zu anderen Ergebnissen kommt) als auch logische Regeln für die innerhalb des Systems nicht noch einmal argumentiert werden kann. Just in einer solchen Lage kann sich eine transzendentalphilosophische Wende als Weiterführung und Überwindung dieser Richtung zugleich verstehen. Gerade aufgrund der Defizite dieses Programms ließe sich zunächst die Idee einer ›transzendentalen Logik‹ etablieren: Welche Prinzipien können zwar in gewissen Logiken außer Kraft gesetzt werden, sind also nur ›regionallogische‹ Prinzipien, welche müssen aber anderseits auf der Ebene des Logikvergleichs und des Aufbaus einer jeden Logik noch vorausgesetzt werden? Ebenso ist die Idee nicht abwegig, dass anstelle einer Auslagerung allen Gedankeninhalts an die ›Empirie‹ und das ›Gegebene‹, auch eine transzendental-semantische Klärung über die Grenzen des analytischen Ansatzes hinausweisen kann. Die Idee einer transzendentalen Entwicklung der Grundbestimmungen unseres Denken ist nicht neu, sie ist genau das, was nach klassischer Definition Platons die Aufgabe der Dialektik ist: die Untersuchung der Begriffe nach ihrer Teilhabe aneinander, sie ist sicher auch exemplarisch in Hegels Logik durchgeführt. 27 Wie sollte jedoch eine solche Transzendentalsemantik methodisch verfahren? Ich möchte mit zwei Hinweisen hierzu enden, die sich auf konkrete Beispiele stützen, damit also hoffentlich als nicht nur programmatisch oder zukunftsvisionär gelten können. Zwei un-
Nagel bemüht sich darum einen Realismus zu verteidigen, der nicht in die gängigen Idealisierungs- und Internalisierungsfallen tritt, vgl. Nagel, Thomas: The view from nowhere. New York, Oxford 1986, 9. 27 Sophistes, 253b9 ff., und vgl. Hegels Bestimmung der Aufgabe der Logik in der »Einleitung«, zu seiner kritischen Anknüpfung an das Programm der Dialektik, siehe dort (Werke 5), S. 35 ff. 26
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terschiedliche Ausgangspunkte eine Theorie der Dialektik sind jedoch zunächst zu unterschieden: Dem platonischen als auch den hegelschen Ansatz liegt die Einsicht zugrunde, dass nicht nur Urteile sich widersprechen können, sondern auch ›Kategorien‹ oder ›Denkbestimmungen‹ selbst. Die Kategorie der Unbestimmtheit etwa ist als solche bestimmt, und zwar dadurch, dass sie nicht das Unbestimmte sein soll. Wenn man also anerkennt, dass jede Kategorie einerseits ihren Gehalt hat, andererseits als Kategorie die Eigenschaften notwendig braucht, die ihr zukommen, insofern sie eine logische Bestimmung ist, so kann man zunächst reflexive und nicht-reflexive Bestimmungen unterschieden 28 (der Begriff des Begriffs ist selbst ein Begriff, das Konzept des Raumes ist nicht räumlich), ja, es kann auch performativ widersprüchliche Bestimmungen geben. Dies besagt dann nicht, dass jene Bestimmungen sinnlos sind oder nichts bezeichnen, allerdings besagt es, dass sie nicht absolut gesetzt werden können, und dass, um sie zu denken als Bedingung der Möglichkeit just die Akzeptanz auch der in ihnen negierten Bestimmung zu akzeptieren bzw. vorauszusetzen ist. Wandschneider versucht mit dieser Einsicht des ›antinomischen‹ Charakters zahlreicher Grundbestimmungen in Anknüpfung an Hegel eine logische Ordnung in unseren Kategorien aufzuweisen. Wichtig ist ihm, dass es hierbei nicht um eine Generierung ex nihilio von Kategorien geht, wohl aber um eine Überprüfung, Ordnung und Implikationsuntersuchung der Grundkategorien allen Denkens. 29 Braßel hingegen geht zunächst im Vorgriff in seiner Analyse nicht von Kategorien, sondern von Urteilen aus, in seinem Fall von dem Urteil »Es gibt Wahrheit«, dessen Negation performativ selbstwidersprüchlich sei. Braßel räumt nun aber ein, dass eine Reihe von weiteren Einwänden für den Skeptiker möglich sind, er könne nun
Braßel unterscheidet terminologisch zwischen den ›formalen Eigenschaften‹ eines Begriffs und seinem Inhalt (seiner Extension, leicht abweichend von der gängigen Redeweise, da nach Braßel es auch Begriffe gibt, die sich selbst die Extension geben, zu dem gehören, was sie bezeichnen, etwa der Begriff ›Begriff‹ selbst), so kann etwa der Begriff des ›Sinnlosen‹ nicht selbst – soll er etwas bezeichnen – als ein ›sinnloser‹ Begriff verwendet werden, sondern kann durchaus eine sinnvolle Verwendung erhalten, vgl. Braßel, Programm, 42 ff. 29 Vgl. Wandschneider, Grundzüge. Das Buch führt dies mit den genannten Mitteln hegelsch gesprochen für die Bestimmungen vom Sein bis zum Fürsichsein durch und skizziert dann noch programmatisch eine sich anschließende Quantitätslogik. 28
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z. B. so etwas sagen wie, es gäbe zwar vielleicht Wahrheit, aber der Begriff Wahrheit, der Existenz von Wahrheit usf. sei vage. 30 Durch Aufdeckung der impliziten Geltungsbedingungen auch der weiteren Einwände gelangt Braßel zu einer Entfaltung einer ganzen Kette von Aussagen, die sich durch die transzendentale Reflexion auf das Implizierte auseinander entwickeln lassen und damit in der Tat den etwas vagen Grundgedanken, dass es wahr ist, dass es Wahrheit gibt, präzisieren, ja konkretisieren helfen. Am Ende der einleitenden Analyse steht dann eine Reflexion über die Möglichkeiten, Reichweite und unterschiedlichen Typen strikt reflexiver Argumentation durch Explikation der Selbstwidersprüchlichkeit von Gegeneinwänden, so dass in einem zweiten Teil das Programm einer ›idealen Logik‹ – in der hier vorgeschlagenen Terminologie also das Programm einer transzendentalen Logik und Semantik – skizziert werden kann. Vieles mehr wäre zu den beiden Ansätzen zu sagen, doch sollen sie hier nur erwähnt sein als Beispiele dafür, dass der Versuch der Entwicklung einer transzendentalen Semantik in der Gegenwart nicht ex nuovo starten müsste. Nachdem es das Verdienst der sogenannten analytischen Philosophie ist, die formalen Grundprinzipien der Logik expliziert zu haben, und dies wie gesagt zu dem Problem der Pluralität von Logiken geführt hat, ist es vielleicht keine zu gewagte Hoffnung, dass nun möglicherweise die Zeit reif ist, neben einer formalen Logik auch wieder das Programm einer transzendentalen Semantik und transzendentalen Metalogik in Angriff zu nehmen. Die kurze philosophiehistorische Skizze von transzendentalen ›ad hominem‹ Argumenten über prinzipielle reflexive transzendentale Argumente, die schon zur Ausbuchstabierung konkreter philosophischer Programme (Diskursethik und objektiver Idealismus) statt nur zur Zurückweisung von skeptischen Einwendungen geführt hat, bis hin zu Ansätzen einer Entfaltung transzendentaler Semantik weist sicher in diese Richtung, auch wenn über viele Einwände und Schwierigkeiten hier hinweggegangen werden musste. Philosophie wäre damit wieder das, was sie ihrem alten Ideal nach sein sollte, begründende und analysierende Klärung der Grundprinzipien des Denkens unter den Vorzeichen der sprachanalytischen Errungenschaften der Gegenwart.
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Braßel, Programm, 25–98.
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Christian Spahn Rorty, Richard: »Transcendental arguments, self-reference, and pragmatism«, in: Transcendental Arguments and Science (Ed.) Bieri, Peter; Horstmann, Rolf-Peter; Krüger, Lorenz, Dodrecht, Holland: D. Reidel 1979, 77–103 Shoemaker, Sydney, Self-knowledge and self-identity. Ithaca, N.Y.: Cornell 1963 Spahn, Christian, Lebendiger Begriff – Begriffenes Leben. Zur Grundlegung der Philosophie des Organischen bei G. W. F. Hegel. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007 Spahn, Christian: »Ein anderes Argument für den Realismus? Nagels Ausweichen vor der Idealismusfalle«, in: Perspektiven philosophischer Forschung, Bd. II. Vorträge der 4. und 5. GPW Graduiertenkonferenzen Heidelberg und Berlin 2006 & 2007, (Hg.) Geier, Fabian; Spahn, Andreas; Spahn Christian, Essen: Oldib 2009, im Erscheinen Stern, Robert (Ed.), Transcendental Arguments. Problems and Prospects. Oxford, New York: Oxford University Press 1999 Strawson, Peter F., Individuals. London: Methuen 1958 Strawson, Peter F., The Bounds of Sense: An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason. London: Methuen 1966 Stroud, Barry: »Transcendental Arguments«, in: Journal of Philosophy, 65, 9, 1968, 241–56 Wandschneider, Dieter: »Letztbegründung und Logik«, in: Letztbegründung als System? (Hg.) Dieter Klein, Bonn: Bouvier 1994, 84–103 Wandschneider, Dieter: Grundzüge einer Theorie der Dialektik: Rekonstruktion und Revision dialektischer Kategorienentwicklung in Hegels »Wissenschaft der Logik«. Stuttgart: Klett-Cotta 1995 Wandscheider, Dieter: »Letztbegründung und Dialektik«, in: Diskurs und Leidenschaft: Festschrift für Karl-Otto Apel (Hg.), Fornet-Betancourt, Raúl, Aachen: Verlag der Augustinus-Buchhandlung 1996, 317–336 Wandschneider, Dieter: »Zur Struktur dialektischer Begriffsentwicklung«, in: Das Problem der Dialektik. (Hg.) Dieter Wandschneider, Bonn: Bouvier 1996, 114–169
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Cassirers dritter Weg der Philosophie Nico Nuyens (Groningen)
Einführung Der Ausgangspunkt meines Vortrags ist, dass die sogenannte Spaltung der Philosophie in einen ›kontinentalen‹ und einen ›analytischen‹ Teil der philosophischen Orientierung, beide in der Form einer bewussten Gegenreaktion auf Kants Transzendentalphilosophie vollzogen, nicht länger haltbar ist. Ich beziehe mich hierbei auf das Werk von Michael Friedman A Parting of the Ways, in welchem er die These aufstellt, dass es bereits seit der Davoser Disputation zwischen Cassirer und Heidegger 1929 und spätestens seit dem Ende des zweiten Weltkriegs eine fundamentale Trennung zwischen der »analytischen« und der »kontinentalen« philosophischen Tradition gibt. Als konkreten Auslöser dieser bereits im Keim enthaltenen konzeptuellen Spaltung identifiziert Friedman Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 und die darauf folgenden Maßnahmen gegen jüdische Wissenschaftler, deren direkte Folge war, dass Cassirer und Carnap zur Emigration gezwungen wurden. Wie viele andere prominente Gelehrte wanderten sie in die USA aus. 1 Diese physische Trennung der Wege von Heidegger bzw. Carnap symbolisiert die Trennung zwischen dem kontinentalen und dem analytischen Teil der Philosophie. In der Nachkriegszeit ist sie so grundlegend geworden, dass sie unseren konzeptuellen Rahmen bis heute noch entscheidend prägt. Der Punkt ist nun aber, dass die einst unüberwindbar erscheinende Kluft in der philosophischen Landschaft in den letzten Jahrzehnten an Breite und Tiefe verloren hat. Denn einerseits lässt sich in der analyti-
Vgl. Friedman 2000, S. ix–xi. Cassirer wanderte am 12. März 1933 aus Deutschland aus und verbrachte danach zwei Jahre in Oxford, England, sechs Jahre in Göteborg, Schweden, und schließlich vier Jahre in den USA (Friedman 2000, S. 4; Recki 2004, S. 149). Carnap lehrte bis Ende 1935 an der Deutschen Universität in Prag und wanderte dann in die USA aus (Friedman 2000, S. 7).
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schen Philosophie ein wachsendes Bewusstsein von der allzu beschränkten Bestimmung der Philosophie als einer Wissenschaft wahrnehmen, die sich hauptsächlich mit erkenntnistheoretischen und logischen Problemen beschäftigt, was unter anderem zu einer bescheidenen Rückbesinnung auf Kants Transzendentalphilosophie geführt hat. Andererseits wird in der Philosophie der kontinentalen Strömung eine Erschöpfung der typischen Themenbereiche der Nachkriegsphilosophie deutlich. Denn Existenzphilosophie, Frankfurter Schule, Heidegger’sche Existentialontologie, Psychoanalyse, Dekonstruktivismus, Strukturalismus und sogar Feminismus beschäftigen sich bis heute mit Problemen, die nur innerhalb einer bestimmten sozio-politischen Perspektive Gültigkeit und Überzeugungskraft besitzen, nicht aber eine universelle Geltung haben. Das gemeinsame Band, das diese sonst sehr unterschiedlichen Orientierungen zusammenhält, ist die bittere Enttäuschung über das offensichtliche Scheitern des Projektes der Aufklärung. Doch in dieser Auffassung steht die kontinentale Philosophie nicht allein. Auch die Analytiker halten die Philosophie der Aufklärung für eine Art des Denkens, das übertrieben anmaßend und pompös über das Ziel hinaus geschossen ist. Stattdessen sollte die Philosophie sich bescheidener geben und mit kleinen, aber methodisch sicheren Schritten ihre Denkwege zurücklegen. Aber genau an dieser Stelle finden wir ein Indiz, welches uns zu einer Philosophie der Zukunft führen kann. Denn wo nicht nur die kontinentale, sondern auch die analytische Philosophie die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges als einen wichtigen Beleg für die Unwahrheit der Aufklärungsphilosophie betrachtet, da liegt es auf der Hand, die Bewältigung dieses scheinbaren Widerspruchs an die erste Stelle zu setzen. Der Ausweg, den Cassirer anbietet, besteht darin, dass er die Irrationalität der geschichtlichen Ereignisse weder schlichtweg als einen Mangel an Rationalität noch ausschließlich als ihre Schattenseite versteht. Nach Cassirer soll die Philosophie die Rolle des allgemeinen Dolmetschers der vielfältigen »Sprachen« übernehmen. Sie soll nicht nur eine bestimmte Art des Wissens von der Welt, sondern auch das Gewissen der menschlichen Kultur sein. 2 In diesem Zusammenhang spricht z. B. Volker Schürmann von Cassirers »drittem Weg« zwischen (transzendentalem) Idealismus und (logischem) Positivismus (Schürmann 1996, S. 83). Das Eigen2
LKW, S. 27; Siehe auch Kuhn 1966, S. 417.
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Cassirers dritter Weg der Philosophie
artige aber ist, dass dieser Weg kein Weg ist, der zeitlich erst nach den beiden anderen sichtbar geworden ist. Heidegger und Carnap, um die Symbolik der Davoser Disputation noch einmal heranzuziehen, kannten sehr wohl die Bedeutung der Cassirer’schen Philosophie als einer eigenständigen philosophischen Alternative, nur lehnten sie sie ab. Friedman ist der Meinung zugetan, dass Cassirer einen der Wege der Philosophie repräsentiert – nämlich den Neukantianismus – welcher zu einem toten Punkt führt. Angesichts des großen Potentials aber, welches der symbolische Idealismus der Philosophie zu bieten hat, sollte eine Neubelebung dieses Weges an erster Stelle stehen. Denn die Philosophie ist heute keineswegs tot. Nur ist sie mit dem scharfen Gegensatz zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie an einen toten Punkt gelangt. Im Folgenden werde ich mich auf zwei Fragen konzentrieren: (1) Auf welche Weise begründet Cassirer die systematische Grundlage und insbesondere das Prinzip seiner Philosophie: das der symbolischen Prägnanz? (2) Welche Vorteile bietet Cassirers ›symbolischer Idealismus‹ gegenüber anderen Systementwürfen der Transzendentalphilosophie, sowie gegenüber Heideggers Existentialontologie?
1.
Die systematische Grundlage des symbolischen Idealismus
Cassirers Philosophie wird zumindest durch vier Grundbegriffe charakterisiert: i. offenes System, ii. Pluralität der Symbolformen, iii. agonale Komplexität der Kultur und iv. symbolische Prägnanz. Fangen wir mit dem ersten Begriff an. (i) Obwohl der symbolische Idealismus eindeutig der Transzendentalphilosphie zugeordnet werden kann 3, bildet er doch nicht im eigentlichen Sinne ein philosophisches System. Die Philosophie der symbolischen Formen ist eine systematische Philosophie, dennoch kann sie nicht als System gedeutet werden, weil sie nicht dessen Anforderungen entspricht. Unter einem System versteht man üblicherweise eine nach logischen Prinzipien geordnete Einheit, deren Teile durch einen kohärenten und zweckmäßigen Zusammenhang charakterisiert werden. Das heißt, die Teile dürfen einander nicht logisch Cassirer bezeichnet seine Philosophie der symbolischen Formen explizit als einen transzendentalen Idealismus (ECW 11, 1–49; Vgl. Recki 2004, S. 155).
3
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widersprechen und müssen als Einheit einem Zweck dienen. Man denke hier in Analogie an einen Organismus, bei dem jedes Teil, also Herz, Leber usw., eine bestimmte Funktion erfüllt. Eine wesentliche Implikation des Systembegriffs ist, dass er kein ›mehr‹ oder ›weniger‹ seiner Teile zulässt. Würde man ein Organ hinzufügen oder wegnehmen, so würde der Organismus zu Grunde gehen oder sich dadurch wesentlich verändern. Wenn Cassirer also von »offenen Systemen« redet (ECW 13, 23), dann scheint dies eine contradictio in adjecto zu bedeuten. Und in der Tat ist das, streng genommen, auch der Fall. Der Punkt aber, den Cassirer mit diesem Ausdruck machen will, ist, dass die einzelnen Symbolformen, wie Mythos, Sprache, Wissenschaft usw., keine festen Gefüge der Kultur sind, sondern sich in einem kontinuierlichen Prozess der Entwicklung befinden und niemals zur endgültigen Vollendung gelangen. Was für die Symbolformen gilt, ist auch für die Kultur als Totalität der Fall. Auch sie wird niemals vollendet sein. Der Unterschied ist aber, dass, im Gegensatz zu den Symbolsystemen, die Kultur als solche nicht a priori als Organismus verstanden werden kann. Ihre Teile müssen nicht miteinander kohärent sein und, in der Tat, sind sie es meistens nicht. Deshalb hält Cassirer es für eine besondere Aufgabe der Philosophie, als Vermittler zwischen den Kulturbereichen aufzutreten und damit die Spannungen und Streitigkeiten zwischen ihnen zu beheben. Aus diesem Grund ist der Begriff des »Modells« besser geeignet, um das auszudrücken, worum es sich hier handelt. Denn die Philosophie soll positive Vorschläge machen, um eine Einheit der Kultur zu erreichen; eine Einheit, die nicht von vornherein gegeben ist, sondern durch konstruktive Arbeit erst erreicht werden muss. Das Modell der Kultur ist also weder rein deskriptiv noch rein normativ, sondern konstruktiv. Es soll sichtbar machen, wie eine Einheit der Kultur möglich ist. Die Möglichkeitsbedingungen der Formen der Kultur sowie die Bedingungen der Möglichkeit von Bedeutung überhaupt gilt es also zu erforschen. Mittels eines Modells der kulturellen Erscheinungsformen soll die Pluralität der Weisen des Weltverstehens in Einklang gebracht werden. Wie dies genau geschehen soll, ist nicht a priori festgelegt, sondern muss, abhängig von den konkreten Bedingungen der kulturellen Erscheinungsformen und in ihrer Entwicklung verstanden, jedes Mal neu festgestellt werden. (ii) Für den symbolischen Idealismus bedeutet dies zunächst, dass sämtliche Bereiche der Kultur, also die verschiedenen symbolischen Formen, analysiert werden müssen. Eine solche Aufgabe mag – 68 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Cassirers dritter Weg der Philosophie
in Anbetracht der beispiellosen Wucherungen der kulturellen Domäne und geradezu Explosion der wissenschaftlichen Erkenntnis – sicherlich als eine Sisyphusarbeit erscheinen. Aber statt bloß die Menge der kulturellen Formen durchzuarbeiten, geht es vielmehr darum, die Prinzipien der jeweiligen Formen zu bestimmen. Anhand der sogenannten »Urformen der Synthesis«, die reine Funktionen darstellen, sollen die verschiedenen Manifestationen dieser innerhalb der symbolischen Welten beurteilt werden. Wenn wir z. B. die Urform der Zeit nehmen, so gilt es zu erforschen, welche besondere Bedeutungswandlung die Zeit als reines Nacheinander in den symbolischen Modifikationen des Mythos, der Wissenschaft, der Kunst usw. erfährt. Der wichtigste Punkt bei dieser Arbeit ist es, stets die Pluralität, d. h. die prinzipielle Gleichwertigkeit und Autonomie der Symbolformen im Auge zu behalten. Der Begriff der Zeit, so wie er in den Naturwissenschaften verstanden wird, ist nicht der einzig ›richtige‹ Zeitbegriff. Auch im Mythos, in der Sprache und in der Kunst (z. B. Musik) gibt es eine bestimmte Auffassung von Zeit, die sich jeweils von allen anderen ›Zeiten‹ unterscheidet. Das ›Wesen‹ der Zeit, um einen alten metaphysischen Begriff zu nehmen, besteht weder in einer ewigen Essenz, im Sinne einer absoluten Wesenheit, noch in der Summe der existierenden ›Abbilder‹ dieses ›Urbildes‹, sondern ausschließlich in der Totalität aller möglichen Manifestationen einer für sich bedeutungslosen reinen Funktion des Nacheinanders. Diese reine Funktion hat selber auf keine Weise ›Bestand‹. Sie ist bloß ein Produkt des menschlichen Geistes und soll deswegen auch als Postulat der praktischen Vernunft verstanden werden. (iii) In diesem Zusammenhang ist es auch hilfreich, kurz auf die agonale Komplexität der Kultur einzugehen. Wie Cassirer an verschiedenen Stellen zum Ausdruck bringt 4, kann nicht die Rede davon sein, dass die symbolischen Formen friedlich neben einander ko-existieren. Im Gegenteil, die Geschichte der Kultur zeigt uns eindeutig und ohne Erbarmen, dass die Mannigfaltigkeit der Weltansichten zu einem andauernden Streit aller gegen alle führt. Die Religion bestreitet den Aberglauben des Mythos, die Wissenschaft bekämpft die Gewohnheiten der Sprache und die Kunst widersetzt sich der kalten Objektivität der Wissenschaft. Diesem Aspekt des symbolischen Idealismus wurde bis jetzt in der Cassirer-Forschung nicht viel Be-
4
Zum Beispiel in PSF I, 81–82 (ev); ECW 13, 20; LKW, S. 5, 87; PSF IV, 226 (ev).
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achtung geschenkt; aber er verdient doch unsere besondere Aufmerksamkeit, weil er für das Verständnis der Dynamik der Kultur essentiell ist. Ohne die konfligierenden Auseinandersetzungen der Symbolformen wäre die Kultur als die Summe von eindimensional sich entwickelnden Kulturbereichen aufzufassen. Es ließe sich dann aber nicht erklären, wie plötzliche Veränderungen der kulturellen Objektivität möglich sind. Für Cassirer ist daher die alte metaphysische Maxime, dass die Natur keine Sprünge macht (natura non facit saltus), ein leeres Wort (LKW, 101). Die Natur oder, in Cassirers Terminologie, die kulturelle Objektivität macht manchmal doch einen Hopser von einer alten in eine neue Symbolform. Graduelle Veränderungen gibt es freilich auch, aber wirklich wichtige Kulturerneuerungen können sich nur sprunghaft, und das heißt gelegentlich auch gewaltsam, durchsetzen. Es sind nach Cassirer genau diese Momente der Weltgeschichte, diese ›Kopernikanischen Wenden‹, die die Aufmerksamkeit der Philosophen verdienen. Das bedeutet im Übrigen auch, dass der Fortschritt der kulturellen Objektivität keiner langsam aber stetig emporsteigenden Linie gleicht, sondern ständig und mit wechselndem Erfolg erkämpft werden muss. 5 Eine positive Seite des Kulturkampfes ist zumindest, dass, indem die Symbolformen einander herausfordern, sie sich auch zwingen, sich deutlicher voneinander abzugrenzen und sich selbst weiterzuentwickeln, damit sie dem Konkurrenzdruck besser die Stirn bieten können. Allerdings ist die agonale Komplexität der Kultur weder eindeutig böse noch eindeutig gut. Dem symbolischen Idealismus soll es deswegen in erster Linie nicht darum gehen, eine Bewertung der kulturellen Komplexität auszusprechen, sondern vielmehr soll er versuchen, diese in ihrer Dynamik zu verstehen. Dies aber als »das moralphilosophische Defizit dieses Systementwurfs« (Recki 2004, S. 152–3) zu sehen, wie Birgit Recki dies tut, ist meines Erachtens kein gerechtes Urteil. Denn Cassirers Philosophie ist sicherlich nicht ohne Moral. Sie weigert sich nur, bestimmte Sätze, mögen sie nun epistemischer, ästhetischer oder auch ethischer Natur sein, als unwiderlegbare Ausgangspunkte zu akzeptieren.
Dem wichtigen Cassirerforscher John Michael Krois zufolge soll Cassirer den Begriff der ›kulturellen Konflikte‹ zum ersten Mal 1930 in seinem Aufsatz Form und Technik eingeführt haben (Krois 1983, S. 81). Aber wie ich oben bereits erwähnt habe, hat er diesen wichtigen Begriff tatsächlich bereits 1923 im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen verwendet (PSF I, 13).
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(iv) So viel also zu der diachronen, kulturgeschichtlichen Seite der Cassirer’schen Philosophie. Die synchrone – also systematische – Seite zeigt uns ein anderes Bild. Hier wird die Mannigfaltigkeit der Kulturerscheinungen auf ein Prinzip der symbolischen Prägnanz zurückgeführt. Dieses Prinzip besagt, dass alles, was wahrgenommen wird, einen Sinn in sich trägt, der durch einen Kontext der Bedeutung bestimmt ist. Jede Wahrnehmung wird als ein Symbol verstanden, das aus zwei miteinander innig verschlungenen Komponenten besteht: einem sinnlichen Wahrnehmungsbestand und einem geistigen Sinn. Einzeln und für sich genommen haben die beiden Teile der symbolischen Relation keinerlei Bedeutung: Sie sind sinnleere Abstrakta. Aber zusammengenommen in einer konkreten Einheit bilden sie die ›Atome‹ des symbolischen Universums. Mit Cassirers Worten sind sie »Urphänomene«, weil sie ursprünglich als synthetische Einheit gegeben sind und bloß eine distinctio rationis (gedankliche Trennung) zulassen, sicherlich aber keine distinctio realis (reale Trennung). Es ist genau dieses theoretische Gefüge, das Cassirers ›symbolischen Idealismus‹ ausmacht. Denn außerhalb der Domäne des Symbolischen gibt es nach Cassirer keine Realität. Sowohl das reine Sein, das im Empirismus oder Positivismus durch das Wahrnehmungsvermögen aufgefasst wird, als das reine Denken, dem im Idealismus die Vorrangsstellung zugesprochen wird, ist ein Abstraktum, eine einseitige Hypostasierung eines relationalen Begriffs. Anstatt Sein und Denken als Substanzbegriffe zu verstehen, als einstellige, mit sich selbst identische Begriffe, sollte man versuchen, beide in ihrer ursprünglichen Erscheinungsform, also als zwei einander bedingende Komponenten innerhalb des Symbolbegriffs, zu bestimmen. 6
Es gibt zu diesem Thema in der Sekundärliteratur eine Diskussion in Bezug auf die Frage, ob die Relation des Prinzips der symbolischen Prägnanz eine 2- oder 3-stellige (dyadische oder triadische) Relation ist (vgl. Krois 1984, S. 440–441; Krois 1987, S. 52–54, 228; Hamburg 1956, S. 72–73; H. Paetzold 1981, S. 92–100). In meiner Masterarbeit (The Architectonic of Ernst Cassirer’s Philosophy of Symbolic Forms) argumentiere ich für die von D. Pätzold favorisierten These, dass die symbolische Relation als ein flexibles Verhältnis zwischen drei Relationsgliedern aufgefasst werden soll: einem Zeichen, einer Vorstellung und einem Bedeutungsganzen. Je nachdem ob die Relation in den Modifikationen des Ausdrucks, der Darstellung oder der reinen Bedeutung verstanden wird, kann sie als 3-, 2- oder sogar 1-stellig gedeutet werden (vgl. D. Pätzold 2003, S. 63–64).
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Die Frage nach der Begründung und vor allem nach der logischen Konsistenz des Cassirer’schen Prinzips der symbolischen Prägnanz wurde bereits 1936 durch den schwedischen Philosophen Konrad Marc-Wogau gestellt. Marc-Wogau, der übrigens richtig gesehen hat, dass das Prinzip der symbolischen Prägnanz von zentraler Bedeutung für die Philosophie Cassirers ist, behauptet, dass dieses Prinzip der logischen Kritik nicht standhalten kann. Die zwei Komponenten des Symbolbegriffs – Sinnlichkeit und Sinn – wären nämlich nicht ausreichend voneinander getrennt und müssten so begrifflich zusammenfallen. Um dies noch genauer zu formulieren: MarcWogau ist der Meinung, dass die von Cassirer vorgesehene Beziehung zwischen Sinnlichkeit und Sinn, also zwischen der sinnlichen Präsenz eines Zeichens und seiner wie auch immer gearteten Repräsentation, zu einem »Doppelgedanken« führt. Er begründet seine These, indem er feststellt, dass von Cassirer einerseits behauptet wird, dass Sinnlichkeit und Sinn eine untrennbare Erlebnis-Ganzheit bildeten, während Sinnlichkeit und Sinn andererseits verschiedene Glieder einer Bedeutungsrelation seien. Im Symbolbegriff sei also nach Marc-Wogau der Gedanke der Identität und der Gedanke der Differenz auf eine widerspruchsvolle Art verbunden. Nach Cassirer ist in der Tat ihre Beziehung eine der ›wechselseitigen Bedingtheit‹. Das heißt, dass die Glieder dieser Relation ihrer Bestimmtheit nach durcheinander bedingt sind; das eine Glied hat einen Sinn nur in Bezug auf das andere und umgekehrt. Hieraus schließt Marc-Wogau, dass beide Glieder zusammenfallen müssen, denn »[s]ollen A und B derart verbunden sein, dass A seine Bestimmtheit nur in Bezug auf B, B seine Bestimmtheit nur in Bezug auf A erhält, so ist es unmöglich, zwischen A und B zu unterscheiden« (Marc-Wogau 1936, S. 292). Auf diese Weise verneint er die Möglichkeit eines korrelativen Wechselverhältnisses. Seine strenge Interpretation des Symbolbegriffes lässt nur eine Relation zu, die entweder als Identität oder als Differenz verstanden werden kann. Beide in einem konsistenten Begriff zu fassen sei unmöglich. Cassirer nähert sich aber dem Grundproblem der Bedeutungsrelation von der anderen Seite der philosophischen Rechtfertigung an. Er erklärt, warum die Annahme einer solchen Korrelation zu bevorzugen ist, verglichen mit einem Standpunkt, der die Priorität eines der beiden Glieder über das andere Glied behauptet (diesen Standpunkt vertritt Marc-Wogau). Hypothetisch betrachtet, hätte Cassirer sogar zugeben können, dass das Korrelationsgefüge von Sinn und 72 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Sinnlichkeit in der Tat formallogisch problematisch ist. Es wird kein ›letzter Grund‹ der Bedeutung bestimmt, sondern die zwei Glieder der Relation bedingen einander auf zirkuläre Weise: die Sätze »keine Sinnlichkeit ohne Sinn« und »kein Sinn ohne Sinnlichkeit« sind beide in gleichem Maße wahr. Diese Zirkularität gleicht aber nicht einem bösartigen Zirkel, sondern einer Form der Zirkularität, die die Reduktion der Bedeutung auf bloß ein Element vermeidet und damit die ursprüngliche Struktur der Bedeutung bestehen lässt. Diese Struktur der Bedeutung kann nur als wesentlich korrelativ gedacht werden, weil alle Alternativen genau zu der Eindimensionalität führen, die Cassirer vermeiden möchte. Um seinen Standpunkt zu untermauern, beruft er sich – auf für ihn typische Weise – auf Platon. Platon war laut Cassirer imstande, die Identitäts-Logik der Eleaten zu überwinden, indem er den Begriff der ›Differenz‹ als grundlegende Kategorie der Logik anerkannte. Denn beide Begriffe, der des héteron und der des enantíon, haben ihre eigene Berechtigung; sie dürfen nicht miteinander vermengt werden. Konsequent zu Ende geführt müsste Marc-Wogau mit den Megarikern den Schluss ziehen, dass man nur sagen kann »der Mensch ist Mensch« und nicht »der Mensch ist gut« (Cassirer 1938, S. 207, 221). Es gehört zum Charakter des Symbolbegriffs, dass dieser zugleich eines und vieles ist, zugleich Identität und Differenz. Als transzendentale Möglichkeitsbedingung für Bedeutung überhaupt darf das Prinzip der symbolischen Prägnanz selbst nicht nach den Regeln der formalen Logik beurteilt werden. Dieser Symbolbegriff ist zwar – das gibt Cassirer offen zu – ein Gordischer Knoten. Ihn aber aufgrund von metaphysischer oder logischer Voreingenommenheit zu zerhauen, kann nicht die Lösung sein, denn dann werden wir erneut mit dem Problem konfrontiert, wie die konkreten Phänomene aus der aggregativen Summe von Empfindungsdaten aufgebaut werden können (Cassirer 1938, S. 226). Cassirer ist der Meinung, dass der Zweck der Logik darin besteht, als regulatives Prinzip der Vernunft zu dienen. Sie soll nicht als konstitutives Prinzip verstanden werden. In diesem Sinne glaubt Cassirer, dass MarcWogaus Kritik an ein zu enges und starres logisches Schema gebunden ist und dass dieses Schema der »freien Bewegung des Gedankens« nicht genügend Raum gewährt (Cassirer 1938, S. 229).
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2.
Die Vorteile des symbolischen Idealismus
Im Folgenden bespreche ich jeweils die Vorteile des symbolischen Idealismus im Vergleich i) zum deutschen Idealismus, ii) zum Neukantianismus und iii) zu Heidegger. i) Im Vergleich zum deutschen Idealismus ist an erster Stelle zu erwähnen, dass der symbolische Idealismus eine viel modernere Form der Transzendentalphilosophie darstellt. Mit »modern« ist hier nicht nur gemeint, dass die Idee eines absoluten Systems des Wissens, wie die Philosophie von Fichte, Schelling und Hegel verstanden wurde, vor allem im 20. Jahrhundert an Glaubhaftigkeit eingebüßt hat, sondern auch, dass die Einbeziehung der Natur- und Geisteswissenschaften eine wichtige Voraussetzung für die Philosophie geworden ist. Cassirer zufolge war gerade die Anerkennung der pluralen Autonomie von Perspektiven auf die Welt eine der wichtigsten Ergebnisse der kantischen Kritik. Aber die Systeme des deutschen Idealismus nehmen im Gegensatz zur kritischen Philosophie Kants eine ursprüngliche Einheit der Vernunft in der Form einer ›absoluten Erkenntnis‹ an und deduzieren daraus die Mannigfaltigkeit der Denkformen. Für Cassirer bedeutet dieser Unterschied eine Wasserscheide zwischen Kants kritischer Philosophie und dem spekulativen Idealismus. Denn statt die Einheit des Geistes als Ausgangspunkt des Philosophierens zu nehmen, soll es darum gehen die philosophische Reflexion bei der konkreten Mannigfaltigkeit der kulturellen Phänomene anfangen zu lassen. Die Einheit des Geistes ist, nach Cassirer, sicherlich als das Ziel einer Transzendentalphilosophie anzuerkennen. Dennoch bedeutet dies nicht, dass diese unkritisch vorausgesetzt werden darf. Sie soll nur als ein virtueller focus imaginarius funktionieren, als ein unendlicher weiter Punkt, der zwar als Zielpunkt dient, jedoch selbst niemals erreicht werden kann. Besonders Hegels System des »absoluten Idealismus« ist aus Cassirers Perspektive ein typisches Beispiel für eine Philosophie, die die Einheit des Systems bloß auf einem logischen Prinzip begründet (PSF III, xiv). Diese ›Aufhebung‹ bedeutet eine Auflösung der kulturellen Mannigfaltigkeit in eine Form der Logik, nämlich die rein ›rationale‹ und ist deswegen zum Scheitern verurteilt. 7 Der symbolische Idealismus hat nun den entscheidenden Vorteil, dass dieser von einer Pluralität der ›Logiken‹ ausgeht, bei der eine Reduktion der einen auf die andere vermieden 7
Siehe auch D. Pätzold 2003, S. 56–57.
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werden kann (PSF I, 15–16). Um dies noch weiter zu verdeutlichen: Laut Cassirer soll es nicht nur eine Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis geben, sondern auch des Mythos, der Sprache, der Kunst usw., d. h. dass alle diese Kulturbereiche nach ihren eigenen logischen Gesetzmäßigkeiten funktionieren und daher auch entsprechend beurteilt werden müssen (LKW, 10). ii) Die wichtigste Kritik der Neukantianer am deutschen Idealismus war ebenfalls, dass er sich die Wirklichkeit viel zu stark als eine monolithische und rein rational zu begründende Einheit vorstellte. Im Zuge der Entwicklungen der Wissenschaften im 19. Jahrhundert entschieden sich die Neukantianer zu einer Rückbesinnung auf das philosophische Projekt Kants. Denn ursprünglich hat die Kantische Philosophie sich niemals als den Wissenschaften neben- oder sogar übergeordnet betrachtet. Philosophie soll die Entwicklung der Wissenschaften als Ausgangspunkt und sich selbst als Diskussionspartner sehen. Wo Kant noch die Newtonsche Physik als unwiderlegbar auffasste, und die metaphysischen Fundamente der mathematischen Naturwissenschaften darlegte, da vertritt Hermann Cohen die Auffassung, dass man die apriorischen Annahmen der Naturwissenschaft nicht deduzieren soll. Diese können nur auf Grund von wissenschaftlichen Tatsachen durch eine transzendentale Logik der reinen Erkenntnis vorausgesetzt werden. In dieser Hinsicht hat der Marburger Neukantianismus eine sich vom deutschen Idealismus wesentlich unterscheidende Auffassung von systematischer Philosophie gewonnen. Wo jener versucht, seine philosophischen Systeme ausschließlich mittels der reinen Vernunft zu begründen, lehnte Cassirer, in diesem Punkt mit den Neukantianern einig, diese Form der Selbstbegründung entschieden ab, da sie die empirischen Wissenschaften auf eklatante Weise außer Acht lässt. Dies bereitete den Neukantianern jedoch Schwierigkeiten, weil die enge Beziehung zu den Wissenschaften zu einer unbequemen Abhängigkeit von den wechselnden wissenschaftlichen Paradigmen der empirischen Wissenschaften führt: Jedes Mal, wenn eine Verschiebung des Paradigmas eintritt, müssen die Prinzipien für die Begründung der Erkenntnis revidiert werden. Aus diesem Grund eigneten sie sich den Begriff des »offenen Systems« an. Er bedeutet, dass sie ihre Philosophie nicht als eine fertige Struktur von Sätzen betrachten, welche durch Prinzipien der reinen Vernunft bestimmt wird, sondern vielmehr als kontinuierliche Aktivität einer interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft. Zugleich bleibt der Begriff des Systems jedoch insofern von Bedeutung, dass die kri75 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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tische Selbstauffassung der Marburger Neukantianer den Gebrauch systematischer Methoden voranstellt. In den Worten von Hermann Cohen ist die »Transzendentalphilosophie wesentlich systematisch« (Cohen 1918, S. 732). Er meint damit, dass der systematische Charakter der Philosophie eine Einheit der Methode voraussetzt, welche auf drei Dimensionen der menschlichen Vernunft angewendet werden kann: Auf die Logik, die Ethik und die Ästhetik. Diese drei Dimensionen konstituieren die Teile von Cohens System der Philosophie. 8 Auf diese Weise versucht er den allzu engen Blick in der Kritik der reinen Vernunft auf die mathematischen Naturwissenschaften um die Bereiche der Ethik und Ästhetik zu erweitern. Obwohl Cassirer sich in vielen Punkten mit Cohen (und auch Natorp) einig weiß, lassen sich doch auch einige entscheidende Differenzen zwischen ihnen nicht von der Hand weisen. Cassirers Einbeziehung der neuesten naturwissenschaftlichen Theorien (insbesondere der Relativitätstheorie und der Quantenphysik) markiert eine entscheidende Distanzierung zwischen ihm und den Marburgern. Aber wichtiger noch sind die systematischen Unterschiede. In Bezug auf die kulturelle Pluralität ist Cassirer der Meinung, dass die von Cohen vorgesehene Erweiterung der Formen der Vernunft noch nicht weit genug vorangetrieben wurde. Besonders zweifelhaft ist für Cassirer, dass Cohen nur der Logik im engeren Sinne eine wahrhafte Autonomie zuspricht und dadurch alle anderen Formen der Kultur bloß auf eine Form der Logik reduziert werden. Cassirer will dagegen die Autonomie des Mythos, der Religion, der Kunst, der Technik usw. wahren, damit sie nicht alle an ein rationales Begriffssystem angeglichen werden. iii) Das Verhältnis zwischen Cassirer und Heidegger ist ein Thema, worüber mittlerweile schon viel geschrieben wurde. Bereits auf der Davoser Disputation wurden die beiden als die größten Philosophen ihrer Zeit betrachtet. Heidegger war der philosophische Emporkömmling, der mit seiner radikalen Fundamentalontologie dem Neukantianismus den Krieg erklärte. Da ihm aber ein klarer Gegner fehlte, versuchte er Cassirer als Vertreter der Neukantianer, als einen »Dinosaurier der Subjektphilosophie« darzustellen (Vgl. Recki 2004, S. 208). Jener versuchte dagegen, so weit wie möglich die polemische Cohens systematisches Hauptwerk System der Philosophie erschien in drei Teilen: Logik der reinen Erkenntnis (1902), Ethik des reinen Willens (1904), und Ästhetik des reinen Gefühls (1912).
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Art des Heidegger’schen Diskutierens zu meiden. Bedingt durch seine im Grunde genommen pluralistische Weltauffassung, aber sicherlich auch durch seinen Charakter, hatte Cassirer keinerlei Interesse daran, seine philosophischen Ansichten als die einzig ›wahren‹ Ansichten gegenüber anderen zu behaupten. Es fällt aber trotzdem auf, dass er, trotz des damals schon großen Einflusses der Heidegger’schen Philosophie als Konkurrentin des Neukantianismus, diese in seinen publizierten Schriften nicht kritisiert hat. Im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen, dem philosophischen Hauptwerk Cassirers, gibt es nur ein paar (wohlwollenden) Fußnoten zu Heidegger. Neben dem Text der Davoser Disputation finden wir eine kritische Besprechung von Heideggers Philosophie im Nachlasstext ›Geist‹ und ›Leben‹ (ECN 1, S. 207–229). Cassirer deutet hier Heidegger als einen von der Religionsphilosophie kommenden Denker, der die ganze Dingwelt, die Welt der ›Realität‹ als sekundäres Phänomen betrachtet. Die Heidegger’sche Anschauung der ›Existenz‹ gründet in der Zeitlichkeit und diese wiederum in der ›Sorge‹. Der ›Idealismus‹ Heideggers besteht darin, dass, wenn kein Dasein existiert, auch keine Welt da ist. Für Cassirer bedeutet dies, dass »sich hier wesentlich [Heideggers] Weg von dem unseren scheidet« (ECN 1, 220), denn das Allgemeine soll nicht als bloßes ›Man‹ verstanden werden, wie Heidegger es tut. Für Cassirer ist das Allgemeine der »objektive Geist« und die »objektive Kultur«. Genau diesen Punkt hat er bereits während der Davoser Disputation angeführt. Dem Protokoll zufolge konfrontiert Cassirer Heidegger mit dessen Behauptung, dass es Wahrheiten an sich oder ewige Wahrheiten überhaupt nicht geben kann. Insofern sie bestehen, sind sie nach Heidegger relativ auf das Dasein. Cassirer bemerkt darauf, dass es aber für Kant (auf den auch Heidegger sich zu beziehen behauptet) gerade das Problem war, wie es trotz der Endlichkeit des Daseins nichtsdestoweniger notwendige und allgemeine Wahrheiten geben kann im Sinne der Frage: ›Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?‹. 9 Für Heidegger spielt jedoch die Objektivität keine Rolle. Sogar der Begriff des Logos wird bei ihm zu einem bloß sozialen Phänomen, zur ›Rede‹ der Menschen. Dem Logos aber den Vernunftgehalt abzusprechen und ihn einseitig als rein sprachliches Phänomen zu inter»Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger (1929)«, in: Heidegger, Martin (1973) Kant und das Problem der Metaphysik. Fünfte, vermehrte Auflage. Frankfurt am Main 1991, Vittorio Klostermann, S. 277.
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pretieren, könnte freilich Cassirers Auffassung nicht deutlicher widersprechen, für ihn ist der Logos die Art in der »ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt«. 10 Mit anderen Worten: Der Logos ist die Weise, auf welche man etwas versteht; dabei muss man natürlich sagen, dass verstehen nicht nur mittels der Sprache, sondern mit allen Mitteln des geistigen Ausdrucks geschieht. Alle geistigen Formen der Kultur leisten für den Aufbau des objektiven Geistes ihren eigentümlichen Beitrag, sowohl die der reinen Mathematik, der Kunst, der Religion, als auch jene eines mythischen Weltverstehens (ECN 1, S. 220).
Schluss Wie Jens-Peter Peters 1983 bereits deutlich gesehen hat, nimmt Cassirer eine besondere Stelle ein zwischen der modernen Sprachphilosophie und der klassischen Transzendentalphilosophie. Er sagt: »Cassirer wird damit zur Brücke, die von der modernen Sprachphilosophie zu Kant führt« (Peters 1983, S. 26). Diese Brückenfunktion der Philosophie der symbolischen Formen ist es also, die sie so geeignet macht, die Rolle einer Philosophie der Zukunft zu erfüllen. Dem symbolischen Idealismus zufolge besteht die Aufgabe der Philosophie darin, die Strukturgesetze der verschiedenen Gestaltungen des menschlichen Weltverstehens zu ergründen, ohne selbst eine bestimmte Perspektive als die einzig wahre zu betrachten. Die verschiedenen Formen der menschlichen Kultur sind als prinzipiell gleichberechtigte und auseinander nicht ableitbare Dimensionen zu betrachten, deren wechselseitige Zuordnung kein statisches Verhältnis ausmacht, sondern eine dynamische Entwicklung zulässt. Für die Philosophie heißt das zum Beispiel, dass das »Rationale« nicht prinzipiell dem »Irrationalen« übergeordnet werden darf. Denn auch im »Irrationalen«, im tiefsten Gefühl des Menschen, steckt eine Art von Wahrheit, die, obwohl qualitativ ganz anderer Natur als die wissenschaftliche Richtigkeit, doch nicht nach wesensfremden Prinzipien beurteilt werden darf. Die neue Aufgabe der Philosophie besteht also 10 Im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen wird dieses Zitat als Definition des Begriffes der symbolischen Prägnanz gegeben (ECW 13, S. 231).
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darin, eine Form der Kultur zu entwerfen, in der alle sich behauptenden Richtungen des Weltverstehens in ein harmonisches Modell der wechselseitigen Zuordnung gebracht werden können. Von besonderem Belang ist es dabei zu betonen, dass dieses Modell niemals als ein starres und geschlossenes System verstanden werden darf. Es ist eine unerlässliche Forderung einer Philosophie der Zukunft, dass sie als offener und dynamischer Prozess des Weltverstehens verstanden wird. Denn kulturelle Objektivität zu erkennen bedeutet, anpassungsfähig zu sein und früher aufgestellte Postulate verwerfen zu können, wenn neuere Einsichten dies erfordern. Verharrt die Philosophie dagegen in einem dogmatischen System, so ist sie zum Tode verurteilt.
Literatur: Cassirer, Ernst (1938) »Zur Logik des Symbolbegriffs«, in: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 1956, S. 203–30 (zuerst publiziert in Theoria IV, Part 2, S. 145–175). Cassirer, Ernst (1942) Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt 1961 (= LKW). Cassirer, Ernst (1995) Zur Metaphysik der symbolischen Formen. Felix Meiner Verlag, Hamburg (= ECN 1) Cassirer, Ernst (2001) Philosophie der Symbolischen Formen, Erster Teil: Die Sprache (1923), Felix Meiner Verlag, Hamburg (= ECW 11). Cassirer, Ernst (2002) Philosophie der Symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925), Felix Meiner Verlag, Hamburg (= ECW 12). Cassirer, Ernst (2002) Philosophie der Symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), Felix Meiner Verlag, Hamburg (ECW 13). Cohen, Hermann (1902) Logik der reinen Vernunft. Bruno Cassirer, Berlin 1922. Cohen, Hermann (1918) Kants Theorie der Erfahrung. 5. Auflage, Werke Bd. 1.1. Georg Olms Verlag, Hildesheim/New York 1987. Friedman, Michael, (2000) A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer and Heidegger. Chicago 2000, Open Court. Hamburg, Carl (1956) Symbol and Reality. Studies in the philosophy of Ernst Cassirer. Martinus Nijhoff, The Hague 1956. Heidegger, Martin (1973) »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger (1929)«, in: Heidegger, Martin (1973) Kant und das Problem der Metaphysik. Fünfte, vermehrte Auflage. Frankfurt am Main 1991, Vittorio Klostermann. Ihmig, Karl-Norbert (1993) »Cassirers Begriff der Objektivität im Lichte der Wissenschaftsauffassungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts«, in: Philosophia naturalis 30, pp. 29–62.
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Nico Nuyens Krois, John Michael (1983) »Ernst Cassirers Theorie der Technik und ihre Bedeutung für die Sozialphilosophie«, in: Phänomenologische Forschungen. Bd. 15 (1983), S. 68–93. Krois, John Michael (1987) Cassirer: Symbolic Forms and History. Yale University Press, New Haven and London 1987. Marc-Wogau, Konrad (1936) »Der Symbolbegriff in der Philosophie Ernst Cassirers«, in: Theoria II, Häfte 3, S. 279–332. Paetzold, Heinz (1981) »Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹ und die neuere Entwicklung der Semiotik«, in: Lange-Seidl, Annemarie (ed.) (1981) Zeichenkonstitution. Akten des 2. Semiotischen Kolloquiums, Regensburg 1978. Bd. 1. De Gruyter, Berlin; New York 1981, pp. 90–100. Pätzold, Detlev (2003) »Cassirers Philosophiebegriff«, in: Sandkühler und Pätzold (eds) (2003), pp. 45–69. Plümacher, Martina, und Schürmann, Volker, (Hg) (1996) Einheit des Geistes, Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers. Frankfurt am Main 1996, Peter Lang. Schürmann, Volker, (1996) »Die Aufgabe einer Art Grammatik der Symbolfunktion«, in: Plümacher und Schürmann (1996).
80 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Transzendenz und Transzendentalität Zum Problem des Transzendenten innerhalb der Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes Martin Bunte (Münster)
Die Unterscheidung der Begriffe »transzendent« und »transzendental« gehört zu den grundsätzlichen und landläufig bekannten Distinktionen der kantischen Philosophie. Eine Konfusion dieser beiden erscheint daher geradezu ausgeschlossen. Umso erstaunlicher mutet es an, dass über die korrekte Bestimmung eines Grundsatzes oder Theorieelementes als transzendent oder transzendental selbst innerhalb der Kantforschung Uneinigkeit herrscht. Eine befriedigende Klärung des Verhältnisses beider Begriffe und eine kritische Rekonstruktion des Transzendenzproblems in Bezug auf das kantische Immanenzdiktum stellt daher immer noch ein zentrales Desiderat dar. Die Uneinigkeit über das Verhältnis transzendenter und transzendentaler Bestimmungen betrifft nicht nur einzelne transzendentale Grundsätze, sondern sogar die Frage nach einer adäquaten Definition der Transzendentalphilosophie selbst. So definiert beispielsweise Rickert die Transzendentalphilosophie nicht im Gegensatz zur Transzendenz, sondern aus dem Transzendenten: Eine Untersuchung, die sich mit dem Transzendenten in der Weise beschäftigt, daß sie seine Bedeutung für die Objektivität der Erkenntnis untersucht oder nach den transzendenten Gegenständen als letzten Maßstäben der Erkenntnis fragt, nennen wir transzendental, und deshalb ist die vom Transzendenzproblem ausgehende Philosophie des Erkennens am besten als Transzendentalphilosophie zu bezeichnen. 1
Die mit Rickerts Auffassung der Transzendentalphilosophie einhergehende Schwierigkeit liegt auf der Hand. Wie können die »transzendenten Gegenstände« die letzten Maßstäbe der Erkenntnis bilden, wenn »Dinge«, um überhaupt Gegenstände der Erkenntnis werden zu können, Transzendentalität als notwendige Bedingung der Gegen-
1 Rickert, Heinrich, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendental-Philosophie. Tübingen 1921, S. 20.
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Martin Bunte
ständlichkeit bereits zur Voraussetzung haben? So besteht doch gerade die grundlegende Einsicht Kants darin, dass Gegenstände nicht als Gegenstände, wie sie an sich selbst sind, aufgefasst werden dürfen, sondern nur als Objekte des Bewusstseins, d. h. als Gegenstände in der Erscheinung. Durch Kants Restriktion der Erkenntnis auf Gegenstände möglicher Erfahrung, welche in der Formulierung »Gegenstand in der Erscheinung« angelegt ist, enthebt sich die transzendentalphilosophische Argumentation dennoch nicht dem Problem der Transzendenz. Dieses wird vielmehr als Residualproblem durch den Begriff der Erscheinung, respektive des Erscheinens selbst evoziert. Dasjenige, was erscheint, kann seinen Grund selbst nicht in der Erscheinung haben. Ansonsten wäre es treffender von »Schein« zu sprechen, welcher für Kant immer mit einer Täuschung der Sinne oder des Denkens einhergeht. Letzterem ermangelt dasjenige, was ersterem wesentlich eignet, i. e. die Beziehung, die das Subjekt auf das Objekt im Erkennen hat, sofern es Wahres von diesem im Verhältnis zu seinen Erkenntnismöglichkeiten und -vollzügen erkennt. Die Prädikate der Erscheinung können dem Objekte selbst beigelegt werden, in Verhältnis auf unseren Sinn, z. B. der Rose die rote Farbe, oder der Geruch; aber der Schein kann niemals als Prädikat dem Gegenstande beigelegt werden, eben darum, weil er, was diesem nur in Verhältnis auf die Sinne, oder überhaupt aufs Subjekt zukommt, dem Objekt für sich beilegt, z. B. die zwei Henkel, die man anfänglich dem Saturn beilegte. Was gar nicht am Objekte an sich selbst, jederzeit aber im Verhältnisse desselben zum Subjekt anzutreffen und von der Vorstellung des ersteren unzertrennlich ist, ist Erscheinung, und so werden die Prädikate des Raumes und der Zeit mit Recht den Gegenständen der Sinne, als solchen, beigelegt, und hierin ist kein Schein. Dagegen, wenn ich der Rose an sich die Röte, dem Saturn die Henkel, oder allen äußeren Gegenständen die Ausdehnung an sich beilege, ohne auf ein bestimmtes Verhältnis dieser Gegenstände zum Subjekt zu sehen und mein Urteil darauf einzuschränken; alsdann allererst entspringt der Schein. 2
Die Erscheinung trägt so ihren Wahrheitsgrund in sich; sie ist wahre Erscheinung. Mit Kants Auffassung vom erscheinenden Urgrund des Erscheinens ist das erste große Problem verbunden. Wie kann das Ding an sich, welches für Kant offensichtlich den Grund der Erscheinung bildet, erscheinen, wenn es doch außerhalb der Sphäre aller Erscheinung liegt? Diese Frage steht in einem engen Verhältnis zum 2
Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1998, B 70, Anm. 1; S. 124 f.
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Transzendenz und Transzendentalität
Problem der sogenannten transzendentalen Affektion, welches seit dem Frühidealismus Gegenstand zahlreicher Interpretationen, Kritiken wie Apologien der kantischen Philosophie geworden ist. Der Begriff der Erscheinung ist jedoch noch in anderer Hinsicht problematisch: So kann der Grund des Erscheinung-Habens nicht selbst wiederum Erscheinung sein. 3 Somit tritt neben die Schwierigkeit der transzendentalen Objektivität ein weiteres Problem der kritischen Philosophie Kants, nämlich das der transzendentalen Subjektivität und – damit eng verbunden – das der transzendentalen Apperzeption, welche als höchster Punkt im Zentrum der Kritik der reinen Vernunft steht. 4 Das Problem der Transzendenz findet sich damit an den Endpunkten der Transzendentalphilosophie Kants wieder, an der höchsten und der tiefsten Stelle. Um dieser zentralen Schwierigkeit innerhalb des beschränkten Rahmens dieser Analyse auch nur einigermaßen angemessen Rechnung zu tragen, soll die Untersuchung in vier Schritten vonstattengehen: Erstens soll Kants eigene Differenzierung des Transzendenten und Transzendentalen analysiert werden. Im zweiten Schritt soll das aus dieser Unterscheidung gewonnene terminologische Instrumentarium auf die zwei »Einbrüche« der Transzendenz in das kantische System angewandt werden: Erstens auf den transzendenten Grund der Affektion, zweitens auf den der transzendentalen Apperzeption. Hierbei wird die Korrelationsfunktion des Dinges an sich = X im Zentrum stehen. Im dritten Schritt soll die Verbindung zu der von Fichte im zweiten Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 unternommene Differenzierung der drei kantischen Absoluta gezogen werden sowie viertens Fichtes Auflösung des Transzendenzproblems durch die Null diskutiert werden.
1.
Kants Unterscheidung von »transzendent« und »transzendental«
Kant liefert in dem Kapitel über die transzendentale Dialektik der Kritik der reinen Vernunft seine berühmte Unterscheidung der Begriffe »transzendent« und »transzendental«: Vgl. Cramer, Wolfgang, Die Monade. Das philosophische Problem vom Ursprung, Stuttgart 1954, S. 36. 4 Das dritte wesentliche Problem, das des Verhältnisses zwischen Subjekt und Objekt, soll hier nicht Gegenstand sein. 3
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Daher sind transzendental und transzendent nicht einerlei. Die Grundsätze des reinen Verstandes, die wir oben vortrugen, sollen bloß von empirischem und nicht von transzendentalem, d. i. über die Erfahrungsgrenze hinausreichendem Gebrauche sein. Ein Grundsatz aber, der diese Schranken wegnimmt, ja gar sie zu überschreiten gebietet, heißt transzendent. 5
Kant scheint damit die Differenz auf den ersten Blick eindeutig bestimmt zu haben: Transzendental sind diejenigen Grundsätze, welche sich auf die Möglichkeit einer Erkenntnis beziehen: Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. 6
Transzendente Grundsätze tun dies offensichtlich nicht. Von ihnen ist schlechterdings keine Erkenntnis irgendeines Gegenstandes zu erwarten, sofern sie die Grenzen möglicher Erfahrung schlichtweg übersteigen. So klar Kants Definition erscheint, so sehr ist sie jedoch in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert untergründig. Erstens ist zu bemerken, dass Kant zwei Adjektive definiert – »transzendent« und »transzendental« – und nicht ihre substantivierte Form. So könnte man in scheinbarer Übereinstimmung mit Kant sagen: »Transzendentalität« ist dasjenige, welches die Erkenntnis eines Gegenstandes ermöglicht, wohingegen »Transzendenz« dasjenige bezeichnet, von dem keine Erkenntnis möglich ist. 7 Kant ist, zumindest was den Begriff der Transzendenz angeht, vorsichtiger, sofern er mit dem Begriff des Transzendenten nicht einen Gegenstand bezeichnet. Nicht Dinge, deren Begriff hier im emphatischen Sinne zu verstehen ist, sind dem Zugriff des Erkenntnisapparates transzendent, sondern es sind die Zugriffsweisen selbst, welche den ihnen gesetzten Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit transzendieren und so den transzendentalen Schein produzieren. Die Unangemessenheit der drei transzendentalen (!) Ideen resultiert daher nicht aus der Transzendenz ihrer Gegenstände, welche die Vernunft in einem resignativen »Ignorabimus« zu akzeptieren hätte, sondern in der dialektischen Reifikation der Vernunftprinzipien durch die Schematisierung der Notionsstruktur des Verstandes. Neben diesem möglichen Missverständnis liegt ein weiKrV, A 296 | B 352 f.; S. 407. KrV, B 25; S. 83. 7 Erkenntnis ist hier immer im kantischen Sinne, entweder als rein diskursive oder als empirische, mithin als Erfahrung zu verstehen. Über die Möglichkeit, respektive Unmöglichkeit einer Transzendenzerfahrung ist hier nichts gesagt. 5 6
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Transzendenz und Transzendentalität
terer interpretatorischer Fallstrick in der kantischen Terminologie, welche bis heute zu Kontroversen innerhalb der Kantforschung geführt hat. Kant bestimmt nicht einzelne Grundsätze als schlechthin transzendent, sondern bezieht sich in dieser Bestimmung auf ihren Gebrauch. An dieser Stelle mag der Kantkundige den Einwand erheben, dass die Vernunft von Prinzipien durchsetzt ist, welche, wie Kant scheinbar selber betont, allein transzendenten Gebrauch zulassen und so eigentlich selbst transzendent zu nennen sind – so das oberste Prinzip der reinen Vernunft, nach dem aus dem Gegebensein des Bedingten »auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben« 8 ist. Die aus diesem obersten Prinzip der reinen Vernunft entspringende Grundsätze werden aber in Ansehung aller Erscheinungen transzendent sein, d. i. es wird kein ihm adäquater empirischer Gebrauch von demselben jemals gemacht werden können. 9 Daher ist der objektive Gebrauch der reinen Vernunftbegriffe jederzeit transzendent, indessen daß der von den reinen Verstandesbegriffen, seiner Natur nach, jederzeit immanent sein muß, indem er sich bloß auf mögliche Erfahrung einschränkt. 10
Es lohnt sich jedoch, bei diesen beiden Zitaten genau darauf zu achten, dass Kant nicht das oberste Prinzip der Vernunft selbst als transzendent bezeichnet, sondern nur die Möglichkeit von diesem Prinzip weitere Grundsätze abzuleiten. Die positive, transzendentale Relevanz des obersten Prinzips wird sich dagegen in Ansehung des reflektierenden Gebrauchs der Vernunft erweisen, welche Kant in Bezug auf das transzendentale Ideal, im Anhang der transzendentalen Dialektik und insbesondere in der Kritik der Urteilskraft formuliert. Dies gilt insbesondere für das zweite Zitat. Hier spricht Kant vom »objektiven Gebrauch der reinen Vernunftbegriffe«. Diese Formulierung lässt bereits die Möglichkeit ihres subjektiven, transzendentalen Gebrauchs offen, welche sich in der transzendentalen Ideendeduktion im Anhang der transzendentalen Dialektik bestätigt findet, ebenso wie einen rein logischen Gebrauch. 11 In diesem Fall wären die transzendentalen Ideen als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nicht KrV, A 307 f. | B 364; S. 416 f. KrV, A 308 | B 365; S. 417. 10 KrV, A 327 | B 383; S. 431 f. 11 Zur transzendentalen Ideendeduktion vgl. Zocher, Rudolf, »Zu Kants transzendentaler Deduktion der Ideen der reinen Vernunft«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 12, S. 43–58; S. 46 und Bondeli, Martin, »Zu Kants Behauptung 8 9
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zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, jedoch die Bedingung der Möglichkeit ihrer Reflexion. 12 Transzendent ist ein Verstandes-, respektive Vernunftgrundsatz, daher nicht per se, sondern nur hinsichtlich seines Gebrauchs. Ausgehend von dem bisher Erörterten lässt sich das Paradoxe der kantischen Definition des Transzendenten erklären. So ist für Kant der transzendente Gebrauch eines Grundsatzes identisch mit dem transzendentalen Gebrauch eines transzendentalen Prinzips. Die naheliegende Interpretation dieser bemerkenswerten Definition besteht darin, den Begriff des »transzendentalen Gebrauchs« bloß negativ, im Sinne von nicht-empirisch aufzufassen. Neben dieser offensichtlich negativen Verwendung des Begriffs des Transzendentalen zeigt sich darüber hinaus seine tiefere, sinnvolle Bedeutung. Transzendental, mithin also erkenntnisermöglichend, ist ein Prinzip nur, wenn es gleichzeitig die Doppelbestimmung nicht nur eines erfahrungsüberschreitenden, sondern auch eines empirischen, respektive im weitesten Sinne eines anschauungsermöglichenden, konstruktiven Sinnes besitzt. 13 Empirizität und Transzendentalität stehen in einem Korrelationsverhältnis. Zugespitzt formuliert bedeutet dies, dass für Kant die Bestimmung des Transzendentalen nur hinsichtlich des Empirischen Transzendentalität aufweist. Für sich genommen ist das Transzendentale selbst transzendent, wenn es ohne empirische Restriktion als gegenstandsbestimmend, mithin also nicht als bloß logisch gedacht wird. 14 Es ist genau diese Auffassung, welche die interpretatorische Hauptschwierigkeit der Bestimmung des transzendentalen Funktionsapparates bildet, sofern dessen Voraussetzungen eben selbst für sich genommen keinen empirischen Sinn aufweisen, mit anderen Worten lässt sich das transzendental-philosophische Grundproblem pointiert formulieren: Wie kann das Transzendente transzendentale Bedeutung besitzen? der Unentbehrlichkeit der Vernunftideen«, in: Kant-Studien, Band 87, 1996, 166– 183; S. 174. 12 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hamburg 2006. Einleitung VIII, B LII; S. 39. KdU, Einleitung von Heiner Klemme, XXXVIII. Bojanowski, Jochen, »Kant über das Prinzip der Einheit von theoretischer und praktischer Philosophie«, in: Kritik der Urteilskraft. (Hg.) (Klassiker Auslegen; 33) Berlin 2008, S. 23–39; S. 34; 38. 13 An dieser Stelle sei an Kants berühmtes Diktum erinnert, dass Begriffe ohne Anschauung leer, Anschauungen ohne Begriffe blind seien. »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriff sind blind.« (KrV, A51/B76; S. 130. 14 In Bezug auf den reinen Reflexionscharakter der bloßen Kategorien stellt sich dies gleichwohl anders dar.
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Transzendenz und Transzendentalität
2.
Transzendenter Gegenstand und transzendentale Affektion
Die Problematik der transzendenten Voraussetzung der Transzendentalität wird besonders an Kants Begriff des transzendentalen Gegenstandes, respektive Objektes deutlich. Dieses bedeutet aber ein Etwas = x, wovon wir gar nichts wissen, noch überhaupt, (nach der jetzigen Einrichtung unseres Verstandes) wissen können, sondern welches nur als ein Correlatum der Einheit der Apperzeption zur Einheit des Mannigfaltigen in der sinnlichen Anschauung dienen kann, vermittelst deren der Verstand dasselbe in den Begriff eines Gegenstandes vereinigt. Dieses transzendentale Objekt läßt sich gar nicht von den sinnlichen Datis absondern, weil alsdenn nichts übrig bleibt, wodurch es gedacht würde. 15
Die gesamte Schwierigkeit liegt in Kants Begriffs des Korrelats. Wenn x Korrelat sein soll, so ist es dies nur in und durch die Korrelation. Ergebnis der transzendentalen Deduktion war es nun, dass die Einheit des Gegenstandes durch die Einheit des Subjektes, respektive der Apperzeption gesetzt ist. In der Korrelation wird der Gegenstand, in dem die Vorstellungsmannigfaltigkeit vereinigt gedacht wird, also bloß als x an die Objektstelle im Erkenntniszusammenhang dem Subjekt entgegengesetzt. Kant vertritt hier offensichtlich etwas, was man eine korrelative Konstitutionstheorie von Ich und Gegenstand nennen könnte, in der die Vorstellung der Einheit des Subjekts und die Synthesis der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen zum Objekt untrennbar miteinander verbunden sind. Die Einheit des Selbstbewusstseins hat daher nicht die Einheit des Gegenstandes zum Kontrapunkt, sondern die Einheit der Vorstellungen zum Gegenstand ist nur möglich, sofern sie unter den Bedingungen des Verstandes synthetisiert werden. Als solche besitzen diese objektive Gültigkeit a priori. Vice versa ist die Identität des Subjektes in der Mannigfaltigkeit der Vorstellungen nur möglich, sofern die Synthesis der Vorstellungsmannigfaltigkeit ursprünglich, d. h. vor der analytischen Einheit des Selbstbewusstseins liegt. Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgend einer 15
KrV, A 250 f.| B 306; S. 360.
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synthetischen möglich. Der Gedanke: diese in der Anschauung gegebene Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt demnach so viel, als ich vereinige sie in einem Selbstbewußtsein, oder kann sie wenigstens darin vereinigen, und ob er gleich selbst noch nicht das Bewußtsein der Synthesis der Vorstellungen ist, so setzt er doch die Möglichkeit der letzteren voraus, d. i. nur dadurch, daß ich das Mannigfaltige derselben in einem Bewußtsein begreifen kann, nenne ich dieselbe insgesamt meine Vorstellungen; denn sonst würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin. Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht. Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist. 16
Mit Kants strikter Ablehnung einer apperzeptionsunabhängigen Gegenstandseinheit, wonach »die Einheit des Bewußtseins dasjenige, was allein [Hervorhebung, M. B.] die Beziehung der Vorstellungen auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, folglich, daß sie Erkenntnisse werden, ausmacht,« 17 darstellt, sind jedoch Probleme verbunden, welche bis an die Grundfesten des kantischen Systems reichen. So ist Kants transzendentales Konzept der Korrelation einerseits unipolar, sofern der Objektpol der Erkenntnisrelation nur durch das Subjekt gesetzt ist. Andererseits durchbricht Kant jedoch selbst diese Geschlossenheit seines Systems, indem er das Ding an sich zum Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses macht. Als solches ist das Ding an sich nicht mehr nur bloßes Korrelat der Apperzeption, sondern »wahres [Hervorhebung, M. B.] Correlatum« 18 des in Raum und Zeit gesetzten Gegenstandes. So setzt Kant zufolge jede Anschauung eine Affektion des Gemütes voraus. Diese [die Anschauung, M. B.] findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere. 19
16 17 18 19
KrV, B 133; S. 179 f. KrV, B 137; S. 182. KrV, A 30 | B 45; S. 105. KrV, A 19 | B 33, S. 93.
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Worin nun diese »gewisse Weise«, durch die das Gemüt affiziert werden soll, besteht, ist allerdings durchaus unklar. Offensichtlich denkt Kant hier daran, dass der Gegenstand eine Wirkung auf das empfindungsfähige Subjekt ausüben soll. Dies setzt jedoch voraus, dass der Gegenstand als Gegenstand bereits in der Erscheinung präsent sein muss, sofern die Verknüpfung von Ursache und Wirkung eine Leistung des Verstandes via Einbildungskraft darstellt. Affektion könnte demnach nur durch den Gegenstand in der Erscheinung ausgeübt werden, was bekanntlich die Ansicht vieler Kantinterpreten war und ist. Diese Auffassung kehrt jedoch die Bedeutung, welche die Affektion in Kants System einnimmt, in Gänze um. So muss die Affektion vor aller Verknüpfungstätigkeit des Verstandes liegen, sofern durch sie ja gerade erst die Anschauung, »die vor allem Denken gegeben sein kann« 20, möglich sein soll, welche durch den Verstand zur Erfahrung synthetisiert wird. Hieraus folgt erstens, dass die Affektion nicht im Sinne der Kategorie der Kausalität gedacht werden kann und zweitens, dass sie ihren Ursprung nicht in der Sphäre der Erscheinung hat. Ergo kann sie nur der intelligibelen Sphäre der Dinge an sich angehören. Baumanns’ Ansatz, die Affektion als eine primordiale Empfindungskausalität zu verstehen, durch deren Reflexion wir auf die Erscheinung jenes x kommen, 21 erweist sich so weniger als eine Lösung, denn als eine Diagnose des Problems. 22 Kant verstößt, so scheint es, mit der Einführung der Affektion gegen die von ihm selbst gesetzte Restriktion transzendentaler Grundsätze, indem er diese über die Grenze des Erfahrungsmöglichen erweitert und damit durch ihren Gebrauch zu transzendenten Prinzipien macht. An dieser Stelle soll nicht die Möglichkeit einer kohärenten Interpretation der transzendentalen Affektion diskutiert werden. 23 Worauf es uns hier wesentlich ankommt, ist, dass sich die transzenKrV, B 132; S. 178. Vgl. Baumanns, Peter: Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der »Kritik der reinen Vernunft«. Würzburg 1997, S. 186. 22 Ähnliches gilt für Chiba, Kiyoshi: Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit. Berlin 2012. (Kantstudien Ergänzungshefte; 168), S. 355, der zwar die Notwendigkeit der transzendentalen gegenüber der empirischen Affektion anerkennt, ohne jedoch zur Auflösung der eigentlichen Schwierigkeit, i. e. wie auf die transzendentale Affektion überhaupt reflektiert werden kann, durchzudringen. 23 Dass eine mit Kant kohärente Lösung des Affektionsproblems möglich ist,wurde gezeigt in Bunte, Martin, Erkenntnis und Funktion. Berlin 2016 (Kunststudien Ergänzungshefte; 189). 20 21
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dentale Funktion der Affektion aus einer transzendenten Bestimmung ihres Ursprungs her speist, dem Ding an sich, worauf nicht wenige Interpreten hingewiesen haben. 24 Dass die Auffassung von der Affektion durch das Ding an sich aus diesem Grund zu einem der meist kritisierten Theorieelemente der kantischen Transzendentalphilosophie wurde, kann daher ebenso wenig überraschen, 25 wie die Versuche, das Ding an sich, respektive die Affektion aus dem kritischen System Kants zu eliminieren. 26 Diese Ansätze lösen unserer Ansicht nach das Problem nur durch Zerhauen des von Kant geknüpften Knotens, wobei sie seine eigene theoretische Position geflissentlich übergehen. Will man diese jedoch ernst nehmen, so kommt man zu dem Schluss, dass das Theoriegefüge des Kritizismus bereits in seinem epistemischen Ausgangspunkt einen Ausgriff transzendentaler Bestimmungen über die Sphäre des Empirischen hinaus nezessiert. Das transzendentale Objekt ist demnach als intelligible Ursache gleichzeitig transzendenter Grund der Erscheinung, also transzendenter »Gegen-Stand«. Indessen können wir die bloß intelligibele Ursache, der Erscheinungen überhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivität korrespondiert. 27
Eine bloße Vermeidung der transzendenten Implikation durch die Beschränkung des Affektionsbegriffes auf ihren Bezug zur Empfindung erweist sich hier ebenfalls als nicht gangbar, sofern die Geschlossenheit der Erfahrungssphäre bereits durch die Annahme eines vom Bewusstsein unabhängigen Ursprungs der Empfindung durchbrochen ist. Das Bewusste hat daher nach Kant seinen Grund außerhalb des Eine ausführliche Darstellung, welche immer noch zu den besten gehört, findet sich bei Vaihinger, Hans: Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Stuttgart 1922. Band II, S. 35 ff. 25 So schreibt beispielsweise Thomsen, Anton: »Bemerkungen zur Kritik des Kantischen Begriffes des Dinges an sich«, in Kant-Studien 8 (1903), S. 193–257, S. 247: »Das Ding an sich sammelt alle metaphysischen Anläufe bei Kant und erzeugt trotz alles Kritizismus eine Metaphysik, die zuguterletzt nicht viel besser wurde als die alte, von Kant zersetzte.« 26 So geht Prauss von einer Konfusion im Begriff des »Dinges an sich« aus. Kant gebrauche diesen einerseits als adverbiale Bestimmung, »Dinge, – an sich selbst betrachtet«, andererseits in adnominaler Bedeutung, Dinge-an-sich. Dadurch vermenge er den »transzendental-philosophische[n] Sinn« mit »transzendent-metaphysische[m]« Unsinn. Vgl. Prauss, Gerold: Kant und das Problem der Dinge an sich. Bonn 1977, S. 43. 27 KrV, A 494 | B 522; S. 590 f. 24
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Bewusstseins. Die Affektion ist also einerseits transzendental, sofern sie die Bedingung der Möglichkeit empirischer Erkenntnis bildet, anderseits transzendent, sofern von ihr in Bezug auf ihren Ursprung niemals eine Erfahrung möglich sein wird. 28
3.
Transzendentes Ich und transzendentale Apperzeption
Eine ähnliche Diagnose trifft den für Kant zentralen Begriff der transzendentalen Apperzeption. Diese nimmt in der transzendentalen Deduktion eine Schlüsselstellung ein, da sie als das »Ich denke« diejenige Instanz bildet, welche die Einheit der Vorstellungsmannigfaltigkeit, der inneren wie äußeren, garantiert. Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. Diejenige Vorstellung, die vor allem Denken gegeben sein kann, heißt Anschauung. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: Ich denke, in demselben Subjekt, darin dieses Mannigfaltige angetroffen wird. 29
Kants Ansatz, die Apperzeption als höchsten Einheitspunkt der Erfahrung zu nehmen, ist mit erheblichen Schwierigkeiten und interpretatorischen Herausforderungen verbunden. Dies hat dazu geführt, dass über eine adäquate Interpretation des transzendentalen Selbstbewusstseins bis heute Uneinigkeit herrscht. Vornehmlich lassen sich vier Interpretationstendenzen ausmachen: Die erste betont den funktionalen Aspekt, welchen die Einheit der Apperzeption in Bezug auf die Vorstellungen hat. Hier wird besonders die von Kant selbst ausgesprochene enge, wenn nicht gar identitäre Beziehung der Apperzeption zum Verstand hervorgehoben. 30 Die Apperzeption ist demBerühmt in diesem Zusammenhang ist das Diktum Jacobis: »Ich muß gestehen, daß dieser Anstand mich bey dem Studio der Kantischen Philosophie nicht wenig aufgehalten hat, so daß ich verschiedene Jahre hintereinander die Critik der reinen Vernunft immer wieder von vorne anfangen mußte, weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, daß ich ohne jene Voraussetzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darin nicht bleiben konnte.« Vgl. Jacobi, Friedrich, Heinrich: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus: Ein Gespräch. Breslau 1787, S. 222 f. 29 KrV, B 131 f.; S. 178. 30 Vgl. KrV, B 134, Anm. 1; S. 179. 28
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nach synthetisierendes Vermögen, welches in der Synthesis die Vorstellung des »Ich denke« als Begleitvorstellung unter den allgemeinen Bedingungen des Verstandes hervorbringt. Die transzendentale Apperzeption ist gemäß dieser Lesart ein überindividuelles Vermögen der Gegenstandseinheit. Diese wäre demnach gleichbedeutend mit einem »allgemeinen Selbstbewußtsein«, 31 welchem überindividuelle und überzeitliche Bedeutung zukäme. 32 Dieser Interpretation steht ein Verständnis der Apperzeption entgegen, welche ihren Selbstbewusstseinscharakter als individuelle Ich-Vorstellung betont. Nach dieser Lesart bilden das transzendentale und das empirische Selbstbewusstsein nur zwei Seiten ein und desselben Bewusstseins. 33 Auch diese Ansicht findet ihren Rückhalt im Text: Das Bewußtsein seiner selbst (Apperzeption) ist die einfache Vorstellung des Ich, und, wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im Subjekt selbsttätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellektuell sein. 34
Quer zu diesen beiden Ausrichtungen liegen zwei Interpretationstendenzen, welche jeweils mit den beiden vorherigen interpretatorischen Grundsatzentscheidungen 35 in Verbindung treten: In der ersten Lesart erscheint die Apperzeption als Einheit, welche entweder als formale (Cassirer) 36 oder als intelligibele (Heidemann) 37 Einheit der KrV, B 132; S. 178. Rickert spricht hier vom »erkenntnistheoretische[n] Subjekt«. Vgl. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 27. Rickerts Begriff eines »unpersönlichen Subjekts« wurde dagegen scharf von Thyssen angegriffen, vgl. Thyssen, Johannes, »Das Problem der transzendentalen Subjektivität und die idealistischen Theorien«, in: KantStudien 50 (1958/59), S. 18–36, S. 24. 33 Eine solche Interpretation findet sich beispielsweise bei Seebaß, Gottfried, »Transzendentale Apperzeption«, in: Proceedings: Sixth International Kant Congress. The Pennsylvannia State University, 1985, ed. G. Funke & Th. M. Seebohm, Washington D.C. 1989, p. 323–339, S. 324 f. Dieser schlägt vor, die Apperzeption als gänzlich identisch mit dem empirischen Selbstbewusstsein aufzufassen, was ihn verleitet, Kant als »methodischen Solipsisten« (ebd., S. 331.) zu verstehen. Dem Selbstbewusstsein käme dann das Prädikat »transzendental« nur in Rücksicht auf seine Funktion zu, Einheit in der Vorstellungsmannigfaltigkeit zu generieren. 34 KrV, B 68; S. 123. 35 Vgl. Schulthess, Peter, Relation und Funktion. Berlin 1981, S. 206. Zu Schulthess vgl. Brandt, Reinhard, Die Urteilstafel. Hamburg 1991, S. 116 f. 36 »Wir fragen hierbei nicht nach dem bestimmten aktuellen Vollzug des Gedankens in einem empirischen Individuum, sondern einzig und allein nach den allgemeinen logischen Erfordernissen jedes derartigen Vollzuges. Die Vorstellungen könnten nicht »meine« Vorstellungen werden, wenn sie nicht der Bedingung notwendig gemäß wären, unter der sie allein in einem »allgemeinen Selbstbewußtsein« zusammenstehen 31 32
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Synthesis der Vorstellungen vorhergeht. In der zweiten Lesart wird die Einheit der Erfahrung erst durch die Synthesis hervorgebracht (van Cleve) 38 oder die Einheit des Selbstbewusstseins und die Einheit der Vorstellungsmannigfaltigkeit stehen in einem kogenetischen Korrelationsverhältnis (Horstmann). 39 Die im vorherigen Gliederungsabschnitt entfaltete korrelative Konstitutionstheorie scheint für den kogenetischen Ansatz Horstmanns zu sprechen. Mit dieser Interpretation lässt sich die Notwendigkeit der logischen Primordialität der formalen Struktur des apperzipierenden Selbstbewusstseins, gemäß derer sich die Synthesis der Vorstellungsmannigfaltigkeit zu vollziehen hat, über die bloße Konstatierung ihrer faktischen Geltung hinaus jedoch nicht erklären. Keine dieser Interpretationen scheint daher für sich genommen zureichend zu sein, die Probleme, welche mit der Apperzeption verbunden sind, zu lösen. 40 Da der Konflikt der verkönnen.« Cassirer, Ernst, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft in der neueren Zeit. Berlin 1922, Band II S. 719. Vgl. Ebd., S. 732: »Auch die Einheit des Bewußtseins vermögen wir nur dadurch zu erkennen, daß wir sie zur Möglichkeit der Erfahrung unentbehrlich brauchen. […] Hier kommt es wiederum zum schärfsten Ausdruck, daß das ›Selbst‹, von dem die Kritik spricht und mit welchem sie es allein zu tun hat, nicht als eine metaphysische Tatsache gegeben, sondern lediglich als ein logisches Requisit ermittelt ist, – daß ihm kein anderes Sein zukommt, als das Sein der Bedingung.« 37 Vgl. Heidemann, Ingeborg, Spontaneität und Zeitlichkeit. Köln 1958, S. 211 f. 38 »Now I agree with Guyer that Kant asserts the implication synthesis – unity of apperception. But I think Kant asserts this only because he believes synthesis produces such unity – not because (as Guyer would have it) synthesis has unity as antecedent condition. In other words: according to Guyer, unity is prior to synthesis as its logical precondition, whereas according to me, synthesis is prior to unity as its only possible cause.« Van Cleve, James, »Comments on Paul Guyer’s ›The Failure of the B-Deduction‹, Spindel-Conference 1986: The B-Deduction, in: The Southern Jornal of Philosophy 25, Supplement, Memphis 1986, S. 85–87, S. 86. Zu Van Cleves Interpretation, vgl. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, S. 494. 39 Horstmann, Rolf-Peter: »Kant und Carl über Apperzeption«, in: Kant in der Gegenwart. (Hg.) Stolzenberg, Jürgen. Berlin 2007, S. 131–147, S. 139. »Der Akt des Aufnehmens geht einher mit der Konstitution dessen, in das aufgenommen wird, d. h. die Einheit der Apperzeption wird im Aufnehmen von Mannigfaltigem selbst erst hergestellt.« 40 So legt Klass einen aus sieben Fragen bestehenden Katalog vor, welchen er als »Framework for Reading Kant on Apperception« versteht: (1) »What is apperception: a mere thought, empirical knowledge or a special nonempirical (Cartesian) knowledge?« Klass, Gregory: »A Framework for Reading Kant on Apperception: Seven Interpretive Questions.«, in: Kant-Studien 94 (2003), S. 80–94, S. 82. (2) »What is apperception: mere accompainment or the thought/knowledge of identity?« Op. Cit., S. 85. (3) »What is apperception: Is the ›I‹ in ›I think‹ an essential indexical?« Ebd.,
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schiedenen Auslegungsrichtungen unserer Überzeugung nach systemisch bedingt ist, lässt sich dieser nur lösen, wenn gezeigt werden kann, dass die verschiedenen Auffassungen in einem umfassenden und vollständigen Begriff der Apperzeption zusammengefasst werden können. 41 Die Bedeutung, die Kants kritischem Begriff des transzendentalen Selbstbewusstseins in Bezug auf das Transzendenzproblem zukommt, lässt sich jedoch relativ unabhängig von den Interpretationsschwierigkeiten bezüglich der transzendentalen Apperzeption betrachten. Wichtig ist die Feststellung, dass für Kant die Apperzeption kein wissendes Selbstwissen, im Sinne einer Erkenntnis bedeutet, wohingegen sie gleichwohl ein Umsichwissen impliziert, ohne dass diesem theoretische Bedeutung zukäme. 42 Das sich selbst bewusste Subjekt weiß nur über das »Dass«, nicht über das »Wie« seines Daseins. Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transzendentalen Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur daß ich bin [Hervorhebung, M. B.]. 43 Das Bewußtsein seiner selbst ist also noch lange nicht eine Erkenntnis seiner selbst […]. 44
Für Kant kommt dem transzendentalen Subjekt damit eine Doppelbedeutung zu: einmal in der Konstitution der transzendentalen Subjektivität, durch welche als transzendentale Apperzeption die Einheit des Ich und die Einheit der Mannigfaltigkeit korrelativ konstituiert werden; zum anderen als unbedingter und nur faktisch aufgewiesener
S. 87 (4) »What is required by the principle: Must there be constant accompaniment by the ›I think,‹ the mere possibility of accompainment or knowledge of that possibility?« Ebd., S. 89. (5) »What is required by the principle: What is the scope of the ›all‹ ? Which representations must I be able to apperceive?« Ebd., S. 91. (6) »What is the logical status of the apperception principle: Is it analytic or synthetic?« Ebd., S. 92. (7) »What is the logical status of the apperception principle: Does Kant have (or need) an argument for it?« Ebd., S. 94. 41 Eine umfassende Darstellung der integrativen Interpretation findet sich in Erkenntnis und Funktion, Kapitel 2.2. 42 Vgl. Crone, Katja: Vorbegriffliches Selbstbewusstsein bei Kant?, in: Kant in der Gegenwart. (Hg.) Stolzenberg, Jürgen. Berlin 2007, S. 149–165, S. 163. 43 KrV, B 157; S. 197. 44 KrV, B 158; S. 197.
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Transzendenz und Transzendentalität
Konstituent der Reflexivität. Im opus postumum macht Kant dies im Zusammenhang seiner Selbstsetzungslehre deutlich: Das Bewustseyn des ursprünglichen Daseyns eines Wesens das sich selbst constituirt ist das Bewustseyn Ich Bin unabhängig da. 45
Transzendentales Subjekt und transzendentale Apperzeption sind daher trotz ihrer engen Korrelation nicht identisch. 46 Zwar kann nur im Zusammenhang der transzendentalen Apperzeption von einer transzendentalen Subjektivität gesprochen werden, sofern sich deren Funktion allein in der Synthesis der Vorstellungsmannigfaltigkeit ausdrückt, jedoch bildet die Apperzeption nur die Vorstellung des sich reflexiv auf sich selbst beziehenden unbekannten Ichgrundes, welcher sich seines Daseins ohne, respektive jenseits aller Prädikation bewusst ist. 47 Das transzendentale Subjekt ist daher nur transzendental, als es sich im transzendentalen Selbstbewusstsein bestimmend auf die Sphäre möglicher Erfahrung bezieht, es ist bestimmendes Selbst, gleichwohl es nur als Form aller Vorstellung nicht einen von diesen Vorstellungen abziehbaren Gegenstand beschreibt. Nicht das Bewußtsein des Bestimmenden, sondern nur die des bestimmbaren Selbst, d. i. meiner inneren Anschauung (so fern ihr Mannigfaltiges der allgemeinen Bedingung der Einheit der Apperzeption im Denken gemäß verbunden werden kann), ist das Objekt. 48
Die Frage nach dem Grund des Bestimmens, der unbedingten Bedingung, i. e. der spontanen, erfahrungsorganisatorischen Tätigkeit des Selbst transzendiert daher die Sphäre des Erfahrungsmöglichen. Das transzendentale Subjekt ist somit in Bezug auf seine eigene Erfahrungsmöglichkeit sich selbst transzendent.
Akad.-Ausg., XXI, S. 148. Ebenso betont Wolfgang Cramer die Differenz von transzendentalem Selbstbewusstsein und transzendentalem Subjekt: »Kant hat das Subjekt nicht mit dem Bewußtsein oder Denken identifiziert. Hätte er das getan, dann würde seine Lehre vom transzendentalen Subjekt und seiner Unerkennbarkeit keinen Sinn haben.« Cramer, Wolfgang: Die absolute Reflexion. Schriften aus dem Nachlass. Frankfurt a. M. 2012. S. 95. 47 Choi, So-In: Selbstbewußtsein und Selbstanschauung. (Kantstudien Ergänzungshefte; 130) Berlin 1996, S. 43: »Und das Bewußtsein meiner selbst ist also das Bewußtsein meines ursprünglichen Daseins, ohne daß es zur Erkenntnis meiner selbst wird.« 48 KrV, B 407; S. 449 f. 45 46
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Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können; um welches wir uns daher in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; eine Unbequemlichkeit, die davon nicht zu trennen ist, weil das Bewußtsein an sich nicht sowohl eine Vorstellung ist, die ein besonderes Objekt unterscheidet, sondern eine Form derselben überhaupt, so fern sie Erkenntnis genannt werden soll; denn von der allein kann ich sagen, daß ich dadurch irgend etwas denke. 49
Der »beständige Zirkel« besteht nun darin, dass wir, um das Ansich des Gegenstandes unseres Bewusstseins zu begreifen, das Bewusstsein zur Bedingung der Möglichkeit seines Gegenständlichseins immer schon voraussetzen müssen. Kants Auflösung des Problems besteht nun darin, dass er den Grund des Bewusstseins faktisch vor das Bewusstsein hebt, von dem weder Begriff noch Anschauung möglich ist. Da dieser ein Ding an sich, d. h. einen Gegenstand vor jeder Bestimmung markiert, ist das transzendentale Subjekt nur als x, d. h. als Markierung einer Grenze der (Selbst-)Erfahrung anzusprechen. Der Grund der Möglichkeit des Bewusstseins ist daher für Kant nicht im oder durch das Bewusstsein zu begreifen. Dieses Konzept hat massive Auswirkung auf die Bestimmung des Verhältnisses des transzendentalen Subjekts zur transzendentalen Apperzeption, welche als »Selbstbewußtsein überhaupt die Vorstellung desjenigen [ist], was die Bedingung aller Einheit, und doch selbst unbedingt ist.« 50 Wie kann das Subjekt an sich selbst eine Bedeutung besitzen, wenn das Subjekt der Erkenntnis nur in der Apperzeptionstätigkeit, d. h. in actu präsent ist, 51 sodass das transzendentale Subjekt als vorstellendes Subjekt in Bezug auf die Empirie nicht als Faktum vor die Apperzeption gesetzt werden kann? Dies wirft ein entscheidendes Problem auf: Die Apperzeption ist ihrem Wesen nach Reflexion, in abstracto also Relation, sie ist, mit Leibniz, Inachtnahme des Perzipierens. Für Kant ergibt sich hieraus die Konsequenz, dass er mit der Apperzeption eine Relation vor ihre Relata setzt, respektive die Relata, Subjekt-quaSubjekt und Subjekt-qua-Objekt, durch die Relation gesetzt werden. KrV, A 346 | B 404; S. 447. KrV, A 401; S. 509. 51 »Das, Ich denke, drückt den Actus aus, mein Dasein zu bestimmen.« KrV, B 158; S. 197, Anm. 1. 49 50
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Transzendenz und Transzendentalität
In dieser Relation ist für Kant zwar das Subjekt absolutes Subjekt, 52 sofern das Subjekt des Denkens nicht als Prädikat vorgestellt werden kann, wohingegen alle Vorstellungen als Prädikate desselben Subjektes gedacht werden müssen, die Bedingung jedoch, welche vor und für die Relation gesetzt ist, bleibt dem Subjekt in der Selbstbestimmung auch trotz dieser Bestimmung verschlossen. Auf diesen Befund lässt sich in zweifacher Weise reagieren: Einmal in vermeintlich kritischer, indem man das transzendentale Subjekt als reine Adhärenzvorstellung des Mannigfaltigkeitsinformates postuliert. Transzendentales Subjekt und transzendentale Apperzeption stünden demnach in einer identitären Beziehung derart, dass die Apperzeption die subjektpolare Formalstruktur der Erfahrungsorganisation darstellte, welcher aufgrund ihrer gegenstandskonstituiven Bedeutung objektive Gültigkeit zukommt. 53 Gegen diese Auffassung ist aus theoretischer Perspektive nichts einzuwenden. Sie bereitet jedoch in praktischer Hinsicht Probleme, insofern die inhaltliche Bestimmung des Freiheitscharakters des intelligibelen Subjekts Inputabilität und Autonomie voraussetzt, welches mit einer solchen Interpretation schwerlich einzusehen sein dürfte. Schwerer als dieses Argument aus der praktischen Philosophie mag jedoch eines aus der theoretischen Philosophie selbst wiegen, i. e. dass die Apperzeption als Vorstellung immer noch ein Vorstellendes voraussetzt, sofern Vorstellung immer Vorstellung eines Vorstellenden ist. Dass Kant selbst so gedacht hat, ergibt sich aus seiner eigenen Rede vom Wesen, »dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt«. 54 Lichtenberg formuliert in diesem Zusammenhang seinen berühmten Einwand, man müsse, wollte man dem kantischen Denken konsequent folgen, das »ich denke« im Sinne von »es blitzt« verstehen, um so klar zu machen, dass die Frage nach dem Träger der Tätigkeit des Denkens von vornherein sinnlos, respektive allenfalls zu postulieren sei. 55 So Ich, als ein denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner Urteile.« KrV, A 348; S. 469. 53 Unserer Auffassung nach ist diese Struktur nichts anderes als die Urteils-, respektive Kategorientafel. 54 KrV, A 346 | B 404; S. 447. 55 »Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewußt, die nicht von uns abhängen; andere glauben, wir wenigstens hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist 52
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konsequent der Ansatz Lichtenbergs auch erscheinen mag, geht er doch an der eigentlichen Frage vorbei. Die Frage nach dem Unbedingten des Denkens, welches sich für das Denken nur als in und durch das Denken bereits Bedingtes zeigt, ist in kritischer Hinsicht nicht die Frage nach einer Person, die, um in der Analogie zu bleiben, wie Zeus blitzt, so das Denken denkend macht. Es ist vielmehr die Frage nach der Einsichtsmöglichkeit in die unbedingte Bedingung des Tätigseins selbst. Die Analogie zwischen dem »ich denke« und dem »es blitzt« endet jedoch hier. Auf die Frage, warum »es blitzt«, kann die positive Wissenschaft eine plausible Antwort geben; die Frage, warum »ich denke«, entzieht sich jedoch ihrem Zugriff. Der nächstliegende Einwand, man müsse einfach die Neurologie des Gehirns weiter studieren, um eine Antwort hierauf zu finden, geht ebenfalls an der eigentlichen Frage vorbei. So liegt in der Frage nach der Bedingung des Denkens vor jedem Gedachten, dem Bewusstsein vor jedem Bewussten keine naturwissenschaftliche Problemstellung. Sie ist vielmehr identisch mit der Frage nach der letzten Bedingung der Gewissheit. Ein solches Wissen vom Wissen kann jedoch konsequenterweise kein Wissen mehr von etwas Gewussten sein, sondern muss sich im Akt des Gewisswerdens intuitiv selbst durchdringen. Nach Kant transzendiert die Frage nach dem Unbedingten jedoch die für uns Menschen erreichbare Grenze der Letztbegründbarkeit. Diese kann allenfalls als x markiert werden, welches nicht mehr aufgelöst werden kann, sondern bloß faktisch vorausgesetzt wird. Dessen ungeachtet findet sich, wie gezeigt wurde, in seinem Begriff der transzendentalen Apperzeption ein Verweis auf die Transzendenz des Ich als Bewusstseinsgrund.
4.
Fichtes Unterscheidung der drei kantischen Absoluta
Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich, dass sowohl für das Objekt des Denkens als auch für das Subjekt eine analoge Schwierigkeit besteht: Subjekt und Objekt sind als transzendentale Bestimmungen nach Kant notwendig auf transzendente Voraussetzungen ihres Bestimmens und Bestimmtseins angewiesen, welche sich jedoch dem Erkennenden entziehen. Im Gegensatz zu Kant, welcher hierin eine praktisches Bedürfnis.« Sudelbuch K 76, in: Lichtenberg, Georg Christoph, Schriften und Briefe, Band II, München 1971, S. 412.
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Transzendenz und Transzendentalität
prinzipielle Grenze der Transzendentalphilosophie erblickt, sieht Fichte die eigentliche Herausforderung seiner Wissenschaftslehre, nämlich Denken und Sein aus ihrer ursprünglichen Einheit im Absoluten heraus zu begreifen. Kant habe zwar begriffen, dass das Absolute das ursprüngliche Band zwischen Denken und Sein sein müsse, jedoch fasse er das Absolute nicht »in seiner reinen Selbstständigkeit an und für sich, wie es die Wissenschaftslehre aufstellt, sondern nur als gemeinsame Grundbestimmung oder Accidens seiner drei Urmodifikationen, x, y, z […] wodurch ihm eigentlich drei Absoluta entstanden, das wahre Eine Absolute aber zu ihrer gemeinsamen Eigenschaft verblaßte.« 56 Diese Einschätzung Fichtes gründet sich darin, dass er annimmt, allen drei Kritiken läge eine Form des Absoluten zugrunde: der Kritik der reinen Vernunft die Totalität der empirischen Welt (x) und der Kritik der praktischen Vernunft die der sittlichen Welt (z). Da Kant nun das Absolute aus seinen Teilen und nicht die Teile aus dem Absoluten begreife, so müsse er zwischen x und z ein drittes Absolutes y setzen, um beide miteinander zu verbinden. Fichtes Auslegung des kantischen Systemgedankens ist durchaus problematisch, sofern die Idee der Einheit von Denken und Sein im Absoluten nicht der Gedanke der Kritik ist. 57 Sie weicht aber nicht in dem Maße von der kantischen Problemlage ab, wie beispielsweise Schlösser in Anschluss an Horstmann meint. 58 Fichte sieht im Gegenteil die Schwierigkeit des Brückenwerks zwischen der Sphäre der theoretischen und praktischen Vernunft i. w. S. besonders scharf. Dies zeigt sich in der Bedeutungswandlung, welche der Begriff des transzendentalen Substratums von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Urteilskraft durchmacht. In ersterer bestimmt Kant das transzendentale Substrat in Bezug auf das transzendentale Ideal der durchgängigen Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes. Wenn also der durchgängigen Bestimmung in unserer Vernunft ein transzendentales Substratum zum Grunde gelegt wird, welches gleichsam den ganzen Vorrat des Stoffes, daher alle mögliche Prädikate der Dinge genommen werden können, enthält, so ist dieses Substratum nichts anders, als die Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis). Alle wahre Vernei-
Fichte, Werke X, S. 102 f. Vgl. Schlösser, Ulrich, Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804. (Monographien zur philosophischen Forschung; 280) Berlin 2001, S. 54. 58 Schlösser, Das Erfassen des Einleuchtens, S. 54; S. 147, Anm. 46. 56 57
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nungen sind alsdenn nichts als Schranken, welches sie nicht genannt werden könnten, wenn nicht das Unbeschränkte (das All) zum Grunde läge. 59
In § 57 der Kritik der Urteilskraft dagegen versteht Kant unter dem transzendentalen Substrat den gegebenen, aber unerreichbaren Grund der Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, d. i. die bloß zu reflektierende Zweckmäßigkeit unserer Erkenntnisvermögen, dem eine Schlußstein- und Brückenfunktion für das kantische System zukommt; »d. i. das übersinnliche Substrat aller seiner Vermögen (welches kein Verstandesbegriff erreicht), folglich das, auf welches in Beziehung alle unsere Erkenntnisvermögen zusammenstimmend zu machen, der letzte, durch das Intelligibele unserer Natur gegebene Zweck ist […].« 60 Liebrucks fasst diesen Gedanken treffend zusammen: »Sowohl die Dinge wie das Subjekt müssen wir uns als noumenale Hypokeimena denken.« 61 Die Einheit, auf die die Urteilskraft reflektiert, ist keine die der Verstand gesetzt hat. Es muss also auch für Kant einen Grund der Einheit von Denken und (erscheinendem) Sein geben, welcher nicht einem der beiden Pole zugeschlagen werden kann. 62 Für Kant findet sich dieser Grund im Begriff des transzendentalen Substratums, welches ausgehend von dem bisher Erläuterten auch mit Fug und Recht transzendent genannt werden kann. Fichte hat, im Gegensatz zu vielen anderen, die Brisanz dieser Gedankenfigur gesehen.
KrV, A 575 f. | B 603 f.; S. 655. KdU § 57, Anm. 1; B 242; AA V, 344; S. 243. 61 Liebrucks, Bruno, »Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis bei Kant«, in: KantStudien 67 (1976), S. 442–465, S. 455. 62 Hughes Ansicht: »Only incidentally [Hervorhebung, M. B.] does Kant address himself to a ›substratum theorist‹« [Hughes, R. I. G., »Kant’s Third Paralogism«, in: Kant-Studien 74, (1983), S. 405–411, S. 408.] ist daher ebenso zurückzuweisen, wie die Rotenstreichs einer bloß negativen Bedeutung des Substratbegriffes. »The distinction between the position of subject and position of substratum is relevant here only because Kant wants to maintain the view that there is no line continuity from subject to soul.« Rotenstreich, Nathan, »I think«, in: Zweihundert Jahre Kritik der reinen Vernunft. (Hg.) Kopper, Joachim – Marx, Wolfgang. Hildesheim 1981, S. 335– 361, S. 336. 59 60
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Transzendenz und Transzendentalität
5.
Die Auflösung des x zur 0 bei Fichte
Diese Brisanz liegt in der Faktizität des transzendentalen Substratums als Einheitspunkt der zwei Pole in der Sphäre des Ansich: transzendentales Subjekt und transzendentales Objekt. Mit dem transzendentalen Substratum liefert Kant eine Grundlage ihrer Übereinstimmung, welche letztlich auf ihre Identität als höhere Einheit im Absoluten zu beruhen scheint. Dies deutet sich einerseits in Kants Rede von der Einheit des transzendentalen Ideals an, wie andererseits darin, dass er vom Substratum stets im Singular spricht. Der Einwand, dass Kant das Substrat bloß als Regulativ verstanden wissen will, kann an dieser Stelle bereits aus zwei Gründen zurückgewiesen werden – erstens aus einem logischen Grund: Jedes epistemologische Regulativ impliziert notwendig ein logisches Konstitutiv. Die Aufforderung zur Auffindung des Unbedingten im Bedingten fordert notwendig die Möglichkeit dieser Reflexion. Der zweite Grund ist ein systemimmanenter. Kant reagiert mit der Einführung des transzendentalen Substratums auf das Residualproblem der transzendentalen Deduktion, in der er die Apperzeption als hinreichende 63 und nicht bloß notwendige Bedingung der Gegenstandseinheit gefasst hat, ohne dies beweisen zu können. 64 Im Gegensatz zu Kant bleibt Fichte nicht bei der faktischen Aufweisung des transzendenten Urgrundes der Vorstellungseinheit stehen. So versucht er statt der thetischen Versicherung des transzendenten Grundes der Bestimmbarkeit diesen aus dem lebendigen Vollzug des bestimmenden Denkens selbst zu entwickeln. Hierfür verwendet Fichte den Terminus des Lichtes. Im Licht findet Fichte einen Ausgangspunkt, von dem aus sich die innere Einheit von DenVgl. KrV, § 17, B 137; S. 182. Einen Rettungsversuch des kantischen Arguments des § 17 unternimmt Allison, vgl. Allison, Henry: Kant’s Transcendental Idealism – An Interpretation and Defense. London, 1983, S. 145 f. Gegen Allisons Versuch, vgl. Guyer, Paul: »The Failure of the B-Deduction«, in: Spindel-Conference 1986: The BDeduction. (Hg.) Hoke Robinson, in: The Southern Jornal of Philosophy 25, Supplement, Memphis 1986, S. 67–84. 64 Unserer Ansicht nach hat Piché absolut recht, wenn er in Kants Konzept des transzendentalen Ideals, respektive Substratums als eine Reaktion auf das Residualproblem der auch durch die transzendentale Deduktion ungelösten Schwierigkeit der materialen Affinität der Mannigfaltigkeit auffasst. Vgl. Piché, Claude, Das Ideal: Ein Problem der Kantischen Ideenlehre (Conscientia – Studien zur Bewußtseinsphilosophie; 12), Bonn 1984, S. 95. Baumanns, Kants Philosophie der Erkenntnis, S. 773, Anm. 1107. 63
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ken und Sein begründen lässt, ohne den Einheitsgrund wie Kant aus dem Denken selbst in eine dem Denken transzendente Sphäre zu setzen, welche von diesem aus nur als x, Grenze oder Leerstelle markiert werden kann. So ist für Fichte das lebendige Licht identisch mit dem Leben des Begriffes, dem Vollziehen des Durch. Dieses Licht ist für uns gleichzeitig Null, sofern es sich in seiner Brechung durch den Begriff selbst vernichtet. Das Licht als Null markiert dementsprechend das wahre Sein des Begriffes, sofern dessen Wesen in der Durchheit, d. h. in seiner Insubstantialität, da reiner Relationalität liegt. Im Licht liegt daher die ursprüngliche Einheit des Begriffes, in der das Begreifen und das Begriffene, Denken und Sein zusammenfallen. Die Null als Leben, welche gleichzeitig absolute Realität bedeutet, ist ihm im Eintritt in das Durch unendliche Auffassung der Realität, mithin unendliche, durchgehende Bestimmung, »unendliche Theilbarkeit, bei absoluter Continuität […] Quantitabilität« 65. 66 Mit Fichte eröffnet sich so in Bezug auf das kantische Grundproblem der transzendenten Voraussetzungen der Transzendentalität eine interessante Lösung: Empirische Erscheinung, Denken und Anschauung und transzendentaler Erscheinungsgrund, die transzendente Einheit von Erscheinendem und Erscheinenden, welche sich im Grundsatz der durchgängigen Bestimmung in Gestalt des transzendentalen Substrats wiederfindet, sind damit im Grund des Wissens, dem Licht als Null aufgehoben. Das x, welches in der Funktion der transzendentalen Bestimmungshandlung als Korrelatum der Erscheinungsbestimmtheit auftritt, löst sich so zur Null, zur Einheit von Erscheinung und Ansichsein auf.
6.
Fazit und Ausblick
Das Problem des Transzendenten ist durch die Transzendentalphilosophie nicht eliminiert worden. Es folgt im Gegenteil dialektisch aus dem Gedanken der Immanenz des Erfahrungsgegenstandes. Für die Transzendentalphilosophie kündigt sich damit in Hinblick auf ihre Fichte, Werke X, S. 169. »Die Sphäre der Quantitabilität also ist die Natur oder Sinnenwelt als das Gesamt des zeitlich und räumlich Anschaubaren, in welchem sich eine Unendlichkeit von besonderen Objekten und Subjekten bestimmt heraussondern lässt.« Janke, Wolfgang, Fichte. Sein und Reflexion, Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970, S. 235. 65 66
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Grundfrage nach den erfahrungsunabhängigen Voraussetzungen möglicher Erfahrung eine zu fällende Grundsatzentscheidung an: Soll die Transzendentalphilosophie an der dualen Konzeption festhalten, wonach Erscheinung und Erscheinungsgrund im Verhältnis von Subjekt und Objekt auseinanderfallen? Oder soll sie versuchen, über diese hinaus, zu einem höheren Einheitspunkt einer nunmehr intuitiven Letztbegründung zu gelangen? Beide Wege sind mit Schwierigkeiten verbunden, welche eine systematisch ausgerichtete transzendentalphilosophische Forschung zu lösen hat. So stößt der transzendentalidealistische Ansatz Kants hinsichtlich des Einheitsproblems auf eine innerhalb seines Systems nicht mehr aufzulösende Schwierigkeit. Diese ergibt sich durch die einerseits monopolare Lösung der transzendentalen Deduktion, in der Ich- und Gegenstandseinheit in einer produktionsidealistischen Konzeption korrelativ verkoppelt sind, wobei Kant gleichzeitig andererseits die epistemische Dualität von Subjekt und Objekt realiter zum Ausgang nimmt. Kant hat dieses Problem mehr oder minder offengelegt und versucht diesem mit dem Verweis auf eine höhere Einheit im transzendentalen Substratum zu begegnen. Mit Blick auf seinen im opus postumum versuchten neuen Anlauf der transzendentalen Deduktion wird dies besonders deutlich. 67 Wollte man den kantischen Ansatz weiter verfolgen, so gelingt dies unserer Ansicht nach nicht durch die Beifügung dogmatischer Hilfskonstruktionen, wie sie die geforderte Einheit im transzendentalen Substrat offensichtlich darstellt. Eine Lösung, welche mit Kant die Eigenständigkeit des Erfahrungsgrundes gegen den idealistischen Standpunkt verteidigen möchte, muss das letztliche Scheitern der transzendentalen Deduktion eingestehen, welche die Apperzeption zum alleinigen Gegenstandskonstituent erfolglos auszuweisen versucht. Dies führt jedoch unweigerlich dazu, Kants Konzept der vorsynthetischen Vielheit der Mannigfaltigkeit um eine objektpolare Einheitsdimension zu erweitern. Ob eine solche, transzendental realistische Erweiterung der kantischen Theorie möglich ist, ohne deren Theoriegefüge gänzlich zu zerstören, muss sich jedoch noch zeigen.
Vgl. OP, Akad.-Ausg., XXII, S. 444; Vgl. hierzu Lehmann, Gerhard: »Ganzheitsbegriff und Weltidee in Kants Opus postumum«, in: Kant-Studien 41 (1936), S. 307– 330, S. 319 und Rohs, Peter: »Kants Prinzip der durchgängigen Bestimmung alles Seienden«, in: Kant-Studien 59 (1968), S. 170–180, S. 177 ff.
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Der andere Weg, die von Kant zur Voraussetzung genommene Dualität in einer höheren Einheit aufgehen zu lassen, begegnet eigenen Schwierigkeiten. So entzieht sich der fichtische Ansatz dem Anspruch einer diskursiven Letztbegründung, indem er deren Transdiskursivität als notwendig ausweist. Dieses Vorgehen ist durchaus logisch konsistent, mutet dem Leser oder Hörer jedoch zu, dass das philosophische Ergebnis letztlich nicht zu be-greifen, sondern nurmehr zu intuieren ist. Damit stößt die Vermittelbarkeit der Philosophie unter dem Paradigma mittelbaren Wissens an eine Grenze, welche sie jedoch gleichzeitig zu anderen Weisen des Wissens, insbesondere zu denen der Religion und Kunst, öffnet. Viele Philosophen würden hierin allerdings eine Grenzüberschreitung hinsichtlich der gebotenen Wissenschaftlichkeit philosophischen Denkens sehen. Diese Grundsatzentscheidung soll an dieser Stelle nicht getroffen werden. Alleiniges Bestreben war es, die Kontinuität innerhalb der verschiedenen Problemlagen und Lösungsansätze von Kant und Fichte zu zeigen. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es die Gebote der Wissenschaftlichkeit selbst sind, denen sich die Transzendentalphilosophie zuzuwenden hat, sofern sie als Wissenschaft wesentlich Reflexionswissenschaft ist, indem sie sich den Bedingungen des Wissens im wissen-schaftlichen Vollzug selbst widmet, um hierüber Wissen in Gestalt einer Wissenschaft zu gewinnen. Anders als jede andere Spezialwissenschaft oder philosophische Schule ist es allein die Transzendentalphilosophie, welche versucht, diese Aufgabe möglichst voraussetzungslos zu lösen, respektive die eigenen Prämissen aus der Selbstreflexion zu eruieren. Als solche ist die Transzendentalphilosophie hinsichtlich ihres Gegenstandes bestimmend, sofern sie zuallererst selbstbestimmend ist.
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Die Phänomenologie des Geistes und die Zukunft der Philosophie Paul Cobben (Tilburg)
Einleitung Die These, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwickelt hat, nämlich, dass die Substanz als Subjekt gedacht werden muss, lässt sich als eine Kritik an Kant verstehen. Denn einerseits ist der Versuch, die Substanz zu denken, ein ähnliches Projekt wie das kantische, das sich darauf richtet, die Einheit der Vernunft als ein vollständiges System zu entwickeln. Andererseits wendet die These, dass die Substanz als Subjekt gedacht werden muss, sich gegen Kant. Als Subjekt hat die Substanz jegliche Äußerlichkeit überwunden und ist der Unterschied zwischen einer noumenalen und einer phänomenalen Welt aufgehoben, d. h. die Vernunft hat sich von ihrer Einschränkung emanzipiert. In diesem Aufsatz versuche ich, Hegels Argument systematisch zu rekonstruieren. Meine These ist, dass Hegel zwar die Grenzen der kantischen Vernunft überwunden hat, aber dass seine als Subjekt verstandene Vernunft sich nicht als Substanz behaupten lässt. Diese Einsicht muss der Ausgangspunkt einer Philosophie der Zukunft sein.
Der Anfang der Begründungsfrage Die absolute Begründung der Vernunft scheint sich mit einem unlösbaren Problem auseinandersetzen zu müssen. Jeder Anfang stützt sich auf Voraussetzungen die dogmatisch introduziert werden und deshalb eine absolute Begründung schon von vornherein ausschließen. Hegel meint jedoch, dass dieses Problem sich hinterher überwinden lässt, nämlich wenn die Voraussetzungen sich im Laufe der Beweisführung nachträglich begründen lassen. Überdies ist die Frage nach der absoluten Begründung der Vernunft selber an Voraussetzungen gebunden. Der erste Schritt der Beweisführung ist deshalb die Explizierung dieser Voraussetzungen. 105 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Zuallererst kann man feststellen, dass die Begründung der Vernunft durch die Vernunft selbst vollzogen werden kann, weil jede Begründung sich auf Argumente stützt. Was als Argument gelten kann, lässt sich nur durch die Vernunft bestimmen. Die Begründung der Vernunft lässt sich nur als Selbstbegründung denken. Diese Feststellung führt jedoch unmittelbar zur Frage, weshalb die Vernunft überhaupt einer Begründung bedürfe? Impliziert die Struktur der Selbstbegründung nicht, dass die Vernunft sich nur begründen lässt, insofern sie für sich aufgeklärt ist? Aber wenn es überhaupt möglich ist, dass die Vernunft für sich aufgeklärt ist, weshalb ist sie nicht immer schon aufgeklärt? Wie lässt sich eine Vernunft denken, die für sich nicht aufgeklärt ist und einer Begründung bedarf? Eine Vernunft, die sich Begründungsfragen stellt, ist nicht völlig aufgeklärt, d. h. wird mit ihren Grenzen konfrontiert; sie verhält sich zur Nicht-Vernunft. Wie lässt sich jedoch ein solches Verhältnis bestimmen? Jede begriffliche Bestimmung der Nicht-Vernunft ist inadäquat, weil die Vernunft die Nicht-Vernunft nicht bestimmen kann. Die Nicht-Vernunft muss immer schon gegeben sein, unabhängig von der Vernunft. Im Bewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes versteht Hegel, in Übereinstimmung mit Kant, die Nicht-Vernunft vorläufig als die Natur, zu der die Vernunft sich in der Form von Zeit und Raum verhält. (Später muss begründet werden, ob sich diese Annahme aufrechterhalten lässt.) Zeit und Raum sind keine Begriffsbestimmungen, sondern Formen, in denen ein Verhältnis der Vernunft zu einer nicht-begrifflichen, natürlichen Welt sich überhaupt bestimmen lässt. In diesen Formen erscheint die natürliche Welt für die Vernunft als reine Mannigfaltigkeit (oder, in Hegels Begriffen, als ein »einfaches Zusammen vieler Hier« 1). Also, die Vernunft kann ihre Frage nach Selbstbegründung erst verstehen, wenn sie sich zum Anderen verhält. Wenn sie jedoch dieses Andere bestimmt (als Natur), stellt sich heraus, dass die Vernunft sich in diesem Verhältnis als reine Mannigfaltigkeit bestimmt. In diesem unmittelbaren Verhältnis lässt die Vernunft sich deshalb nicht als Substanz bestimmen. Auch wenn die Vernunft versucht, die Mannigfaltigkeit in einer Einheit zu fassen, kann sie sich im Verhältnis zur Natur nicht als Substanz verstehen. Die Einheit des Mannigfaltigen wäre wieder-
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G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg, 1980, S. 70.
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Die Phänomenologie des Geistes und die Zukunft der Philosophie
zufinden in der Einheit eines natürlichen Dinges, das viele Eigenschaften hat. Die Vernunft hat jedoch unendlich viele Möglichkeiten, eine Vielheit von Eigenschaften in einer bestimmten Einheit zusammenzufassen, sodass die Einheit der Vernunft sich auch in diesem Verhältnis nicht denken lässt. Erst wenn die Vernunft die Natur als eine absolute Substanz bestimmen kann, lässt sie sich als Substanz verwirklichen. Denn dies würde bedeuten, dass die Vernunft in ihrer Bestimmung (d. h. im Verhältnis zur Nicht-Vernunft) als absolute Substanz erscheint. Die Bestimmung der Natur als absolute Substanz setzt mindestens voraus, dass die Natur eine innere Einheit hat. Hier scheint der Naturbegriff der modernen Physik eine Lösung zu bieten. Für die moderne Physik hat die Natur in den Naturkräften ihre eigene Einheit. Gravitation zum Beispiel wird als eine der Natur zu Grunde liegende Einheit gefasst, die sich in einer Vielheit manifestiert. (Die Änderung in Raum und Zeit, der die Position einer Punktmasse unterworfen ist, und die in einer Vielheit von Positionen in Raum und Zeit resultiert, wird der Wirkung der Gravitation zugeschrieben, d. h. der Wirkung einer Kraft, die sich wirklich manifestiert. Die moderne Physik unterscheidet jedoch viele Kräfte, sodass die innere Einheit der Natur sich erst verstehen lässt, wenn alle Kräfte und alle Gesetze, die diese Kräfte zum Ausdruck bringen, innerlich zusammenhängen. Die innere Einheit der vielen Naturkräfte lässt sich in der Tat aufzeigen. Nicht jedoch als die innere Einheit der Natur selbst, sondern als die Einheit der theoretischen Vernunft. Die Naturgesetze sind von Gesetzeshypothesen abhängig, die empirisch geprüft werden. Deshalb sind sie von einer theoretischen Vernunft abhängig, die a priori annimmt, dass die Natur gesetzmäßig strukturiert ist. Der Versuch, die Vernunft im Verhältnis zur Nicht-Vernunft, d. h. zur Natur als Substanz, zu verstehen, führt zur Schlussfolgerung, dass dies nur möglich ist, wenn die Natur ihre eigene Einheit hat. Die Natur hat jedoch nur Einheit, insofern die theoretische Vernunft a priori voraussetzt, dass sie eine Einheit hat. Deshalb lässt die Verwirklichung der Vernunft als Substanz sich nur als Selbstbestimmung denken. Insofern die Vernunft sich als Einheit manifestiert, hat sie diese Einheit selbst gesetzt (Ich=Ich). Die vorhergehende Entwicklung scheint zu zeigen, dass Descartes recht hatte, als er die Substanz der Vernunft als res cogitans verstand. Im cogito wird erläutert, dass die als Substanz gedachte Ver107 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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nunft Subjekt ist, d. h. formelle Selbstbeziehung. Aber zugleich ist die vorhergehende Entwicklung eine Kritik an Descartes. Für Descartes ist die formelle Selbstbeziehung der Vernunft eine Substanz, die neben der Natur existiert, die ebenso wohl als Substanz gedacht wird (res extensa). Beide Substanzen sind wesentlich getrennt (obwohl Descartes auf der Ebene des Menschen natürlich doch wieder Versuche macht, seinen Dualismus zu überwinden). Hegel dagegen hat im Bewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes geprüft, ob die Substantialität der Vernunft sich in der (physischen) Natur zum Ausdruck bringen lässt. Das Resultat der Prüfung ist negativ: Weil die physische Natur sich nicht als Substanz denken lässt, kann sie auch die Substantialität der Vernunft nicht erscheinen lassen. Anders als die res cogitans hat die als das formelle Ich=Ich gedachte Substanz keine Natur außer sich, sogar nicht als eine getrennte Substanz. Das Resultat des Bewusstseinskapitels ist jedoch in dem Sinne problematisch, dass es den Anfangsbedingungen des Bewusstseinsverhältnisses nicht entspricht. Wir stellten fest, dass die Frage nach der Einheit der Vernunft ohne ihre Beziehung zur Nicht-Vernunft überhaupt keine Bedeutung hat. Deswegen introduzierten wir eine hypothetische Beziehung zur physischen Natur. Wenn jetzt die Schlussfolgerung gezogen wird, dass die Natur die Vernunft nicht bestimmen kann, weil jene keine Substantialität hat und die Bestimmung der Vernunft sich nur als Selbstbestimmung denken lässt, dann kann die Implikation nicht sein, dass die Natur für die Vernunft überhaupt irrelevant sei. Ohne Natur ist die Vernunft überhaupt nicht in sich unterschieden und lässt sich überhaupt keine Begründungsfrage stellen. Wenn das Resultat des Bewusstseinskapitels deshalb ernst genommen und die als Substanz gedachte Vernunft als Selbstbestimmung gefasst wird, dann stellt sich die Frage, ob es einen Begriff der Natur gibt, der diesem Resultat nicht widerspricht. Ein solcher Begriff der Natur muss es ermöglichen, der Natur eine eigene Einheit, eine eigene Substantialität zuzuerkennen. Im zweiten Kapitel der Phänomenologie des Geistes, das Selbstbewusstseinskapitel, überprüft Hegel, vom Resultat des Bewusstseins ausgehend, ob die als Leben gefasste Natur dieser Bedingung entspricht. Vor einer Erläuterung des Selbstbewusstseins wende ich mich dem Lebensbegriff zu.
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Die Phänomenologie des Geistes und die Zukunft der Philosophie
Lässt die lebendige Natur sich als Substanz denken? Auf der Ebene des Bewusstseins hat sich herausgestellt, dass die physische Natur sich nicht als Substanz denken lässt. In diesem Paragrafen wird Aristoteles’ Begriff von Leben als eine Möglichkeit erörtert, die lebendige Natur als Substanz zu fassen. Nach Aristoteles strebt der Organismus seine Selbsterhaltung nach, d. h. seine Einheit kommt nicht von außen, sondern wird praktisch vom Organismus selbst gesetzt. Es ist jedoch ebenso wohl möglich, den Organismus als einen Prozess der Selbstdestruktion zu beschreiben. Am Ende wir er nicht im Stande sein, die äußere Welt abzuwehren: Die äußere Welt wird ihre Übermacht in der Form des Todes zeigen. Damit stellt sich heraus, dass der Organismus keine Substanz ist. Die Außenwelt ist jedoch nicht nur eine feindliche Macht. In der Form eines äußeren Organismus kann sie erscheinen als eine Macht, die den Tod überwindet: Im Gattungsverhältnis kann ein Organismus sich endlos reproduzieren. Die einzelnen Organismen sterben, aber die Gattung lebt fort. Auch die Gattung lässt sich nicht als eine Substanz verstehen. Das Fortleben der Gattung erscheint in einer endlosen Wiederholung, als eine »schlechte Unendlichkeit«. Die Gattung existiert nicht für sich als Gattung, sondern nur für ein Selbstbewusstsein, das die Gattung als Gattung erkennt. Das führt zur Frage, ob die selbstbewusste Gattung sich vielleicht als Substanz verstehen lässt. Aristoteles charakterisiert die selbstbewusste Gattung als animal rationale, als vernünftiges Tier. Als Tiere sind die Menschen Organismen, die, wie jeder andere Organismus, in den Reproduktionsprozess der Gattung einbezogen sind. Weil sie doch vernünftige Tiere sind, hat ihre Reproduktion eine selbstbewusste Form. Die Gattung wird nicht durch instinktmäßige, natürliche Handlungen im Dienste des natürlichen Überlebens der Gattung reproduziert, sondern vielmehr durch selbstbewusste Handlungen im Dienste des sittlichen Lebens. Das natürliche Leben der Gattung ist gegen das gute Leben eingetauscht worden, das im Staat institutionalisiert ist. Die natürlichen (instinktmäßigen) Gesetze für das Überleben der natürlichen Gattung sind gegen selbstbewusste Gesetze für das Überleben der vernünftigen Gattung eingetauscht. Als Bürger des Staates erkennen die Menschen die Gesetze des Staates und deshalb wissen sie, was sie tun müssen, um das gute Leben zu reproduzieren, das im Staat institutionalisiert ist. 109 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Paul Cobben
Aristoteles’ Begriff der menschlichen Gattung hat zur Folge, dass Menschen als Wesen verstanden werden, die sich zur objektiven Realität verhalten in einer Weise, die sich als ein objektiviertes Ich=Ich Verhältnis deuten lässt. Die objektive Wirklichkeit des Menschen, der Staat, ist das Resultat selbstbewusster Handlung. Als Bürger erkennen die Menschen die Gesetze des Staates. Weil sie den Staat als die Objektivierung ihres (selbstbewussten) Gattungslebens verstehen, wissen sie, wie sie handeln müssen: Indem sie das Gesetz befolgen, müssen sie das Gattungsleben verwirklichen. Das Resultat ihres Handelns hat keinen anderen Inhalt als das Gesetz, das sie im Voraus erkannten. Die Wirklichkeit der Polis fällt mit den Handlungen zusammen, in denen der Inhalt des Gesetzes eine andere Form bekommt: der erkannte Inhalt des Gesetzes wird in einen wirklichen Inhalt transformiert. Die objektive Wirklichkeit ist ein objektiviertes Ich. 2 Wenn Aristoteles’ Begriff der menschlichen Gattung sich aufrechterhalten lässt, kann das oben formulierte Problem gelöst werden. Dieser Begriff ermöglicht es, die Verwirklichung des formellen Ich=Ich-Verhältnisses (des transzendentalen Subjektes) zu denken. Das formelle Ich=Ich-Verhältnis des transzendentalen Subjektes lässt sich als eine Abstraktion des wirklichen Ich=Ich Verhältnisses denken, d. h. der Wirklichkeit der menschlichen Gattung. Diese Lösung ist jedoch falsch, insofern sie auf einem Zirkelschluss beruht. Aristoteles’ Begriff der menschlichen Gattung setzt voraus, dass die Bürger die objektive Wirklichkeit des Staates erkennen. Erkenntnis setzt ihrerseits das transzendentale Subjekt voraus. Deshalb setzt die Wirklichkeit des transzendentalen Subjektes nicht nur Aristoteles’ Begriff der menschlichen Gattung voraus, sondern umgekehrt setzt dieser Begriff auch die Wirklichkeit des transzendentalen Subjekts voraus. Nichtsdestoweniger sind wir jedoch einen Schritt weiter gekommen. Der Begriff des Lebens ist als die Vermittlung zwischen Aristoteles und Kant erschienen. Der Begriff des Lebens ist einerseits mit dem kantischen transzendentalen Subjekt verbunden. Er bringt zum Ausdruck, dass die formelle Struktur des Selbst (die formelle Struktur des Ich=Ich-VerPhänomenologie, S. 253: »Um dieser Einheit willen ist die Individualität reine Form der Substanz, die der Inhalt ist, und das Thun ist das Uebergehen aus den Gedanken in die Wirklichkeit, nur als die Bewegung eines wesenlosen Gegensatzes, dessen Momente keinen besondern von einander verschiedenen Inhalt und Wesenheit haben.«
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Die Phänomenologie des Geistes und die Zukunft der Philosophie
hältnisses, oder des transzendentalen Subjektes) der Natur nicht äußerlich ist. Die natürliche Gattung hat die Form eines Selbst. Andererseits ist der Begriff des Lebens mit Aristoteles’ Begriff der menschlichen Gattung verbunden, d. h. der selbstbewussten Gattung. Aus philosophischer Sicht reicht es jedoch nicht, die formelle Ähnlichkeit zwischen formellem Selbst, Leben und selbstbewusstem Leben festzustellen. Weil das formelle Selbst (das transzendentale Subjekt) als die formelle Voraussetzung jedes Erkennens identifiziert worden ist, müssen wir untersuchen, ob es Einsicht ins Leben und selbstbewusstes Leben als Formen des Selbst entwickeln kann.
Das Selbstbewusstsein: die Vernunft im Verhältnis zum Leben Auf der Ebene des Selbstbewusstseins wird der Versuch, die Vernunft als Substanz zu denken, wiederholt. Der Ausgangspunkt ist das Resultat des Bewusstseins: die als formelle Selbstbeziehung verstandene Vernunft. Es wird überprüft, ob die so verstandene Vernunft sich im Verhältnis zur substantiellen, d. h. lebendigen Natur denken lässt. Dabei wird das Leben zuallererst als unmittelbar vorgefundenes, d. h. als natürliches Leben aufgefasst. Im Selbstbewusstsein wird klar, was schon auf der Ebene des Bewusstseins mitspielte, aber noch nicht thematisch war. Eine Vernunft, die sich zur Natur verhält (d. h. eine Vernunft, die sich verwirklichen muss) lässt sich nur als eine körperliche Vernunft verstehen. Das Selbstbewusstsein ist die Vernunft, die zugleich ein natürliches Leben hat. Anfangs hat das Selbstbewusstsein jedoch kein Bewusstsein von seinem Körper. In der Entwicklung des Selbstbewusstseins wird gerade erörtert, wie das unmittelbare Verhältnis des Selbstbewusstseins zu seinem Körper sich überhaupt denken lässt. Die Anfangssituation des Selbstbewusstseins kann deshalb als ein doppeltes Verhältnis charakterisiert werden. Einerseits ist das Selbstbewusstsein ein natürliches Lebewesen, das sich im Prozess seiner Selbsterhaltung praktisch zu anderen Lebewesen verhält. Andererseits ist das Selbstbewusstsein die formelle Selbstbeziehung der Vernunft, die sich in diesem unmittelbaren Bei-sich-Sein als Substanz weiß. Die Frage ist, ob das reine Selbstbewusstein sich im unmittelbaren Verhältnis zu sich als Leben (welche Gestalt die NichtVernunft hier angenommen hat) als Substanz aufrechterhalten kann. 111 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Paul Cobben
Als reine Selbstbeziehung ist das Selbstbewusstsein selbstgenügsam und hat kein Verhältnis zum Anderen. Das Selbstbewusstsein hat jedoch auch einen Körper, d. h. es ist ein lebendiges Wesen, das sich praktisch zu anderen lebendigen Wesen verhält. Denn insofern das lebendige Individuum bedürftig ist, ist es auf die äußere Welt bezogen. Diese Beziehung hat die Form eines Kampfes auf Leben und Tod mit einem anderen Lebewesen. Der Zweck dieses Kampfes ist die Aneignung des fremden Lebens: Es wird getötet und dient als Mittel zur Befriedigung des Bedürfnisses. Das befriedigte Leben verhält sich nicht länger zum fremden Leben. Früher oder später kehrt das Bedürfnis jedoch wieder zurück und der Prozess wiederholt sich endlos (d. h. bis zum Tod des Organismus). Anfangs hat die selbstgenügsame Vernunft überhaupt keine Erkenntnisse von ihrem Körper. Sie wird sich jedoch ihres Körpers bewusst, insofern dieser bedürftig ist. Für das Selbstbewusstsein erscheint das Bewusstsein seines Körpers in der Form seines Verhältnisses zum fremden Leben. Die Selbstständigkeit des fremden Lebens widerspricht der Substantialität der reinen Selbstbeziehung des Selbstbewusstseins. Das Selbstbewusstsein kann sich deshalb nur rein negativ zum fremden Leben verhalten: Für das Selbstbewusstsein hat das fremde Leben keine Substantialität. Dieses negative Verhältnis scheint praktisch bestätigt zu werden, wenn das Selbstbewusstsein als körperliches Wesen (also praktisch) das fremde Leben tötet. Im endlosen Prozess, in dem das fremde Leben immer von Neuem getötet wird, scheint die Vernunft sich im Verhältnis zur Nicht-Vernunft als Substanz zu verwirklichen. Aber die Endlosigkeit dieses Prozesses widerspricht dieser Hoffnung. Das fremde Leben lässt sich nicht endgültig vernichten und zeigt damit seine Substantialität. Wenn die Vernunft ihre Substantialität nur in dem endlosen Prozess der Vernichtung des fremden Lebens verwirklichen kann, stellt sich nur heraus, dass ihre Verwirklichung misslungen ist. Eine Substanz, die sich nur durch die Vernichtung einer fremden Substanz verwirklichen kann, ist von dieser fremden Substanz abhängig und ist deshalb keine Substanz. Die Schlussfolgerung kann nur sein, dass die Vernunft sich im unmittelbaren Verhältnis zur Natur als Leben nicht als Substanz denken lässt. Der erneuerte Begründungsversuch scheint nicht ein einziges Resultat zu haben. Wenn der erneuerte Versuch mit dem ersten Versuch verglichen wird, in dem die Vernunft im unmittelbaren Verhältnis zur leblosen Natur erörtert wurde, dann stellt sich heraus, dass die reine Mannig112 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Die Phänomenologie des Geistes und die Zukunft der Philosophie
faltigkeit in einer neuen Form hervortritt, nämlich als die reelle Mannigfaltigkeit des fremden Lebens. Es scheint jetzt keinen Sinn zu haben, nach der Einheit des mannigfaltigen Lebens zu suchen, in der Hoffnung, dass doch noch verstanden werden kann, wie die Vernunft sich im unmittelbaren Verhältnis zum Leben als Substanz verwirklichen kann. Denn einerseits wissen wir schon, dass die Einheit der Vernunft als Selbstbewusstsein gefasst werden muss, und andererseits haben wir schon gesehen, auf welche Weise die Einheit des mannigfaltigen Lebens sich verstehen lässt, nämlich als Gattung. Weil wir im vorhergehenden Paragrafen gesehen haben, dass die Einheit der Gattung erst für ein Selbstbewusstsein als solches existiert, gibt es möglicherweise einen Ausweg aus diesem Patt. Vielleicht kann das Selbstbewusstsein seine Substantialität im Verhältnis zum selbstbewussten Leben verwirklichen, weil es in diesem seine eigene Substantialität wiedererkennt.
Das Selbstbewusstsein im Verhältnis zum selbstbewussten Leben Wenn wir das Verhältnis des Selbstbewusstseins zum selbstbewussten Leben thematisieren, dann wird eigentlich ein vollkommen symmetrisches Verhältnis erörtert. Denn wir haben schon festgestellt, dass auch das Selbstbewusstsein als ein körperliches, d. h. lebendiges Selbstbewusstsein verstanden werden muss. Thematisiert wird also ein körperliches Selbstbewusstein, das sich zu einem körperlichen Selbstbewusstsein verhält. Von der Innenperspektive des Selbstbewusstseins her betrachtet, ist es anfangs ganz egal, ob die NichtVernunft ein Lebewesen ist, das auch ein Selbstbewusstsein hat oder nicht. In diesem Verhältnis versuchen beide Parteien deshalb, den Anderen zu töten, sodass sie in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt sind. Von der Außenperspektive her lässt sich dieser Kampf als ein Kampf um Anerkennung beschreiben. Dieses Verhältnis ist schließlich konstruiert worden, um zu überprüfen, ob das Selbstbewusstsein sich im selbstbewussten Leben wiedererkennen kann. Das Selbstbewusstsein selbst hat hier jedoch überhaupt noch keine Ahnung von einem anderen Selbstbewusstsein und kann deshalb nicht an Anerkennung interessiert sein. Weil das Resultat des Kampfes notwendig den Tod eines der Kämpfenden herbeiführt, ist es
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außerdem ausgeschlossen, dass Anerkennung auf irgendeine Weise zu diesem Resultat gehört. Wie schon vorher bemerkt, hat der lebendige Organismus die Struktur der Kraft. Wie die Kraft ist auch der Organismus eine Einheit, die sich in einer Vielheit von Äußerungen manifestiert. Der Unterschied ist, dass der Organismus an sich existiert und die Kraft der Gesetzeshypothese des Wissenschaftlers voraussetzt. Analog lässt sich auch der Kampf zwischen Organismen als das Verhältnis zwischen Kräften beschreiben, das Hegel als das »Spiel der Kräfte« 3 bezeichnet. Im Spiel der Kräfte werden die Kräfte in ihrer gegenseitigen Beziehung betrachtet. Insofern die eine Kraft sich äußert, ist die andere Kraft in sich zurückgedrängt, und vice versa. Das Gleiche gilt im Kampf: Insofern der eine Organismus sich äußert, ist der andere in sich zurückgedrängt und vice versa. Wenn die Macht des einen Organismus groß genug ist, ist der andere Organismus völlig in sich zurückgedrängt. Der völlig in sich zurückgedrängte Organismus lässt sich kennzeichnen als ein Lebewesen, das Todesangst erfährt. 4 Die Außenwelt erscheint als eine absolute Macht, die jedem Handeln des Organismus (das darauf gerichtet ist, die Außenwelt für das eigene Fortleben funktionell zu machen) entgegengesetzt ist. Jeder Versuch zu einer bestimmten Handlung wird unmittelbar zurückgestoßen und in die Allgemeinheit des Organismus zurückgeführt. Was bleibt ist ein undifferenziertes Selbstgefühl, das sich höchstens in einem Angstschrei äußern kann, der nur das »dass«, nicht das »was« des Lebens zum Ausdruck bringt. In der Todesangst des Organismus ist die unmittelbare Selbstbeziehung praktisch vorhanden. In der Todesangst ist die Erfahrung des Lebens in einer unmittelbaren Einheit zusammengefasst. Wesentlich für das ganze Projekt der Phänomenologie des Geistes ist Hegels Begriff der Todesangst, die einen Organismus befällt, der auch (körperliches) Selbstbewusstsein ist. Der Körper, der die Todesangst erfährt, erscheint für das Selbstbewusstsein nicht länger als das andere Leben, auf das die Bedürftigkeit seines Körpers bezogen ist. Der Körper ist aus seiner Bezogenheit auf das andere Leben heraus auf sich zurückgeworfen und hat jede Möglichkeit, seinen Lebensprozess zu bestimmen, verloren (»… alles
Phänomenologie, S. 88. Die Knechtschaft, d. h. den selbstbewussten Organismus, der Todesangst erfahren hat, deutet Hegel als ein »in sich zurückgedrängtes Bewustseyn« an. (Ebd., S. 114).
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Die Phänomenologie des Geistes und die Zukunft der Philosophie
fixe hat in ihm gebebt« 5). Für das Selbstbewusstsein ist sein Körper in Todesangst ein wirkliches Selbst. Nicht ein Selbst, das nicht bemerkt wird, weil es sich erst mittelbar meldet in seinem Verhältnis zum anderen Leben, sondern ein Selbst, das einer fremden Macht, der absoluten Macht des Todes, unterworfen ist und deswegen als eine fremde, kontingente Selbstständigkeit erscheint. Diesmal verhält das Selbstbewusstsein sich jedoch nicht negativ zu dieser Selbstständigkeit, denn es erkennt sein eigenes Wesen in diesem Körper wieder. Der Körper in Todesangst erscheint als die reine Selbstbeziehung in der Form des Andersseins, nämlich als eine gefühlte, natürliche Selbstbeziehung. Auch im Verhältnis zu seinem Körper in Todesangst lässt das Selbstbewusstsein sich jedoch nicht widerspruchsfrei denken. Denn einerseits gilt der Körper jetzt nur als Erscheinung des Selbstbewusstseins, und andererseits wird er durch eine fremde Macht (den Tod) beherrscht. Das Selbstbewusstsein kann sich zwar als das Wesen seines Körpers erfahren, aber es ist nicht im Stande, den Tod des Körpers abzuwehren. Im nächsten Paragrafen werde ich erörtern, wie Hegel diesen Widerspruch im Herrn/Knecht-Verhältnis zu lösen versucht.
Das Herr/Knecht-Verhältnis: die Vorstellung des Wesens des Selbstbewusstseins im Herrn Insofern der Körper die Todesangst erfährt, wird er durch die absolute Macht des Todes bedroht. Im symmetrischen Kampf zwischen zwei selbstbewussten Körpern erscheint die Macht des Todes in der Form des anderen (selbstbewussten) Körpers. Wenn das Selbstbewusstsein des Körpers, der die Todesangst erfährt, sich in seinem Körper wiedererkennt und schlussfolgert, dass es selbst das Wesen seines Körpers ist, dann kann es den Widerspruch, der sich darin äußert, dass in der Macht des Todes auch sein Körper ein Wesen zu haben scheint, nur dann überwinden, wenn es sich mit der Macht des Todes identifiziert. Das bedeutet, dass dieses Selbstbewusstsein die Macht des Todes, die im anderen (körperlichen) Selbstbewusstsein erscheint, als sein eigenes Wesen anerkennt. Was bedeutet jedoch diese Anerkennung genau? War nicht die Rede von einem symmetrischen Verhältnis? Was dann bedeutet die 5
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Anerkennung des anderen Selbstbewusstseins als das eigene Wesen? Das andere Selbstbewusstsein unterscheidet sich jedoch in nichts vom ersten. Wie ist das selbstgenügsame Selbstbewusstein überhaupt im Stande, sich zu einem anderen Selbstbewusstsein zu verhalten? Wiederum gilt, dass es nur von der Außenperspektive, nicht von der Innenperspektive her Sinn hat, über Anerkennung eines anderen Selbstbewusstseins zu reden. Von der Innenperspektive her bedeutet die Identifizierung mit dem anderen Selbstbewusstsein (das die Macht des Todes repräsentiert) nur, dass das Selbstbewusstsein die innere Anerkennung, das Wesen des eigenen Körpers zu sein, objektiv verwirklicht. Es setzt sich als die negative Macht seines Körpers und übernimmt damit die Macht des Todes. Für den körperlichen Organismus impliziert dieser Übergang, dass die Äußerungen des Körpers nicht länger auf die Befriedigung der Begierde gerichtet sind und deshalb auf das Fortleben des Organismus, sondern vielmehr als Ausdruck des freien Selbstbewusstseins betrachtet werden können (»gehemmte Begierde« 6). Von der Außenperspektive her lässt sich dieser Übergang in der Tat als eine Anerkennung (dass das andere Selbstbewusstsein das eigene Wesen ist) beschreiben, oder das Selbstbewusstsein erkennt das andere Selbstbewusstsein als seinen Herrn an, und setzt sich dadurch als Knecht. Denn das Selbstbewusstsein, das sich (d. h. seine Freiheit, seine reine Selbstbeziehung oder sein reines Gesetz) als das Wesen seines Körpers setzt, tauscht die natürlichen Gesetze des Organismus (die instinktmäßigen Gesetze, die das Streben nach Selbsterhaltung regulieren) gegen selbst gesetzte Gesetze ein, die als Gesetze des Organismus nicht rein, sondern bestimmt sein müssen. Es genügt jedoch nicht, dass die Bestimmung ein bestimmter Ausdruck der Freiheit des Selbstbewusstseins ist. Es gibt mehrere Selbstbewusstseine (ein körperliches Selbstbewusstsein existiert nur in einer Vielheit), die sich alle in bestimmten Gesetzen des Organismus ausdrücken müssen. Die vielen bestimmten Gesetze der vielen Selbstbewusstseine dürfen einander nicht widersprechen, sondern müssen vielmehr eine harmonische Einheit bilden, d. h. sie müssen Teil eines gesellschaftlichen Organismus sein. Die Verwirklichung des reinen Selbstbewusstseins als das Wesen des körperlichen Organismus hat deshalb einen gesellschaftlichen Organismus zum Resultat, der einerseits durch bestimmte kontingente Gesetze gekennzeichnet wird und andererseits als eine bestimmte Erschei6
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Die Phänomenologie des Geistes und die Zukunft der Philosophie
nungsform des reinen Selbstbewusstseins verstanden wird. Insofern das Selbstbewusstsein sich bestimmten gesellschaftlichen Gesetzen unterwirft, ist es »Knecht«. Die Unterwerfung unter diese Gesetze ist eine Selbstunterwerfung, denn der Knecht dient der Verwirklichung seines eigenen freien Wesens. Aber doch ist der Knecht ein Knecht, denn er muss einer kontingenten Tradition der Gesetze gehorchen. Auf komplementäre Weise hat auch der Herr eine doppelte Bedeutung. Einerseits symbolisiert der Herr das reine Selbstbewusstsein und andererseits lässt der Herr sich nur auf eine bestimmte historische Weise zur Erscheinung bringen, d. h. er wird in bestimmten Gesetzen, in einem bestimmten Dienen ausgedrückt.
Das Herr/Knecht-Verhältnis und die Lösung der Begründungsfrage Auf der Ebene des Herr/Knecht-Verhältnisses scheint es zwar zu gelingen, den Zusammenhang zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft widerspruchsfrei zu denken [der Knecht steht ja für einen selbstbewussten (gesellschaftlichen) Organismus, der sein Wesen im reinen Selbstbewusstsein des Hernn hat], aber in diesem Zusammenhang scheint die Vernunft ihre Substantialität verloren zu haben. Denn sie fällt in zwei Formen des Selbstbewusstseins auseinander, die beide nicht substantiell sind. Einerseits ist der Herr das reine (göttliche) Selbstbewusstsein, das vom Knecht abhängig ist und andererseits ist der Knecht das (menschliche) Selbstbewusstsein das vom kontingenten gesellschaftlichen Organismus abhängig ist. Diese traurige Schlussfolgerung muss jedoch noch ein wenig hinausgeschoben werden, denn die ganze Entwicklung in der Phänomenologie des Geistes, die auf das Herr/Knecht-Verhältnis folgt, ist darauf gerichtet, die substantielle Einheit des Herrn und Knechtes darzustellen. Diese Einheit wird als der absolute Geist verstanden, der sich in und durch die Weltgeschichte verwirklicht. Der absolute Geist ist die als Substanz verstandene Vernunft, die als Subjekt alle Nicht-Vernunft in sich aufgehoben hat. Für den absoluten Geist ist die Nicht-Vernunft das Andere, in dem er als Anderer bei sich ist. Um zu beurteilen, ob Hegels Lösung sich aufrechterhalten lässt, müssen wir zuallererst untersuchen, was die Einheit des Herrn und Knechtes beinhaltet. Dazu zähle ich das Programm auf, das in der Phänomenologie des Geistes im Anschluss an das Herr/Knecht-Ver117 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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hältnis ausgearbeitet wird und gebe an, was Hegel in jedem Teil zu beweisen versucht. 1. Auf der Ebene des Unglücklichen Bewusstseins erfährt der Knecht, dass sein Wesen ein reines Selbst ist, das von der wirklichen (erscheinenden) Welt unterschieden ist. Mit anderen Worten, der Knecht erfährt den Unterschied zwischen dem Herrn als dem reinen Selbst und dem Herrn, der im Gesetz der Wirklichkeit verwirklicht wird. 2. Auf der Ebene der Vernunft überprüft der Knecht, ob sein reines Wesen sich in der Wirklichkeit wieder finden lässt, d. h. das Gesetz der Wirklichkeit muss so bestimmt werden, dass es sich als Ausdruck seines reinen Wesens verstehen lässt. In diesem Prozess erfährt der Knecht zwar, dass das Gesetz der Wirklichkeit mit dem Gesetz eines gesellschaftlichen Organismus identifiziert werden muss, aber er sieht zugleich ein, dass er von seinem vereinzelten (»monologischen«) Standpunkt her nicht im Stande ist, dieses Gesetz konkret zu bestimmen. 3. Auf der Ebene des Geist-Kapitels setzt Hegel den Knecht in einer historischen Gesellschaft, d. h. in einer Gesellschaft, in der das Gesetz immer schon bestimmt ist und intersubjektiv gilt (deshalb ist die monologische Perspektive hier verlassen worden). Aber die historische Gesellschaft entspricht bestimmten Bedingungen: Ihre institutionelle Ordnung muss so weit ausdifferenziert sein, dass sie den Knecht in den Stand versetzt, die Verhältnisse des unglücklichen Bewusstseins und der Vernunft konkret zu erfahren. Hegel meint, dass die griechische Polis diese Bedingungen erfüllt. Denn einerseits erfährt der als griechischer Bürger verstandene Knecht, dass das reine Selbst das Wesen des wirklichen Individuums ist. (Als Familienmitglied, der zum göttlichen Gesetz gehört, versteht er den Schatten des Verstorbenen als das Wesen des lebendigen Individuums.) Andererseits ermöglichen die Institutionen der Polis einen Erfahrungsprozess, in dem der Knecht das Gesetz der Polis (das menschliche Gesetz) als kontingent erkennen kann. 4. Für den als griechischen Bürger verstandenen Knecht fallen deshalb die zwei Momente, die für uns (aus einer Außenperspektive heraus) im Herrn vereinigt waren, auseinander. Das reine Selbst wird dem göttlichen Gesetz zugeteilt und das Dienen des Herrn dem menschlichen Gesetz. Weil jedoch die beiden Momente nicht länger (wie im Herrn) in ihrem gegenseitigen Verhältnis 118 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Die Phänomenologie des Geistes und die Zukunft der Philosophie
bestimmt sind (das Dienen des Knechtes verwirklicht das reine Selbst des Herrn auf eine bestimmte historische Weise), sondern als zwei selbstständige sittliche Massen nebeneinander existieren, erscheinen sie in der Form eines Widerspruchs: Das Individuum gehört unmittelbar sowohl zu einer absoluten als zu einer kontingenten Welt. Die Entwicklung des Geist-Kapitels versucht deshalb die europäische Geschichte zu rekonstruieren als einen Prozess, in dem dieser Widerspruch aufgehoben wird. 5. Am Ende des Geist-Kapitels, im Übergang zum Religionskapitel, wird der genannte Widerspruch tatsächlich überwunden, wenn der formelle Begriff des absoluten Geistes introduziert wird. Auf dieser Ebene versteht der Knecht sich als ein Wesen, das, indem er sich im gesellschaftlichen Organismus verwirklicht, zugleich die Selbstverwirklichung des absoluten Geistes vollzieht: Im gesellschaftlichen Organismus wird das reine Selbst des absoluten Geistes auf eine bestimmte historische Weise verwirklicht. Der Knecht hat sich dadurch die Einsicht in das Herr/Knecht-Verhältnis angeeignet, die von der Außenperspektive her schon vorhanden war. 6. Die Verwirklichung des absoluten Geistes im gesellschaftlichen Organismus lässt sich keineswegs als ein Schöpfungsverhältnis denken. Im Religionskapitel wird klar, dass die Verwirklichung des absoluten Geistes in der Weltgeschichte vielmehr als eine geschichtliche Entwicklung verstanden werden muss, in der der Knecht immer adäquater zum Selbstbewusstsein kommt, dass der absolute Geist das transzendente Wesen der Weltgeschichte ist. Was verwirklicht wird, ist die Einsicht des Knechtes, dass der absolute Geist sich immer schon verwirklicht hat. 7. Auf der Ebene des absoluten Wissens wird dargestellt, dass der absolute Geist im Anderen als Anderer bei sich ist: Im absoluten Geist wird die kontingente Welt als solche zum Begriff gebracht. Hegel hat die Begründungsfrage in der Phänomenologie des Geistes gelöst, wenn sein Begriff des absoluten Geistes sich tatsächlich als die als Subjekt verstandene Substanz verstehen lässt. Der absolute Geist ist jedoch keine Substanz und ebenso wenig ein Subjekt. Der absolute Geist ist die zum absoluten Begriff geführte endliche Vernunft, d. h. die Vernunft, die sich zur Nicht-Vernunft verhält: zur leblosen Natur, zum Leben beziehungsweise zum selbstbewussten Leben. Zwar hat Hegel leblose Natur, Leben und selbstbewusste Natur zu Momenten einer dialektischen Einheit gemacht, die als der absolute Geist expli119 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Paul Cobben
ziert wird, aber diese Einheit ist vielmehr eine logische, keine substantielle Einheit. Der Versuch, die leblose Natur als eine Substanz zu denken, führte zum Leben; der Versuch, das Leben als Substanz zu denken führte zum selbstbewussten Leben; und der Versuch, das selbstbewusste Leben als Substanz zu denken, führte zum absoluten Geist. In diesem Sinne sind leblose Natur, Leben und selbstbewusste Natur als Momente im absoluten Geist aufgehoben. Aber das bedeutet nicht, dass der absolute Geist die vorhergehenden Momente hervorgebracht hat und deswegen Substanz wäre. Im Mittelpunkt steht vielmehr die selbstbewusste Natur, die endliche Vernunft, die erstens die leblose Natur und zweitens das Leben und drittens das selbstbewusste Leben als die Nicht-Vernunft identifizieren zu können meint. Auch ist es erst die selbstbewusste Natur, die den Begriff des absoluten Geistes konzipiert, um seine endliche Vernunft als Substanz denken zu können. Es ist nicht die Substanz des absoluten Geistes, die sich als Subjekt denkt. Der als Substanz gedachte absolute Geist bleibt an eine unmögliche Aufgabe gebunden: Die endliche Vernunft muss sich in einer unendlichen Vernunft aufheben. Die endliche Vernunft kann jedoch ihr Nicht-Sein nicht denken und deshalb ebenso wenig eine unendliche Vernunft, für welche das Nicht-seinkönnen der endlichen Vernunft doch eine Möglichkeit ist. Eine Philosophie der Zukunft muss erläutern, wie der Begriff des absoluten Geistes sich widerspruchsfrei artikulieren lässt. Zugleich muss sie verdeutlichen, wie die endliche Vernunft die Natur, die lebendige Natur, die selbstbewusste Natur und den absoluten Geist in ihrer Eigenart und ihren eigenen Seinsweisen verstehen kann.
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Philosophie und Dialektik Zehn Thesen über ihre gemeinsame Zukunft Christoph Binkelmann (München)
Vorbemerkungen über die Zukunft der Philosophie – von der Gegenwart aus betrachtet Fragt man nach der Zukunft der Philosophie, kann es nicht schaden, erst einmal die Gegenwart zu betrachten. Und dort scheint es, als sei der Philosophie gar nicht nach Zukunft zumute. Die Philosophie übt sich heutzutage, ja sie übertrifft sich in Selbstbescheidung. Das ist freilich nicht verwunderlich: Nach ihrer über 2000 Jahre währenden Erfolgsgeschichte mit mehr oder weniger großen Schwankungen, wie z. B. ihrer kurzen Blütezeit in der klassischen deutschen Philosophie, hat sie seit dem 19. Jh. stetig an Einfluss eingebüßt. Sämtliche ehemalige Gegenstandsbereiche haben sich selbstständig gemacht und lassen sich inzwischen von der Philosophie schon gar nichts mehr sagen. Die Philosophie übt sich in Reue und Demut: »Vielleicht war ich ja zu streng zu meinen Kindern!« (Deshalb sind sie aus dem elterlichen Haus ausgezogen und melden sich nicht mehr.) Es lässt sich in der Tat nicht leugnen, dass diese Entwicklungen insbesondere als Abkehr von einem zu übermächtigen, autoritär wirkenden Vernunftbegriff zu deuten ist, wie ihn die klassische deutsche Philosophie konzipierte. Die Vielheit und Eigenständigkeit der Wirklichkeit kam gegenüber den Anforderungen des Systems, vor allem im absoluten Idealismus Hegels – dem Höhepunkt der Bewegung –, häufig zu kurz. Inzwischen wirkt die Philosophie wie ein Greis, der sich von seinen Kindern Almosen erbetteln muss, um wenigstens noch eine kurze Zeit zu überleben. Soviel zur Zukunft! Doch Bescheidenheit ist dann gefährlich, wenn sie aus Not und nicht aus Einsicht entspringt. Zudem ist es fraglich, wie die Philosophie, deren wesentliche Bestimmung darin bestanden hat, »aufs Ganze zu gehen«, ihr Existenzrecht weiterhin behaupten kann, wenn sie mit dem Einzelnen vorlieb nimmt, wenn sie idiographisch-historisch verfährt oder sich auf Einzelproblematiken – gleichsam auf Krümel vom Tisch der 121 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Christoph Binkelmann
Wissenschaften – beschränkt. Die Nachfolger warten schon: Die Kulturwissenschaften sammeln sich auf der einen Seite, die Lebenswissenschaften auf der anderen Seite und spekulieren auf das Erbe – der Nekrolog ist bereits geschrieben. Da scheint es nicht sinnvoll zu sein, auf so antiquierte Begriffe wie Dialektik zu rekurrieren, um der Philosophie eine längere und aufgabenreichere Zukunft zu vindizieren; zumal nicht dann, wenn hier eine in der Hegel’schen Tradition stehende Dialektik gemeint ist. Es klingt – um ein letztes Mal in der Metapher zu reden –, als würde der Greis von einer vergangenen Zeit reden, die mitsamt ihrer Erfahrungsgehalte und Erkenntnisse unwiederbringlich obsolet geworden ist. Gerade unsere heutige Zeit glaubt fest an ihre unvergleichbare Sonderstellung in der Menschheitsgeschichte, weshalb die Kategorien und Unterscheidungen vergangener Wissenschaften und Philosophien überhaupt nicht mehr anwendbar sind auf die gegenwärtigen einzigartigen Phänomene. Wenn es überhaupt eine Zukunft der Philosophie geben wird, dann sicherlich nicht durch Rückbesinnung auf ihre Vergangenheit und auf Vorstellungen wie die Dialektik. Diese hat im Laufe der Geschichte einige Bedeutungsschichten angesammelt: Obwohl sie bereits in der Antike eine bedeutende Rolle spielte, wird die Dialektik heute meist mit Hegel und – unter anderen Vorzeichen – dem Marxismus in Verbindung gebracht. Und ohne Übertreibung kann man behaupten: Keine Auseinandersetzung mit der Dialektik kommt an Hegel vorbei. Im Umkehrschluss muss auch jede Theorie der Dialektik mit den Vorwürfen rechnen, die in den zweihundert Jahren seit ihrer Entstehung bei Hegel erhoben wurden. Aus heutiger Perspektive scheinen zwei Gegenpositionen vielleicht das größte Hindernis für ein Einlassen auf die Dialektik Hegels darzustellen: der Pluralismus und das binäre Wirklichkeitsverständnis. Für unsere pluralistisch verfasste Wirklichkeit scheinen dermaßen stark vereinheitlichende Denkweisen wie die Hegel’sche Dialektik unangemessen. Die reale Vielfalt bäumt sich auf gegen die Einfalt des Systems und dessen dialektisches Prinzip, dem eine teleologische Tendenz von der Einheit zur Totalität innewohnt. Hegels Vernunftsystem zeigt aufs deutlichste, wie die doch angeblich befreiende Wirkung der Vernunft, die sie von der Aufklärung bescheinigt bekommt, am Ende in Tyrannei und Unfreiheit umkippt. Freiheit widerspricht dem Systemgedanken; sie gedeiht auf dem Boden der Differenz, des Pluralismus und der Individualität. Diesem Einwand muss unweigerlich Recht gegeben werden; ein naives »Zurück« zur 122 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Philosophie und Dialektik
Hegel’schen Form der Dialektik ist nicht mehr möglich und schon gar nicht wünschenswert. Es stellt sich aber dennoch die Frage, ob die angemessene Konsequenz darin bestehen kann, die Dialektik partout zu verabschieden und damit vielleicht das Kind mit dem Bade auszuschütten. In die nahezu entgegengesetzte Richtung stößt der zweite Einwand gegen die Dialektik: Nicht nur in den Naturwissenschaften, auch in der (vorwiegend angloamerikanischen) Philosophietradition gründet ein unausrottbares binäres Wirklichkeitsverständnis, wonach davon auszugehen ist, dass alles entweder ist oder nicht ist; mithin sind die Aussagen darüber entweder falsch oder wahr. 1 Prinzip dieser Geltung ist der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch als logisches oder erkenntnistheoretisches Axiom. Demgegenüber wirkt die Hegel’sche Dialektik wie ein sophistisches Geschäft, in dem es keine Aussage gibt, die nicht sowohl wahr als auch falsch ist. Bereits in der Phänomenologie des Geistes verweist Hegel mit seiner Theorie des spekulativen Satzes darauf, dass die gewöhnliche Satzstruktur und ihre fixierende Zuordnung von Subjekt und Prädikat vom dialektischen Denken durchbrochen werden (ohne sie freilich im Sinne einer intellektuellen Anschauung zu transzendieren). Für eine an der formalen Logik orientierten Philosophie kann dieses Unternehmen dann höchstens eine ästhetische Bedeutung besitzen und keinen Anspruch auf (universelle) Wahrheiten erheben. 2 Blickt man sich in der aktuellen Philosophie nach Vorbildern um, wie und in welcher Form der dialektische Gedanke im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Rationalität noch fortbestehen kann, sieht es freilich nicht allzu rosig aus. Dabei darf man nicht übersehen, dass zentrale Elemente der Dialektik manchmal unter anderen Benennungen fortexistieren. So scheint mir eine Menge an dialektischem Geist in Wolfgang Welschs Konzept der transversalen Vernunft zu liegen, das den Vollzugscharakter der Vernunft aus der Zeit der klassischen deutschen Philosophie rettet, ohne die starke Tendenz auf Identität zu übernehmen. So mag es als ein Plädoyer für die diaAuch dreiwertige Logiken ändern daran nichts, da sie auf das binäre Denken bezogen bleiben, indem sie einen Wert zwischen wahr und falsch einführen. Das Prinzip von der eindeutigen Zuordnung eines Wertes wird weiterhin eingehalten. 2 Bezeichnenderweise vermag der in der Tradition der analytischen Philosophie stehende Richard Rorty der Dialektik etwas abzugewinnen, indem er sie als »literarisches Geschick« deutet. Vgl. Tietz, Udo, Sprache und Verstehen in analytischer und hermeneutischer Sicht. Berlin 1995, S. 239. 1
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lektische Vernunft in Zeiten des Pluralismus (und damit als Motto für die folgenden Ausführungen) gelten, wenn er schreibt: Transversale Vernunft ist nicht die Vernunft einer arche oder eines Bestandes oder Besitzes feststehender apriorischer Prinzipien. Sondern sie ist eine Vernunft der Bewegung, ist wirklich grundlegend ein Vermögen; sie ist ihrer ganzen Seinsart nach dynamisch, realisiert sich in Prozessen. Transversalität ist nicht von ungefähr ein Bewegungsbegriff. Vernunft ist nicht, Vernunft geschieht. 3
Ich werde mir die Freiheit (und Unbescheidenheit) herausnehmen, im Folgenden meine Gedanken über eine mögliche dialektisch verfahrende Philosophie der Zukunft in Form von zehn Thesen darzulegen. Die Thesen werden jeweils – soweit dies in einem kurz gefassten Aufsatz überhaupt möglich ist – begründet und teilweise auseinander entwickelt. Es handelt sich also weder um eine bloße Auflistung von Behauptungen noch um eine streng deduktive Abhandlung. Diese Darstellungsweise ist eine unter vielen und schon gar nicht die Form der Philosophie.
Zehn Thesen auf dem Weg zu einer radikal-dialektischen Philosophie These I Eine philosophische Theorie der Zukunft entspringt aus dem Wechselspiel von Selbstthematisierung und Auseinandersetzung mit Einzelwissenschaften und sozialer Lebenswelt. Das Thema dieses Sammelbandes besitzt zum Kern eine Selbstbefragung der Philosophie nach ihrer Zukunft und nach ihrer Stellung zur Zukunft. Man könnte meinen, die Philosophie müsse sich selbst thematisieren, um zu sich zu finden. Sie müsse erst einmal klären, was sie sei, um anschließend das (wirklich) zu tun, was sie davor (formal) herausgestellt hat. Dieses Vorgehen genießt am Ende des 18. Jh. im Anschluss an die kritische Philosophie Kants Hochkonjunktur. Am bekanntesten ist sicherlich Johann Gottliebe Fichtes Unternehmen der Wissenschaftslehre, das er im Jahre 1794 mit einer
Welsch, Wolfgang, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M. 1996, S. 764.
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Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre, also der Klärung der formalen Strukturen, einläutet, um im selben Jahr deren Ausarbeitung nachzuliefern. 4 Dies ist ein Ansatz, von dem ich schon einmal nicht überzeugt bin. Man könnte ja auch behaupten, die Aktualität (Wirklichkeit) einer Philosophie entspringe einer Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Realität, ihren Problemen und Tendenzen; sie wäre nach einem Wort Hegels »ihre Zeit in Gedanken erfasst«. Die Zeit, um die es geht, ist bestimmt durch die soziale Lebenswelt sowie insbesondere heute: durch den Forschungsstand der empirischen Einzelwissenschaften. Aus dieser Perspektive ist Philosophie allein dann sinnvoll, wenn sie aus konkreten Bedürfnissen und Forderungen der Gegenwart hervorgeht und darauf Antworten findet. Eine Selbstthematisierung der Philosophie ist abstrakte, wirklichkeitsfremde Nabelschau, die nichts einbringt und glücklicherweise längst abgedankt hat. Auch diese eben referierte Perspektive entspricht nicht meiner Meinung. Sie ist unglücklicherweise die Meinung derjenigen Instanzen, in der heutigen Wissenschaftsgesellschaft, die maßgeblich durch Forschungsgelder die Richtung der Philosophie beeinflussen. Beide Thesen der Genese der Philosophie aus ihrer Selbstthematisierung (Fichte) oder ihrer Hinwendung zur Lebenswelt (Hegel) 5 sind für sich allein zu einseitig. Ideal ist m. E. eine Art von Wechselwirkung zwischen beiden Ebenen, ein fruchtbarer Austausch mit gegenseitigem Respekt. Konkreter: eine Philosophie bzw. der dazugehörige Philosoph muss oszillieren zwischen der Selbstthematisierung seines Tuns und dem gegenwärtigen Leben inklusive dessen einzelwissenschaftlicher Reflexion. Dabei ist es ebenso absurd zu behaupten, die Philosophie entstünde einzig und allein aus transzendentaler Selbstreflexion, als auch, sie ginge in ihrer Gegenwart vollständig auf. Bezugspunkt der Philosophie ist weder die reine Apriorität noch die Empirie schlechthin. Auf andere Weise formuliert, besagt dies, dass sich Philosophie zwischen top-down- und bottom-up-Erklärung beSchelling geht den gleichen Weg über eine Schrift Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie (1794) zu deren Ausführung Vom Ich als Prinzip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795). 5 Hegel steht nur stellvertretend für diese Tendenz einer Hinwendung zur Wirklichkeit; doch ist dies nur eine Tendenz, er selbst hat daneben ja auch viele Überlegungen zur Gestalt der Philosophie angestellt. Seine Hinwendung zum Konkreten erfolgt nicht auf Kosten einer Vernachlässigung der allgemeinen Grundlagen des philosophischen Denkens. 4
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wegt. 6 Davon kann es die unterschiedlichsten Versionen und Gewichtungen geben, zentral ist nur, dass die Philosophie sich dessen bewusst ist, d. h. dass sie ihren eigenen Standpunkt nicht absolut setzt. Die analytische Philosophie gefiel sich jahrelang in der einen Tendenz, nämlich das empirische oder auch lebensweltliche Verständnis der Wirklichkeit absolut zu setzen und im Ausgang davon zu einigermaßen allgemeiner Einsicht zu gelangen. Sämtliche andere Richtungen der Philosophie sind von dieser Methode so sehr angesteckt, dass der spekulative Gedanke heutzutage kaum und wenn, dann nur noch in stark religiös aufgeladenen Philosophien weiterexistiert. Fragt man sich also, wie eine Philosophie der Zukunft, speziell: eine Philosophie des Nach (nach ihren lange Zeit dominanten Gestalten in Postmoderne und analytischer Philosophie) aussehen soll, dann ist vor allem zu antworten, dass das transzendental-spekulative Denken verstärkt und in diejenige Position zu setzen ist, die einen fruchtbaren Austausch mit der empirischen Wirklichkeit erlaubt. Wie Spinoza darauf beharrte, den Körper zum zentralen Gegenstand der Wissenschaft zu machen, um so die jahrtausendelange Dominanz der Vernunft auszugleichen, so muss heutzutage umgekehrt die Vernunft betont werden. In der langen Herrschaftsphase der analytischen Philosophie haben wir gleichsam ein umgekehrtes Mittelalter durchlebt: die andere scholastische Philosophie; die Scholastik des Naturalismus. In dieser Hinsicht (d. h. um ein Gleichgewicht herzustellen, nicht ein solches darzustellen) 7 kann ich es mir gegenüber verantworten, dass ich in diesem Vortrag die Philosophie allein durch Selbstthematisierung expliziere und damit meine erste These, wonach jede Philosophie auch einer Auseinandersetzung mit der Aktualität entspringe, gar nicht selbst befolge. Ich komme somit zu der Frage: Wie soll eine Philosophie der Zukunft oder die Zukunft der Philosophie sein?
Beide Erklärungsmodelle werden hier ganz allgemein aufgefasst nach der vektoriellen Richtung; sie besitzen jeweils verschiedene Ausprägungen, von denen Deduktion und Induktion sicherlich die bekanntesten, aber nicht die einzigen sind. 7 Die Herstellung des Gleichgewichts geschieht durch Betonung der zu wenig »gewichtigen« Seite, die Darstellung durch gleichmäßige Betonung beider Seiten. 6
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These II Eine philosophische Theorie darf sich nur selbst normativen Vorgaben, wie sie sein soll, unterstellen, d. h. es soll eine größtmögliche Pluralität von autonomen philosophischen Theorien geben. Die Selbstbefragung der Philosophie muss bei der Untersuchung ansetzen, welchen Konstruktionsnormen sie unterliegt; darunter kann man sämtliche Aspekte verstehen, welche die Gestalt einer Philosophie auf zentrale Weise bestimmen, wie z. B. Methode, logische Gesetze und Reflexionsbestimmungen, Inhalte, Ziele etc. Es gehört zum wesentlichen Themenbereich der Philosophie, die Entstehung von Normativität überhaupt zu erklären. Thematisiert sich Philosophie selbst – und nach der ersten These ist die Selbstthematisierung ihr wesentlich –, dann muss sie die ihr selbst zu Grunde liegenden Konstruktionsnormen behandeln und dieselben in ihrer Genese und Geltung erklären. Diese philosophische Erklärung setzt jedoch wiederum die behandelten Normen zu ihrem eigenen Vollzug voraus. Damit scheitert die Erklärung der Entstehung der Normen oder die Philosophie versteht ihre Normen von Anfang an als selbst gegeben. Eine derartige philosophische Theorie wäre autonom zu nennen. 8 Vollzieht sich eine Philosophie jedoch auf dem Boden dieser Überzeugung (der Autonomie), dann darf sie für andere mögliche philosophische Theorien keine Vorgabe machen, wie sie sein sollen. Aus der Sicht der autonomen Philosophie bewirkt explizite Heteronomie eine in sich inkonsistente Philosophie, die sich bei der Erklärung ihrer selbst in Selbstwidersprüche verwickelt oder zumindest sich selbst nicht zu erklären vermag. Konsequenz dieser Überlegung ist, dass eine derartige Philosophie eine Pluralität an philosophischen Richtungen befürworten und unterstützen muss. Wenn nun diese anderen Theorien sich selbst als durch heteronome Faktoren bestimmt sehen (wie Empirie, Wissenschaften u. a.), dann können auch diese Maßnahmen von der autonomen Philosophie als autonome Setzungen betrachtet werden.
Dies ist der Zirkel, den auch Fichte immer wieder als notwendigen, nicht vitiösen Zirkel konstatiert, so in der Schrift Über den Begriff der Wissenschaftslehre: Johann Gottlieb Fichte: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. (Hg.) Fichte, Immanuel Hermann. Berlin 1845/46. Repr. Nachdr. Berlin 1971, (= Fichtes Werke I–XI). Bd. I, 74 ff.
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Die Frage nach der Normativität führt in die Unterscheidung einer autonomen philosophischen Theorie von anderen philosophischen Theorien. Diese These ist auch konsistent mit meinem folgenden Vorgehen. Auf die Frage, wie eine Philosophie der Zukunft und die Zukunft der Philosophie sein soll, werde ich Thesen zu einer philosophischen Theorie entwickeln, die meiner eigenen Überzeugung entspricht: d. h.: so soll oder – im Jargon der Bescheidenheit – könnte eine Philosophie sein. Die folgenden Normen, Methode und Gegenstand, setze ich mir selbst als solche meines Philosophierens. Diejenigen Gesetze, die sich eine Philosophie gibt, entspringen freilich nicht (allein) dem willkürlichen Entwurf des Philosophen, ansonsten wäre Philosophie in der Tat nicht von bloßer Fiktion zu unterscheiden. Gesetze existieren immer schon in faktischen Beständen, müssen aber durch den Philosophen erkannt, d. h. als vernünftig ausgewiesen werden. Und in diesem Akt trennt man sich immer schon von der bloßen Faktizität. Die Normen einer Philosophie existieren in unterschiedlichen Bereichen: a) Vernunftordnung (d. h. logische Gesetze im allgemeinsten Sinne) b) Gegenwartsordnung (historischsoziale und auch natürliche Einflüsse) und c) individueller Option (Entscheidung bzw. besser: konstruktive Willkür und Ethos des Philosophen). Welches Verhältnis diese Faktoren zueinander einnehmen, ist natürlich die zentrale Frage, die erst am Schluss besprochen werden kann. Der individuelle Rest, der durch die beiden anderen Faktoren nicht vollständig zu erklären ist, also dasjenige, was gerade konstruktive Willkür und Ethos genannt wurde, macht die Radikalität jeder philosophischen Theorie aus. Dieses Wort entnehme ich nicht (!) der politischen Sprache, vielmehr spiele ich auf dessen Bedeutung in der Chemie an. Wird Philosophie durch eine individuelle Haltung des Philosophen mitbestimmt, dann kann sie den eigentlichen Inhalt dieser individuellen Grundlage nicht in ihrer Theorie, mithin in allgemeinen Begriffen und logischen Verhältnissen, als solchen thematisieren. Eine derartige philosophische Theorie muss immer radikal, d. h. ungesättigt sein. Denn mit Maeterlinck gesprochen: »Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinabgetaucht zu sein, und wenn wir wieder an die Oberfläche kommen, gleicht der Wassertropfen an unseren bleichen Fingerspitzen nicht mehr dem Meere, dem er entstammt. Wir wähnen eine Schatzgrube wunderbarer Schätze entdeckt zu haben, und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Stei128 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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ne und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz im Finstern unverändert.« 9 Jede Philosophie ist auch (ich verweise ausdrücklich auf die beiden anderen Momente a und b) Ausdruck der Individualität des Philosophen; aber diese Individualität hat nur Existenz im vernünftigbegrifflichen Ausdruck. 10 Die unabschließbare Dynamik zwingt den Philosophen zum ständig neu ansetzenden Denkvollzug. Oder mit Fichte gesprochen: »Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.« 11 Diese Vorgabe sorgt zudem für eine Art von Selbstrelativierung der Philosophie.
These III Eine philosophische Theorie sollte jederzeit die Möglichkeit ihrer Relativierung bedenken, sei es in der expliziten Form einer Selbstrelativierung oder auch nur durch Erhalten der Möglichkeit von Widerlegungen. Um diejenige Art von Selbstrelativierung zu erläutern, die mir selbst vorschwebt, greife ich auf eine Darlegung zurück, die Helmuth Plessner in Bezug auf die Geschichtlichkeit von Theorien in Macht 9 Maeterlinck, Maurice, Der Schatz der Armen. Jena 1906, S. 31. Diese Zeilen stehen als Motto vor Robert Musils Törleß. Darin wird der Zusammenhang dieser »Tiefe« mit dem Imaginären bzw. der Einbildungskraft hergestellt. Über die Bedeutung vgl. vom Vf.: »i – oder warum das Imaginäre das eigentlich Irrationale ist«, in: Asmuth, Christoph – Neuffer, Simon Gabriel (Hg.): Irrationalität – Schattenseite der Moderne? Würzburg 2015, S. 239–252. 10 Der Begriff des Ausdrucks bzw. der Expressivität ist zentral für die hier dargestellte Philosophie. Eine ähnliche Bedeutung (vor allem im Hinblick auf die menschliche Geschichtlichkeit) gibt ihm Helmuth Plessner in den Stufen des Organischen und der Mensch (Berlin 1975, S. 332 ff.) Vgl. dazu vom Vf. »Das expressive Selbst. Helmuth Plessners Theorie indirekter Direktheit«, in: Balsemao, Edmundo – Nonnenmacher, Burkhard (Hg.): Bezüge des Selbst. Coimbra 2010. 11 Fichtes Werke I, 434. Freilich würde sich Fichte gegen die hier vorgenommen Pluralisierung von möglichen philosophischen Theorien wehren. Für ihn gibt es nur Idealismus oder Dogmatismus und entsprechend: einen freien oder einen trägen Charakter.
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und menschliche Natur zum Teil andeutet. Man könnte sie die »Russellsche Mengenantinomie der Philosophie« nennen, da die Begründung Ähnlichkeiten zu Russells Vorgehen aufweist. Ich nehme an, die Wahrheit einer philosophischen Theorie sei geschichtlich bedingt. Sie entstehe aus mannigfaltigen raum-zeitlichen Faktoren und wisse darüber Bescheid, d. h. sie hält diese Entstehungsbedingungen für wahr; ihre gesamten Aussagen machen diese Aussage wahr. Welchen Stellenwert besitzt dann diese Wahrheit über die geschichtlichen Bedingungen innerhalb der Philosophie? Angenommen sie verstünde ihren Wahrheitsanspruch selbst als apriorisch gültig. Dann wäre sie wahr und damit selbst eine Erscheinung im geschichtlichen Strom des Lebens wie alle anderen möglichen Wahrheiten davor, mithin nur empirisch (raum-zeitlich bedingt) gültig. Will sie hingegen nur empirisch gültig sein, da sie sich als eine raum-zeitliche Erscheinungsweise begreift, wäre das, was sie sagt, wahr, mithin apriorisch gültig. Sie kann demnach keine der beiden Aussagen behaupten, ohne die andere zugleich auch wahr zu machen; daher muss sie entschieden unentschieden bleiben. Nur im Ertragen dieser Spannung zwischen Apriorität und Aposteriorität vollzieht sich eine derartige philosophische Theorie. 12 Insbesondere die Seite der Aposteriorität eröffnet die Möglichkeit, dass eine philosophische Theorie widerlegt werden kann; mithin wird darin die Möglichkeit von Widerlegungen offen gehalten. Zum anderen wurde bereits betont, dass die individuelle Komponente des Philosophierens dafür Sorge trägt, dass Philosophie sich gar nicht als rein apriorische, für alle Menschen und Zeiten gültige Erkenntnis verstehen kann. Auch wenn sie sich im Medium der Vernunft ausdrückt, ist die Tendenz ihrer Argumentation stets individuell gefärbt. Diese Selbstrelativierung dokumentiert zugleich die Freiheit des Individuums, da es sich nicht in allgemeinen Wesensbeschreibungen zu finden vermag; es bleibt unergründlich, eine offene Frage. 13 Fragt man nun nach der Form einer derartigen philosophischen Theorie, so gibt es für mich keinen treffenderen Ausspruch als denjenigen von Friedrich Schlegel, der sagt:
Vgl. Plessner, Helmuth, »Macht und menschliche Natur«, in: Gesammelte Schriften. Bd. V. (Hg.) Dux, Günter. Darmstadt 2003, S. 160 ff. 13 Vgl. dazu Plessners Ausführungen in der eben genannten Schrift. 12
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These IV Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden. 14
Oder anders formuliert: Philosophie muss zugleich nicht-systematisch und systematisch sein. Wie sich Schlegel selbst in diesem Kontext profiliert, kann hier nicht erörtert werden. 15 Fragen wir uns vielmehr aus unserer heutigen Perspektive: Was ist nicht-systematische Philosophie?
These V Das Nicht-Systematische der Philosophie drückt sich in ihrer Offenheit und Differenzbezogenheit aus. Ein schnelles Beispiel fällt insofern leicht, als man nahezu die gesamte aktuelle Philosophie als nicht-systematische Philosophie bezeichnen kann. Wir haben oben bereits das Bottom-up-Modell oder auch die raum-zeitliche Aposteriorität als Signum einer nicht-systematischen Philosophie kennen gelernt. Die nicht-systematische Philosophie zu charakterisieren oder gar zu definieren, fällt indes schwer, weil so viele unterschiedliche Richtungen darunter fallen: Empirischer Positivismus, strenger Naturalismus, Pragmatismus, Skeptizismus, Relativismus, das Denken der Postmoderne und wissenschaftstheoretischer Konstruktivismus. Als gemeinsame Merkmale dieser Richtungen möchte ich nur zwei angeben. Sie sind (1) differenzbezogen: Allen gemeinsam ist die starke Abwendung vom Identitätsgedanken. Waren noch im transzendental-spekulativen Denken Identitätsgebilde wie Gott, Vernunft, Subjekt oder auch Staat, Menschheit sehr präsent, so ist mit der einsetzenden Kritik daran im 19. und 20. Jahrhundert das Nicht-Identische hervor-
14 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. (Hg.) Behler, Ernst. Paderborn u. a. 1958 ff. Bd. II, S. 173 (Athenäumsfragment Nr. 53). 15 Vgl. dazu vom Vf. »Enthusiasmus und Skepsis. Das europäische Pendel«. In: (Hg.) Asmuth, Christoph – Drilo, Kazimir (Hg.): Der Eine oder der Andere. »Gott« in der Philosophie des Deutschen Idealismus und im Denken der Gegenwart. Tübingen 2010, S. 7–21.
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gehoben worden. Die gesamte Wirklichkeit wird gerne in Kategorien eines Pluralismus beschrieben, sei es die soziale oder die natürliche Wirklichkeit. Zu große Identität wird häufig als Zeichen von Ideologie und Diskriminierung von Minderheiten im weitesten Sinne betrachtet. (2) offen: Philosophie muss für Entwicklungen, mithin auch für ihre eigene Weiterentwicklung offen sein. Diese Offenheit betrifft Veränderungen in der sozialen Lebenswelt wie auch in den Einzelwissenschaften. Verstehen Sie mich recht! Den nicht- oder eher anti-systematischen Grundzug der heutigen Philosophie halte ich für grundsätzlich richtig, aber nur, sofern er sich auch auf sich selbst bezieht, d. h. sich selbst einschränkt (relativiert). Dies impliziert aber keinen absoluten Relativismus (der ja selbst anti-systematisch ist), sondern eine Hinwendung zur systematischen Philosophie. Ansonsten handelt es sich um systematischen Antisystematismus. Stellen wir deshalb die Frage: Was ist systematische Philosophie? In Rücksicht auf die vorherige These könnte ich es mir leicht machen und behaupten, systematische Philosophie ist identitätsbezogen und geschlossen; in ihr prävaliert das top-down-Modell. Diese Merkmale lassen sich m. E. zusammenfassen in der Aussage:
These VI Systematische Philosophie ist Philosophie aus einem Prinzip. Wenn Friedrich Schlegel von System sprach, hatte er die Philosophie Fichtes im Auge. Wie schon sein Vorgänger Karl Leonhard Reinhold wollte Fichte das kritische Denken Kants durch Auffinden eines Grundsatzes systematisieren. Fichte wird vor allem durch die massive Kritik Hegels als derjenige in die Geschichtsbücher eingehen, der den kühnen Versuch unternahm, die gesamte Wirklichkeit aus Grundsätzen abzuleiten. In der Tat drängt sich in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) der Verdacht auf, dass Fichte zufolge für die Philosophie ein streng deduktives, auf Axiomen gründendes Vorgehen zu fordern sei. In Wahrheit ist es heute (zumindest unter Fichte-Forschern) längst bekannt, dass es bei Fichte weniger um axiomatische Sätze als um das 1794 entwickelte Verhältnis zwischen den drei Grundsätzen geht, das er später abstrakter und unmissver132 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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ständlicher in der Idee der Fünffachheit entwickelte. 16 Das gesuchte Prinzip war also vielmehr eine methodische Dynamik der Bewertung und Entwicklung von Aussagen als selbst eine in Satzform zu bringende Aussage. Nicht erst Hegels Dialektik, sondern bereits Fichtes Fünffachheit löst sich von der streng deduktiven Vorstellung (Begründung des Konkreten aus dem Allgemeinen) und versteht sich stattdessen als die dynamische Verbindung, das methodische Oszillieren und In-Verhältnis-Setzen von Gegensätzlichem. In der Wissenschaftslehre von 1804 (zweiter Vortrag) definiert Fichte diese Methode aus dem Standpunkt der Philosophie zwischen Einheit und Vielheit, zwischen aufsteigender und absteigender Bewegung. 17 Diese Tendenz möchte ich gerne übernehmen und behaupten:
These VII Systematische Philosophie ist dialektische Philosophie. Die Dialektik ist nicht nur anzuwendende Methode der Philosophie, sondern die begriffliche Struktur ihres Gegenstandes, der Wirklichkeit als ganzer. Die Dialektik wird deshalb auch von Hegel als das Ganze des Systems oder als dasjenige, worin Vernunft und Wirklichkeit koinzidieren, beschrieben. 18 Bildlich gesprochen ist die Dialektik eine Bewegung, welche die gesamte Welt als roter Faden durchzieht; abstrakt gesprochen ist sie ein Verhältnis von Begriffspaaren; in erster Linie von Identität und Differenz; daran schließen sich unendlich viele weitere an wie Unmittelbarkeit und Vermittlung, Natur und Geist, Substanz und Subjekt, Innen und Außen usw. Die Frage ist nun, welche Art von Dialektik die hier entworfene Philosophie entwickeln soll? Wie bei Fichte oder wie bei Hegel? Hier Vgl. zur Fünffachheit Asmuth, Christoph, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 214 ff. Meckenstock, Günter, Das Schema der Fünffachheit in J. G. Fichtes Schriften der Jahre 1804–1806, Göttingen 1973. 17 Fichtes Werke X, 114 f. 18 Abschwächend im Vergleich zu Hegel darf die Dialektik freilich nicht als die ganze oder einzig wahre Wirklichkeit angesehen werden; sie ist vielmehr eine der Wirklichkeit wesentliche, begrifflich zu fassende Struktur. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. (Hg.) Moldenhauer, Eva – Michel, Karl Markus. Frankfurt a. M. 1971. (= Werke, 1–20), Bd. 6, 548 ff. 16
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sollte man wieder auf Schlegels Diktum zurückgreifen, wonach der Geist im Systematischen allein zu Grunde geht. Soll die Philosophie System und Nicht-System verbinden können, darf die Dialektik, d. h. der systematische Kernbestand, nicht dem nicht-systematischen Teil unvereinbar entgegengesetzt sein.
These VIII Die gesuchte Dialektik muss kompatibel mit dem nicht-systematischen Ansatz sein, d. h. sie muss vor allem offen und differenzbezogen sein. Das angemessene Verhältnis von Identität und Differenz in der gesuchten Dialektik ist die Wechselwirkung. Der erste Teil der These hat sich bereits ergeben. Dass dies auch möglich ist, muss kurz gezeigt werden. Wie kann das Prinzip des Systems zugleich das Nicht-Systematische erhalten und mit einbeziehen? Weil Dialektik als das Verhältnis von Identität und Differenz beschrieben wird, ist erst einmal klar, dass ihr die Einbeziehung der Differenz (die Differenzbezogenheit) nicht grundsätzlich wesensfremd ist; auch wenn klar ist, dass, sofern man von einer Dialektik als Prinzip spricht, man das Einheits- und Systemmoment stärker gewichtet. Dies wird im Folgenden vernachlässigt, um in der letzten These wieder thematisiert zu werden. Die Dialektik – und dies ist zugleich die zentrale Kritik an Fichtes und Hegels Philosophie – muss der Differenz eine größere Bedeutung zuschreiben. Bei Fichte und Hegel ist das Identitätsstreben dermaßen stark, dass ihm die Differenz letztlich unterliegt. 19 Darüber könnte man lange streiten, aber ich glaube am Ende der Rechnung, also wenn der Strich gezogen wird, muss man diesen Satz zugeben, mag auch noch so viel Differenz im System beider beachtet sein. Es geht hier also um systemexterne Differenz. Bei Fichte und Hegel ist das Verhältnis von Identität und Differenz, die Dialektik, dergestalt konzipiert, dass letztlich die Differenz In diesem Sinne vertrete ich nicht wie Fichte eine Fünffachheit, sondern eine Vierfachheit als Dialektik, wie aus den Momenten der Wechselwirkung deutlich wird: Man hat zwei Momente a und b sowie die gegenseitige Beeinflussung: von a nach b, von b nach a. Diese vier Momente unterstehen ihrerseits nicht einer organischen Einheit (als fünftes Moment bei Fichte), sondern der praktischen Individualität, die ihrerseits auf die Dynamik der Momente bezogen ist und dadurch erst zum Ausdruck (zur Existenz) kommt.
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in der Identität aufgehoben werden soll (Fichte) oder aufgehoben wird (Hegel). Für Fichte ist das Moment von Differenz, das im zweiten Grundsatz als Nicht-Ich auftritt, in unendlicher Annäherung in der Immanenz des Subjekts aufzulösen: Alles soll Ich sein. Hegel wird dieses Sollen kritisieren und deshalb die Idee einer in sich die Differenz aufhebenden, d. h. erhaltenden Identität konzipieren. Am Konzept der Wechselwirkung zwischen Identität und Differenz (Ich und Nicht-Ich), das Hegel als die höchste Wahrheit von Fichtes Philosophie deutet, kritisiert er die unauflösbare Uneinholbarkeit der Differenz, mithin den unüberwindbaren Dualismus, der dafür sorgt, dass Fichtes System nicht die gesamte Wirklichkeit in sich aufnimmt, mithin auch nicht selbst begründet sein kann. 20 Doch auch Fichte versteht die Wechselwirkung noch zu sehr im Hinblick auf eine zu leistende Identität, mithin strebt er (und der Mensch in seiner Theorie) nach der Vernichtung der Wechselwirkung (von Ich und Nicht-Ich). Das Verhältnis von Identität und Differenz ist bei ihm nicht ausgeglichen, sondern eindeutig gewichtet. 21 Dies erfordert eine andere Vorstellung von Wechselwirkung, die sich z. T. am frühromantischen Begriff der Wechselbestimmung anlehnt (was hier nicht gezeigt werden kann). Die Idee der Wechselwirkung – so wie ich sie verstehe – unternimmt es, beide Seiten gleichberechtigt zu behandeln. Konform zur Gleichschaltung von Systematik und Nicht-Systematik, sowie dem in der ersten These bereits vorhandenen Wechselspiel von Selbstthematisierung und Wirklichkeitsbezug.
These IX Die Wechselwirkung impliziert Gleichberechtigung, Irreduzibilität und Dynamik zwischen den jeweiligen Momenten. Als Momente der Dialektik wurden genannt Identität und Differenz, Unmittelbarkeit und Vermittlung, Natur und Geist (bzw. Geschichtlichkeit), Innen und Außen. Alle diese Bezeichnungen sind Zu dieser Kritik vgl. Binkelmann, Christoph, Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel. Berlin/New York 2007, S. 149 ff. 21 Anders gesagt, setzt sich bei Fichte ein (latenter) Rousseauismus durch, der Distanz oder Differenz als letztlich negativ konnotierte Entfremdung versteht. Bei Hegel ist Entfremdung zwar aufgewertet, aber ebenso nur als aufzuhebendes (systeminternes) Moment. 20
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strukturell analog zu behandeln, aber nicht völlig bedeutungsgleich. Es soll keine Hierarchie in der Forschung zwischen ihnen hergestellt werden; sie ermöglichen der Forschung verschiedene Ansatzpunkte, die strukturell jedoch aufeinander abgestimmt werden müssen. Zwischen diesen Momenten muss stets eine Wechselwirkung im angegebenen Sinne herrschen, zu erhalten sind: Gleichberechtigung: es gibt keine einseitige positive oder negative Konnotation von Momenten. In der Fichte’schen und Hegel’schen Dialektik ist das Moment der Identität (absolutes Ich bzw. Wissen oder absoluter Geist) übermächtig und verlangt die Aufhebung, mithin Unterordnung des anderen Momentes. Dagegen muss man fordern: Die Dialektik sei entfremdungsresistent. Das Bestehen eines Momentes bedeutet niemals Entfremdung oder schlechte Äußerlichkeit, die überwunden werden muss. Innen und Außen sind gleichberechtigte Pole der Wirklichkeit, sie dürfen nicht übergreifend oder vereinnahmend sein. Man muss sich – und hierin gründet auch die praktische Stoßrichtung einer wechselwirkenden Dialektik – vom Gedanken trennen, als sei es Ziel, sich vollkommen dem Äußeren einzudrücken bzw. das Äußere vollkommen aufzunehmen: Der Tätigkeitssinn geht niemals im Äußeren auf. Ebendeshalb ist es ein verfehlter Sinn, der dies unternimmt: Die Suche nach Einheit und Versöhnung hat bislang nur Schaden angerichtet; es geht darum, im Tätigkeitssinn aufzunehmen, dass es nicht um die restlose Objektivation des Sinnes geht. Auf diese Weise behält nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere (konkret: die Innerlichkeit des menschlichen Individuums) eine Sphäre, die nicht zu entäußern ist, wie das Äußere niemals gänzlich ins Innere eingeholt werden kann und soll. Ersteres sichert die Freiheit und Würde des Individuums, die auch durch die Systematik der Philosophie, durch die Einheit der Dialektik nicht »angetastet« wird. Der Materialismus oder Naturalismus – wie er meist heutzutage vertreten wird – verfährt umgekehrt und überbewertet die Seite der Äußerlichkeit (dritte-Person-Perspektive, Natur usw.). Irreduzibilität: Daraus folgt, dass beide Momente niemals – weder jetzt noch in unendlich ferner Zukunft – aufeinander reduziert werden können. Von der Perspektive des Geistes aus wurde dies v. a. bei Fichte und Hegel unternommen, von der Natur aus entspricht dies häufig dem Forschungsprogramm der »übergreifenden« Naturwissenschaften, die betonen, dass bei Verbesserung der Apparatur in Zukunft das Rätsel des menschlichen Geistes völlig naturwissenschaftlich geklärt sein wird. 136 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Die Irreduzibilität beider Momente beinhaltet indes noch mehr. Viele Naturalisten lassen die Eigenständigkeit des Geistigen scheinbar unangetastet (z. B. Davidsons anomaler Monismus); dennoch vertreten sie die Auffassung von der höheren Realität des Naturalen. Auch wenn also keine faktische Reduktion vorliegt, gibt es doch eine Präferenz hinsichtlich der ontologischen Gewichtung. Anders gesagt: Die Differenz des Geistigen von der Natur entspringt einer epistemischen Einstellung von einem Wesen, das letztlich gänzlich natürlichen (evolutionären) Prozessen unterliegt. Dynamik: Im Sinne der Offenheit, des anti-systematischen Charakters der skizzierten Theorie, ermöglicht eine derartige Wechselwirkung eine offene Perspektive der Forschung, die keinen bestimmten Abschluss intendiert, vielmehr darum bemüht ist, vorschnelle Reduzierungen zu verhindern und den fruchtbaren Austausch geistiger und natürlicher Erklärungsmodelle aufrechtzuerhalten.
These X Die Willkür und das Ethos, d. h. die Radikalität, die der Philosophie zugrunde liegt, begründet die Freiheit und Würde des Menschen, denen eine Pluralität von philosophischen Theorien korreliert Die beschriebene Wechselwirkung als dialektisches Moment der Philosophie liefert nun auch den Maßstab zum eigenen Verständnis der Philosophie in ihrem Verhältnis zur (menschlichen) Wirklichkeit. Die Frage, ob Philosophie jemals die Wirklichkeit und insbesondere den Menschen vollständig erfassen kann, muss sie notwendigerweise verneinen; zumal diese Verneinung mit ihrer Selbstrelativierung koinzidiert. Ist Philosophie auch Ausdruck des Individuellen des Philosophen (konstruktive Willkür und Ethos) und mehr noch: sollen diese Momente auch Bestandteil der Theorie über den Menschen sein, dann muss sich eine derartige Philosophie davor hüten, feste Wesensmerkmale als verbindlich für alle Menschen anzugeben; vielmehr muss sie auf der grundsätzlichen Unerkennbarkeit des Menschen – mit Plessner den homo absconditus – beharren. 22 Diese Unerkennbarkeit si»Der homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaften ebenso wie die Einseitigkeiten der Gesell-
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chert gerade die schöpferische Freiheit und unantastbare Würde des Menschen. Mit dieser Selbstbeschränkung bestätigt sich die philosophische Theorie selbst. Diese Art von Selbstbestätigung ist die einzig mögliche Selbstbegründung dieser Philosophie – wie wir es schon zu Beginn dieser Ausführungen sahen: die Autonomie der Philosophie und des darin implizierten Menschen. Damit bleibt Philosophie aber auch grundsätzlich ungesättigt, d. h. radikal. Die Dialektik wird so auch vor allem durch die Willkür beschränkt. Diese Willkür ist im Praktischen ein wesentlicher Bestandteil jeder Identitätsstiftung. Sie ist das uneinholbare Andere jeder Identitätsstiftung (damit auch einer dialektischen Philosophie), mithin ihr äußerlich; aber zugleich der freie Akt zur Identifizierung; ohne welchen Autonomie niemals möglich wäre.
Praktische Auswüchse Ich habe diese Philosophie – wie am Anfang erwähnt – gegen meine volle Überzeugung durch ihre Selbstthematisierung entfaltet. Ich will sie aber nun auch in gebotener Kürze durch gesellschaftliche Tendenzen motivieren, d. h. in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität entwickeln. Die naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritte dienen immer mehr dazu, dem Menschen eine Berechenbarkeit zu attestieren, die ihn für wirtschaftliche und politische Zwecke »handhabbarer« macht. Damit wird der Mensch auf neuronale und/oder natürliche Prozesse reduziert, deren Ausbildung andersherum zu den Kernkompetenzen des Menschen werden. Die Messung der Gehirnströme folgt einem binären Muster (Ja/Nein-Entscheidungen), das im Umkehrschluss Denken auf diese Struktur festlegt. Dialektisches Denken dagegen ist nicht quantifizierbar, in Bildern, Tabellen oder Diagrammen festzuhalten und daher: inexistent. Damit verkommt im Sinne einer self-fulfilling prophecy eine wichtige Kompetenz des Menschen, die gerade darin besteht, nicht sämtliche Phänomene
schaft«. (Plessner Schriften, VIII, 134) Zur ausführlichen Behandlung dieser Theorie v. a. im Praktischen vgl. meinen Aufsatz »Personales Handeln nach der Vernunft«. In: (Hg.), Asmuth, Christoph: Leiblichkeit – Intersersonalität – Anerkennung. Transzendentalphilosophie und Person. Bielefeld 2007, S. 477–501.
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Philosophie und Dialektik
schwarz oder weiß zu sehen. Die Bandbreite an Auswirkungen zu imaginieren, sei jedem Einzelnen überlassen. Betrachtet man gesellschaftliche Entwicklungen in nationaler wie globaler Perspektive, so fällt einem die Entmachtung des Individuums und seiner wesentlichen Freiheit auf, darunter fallen Elemente wie Willkür (Freiwilligkeit), das individuelle Ethos und die Würde. Die Gleichschaltung aller Menschen durch die Globalisierung ist allzu deutlich, aber auch in der nationalen Politik scheint es darum zu gehen, Freiheitsmissbräuche unter den Bürgern im Vorhinein zu verunmöglichen (Präventivmaßnahmen jeglicher Art): Vom genetischen Fingerabdruck, Abhörung und Überwachung, Klimaschutzverordnungen, Nicht-Raucherschutz bis hin zu Erziehungscamps. Der Handlungsspielraum der Individuen wird immer mehr als einzudämmende Gefahr wahrgenommen; Willkür ist im alltäglichen Sprachgebrauch das Gegenteil von Recht und Gerechtigkeit. Die Notwendigkeit, die Sicherheit für alle zu garantieren und durch entsprechende Maßnahmen zu unterstützen, wird generell als Schutz der sozialen Pluralität verkauft, führt aber im Gegenteil zu einer folgenschweren Vereinheitlichung. Auch die angebliche Individualisierung der Gesellschaft, die zunehmende Toleranz gegenüber den Anderen, erscheint mehr als fraglich, wenn es sich dabei um ein Massenphänomen handelt, das den gleichen Trends und Verhaltensweisen folgt. Selbst der postmoderne Differenzkult ist dabei eine äußerst gefährliche, ideologisch motivierte Uniformierungsstrategie. Hier stellt sich die Frage, ob es nicht eine Rückbesinnung auf ein ausgewogenes und nachhaltiges Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Vielheit und Einheit, geben müsse, das keiner voreiligen Parteinahme unterliegt. Um schließlich gänzlich vom Abstrakten zum Konkreten, nämlich zum Entstehungsort dieses Aufsatzes, zurückzukehren: Die Forschung an den Universitäten ist durch die Exzellenzinitiative und die Lehre durch Umstellung auf Master/Bachelor-Studiengänge desjenigen Momentes beraubt, das ich hier in Gestalt einer Philosophie stark machen wollte: Selbstverantwortung, Eigeninitiative, Innovationsgeist. Darunter verstehe ich natürlich nicht dasjenige, was heutzutage permanent durch Forschungsministerien und wirtschaftsliberale Politiker gefordert wird und letztlich nur das Bestehende vorträgt, sondern den Mut und die Risikobereitschaft, vollkommen andere Wege, die nicht im Mainstream vorgezeichnet sind, zu gehen – kurz dasjenige, was sich auch dieser Sammelband auf die Fahnen geschrieben hat. 139 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Philosophie in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Reflexionen über die Grundlagen systematischen Denkens. Matthias Scherbaum (Bamberg) I. Philosophie ist Metaphysik. […] Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch bleibt Platons Denken in abgewandelten Gestalten maßgebend. Die Metaphysik ist Platonismus. Nietzsche kennzeichnet seine Philosophie als umgekehrten Platonismus. Mit der Umkehrung der Metaphysik […] ist die äußerste Möglichkeit der Philosophie erreicht. Sie ist in ihr Ende eingegangen. Soweit philosophisches Denken noch versucht wird, gelangt es nur noch zu epigonalen Renaissancen und deren Spielarten. […] Die Philosophie endet im gegenwärtigen Zeitalter. 1
Diese Worte Martin Heideggers aus seinem Aufsatz Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens aus dem Jahre 1964 lassen keinen Zweifel daran, dass in seinen Augen das unwiderrufliche Ende der Philosophie in unserer Zeit erreicht sei. Zwar, wie er betont, im Sinne ihrer Vollendung, die dem Denken noch weitere und entscheidende, jenseits von Philosophie und Wissenschaft gesetzte Aufgaben übriglässt 2, aber unwiderruflich als Ende der Philosophie im eigentlichen Sinne des Wortes. 3 Heidegger, Martin: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in: Heidegger, Martin: Zur Sache des Denkens, Tübingen 19883, S. 61–64. 2 Vgl. hierzu Heidegger, Martin: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in: Heidegger, Martin: Zur Sache des Denkens, Tübingen 19883, S. 65 ff.: »Ist nun aber das Ende der Philosophie im Sinne ihrer Ausfaltung in die Wissenschaften auch schon die vollständige Verwirklichung aller Möglichkeiten, in die das Denken der Philosophie gesetzt wurde? Oder gibt es für das Denken außer der gekennzeichneten letzten Möglichkeit (der Auflösung der Philosophie in die technisierten Wissenschaften) eine erste Möglichkeit, von der das Denken der Philosophie zwar ausgehen mußte, die sie jedoch als Philosophie nicht eigens erfahren und übernehmen konnte? […] Was dem Denken vor- und aufbehalten bleibt, darauf einzulassen, muß das Denken erst lernen, in welchem Lernen es seine eigene Wandlung vorbereitet.« 3 Vgl. hierzu Heidegger, Martin: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in: Heidegger, Martin: Zur Sache des Denkens, Tübingen 19883, S. 63: »Ende ist als Vollendung die Versammlung in die äußersten Möglichkeiten. Wir denken diese 1
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Philosophie in Geschichte, Gegenwart und Zukunft
Jedoch nicht nur das Faktum, daß bis auf den heutigen Tag, gut 40 Jahre nach Heideggers Diagnose des Endes der Philosophie, Philosophie (und weniger das von Heidegger vorhergesagte außer- und nichtphilosophische Denken) in verschiedenen Formen als durchaus lebendig bezeichnet werden muss 4, sondern in erster Linie das Eigenzu eng, solange wir nur eine Entfaltung neuer Philosophien des bisherigen Stils erwarten. Wir vergessen, daß schon im Zeitalter der griechischen Philosophie ein entscheidender Zug der Philosophie zu Vorschein kommt: es ist die Ausbildung von Wissenschaften innerhalb des Gesichtskreises, den die Philosophie eröffnete. Die Ausbildung der Wissenschaften ist zugleich ihre Loslösung von der Philosophie und die Einrichtung ihrer Eigenständigkeit. Dieser Vorgang gehört zur Vollendung der Philosophie. Seine Entfaltung ist heute auf allen Gebieten des Seienden in vollem Gang. Sie sieht aus wie die bloße Auflösung der Philosophie und ist in Wahrheit gerade ihre Vollendung.« Man muss sich anlässlich dieser Äußerungen Heideggers in der Tat fragen, was er unter Philosophie versteht, wenn er diese zwar als beendet, das Denken aber als weiterhin relevant bezeichnet. Mit seiner Gleichsetzung Philosophie = Metaphysik = Platonismus und deren äußerste Möglichkeit als umgekehrte Metaphysik bzw. umgekehrten Platonismus im Denken Nietzsches mag diese Einschätzung hingenommen werden, obwohl auch das streng genommen so nicht stimmt. Wo aber denn der entscheidende Unterschied zwischen Denken und Philosophie liegen soll, da Philosophie immer Denken ist, ein zwar besonderes, »künstliches« bzw. »kunstfertiges« oder dergleichen – aber sicherlich nicht zwangsläufig ein schulmäßiges. Und nur unter der Voraussetzung Philosophie = schulmäßiges Denken kann Heideggers These nachvollzogen werden. Aber auch Heideggers Denken selbst ist ein vom alltäglichen Denken unterschiedenes, kunstfertiges und somit Philosophie. 4 Ungeachtet ihres wissenschaftlichen Status’ und ihrer philosophischen Validität müssen hierbei zeitgenössische philosophische Strömungen genannt werden wie etwa Kritischer Rationalismus (von Karl Popper in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begründet [Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, 1930–33; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1944 und Objektive Erkenntnis, 1973], reichen seine Wirkungen bis in die Gegenwart hinein, wenn man sich Vertreter des Kritischen Rationalismus wie etwa William Warren Bartley [Flucht ins Engagement, 1987], Hans Albert [Traktat über kritische Vernunft, 1968; Einführung in den kritischen Rationalismus, 1994 und Kritischer Rationalismus, 2000], David Miller [Critical Rationalism: A Restatement and Defence, 1994 und Out Of Error: Further Essays On Critical Rationalism, 2006] u. a. vergegenwärtigt), Kritische Theorie (mit seinen drei wichtigsten Denkern Max Horkheimer [Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 1967; Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, 1970; Traditionelle und kritische Theorie, 1970 u. a.], Theodor W. Adorno [Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben 1950; Negative Dialektik, 1966; Stichworte. Kritische Modelle 2, 1969 u. a.] und Jürgen Habermas [Erkenntnis und Interesse, 1968; Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, 1973; Theorie des kommunikativen Handelns, 1981; Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, 2001 u. a.]), Wissenschaftstheorie (etwa Ernan McMullin [The Inference That Makes Science, 1992], John Worrall [Routledge Encyclopaedia of Philosophy, 1998], Nancy Cartwright [The Dappled World: A Study of the Boundaries of Science, 1999], Wolfgang Stegmüller [Aufsätze zur Wissenschafts-
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tümliche der Philosophie selbst, lassen Bedenken bezüglich der Gültigkeit von Heideggers These aufkommen. 5 Somit stellt sich die Frage, wie es tatsächlich um die Zukunft der Philosophie bestellt ist. Sicherlich können wir gerade zu unserer Zeit nicht schlichtweg so tun, als ob die Zukunft der Philosophie eine reine Selbstverständlichkeit wäre. Im Gegenteil: Die Philosophie der Gegenwart steckt, wenn man genauer hinsehen will sogar seit langem schon 6, in einer theorie, 1980], Kurt Hübner [Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, 1978], Paul Karl Feyerabend [Die Vernichtung der Vielfalt. Ein Bericht, 2005], Jürgen Mittelstraß [Wissen und Grenzen, 2001] u. a.), Analytische Philosophie (etwa Peter Frederick Strawson [Analysis and Metaphysics: An Introduction to Philosophy, 1992], John Langshaw Austin [How to Do Things with Words, 1961], John Rogers Searle [Speech Acts: An Essay in the Philosophy of Language, 1969; Consciousness and Language, 2000], Willard Van Orman Quine [Pursuit of Truth, 1990], Hilary Whitehall Putnam [The Threefold Cord Mind, Body and World, 1999], Gilbert Harman [Explaining Value and Other Essays in Moral Philosophy, 2000] u. a.), Inferrentialismus (besonders John McDowell [Mind and World, 1994; Meaning, Knowledge, and Reality, 1998 und Mind, Value, and Reality, 1998] und Robert Brandom [Making it Explicit, 1994; Articulating Reasons, 2000; Tales of the Mighty Dead, 2002 und Between Saying and Doing, 2008], die als die Hauptvertreter der sogenannten »Pittsburgher Schule des Neuhegelianismus« gelten), Sprachphilosophie (besonders zu nennen wären hierbei etwa Ernst Cassierer [The Myth of the State, 1946], Hans-Georg Gadamer [Der Anfang der Philosophie, 1996], Johann Leo Weisgerber [Zweimal Sprache, 1973], Bruno Liebrucks [Irrationaler Logos und rationaler Mythos, 1982], Keith Donnellan [Belief and the Identity of Reference, 1989], Saul Aaron Kripke [Naming and Necessity, 1980], Michael Anthony Eardley Dummett [Principles of Electoral Reform, 1997], Herbert Paul Grice [Studies in the Way of Words, 1989] und einige andere Richtungen, die hier nicht eigens erwähnt werden sollen) u. a. 5 Was diese Eigentümlichkeit von Philosophie sein und worin ihre spezifische Qualität bestehen soll, versucht gegenwärtiger Beitrag in den weiteren Ausführungen zu thematisieren. Dass es sich hierbei, der Natur eines Beitrags dieser Art entsprechend, zwangsläufig bestenfalls um eine Skizze handeln kann, versteht sich von selbst. Nichtsdestotrotz soll der Versuch unternommen werden, das Spezifische, Eigentümliche von Philosophie so gut als möglich zur Sprache zu bringen. 6 Wann man den Beginn der Krise der Philosophie ansetzen soll, lässt nicht ganz leicht bestimmen. Zu denken wäre beispielsweise an die Entwicklung der Naturwissenschaften zu Beginn der Neuzeit, die der Philosophie sukzessive alte, angestammte Themen und Bereiche streitig gemacht und sie in ihrer inhaltlichen Ausarbeitung überrundet haben; zu denken wäre etwa auch an die zeitweilige Dominanz von Religion und Theologie, die die Philosophie auf den Status einer ancilla reduzierte; denken könnte man schließlich aber auch an den Umstand, dass Philosophie bereits seit ihrem ersten Auftreten in der Antike krisengebeutelte Unternehmung war, denn spätestens seit Platon wird doch die meiste Philosophie vor ihm als defizitär angesehen, er selbst belässt, soweit wir Kenntnis seiner Schriften haben, diverse »Lösungen« in philosophicis aporetisch und befördert damit den Charakter der Unabgeschlossenheit,
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ernstzunehmenden Krise. 7 Zu denken wäre hierbei etwa an die teilweise starke Selbstdesavouierung der Philosophie (dies zumindest in größeren Bereichen der öffentlichen Wahrnehmung, was aber auch in manchen Fällen, dies soll aus Gründen der sachlichen Differenzierung hier gesagt sein, bisweilen als unhaltbare, politisch motivierte Instrumentalisierung verstanden werden muss) als Ideengeber der großen ideologischen, politischen und militärischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts in Gestalt von beispielsweise Friedrich Nietzsche 8,
Vorläufig- und Fragmenthaftigkeit der Philosophie. Auch Aristoteles sieht alle Philosophien vor ihm – inklusive diejenige Platons – als unzureichend an und unternimmt den Versuch einer prinzipiellen und neuen Grundlegung aller Philosophie. Dieses Bild zieht sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende der Philosophie mit hoher Kontinuität durch. Wenn man die Sache von dieser Warte aus betrachten will, so könnte man versucht sein zu sagen: Philosophie ist seit ihren ersten Anfängen in einer Krisensituation und hat sich im Lauf ihrer langen Geschichte niemals nachhaltig aus dieser Verfasstheit befreien können. An dieser Einschätzung mag etwas Wahres liegen und es soll sich im folgenden zeigen, dass dieser Befund in systematischer Hinsicht wohl konstitutiv zur Idee von Philosophie gehört. 7 Die Krisenhaftigkeit der Philosophie hat viele Gesichter. Nennen müsste man in diesem Kontext in besonderem Maße die seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts sukzessive expandierende Überformung aller Philosophie in Philosophiegeschichte: Systematisches, d. h. Philosophieren im eigentlichen Sinne des Wortes, findet nur noch in Einzelfällen statt, wie der philosophischen Disziplin der Logik, verschiedener philosophischer Anwendungsdisziplinen (Wissenschaftstheorie, Politische Philosophie, Angewandte Ethik u. a.) und einigen anglo-amerikanischen Philosophen (Whitehead, Quine, Strawson u. a.) Weitere Ursachen für die philosophische Krisensituation, die ein Nachdenken über eine eventuelle Zukunft der Philosophie und eine etwaige Philosophie der Zukunft in der Tat dringlich machen, sollen im Folgenden kurz erörtert werden. 8 Die Vereinnahmung Nietzsches für die Ideen des Nationalsozialismus ist hinlänglich bekannt, erinnert sei in diesem Zusammenhang an die in großen Teilen ausgesprochen sinnentstellende Nietzsche-Kompilation von Theodor Kappstein (1931) unter der Bezeichnung Volks-Nietzsche. Die Absicht, die hierbei verfolgt wurde, liegt auf der Hand: Es ist der Versuch, durch eine bestimmte Auswahl und Zusammenstellung verschiedener Texte Friedrich Nietzsches den Eindruck in der deutschen Öffentlichkeit zu vermitteln, Nietzsches philosophische Auffassungen stünden in inhaltlicher Übereinstimmung, ja seien sachliche Vorläufer der nationalsozialistischen Rassenideologie. Dieses Ansinnen lässt sich freilich in keiner Hinsicht halten: Auch wenn Nietzsche in verschiedenen Texten ethnische, auch im wertenden, hierarchisierenden Sinne Äußerungen tätigt – dies ist von ihm niemals im völkisch- nationalen, sondern immer im psychologischen, philosophischen, kulturellen, künstlerisch-ästhetischen Sinne gesagt. Der nationalsozialistische Versuch, die eigenen Werte und die eigene Weltanschauung mit Hilfe der Philosophie Nietzsches zu legitimieren, muss als illegitim zurückgewiesen werden.
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Karl Marx 9, auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel 10 und etlichen anderen 11 (wobei die genannten Philosophen selbstredend keinerlei Anteil an den auf ihnen aufbauenden Ideologien hatten, sich jedoch Anders als im Falle von Nietzsche ist Karl Marx nicht in der Gänze von den auf seinen Gedanken aufbauenden politischen Entwicklungen des diktatorischen Kommunismus v. a. des 20. Jahrhunderts und der damit verbundenen Verantwortung freizusprechen. Sicherlich sind Auswüchse wie der Sowjetische Stalinismus oder auch der Chinesische Maoismus nicht in einer ungebrochenen Linie auf die Schriften von Marx, Engels und Feuerbach zurückzuführen; aber nicht nur die Diagnose bestimmter historisch-materialistischer und/oder historisch-dialektischer Entwicklungen sozialer und politischer Natur, die als ausbeuterisch die proletarischen Schichten der westlichen, industrialisierten bzw. sich im Stadium der entwickelnden Industrialisierung befindender Nationen beurteilt wurden, sondern in erster Linie wesentlich agitatorisch intendierte Appelle eines Zuschnittes wie etwa »Proletarier aller Länder, Vereinigt euch!« oder andere Äußerungen dieser Art, wie sie sich bevorzugt in Manifest der kommunistischen Partei (1848, zusammen mit Friedrich Engels verfasst) finden, machen deutlich, dass Marx durchaus die ernst gemeinte Idee verfolgte, durch revolutionäre Akte, durchaus auch unter Einsatz verschiedener Gewaltmaßnahmen, die herrschenden, kapitalistischen Schichten zu stürzen, um eine sozialistische Welt unter der leitenden Idee von Gerechtigkeit, allgemeinem Wohlstand und Klassenlosigkeit zu realisieren. Der auf den Ideen von Marx, Engels und Feuerbach sich konstituiert habende politische Kommunismus des Ostblocks bis etwa um das Jahr 1989/ 90 ist eines der wenigen aber nachdrücklichen Beispiele, welche, im negativen Sinne zu verstehende, empirisch-realistische Wirkmächtigkeit Philosophie, philosophische Gedanken haben können, denn angefangen über die Russische Oktoberrevolution, die damit im Gefolge stehenden weiteren Maßnahmen im russischen Kulturbereich in erster Linie durch Lenin, die sicherlich die ursprünglichen marxistischen Ideale missachtenden, aber dennoch in dieser geistigen Welt sich bewegenden Entwicklungen, die mit Stalin in den zweiten Weltkrieg münden, die Chinesische Kulturrevolution unter Mao und noch etliche weitere historische Ereignisse dieses Kontextes – noch nie in der Geschichte der Menschheit haben philosophische Ideen, direkt oder indirekt, eine so unvorstellbar hohe Menge an Menschenleben gekostet. Das Beispiel des Marxismus/ Kommunismus/Leninismus/Stalinismus/Maoismus macht die in der Tat größte Gefahr von Philosophie in erschreckender Anschaulichkeit deutlich: Ideologie. Philosophische Inhalte sind wie wenige andere, vergleichbar wohl nur mit religiösen, dazu geeignet, Weltbilder zu entwerfen, Weltbilder, die durch die Konstruktion künstlicher Wertesysteme charakterisiert sind und die aufgrund dieser künstlich erzeugten Werte zu unbedingten Glaubenssätzen, zu absoluten credenda werden können, ursprünglich in der Regel dazu angetan, um geistige Stabilität und Orientierung des Einzelnen zu vermitteln und zu gewährleisten (also primär psychologisch motiviert), die jedoch auch im Gefolge totalitäre Tendenzen auf sozialer und/oder politischer Ebene annehmen können. Diese Gefahr philosophischen Denkens ist real und es gehört zu den vordringlichsten Pflichten der Philosophie selbst, dieser Gefahr, wo immer sie auftritt, mit entschiedenem Nachdruck zu begegnen. 10 Für Hegel gilt im Großen und Ganzen dasselbe, was oben zu Nietzsche gesagt wurde: Die Aneignung und Berufung auf sein Denken von selbsternannten Nachfol9
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deutlich zeigt, welche immense Sprengkraft, destruktive Energie in philosophischen Gedanken liegen kann, zumal, wenn sie über ein erhöhtes suggestives Potential verfügen, was in der Regel vermittelt wird über gesteigerte literarische und/oder rhetorische Fähigkeiten). Zu denken wäre ebenfalls an die Untergrabung philosophischer Positionen durch die zunehmend expandierenden Einzelwissenschaften, wie etwa Psychologie 12, Soziologie 13, oder auch Neurophysiologie gern unter der Bezeichnung des Linkshegelianismus und die damit verbundenen, teilweise katastrophalen Konsequenzen auf politischer, militärischer und damit gesamthistorischer Ebene kann nicht Hegel selbst angelastet werden. Man darf mit gutem Recht davon ausgehen, dass er sich selbst wohl mit Vehemenz dagegen verwahrt hätte, »vom Kopf auf die Füße« gestellt zu werden, (Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie), noch dazu von einem selbsternannten Adepten, der glaubte, ihn im nachhaltigen Sinne verbessern zu müssen. Die Philosophie Hegels hat ihre spezifischen Probleme, auf mehreren Ebenen, nicht bloß im rein gedanklich-abstrakten, Hegel scheint nicht immer redlich zu philosophieren – aber verantworten für die Ereignisse des 20. Jahrhunderts kann man ihn im berechtigten Sinne wirklich nur schwerlich, um nicht zu sagen gar nicht. 11 Ohne an dieser Stelle im Einzelnen genauer darauf eingehen zu können, müssen in diesem Zusammenhang sicherlich erwähnt werden: Kant und Fichte, Rousseau und Voltaire, vielleicht auch Descartes und Spinoza, Platon, Bernhard von Clairvaux, Abaelard, Thomas von Aquin, eventuell Meister Eckhart, Heidegger, Sartre und Camus, Stirner u. a. 12 Die Psychologie hat seit ihrer Entstehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Wundt/ Windelband u. a.) ihre methodische Maxime aus nachvollziehbaren Gründen weitgehend in ein durch Empirie und Experiment geprägtes Forschen gelegt, das mit Hilfe statistischer Berechnungen eine erhöhte Objektivität bzw. Objektivierungsfähigkeit der diversen Forschungsergebnisse durch mathematische Quantifizierung erstrebt. Daher ist es beinahe zwingend, dass sie, sofern sie einen vergleichbaren oder den identischen Forschungsgegenstand wie die Philosophie hat – was in aller Regel der Mensch sein wird – diesbezüglich zu konkurrierenden Ergebnissen kommen wird. Und tatsächlich zeigt bereits ein flüchtiger Blick in die Geschichte der Psychologie, dass sie oftmals in Opposition zur Philosophie steht, wie dies schon in früher Zeit etwa bei Freud, Adler und Skinner festzustellen ist – und wenn man noch etwas weiter zurückgehen und Nietzsche als psychologisch orientierten Denker verstehen will, so ließe sich dieser Befund bereits an dieser Stelle bestätigen. Zumal in der weiteren Gegenwart sind immer wieder Stimmen aus dem psychologischen Lager aufgetreten, die sich in gewollten und starken Kontrast zu philosophischen Positionen und Anschauungen gestellt haben. Denken könnte man hierbei etwa an Kandel, Eric Richard: Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes, Frankfurt 2006, oder auch besonders an Prinz, Wolfgang: »Die Reaktion als Willenshandlung«, in: Psychologische Rundschau 49 (1998), S. 10–20; Prinz, Wolfgang: »Freiheit oder Wissenschaft?«, in: M. v. Cranach/K. Foppa [Hgg.]: Freiheit des Entscheidens und Handelns, Heidelberg 1996, S. 98 f. und Prinz, Wolfgang: »Kognitionspsychologische Handlungsforschung«, in: Zeitschrift für Psychologie 208 (2000), S. 32–54. 13 Aus methodischer Hinsicht gilt für die Soziologie und ihr Verhältnis zur Philoso-
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bzw. Neorowissenschaft 14 usw. Zu denken wäre schließlich auch an das Faktum, daß an den Universitäten als den wichtigsten Pflanz-, Wachstums- und Kultivierungsstätten der Philosophie weitestgehend phie cum grano salis dasselbe, was für die Beziehung Psychologie-Philosophie gesagt wurde: empirisch, statistisch, experimentell mit den daraus resultierenden, spezifischen Divergenzen hinsichtlich der wissenschaftlichen Resultate und Aussagen. Allerdings beziehen sich die Forschungsobjekte der Soziologie über den Menschen als Individuum hinaus besonders auf kollektive Dimensionen betreffende Gegenstände, wie Gesellschaft, Kultur, Geschichte und auch interkulturelle Relationen und dergleichen mehr. Bereits in den ersten Anfängen der wissenschaftlichen Entwicklung der Soziologie mit Auguste Comte (1798–1857) trat sie in eigentümliche Gegensätze zum philosophischen Denken, v. a. was die Ansichten über menschliche Freiheit, Religion, Moral und den Wahrheitsbegriff anbelangt, die nicht (wie meistenteils in der Philosophie) als genuine Qualitäten, sondern als Produkte sozialer Dynamiken und Prozesse gedeutet wurden. Obwohl die marxistisch-kommunistischen Theorien seit ihren Gründungsvätern mit Marx, Engels und Feuerbach, über Lenin, die verschiedenen realexistierenden sozialistischen Staaten des ehemaligen Ostblocks bis hin zu den letzten sich als kommunistisch verstehenden Regierungen in China, Nord-Korea und Cuba sich immer ausdrücklich auf philosophische Positionen des Linkshegelianismus berufen hatten bzw. berufen, sind marxistische Weltanschauungen und ihre Spielarten in bedeutend stärkerem Maße von naturwissenschaftlichen, sozio-politologischen, materialistischen und pragmatisch-aktionistischen Überzeugungen geprägt, denn von genuin philosophischen. Auch in der gegenwärtigen Soziologie zeigt sich wie in der Psychologie die Tendenz, Themen, die im philosophischen Kontext als Themen bzw. Probleme sui generis angesehen werden, in empirische, verobjektivierte, quantifizierte und deskriptive Dimensionen aufzulösen. Damit steht dieses soziologische Vorgehen in prinzipiellem Widerspruch zu philosophischem Denken. 14 Obwohl die Position der Neurowissenschaften mit ihrem ausgeprägt deterministischen Weltbild der Sache nach relativ alt ist – die Anfänge dieses Denkens kann man bei LaMettrie (L’homme machine; 1748) und Ludwig Büchner (Kraft und Stoff; 1855) sehen –, erwecken Neurowissenschaftler immer wieder, zumal in aktueller Zeit, großes Aufsehen in einer größeren Öffentlichkeit mit ihren Thesen und Forschungsergebnissen. Paradigmatisch seien hierfür genannt Roth, Gerhard: Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt/Main 2003; Roth, Gerhard: Brain, evolution and cognition, New York 2001; Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/Main 1997; Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt/Main 2003; Roth, Gerhard: Neurowissenschaften und Philosophie. Eine Einführung, München 2001; Singer, Wolf: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt/Main 2002; Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung, Frankfurt/Main 2003; Singer, Wolf: »Entscheidungsgrundlagen«, in: Walfried Linden/Alfred Fleissner (Hgg.): Geist, Seele und Gehirn. Entwurf eines gemeinsamen Menschenbildes von Neurobiologen und Geisteswissenschaftlern, Münster 2004, S. 21–30; Singer, Wolf: »Freiheit und neuronaler Determinismus«, in: Manfred Lahnstein/Joachim Sartorius (Hgg.): Berliner Lektionen 2000– 2007. Eine politisch-kulturelle Chronik der Gegenwart, Berlin 2007, S. 105–125; Singer, Wolf: Gehirn und Bewußtsein, Heidelberg 1994; Singer, Wolf: Gehirn und Kogni-
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Philosophie betrieben wird als Unterform der Historiographie und systematische Philosophie im universitären Rahmen meist nicht mehr betrieben wird, von Ausnahmen abgesehen. 15 Der Grund hierfür dürfte wohl in dem Umstand zu suchen sein, daß sämtliche groß angelegten philosophischen Systeme bzw. Gedankengebäude von Platon bis Hegel, Husserl und Heidegger, analytischen und wissenschatstheoretischen Konzeptionen streng genommen letztlich als gescheitert angesehen werden müssen: 16 Die Philosophie hat, so der tion, Heidelberg 1992 und Singer, Wolf: Unser Menschenbild im Spannungsfeld von Selbsterfahrung und neurobiologischer Fremdbeschreibung, Ulm 2003. 15 Was die aktuelle philosophische Landschaft anbelangt, ist diesbezüglich in erster Linie die anglo-amerikanische Philosophie zu nennen, insbesondere die Analytische Philosophie mit ihren zahlreichen Strömungen und Vertretern. Im kontinentaleuropäischen Bereich sieht das Bild dezidiert anders aus, man findet lebendige, systematische philosophische Arbeiten in diesem Kontext wohl bevorzugt im Bereich von kulturphilosophischen, kulturkritischen, gesellschaftskritischen und/oder wissenschaftsund wirtschaftstheoretischen Überlegungen, sehr selten im Feld von nicht-angewandter Philosophie. Speziell im deutschsprachigen Raum findet man Vertreter systematischer Philosophie der weiteren Gegenwart relativ selten in Personen wie etwa Peter Sloterdijk, Hans Albert, Karl-Otto Apel, Reinhard Lauth und Karl Popper u. a. 16 Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wollte man die Gründe anführen, die zur Einschätzung des Scheiterns von Philosophie geführt haben, da in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Stimmigkeit dieser Einschätzung diskutiert werden müsste. Von daher sei an dieser Stelle lediglich angemerkt, dass, anders als in den Naturwissenschaften oder auch den Sozial-, Wirtschafts-, Politik- und Geschichtswissenschaften, von den Anfängen der Philosophie bis auf den heutigen Tag die philosophische Systematik betreffend weder ein verbindlicher Lehrinhalt, verbindliche Wahrheiten oder verbindliche Fehlentwicklungen definiert werden konnten, von verbindlichen philosophischen Schulen bzw. Richtungen ganz zu schweigen. Dies hat Husserl zu folgender bekannter Stellungnahme veranlasst: »Seit den ersten Anfängen hat die Philosophie den Anspruch erhoben, strenge Wissenschaft zu sein, und zwar die Wissenschaft, die den höchsten theoretischen Bedürfnissen Genüge leiste und in ethisch-religiöser Hinsicht ein von reinen Vernunftnormen geregeltes Leben ermögliche. Dieser Anspruch ist bald mit größerer, bald mit geringerer Energie geltend gemacht, aber niemals ganz preisgegeben worden. Auch nicht in den Zeiten, in denen Interessen und Fähigkeiten für reine Theorie zu verkümmern drohten, oder religiöse Mächte die Freiheit theoretischer Forschung unterbanden. Dem Anspruch, strenge Wissenschaft zu sein, hat die Philosophie in keiner Epoche ihrer Entwicklung zu genügen vermocht. Auch nicht in der letzten Epoche, die bei aller Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit philosophischer Richtungen in einem wesentlich einheitlichen Entwicklungszuge von der Renaissance bis zur Gegenwart fortgeht.« (Husserl, Edmund: Philosophie als strenge Wissenschaft, hg. v. W. Szilasi, Frankfurt/Main 1965, S. 7.) Und weiter führt Husserl in dieser Schrift aus: »Ich sage nicht, Philosophie sei eine unvollkommene Wissenschaft, ich sage schlechthin, sie sei noch keine Wissenschaft, sie habe als Wissenschaft noch keinen Anfang genommen […]. Sie [scil. Phi-
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generelle und von der größeren Öffentlichkeit auch so empfundene Eindruck, bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben versagt und stellt keine ernstzunehmende Stimme im Chor der wissenschaftlichen Disziplinen dar. 17
losophie] verfügt nicht bloß über ein unvollständiges und nur im einzelnen unvollkommenes Lehrsystem, sondern schlechthin über keines. Alles und jedes ist hier strittig, jede Stellungnahme ist Sache der individuellen Überzeugung, der Schulauffassung, des ›Standpunktes‹.« (Husserl, Edmund: Philosophie als strenge Wissenschaft, hg. v. W. Szilasi, Frankfurt/Main 1965, S. 8 f.) 17 Als eine unter vielen Stimmen verdient m. E. in diesem Zusammenhang besonders der jüdische Religionsphilosoph und Philosophiekritiker Franz Rosenzweig Erwähnung. Der Beginn seiner Schrift Der Stern der Erlösung geißelt die Philosophie als Unternehmen großer, ja größter Unmenschlichkeit, als Verhinderung eines Lebens, in dem der Mensch sich selbst gerecht wird: »Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermißt sich die Philosophie. Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne Aufhören gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, und ein jedes ist dem Tode verfallen, jedes wartet mit Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel. Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde. Sie reißt über das Grab, das sich dem Fuß vor jedem Schritt auftut. Sie läßt den Leib dem Abgrund verfallen sein, aber die freie Seele flattert darüber hinweg. Daß die Angst des Todes von solcher Scheidung in Leib und Seele nichts weiß, daß sie Ich Ich Ich brüllt und von Ableitung der Angst auf einen bloßen Leib nichts hören will – was schert das die Philosophie. Mag der Mensch sich wie ein Wurm in die Falten der nackten Erde verkriechen vor den herzischenden Geschossen des blind unerbittlichen Tods, mag er es da gewaltsam unausweichlich verspüren, was er sonst nie verspürt: daß sein Ich nur ein Es wäre, wenn es stürbe, und mag er deshalb mit jedem Schrei, der noch in seiner Kehle ist, sein Ich ausschreien gegen den Unerbittlichen, von dem ihm solch unausdenkbare Vernichtung droht – die Philosophie lächelt zu all dieser Not ihr leeres Lächeln und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger das Geschöpf, dem die Glieder in Angst um sein Diesseits schlottern, auf ein Jenseits hin, von dem es gar nichts wissen will. […] Und es ist der letzte Schluß dieser Weisheit [der Philosophie]: der Tod sei – Nichts. Aber in Wahrheit ist das kein letzter Schluß, sondern ein erster Anfang, und der Tod ist wahrhaftig nicht, was er scheint, nicht Nichts, sondern ein unerbittliches, nicht wegzuschaffendes Etwas. Auch aus dem Nebel, mit dem ihn die Philosophie umhüllt, tönt ungebrochen sein harter Ruf; in die Nacht des Nichts mochte sie ihn wohl verschlingen, aber seinen Giftstachel konnte sie ihm nicht ausbrechen, und die Angst des vor dem Stich dieses Stachels zitternden Menschen straft allzeit die mitleidige Lüge der Philosophie grausame Lügen.« (Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/Main 19934.) Vgl. hierzu in Gedankenführung, Umsetzung der Idee und literarischem Ton erstgenanntem Werk gegenüber abfallend, trotzdem lesenswert: Rosenzweig, Franz: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, hg. v. N. N. Glatzer, Frankfurt/Main 1992.
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Es soll an dieser Stelle keine Übersicht zu den hierfür relevanten historischen Entwicklungen und Bedingungen geben werden, dies würde Rahmen wie Ausrichtung dieses Beitrags übersteigen. Heideggers Stimme kann hierbei als eine unter vielen gelten. Alleine die faktische Realität philosophischer Gegenwärtigkeit in akademischer Praxis und interessierter Öffentlichkeit ist keineswegs Beleg und Gewähr dafür, dass es mit der Zukunft der Philosophie etwas auf sich hätte. Allerdings scheint mir die spezifische Charakteristik von Philosophie dafür zu sprechen, dass Philosophie noch nicht an ihr eigenes Ende gekommen ist, was dieser Beitrag zu erläutern versuchen wird. Die Zukunft der Philosophie bzw. eine Philosophie der Zukunft scheint mir in mehrerlei Hinsicht des Wortes offen zu sein, worin unter Umständen echte Möglichkeiten zu einer vernünftigen Weiterarbeit an und Konstituierung von Philosophie liegen können. Daher will ich die Thematik einer Zukunft der Philosophie und Philosophie der Zukunft als systematisches Problem der Philosophie ernst nehmen und im folgenden meine diesbezüglichen Reflexionen in skizzenhaftem Abriss entwickeln, denn angesichts der angedeuteten gegenwärtigen Krisensituation der Philosophie ist diese Thematik eines der sicherlich vordringlichsten Desiderate in diesem Bezug.
II. 1. Ich beginne mit einer konzeptionellen Vorbemerkung: Weder der Zukunft der Philosophie noch einer Philosophie der Zukunft ist gedient, wenn hierbei bereits gedachte philosophische Positionen schlicht übernommen und/oder reanimiert werden: Wir können nicht einfach auf dem Problemhorizont und in derselben Wiese philosophieren, wie es etwa Platon oder Aristoteles oder Kant oder Hegel getan haben. Nicht weil wir heute im philosophischen Sinne »weiter« und diverse philosophische Fragestellungen mittlerweile gemeinhin »gelöst« wären, sondern weil alles, was einmal gedacht und gesagt wurde, als historisches Faktum seine unmittelbare Lebendigkeit verloren und im gleichen Atemzuge den Charakter gleichsam geronnenen Geistes angenommen hat. Was den noumenalen Wert dieser Gedanken keineswegs schmälert, aber dazu führt, daß sie nicht mehr als Gegenwärtigkeit auftreten können: Jede geistige Qualität lebt entscheidend von ihrer unmittelbaren Präsenz, was prinzipiell für alle 149 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Wissenschaften gilt, im gesteigerten Maß aber für Philosophie, weil das philosophische Wissen bzw. der philosophische Wahrheitsbegriff weniger das Gepräge von Faktizität aufweist, denn vielmehr das einer nicht endenden, nicht zur Ruhe kommenden, immer weiter fragenden Triebkraft: Der philosophische Wahrheitsbegriff ist genetisch. Ich komme gleich explizit darauf zu sprechen. Allerdings kann es in systematischer Hinsicht durchaus sinnvoll sein, Rekurs auf bestimmte historisch greifbare philosophische Ideen und Gedanken zu nehmen, wenn sie sich als tragfähig erweisen und mit ihrer Hilfe neue, weiterführende philosophische Einsichten gewonnen werden können. Damit soll kein Eklektizismus propagiert, sondern die Überzeugung ausgesprochen werden, dass Gedanken, die Geltung beanspruchen können, sicherlich nicht durch ihre faktische Historizität Einbuße erleiden, sondern als solche gültig bleiben, wenngleich sie sich von jedem Zeitalter, von jedem Einzelnen je und je neu angeeignet werden müssen, was zugleich – sofern dies ernsthaft geschieht – der weiterführende Einstieg in ein systematisches Denken ist. 2. Gemäß der hier veranschlagten und knapp skizzierten Idee von Philosophie sind zwei prinzipielle Modalitäten ihrer selbst denkbar: Eine (ich möchte sie so nennen) Reine Philosophie (wie etwa Aristoteles’, Descartes’ prima philosophia oder auch Fichtes Wissenschaftslehre), sowie eine Applizierte Philosophie (etwa Philosophie der Naturwissenschaft, der Moral, der Geschichte etc.). Für gegenwärtiges Thema sind beide Philosophieformen von großer Relevanz, da a) in den Augen der meisten Philosophen bis heute keine überzeugende Reine Philosophie grundgelegt wurde (zumindest besteht hierüber kein Konsens) und b) die entsprechenden aktuellen (wissenschaftlichen, sozialen, ethischen) Probleme auch von Seiten einer Applizierten Philosophie eine fruchtbare Bereicherung hinsichtlich ihrer Behandlung erfahren können. In bestimmten Fällen wäre es sogar denkbar, dass alleine die Philosophie zu bestimmten Fragen der Gegenwart eine Stimme hat, zu denken wäre etwa an den Bereich medizin- und wirtschaftsethischer Probleme, auch an den ganzen Bereich von wissenschaftstheoretischen bzw. -kritischen Fragestellungen. 3. Ohne die tragfähige Grundlage einer Reinen Philosophie sind jedoch alle möglichen Formen Applizierter Philosophie haltlos, weil im strengen und systematischen Sinne unbegründet (was übrigens in gleicher Weise für jede beliebige [Einzel-]Wissenschaft gilt). Also folgt daraus: 150 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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4. Das vordringliche Desiderat der Konstituierung einer Reinen Philosophie, was per consequens zusammenfällt mit der Frage: Was ist Philosophie?, denn die Grundlagen und Prinzipien einer Wissenschaft stellen ihr charakteristisches Spezifikum dar, und jede daraus entwickelte wissenschaftliche Disziplin ist ein Derivat derselben. Reine und Applizierte Philosophie verhalten sich zueinander wie Grundlage und Begründetes, weswegen die Frage nach den Grundlagen der Philosophie zusammenfällt mit der Frage nach ihrem Begriff. 5. Philosophie in jeder denkbaren Form ist primär (wie Wissenschaft überhaupt) dadurch charakterisiert, daß sie sich selbst den Anspruch und das Selbstverständnis auferlegt hat, ihre Sätze zu begründen, was im Rahmen von Philosophie über das Argument realisiert wird. Wo Sätze und Thesen nicht begründet werden, wo nicht argumentiert wird, ist man nicht im Bereich von Wissenschaft bzw. Philosophie. Die Frage, wann ein Argument im systematischen Sinne als valide und evident angesehen werden kann, führt organisch zum Problem von gangbarer philosophischer Methode und Geltung bzw. in deren Gefolge speziell zum Problem von Letztbegründung. 6. Nun ist natürlich die Einsicht, daß Methode und besonders Geltung bzw. Letztbegründung die genuinen Belange von Philosophie sind, keineswegs neu. Im Gegenteil: Spätestens seit Parmenides 18,
Sicherlich hat Parmenides nicht im förmlichen und objektiven Sinne an Fragen der Letztbegründung gearbeitet, dafür ging sein Denken in eine dezidiert andere Richtung. Aber es sind etliche Aspekte in seinem Denken zu konstatieren, die deutlich machen, dass er mit einem hohen philosophischen Problembewusstsein seine Gedanken entfaltet hat, wie man dies beispielsweise an der kategorischen Trennung von sinnlicher Wahrnehmung und reinem Denken als möglichen Quellen der Wahrheitsfindung sehen kann: »Denn es ist unmöglich, daß dies zwingend erwiesen wird: es sei Nichtseiendes; vielmehr halte du von diesem Wege der Forschung den Gedanken fern, und es soll dich nicht vielerfahrene Gewohnheit auf diesen Weg zwingen, walten zu lassen das blicklose Auge und das dröhnende Gehör und die Zunge, nein mit dem Denken bring zur Entscheidung die streitreiche Prüfung, die von mir genannt ist.« (FV, I, 28.7) Nur das Denken ist nach Parmenides zuverlässige Quelle der Wahrheit, denn es ist überraschender Weise identisch mit dem Sein als Garant und Inbegriff aller Wahrheit: »Die Entscheidung aber hierüber liegt in folgendem: IST oder NICHT IST! Entschieden ist aber nun, wie notwendig, den einen Weg als undenkbar, unsagbar beiseite zu lassen (es ist ja nicht der wahre Weg), den anderen aber als vorhanden und wirklich-wahr zu betrachten.« (FV, I, 28.8) Und weiter: »[…] denn dasselbe ist Denken und Sein.« (I, 28.3) Damit kann Parmenides als Vater und Entdecker des Prinzips der Methode verstanden werden, was in dieser gedanklichen Kategorizität zumindest auf das Thema von Letztbegründung verweist.
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weiter über Platon 19, Aristoteles 20, diverse mittelalterliche Denker 21, die Philosophen des Deutschen Idealismus 22 bis hin zu Jaspers 23, Hugo Dingler 24, Karl-Otto Apel 25, Hösle 26, Wolfgang Kuhlmann 27 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang in erster Linie sicherlich das Liniengleichnis (509 c ff.; von Interesse in diesem Zusammenhang ist zweifellos auch das Sonnengleichnis, diverse Passagen aus Menon, Theaitetos, Symposion, Phaidon u. a., aber der logisch-erkenntnistheoretische Schwerpunkt des Liniengleichnisses scheint mir zur Thematisierung der Letztbegründungsproblematik in besonderer Weise geeignet zu sein), das in methodischer Verschränkung dialectica ascendens und dialectica descendens konstitutiv miteinander verschränkt, um auf diesem Weg von den verschiedenen Formen gedanklicher Voraussetzungen zum schlechthin »Voraussetzungslosen«, dem alles Denken begründenden und festigenden Eckstein zu gelangen, der dann im gedanklichen »Rückweg« alle beim Aufstieg gesetzten Voraussetzungen philosophisch legitimiert und – idealiter – die vollkommene Einheit der Ideen- und Sinnenwelt im gedanklichen Abbild des Wissens gewährleistet, wie damit auch den systematischen Zusammenhang der Philosophie als wissenschaftlichem Ganzen als Verstehen und Erklären aller Wirklichkeit herstellt. Mit der Aufstellung des »Voraussetzungslosen« im differenzierten philosophischen Gefüge des Liniengleichnisses formuliert Platon wohl historisch erstmalig in expliziter und der Sache nach gültiger Form das Problem der philosophischen Letztbegründung. 20 Geht man davon aus, dass einer der wichtigsten systematischen Punkt innerhalb der Philosophie des Aristoteles die Frage nach der Bewegung ist, wofür es mehrere gute Gründe gibt, so hat auch Aristoteles den Versuch unternommen, ein philosophisches Gebäude zu erstellen, das dem Anspruch nach einen hohen Grad an Konsistenz und Geschlossenheit anstrebt. Zur Gewährleistung der gedanklichen Stringenz seines Anspruchs sieht er sich philosophisch genötigt, zumindest im Rahmen der Frage nach der Bewegung einen Punkt aufzustellen, der ihm in diesem Rahmen ein letztbegründendes Argument liefert. Aristoteles findet diesen Punkt im Gedanken des ersten unbewegten Bewegers (1072 aff.). Dieser Gedanke ist nicht nur philosophisch notwendig und zwingend, sondern er wird von Aristoteles auch mit gedanklicher Schärfe und Präzision konzipiert. Die erste Ursache der Bewegung kann nicht selbst wieder bewegt sein, sonst käme man nicht aus dem durchgängigen Kausalnexus heraus und es wäre nicht nur nicht der erste Beweger (der notwendigerweise selbst unbewegt sein muss, um erste Ursache sein zu können), sondern es wäre gänzlich unmöglich, einen Anfang der Bewegung zu bestimmen, da sich der Kausalnexus ad infinitum perpetuiert. Um dieser entscheidenden Anforderung gerecht zu werden, lässt Aristoteles den ersten unbewegten Beweger nicht durch Eigenwirksamkeit, Eigenverursachung den Gang der Bewegung von Ursache und Wirkung initiieren, sondern dadurch, dass alles zu ihm hinstrebt, da er qua seiner unüberbietbaren Attraktion alles auf sich hinbewegen lässt, weil alles so sein will, wie dieser erste unbewegte Beweger. So kann Aristoteles sagen, er bewegt wie ein Geliebtes. Mit diesem Gedanken schließt Aristoteles den gesamten Komplex von Bewegung im Sinne einer hierauf bezogenen Letztbegründung. 21 Von Relevanz sind in diesem Kontext besonders Albertus Magnus (um 1200– 1280), Bonaventura (1221–1274), Duns Scotus (um 1266–1308) und Thomas von Aquin (um 1225–1274). Insgesamt muss man wohl sagen, dass das Mittelalter in 19
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und etlichen anderen wurde Geltung bzw. Wahrheit als eigentlicher Gegenstand von Philosophie bestimmt bzw. im Sinne der Letztbegründungsproblematik erweitert. Es gibt allerdings auch diametral Bezug auf die Frage von Letztbegründung keine originären Beitrag geleistet hat, da es sich weitgehend im exegetischen Spannungsfeld von Platonismus und Aristotelismus bewegte. In aller Regel wird hierbei das Aristotelische Denken im Modell des ersten unbewegten Bewegers herangezogen, um die Welt als Ganze im Sinne von Schöpfung zu interpretieren, wobei der streng apersonale erste unbewegte Beweger des Aristoteles mit seinen zentralen Bestimmungen in den personalen jüdisch-christlichen Gott transformiert wird. Die philosophische Leistung des Mittelalters zeigt sich dabei bevorzugt in der Fähigkeit, die griechisch-heidnischen Philosopheme mit der biblischen Offenbarung zu harmonisieren, was selbstredend nicht immer ohne gewisse gedankliche Härten von Statten geht. Prinzipiell kann man sagen, dass das Mittelalter in der Frage der Letztbegründung die Position des Aristoteles mit bestimmten, spezifischen Modifikationen übernommen hat. Eine gewisse Ausnahme, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, stellt in diesem Zusammenhang zweifellos Anselm von Canterbury dar. Sein berühmtes Argument, das von Kant den Namen des Ontologischen Gottesbeweises erhalten hat und immer wieder – u. a. auch von Descartes – in verschiedenen Spielarten wiederholt wurde, entfaltet er in Proslogion, II–IV. Die differenzierte Gedankenstruktur dieses Arguments geht entschiedend über die Aristotelischen Voraussetzungen und Implikationen seiner Metaphysik hinaus, vielmehr verweist es wohl sachlich wie ideengeschichtlich im Letzten auf Permenides und seinen Satz, in dem er Denken und Sein koinzidieren lässt. 22 Die Eröffnung des philosophischen Denkens der Neuzeit, wie es von Descartes, Spinoza und Leibniz inauguriert wurde, findet zweifellos seinen bedeutendsten Niederschlag in den Philosophen und Philosophien des sogenannten Deutschen Idealismus: Kant, Fichte, Schelling und Hegel. Es würde entscheidend zu weit führen, wollte man an dieser Stelle die Letzbegründungsversuche genannter Denker skizzieren, da es sich hierbei um sehr differenzierte und anspruchsvolle Überlegungen handelt. Ein Hinweis zur Neuartigkeit dieses Denkansatzes sei mit dem aus Kant entlehnten Schlagwort »Primat der praktischen Vernunft« bzw. »Primat des Praktischen« gegeben. Vgl. hierzu v. a. KGS, V, 119 ff.: »Unter dem Primate zwischen zwei oder mehreren durch Vernunft verbundenen Dingen verstehe ich den Vorzug des einen, der erste Bestimmungsgrund der Verbindung mit allen übrigen zu sein. In engerer, praktischer Bedeutung bedeutet es den Vorzug des Interesse des einen, so fern ihm (welches keinem andern nachgesetzt werden kann) das Interesse der andern untergeordnet ist. […] Wenn praktische Vernunft nichts weiter annehmen und als gegeben denken darf, als was speculative Vernunft für sich ihr aus ihrer Einsicht darreichen konnte, so führt diese das Primat. […] In der Verbindung also der reinen speculativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse führt die letztere das Primat, vorausgesetzt nämlich, daß diese Verbindung nicht etwa zufällig und beliebig, sondern a priori auf der Vernunft selbst gegründet, mithin nothwendig sei. Denn es würde ohne diese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst entstehen: weil, wenn sie einander blos beigeordnet (coordinirt) wären, die erstere für sich ihre Grenze enge verschließen und nichts von der letzteren in ihr Gebiet aufnehmen, diese aber ihre Grenzen dennoch über alles ausdehnen und, wo es ihr Bedürfniß erheischt, jene
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entgegengesetzte Auffassungen hierzu. Diese Stimmen proklamieren, daß aufgrund der offenbaren Erfolglosigkeit und spezifischer (unlösbarer) logischer Widersprüche dieses Projekt der philosophischen Letzbegründung besser aufgegeben werden sollte (zu denken wäre hierbei im deutschsprachigen Raum v. a. an den Kritischen Rationalismus 28 mit Karl Popper 29, Hans Albert 30 und Gerhard Vollmer 31 als Hauptvertretern; ihre diesbezügliche Position wurde unter innerhalb der ihrigen mit zu befassen suchen würde. Der speculativen Vernunft aber untergeordnet zu sein und also die Ordnung umzukehren, kann man der reinen praktischen gar nicht zumuthen, weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist.« 23 Jaspers entwickelt seine Gedanken zur Letztbegründung, die aus verschiedener Hinsicht von Belang sind, in erster Linie in seinem Werk Philosophie von 1932. 24 Vgl. hierzu v. a. Metaphysik und Wissenschaft vom Letzten, (1929). 25 Vgl. hierzu v. a. Auseinandersetzungen in Erprobung des transzentendalpragmatischen Ansatzes, (1998). 26 Vgl. hierzu v. a. Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik (1990). 27 Vgl. hierzu v. a. Reflexive Letztbegründung. Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik (1985). 28 Vgl. hierzu Anm. 4. 29 Unter Begriff und Idee des Falsifikationismus entfaltet Popper seine Argumente, die die Möglichkeit einer Letztbegründung verleugnen. Da der Hauptgedanke dieser Theorie veranschlagt, dass Verfikationen prinzipiell (zumindest im historischen Rahmen) nicht möglich sind, sondern nur Falsifikationen wissenschaftlicher Positionen, erklärt es sich von selbst, dass Popper die grundsätzliche Möglichkeit von Letztbegründung, seiner eigenen Grundannahme gemäß, kategorisch bestreiten muss. 30 Alberts bekanntes Diktum aus seiner Schrift Traktat über kritische Vernunft: »Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos.« (Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 19915, S. 36) weist in eine Richtung des Denkens, das in der Statik des Wissens ihre Mangelhaftigkeit bezüglich echten Wissens sieht, dergegenüber Albert das Dynamische und Prozessuale von Wissen und Denken in den Vordergrund stellt. 31 Als Vertreter der Evolutionären Erkenntnistheorie favorisiert Vollmer gegenüber den klassischen Versuchen zur Letztbegründung und den in diesem Kontext stehenden philosophischen und/oder wissenschaftliche Positionen, epistemische Ansätze, die die gesamte Sphäre des Apriorischen zugunsten evolutionärer Prozesse, wie sie erstmalig von Darwin formuliert wurden, zu überwinden suchen und damit sämtliche Erkenntnisbedingungen und -kategorien als im Laufe der seit Millionen von Jahren stattfindenden Entwicklung des Lebens, in die sich auch der Mensch nahtlos einreiht, erworbene, stammesgeschichtlich erworbene Parameter zu erklären. Da in dieser Ansicht Wissen, Theorie und Begründung ein Epiphänomen der Biologie darstellt, ist eine ernst gemeinte, in sich valide Form von Letztbegründung grundsätzlich obsolet, von ihrer wissenschaftlichen Möglichkeit ganz zu schweigen.
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dem Namen »Münchhausen-Trilemma« 32 bekannt und will mit teilweise guten Argumenten zeigen, daß Letztbegründung prinzipiell unmöglich ist). Festzuhalten bleibt hierbei Folgendes: Von Geltung bzw. Letztbegründung insbesondere, aber auch von dem ganzen Problemkreis einer Methodenproblematik kann in einem ernst gemeinten systematischen Philosophieren schlechthin nicht abstrahiert werden; die Einwände erwähnter Kritiker mögen in verschiedenen Punkten durchaus zutreffend sein, bleiben aber aufs Ganze gesehen (aufgrund spezifischer, meist sogar performativer Selbstwidersprüche etc.) unhaltbar. 33 Das Münchhausen-Trilemma, das wegen seiner sachlichen Nähe zu den fünf skeptischen Tropen des Agrippa auch Agrippa-Trilemma genannt wird, da es tatsächlich drei dieser antiken Argumente wiedergibt (Regress ad infinitum, Dogmatische Setzung und Zirkelschluss), vertritt die Auffassung, dass eine (philosophische bzw. wissenschaftliche, theoretische) Begründung von Sätzen nicht möglich ist. Dies aus der Überzeugung heraus, dass sämtliche mögliche Quellen menschlicher Erkenntnis der Wahrheit gegenüber unzureichend, defizitär sind, weswegen jede korrekte Begründung einer Behauptung, eines Satzes prinzipiell ausgeschlossen ist, was freilich in gesteigertem und exponiertem Maß für die Möglichkeit von Letztbegründung gilt. Das Münchhausen-Trilemma wird v. a. von Vertretern des Kritischen Rationalismus als Argument gegen deduktive, induktive, kausale, transzendentale usw. Begründungsversuche ins Feld geführt, wobei zu beachten ist, dass der Kritische Rationalismus an der Idee von Validität, Geltung, Wahrheit festhält, allerdings die Auffassung vertritt, dass das menschliche Erkenntnisvermögen zu deren Erfassung unzureichend sei, weswegen der Kritische Rationalismus auch als Fallibilismus bzw. Erkenntnisskeptizismus bezeichnet wird. 33 So ist beispielsweise die logische Argumentationsform, dass ein Zweifeln am eigenen Zweifeln tatsächlich möglich sei, da die Gesetze der Logik, hier der Satz des Widerspruchs, gar nicht als gültig zu wissen seien, nicht zutreffend, denn um überhaupt diese Argumentationsform aufbauen zu können, muss ich zwangsläufig wissen, was die Gesetze der Logik – hier der Satz des Widerspruchs – bedeuten und von ihrer Gültigkeit wissen, sonst könnte ich überhaupt nicht in dieser Form argumentieren. Würde dieses Argument etwas Richtiges treffen, geriete man unvermittelt in die paradoxe Situation, dass ich weder davon reden noch wissen, geschweige denn damit argumentieren könnte: Der eigne philosophische Vollzug dieses Arguments widerlegt seine Gültigkeit. Ähnlich verhält es sich mit allen übrigen Einwänden gegen eine systematische Kritik am Münchhausen-Trilemma bzw. mit der Haltbarkeit dieses Modells als valide epistemische Position. Auch die Aussage mancher Kritischer Rationalisten, sie wollen ja gar keine epistemisch valide Position vertreten, da eine solche ja kategorisch nicht möglich sei, verschärft diese Problematik nur noch weiter, denn wenn es keine Position sein soll, die durch den Kritischen Rationalismus hervorgebracht wird, ist sie selbstredend als wissenschaftlicher Beitrag, der etwas Sinnvolles zu Wissenschaft, Philosophie und dergleichen beitragen will, obsolet und sozusagen ein Kategorienfehler, wenn sie dann doch mitreden will. Tritt der Kritische Rationa32
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Folgender Befund resultiert damit aus den bisherigen Überlegungen: Geltung bzw. Letztbegründung kann nur der erklärte Gegenstand von systematischer Philosophie sein; der Umstand, daß dies bis heute nicht zufriedenstellend bzw. konsensfähig geglückt ist, verleiht diesem Gegenstand das Gepräge der Aufgabe. Ich wiederhole mich: Sinn und Ziel einer ernstgemeinten Arbeit am Problem von Geltung und Letztbegründung kann hierbei nicht der schlichte Rekurs auf historische Lösungen hinsichtlich dieser Themen sein, auch wenn sich in der Geschichte hierzu anschlußfähige Überlegungen finden lassen, die eine ernste Beachtung verdienen – der eigenen gedanklichen Aufgabe und Arbeit diesbezüglich entbindet dies keineswegs. 7. Somit kann in formaler Hinsicht die Zukunft der Philosophie wie auch eine Philosophie der Zukunft in ihrer immer schon gewesenen, vielleicht auch immer in dieser Form bleibenden Aufgabe bestimmt werden: Vermittelt über die Momente von Geltung und Letztbegründung stellt sich Philosophie letztlich als Aufgabe ihrer selbst dar, vorausgesetzt, sie nimmt sich in einem systematischen Sinne ernst. Und vergegenwärtigt man sich an dieser Stelle den trivialen Umstand, daß es selbstredend immer der Mensch ist, der in seinem Nachdenken Philosophie überhaupt erst hervorbringt, so kann man sagen, daß die so verstandene Philosophie die entsprechende (vielleicht sogar einzig mögliche) Lebensform eines Menschen ist, der sich über diesen Umstand Klarheit verschafft hat, und damit in eins einsieht, sich in diesem Kontext selbst Aufgabe zu sein. Diese Überlegungen haben unter Umständen Bedeutung für ein diesbezüglich modifiziertes Neuverständnis von philosophischer Geltung und Letztbegründung – ich will das im folgenden konkretisieren. 8. Geltung im (einzel-)wissenschaftlichen und im philosophischen Verständnis hat zwei unterschiedliche Bedeutungen: Während Geltung für die (Einzel-)Wissenschaften notwendigerweise immer eine konkret bestimmbare, dem Umfang nach begrenzte, (im Idealfall) bestätigte, im Prinzip von jedem nachprüfbare und damit als korrekt geltende Theorie über einen beliebigen empirischen oder lolismus als Position auf – was er im strengen Sinne des Wortes als wissenschaftlicher Beitrag in keiner denkbaren Weise nicht nicht tun kann –, dann gerät er in den klassischen Selbstwiderspruch, dass er etwas behauptet, was ihn in seiner eigenen Behauptung widerlegt bzw. womit er sich selbst fundamental widerspricht: Die Behauptung des Münchhausen-Trilemmas führt unweigerlich notwendig in das Dilemma der Selbstwidersprüchlichkeit.
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gischen Sachverhalt ist, den man kommunizieren, verifizieren, (als Lehrstoff) dogmatisieren und damit objektivieren kann, zielt das philosophische Gültigkeitsverständnis – dem eigenen Selbstverständnis gemäß – auf das Ganze, den gesamten Umkreis des Wissbaren und Vernünftigen. Damit kann dieser Gültigkeitsbegriff nicht bestimmt und definiert werden, sondern ist demgegenüber abstrakt, infinit und praktisch charakterisiert: Der philosophische Gültigkeitsbegriff bzw. die philosophische Geltung kann nur gewonnen werden vom je und je Einzelnen, der durch eigene Anstrengung, radikales Selbstdenken und aufs Ganze gehenden Wahrheitswillen diesbezügliche Einsichten erringt. Das tatsächliche Problem eines so verstandenen Gültigkeitsbzw. Geltungsbegriffes ist seine problematische Vermittelbarkeit 34, ideologische Anfälligkeit 35 und strikte Bezogenheit auf die Person, die ihn erlangt. Die ihrer Idee nach immer auf das Ganze gehende philosophische Geltung kann – selbst wenn sie gesetztenfalls irgendDie Vermittelbarkeit reduziert sich in diesem Fall wohl weitgehend auf Vorbild und Nachahmung, da nur der jeweils eigene Vollzug zum gewünschten Ergebnis des Erkenntnisgewinnes führen kann. Vgl. hierzu KGS, VIII 146 f., Anm. 7: »Selbstdenken heißt den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung. Dazu gehört nun eben so viel nicht, als sich diejenigen einbilden, welche die Aufklärung in Kenntnisse setzen: da sie vielmehr ein negativer Grundsatz im Gebrauche seines Erkenntnißvermögens ist, und öfter der, so an Kenntnissen überaus reich ist, im Gebrauche derselben am wenigsten aufgeklärt ist. Sich seiner eigenen Vernunft bedienen, will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: Ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen. Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; und er wird Aberglauben und Schwärmerei bei dieser Prüfung alsbald verschwinden sehen, wenn er gleich bei weitem die Kenntnisse nicht hat, beide aus objectiven Gründen zu widerlegen. Denn er bedient sich blos der Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft. Aufklärung in einzelnen Subjecten durch Erziehung zu gründen, ist also gar leicht; man muß nur früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen. Ein Zeitalter aber aufzuklären, ist sehr langwierig; denn es finden sich viel äußere Hindernisse, welche jene Erziehungsart theils verbieten, theils erschweren.« 35 Die ideologische Anfälligkeit wurde bereits in Anm. 9 thematisiert, was auch, vielleicht sogar in erhöhtem Maße, für gegenwärtige Problematik gilt, denn der starke Zug ins philosophisch Praktische kann einen solchen Gültigkeitsbegriff in illegitimer Weise moralisieren, psychologisieren oder gar ins religiös Relevante ziehen – sämtlich Vorgehensweisen, die insofern unstatthaft sind, sofern hierbei persönliche Interessen und Emotionen ins Spiel kommen und in diverser Hinsicht instrumentalisiert werden. 34
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wann einmal in der Geschichte vollgültig gesehen worden wäre – streng genommen nicht gelehrt, sondern muss von jedem philosophierenden Menschen, jeder Generation wieder aufs Neue gewonnen werden. Da sich gerade durch die Einzelwissenschaften das Ganze stetig erweitert und auch jede Person einen anderen Zugriff auf das Ganze hat, wird dem philosophischen Geltungsbegriff natürlich immer das Stigma des Proteischen anhaften, ein Umstand, der wohl letztlich daherrührt, dass Geltung als Aufgabe praktischen Charakter hat und somit eine hohe Affinität zu Freiheit. Damit soll kein Relativismus oder Subjektivismus intendiert, sondern die Überzeugung ausgesprochen werden, dass eine aufs Ganze gerichtete Aufgabe in ihrer praktischen Dimension der Freiheit schlechthin unabschließbar, weil unendlich ist. 9. Diese Reflexionen rücken in vielerlei Hinsicht Philosophie und Anthropologie sehr nahe zueinander und es wäre gleichermaßen eine prinzipielle wie auch aktuelle Aufgabe, dieses Verhältnis näher zu bestimmen. 36 Ich möchte diesen Aspekt, obwohl er von großem Interesse ist, hier nicht weiter verfolgen, da eine philosophische Anthropologie selbstredend ein ganz neues, eigenes Thema darstellt. 37 Denken kann man in diesem Zusammenhang etwa an Kants Äußerung, dass die entscheidenden Fragen und Bereiche der Philosophie mit der Frage nach dem Menschen koinzidieren, KGS, IX, 24 f.: »Was aber Philosophie nach dem Weltbegriffe (in sensu cosmico) betrifft: so kann man sie auch eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft nennen, sofern man unter Maxime das innere Princip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht. Denn Philosophie in der letztern Bedeutung ist ja die Wissenschaft der Beziehung alles Erkenntnisses und Vernunftgebrauchs auf den Endzweck der menschlichen Vernunft, dem, als dem obersten, alle andern Zwecke subordinirt sind und sich in ihm zur Einheit vereinigen müssen. Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die drei ersten Fragen auf die letzte beziehen. Der Philosoph muß also bestimmen können 1) die Quellen des menschlichen Wissens, 2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens und endlich 3) die Grenzen der Vernunft. Das letztere ist das nöthigste aber auch das schwerste, um das sich aber der Philodox nicht bekümmert.« 37 Es sei hier lediglich verwiesen auf die einschlägigen Untersuchungen zum Thema einer philosophischen Anthropologie etwa von Pico della Mirandola (Oratio de hominis dignitate, 1486), Magnus Hundt (Anthropologium de hominis dignitate, natura et proprietatibus, 1505), Otto Casmann (Psychologia anthropologica sive animae humanae doctrina, 1594), Buthelius und Rethe (Anthropologia seu synopsis conside36
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10. Eine Philosophie der Zukunft hat in meinen Augen weniger darin ihre Zukunft, neue Formen der Philosophie zu entwickeln, wie etwa Analytik, Phänomenologie oder Existenzialismus usw., sondern in dem Umstand, dasjenige wieder stärker thematisch werden zu lassen, was ihre oben genannte genuine Aufgabe ist, anstatt sich in der Generierung von Unterdisziplinen zu erschöpfen. Damit soll weniger ein geistiger Konservativismus propagiert denn der Aufruf geäußert werden, das zu vollziehen, was Philosophie ihrer Idee nach bedeutet: systematisch an der Geltungs- und Letztbegründungsproblematik zu arbeiten. Sicherlich bestehen angesichts dieser Position auch und zumal aus akademischer Hinsicht Vorbehalte – die Angst vor Unwissenschaftlichkeit und/oder Inaktualität ist nachvollziehbarerweise und nicht ungerechtfertigtermaßen groß. Aber wenn Philosophie systematisch sein will – und streng genommen kann sie sich selbst gar nicht anders wollen –, dann wird sie um die Geltungsfrage sicherlich nicht umherkommen und damit um den Problemkreis von Aufgabe, Praxis, Letztbegründung etc. Wie erfolgversprechend, was die Ergebnisse bzw. effektiven Problemlösungen der angegebenen Aufgabe anbelangt, dieses Konzept einer zukünftigen Philosophie ist, soll hier offen bleiben; es sei nur darauf verwiesen, dass wir alle, die wir uns mit Philosophie beschäftigen, zumindest implizit immer schon in dieser Idee stehen und sie auch permanent – in welcher Form auch immer – vollziehen: Ob als unmittelbares systematisches Philosophieren oder als Begründungsversuche, warum just das nicht funktioniert und somit keinen Sinn hat. Die Zukunft der Philosophie und die Philosophie der Zukunft besteht in meinen Augen im immer neuen, nie abschließbaren Ringen um prinzipielle Geltung oder, was dasselbe ist: im (solange ein philosophierender Mensch da ist) unendlichen Sichselbsthervorbringen der Philosophie selbst. Eine Zukunft der Philosophie und Philosophie der Zukunft kann rationis hominis quoad corpus et animam, 1605), Gvenius (Anthropologia seu de hominis secundum corpus et animam constitutione, 1613), Descartes (Traité de l’homme, 1632) und Hobbes (De homine, 1658), Kant (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1798), Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928), Gehlen (Der Mensch, 1940), Scheler (Mensch und Geschichte, in M. Frings [Hg.], Philosophische Weltanschauung, Werke 9; Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1947), Landmann (; Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961; De homine, 1962; Das Ende des Individuums, 1971; »Fundamental-Anthropologie« 1979) u. a.
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ich aus dem Gesagten damit nur in einer ernsthaft systematisch philosophierenden Philosophie erblicken. Aus Gründen, die hier nicht weiter vertieft werden können, scheint mir hierfür in erster Linie die Transzendentalphilosophie als Anknüpfungspunkt in Frage zu kommen. 38 Vielleicht ist die programmatische Formulierung Erneuerung der Transzendentalphilosophie in Anschluß an Kant und Fichte 39 aus verschiedener Hinsicht unter Umständen etwas zu programmatisch; aber der Sache nach halte ich ein solches philosophisches Projekt für gangbar und im begründeten Sinne für wohl eines der wenigen, die in systematischer Hinsicht als zukunftsfähig bezeichnet werden können.
III. Diese ganzen Reflexionen haben grundsätzlich den Charakter des Programmatischen. Dies ist zwar als prinzipielles Fundament einer Zukunft der Philosophie und Philosophie der Zukunft sinnvoll, vielleicht sogar unerlässlich, aber aufs Ganze gesehen freilich ungenügend, weil zu abstrakt, zu unspezifisch und zu formal. Die materialen Bestimmungen dieses Projektes müssen in concreto ausgearbeitet werden, jedenfalls sollte dieser Anspruch hierbei das erklärte Ziel sein. Dies würde bedeuten, dass das beständige Sichselbsthervorbringen der Philosophie verstanden werden kann als die Arbeit an teilweise nur lückenhaft rekonstruierten Vernunftbereichen, wie etwa Ästhetik, Religion oder auch Recht, gleichermaßen des Bewusstseins überhaupt. Die Rekonstruktion dieser konstitutiven Bereiche der Vernunft hinsichtlich ihres apriorischen Status’ wird wohl für die Philosophie auf unabsehbare Zeit in systematischer Hinsicht Bestimmung sein. Ich möchte mich zum Abschluß dieses Beitrags selbst einer inVgl. hierzu die einschlägigen Schriften von Reinhard Lauth, der mehrfach darauf aufmerksam macht, welche weitgehend nicht gesehene Bedeutung die Transzendentalphilosophie bis heute hat, so z. B. Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, München 2002; Vernünftige Durchdringung der Wirklichkeit, München 1994; Die Konstitution der Zeit im Bewusstsein, Hamburg 1981 und Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1984. 39 Vgl. hierzu Hammacher, Klaus/Mues, Albert (Hgg.): Erneuerung der Transzendentalphilosophie in Anschluß an Kant und Fichte. Reinhard Lauth zum 60. Geburtstag, Stuttgart-Bad Cannstatt 1979. 38
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haltlichen Konkretisierung des Zukunftprojektes Philosophie zuwenden, nämlich dem Problem der Letztbegründung. Auch das kann selbstredend nur als Skizze verstanden werden. Ich beginne meine Überlegungen methodisch mit einer Reflexion über eines der zentralsten Momente der Philosophie, nämlich dem Argument. 40 Ein Argument ist ein Begründungsverfahren, um die sachliche Richtigkeit eines zur Disposition stehenden Satzes zu belegen. Die stärkste Form des Arguments ist der Beweis. Das Argument kann modal in verschiedenen Formen vollzogen werden, was eine Frage der hierbei angewendeten Methode ist, wie etwa Induktion, Deduktion, Reduktion oder auch Experiment – entscheidend hierbei ist, dass das Argument eine Verknüpfung von mindestens zwei Sätzen herstellt, die als Minimalbedingung syllogistische Korrektheit aufweisen muss. Ein Argument leistet seine spezifische Funktion des Begründens dadurch, daß es einen in Frage stehenden Satz bzw. eine These als gültig begründet, indem es die bereits feststehende Gültigkeit eines anderen Satzes in bestimmter, zumindest logisch gültiger Form auf ersteren überträgt. 41 Ein Argument bzw. eine Argumentation ist eine Gültigkeits- bzw. Evidenzübertragung. Da jedoch der als gültig feststehende Satz, mit dessen Hilfe das Argument den fraglichen Satz begründet, selbst begründet sein muss, was er seinerseits wiederum von einem vorgängig als gültig erwiesenen Satz entleihen muss, was für letzteren selbst in exakt dieser Form ebenfalls gilt und so immer weiter fort, stellt sich zwangsläufig die Frage nach einem ersten Punkt, der seine Gültigkeit und Evidenz nicht mehr von einem anderen entliehen hat, sondern als selbstevident zu qualifizieren ist, von dem alle weitere, abgeleitete Evidenz wie aus ihrer Quelle herrührt. 42 Ich folge hierbei weitgehend der systematischen Position Reinhard Lauths, wie er sie in seiner Schrift Theorie des philosophischen Arguments entwickelt hat. 41 In sehr klarer Weise hat sich Fichte in Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre zu diesem Problem der philosophischen Argumentationsführung geäußert. Vgl. hierzu etwa SW, I, 38 ff. 42 Vgl. hierzu SW, I, 40 ff.: »Ich mache mich deutlicher. –Eine Wissenschaft soll Eins, ein Ganzes seyn. Der Satz, dass eine auf einer horizontalen Fläche in einem rechten Winkel aufgestellte Säule perpendicular stehe, ist für den, der keine zusammenhängende Kenntniss von der Geometrie hat, ohne Zweifel ein Ganzes, und insofern eine Wissenschaft. Aber wir betrachten auch die gesammte Geometrie [und Geschichte] als eine Wissenschaft, da sie doch noch gar manches andere enthält, als jenen Satz. – Wie und wodurch werden nun eine Menge an sich höchst verschiedener Sätze zu Einer Wissenschaft, zu Einem und eben demselben Ganzen? Ohne Zweifel dadurch, 40
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Ein solcher Punkt ist im Rahmen der abendländischen Philosophie recht schnell gefunden: Mit Descartes’ cogito kann dieses De-
dass die einzelnen Sätze überhaupt nicht Wissenschaft wären, sondern dass sie erst im Ganzen, durch ihre Stelle im Ganzen, und durch ihr Verhältniss zum Ganzen es werden. Nie aber kann durch blosse Zusammensetzung von Theilen ein etwas entstehen, das nicht in einem Theile des Ganzen anzutreffen sey. Wenn gar kein Satz unter den verbundenen Sätzen Gewissheit hätte, so würde auch das durch die Verbindung entstandene Ganze keine haben. Mithin müsste wenigstens Ein Satz gewiss seyn, der etwa den übrigen seine Gewissheit mittheilte; so dass, wenn, und inwiefern dieser Eine gewiss seyn soll, auch ein Zweiter, und wenn, und inwiefern dieser Zweite gewiss seyn soll, auch ein Dritter u. s. f. gewiss seyn muss. Und so würden mehrere, und an sich vielleicht sehr verschiedene Sätze, eben dadurch, dass sie alle – Gewissheit, und die gleiche Gewissheit hätten, nur Eine Gewissheit gemein haben, und dadurch nur Eine Wissenschaft werden. – Der von uns so eben schlechthin gewiss genannte Satz – wir haben nur einen solchen angenommen – kann seine Gewissheit nicht erst durch die Verbindung mit den übrigen erhalten, sondern muss sie vor derselben vorher haben; denn aus Vereinigung mehrerer Theile kann nichts entstehen, was in keinem Theile ist. Alle übrigen aber müssten die ihrige von ihm erhalten. Er müsste vor aller Verbindung vorher gewiss und ausgemacht sein. Kein einziger von den übrigen aber müsste vor der Verbindung es sein, sondern erst durch sie es werden. Hieraus erhellet zugleich, dass unsere obige Annahme die einzige richtige ist, und dass in einer Wissenschaft nur Ein Satz seyn kann, der vor der Verbindung vorher gewiss und ausgemacht ist. Gäbe es mehrere dergleichen Sätze, so wären sie entweder mit dem anderen gar nicht verbunden, und dann gehörten sie nicht zu dem gleichen Ganzen, sondern machten Ein oder mehrere abgesonderte Ganze aus; oder sie wären damit verbunden. Die Sätze sollen aber nicht anders verbunden werden, als durch die Eine und gleiche Gewissheit: – wenn Ein Satz gewiss ist, so soll auch ein anderer gewiss seyn, und wenn der Eine nicht gewiss ist, so soll auch der andere nicht gewiss seyn; und lediglich dieses Verhältniss ihrer Gewissheit zu einander soll ihren Zusammenhang bestimmen. Dies könnte von einem Satze, der eine von den übrigen Sätzen unabhängige Gewissheit hätte, nicht gelten; wenn seine Gewissheit unabhängig seyn soll, so ist er gewiss, wenn auch die anderen nicht gewiss sind. Mithin wäre er überhaupt nicht mit ihnen durch Gewissheit verbunden. – Ein solcher vor der Verbindung vorher und unabhängig von ihr gewisser Satz heisst ein Grundsatz. Jede Wissenschaft muss einen Grundsatz haben; ja sie könnte ihrem inneren Charakter nach wohl gar aus einem einzigen, an sich gewissen Satze bestehen, – der aber dann freilich nicht Grundsatz heissen könnte, weil er nichts begründete. Sie kann aber auch nicht mehr als Einen Grundsatz haben, weil sie sonst nicht Eine, sondern mehrere Wissenschaften ausmachen würde. Eine Wissenschaft kann ausser dem vor der Verbindung vorher gewissen Satze noch mehrere Sätze enthalten, die erst durch die Verbindung mit jenem überhaupt als gewiss, und auf dieselbe Art und in demselben Grade gewiss wie jener erkannt werden. Die Verbindung besteht, wie eben erinnert worden, darin, dass gezeigt werde: wenn der Satz A gewiss sey, müsse auch der Satz B – und wenn dieser gewiss sey, müsse auch der Satz C u. s. f. gewiss seyn; und diese Verbindung heisst die systematische Form des Ganzen, das aus den einzelnen Theilen entsteht. –
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siderat als erfüllt angesehen werden. 43 Nun ist aber mit dem Erreichen des cogito als Archimedischem Punkt erster, unerschütterlicher Gewissheit nicht das geleistet, was unter Letztbegründung zu Wozu nun diese Verbindung? Ohne Zweifel nicht um ein Kunststück des Verbindens zu machen, sondern um Sätzen Gewissheit zu geben, die an sich keine hätten: und so ist die systematische Form nicht Zweck der Wissenschaft, sondern sie ist das zufällige, nur unter der Bedingung, dass die Wissenschaft aus mehreren Sätzen bestehen solle, anwendbare Mittel zur Erreichung ihres Zwecks. Sie ist nicht das Wesen der Wissenschaft, sondern eine zufällige Eigenschaft derselben. – Die Wissenschaft sei ein Gebäude; der Hauptzweck dieses Gebäudes sey Festigkeit. Der Grund ist fest, und so wie dieser gelegt ist, wäre der Zweck erreicht. Weil man aber im blossen Grunde nicht wohnen, durch ihn allein sich weder gegen den willkürlichen Anfall des Feindes, noch gegen die unwillkürlichen Anfälle der Witterung schützen kann, so führt man auf denselben Seitenwände, und über diesen ein Dach auf. Alle Theile des Gebäudes werden mit dem Grunde, und unter sich selbst zusammengefügt, und dadurch wird das Ganze fest, aber man baut nicht ein festes Gebäude, damit man zusammenfügen könne, sondern man fügt zusammen, damit das Gebäude fest werde; und es ist fest, in so fern alle Theile desselben auf einem festen Grunde ruhen.« 43 Aus sachlichen Gründen bevorzuge ich an dieser systematischen Stelle die Überlegungen von René Descartes, wie er sie in den Meditationes, v. a. in der 1. und 2. Meditation, entwickelt hat; die differenzierten Reflexionen zu dieser Problematik, wie sie Fichte beispielsweise in der GWL (1794) entwickelt hat, halte ich zwar philosophisch für sehr geglückt – besonders was die Methode und Stringenz der Argumentation anbelangt – aber Descartes’ Vorgehen scheint mir in diesem Fall der gangbarere Weg zu sein, da er die zirkuläre Struktur (SW, I, 92) und durchgängige Problematizität (SW, I, 101 f.), wie dies bei Fichtes GWL bis zu Erreichen der schwebenden Einbildungskraft (SW, I, 218 f.) der Fall ist, zugunsten einer unmittelbaren und nicht zu leugnenden Evidenz absoluter Gewissheit im und durch das cogito umgeht. Es ist hier weder möglich noch nötig, die differenzierte Struktur und qualitas des Descartes’schen cogito darzustellen, wie er diesen Gedanken in der 2. Meditation entwickelt. Es sei an dieser Stelle lediglich darauf verwiesen, dass das cogito deswegen der gesuchte Punkt erster, unhintergehbarer Selbstevidenz ist, weil es eine reine actu vollzogene Selbstanschauung des Denkens qua Denken ist. Im methodischen Zweifel gewinnt das Denken im Ausschlussverfahren aller möglichen Inhalte potentieller aber nicht eingelöster erster Gewissheit die Einsicht, dass das Zweifeln, ohne in einen nachhaltigen Selbstwiderspruch zu verfallen, sich selbst im Akt des Zweifelns nicht bezweifeln kann. So schlägt der vollkommene Zweifel im Moment seiner Selbstvergegenwärtigung und Selbstanwendung in unmittelbare Gewissheit, in unhintergehbare Selbstevidenz um. Abstrahiert vom Modus des Zweifelns und reflektiert in dieser Konstellation nur auf die Aktivität des Geistes, des Denkens, zeigt sich das cogito als Bezug des Denkens auf sich selbst: Denken und Gedachtes ist dasselbe, Subjekt und Objekt ist dasselbe, Form und Inhalt ist dasselbe, das cogito ist der ursprüngliche SichBezug des Geistes bzw. Denkens. Die Konstellation der Identität von Denkendem und Gedachten pp. verbürgt damit die qualitas der Selbstevidenz, die dem cogito wesentlich eignet. Damit ist das cogito schlechthin nicht bezweifelbar, von keiner denkbaren Position her, denn seine Evidenzanschauung, seine Selbstevidenz ist die Wurzel aller
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verstehen ist. Descartes hat dies selbst gesehen, weswegen er nicht beim cogito stehen bleibt, sondern die Reflexion der Meditationen weiterführt. 44 Unabhängig von Descartes’ diesbezüglichem Verfahren, stellt sich aus methodischen Gründen die Frage: Wenn mit dem cogito der gesuchte Punkt unmittelbarer Selbstevidenz als grundlegendes systematisches Desiderat gefunden ist – warum und wenn einsichtig gezeigt werden kann, dass dieses Vorgehen philosophisch legitim ist, wie soll dann an dieser Stelle das Denken weiter verfahren? Grundsätzliche Vorreflexion: Mit dem Erreichen des cogito ist der Endpunkt eines Philosophierens erreicht, das sich in jedem Gedankenschritt begleitet weiß von der unmittelbaren Anschauung unmittelbarer Evidenz, da das cogito die Wurzel aller Evidenz für unser Bewusstsein darstellt. 45 Die Reflexionsqualität vom Anfang der ersten Meditation bis hin zum cogito ist dadurch charakterisiert, dass sie den reflektierten Inhalt der Reflexion im aktuellen Reflexionsprozess selbst unmittelbar mit diesem vereint: Alles, was bis zum Erreichen des cogito als expliziter Einsicht geschieht, findet im Geltungsbereich des cogito statt, ist eine bestimmte, modifizierte, verobjektivierte Erkenntnis des cogito durch das cogito selbst. Das
weiteren gedanklichen Stimmigkeit, die aus dem cogito entlehnt wird bzw. bei der das cogito begleitend dabei ist. 44 In der 3. Meditation verlässt Descartes die Unmittelbarkeit der Selbstevidenz des cogito, indem er beginnt, das cogito vor sich hinzustellen und als Objekt zu behandeln. Er analysiert es, er bestimmt im cogito diverse voneinander unterschiedene cogitationes, wie Urteilen, Vorstellen, Wollen und Denken, er entdeckt im cogito verschiedene ideae, wovon ihn besonders die ideae innatae interessieren, denn unter dieser Klasse bemerkt er die idea innata Gottes, die insofern eine Ausnahme im Verhältnis zu den anderen ideae darstellt, als ihr Sachgehalt größer ist, als der meinige als cogito. Mit Hilfe einer letztlich begriffsrealistischen Verfahrensweise operiert Descartes an dieser Stelle mit dem Begriffspaar der causa formalis und der causa realis und leitet damit mit einer an Anselms Argument erinnernden Konklusion aus der dem cogito immanenten Idee Gottes dessen extramentale, unabhängige und objektive Existenz ab. Da Gott in den Augen Descartes durchaus im klassischen Sinne als ens summum bonum gedacht wird, als bonitas par excellence, der aufgrund seiner wesenhaften Güte zwangsläufig kein Betrüger sein kann, leitet er in einem zweiten Gedankenschritt die Existenz aller anderen Dinge ab, die als imaginationes in unserem Bewusstsein vorkommen und als ausserhalb unsrer selbst vorgestellt werden – mit einem Wort: Aus der wesenhaften Güte Gottes leitet Descartes mehr oder minder die vollständige Gültigkeit von Welt und Wirklichkeit ab, wie sie dem Alltagsbewusstsein in naiver Selbstverständlichkeit vorkommt. Vgl. hierzu AT, VII. 45 AT, VII, Meditationes, II, 3; 18.
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Denken weiß sich in unmittelbarer Identität mit seinem Gedachten, was den Evidenzgehalt dieser Denkbewegung gewährleistet. Dies ändert sich in dem Moment, in dem die unmittelbare Evidenzsphäre des cogito verlassen bzw. überschritten wird: Wir steigen ein in eine Reflexion, die keine unmittelbare Anschauung mehr hat von dem, worüber sie reflektiert, sondern nur eine mittelbare, über Begriffe vermittelte. Fichte nennt dies die künstliche Reflexion. 46 Reflexion und Reflektiertes sind hier different, nicht mehr anschaulich, unmittelbar und evident. Die Reflexionsqualität, die nun einsetzt, kann man somit als Spekulation bezeichnen. Doch wie soll diese methodisch legitimermaßen vollzogen werden? Analytik scheidet aus, denn diese macht das cogito qua Analysis Vgl. hierzu etwa SW, I, 221 f.: »Diese vorhergehende Reihe der Reflexion, und die künftige sind zuvörderst unterschieden ihrem Gegenstande nach. In der bisherigen wurde reflectirt über Denkmöglichkeiten. Die Spontaneität des menschlichen Geistes war es, welche den Gegenstand der Reflexion sowohl – eben jene Denkmöglichkeiten, jedoch nach den Regeln eines erschöpfenden synthetischen Systems – als die Form der Reflexion, die Handlung des Reflectirens selbst, hervorbrachte. Es fand sich, dass das, worüber sie reflectirte, zwar etwas reelles in sich enthielt, das aber mit leerem Zusatz vermischt war, der allmählig abgesondert werden musste, bis das für unsere Absicht, d. i. für die theoretische Wissenschaftslehre, hinlänglich wahre, allein übrig blieb. – In der künftigen Reflexionsreihe wird reflectirt über Facta; der Gegenstand dieser Reflexion ist selbst eine Reflexion; nemlich die Reflexion des menschlichen Geistes über das in ihm nachgewiesene Datum (das freilich bloss als Gegenstand dieser Reflexion des Gemüths über dasselbe ein Datum genannt werden darf, denn ausserdem ist es ein Factum). Mithin wird in der künftigen Reflexionsreihe der Gegenstand der Reflexion nicht erst durch die gleiche Reflexion selbst hervorgebracht, sondern bloss zum Bewusstseyn erhoben. – Es geht daraus zugleich hervor, dass wir es von nun an nicht mehr mit blossen Hypothesen zu thun haben, in denen der wenige wahre Gehalt von dem leeren Zusatze erst geschieden werden muss; sondern dass allem, was von nun an aufgestellt wird, mit völligem Rechte Realität zuzuschreiben sey. – Die Wissenschaftslehre soll seyn eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes. Bis jetzt haben wir gearbeitet, um nur erst einen Eingang in dieselbe zu gewinnen; um nur erst ein unbezweifeltes Factum aufweisen zu können. Wir haben dieses Factum; und von nun an darf unsere, freilich nicht blinde, sondern experimentirende Wahrnehmung, ruhig dem Gange der Begebenheiten nachgehen. Beide Reihen der Reflexion sind verschieden ihrer Richtung nach. – Man abstrahire vorläufig gänzlich von der künstlichen philosophischen Reflexion, und bleibe bloss bei der ursprünglich nothwendigen Reflexion stehen, die der menschliche Geist über jenes Factum anstellen soll (und welche von nun an der Gegenstand einer höheren philosophischen Reflexion seyn wird). Es ist klar, dass derselbe menschliche Geist nach keinen anderen Gesetzen über das gegebene Factum reflectiren könne, als nach denjenigen, nach welchen es gefunden ist; mithin nach denjenigen, nach denen unsere bisherige Reflexion sich gerichtet hat.«
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zu einem dinglichen Faktum, stellt es gleichsam vor sich hin und begibt sich damit in eine das Denkobjekt unendlich zergliedernde Denkbewegung, die jeden Schritt des Zergliederns selbst wieder zergliedert und so immer weiter, ohne jemals einen Endpunkt des Denkens erreichen zu können. Konkludierende Logik scheidet ebenfalls aus, da ihr Verfahren ein syllogistisches ist, das formal korrekte Einheiten diverser Vordersätze herstellt, was angesichts des cogito als fruchtlos und verfehlt angesehen werden muss, da seine spezifische qualitas in der konstitutiven Einheit von materialem Gehalt und formaler Selbstbezüglichkeit besteht. Ebenfalls scheidet Metaphysik aus, da sie eine reflektierende Operation ist, die wesentlich begriffsrealistisch verfährt und damit typische Paralogismen und Begriffshypostasierungen generiert. Alle diese drei genannten Denkformen, Denkmethoden haben ihre Berechtigung und Gültigkeit (abgesehen von metaphysischen Denkweisen, die insgesamt als unhaltbar bezeichnet werden müssen 47) im Bereich des cogito, können nur in diesem Bereich Gültigkeit beanspruchen, weil sie Denkoperationen sind, die sich notwendigerweise immer auf Gegebenes, auf Faktizität beziehen können: Analysierbar und syllogisierbar ist nur ein mir gegenüberstehendes, objektives Material der Reflexion. Und genau diese Beschaffenheit des zu Denkenden wird verlassen, wenn wir die Gültigkeitssphäre des cogito verlassen, was ja jetzt unser expliziter Vorsatz ist. Es bleibt methodisch nur die Möglichkeit übrig, qua Abstraktion die jeweilige Bedingung für X, klassisch gesagt, die Bedingung der Möglichkeit von X zu eruieren, wobei in diesem Fall mit X das cogito gemeint ist. Es ist damit die Eruierung der apriorischen Bedingungen von X, sprich des cogito.48 Der gesamte Bereich der Bedingung von X Vgl. hierzu etwa KGS, B, 370: »Plato bediente sich des Ausdrucks Idee so, daß man wohl sieht, er habe darunter etwas verstanden, was nicht allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, sondern welches sogar die Begriffe des Verstandes, mit denen sich Aristoteles beschäftigte, weit übersteigt, indem in der Erfahrung niemals etwas damit Congruirendes angetroffen wird. Die Ideen sind bei ihm Urbilder der Dinge selbst und nicht bloß Schlüssel zu möglichen Erfahrungen, wie die Kategorien. Nach seiner Meinung flossen sie aus der höchsten Vernunft aus, von da sie der menschlichen zu Theil geworden, die sich aber jetzt nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustande befindet, sondern mit Mühe die alten, jetzt sehr verdunkelten Ideen durch Erinnerung (die Philosophie heißt) zurückrufen muß.« 48 Vgl. hierzu etwa KGS, A 26 ff.: »Der Raum ist nichts anders, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjective Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist. Weil nun die Receptivität des Subjects, 47
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(cogito) muss zwar notwendigerweise postuliert werden, ist aber gerade damit keine unmittelbar evidente Anschauung mehr, sondern wird ausdrücklich in einen gedanklichen Bereich verortet, der, als Bedingung, sich als Gegenstand bzw. Inhalt unserem Bewusstsein, unserem Wissen, Anschauen und Vorstellen kategorisch entzieht. 49 von Gegenständen afficirt zu werden, nothwendiger Weise vor allen Anschauungen dieser Objecte vorhergeht, so läßt sich verstehen, wie die Form aller Erscheinungen vor allen wirklichen Wahrnehmungen, mithin a priori im Gemüthe gegeben sein könne, und wie sie als eine reine Anschauung, in der alle Gegenstände bestimmt werden müssen, Principien der Verhältnisse derselben vor aller Erfahrung enthalten könne. Wir können demnach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von ausgedehnten Wesen etc. reden. Gehen wir von der subjectiven Bedingung ab, unter welcher wir allein äußere Anschauung bekommen können, so wie wir nämlich von den Gegenständen afficirt werden mögen, so bedeutet die Vorstellung vom Raume gar nichts. Dieses Prädicat wird den Dingen nur in so fern beigelegt, als sie uns erscheinen, d. i. Gegenstände der Sinnlichkeit sind. Die beständige Form dieser Receptivität, welche wir Sinnlichkeit nennen, ist eine nothwendige Bedingung aller Verhältnisse, darin Gegenstände als außer uns angeschauet werden, und wenn man von diesen Gegenständen abstrahirt, eine reine Anschauung, welche den Namen Raum führt. Weil wir die besonderen Bedingungen der Sinnlichkeit nicht zu Bedingungen der Möglichkeit der Sachen, sondern nur ihrer Erscheinungen machen können, so können wir wohl sagen, daß der Raum alle Dinge befasse, die uns äußerlich erscheinen mögen, aber nicht alle Dinge an sich selbst, sie mögen nun angeschaut werden oder nicht, oder auch von welchem Subject man wolle. Denn wir können von den Anschauungen anderer denkenden Wesen gar nicht urtheilen, ob sie an die nämlichen Bedingungen gebunden seien, welche unsere Anschauung einschränken und für uns allgemein gültig sind. Wenn wir die Einschränkung eines Urtheils zum Begriff des Subjects hinzufügen, so gilt das Urtheil alsdann unbedingt. Der Satz: Alle Dinge sind neben einander im Raum, gilt nur unter der Einschränkung, wenn diese Dinge als Gegenstände unserer sinnlichen Anschauung genommen werden. Füge ich hier die Bedingung zum Begriffe und sage: Alle Dinge als äußere Erscheinungen sind neben einander im Raum, so gilt diese Regel allgemein und ohne Einschränkung. Unsere Erörterungen lehren demnach die Realität (d. i. die objective Gültigkeit) des Raumes in Ansehung alles dessen, was äußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealität des Raums in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d. i. ohne Rücksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen. Wir behaupten also die empirische Realität des Raumes (in Ansehung aller möglichen äußeren Erfahrung), obzwar zugleich die transscendentale Idealität desselben, d. i. daß er Nichts sei, so bald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen.« 49 Zum Begriff des transzendentalen Postulats vgl. etwa SW, X, 256 f.: »Ein Soll ist in seinem innersten Wesen selber Genesis, und fordert eine Genesis. Ist leicht eingesehen, sagen Sie; soll das und das sein: ist es denn, oder ist es nicht? Darüber sagt Ihr Soll Nichts. Was daher sagt es? Es sucht ein Princip: es erklärt daher kategorisch, das Sein nur unter Bedingung eines Princips gelten zu lassen, also nur genetisches Sein =
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Soviel zu diesen prinzipiellen, denkmethodischen Vorüberlegungen, die das potentielle Wie eines Weiterdenkens über das cogito hinaus betreffen. Die Frage aber ist noch nicht geklärt, warum man der Genesis des Seins gelten zu lassen. Es ist so absolutes Postulat der Genesis; und da Jeder, dem der transscendentale Sinn aufgegangen ist, wohl keine Genesis an und für sich selber ausser diesem ihrem Postulate wird gelten lassen, selber unmittelbar absolute Genesis, und erst mittelbar, nach einem Gesetze, das wir noch aufzuzeigen haben werden, Genesis der subjektiven Genesis. – Oder zur Verstärkung noch dies: Es ist Postulat oder Genesis, sagte ich. Nun ist unmittelbar klar, daß Soll ein Postulat ist, und daß ein Postulat eine wenigstens ideale Genesis ist, und ohne diese als solches durchaus unverständlich ist, sonach wäre der Beisatz »der Genesis« ganz und gar müssig. Nun ist sichtbar, daß in unserm problematischen Soll eine Genesis des Seins gefordert wird, welche, als des Seins, das bloße problematische Soll nicht herbeiführen zu können, sich bescheidet, sondern sie erwartet von einem Princip ausser sich; die Forderung jedoch, als selbst Genesis (ideale, wie wir sie genannt haben, um sie mit diesem halb und halb deutlichen Worte nur vorläufig zu bezeichnen), liegt im Soll, und das Soll ist sie. Es dürfte daher wohl eine Disjunktion und absolute Genesis selber geben, wodurch sie reale und ideale würde; und diese ganze Disjunktion, deren Fundament zu finden, wohl unsere bedeutendste Aufgabe sein dürfte, durch deren Lösung diese Wörter, deren wir uns bisher doch nur vorläufig und nach einem dunkeln Instinkte, in Hoffnung einer einstigen Erklärung bedient haben, selbst klar würden […].« Vgl. hierzu auch weitergehend SW, VIII, 118 ff.: »Es ist nöthig, – auch um ein anderes, das von Unverständigen oft auch für Schwärmerei gehalten wird, von ihr kräftig zu unterscheiden, – dass wir diesen letzteren Gedanken sorgfältiger auseinandersetzen. Entweder die sinnliche Begier, der Trieb der persönlichen Selbsterhaltung und des natürlichen Wohlseyns, ist die einzige Triebfeder des Denkens sowohl, als des Handelns des Menschen: – so steht das Denken lediglich im Dienste der Begier, und ist nur dazu da, um die Mittel zur Befriedigung jener sich zu merken und sich zu wählen; oder, der Gedanke ist durch sich selber und aus eigener Kraft lebendig und thätig. Auf den ersten Zustand gründete sich die ganze, bisher sattsam von uns beschriebene Weisheit des dritten Zeitalters, – und hiervon reden wir hier nicht weiter. Bei dem zweiten giebt es wiederum zwei oder, wenn man anders zählt, drei Fälle. Entweder nemlich ist der durch sich selber lebendige und thätige Gedanke denn doch nur die sinnliche Individualität des Menschen, bloss im Gedanken sich darstellend; demnach immer eine nur verdeckte und nicht dafür erkannte sinnliche Lust, – und dann ist er die Schwärmerei: oder er ist der, ohne alle Begründung in der Sinnlichkeit rein aus sich selber quellende Gedanke, der nie auf die einzelne Person geht, sondern immer die Gattung umfasst, und den wir in unserer zweiten, dritten und vierten Rede sattsam beschrieben haben: die Idee. Ist er die Idee, so kann er sich wiederum, wie gleichfalls oben auseinandergesetzt worden, auf zweierlei Weise äussern: entweder in einer seiner ursprünglichen Zerspaltungen, die da oben angeführt wurden; und sodann treibt er unmittelbar zum Handeln, strömt aus in das persönliche Leben des Menschen, vernichtend alle seine sinnlichen Triebe und Begierden; und der Mensch ist Künstler, Held, Wissenschaftlicher, oder Religioser: oder derselbe reine Gedanke kann sich äussern in seiner absoluten Einheit; so wird er klar eingesehen, und ist der Eine, in sich selbst klare und durchsichtige Gedanke der Vernunftwissenschaft, der an und
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trotz des erreichten Archimedischen Punktes des cogito über dasselbe hinausgehen soll. Das cogito ist Subjekt und Objekt, Denkendes und Gedachtes, Findendes und Gefundenes in eins. Daraus gewinnt es seinen Charakter der Selbstevidenz und ist damit der von Descartes gesuchte Punkt erster, absoluter Gewissheit. 50 Als unmittelbar Gefundenes ist für sich zu keinem Handeln in der Sinnenwelt treibt, sondern lediglich ein freies Handeln in der Welt des reinen Gedankens, oder die wahre und ächte Speculation ist. Im Gegensatze gegen das Leben in den Ideen wird die Schwärmerei nicht unmittelbar handeln, sondern, dass zufolge derselben gehandelt werde, dazu bedarf es noch eines besonderen Willensentschlusses, bestimmt durch die Lust; die Schwärmerei bleibt sonach für sich Speculation; ferner geht sie nicht auf die Gattung als solche, sondern auf die Person, weil sie lediglich von der Person ausgeht, und auf dasjenige, worin das Leben der Person ruht, auf die sinnliche Natur, und wird darum nothwendig Naturspeculation. Das Leben in den Ideen sonach, was der rohsinnliche Mensch wohl auch Schwärmerei zu nennen sich untersteht, ist von der Schwärmerei sehr scharf geschieden. Von der Vernunftwissenschaft aber, als der ächten Speculation, ist die Schwärmerei schon in einem obigen Absatze der heutigen Rede sattsam unterschieden worden. Um in Beziehung auf Naturphilosophie die ächte Speculation von der falschen, der Schwärmerei, unterscheiden zu können, muss man selber im Besitze der ersteren, oder der Vernunftwissenschaft seyn; und dies ist keinesweges die Sache des ungelehrten Publicums.« 50 Vgl. hierzu v. a. AT, VII, Meditationes, II. Auch wenn mein (im Vollzug begriffenes) Denken (cogito) jeden bestimmten Denkinhalt (etwa 2 + 3 = 5 etc.) als von ihm selbst different Gedachtes (cogitatum) mit Recht bezweifeln kann, so ist es doch prinzipiell unmöglich, das Denken als solches im Sinne des reinen Denkaktes selbst (cogitatio) durch ebendiesen Denkakt just im Augenblick seines Selbstvollzugs in Zweifel zu ziehen. Rein auf sich selbst bezogen findet das Denken unmittelbar in, durch und als sich selbst im Modus der Selbstevidenz statt: Im momentanen Akt des Zweifelns kann ich nicht, ohne unmittelbar einsichtig einen performativen Selbstwiderspruch zu begehen, dieses mein Zweifeln bezweifeln. Ich kann nicht durch das Denken im Moment des vollzogenen Denkaktes das Denken als Denken bestreiten, da dies ja selbst eine Art des Denkens ist und ich damit eben exakt dasjenige (inhaltlich) leugne, was ich gerade in diesem Augenblick (in der Form des Denkens selbst) vollziehe – nämlich Denken. Was bedeutet das genauerhin? Denken und Gedachtes, Form und Inhalt, Subjekt und Objekt, Vollzug und Vollzogenes usw. fallen im Moment der diesbezüglichen Bewusstwerdung (pensitatio) als Denken des Denkens – das immer das meinige ist – schlechthin zusammen und bilden dergestalt ein unauflösliches Verhältnis zueinander. Somit bildet für mein Denken (cogito) die denkende Reflexion auf sich selbst eine absolute gedankliche Einheit (cogitatio) – eine Einsicht, die, sooft sie als Gedanke konzipiert wird, die Notwendigkeit ihrer Wahrheit (veritas necessaria) bei sich selbst trägt: Denken in seiner reinen Selbstbezüglichkeit ist sich selbst in jeder Hinsicht absolut. Der unmittelbare Vollzug des Denkens in seiner reflexiven Form – hier im Modus des Zweifels – ist im Moment seiner Aktualität absolute und unumstößliche Gewissheit. Zwar kann ich mühelos und mit prinzipiellem Recht bezweifeln, ob die Sonne in der Tat so groß ist, wie sie mir die Sinnlichkeit vergegenwärtigt oder ob 2 + 3 = 5, sofern die Gesetze der Logik selbst noch nicht legitimiert sind und
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das cogito eine zunächst unproblematische Tatsache, die erste Gewissheit und unhintergehbare Selbstevidenz verbürgt. Ich kann es zunächst bei diesem Befund bewenden und mit unbenommenem Recht die selbstevidente qualitas des cogito in dieser Form stehen lassen. Sobald ich jedoch eine künstliche Reflexion hierauf anstrenge (was ich als Philosoph um der idealiter restlosen Auflösung jedes reflektierbaren sprich analysierbaren Stoffes bzw. jeder Tatsächlichkeit willen im Sinne der vernünftigen Selbstaufklärung allerdings zu tun angehalten bin, womit Philosophie im engeren Sinne zu beginnen anfängt 51) und von der Einheit des gefundenen cogito als Gefundeein potentieller Deus malignus mich hierbei eventuell täuscht – aber dass ich zweifle, ist, solange ich zweifle und damit gleichermaßen denke, schlechthin unbezweifelbar: Die Faktizität des Denkaktes wird in der Unmittelbarkeit seiner Bewusstwerdung unbedingte Gewissheit dieses Denkaktes und damit meiner selbst als Denkendem. Somit ist die unumstößliche Gewissheit des cogito in ihrer unhintergehbaren Selbstevidenz der gesuchte archimedische Punkt, der damit identisch ist mit mir selbst bzw. meiner Existenz: Mein Dasein in seiner Realität wird – gleichermaßen wie die erste theoretische Gewissheit des Denkens – vom cogito her konstituiert wie garantiert. 51 Vgl. hierzu Fichtes Überlegungen zum Thema Reflexibilität, das die philosophische Aufgabe solange als unabgeschlossen betrachtet, als es noch Reflektier- und Analysierbares im philosophischen Gedankengang gibt, SW, X, 377 f.: »Wir werden darum sagen: die Erscheinung reflektirt sich. Die Bedingung kennen wir: sie muß sich erscheinen in einem faktischen Gesichte, als Princip und Wesen. Dieses, als zu Stande gekommen durch das absolute Gesetz, wird dabei vorausgesetzt. Sie reflektirt sich, wenn nämlich überhaupt reflektirt wird. Wird reflektirt? Kann ich dies aus den Gesetze sagen? Nein: also es kann reflektirt werden! Die Erscheinung ist eingesehen worden als unter einer gewissen Bedingung, daß sie nämlich in einem faktischen Gesichte als Princip sich erscheine; – über deren Bewahrheitung wir Geduld haben müssen. – Bemerken Sie die ganze Veränderung unseres Räsonnements – in sich führend absolute Reflexibilität (nicht Reflexion): und ist dadurch realiter bestimmt worden durch ein ganz neues Merkmal. Dadurch hat sich nun unsere ganze Ansicht der Erscheinung geschieden in zwei Haupttheile und unsere Untersuchung in zwei Fragen: 1) Was folgt in ihr aus dem absoluten Gesetze? 2) Was kann in ihr folgen aus der freien Reflexion? Daß beides zusammenhängt, indem die Reflexion das nach dem Gesetze zu Stande Gekommene, als das in ihr abzubildende Wesen voraussetzt, ist klar. – Aber es könnte wohl noch eine dritte Frage geben. Setzen wir voraus, daß das Absolute als solches, und so die Erscheinung als solche erscheinen solle; so gehört die Reflexibilität, ohne welche jenes nicht möglich ist, durchaus selbst zum ursprünglichen Sein und Wesen der Erscheinung; und die Erscheinung als solche ist nicht ohne sie. Was aus dem Wesensgesetze folgt, ist daher durch die Reflexibilität, da sie das Wesen der Erscheinung umfaßt, bestimmt. Alles, was die Erscheinung ist, muß reflexibel sein. Ferner ist dadurch auch die Freiheit bestimmt: sie soll reflektiren. – Setzen wir darum die Frage ganz einfach: was folgt aus der Reflexibilität, als Wesensgesetz; wo diese Folge eine nothwendige ist; und als Freiheitsgesetz; wo die Folge eine bloß mögliche wäre: so haben wir Beides vereinigt, und die Aufgabe vereinfacht.«
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nem abstrahiere und mir auf diesem Wege das cogito als gefundene Tatsache gedanklich eigens vergegenwärtige, bemerke ich recht schnell in der abstrahierenden Reflexion einige Unstimmigkeiten. Das erste und gewichtigste Problem an dieser Stelle ist folgendes: Wie kann Subjekt und Objekt, Denkendes und Gedachtes, Findendes und Gefundenes – logisch also entgegengesetzte, sich ausschließende Begriffe – als Einheit verstanden werden? Daß sie als Einheit verstanden bzw. gefunden werden und gerade darin ihre Selbstevidenz liegt, verleiht dem cogito den Status einer Faktizität. Dies wirft jedoch weit mehr Fragen auf, als es Lösungen bietet. 52 Das cogito ist zwar der Punkt unumstößlicher Gewissheit, steht aber als gefundene Tatsache in Widerspruch zu mir als erkennendem Denken. Als cogito bin ich so gesehen ein selbstwidersprüchliches Doppelwesen, Findendes und Gefundenes, Erkennendes und Erkanntes, Subjekt und Objekt, aktiv und passiv zugleich, eine Tatsache, die sich selbst einsieht usw. Ich wiederhole mich: Diese Konstellation macht den selbstevidenten Charakter des cogito aus, erzeugt und verVgl. hierzu Fichtes programmatische Vorgehensweise, die danach trachtet, jede Tatsache in eine, wie er es nennt, Tathandlung zu überführen, was der gedanklichen Operation einer Genesis entspricht, wie er dies etwa SW, X, 194 ausführt: »Dieser Idealismus ist, als an sich gültig, widerlegt: obwohl er, als Erscheinung, und wahrscheinlich als Urgrund aller Erscheinung wieder Dasein erhalten dürfte, was wir abzuwarten haben: – widerlegt aus dem Grunde, weil er faktisch ist, und eine höhere Genesis auf seinen Ursprung deutet. Faktisch nennt man eine Thatsache, und da hier vom Bewußtsein die Rede ist, wäre diese Thatsache eine Thatsache des Bewußtseins; oder es strenger ausgedrückt: nach diesem idealistischen Systeme, wäre das Bewußtsein selber Thatsache, und da das Bewußtsein ihm das Absolute ist, das Absolute wäre Thatsache. Nun hat die W.-L., von dem ersten Augenblicke ihrer Entstehung an, erklärt, daß es das [proton pseudos] der bisherigen Systeme sei, von Thatsachen auszugehen, und in diese das Absolute zu setzen: sie lege zu Grunde, hat sie bezeugt, eine Thathandlung, was ich in diesen Vorträgen mit dem griechischen Worte, dergleichen oft williger richtig verstanden werden, als die deutschen, Genesis benannt habe. Sonach ist die W.-L. von ihrer ersten Entstehung an über den beschriebenen Idealismus hinausgewesen. Sie hat dieses noch auf andere, eben so unzweideutige Weise gezeigt: besonders an ihrem Grundpunkte, dem Ich. Sie hat nie zugegeben, daß dieses als gefunden und wahrgenommen, ihr Princip sei, – als gefunden, ist es nie reines Ich, sondern nur die individuelle Person eines Jeden, und wer da meint, es als rein gefunden zu haben, der befindet sich in einer psychologischen Täuschung, dergleichen man uns aus Unkunde des wahren Princips der W.-L. auch vorgeworfen hat. – Sodann hat die W.-L. stets bezeugt, daß nur als erzeugt sie das Ich für rein anerkenne, und es an die Spitze ihrer Deduktion, nicht etwa ihrer selbst, als Wissenschaft, stelle, indem ja doch da die Erzeugung höher liegen wird, als das Erzeugte. Diese Erzeugung eben des Ich, und mit ihm des ganzen Bewußtseins, ist jetzt unsere Aufgabe.«
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bürgt denselben, bedarf aber philosophisch einer weiteren Klärung, denn die beiden Momente, die sich im cogito vereinen, schließen sich gegenseitig aus, was damit zugleich bedeutet, daß Selbstevidenz philosophisch gesehen unverständlich ist, obwohl alle Philosophie, ja alles Wissen und alle Geltung darauf basiert – dass damit Philosophie auf dieser Reflexionsstufe sich selbst unverständlich ist. Denn ein philosophisches Problem ist solange unabgeschlossen, als es noch weiter analysier- und reflektierbar ist 53 (d. h., solange noch Faktizität übrig ist); erst wenn der Gegenstand, über den reflektiert wird, vollständig aufgelöst ist in eine genetische Rekonstruktion, kann das philosophische Problem als erschöpft behandelt und als verstanden angesehen werden 54 – und das cogito ist als solches noch weitgehend Zur Klarstellung: Die an dieser Stelle gemeinte Analysis bzw. Analysierbarkeit des cogito als Faktizität ist nicht misszuverstehen als Analyse im empirischen bzw. herkömmlichen Sinne. Analysis als spezifische Vollzugsform von Reflexion ist ein spezifisches transzendentales, methodisches Verfahren, das folgendermaßen verstanden werden muss: Das Denken, das Verstandesdenken, kann nicht anders verfahren, als zu reflektieren, wobei reflektieren analysieren bedeutet. Will ich eine Faktizität gedanklich durchdringen, sprich sie verstehen, gelingt dies in einzig erschöpfender, gültigen Form durch das Aufzeigen, wie es zu dieser Tatsache gekommen ist, unter welchen konstitutiven Bedingungen sie steht, also durch Aufzeigen ihrer Genesis. Da jedoch alles, was gedanklich den Horizont der Faktizität einer Tatsache verlässt Spekulation in dem Sinne ist, dass das Denken ab dieser Stelle nur noch künstlich konstruieren kann, was aber nicht als Konstruktion im eigentlichen Sinne gemeint ist, sondern als Rekonstruktion der Bedingungsverhältnisse dieser in Frage stehenden Tatsache. Die transzendentale Reflexion ist der Sache nach Analyse, die aber faktisch in ihrem Vollzug auftritt als Konstruktion, die aber ihrerseits nicht als Konstruktion, sondern vielmehr als Rekonstruktion gemeint ist. Das einzige Regulativ, das dem Denken zur Bestimmung seiner Gültigkeit hierbei zur Verfügung steht, ist die Übereinstimmung der Ergebnisse der Reflexion/Analyse/Konstruktion/Rekonstruktion mit der faktischen Charakteristik der Tatsache. Somit ist die transzendentale Denkmethode immer in sich selbst wechselseitig verschränkt bzw. in jedem Augenblick konstituiert in den beiden gegenläufigen Verfahrenstechniken von Konstruktion und Rekonstruktion im Sinne der analysierenden Reflexion. 54 Vgl. hierzu SW, I, 218 f., besonders die methodisch zu verstehenden Schlussbemerkungen: »Der an die Spitze der gesammten theoretischen Wissenschaftslehre gestellte Satz: das Ich setzt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich – ist vollkommen erschöpft, und alle Widersprüche, die in demselben lagen, gehoben. Das Ich kann sich nicht anders setzen, als, dass es durch das Nicht-Ich bestimmt sey (kein Object, kein Subject). Insofern setzt es sich als bestimmt. Zugleich setzt es sich auch als bestimmend; weil das begrenzende im Nicht-Ich sein eigenes Product ist (kein Subject, kein Object). – Nicht nur die geforderte Wechselwirkung ist möglich, sondern auch das, was durch das aufgestellte Postulat gefordert wird, ist ohne eine solche Wechselwirkung gar nicht denkbar. Das, was vorher bloss problematisch galt, hat jetzt apodiktische 53
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reflektier- und analysierbar, d. h. in seinen Konstitutions- und Ermöglichungsbedingungen weitgehend unverstanden, weswegen diese weitere Aufklärung des cogito an dieser Stelle eine philosophische Aufgabe darstellt. Wollen wir also versuchen, qua Abstraktion den Einheitspunkt des cogito als Synthesis von Subjekt und Objekt, Findendem und Gefundenem, Denkendem und Gedachten zu bestimmen, oder anders: Wollen wir versuchen, die Faktizität des cogito so weit durch die künstliche, abstrahierende und analysierende Reflexion aufzulösen, bis sich eine idealiter vollständige Rekonstruktion ihrer Ermöglichungsbedingungen im Sinne einer Genesis des cogito eingestellt hat. Dass dies hier nicht vollständig durchgeführt werden kann, versteht sich von selbst; aber es soll zumindest der Plan und das Programm entworfen werden, wie ein solches philosophisches Verfahren und Vorgehen stattfinden müsste, wovon das folgende eine skizzenhafte, unvollständige Probe abgeben soll. Da das cogito seiner Gefunden- bzw. Erkanntheit gemäß selbst kein Begriff, sondern vielmehr Vollzug, Praxis und (Selbst-)Anschauung, Selbstvollzug und Selbstanschauung des Denkens als Denkens ist, vom bzw. für den Philosophen zwar notwendigerweise immer nur im Modus der Reflexion und damit als Begriff habbar, ist es gerade in dieser Vollzugsweise der Reflexion ein verstandesmäßiger Begriff (und damit eine rationale Transformation) einer unmittelbaren Anschauung, weswegen man es im eigentlichen und ursprünglichen Sinne als Realität bezeichnen kann. 55 Demzufolge wird das Gewissheit. – Dadurch ist denn zugleich erwiesen, dass der theoretische Theil der Wissenschaftslehre vollkommen beschlossen ist; denn jede Wissenschaft ist beschlossen, deren Grundsatz erschöpft ist; der Grundsatz aber ist erschöpft, wenn man im Gange der Untersuchung auf denselben zurückkommt.« 55 Realität im vehementen Sinne hat das cogito vorzüglich aus demjenigen Grund, weil es eine unmittelbare Anschauung, eine unmittelbare Selbstanschauung des Denkens bzw. des Geistes ist, die ihre unverbrüchliche Evidenz in und mit sich selbst trägt: Selbstevidenz. Das cogito ist die Position schlechthinniger Geltung bzw. Gültigkeit, von der in keinem denkbaren Fall beliebiger Gültigkeit abstrahiert werden kann. Das cogito als cogito ist kein Begriff (auch wenn die Philosophie, will er gedanklich mit dem cogito arbeiten, es durch die Reflexion in einen Begriff transformieren muss), sondern die unmittelbare geistige Anschauung reiner Evidenz, die durch die bloße Selbstbezüglichkeit des Denkens in dieser Form aufscheint. Eine größere, stärkere oder validere Form von Realität als die Selbstevidenz der Identität von Denkendem und Gedachtem usw. ist für das Wissen bzw. Bewusstsein nicht denkbar, weswegen auf Wissensebene das cogito als Urform, als ursprüngliche Wurzel und Inbegriff aller Realität bezeichnet werden kann.
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gesuchte Abstraktionsprodukt selbst zwar nicht angeschaut werden können (da es bereits die Sphäre der unmittelbaren Anschauung und Evidenz des cogito verlassen hat und in dem Bereich des Apriorischen, Bedingenden und damit für unser Bewusstsein Mittelbaren, Unanschaulichen zu verorten ist) sondern nur ein Erschlossenes bzw. Postuliertes sein können 56, das aber selbst weniger das Gepräge eines Begriffs, denn dasjenige einer Realität hat. Für den Philosophen und Die zu postulierende Bedingung des cogito ist, wie in Kürze ausgeführt werden wird, als ein Wechsel, ein ursprüngliches, immer actu oszillierendes Wechseln zu bestimmen. Falls man sagen möchte, das Wechseln selbst als ursprüngliche Realität auf der dem Bewusstsein nicht mehr zugänglichen, anschaulichen Ebene sei seinem philosophischen Status nach ein Postulat – was man recht verstanden legitimermaßen tun kann –, so müsste man dieses Postulat etwa in folgender Weise bestimmen: Als Ermöglichungsbedingung des gesamten Wechsels in toto kommt dem ursprünglichen Wechseln selbst der Qualität und der Quantität nach die identische Realität zu, wie sie den Wechselgliedern, also der Empirie samt deren Konstitutionsprinzipien des Apriorischen und Aposteriorischen, zukommt; lediglich in modaler Hinsicht ist die Realität hierbei unterschieden, nämlich in ursprüngliche, d. h. non-erscheinende und in genetisierte, d. h. erscheinende. Ein transzendentales Postulat dieser Art ist damit etwas anderes, gewissermaßen »mehr«, als ein Postulat, das man zur Aufrechterhaltung eines Funktionszusammenhanges aufstellt, wie dies etwa bei den mathematischen Axiomen u. ä. der Fall ist. Die Empirie ist ja kein Funktionszusammenhang, kein Begriff bzw. kein Begriffs-Produkt, sondern eine Tatsache, qua Vorstellung eine Tatsache des Bewusstseins. Dieser Tatsache kommt [zwar immer nur durch mich, aber das spielt hier keine Rolle] unverfügbare Realität zu, sie ist für mich und meine Vorstellungen begleitet mit dem Gefühl der Notwendigkeit, des Zwangs, der Zwangsläufigkeit. Da diese Tatsächlichkeit des Empirischen bzw. der Vorstellung von Empirischen aus oben ausgeführten Gründen als Wechsel verstanden werden muss, dem ein ursprüngliches Wechseln als Genetisierungsprinzip zu Grunde liegt, das ich zwar nie fixieren, erkennen, begreifen usw. kann, aber doch notwendig voraussetzen, also postulieren muss, muss diesem Postulat dieselbe Realität zukommen, wie der faktischen Empirie. Somit kann vielleicht verständlich werden, was Fichte damit meint, wenn er so oft davon spricht, dass jede Tatsache in eine Tathandlung zurückgeführt werden muss. Die Tatsache hierbei ist die Empirie, der Wechsel, der Wechsel der Empirie, der Realität ist; die Tathandlung dabei wäre das Postulat des ursprünglichen Wechselns, die Aktivität des Oszillierens, das Genetisierungsprinzip, dem dieselbe Realität zukommt, nur modal different. So kann man sagen, dass in dieser Konstellation ursprüngliches Wechseln, Postulat, Genetisierungsprinzip dasselbe ist wie Wechsel, Empirie, Tatsache, und zwar unter dem nur modal differenten Aspekt der Realität: hier das, was im Bild abgebildet wird [»Erscheinendes«], dort das Bild [»Erscheinung«]. Das transzendentale Postulat ist damit Postulat nur für das Denken, die philosophische Konstruktion, die verstehende Reflexion; anders kann es zwar logischerweise im Denken und Philosophieren niemals vorkommen, gemeint ist aber eine qualitas sui generis, die zwar niemals Gegenstand des Bewusstseins sein kann, aber wenigstens als qualitas aufscheint in einer echten unmittelbaren Evidenz.
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die philosophische Reflexion hat es allerdings notwendigerweise – zumindest zunächst – den Status eines Begriffs. Es gibt nun an dieser Stelle eine gewisse Bandbreite an Möglichkeiten, die für das cogito konstitutiven Momente von Subjekt-Objekt, Denken-Gedachtes und Finden-Gefundenes zu synthetisieren bzw. deren Bedingung zu eruieren; ich will den für meine Absicht voraussichtlich kürzesten und einfachsten Weg einschlagen. Diese genannten Momente werden vorgestellt als Korrelativa, als Wechsel, als Glieder eines ursprünglichen Wechsels, die sich gegen- und wechselseitig bedingen, deren Voraussetzung damit relationslose Bedingung bzw. ein ursprüngliches, sich actu vollziehendes Wechseln schlechthin ist, das seinerseits notwendigerweise als Einheit oder Eines gedacht werden muss, wohlgemerkt auf Postulatsebene gesagt. Als Bedingung für Bedingtes kann diese Einheit wiederum nur verstanden werden als Wirksamkeit, Effizienz, eben als Oszillieren und Wechseln. Man kann dies das Fichte’sche Ich nennen, das Absolute oder was auch immer: Entscheidend dabei ist weniger der Name, denn der Umstand, dass dieser nicht weiter hintergehbare, letzte Punkt in einem System der Vernunft das Gepräge des Praktischen hat: Es ist das in der Sphäre der Vernunft – und d. h. aller Realität – selbst unbedingte, alles weitere schlechthin Bedingende und damit Tätige, Effizierende: die Tätigkeit, Aktivität des oszillierenden Wechselns. Es ist schwer möglich, dieses Bedingende noch über seine praktische Funktion hinaus zu fassen, höchstens vielleicht dahingehend, daß es im eigentlichen Sinne Prinzip ist, ein Prinzip, das das Denken in abstrahierender Denkbewegung in der Eruierung der Bedingung der Möglichkeit von X als notwendiges Postulat aufstellt. Mehr scheint in dieser Hinsicht schwerlich möglich – aber auch nicht nötig, denn dies reicht aus, um die Aufgabe der Letztbegründung weiterzudenken, denn dieses Problem ist bis jetzt der Sache nach nicht berührt. Was wir haben, ist das cogito als selbstevidenter Archimedischer Punkt des Denkens bzw. Erkennens und die letzte Bedingung desselben im Sinne eines unbedingten und praktisch-tätigen, postulierten Prinzips als ständig tätiges Wechseln. Damit ist gleichsam der Gültigkeitshorizont für Letztbegründung aufgestellt, also der Bereich der Vernunft, aber Letztbegründung hängt spezifisch an der Geltungsfrage, die in diesem Rahmen lokalisiert, aber mit den bisherigen Überlegungen noch nicht bestimmt ist. Gehen wir an dieser Stelle wieder zurück zum cogito. Neben 175 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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seinem Charakter als selbstevidentem Archimedischen Punkt, der auf ein schlechthin unbedingtes, alles andere bedingendes Prinzip hin transparent ist, ist noch ein Aspekt am cogito von weiterführendem Interesse: Das cogito selbst ist (außer seiner schlechthinnigen aber unbestimmten, in Form und Materie des Denkvollzugs selbst zusammenfallende Selbstevidenz) nicht im Besitz von bestimmter materialer, applizierter Geltung bzw. Gültigkeit, vielmehr erhebt es im Denken lediglich Anspruch hierauf. Jeder bestimmte gültige Satz, jede bestimmte gültige Erkenntnis ist somit genau dann gültig, wenn es in zumindest logisch korrekter Form vom cogito her entwickelt bzw. auf dasselbe zurückgeführt wurde. Allerdings, und dies scheint mir hierbei entscheidend zu sein, kann das cogito diese seine spezifisch gültigkeitsbegründende Funktion nur dadurch wahrnehmen, daß es sich selbst dem unbedingt bedingendem postulierten Prinzip verdankt, das als sein eigener Garant von Gültigkeit fungiert: Würde dieses (auf Postulatsebene) nicht die Einheit von Subjekt und Objekt usw. (der Wechselglieder) als Bedingendes (ursprüngliches Wechseln) stiften, würde das cogito gleichsam in diese beiden differenten Aspekte, in seine Wechselglieder zerfallen, und seine Selbstevidenz wäre unwiederbringlich zerstört. Wenn also damit das cogito als Archimedischer Punkt für die Reflexion, das Verstandesdenken die notwendige und unabdingbare Referenz (Bedingung) sein muss, das cogito selbst aber in seiner eigenen Gültigkeit bedingt ist durch das genannte Prinzip – so wird das cogito zwar zu formaler Korrektheit von Sätzen führen können, jedoch nur in Verbindung mit seinem Prinzip zur eigentlichen, material bestimmten Gültigkeitsqualität beliebiger Sätze, die nicht mit dem cogito als cogito identisch sind. Bestimmte, materiale Gültigkeit wird nämlich nur dadurch erreicht, dass, vermittelt über die Selbstevidenz des cogito, das unbedingt bedingende Prinzip als Postulat der Reflexion von uns anerkannt wird. Ein Urteil kann nur dann Gültigkeit beanspruchen, wenn Gültigkeit, Evidenz anerkannt wird. Wie ist das zu verstehen? Ein Urteil gilt, vereinfacht gesagt, wenn die Aussage mit dem Beurteilten übereinstimmt, was dann der Fall ist, wenn die als gültig behauptete Relation von Urteil und Beurteiltem als evident erscheint, was nur durch die begleitende Anschauungsqualität des cogito als Selbstevidenz möglich ist. Dieses Evidenzgefühl des Bewusstseins finde ich als mir zunächst unableitbare Faktizität vor, ein Befund, der aufgrund seiner unmittelbaren Unverständlichkeit danach verlangt (zumindest im Feld der Philosophie), verständnis176 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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mäßig eingeholt zu werden. Die Gültigkeit eines Urteils wird realisiert, wenn die Relation von Urteil und Beurteiltem als evident erscheint. Evidenz wird aber erst dann valide, wenn das, was als evident erscheint, auch als evident anerkannt wird, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen stellt sich Evidenz und Gültigkeit in meinem Bewusstsein dann ein, wenn ich aus Achtung vor dem Ideal von Wahrheit und Geltung dieselbe sowohl prinzipiell und unabhängig von einem bestimmten Fall konkret möglicher Evidenz wie auch im Fall material bestimmter Geltung als positiv und sein-sollend bewerte. Diese Anerkennung findet auf persönlicher, individueller Ebene statt und ist so gesehen zunächst willkürlich. Reflektiere ich aber auf die Bedingung dieser willkürlichen Anerkennung, so wird mir klar, dass diese Anerkennung nur deswegen möglich ist und als Evidenzgefühl im Bewusstsein erscheint, weil »ich« auf überindividueller, apriorischer Ebene Evidenz, Wissen, Geltung als Wert anerkannt haben muss. Die Ermöglichungsbedingung eines Evidenzgefühls liegt damit an der apriorischen Anerkennung von apriori geforderter und als positiv bewerteter Geltung: Ein Evidenzgefühl kann mir immer nur dann im Bewusstsein erscheinen, wenn ich Geltung überhaupt als seien-sollende immer schon anerkannt habe, was als auf praktisch-apriorischer Ebene, prädeliberativ und präreflexiv stattfindend postuliert werden muss. Dass ich apriorisch Geltung schlechthin als Wert gesetzt habe, kann ich nicht als begründet oder notwendig verstehen, sondern so betrachtet als unableitbar und bloß vorfindbar. Dieses a priori auf dem Weg von prinzipieller Anerkennung genetisierte Evidenzgefühl, in dem ich mich auf empirischer Ebene in entsprechenden Fällen faktisch vorfinde, muss ich aber zum anderen auf dieser empirisch-faktischen Ebene, deliberativ und reflexiv, ebenfalls anerkennen, um überhaupt erst ein Urteil mit Geltungsanspruch bilden zu können. Es ist in dieser Hinsicht grundsätzlich jederzeit möglich, das eigene Evidenzgefühl zu leugnen und ihm die Anerkennung zu verweigern. Somit lässt sich sagen, dass anlässlich einer letztlich willkürlichen Anerkennung von Evidenz und Geltung auf individueller, aposteriorischer Ebene die Sphäre von apriorischer Anerkennung von Evidenz und Geltung als Wert schlechthin postuliert werden muss, weswegen es auf individueller Ebene auch überhaupt nur zu einem Evidenzgefühl kommen kann, weil ich auf dieser Ebene willkürlich etwas anerkenne, was auf konstitutiver, apriorischer Ebene der Vernunft als schlechthin anerkennt und als Wertsetzung verstan177 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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den und postuliert werden muss. Somit ist das Evidenzgefühl der anschauliche Niederschlag auf individueller Bewusstseinsebene von geistiger Übereinstimmung mit mir selbst, Übereinstimmung mit mir selbst hinsichtlich meiner selbst als individuelle Person (Aposteriorizität) und meiner selbst als überindividuelle Vernunft (Apriorizität) im Modus der jeweils wertsetzenden Anerkennung von Evidenz und Geltung. Anerkennung als Bedingung von Geltung überhaupt muss also in zweifacher Hinsicht, apriori und empirisch vollzogen werden, soll Geltung beansprucht werden können. Beide Male handelt es sich dabei um einen wertsetzenden Vollzug der Vernunft. Ein beliebiges, material bestimmtes Urteil gilt somit dann, wenn die behauptete Übereinstimmung von Aussage und Beurteiltem als wahr und evident erscheint, was folglich von mir a priori entsprechend beurteilt worden sein muss, sofern Wahrheit von mir Anerkennung und positive Bewertung gefunden hat, sowohl apriorisch als auch aposteriorisch, empirisch: Geltung ist Verstehen von Relation und positive Bewertung von Wahrheit und damit in ihrer Möglichkeit bedingt durch entsprechende Entscheidung und Wertsetzung, was in apriorisch erschlossener Hinsicht als notwendig postuliert, auf empirischer Ebene hingegen, weil faktisch gefunden, als kontingent verstanden werden muss. Im Aspekt von Anerkennung und Wertsetzung bewege ich mich in einer Sphäre, die ich nicht anders als praktisch verstehen kann, apriorisch als reflexiv erschlossene, konstruierte und postulierte notwendige Ermöglichungsbedingung, empirisch, weil gefunden und meiner Willkür unterworfen, als kontingent. Reflektiere ich auf den Charakter der Ermöglichungsbedingung des Apriorischen, erscheint es mir in dieser Hinsicht als notwendig; reflektiere ich hingegen auf seine unterstellte eigene qualitas und seinen wertsetzenden Charakter, so erscheint mir auch das Apriorische als kontingent. So betrachtet ist der apriorisch wie empirisch für Evidenz konstitutive Aspekt von Anerkennung in jeder Beziehung kontingent. Kontingenz bedeutet hier wie auch für das Problem von Verstehbarkeit grundsätzliche Unableitbarkeit und Indeterminiertheit. Theorie, Evidenz, Geltung und Wissen ist letztlich bedingt und ermöglicht durch Kontingenz, Praxis und Freiheit. Da es sich hier um kein (zumindest rein) theoretisches Problem mehr handelt, sondern um Tätigkeit, Praxis, wird es weniger logisch eingesehen, als vernünftig anerkannt. Freiheit ist damit wie gesagt der Bereich, in dem Evidenz und Gültigkeit über logische Korrektheit 178 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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hinaus stattfindet. Evidenz und Gültigkeit kann daher bestimmt werden weniger als die formallogisch richtige Übereinstimmung der Erkenntnis mit seinem Gegenstand – was zwar nicht falsch, aber letztlich trivial ist –, sondern als Aufgabe, als sich selbst zur vernünftigen Pflicht gemachte Aufgabe, den letztlich unabschließbaren Raum von Wahrheit als Appell ernst zu nehmen. Letztbegründung kann daher niemals rein theoretisch realisiert werden, kann also keine schlechthin objektivierbare Doktrin usw. sein, sondern kann nur je und je vom Philosophen in seinem Ringen um Wahrheit jeweils neu konstituiert werden: In der Anerkenntnis der Wahrheitsaufgabe, in der Anerkenntnis des postulierten Prinzips, in der Anerkenntnis der Freiheit als Kern jeder philosophischen Praxis. Der systematische Grund hierfür liegt in folgendem: Geltung und Wahrheit kann zwar immer nur von mir anerkannt gültig und wahr sein, wird allerdings verstanden, muss verstanden werden als mich in meiner Wahrheitssuche, in meinem Wahrheitsanspruch normierend. Somit stehe ich hierin in einem Wechsel: Ich bestimme Wahrheit, Wahrheit bestimmt mich, ohne meine willkürliche, individuelle, aposteriorische Anerkennung von Evidenz und Geltung würde sich die Gültigkeitssphäre des Apriorischen gar nicht zeigen; aber mein individuelles Evidenzgefühl käme gar nicht zustande, wenn es nicht auf apriorischer, konstitutiver Ebene als genetisiert postuliert und verstanden werden würde, abgesehen von seiner normierenden und regulierenden Funktion auf die aposteriorische Sphäre. Dieser Wechsel ist theoretisch nicht mehr auflösbar, er läuft infinit in dieser Form, sich selbst stetig iterierend weiter. Also nicht nur Evidenz und Gültigkeit gilt es – sofern man danach strebt – damit anzuerkennen, sondern ebenso den hierin wirksamen Wechsel als bedingendes Prinzip. Warum dies keine Willkür bzw. kein Dezisionismus ist, sondern als vernünftig eingesehen werden kann, läßt sich darin begründen, daß das Bedingende, das Prinzip und Evidenz wie Gültigkeit immer »ich« selbst bin, freilich nicht als empirische Person, sondern als »ich«, insofern ich Vernunft usw. bin, aber eben »ich«: Ausgehend vom cogito muss ich zwar gedanklich das cogito in Richtung seiner Apriorizität überschreiten, bewege mich dabei aber notwendigerweise immer in sozusagen »ich-licher« Sphäre, im Geltungsbereich von Vernunft, Realität und Freiheit. Somit läßt sich Fichtes Bestimmung von »Wahrheit« in der Wissenschaftslehre nova methodo nachvollziehen: Wahrheit ist Übereinstimmung mit sich 179 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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bzw. mit uns selbst 57, es wurde oben bereits kurz erwähnt. Der theoretische Wechsel findet in der praktischen Anerkenntnis zwar nicht seine theoretisch-begriffliche Lösung, wohl aber seine begriffliche Überwindung und damit praktisch-praktische Begründung: Letztbegründung ist Vollzug der Anerkenntnis genannter Konstellation, allerdings, dies gilt es festzuhalten, nicht bereits als erster Schritt der Reflexion, dies wäre keine Philosophie als idealiter vollständiger Reflexionsprozess, sondern erst auf der Ebene der begrifflichen Entfaltung und Differenzierung der theoretischen Aporien bzw. antithetischen Relationen: Erst, um es mit Fichtes Worten zu sagen, in der Überwindung bzw. Vernichtung des Begriffs 58 ist die Anerkenntnis Vgl. hierzu EF, S. 106: »Aus dem Zustande des Gefühls, folgt eine gewiße Anschauung und dieß ist Wahrheit; wenn ich mir aber etwas erdichte[,] so geht der Zustand des Gefühls und der Anschauung jedes seinen eigenen Weg, in sofern ist das ideale und das fühlende gleichsam von einander gerissen, und dann ist in meiner Vorstellung keine Wahrheit, Wahrheit ist Uibereinstimmung mit uns selbst, Harmonie.« 58 Vgl. hierzu SW, X, 116 ff.: »Welches ist nun die absolute Einheit der W.-L.? Nicht A und nicht der Punkt, sondern die innere organische Einheit beider. Giebt es ausser der so eben gegebenen Beschreibung dieses Einheitspunktes noch eine andere? Durchaus nicht, haben wir eingesehen. Diese Beschreibung ist daher die ursprüngliche und schlechthin authentische Beschreibung. Welches sind ihre Bestandtheile? Die organische Einheit beider ist Construction oder Begriff, und zwar der absolute Eine, von nichts Bestehendem abgezogene Begriff, da ja sein eigenes Bestehen an sich, daher das Bestehen alles Begreiflichen geläugnet wird. Ferner, die Construction als Construction wird nun durch die Evidenz des für sich Bestehenden geläugnet; also wird durch diese Evidenz grade das Unbegreifliche, als Unbegreifliches, und schlechthin nur als Unbegreifliches, und nichts mehr gesetzt; gesetzt durch die Vernichtung des absoluten Begriffes, der eben deßwegen, damit er nur vernichtet werden könne, gesetzt sein muß; und so ist 1) die nothwendige Vereinigung und Unabtrennbarkeit des Begriffes und des Unbegreiflichen, klar eingesehen worden, und das Resultat läßt sich fassen in dieser Formel: Soll das absolut Unbegreifliche, als allein für sich bestehend, einleuchten, so muß der Begriff vernichtet, und damit er vernichtet werden könne, gesetzt werden; denn nur an der Vernichtung des Begriffes leuchtet das Unbegreifliche ein. Zusatz: Nun ist Unbegreifliches = Unwandelbares, Begriff = Wandel. Es ist sonach mit dem Obigen zugleich eingesehen: soll das Unwandelbare einleuchten, so muß es zum Wandel kommen. 2) Nun ist die Unbegreiflichkeit doch doch nur die Negation des Begriffes, Ausdruck seiner Vernichtung; daher ein aus dem Begriffe und dem Wissen selber herrührendes, durch die absolute Evidenz hinübergetragenes Merkmal. Dies beachtet, und daher von diesem Merkmale abstrahirt, bleibt Nichts an der Einheit übrig, als die Absolutheit, oder das reine Bestehen für sich. 3) Recht wichtig und eingreifend wird dies durch folgende Betrachtung: Was ist das rein selbstständige Wissen an sich? Diese Frage sollte die W.-L. beantworten, oder, wie wir uns schärfer ausdrückten: die vorausgesetzte innere Qualität des Wissens sollte sie construiren. Diese Construction haben wir nun so eben vorgenommen; die Vernichtung des Begriffes durch die Evidenz, also die Sicherzeugung der Unbegreiflichkeit ist diese 57
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Philosophie in Geschichte, Gegenwart und Zukunft
in dieser Form legitim und gültig. Letztbegründung kann somit verstanden werden als der Vollzug von Praxis und Freiheit, ausgehend von Reflexion und Begriff, den Begriff einsichtig zu überwinden bzw. zu vernichten, um in der noumenalen Praxis wertsetzender Anerkenntnis von Evidenz und Geltung als Übereinstimmung mit mir selbst in der Sphäre von Vernunft, Realität und Freiheit zu münden. Daß dies nicht vermittelt, gelehrt werden kann, ist klar: Nur jeder einzelne kann dies durch beharrliches Denken und Streben bis zum wirklich absolut Äußersten hin selbst vollziehen, wird meist dabei scheitern, manchmal den Durchbruch erreichen, zumindest ein Leben lang immer wieder aufs Neue damit ringen, denn auch hier gilt: Hat man es einmal erreicht, ist es kein fester und starrer geistiger Besitz. Diese philosophische Einsicht muss immer wieder, je und je, aufs Neue hervorgebracht werden: vom Einzelnen, wie von der jeweiligen Epoche bzw. Geschichte. Darin liegt, meiner Ansicht nach, Kern und Aufgabe einer Philosophie der Zukunft und damit in eins der Zukunft der Philosophie.
lebendige Construction der innern Qualität des Wissens. Nun stammt diese Unbegreiflichkeit selber aus dem Begriffe, und aus innerer unmittelbarer Evidenz; sonach stammt die ganze Qualität des Absoluten, und daß ihm eine Qualität eben nur beigemessen werden könnte, aus dem Wissen. Es, das Absolute, ist nicht an sich unbegreiflich: denn dies hat keinen Sinn; es ist nur unbegreiflich, wenn der Begriff an ihm sich versucht, und diese Unbegreiflichkeit ist seine einzige Qualität. – Diese Unbegreiflichkeit für ein fremdes, aus dem Wissen herbeigeführtes Merkmal erkannt, sagte ich oben, bleibt am Absoluten nur das reine Fürsichbestehen, die Substantialität übrig: und es ist richtig, daß diese wenigstens nicht aus dem Begriffe abstammt, indem sie erst nach seiner Vernichtung eintritt. Klar ist aber, daß sie nur in der unmittelbaren Evidenz eintritt, also nur der Exponent und das Correlat des reinen Lichtes, und dieses sein genetisches Princip ist, wodurch nun zuvörderst nach unserer Verheißung alle Evidenz und genetische Evidenz aufgeht, indem das reine Licht in sich selber als Genesis sich zeigt: zweitens das oben aufgestellte Verhältniß des Begriffes zum Sein, und umgekehrt, also weiter bestimmt ist. Soll es zur Aeusserung und Realisation des absoluten Lichtes kommen, so muß der Begriff gesetzt sein, um durch das unmittelbare Licht vernichtet zu werden: denn darin eben besteht die Aeusserung des innern Lichtes; das Resultat aber, und gleichsam der todte Absatz dieser Aeusserung ist das Sein an sich, welches darum, weil das reine Licht zugleich Vernichtung des Begriffes ist, ein Unbegreifliches wird. Und so ist nun das reine Licht als der Eine Mittelpunkt und das Eine Princip sowohl des Seins als des Begriffes durchdrungen.«
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Matthias Scherbaum
Literatur 1.
Quellen und Siglen
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2.
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie Zur Lehre des Absoluten bei Śarikara und Fichte Fabian Völker (Münster)
Deßgleichen scheinen mir die tiefsinnigen indischen Philosophen, welche durch ihre transcendentale Betrachtungen es endlich so weit gebracht haben, die Spitze ihrer eigenen Nase zu sehen, welches bekanntlich keinem materialen sinnlichen Menschen möglich ist, ganz auf dem Wege zu seyn auf welchem Professor Fichte und Ma|gister Schelling, das unwandelbare Seyn ihres Ichs (das, wie dieser gelehrte Magister versichert, keine Sprache völlig ausdrückt), durch selbsterrungene Anschauung des Intellektualen in sich erlangt haben. 1 Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811)
1.
Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters
In den 1804 gehaltenen Vorlesungen über die Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters kennzeichnete Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) seine Epoche als »Zeitalter der absoluten Gleichgültigkeit gegen alle Wahrheit, und der völligen Ungebundenheit ohne einigen Leitfaden: der Stand der vollendeten Sündhaftigkeit.« 2 Ein authentisches Leben gründe hingegen in absoluter Wahrheit, die man nicht »als Bestimmung eines fremden Gemüthes« 3 historisch erfassen und mitteilen, sondern schlechterdings nur selber aus sich erzeugen könne. 4 In diesem Zeitalter aber sei »das Leben nur historisch Nicolai, Christoph Friedrich, »Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781«, in: J. G. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen. Band 1: 1762–1798. (Specula; 1, 1) Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, S. 320. 2 Fichte, Johann Gottlieb, J. G. Fichte Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. (Hg.) Lauth, Reinhard u. a. Stuttgart-Bad Cannstadt 1962 ff. = GA. GA I/8, S. 201. 3 GA II/8, S. 4. 4 Fichte hat dies zufolge der Schopenhauer’schen Nachschrift seiner Vorlesung Ueber 1
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
und symbolisch geworden«, »zu einem wirklichen Leben« 5 komme es gar selten. Die beklagens- und tadelnswerte Denkweise des Zeitgeistes zeichnete sich für Fichte in ihrer Wurzel durch »historische Flachheit, Zerstreutheit in die mannigfaltigsten und widersprechendsten Ansichten, Unentschlossenheit über alle zusammen, und absolute Gleichgültigkeit gegen Wahrheit« 6 aus, deren Vertreter sich als Produkte ihrer Zeit auch noch einer »skeptischen Vielseitigkeit« 7 rühmten. Trotz der moribunden Verfasstheit der Philosophie in einem »Zeitalter der absoluten Verwesung aller Ideen« – so Fichte in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) vom 31. März 1804 – war er »fröhlichen Muths« ob der Zukunft der Philosophie, da »nur aus dem vollkommenen Ersterben das neue Leben« 8 hervorgehen könne. Folgt man der unzeitgemäßen Einsicht und schonungslosen Analyse Wolfgang Jankes, dann ist es zu dem von Fichte erhofften Ersterben und neuen Leben der Philosophie bis heute nicht gekommen. Über zweihundert Jahre nach Fichtes Diagnose charakterisiert auch Janke unsere gegenwärtige Epoche als Zeitalter philosophischer Nichtbesinnung, des wissenschaftsgläubigen Positivismus und des unvollkommenen pathologischen Nihilismus, der zwanghaft von einem übersteigerten Misstrauen motiviert sei, alle idealistischen Sinnstiftungen und metaphysischen Wahrheiten als lebensdienliche Illusionen zu durchschauen. 9 Das verhängnisvolle Resultat dieses weltgeschichtlichen Vorgangs »abendländischer Präzisierungsgeschichte« 10 sieht das Studium der Philosophie (1811) nochmal solchergestalt formuliert: Das historische Wissen »ist das nicht durch eigne Wahrnehmung, sondern durch fremde Mittheilung erhaltene. Also ist das historische Wissen kein eigentliches Wissen, sondern nur ein[e] Notion von dem was ein Andrer weiß, d. i. wahrgenommen hat: daher ist es nur ein Schatten, ein Abdruck des eigentlichen Wissens.« GA IV/4, S. 59. 5 GA II/8, S. 2. 6 GA II/8, S. 2. 7 GA II/8, S. 4. 8 GA III/5, S. 236. 9 Näheres zu Jankes Einsichten in das gegenwärtige Zeitalter vollendeter Nicht-Besinnung in Janke, Wolfgang, Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus. Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre. Amsterdam/New York 2009, S. 351–358. Cf. Janke, Wolfgang, Die Sinnkrise des gegenwärtigen Zeitalters. Weg und Wahrheit, Welt und Gott. Würzburg 2011. Cf. Janke, Wolfgang, Kritik der präzisierten Welt. Freiburg 1999. Cf. Janke, Wolfgang, Wiedereinführung in die Philosophie. Platonismus – Nihilismus – Eksistentialontologie. Würzburg 2013, S. 49–87. 10 Janke, Wiedereinführung in die Philosophie, S. 90. Janke benutzt das deutsche Lehnwort »präzise« (franz. précis) im ursprünglichen Sinne des Wortes als »abschnei-
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Fabian Völker
Janke im »Zurechtschneiden der Welt zum reinen Korrelat der vollendet gedachten positiven Wissenschaften« sowie der nihilistischen »Reduzierung der metaphysischen ›wahren‹ Welt auf die end-, zielund sinnlose Werdewelt« 11. Durch das Klammern »an ontisch überprüfbare, logisch konkrete Aussagen« und die Restriktion und Limitation des Wahrheitskriteriums auf die Möglichkeit empirischer Verifikation und Falsifikation habe die Wissenschaftstheorie unberechtigterweise Philosopheme der Metaphysik und Transzendentalphilosophie aus dem Gebiet überprüfbarer Wahrheiten eliminiert und sich damit selbst die Anerkennung derjenigen »ontologischen Grundsätze und apriorischen Wissensbedingungen« 12 verwehrt, die ihrer eigenen Position zuvor- und zugrundeliegen. Ein derart positivistisch restringierter Wissens- und objektivistisch verkürzter Erfahrungsbegriff mit seinen weitreichenden wissenschaftstheoretischen und erkenntnistheoretischen Implikationen ist das proton pseudos der kulturwissenschaftlich orientierten Religionswissenschaft als einer rein empirisch operierenden Wissenschaft, die ihr bedingtes Wissen nie auf dessen transzendentalkonstitutive Bedingungen befragt hat. Sie liefert daher – wie alle positiven Einzelwissenschaften – inhaltlich konkrete Erkenntnis aus den Prinzipien der Erkenntnis (cognitio ex principiis), ohne jemals zur Erkenntnis dieser erfahrungskonstitutiven Prinzipien (cognitio principiorum) selber aufzusteigen. 13 Dieser Umstand wäre nicht weiter bedenkenswert, wenn die scheinbar unproblematisch vorausgesetzte, dabei zugleich transzendental unausgewiesene und somit begründungsdefizitäre Erfahrungsbasis nicht maßgeblichen Vertretern als einseitig dogmatisches Abgrenzungskriterium dienen würde, anhand dessen der jüdischen, christlichen, islamischen, hinduistischen und buddhistischen Theologie sowie der über die empirischen Tatsachen der Welt hinausgehenden Religionsphilosophie insgesamt der Wissenschaftscharakter aberkannt werden würde. 14 Nur unter der szienden« (lat. praecidere): Es werde »alles, was die Ratio, das rechnende und problemlösende Denken, grundsätzlich nicht präzise bewältigt, als irrational, mystisch, metaphysisch, unwissenschaftlich verrufen und als konfus, aufklärungsfeindlich, überlebt und überflüssig (obsolet, redundant) abgeschnitten.« Ebd. S. 89. 11 Ebd., S. 89 f. 12 Janke, Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus, S. 354. 13 Cf. Janke, Kritik der präzisierten Welt, S. 36. 14 Für den Gebrauch des Begriffes »Theologie« durch Hindus und Buddhisten können beispielhaft die folgenden Arbeiten angeführt werden: Cf. Rambachan, Anantanand,
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
tistischen Grundvoraussetzung eines empiristischen Sinnkriteriums ist einsichtig zu machen, warum zeitgenössische Religionswissenschaftler wie Hartmut Zinser die Religionsphilosophie für obsolet und eine Wiederbelebung derselben für vergeblich erachten. Religionsphilosophie im eigentliche Sinne werde »als abgelebt betrachtet«, sie sei ein bloß »historisches Phänomen«, weil eine Religionswissenschaft »nur auf Empirisches bezogene Aussagen machen« 15 dürfe. Dabei ist es evident, dass transzendentalphilosophische Prinzipien wie Immanuel Kants (1724–1804) ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption schlechterdings nicht empirisch verifiziert oder falsifiziert werden können, weil sie als meta-empirische Bedingungen der Möglichkeit empirischer Erfahrung niemals objektive Tatsachen des Bewusstseins und Gegenstände empirischer Erfahrung sein können. Folglich können auch die methodologischen Grundsätze einer transzendental fundierten Religionsphilosophie von naturwissenschaftlichen Einzelbeobachtungen nicht falsifiziert werden, weil sie diese a priori leiten. Edmund Husserl (1859–1938) ist daher uneingeschränkt Recht zu geben, wenn er schreibt, dass die »letzten Voraussetzungen der Möglichkeit und Wirklichkeit objektiver Erkenntnis« nicht »objektiv erkennbar sein« 16 können. 17 Der von Kurt Walter Zeidler einigen Strömungen der zeitgenössischen Philosophie attestierte »Vernunftdefaitismus« 18 und »er-
A Hindu Theology of Liberation. Not-Two is not One. Albany 2015. Cf. Jackson, Roger – Makransky, John (Hg.), Buddhist Theology. Critical Reflections by Contemporary Buddhist Scholars. London 2000. 15 Zinser, Hartmut, Grundfragen der Religionswissenschaft. Paderborn 2010, S. 31, S. 23. Dazu die ausführliche Analyse und Kritik von Schmidt-Leukel, Perry, »Der methodologische Agnostizismus und das Verhältnis der Religionswissenschaft zur wissenschaftlichen Theologie«, in: Berliner Theologische Zeitschrift (BThZ) 29 (2012), Nr. 1, S. 48–72. 16 Husserl, Edmund, Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie. (Gesammelte Schriften hg. von Elisabeth Ströker; 8) Hamburg 1992, S. 98. 17 Zentrale Einsichten zum Verhältnis von Empirismus und Rationalismus bzw. zur typentheoretischen Trennung zwischen Objekt- und Metasprache finden sich bei Schneider, Peter K., Grundlegung der Soziologie. Stuttgart [u. a.] 1968, S. 7–36. 18 Zeidler, Kurt Walter, »Die Wirklichkeit der Vernunft (Formale, empirische und rationale Begründung)«, in: System der Philosophie? Festgabe für Hans-Dieter Klein. (Hg.) Nagl, Ludwig und Rudolf Langthaler. Frankfurt am Main [u. a.] 2000, S. 241– 252, hier S. 242.
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Fabian Völker
kenntnistheoretische Nihilismus« 19 sowie der von Wolfgang Marx (1940–2011) diagnostizierte »gegenwärtige Tiefschlaf philosophischer Vernunft« 20 und die von Peter K. Schneider konstatierte »Unverbindlichkeit und systematische Kraftlosigkeit der Philosophie unserer Zeit« 21 haben auf diese Weise eine transzendental unbesonnene Wissenschaftsgläubigkeit im Geiste des positivistischen Szientismus kultiviert und eine radikal antimetaphysische Denkart lanciert, der nicht nur die Apriorität und Transzendentalität einer kritischen Vernunftwissenschaft, sondern auch die Wahrheit als solche verdächtig geworden ist. 22 Aber nicht nur die Wahrheit, sondern auch die schlechthin erkenntniskonstitutive Universalität fundamentaler logischer Grundprinzipien gilt heutzutage nicht mehr als selbstverständliche Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit und interkultureller Hermeneutik, sondern vielmehr als begründungsbedürftige Hypothese oder sogar kulturimperialistische Anmaßung, die mit der vermeintlich westlich-aristotelischen Logik eine Einzelne unter einer Vielzahl prinzipiell gleichmöglicher Logiken unrechtmäßig monopolisiere und damit dem Denken anderer Kulturen die spezifische Erfahrungs- und Denkform des Abendlandes als universal verbindlich oktroyiere. 23 Stattdessen finden sich kulturvergleichende StuZeidler, Kurt Walter, Prolegomena zur Wissenschaftstheorie. Würzburg 2000, S. 10. 20 Marx, Wolfgang, Über das Märchen vom Ende der Philosophie. Eine Streitschrift für systematische Rationalität. Würzburg 1998, S. 116. 21 Schneider, Peter K., Die Begründung der Wissenschaften durch Philosophie und Kybernetik. Stuttgart [u. a.] 1966, S. 7. Cf. Schneider, Peter K., Die wissenschaftsbegründende Funktion der Transzendentalphilosophie. Freiburg/München 1965. 22 Dieser immer noch verbreiteten Radikalthese von (α) der Geschichtlichkeit der Wahrheit und deren modifizierte oder restringierte Form von (β) der Geschichtlichkeit unserer Erkenntnis der Wahrheit und (γ) der Wandelbarkeit der Applikation der erkannten Wahrheit durch die Geschichte, hat bereits Reinhard Lauth eine endgültige Absage erteilt, die an Aktualität eher gewonnen als verloren hat. Cf. Lauth, Reinhard, Die absolute Ungeschichtlichkeit der Wahrheit. Stuttgart [u. a.] 1966. Cf. Lauth, Reinhard, Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie. München/Salzburg 1967, S. 73 ff. 23 Die fundamentalen logischen Grundprinzipien sind das Identitätsgesetz (A→A), das Transitivgesetz (Wenn A→B und B→C, dann A→C), das Widerspruchsfreiheitsgesetz (Wenn A, dann nicht Nicht-A), das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten (Tertium non datur: A oder Nicht-A) und das Dictum de omni et nullo, wonach jedes Merkmal, das einem Genus (einer Gattung, einem Oberbegriff) G zukommt, auch jeder Spezies (Art, jedem Unterbegriff) S zukommt und jedes Merkmal, das G fehlt, auch jedem S fehlt. Cf. Lenk, Hans und Paul, Gregor, Transkulturelle Logik. Universalität in der Vielfalt. (Kultur & Philosophie; 9) Bochum/Freiburg 2014, S. 13. 19
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
dien, die nicht nur von einer autochthonen Logik des Ostens, sondern auch von einer buddhistischen und sogar einer spezifisch chinesischen Variante der buddhistischen Logik sprechen und auf diese Weise insinuieren, dass es keine logischen Grundprinzipien gibt, die unabhängig von Zeit, Ort, Sprache, Kultur und von universaler Geltung sind und somit normative Verbindlichkeit für das Denken und Erkennen reklamieren können, wodurch die alltägliche Praxis interkultureller Kommunikation und zwischenmenschlicher Verständigung schlechterdings unbegreiflich werden würde. 24 Neben dem Begründer der US-amerikanischen Kulturanthropologie Franz Boas (1858–1942) und seinen Schülerinnen Ruth Benedict (1887–1948) und Margaret Mead (1901–1978) gilt vor allem sein Schüler Melville J. Herskovits (1895–1963) als extremer Vertreter dieser bis heute nachwirkenden Radikalthese (omnis natura ex cultura). Folgt man der Ansicht Herskovits, dann sind nicht nur die Werte einer Gesellschaft, sondern auch das logische Denken und die Erfahrung der Realität insgesamt kulturell determiniert und somit kulturrelativ. 25 Dagegen hat Gregor Paul wiederholt die Anerkennung universaler logischer Gesetze als unabdingbare Voraussetzung interkultureller Studien und unumgängliches methodologisches Prinzip allen Verstehens überhaupt eingefordert. 26 Anhand unterschiedlicher Belege aus indischen, chinesischen und japanischen Texten konnte er dabei nachweisen, dass es sich bei der Auseinandersetzung mit Fragen der Logik, ihren Prinzipien, Regeln und Gesetzen um kein exklusives Kulturspezifikum des Abendlandes handelt. Für Paul sprechen daher starke Indizien dafür, dass fundamentale logische Grundprinzipien ungeachtet aller kulturellen, historischen, geographischen und sprachlichen Differenzen gültig sind und auch jeder sprachliche Relativismus als Hypothese, »dass sämtliche logischen Gesetze Funktion der spezifisch-distink»Das westliche Interesse an der Wahrheit wird durch ein in westlicher Logik begründetes Axiom gestützt, wonach eine Aussage deren Gegenteil ausschließt. Wenn ›A‹ wahr ist, so muß ›B‹ falsch sein, wenn es das Gegenteil von ›A‹ ist. In der östlichen Logik gibt es kein derartiges Axiom.« Hofstede, Geert, Interkulturelle Zusammenarbeit. Kulturen – Organisationen – Management. Wiesbaden 1993, S. 196. Cf. Frankenhauser, Uwe, Die Einführung der buddhistischen Logik in China. Wiesbaden 1996. 25 »Even the facts of the physical world are discerned through the enculturative screen, so that the perception of time, distance, weight, size, and other ›realities‹ is mediated by the conventions of any given group.« Herskovits, Melville J., Man and His Works. The Science of Cultural Anthropology. New York 1951, S. 64. 26 Cf. Paul, Gregor, Philosophie in Japan. Von den Anfängen bis zur Heian-Zeit. Eine kritische Untersuchung. München 1993, S. 4 ff. 24
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Fabian Völker
tiven Merkmale der Sprache seien, in der sie formuliert würden«, unhaltbar ist. 27 In Folge des Angriffs auf die Universalität der Logik wurde zugleich auch die Annahme einer kulturübergreifenden, geschichtsinvarianten und kontextunabhängigen Vernunft als unabdingbare Voraussetzung menschlichen Welterkennens und intra-/interkulturellen Verstehens wiederholt in Frage gestellt und als notwendige Implikation des in jeder Behauptung eo ipso unweigerlich erhobenen Geltungs- und Wahrheitsanspruchs zurückgewiesen. 28 Dabei wurden kulturrelativistische Einwände beigebracht, die wie Helmut Gipper (1919–2005) »die zentrale Rolle der Sprache als Bedingung der Möglichkeit aller Wissenschaft und aller Philosophie« 29 pointieren und geistesgeschichtlich an die bereits früh von Johann Georg Hamann (1730–1788) und dessen Schüler Johann Gottfried Herder (1744– 1803) formulierten und wirkungsgeschichtlich folgenschweren Metakritiken des kritischen Transzendentalismus Kants anschließen. Paul, Gregor, Logik und Kultur: der Westen, Indien, China und Japan. Basel 2013, S. 34. Hans-Dieter Klein kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass »Logik und Mathematik nicht kulturrelativ sind, sondern für jedes nichtgöttliche denkende Tier im Kosmos in gleicher Weise gelten« und dieser universale Geltungsanspruch weder durch die evolutionäre Erkenntnistheorie noch durch den sprachanalytischen Positivismus relativiert werden könne. Klein, Hans-Dieter, »Analytische und transzendentale Perspektiven einer heute möglichen Metaphysik«, in: Wahrheit und Geltung. Festschrift für Werner Flach. (Hg.) Rieber, Alexander – Reinhard Hiltscher. Würzburg 1996, S. 141–150, hier S. 146. Für eine systematische Begründung einer universalen Logik, die für alles Denken und Erkennen uneingeschränkt gültig und verbindlich sein soll, bedarf es allerdings mehr als den von Paul erbrachten Aufweis der faktischen Akzeptanz logischer Prinzipien in verschiedenen Kulturen. Eine konstruktive Kritik und weiterführende Überlegungen im Kontext einer (post-)neukantianisch inspirierten Theorie des Kulturverstehens finden sich bei Göller, Thomas, Sprache, Literatur, kultureller Kontext. Studien zur Kulturwissenschaft und Literaturästhetik. Würzburg 2001, S. 135–145. 28 Denn auch das Wissen um die radikale Kontextualität und Relativität der Logik, Wahrheit und Vernunft teilt den mit jedem spezifischen Wissen verbundenen, universalen Anspruch auf Geltung und Wahrheit. Darauf hat ebenfalls Thomas Göller aufmerksam gemacht. Er argumentiert, dass »eine Position, welche die These vertritt, es könne keine vom kulturellen Kontext unabhängige Geltung von Aussagen oder logischen Prinzipien geben, offensichtlich die Tatsache nicht bedenkt, dass sie für ihre eigene These gerade eben eine solche kontextunabhängige allgemeine Geltung beansprucht. Denn die kulturrelativistische These soll ja nicht nur singulär, sondern sie soll kontextunabhängig bzw. allgemein gelten.« Göller, Sprache, Literatur, kultureller Kontext, S. 127. 29 Gipper, Helmut, Das Sprachapriori. Sprache als Voraussetzung menschlichen Denkens und Erkennens. Stuttgart-Holzboog 1987, S. 11. 27
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
Hamanns scharfe Kritik an der angeblichen Sprachvergessenheit der transzendentalen Vernunftkritik und der Vorstellung sprachunabhängiger Gedanken, die eine rein instrumentell aufgefasste Sprache nachträglich bezeichnen und vermitteln müsse, kulminierte in dessen Überzeugung, dass das ganze Vermögen zu denken auf der Sprache beruhe, die »das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft« 30 sei. Die von Hamann inaugurierte Annahme einer apriorischen Einheit von Denken und Sprache führte in Verbindung mit den Anfängen der historischen und komparativen Linguistik und der fortschreitenden Erkenntnis der kulturellen Faktizität verschiedener Grammatiken zur radikalen Fragmentierung der Vernunft, insofern der Begriff der Vernunft nun relativ zur Grammatik einer spezifischen Sprachfamilie gedacht wurde. 31 Aus der Konfrontation transzendentalphilosophischer und linguistischer Ansätze entstanden im Verlauf des 19. und 20. Jh. auf diese Weise eine Reihe sprachrelativistischer und sprachdeterministischer Ansätze, die sich in der zentralen These des späten Wittgensteins zuspitzten, nach der es keine Sätze gibt, die unabhängig vom Pluralismus unterschiedlicher Sprachspiele und der kulturellen Kontextualität und Kontingenz ihrer jeweiligen grammatikalischen, morphologischen und semantischen Struktur Gültigkeit für sich beanspruchen können. Wittgensteins Linguistizismus folgend behauptete Peter Winch (1926–1997) das Fehlen eines einheitlichen und universal verbindlichen Maßstabs zur Bewertung kultureller Normen und Praxen sowie die radikale Kontextualität verschiedener Kulturen mit ihren jeweils sprachspielrelativen Lebenswelten und Wirklichkeitsauffassungen. 32 Im Anschluss an das von Hamann, Johann Georg, »Metakritik über den Purismum der Vernunft«, in: Schriften über Sprache, Mysterien, Vernunft. 1771–1788. (Hg.) Nadler, Josef. (Sämtliche Werke; 3) Wien 1951, S. 281–289, hier S. 286. 31 Für die Abhängigkeit unserer Denkstrukturen und damit der Logik und Vernunft von den grammatischen Kategorien unserer jeweiligen Muttersprache kann hier paradigmatisch das von Benjamin Lee Whorf (1897–1941) im Anschluss an seinen Lehrer Edward Sapir (1884–1939) formulierte linguistische Relativitätsprinzip (SapirWhorf-Hypothese) angeführt werden: »Spricht daher jemand gemäß seiner natürlichen Logik über Vernunft, Logik und die Gesetze richtigen Denkens, so wird er leicht rein grammatikalischen Gegebenheiten folgen, die in seiner eigenen Sprache oder Sprachfamilie einen Hintergrundscharakter haben, die aber keineswegs in allen Sprachen gelten oder gar ein allgemeines Substrat der Vernunft überhaupt sind.« Whorf, Benjamin Lee, Sprache – Denken – Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Hamburg 1979, S. 10. 32 Cf. Winch, Peter, Versuchen zu verstehen. Frankfurt am Main 1992. Winch be30
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Paul Feyerabend (1924–1994) paradigmatisch verkündigte »Farewell to Reason« 33 konstatiert Wolfgang Welsch daher eine weit verbreitete Bereitschaft unter zeitgenössischen Philosophen, auf Vernunft gänzlich zu verzichten und stattdessen von unterschiedlichen, prinzipiell autonomen und teilweise disparaten Rationalitätstypen und Realitätsparadigmen zu sprechen, die von keiner Meta-Rationalität mehr umfassend eingeholt und vermittelt werden könnten. 34 Dieser fortgesetzten Desavouierung des universalen Vernunftgedankens stehen bis in die gegenwärtige sprachphilosophische Diskussion hinein universalgrammatische Ansätze entgegen, die an Kants transzendentalem Vernunftbegriff als unhintergehbar festhalten und eine transzendentale Grammatik mit transkulturellem Anspruch auf Gültigkeit formulieren, die dem Pluralismus natürlicher Sprachen als deren logische Syntax zugrunde liegt. 35 Bei dem systehauptet zwar keine vollkommene Inkommensurabilität von Kulturen oder Lebensformen, zweifelt aber Thomas Göller zufolge die Möglichkeit »eines von einer Kultur oder Lebensform unabhängigen Rationalitäts- oder Objektivitätsmaßstabes« an: »Nach Winch gibt es letztlich kein Kriterium, mit dessen Hilfe die Objektivität (oder Rationalität) der einen oder anderen Realitätsauffassung – sei sie magisch-mystisch oder wissenschaftlich-theoretisch – beurteilt werden könnte.« Göller, Thomas, »Sind Kulturen inkommensurabel?«, in: Kultur und Interkulturalität. Interdisziplinäre Zugänge. (Hg.) Jammal, Elias. Wiesbaden 2014, S. 43–56, hier S. 49. 33 Feyerabend, Paul, Farewell to Reason. London/New York 1987. 34 Cf. Welsch, Wolfgang, »Vernunft – traditionell und zeitgenössisch oder Warum wir weiterhin von Vernunft sprechen sollen«, in: Viele Denkformen – eine Vernunft? Über die vielfältigen Gestalten des Denkens. (Hg.) Yousefi, Hamid Reza – Fischer, Klaus. Nordhausen 2010, S. 121–133, hier S. 125 ff. Für Welsch ist die Unmöglichkeit einer Meta-Position »die wichtigste Einsicht und die gemeinsame Grundlage der westlichen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sowohl von modernen wie postmodernen und von kontinentalen wie analytischen Philosophen geteilt« werde. Da die Rationalität ihre eigenen Prinzipien bereitstelle, brauche es folglich auch keine »prinzipienliefernde Vernunft traditionellen Sinns« mehr. Ebd., S. 127. Um der Irrationalität einer völligen Inkommensurabilität heterogener und untereinander unverbundener Rationalitäten zu entgehen, entwickelt Welsch das Konzept einer transversalen Vernunft, die sich als eine alternative Funktionsweise des Reflexionsvermögens gegenüber den unterschiedlichen Rationalitätstypen neutral verhält, dabei aber keine Axiomatik oder Systematik mehr liefert und somit nur noch prinzipienlos die funktionalen Übergänge zwischen den verschiedenen Partikularformen der Rationalität regelt. Cf. Ebd., S. 128. 35 Paul Natterer beschreibt das kantische Paradigma einer transzendentalen Grammatik folgendermaßen: »Das Fazit der transzendentalen Deduktion erlaubt die Annahme einer Grammatik (= grammatischer Syntaxtypen, Kategorien) des realen Verstandesgebrauches, die mit der logischen Grammatik und/oder einer linguistischen Universalgrammatik sowie der allgemeinen Ontologie oder transzendentalen Logik identisch
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
matischen Versuch, die gesetzmäßigen Strukturelemente des Denkens mit den Kategorien der Grammatik zu verbinden, kann über ein bloß philosophiehistorisches Interesse hinaus neben der von Kant und Fichte initiierten Transformation der Grammatik nach Prinzipien der Transzendentalphilosophie auch an August Ferdinand Bernhardis (1769–1820) transzendental begründete Sprachlehre (1801/1803) kritisch angeschlossen werden, die August Wilhelm Schlegel (1767– 1845) in der von seinem Bruder Friedrich Schlegel (1772–1829) publizierten Zeitschrift Europa als das erste Werk seiner Art ankündigte, »welches den Bau der Sprache aus dem in einer höheren Wissenschaft erwiesenen Organismus der menschlichen Geistesverrichtungen gesetzmäßig ableitet, und sich an den Idealismus anknüpft.« 36 Neben Bernhardi muss dabei auch der Beitrag Wilhelm von Humboldts (1767–1835) in seiner transzendentalen Dimension gebührend berücksichtigt werden. Humboldt konzediert zwar zu Recht, dass es keinen sprach- und symbolfreien Zugriff auf die Realität geben könne und »in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht« 37 vorliege, ist. Diese Grammatik ist a priori, d. h. notwendig und allgemeingültig, nicht empirisch und komparativ gültig. Diese Kategorien oder ›intellectualen Begriffe‹ bilden die abstrakteste Ebene der Erfahrung.« Natterer, Paul, Philosophie der Logik. Mit einem systematischen Abriss der Kant-Häsche Logik. (Edition novum studium generale; 2) Norderstedt 2010, S. 211. Die Berechtigung und Haltbarkeit der kantischen Grammatik des Denkens hat sich Natterer zufolge »in der erfolgreichen Entkräftung der massiven Kritik der kantischen Urteilstafel zu bewähren.« Ebd., S. 77. Hamid Reza Yousefi hält ein solches »für alle Kulturen und Traditionen gültiges Kategoriensystem der Vernunft« allerdings für »schlechterdings unmöglich«. Yousefi, Hamid Reza, »Mensch und Vernunft. Orientierung eigener und anderer Denkformen«, in: Viele Denkformen – eine Vernunft, S. 17–34, hier S. 31. Auch Ram Adhar Mall ist davon überzeugt, dass man der »strukturalistisch essentialistischen Neigung« einer »Transkulturellen Vernunft« abschwören müsse. Mall, Ram Adhar, »Vernunft – interkulturell«, in: Ebd., S. 35–57, hier S. 35. Dass es sich bei der systematischen Begründung einer transzendentalen Grammatik entgegen der Überzeugung Yousefis und Malls um ein bis heute weiterhin ernstzunehmendes Unterfangen handelt, zeigt nicht zuletzt der bestimmungstheoretische Vollständigkeitsbeweis der Urteilstafel von Bunte, Martin, Erkenntnis und Funktion. Zur Vollständigkeit der Urteilstafel und Einheit des kantischen Systems. (Kantstudien-Ergänzungshefte; 189) Berlin/Boston 2016, S. 205–230. 36 Schlegel, August Wilhelm, »Ankündigung. Sprachlehre von A. F. Bernhardi«, in: Europa. Zweiter Band. Erstes Heft. (Hg.) Schlegel, Friedrich. Frankfurt am Main 1803, S. 193–204, hier S. 194. 37 Humboldt, Wilhelm von: »Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830– 1835]«, in: Gesammelte Schriften. Siebter Band. Erste Hälfte. Einleitung zum Kawi-
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aber er insistiert zugleich darauf, dass die »Grundbestimmungen der Grammatik« schon in »den allgemeinen Gesetzen des Denkens« enthalten seien und hier »die allgemeine Grammatik« 38 gewissermaßen mit der Logik zusammenfalle. Die Gesetze des Denkens seien bei allen Nationen trotz kultureller Unterschiede und lebensweltlicher Differenzen »streng dieselben« und »die grammatischen Sprachformen« könnten, da sie »von diesen Gesetzen abhangen, nur innerhalb eines gewissen Umfangs verschieden seyn.« 39 Trotz des untrennbaren Zusammenhangs von Vernunft und Sprache besteht einer transzendentalen Grammatik zufolge keine Abhängigkeit der reinen Verstandesfunktionen von der Sprache, sodass sich die Kategorialstruktur und Gesetzmäßigkeit unseres Denkens unwandelbar durch alle sprachlichen und kulturellen Differenzen durchhält. Eine Position, die Claudia Bickmann prägnant formuliert, wenn sie schreibt: Dem Denken […] ist die sprachliche Gestalt unserer Gedanken zwar stets als ein Erstes, als die äußere Form des Gedachten gegeben, der Sache nach aber ist sie ein Letztes, da uns Gedanken zwar nur in der Sprache sowie durch die Sprache gegeben sind, es aber die Formen des Denkens sind, welche die Regeln der Sprache, und nicht umgekehrt, die Regeln der Sprache es sind, welche die Regeln des Denkens bestimmen. 40 werk. (Hg.) Leitzmann, Albert. (Gesammelte Schriften; 7, 1) Berlin 1907, S. 1–344, hier S. 60. 38 Humboldt, Wilhelm von: »Von dem grammatischen Baue der Sprache«, in: Gesammelte Schriften. Sechster Band. 1827–1835. Zweite Hälfte. (Hg.) Leitzmann, Albert. (Gesammelte Schriften; 6, 2) Berlin 1907, S. 337–486, hier S. 345. Die »allgemeine Grammatik« ist für Humboldt »der Kanon, auf den jede einer besondren Sprache bezogen werden muss, in Rücksicht auf den überhaupt grammatische Sprachvergleichung möglich ist. Denn sie umfasst und entwickelt, was, vermöge der Einerleiheit der Gesetze des Denkens und der wesentlichen Natur der Sprache, in allen Mundarten Gemeinsames liegt.« Ebd., S. 342. 39 Humboldt, Wilhelm von: »Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues [1827–1829]«, in: Gesammelte Schriften. Sechster Band. 1827–1835. Erste Hälfte. (Hg.) Leitzmann, Albert. (Gesammelte Schriften; 6, 1) Berlin 1907, S. 111– 303, hier S. 301. 40 Bickmann, Claudia, Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Kants. (Schriften zur Transzendentalphilosophie; 11) Hamburg 1996, S. lxii–lxiii. So verstanden lasse sich Transzendentalphilosophie »nicht durch »logische Analyse der Sprache« ersetzen oder in einer Analyse des Verwendungssinns sprachlicher Termini neu fundieren«, sondern vielmehr müsse umgekehrt »innerhalb einer transzendentalen Argumentation der Ort ausfindig gemacht werden, an welchem die Herausbildung sprachlicher Zeichen als die ›sinnliche Bedingung des Gebrauchs unserer Verstandesbegriffe‹ allererst möglich wird.« Ebd., S. lxiii. Entgegen
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
Wer unter heutigen nach-idealistischen oder nach-metaphysischen Bedingungen auf der Grundlage einer sprach-, kultur-, geschichtsund kontextinvarianten Vernunft, universal gültigen Grundprinzipien der Logik und einer damit verbundenen wahrheitsmonistischen Position die Auffassung vertritt, dass es die Aufgabe der Philosophie sei, die apriorische Struktur aller Erkenntnis zu rekonstruieren oder aus genuinem Vernunftinteresse metaphysische Grundfragen zu verhandeln, der rennt geradewegs gegen die von Zeidler beschriebene »Mauer eines stillschweigenden Einverständnisses, hinter der sich die Wortführer der Gegenwartsphilosophie darauf verständigt haben, daß der einst mit den Termini Vernunft und Wirklichkeit verbundene System-, Totalitäts- und Unbedingtheitsanspruch kein Thema der aktuellen philosophischen Diskussion« 41 mehr sei. So hat Hans Albert in seinem wirkmächtigen Ansatz für die Aufgabe des Prinzips der zureichenden Begründung (principium rationis sufficientis) und dessen Substitution durch das Prinzip der kritischen Prüfung als Basis eines konsequenten Fallibilismus plädiert. 42 Alle Sicherheiten in der Erkenntnis seien letztendlich selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos. 43 Ohne ein unhintergehbares und under Fundamentalstellung der Sprache in der Sprachspieltheorie Ludwig Wittgensteins (1889–1951), im Postmodernismus Jean-François Lyotards (1924–1998), in der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers (1900–2002) und der Transzendentalpragmatik Karl-Otto Apels, stellt auch für Christian Krijnen »eine erkenntnistheoretisch verstandene Logik das Sprachliche vielmehr als Derivat der vor-sprachlichen Logik der Vernunft heraus.« Krijnen, Christian, Nachmetaphysischer Sinn. Eine problemgeschichtliche und systematische Studie zu den Prinzipien der Wertphilosophie Heinrich Rickerts. Würzburg 2001, S. 150. 41 Zeidler, Die Wirklichkeit der Vernunft, S. 214. An dieser Stelle kann auf die postneukantianischen Systembildungen des 20. Jahrhunderts von Robert Reininger (1869–1955), Richard Hönigswald (1875–1947), Bruno Bauch (1877–1942), Wolfgang Cramer (1901–1974), Erich Heintel (1912–2000) und Hans Wagner (1917–2000), die am transzendentalen Ansatz und Systemanspruch festhielten, nur hingewiesen werden. Eine ausführliche Darstellung und eindringliche Auseinandersetzung bietet die Studie von Zeidler, Kurt Walter, Kritische Dialektik und Transzendentalontologie. Der Ausgang des Neukantianismus und die post-neukantianische Systematik R. Hönigswalds, W. Cramers, B. Bauchs, H. Wagners, R. Reiningers und E. Heintels. (Studien zum System der Philosophie: Beiheft; 1) Bonn 1995. 42 Eine Übersicht über die Diskussion und die unterschiedlichen Argumente für und wider eine Letztbegründung findet sich bei Weissmahr, Béla, Die Wirklichkeit des Geistes. Eine philosophische Hinführung. Stuttgart 2006, S. 45–86. Cf. Weissmahr, Béla, Letztbegründung. Metaphysische Schriften aus dem Nachlass. Stuttgart 2015. 43 Cf. Albert, Hans, Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1991, S. 36. Alberts bekanntes »Münchhausen-Trilemma« iteriert lediglich drei (2, 4, 5) der insgesamt
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relativierbares Grundaxiom einer genetisch evidierten und prinzipiell letztgültigen Wahrheit kann es aber keine gesamtsystematische Entfaltung der Totalität des Wissens aus absoluter Begründung mehr geben. Damit wäre auch die von Fichte projektierte Wissenschaftslehre als »die Wissenschaft von einer Wissenschaft überhaupt« 44, welche alle möglichen Einzelwissenschaften als geltungs- und wahrheitskonstitutives Fundament präsupponieren, schlechterdings unmöglich und der von ihm erhofften Wiedergeburt der Philosophie die Lebenswurzel abgeschnitten. Solange wir von Eigentümlichkeiten befangen das Wesen der immerwährenden Philosophie der Vernunft verfehlen, werden wir auch weiterhin einem Ausspruch Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) zufolge »die Küsten der glükseeligen Inseln der Philosophie, wohin wir uns sehnen, nur mit Trümmern gescheiterter Schiffe bedeckt« sehen und »kein erhaltenes Fahrzeug in ihren Buchten« 45 erblicken.
2.
Zukunft der Philosophie – Philosophie der Zukunft
Wie kann eine Philosophie der Zukunft angesichts eines Zeitalters philosophischer Nichtbesinnung und der Prävalenz eines wissenschaftsgläubigen Positivismus aussehen? Jankes Antwort ist das Projekt einer fünf agrippinischen Arten (tropoi) der skeptischen Urteilsenthaltung (epochē), die Agrippa um die Zeitenwende den insgesamt zehn aenesidemischen Tropen entnommen hatte: Aus (1) dem Dissens bezüglich jedweden Standpunktes, (2) dem infiniten Regress bei jedem Beweis, wodurch eine Letztbegründung unmöglich wird, (3) der Relativität, (4) dem Tropus der Hypothese, der den infiniten Regress unrechtmäßig abbricht, indem er ein bloß dogmatisch gesetztes, angeblich unmittelbar evidentes und keines Beweises bedürftiges Prinzip setzt und (5) dem Zirkelschluss (diallele), folgt, dass der Widerstreit assertorischer Sätze (diaphonie) aufgrund der Gleichwertigkeit der Argumente nicht entschieden werden kann (isosthenie). Für Albert sind daher alle Begründungsprogramme des axiomatischen Denkens gescheitert. Unter dem Gesichtspunkt eines konsequenten Fallibilismus kann es für Albert auch keine transzendentale Rechtfertigung der Erkenntnis geben, die er als dogmatische Verfahrensweise ablehnt. Cf. Albert, Hans, Kritik des transzendentalen Denkens. Von der Begründung des Wissens zur Analyse der Erkenntnispraxis. Tübingen 2003. 44 GA I/2, S. 118. 45 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie in Beziehung auf Reinhold’s Beyträge zur leichtern Übersicht des Zustands der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, 1stes Heft. (Hg.) Buchner, Hartmut – Pöggeler, Otto. (Hauptwerke in sechs Bänden; 1) Hamburg 1999, S. 11.
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
eksistentialen Restitutionsphilosophie, das von der Überzeugung der transzendentalen Begründungsaufgabe der Philosophie sowie der systematischen Unverzichtbarkeit und prinzipiellen Unverwüstlichkeit einer transzendental legitimierten Metaphysik des Absoluten getragen ist und deren vordringliches Anliegen darin besteht, die Erste Philosophie als »Wiedereinholung der Seinsfrage« 46 »postnihilistisch in verwandelter Welt unverkürzt wiederherzustellen.« 47 Die »abgeschnittenen und verstummten Selbst-, Seins- und Weltbezüge« sollen hier im Interesse der unabweisbaren metaphysischen Natur des Menschen verbindlich wieder zusammengefügt und »ins Heile« 48 gebracht werden, um so »ein tragfähiges Fundament für ein postmetaphysisches, postpositivistisches, postnihilistisches und postexistenzialistisches Denken auf- und auszubauen.« 49 Um den alles einigenden Einheits- und Wahrheitsgrund von Geist und Welt mit systematischer Verbindlichkeit zu entbergen, ist aber nicht nur der von Janke unternommene Rückgang auf antike Vorprägungen, die Besinnung auf Sokratische Weisungen und eine philosophiegeschichtliche Wiedereinholung des Idealismus erforderlich, sondern eine gleichberechtigte Berücksichtigung östlicher Weisheitslehren im Geiste zeitlosen Philosophierens (philosophia perennis) unbedingt geboten. Denn, wie Andreas Cesana richtig anmerkt, verlangt die Situation der Gegenwart angesichts eines beschleunigten, tiefgreifenden, und radikalen Globalisierungs- und Pluralisierungsprozesses und der unausweichlich gewordenen Auseinandersetzung und wechselseitigen Durchdringung der Kulturen, Religionen, Philosophien, Lebensformen und Weltanschauungen unterschiedlichster Provenienz eine Intensivierung der Verständigungsanstrengungen, bei denen der Philosophie die Aufgabe zukommt, eine »kulturenübergreifende Basis der Kommunikation zu begründen und universal verbindliche Orientierungsgrundlagen zu schaffen.« 50 Janke, Kritik der präzisierten Welt, S. 60. Janke, Wiedereinführung in die Philosophie, S. 87. Restitution darf hier nicht mit Restauration verwechselt werden. Es gehe nicht darum, »einfachhin die abgeschnittenen Selbst-, Welt- und Gottesbezüge von Platonismus und Christentum in den geschichtlichen Grundverhältnissen des Vornihilismus zu restaurieren«, sondern von einem »postnihilistischen Fundament auszugehen, das in verwandelter Welt eine methodisch umfassende restitutio in integrum« verbürge. Janke, Die Sinnkrise des gegenwärtigen Zeitalters, S. 29. 48 Janke, Wiedereinführung in die Philosophie, S. 90. 49 Ebd., S. 191. 50 Cesana, Andreas, »Jaspers’ Projekt »Weltphilosophie«: Paradigma interkultureller 46 47
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Dafür gilt es, die transzendentale Wissenslehre aus einer globalen Perspektive zu erfassen, deren Anliegen es ist, die unabweisbaren Fragen der Vernunft zu thematisieren, die unabhängig aller historischen, geographischen, kulturellen und sprachlichen Differenzen von universaler und zeitloser Bedeutung sind. Dies soll im Folgenden in expliziter Auseinandersetzung mit der Wissenschaftslehre Fichtes und dessen Überzeugung geschehen, dass »alles menschliche Wissen nur ein einiges in sich selbst zusammenhangendes Wissen« 51 ausmacht und es folglich nur ein System des Wissens überhaupt geben kann, das in seiner gesamtsystematischen Struktur entfaltet werden soll: Wissenschaftslehre als Weltphilosophie. 52 Dem dabei zugrunde liegenden Wissensbegriff Fichtes kann in seinem immanenten Anspruch auf universale Geltung und damit der alle Kulturen übergreifenden Bedeutung seiner Wissenschaftslehre allerdings nur aus einer transkulturellen Perspektive mit Gewissenhaftigkeit Rechnung getragen werden. Darin trifft sich der transzendentale Ansatz einer transkulturellen Religionsphilosophie mit dem Grundanliegen von Helmut Girndt, welches er in seinen systematisch-programmatischen Erwägungen zur Transzendentalphilosophie in der globalisierten Welt in grundsätzlicher Weise umrissen hat. Demnach erweise sich mit der Entdeckung gemeinsamer Erkenntnisse in den großen Geistestraditionen außerhalb Europas, die mit der Globalisierung philosophischer Erkenntnisse gerade erst beginne, »die Legitimität des universalen Wahrheitsanspruches der Transzendentalphilosophie«. Der von der Philosophie Kants und Fichtes »untrennbare Anspruch auf Kommunikation?«, in: Karl Jaspers’ Philosophie: Gegenwärtigkeit und Zukunft. (Hg.) Ehrlich, Leonard H. – Wisser, Richard. Würzburg 2003, S. 223–232, hier S. 223. 51 GA I/2, S. 132. 52 In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant bereits vom systematischen Zusammenhang der Vernunft »aus einem Prinzip« (B 673) und der Idee eines »vollständigen Systems der reinen Vernunft« (B 736), i. e. der »Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee« (B 860), gesprochen. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft = KrV. KrV B 673. KrV B 736. KrV B 860. In der Metaphysik der Sitten (1797) hatte Kant den Systemanspruch der Philosophie als notwendiges Korrelat des Gedankens der Einheit der Vernunft und damit der Philosophie überhaupt formuliert: Da es doch, »objectiv betrachtet, nur Eine menschliche Vernunft geben kann: so kann es auch nicht viel Philosophieen geben, d. i. es ist nur Ein wahres System derselben aus Principien möglich, so mannigfaltig und oft widerstreitend man auch über einen und denselben Satz philosophirt haben mag.« Kant, Immanuel, Kant’s gesammelte Schriften. (Hg.) Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff. = AA. AA VI, S. 207.
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
Universalität« habe daher über kurz oder lang zu einer Begegnung mit den »großen asiatischen Erkenntnistraditionen und ihre[n] Theorien des Wissens« führen müssen und damit auch zu einer »sekundären Bestätigung ihres und des eigenen Universalitätsanspruches« 53: Mit der Entdeckung außereuropäischen Denkens zu Beginn des 19. Jahrhunderts stehen wir noch immer am Anfang schon eines zu dieser Zeit einsetzenden Globalisierungsprozesses philosophischer Erkenntnis, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Mit der Vertiefung der Erkenntnisse asiatischen Denkens wird die Erkenntnis der universalen Strukturen des Wissens zu einem zentralen Thema werden. Eine Renaissance der Transzendentalphilosophie steht damit noch bevor. 54
Den Einsichten Jankes und Girndts folgt der Gang der Erörterung. In einem ersten Schritt soll mit Seitenblick auf René Descartes (1596– 1650) und Husserl das reine Wissen durch reduktive Totalabstraktion als erster unbedingter Grundsatz und begründungstheoretisches Fundament einer prinzipiell auf Letztbegründung hin orientierten Transzendentalphilosophie in apodiktischer Evidenz ausgewiesen werden. Gezeigt werden muss hier vor allem, inwiefern eine Doppelstrategie aus indirekt-retorsiver Vermittlung eines in intellektueller Anschauung unmittelbar evidierten Anfangsgrunds der Transzendentalphilosophie und Ausgangspunkts wissenschaftlicher Deduktion sich gegenüber den begründungsskeptizistischen Einwänden des kritischen Rationalismus als tragfähig erweisen kann. Dabei wird sich unter Rückgriff auf Descartes metaphysischen Zweifel und Jacobis prominente Fichte-Kritik in einem zweiten Schritt zeigen, dass mit der Unhintergehbarkeit reinen Wissens noch keine letztbegründete Wahrheit erreicht ist, wenn wir prinzipientheoretisch nach einer
Girndt, Helmut, »Transzendentalphilosophie in der globalisierten Welt«, in: Revista de Estud(i)os sobre Fichte 4 (2012), S. 57–74, hier S. 73. 54 Ebd., S. 73 f. Freilich kann es sich dabei nicht einfachhin um eine Wiedereinholung der Wissenschaftslehre Fichtes in den philosophiegeschichtlichen Grundverhältnissen des Deutschen Idealismus handeln, denn »auch im Geschichtsgange der Philosophie« gibt es der Auskunft Jankes zufolge keine Renaissance. Wohl aber gehöre »die transzendental-kopernikanische Wende zu jenem unveräußerlichen Bestand der sich stets erneuernden philosophia perennis, der in jedem Zeitalter neu angeeignet werden« müsse, denn nur in »vertiefender Verwahrung« werde »die Wissenschaftslehre als prima philosophia lebendig bleiben können.« Janke, Wolfgang, »Vielheit des Seins – Einheit des Ich-existiere. Verwahrung und Vertiefung des transzendentalen Gedankens«, in: Zur Wissenschaftslehre. (Hg.) Girndt, Helmut. (Fichte-Studien; 20) Amsterdam/New York 2003, S. 1–10, hier S. 2. 53
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wahrhaft ersten Philosophie (prima philosophia) fragen und die von Hans Wagner (1917–2000) pointierte »Notwendigkeit einer Ergänzung der bloßen geltungstheoretischen Reflexion durch eine korrelative seinstheoretische Reflexion« 55 konzedieren. Die transzendentale Wissenslehre bedarf als Grundlage aller positiven Einzelwissenschaften ihrerseits selbst noch einmal einer zusätzlichen Begründung aus dem wissenstranszendenten Absoluten, um die Wahrheit und Wirklichkeit des reflexiven Wissensvollzugs in seiner Kontingenz und Endlichkeit aus seinem unauflöslichen Seinsbezug und der schlechthinnigen Notwendigkeit und Unendlichkeit dieses »Urseyn[s]« 56 zu verbürgen. Nicht das absolute Ich oder der depersonalisierte Begriff des reinen Wissens, sondern das Absolute erweist sich somit als höchstes Prinzip philosophischen Denkens, als dessen absolute Erscheinung, emanente Existentialform, Bild, Dasein und Manifestation sich das reine Wissen begreifen und durchdringen soll. Die Frage nach der Möglichkeit einer transzendentalkritischen Philosophie des Absoluten bildet den Gegenstand der nachfolgenden Erörterung, die primär an die erste Berliner Phase der Philosophie Fichtes (1800– 1805) anschließt und die Möglichkeit einer Anknüpfung des reinen Wissens an das Absolute im transzendentalen Transzensus erörtert. In Übereinstimmung mit diesen systematischen Erwägungen zur Grundlegung eines transzendentalen Vernunftsystems aus einem vernunfttranszendenten Prinzip soll in einem weiteren Teil der Ansatz einer transzendentalen Religionsphilosophie in seiner transkulturellen Dimension in der näheren Auseinandersetzung mit einer philosophischen Schule des Hinduismus – dem Advaita-Vedānta Śaṅkaras (zw. 650–780 n. Chr.) – erprobt werden.
Wagner, Hans, »Die Absolute Reflexion und das Thema der Metaphysik«, in: Kleinere Schriften I: Systematische Abhandlungen. (Hg.) Grünewald, Bernward. (Hans Wagner. Gesammelte Schriften; 3) Paderborn 2015, S. 215–225, hier S. 224. 56 GA II/9, S. 8. 55
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
3.
Zur Möglichkeit einer transzendentalkritischen Philosophie des Absoluten
3.1. Intuition und Retorsion: Zur höchsten faktischen Evidenz des reinen Wissens Es gehört zu den konstitutiven Grundüberzeugungen des von Karl Popper (1902–1994) begründeten und von Hans Albert systematisierten kritischen Rationalismus, dass ausnahmslos jede »Behauptung, deren Wahrheit gewiß und die daher nicht der Begründung bedürftig ist«, ein Dogma darstellt und folglich jeder Letztbegründungsversuch durch »Selbstevidenz, Selbstbegründung, Fundierung in unmittelbarer Erkenntnis – in Intuition, Erlebnis oder Erfahrung« 57 als Abbruch des Begründungsregresses die willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involviert und nur durch abschließenden Rekurs auf ein Dogma möglich ist. Wenn ausnahmslos jede Behauptung aus weiteren Voraussetzungen abgeleitet und jeder assertorische Satz durch eine weitere Begründung legitimiert werden soll, dann kann der daraus resultierende infinite Regress mittelbarer Evidenz nur gestoppt werden, wenn das gesuchte Urprinzip der Philosophie seine eigene Begründung in unmittelbarer und apodiktischer Evidenz selbst bei sich führt. 58 Gesucht ist Reinhard Lauth (1919– 2007) zufolge daher eine »sich selbst erhellende und aus sich legitimierende geistige Setzung.« 59 Über diesen transzendentalen Grundsatz des Systems der Totalität des bestimmbaren Wissens und der Gewissheit überhaupt schreibt Fichte in der Begriffsschrift (1794): Dieser Grundsatz der Wissenschaftslehre, und vermittelst ihrer aller Wissenschaften und alles Wissens ist daher schlechterdings keines Beweises fähig, d. h., er ist auf keinen höhern Satz zurück zu führen, aus dessen VerAlbert, Traktat über kritische Vernunft, S. 16. In der Wissenschaftslehre nova methodo findet sich ein Passus, in dem Fichte das Problem des unendlich iterierbaren Begründungsregresses aufgreift und eine nicht beweisbare, sondern ausschließlich evidierbare Wahrheit postuliert: »Alles beweisen geht aus, von einem unbewiesenem. Was heißt beweisen? Es heißt doch wohl bei dem, der sich einen deutlichen Begriff davon macht, die Wahrheit eines Satzes an einen andren anknüpfen; ich leite die Wahrheit eines bekannten Satzes auf einen andren über. Wenn aber dieß Beweisen heißt[,] so muß es in den Menschen eine Wahrheit geben[,] welche nicht bewiesen werden kann, und die keines Bew[eises] bedarf, von der aber selbst alles andre abgeleitet wird; sonst giebt es keine Wahrheit und wir werden ins Unendliche getrieben[.]« GA IV/3, S. 343. 59 Lauth, Begriff, Begründung und Rechtfertigung der Philosophie, S. 78. 57 58
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gleichung mit ihm seine Gewißheit erhelle. Dennoch soll er die Grundlage aller Gewißheit abgeben; er muß daher doch gewiß und zwar in sich selbst, und um sein selbst willen, und durch sich selbst gewiß seyn. 60 Auf ihn gründet sich alles Wissen, und ohne ihn wäre überhaupt kein Wissen möglich; er aber gründet sich auf kein anderes Wissen, sondern er ist der Satz des Wissens schlechthin. […]. Er ist der Grund alles Wissens, d. h., man weiß, was er aussagt, weil man überhaupt weiß; man weiß es unmittelbar, so wie man irgend etwas weiß. Er begleitet alles Wissen, ist in allem Wissen enthalten, und alles Wissen setzt ihn voraus. 61
Für Lauth stellt die Entdeckung des cogito/sum durch Descartes bereits diese einzigmögliche »Ausgangsposition wissenschaftlichen Philosophierens« 62 innerhalb der Philosophiegeschichte dar. Auch Husserl lobte Descartes’ »nicht mehr zu übersteigenden und gerade darum philosophisch vorbildlichen Radikalismus«, der die Idee »echter Wissenschaft aus absoluter Begründung – die alte platonische Idee – ganz ernstlich« erneuere und »nach dem an sich ersten Boden« frage, den »alle Erkenntnis, und so die der positiven Wissenschaften« 63 schon voraussetze. In den Principia philosophiae (1644) erklärt Descartes, dass der radikale Zweifel und der bereits in den Meditationes de prima philosophia (1641) unter der Annahme eines Täuschergottes (deus deceptor) geforderte allgemeine Umsturz aller Meinungen, der natürlichen Ansicht, mathematischer Wahrheiten und des Glaubens an die Existenz des eigenen Körpers unumgänglich sei, wolle man »jemals für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt schaffen« 64: Da wir als Kinder auf die Welt kommen und über sinnliche Gegenstände urteilen, bevor wir den vollen Gebrauch unserer Vernunft erlangt haben, so werden wir durch viele Vorurteile an der Erkenntnis der Wahrheit gehindert, und es scheint kein anderes Mittel dagegen zu geben, als einmal im Leben sich zu entschließen, an allem zu zweifeln, worin man auch nur den geringsten Verdacht einer Ungewißheit antrifft. 65
GA I/2, S. 120. GA I/2, S. 121. 62 Lauth, Reinhard, Zur Idee der Transzendentalphilosophie. München/Salzburg 1965, S. 43. 63 Husserl, Edmund, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft. Hamburg 1992, S. 11. 64 Descartes, René, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Hamburg 1992, S. 31. 65 Descartes, René, Die Prinzipien der Philosophie. Mit Anhang: Bemerkungen René 60 61
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
Das gnoseologische Residuum des methodischen Zweifels und den unüberschreitbaren Endpunkt der transzendental-reduktiven Methode erkannte Descartes bereits in der zweiten Meditation in der apodiktischen Evidenz des cogito/sum: Nun, wenn er [der Täuschergott; F. V.] mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin. Er täusche mich, soviel er kann, niemals wird er doch fertigbringen, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich etwas sei. Und so komme ich, nachdem ich nun alles mehr als genug hin und her erwogen habe, schließlich zu der Feststellung, daß dieser Satz: ›Ich bin, ich existiere‹, sooft ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, notwendig wahr ist. 66
Wer nicht »von allem Objecte abstrahiren« könne – so Fichtes analoge Einsicht in der Wissenschaftslehre nova methodo (1798/99) – der sei »zum gründlichen Philosophen unfähig« 67. Nur im radikalen Rückgang auf unsere Subjektivität, der Abstraktion von allem objektbezogenen Denken und der methodischen Ausscheidung all dessen, was nicht leugnungsresistent und daher vollkommen evident ist, erreichen wir einen letzten Geltungsgrund, der sich zu einer systematischen Grundlegung der Philosophie eignet. Das transzendentale Subjekt, so Husserl in seinem kritischen Anschluss an Descartes’ Wendung zum cogito/sum, sei nicht nur von der radikalen Reduktion selbst ausgenommen, sondern zeige sich ferner als dieser apodiktisch gewisse und letzte Urteilsboden, auf den jede radikale Philosophie zu begründen sei: Ich, das die Epoché vollziehende Ich, bin im gegenständlichen Bereich derselben nicht eingeschlossen vielmehr – wenn ich sie wirklich radikal und universal vollziehe – prinzipiell ausgeschlossen. Ich bin notwendig als ihr Vollzieher. Eben hierin finde ich gerade den gesuchten apodiktischen Boden, der jeden möglichen Zweifel absolut ausschließt. Wieweit ich den Zweifel auch treiben mag, und versuche ich selbst, mir zu denken, daß alles zwei-
Descartes’ über ein gewisses in den Niederlanden gegen Ende 1647 gedrucktes Programm. Hamburg 1965, S. 1. 66 Descartes, Meditationen über die Grundlage der Philosophie, S. 44 f. In Contra Academicos und De vera Religione hat Augustinus bekanntlich das cartesianische cogito-Argument vorweg genommen (si enim fallor, sum). Cf. Contra Academicos III/9, 19, in: Augustinus, Aurelius, Philosophische Frühdialoge. (Hg.) Voss, Bernd Reiner – Andresen, Carl. (Die Bibliothek der Alten Welt) Zürich/München 1972, S. 114 f. Cf. Contra Academicos III/11, 26, in: Ebd., S. 122 ff. Cf. De vera Religione 39, in: Augustinus, Aurelius, Theologische Frühschriften. Vom freien Willen. Von der wahren Religion. Zürich/Stuttgart 1962, S. 487. 67 GA IV/3, S. 336.
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felhaft oder gar in Wahrheit nicht sei, es ist absolut evident, daß ich doch wäre, als Zweifelnder, alles Negierender. Ein universaler Zweifel hebt sich selbst auf. Also während der universalen Epoché steht mir die absolute apodiktische Evidenz ›Ich bin‹ zu Gebote. 68
Die Negation des Denkens ist folglich unmöglich, denn das Denken der Nichtexistenz des Denkens ist selbst wiederum ein Denkakt und somit selbstwidersprüchlich. Die Prämisse ›Ich denke‹, so Dominik Perler in seiner Analyse des cogito-Arguments, sei (1) unbezweifelbar, weil sie dem radikalsten Zweifel gegenüber standhalte, sie sei (2) selbst-verifizierend, weil man zur Erkenntnis ihrer Wahrheit nichts anderes tun müsse, als einen Denkakt zu vollziehen und sie sei (3) selbst-evident, weil sie durch keinen anderen Satz oder eine spezielle Reflexion evident gemacht werden müsse. 69 Für den USamerikanischen Philosophen Thomas Nagel führt Descartes’ cogito/ sum daher »die Unvermeidlichkeit des Vertrauens in ein Vermögen« bei sich, »das alle skeptischen Möglichkeiten erzeugt und versteht.« 70 Der Umstand, dass das cogito/sum nicht geleugnet werden kann, ohne dabei einen performativen Selbstwiderspruch (contradictio exercita) zu vollziehen, verbindet das cogito-Argument strukturell mit dem Beweis der Wahrheit, den Thomas von Aquin (1225–1274) in der Summa Theologica führt: »Daß es eine Wahrheit gibt, ist selbst-verständlich. Denn wer leugnet, daß es eine Wahrheit gibt, räumt damit gerade ein, daß es eine Wahrheit gibt. Wenn es nämlich wirklich keine Wahrheit gibt, dann ist wenigstens das wahr, daß es keine gibt. Wenn aber auch nur eines wahr ist, muß es Wahrheit geben.« 71 So auch strukturell beim Satz vom Widerspruch, den Aristoteles (384–322 v. Chr.) als das »sicherste unter allen Prinzipien« und letztgültiges Grundaxiom der Philosophie bezeichnet, bei welchem Täuschung schlechterdings unmöglich sei. Dass nämlich »dasselbe demselben in derselben Beziehung […] unmöglich zugleich zukomHusserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 79. Cf. Perler, Dominik, René Descartes. (Beck’sche Reihe. Denker) München 2006, S. 143. 70 Nagel, Thomas, Das letzte Wort. Stuttgart 1999, S. 31. 71 Summa Theologica, 1. Buch, 2. Frage, 1. Artikel, 3, in: Aquin, Thomas von, Gottes Dasein und Wesen. (Die Deutsche Thomas-Ausgabe; 1) Salzburg 1933, S. 37. So auch Augustinus in seinen Alleingesprächen (Soliloquia): »Was aber dann, wenn die Wahrheit selbst zugrunde geht? Wird es dann nicht wahr sein, daß die Wahrheit zugrunde gegangen ist?« Soliloquia 2, 2, in: Augustinus, Aurelius, Alleingespräche (Soliloquiorum libri duo). Paderborn 1954, S. 59. 68 69
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
men und nicht zukommen« könne, das sei »das sicherste unter allen Prinzipien«, da es unmöglich sei, dass »jemand annehme, dasselbe sei und sei nicht (tautòn eînai kaì mē`).« 72 Die apodiktische Evidenz dieses Satzes könne zwar nicht durch eine Schlussfolgerung und Ableitung aus einem höheren Prinzip direkt bewiesen werden, da sonst ein »Fortschritt ins Unendliche eintreten und auch so kein Beweis stattfinden würde«, aber »ein widerlegender Beweis für die Unmöglichkeit der Behauptung«, dass »dasselbe sei und nicht sei«, war für Aristoteles hingegen möglich, denn sobald »der dagegen Streitende nur überhaupt« 73 rede, vollziehe er bereits einen Widerspruch im Vollzug. Diese Argumentationsform ist in der westlichen Philosophiegeschichte unter dem Namen der Retorsion (lat. retorquere: zurückdrehen, zurückwenden) bekannt und besteht im Nachweis eines performativen Selbstwiderspruchs, der im Falle einer Leugnung sich selbst in absoluter Evidenz begründender Aussagen notwendig eintritt. Da die Retorsion das Argument des Skeptikers auf ihn zurückwendet und somit ein indirekt-widerlegender Beweis ist, bezeichnet Béla Weissmahr (1929–2005) die retorsive Argumentationsfigur auch als »argumentative Vermittlung der eigentlich unmittelbar gegebenen Evidenz der betreffenden Aussage.« 74 Für ein kohärentes Verständnis der retorsiven Argumentation gelte es, die zweischichtige Mitteilungsfunktion aller sprachlichen Äußerungen zu berücksichtigen, insofern dem je unterschiedlichen propositionalen Gehalt eines Urteils (actus signatus) die stets identische und nichtpropositionale Urteilstätigkeit als solche (actus exercitus) zugrunde liege. Ein performativer Selbstwiederspruch werde genau dann vollzogen, wenn der propositionale Gehalt einer Behauptung die notwendigen Vollzugsbedingungen negiere, die in actu exercito, i. e. durch den faktischen Vollzug einer Behauptung bereits realisiert sein müssen. Folglich sei jede Aussage notwendig falsch, »die entweder die notwendigen Bedingungen ihrer Entstehung oder die notwendigen Bedingungen ihrer möglichen Geltung (bzw. beide) bestreitet.« 75 Das bedeute im Umkehrschluss allerdings, dass jeder Satz, den man nicht
Metaphysik 4, 3. 1005b, in: Aristoteles, Metaphysik. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 104. 73 Metaphysik 4, 4. 1006a, in: Ebd., S. 105 f. 74 Weissmahr, Die Wirklichkeit des Geistes, S. 75. 75 Weissmahr, Die Wirklichkeit des Geistes, S. 61. 72
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ableugnen kann, ohne durch dessen Negation eine contradictio exercita zu begehen, als durch sich selbst begründet und demnach als notwendig gewiss angesehen werden müsse. 76 So bringt auch Fichte in der Begriffsschrift ein Argument in Form eines retorsiven Beweises bei, um den Grundsatz der Wissenschaftslehre zu sichern. Denn wolle man behaupten, dass »das menschliche Wissen völlig grundlos sei, daß es gar nichts schlechthin gewisses geben, sondern daß alles menschliche Wissen nur bedingt seyn, und daß kein Satz an sich, sondern jeder [/] nur unter der Bedingung gelten solle, daß derjenige, aus dem er folgt, gelte, mit einem Worte«, wolle man »behaupten, daß es überhaupt keine unmittelbare, sondern nur vermittelte Wahrheit gebe – und ohne etwas, wodurch sie vermittelt wird«, dann möge derjenige »untersuchen, was er wissen würde, wenn sein Ich nicht Ich wäre, d. i., wenn er nicht existirte, und kein Nicht-Ich von seinem Ich unterscheiden könnte.« 77 Aufgrund der Unmöglichkeit, diese Sätze sinnvollerweise zu bestreiten, ist »die Retorsion des universalen Zweifels […] für ein nicht-intuitives Erkenntnisvermögen« für Harald Holz daher »der einzig mögliche Modus einer Selbst- und Letztbegründung der Philosophie überhaupt.« 78 Nun handelt es sich bei Descartes’ cogito/sum ursprünglich um keine formal-logische Operation eines syllogistischen Schlusses oder um einen argumentativ-retorsiven, mithin indirekten Aufweis, sondern um eine intuitive Erkenntnis und apodiktische Evidenz, der Husserl in den Cartesianischen Meditationen (1929) »die ausgezeichnete Eigenheit« attestiert, dass sie »nicht bloß überhaupt Seinsgewißheit der in ihr evidenten Sachen oder Sachverhalte« sei, »sondern sich durch eine kritische Reflexion zugleich als schlechthinnige Unausdenkbarkeit des Nichtseins derselben« enthülle; dass sie also im Voraus »jeden vorstellbaren Zweifel als gegenstandslos« 79 ausschließe. 80 Cf. Ebd., S. 63. GA I/2, S. 133. 78 Holz, Harald, Transzendentalphilosophie und Metaphysik. Studien über Tendenzen in der heutigen philosophischen Grundlagenproblematik. (Walberberger Studien. Philosophische Reihe; 3) Mainz 1966, S. 234. 79 Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie. Hamburg 1992, S. 17. 80 Für die Deutung des cogito/sum als Schluss (modus ponens) spricht das inferentielle ergo (ego cogito, ergo sum), das Descartes in den Principia philosophiae verwendet. Cf. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie, S. 2 f. Eine ausführliche Analyse der zweiten Meditation und eine integrative Interpretation, die weitere Belegstellen sowohl für die Schlussfolgerungsdeutung als auch die Intuitionsdeutung 76 77
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Bereits in den Regulae ad directionem ingenii (1628) hatte Descartes erklärt, dass die »Kunst des Schließens überhaupt in nichts zur Erkenntnis der Wahrheit« beitrage und ein Syllogismus niemals eine Wahrheit erschließen könne, wäre man »nicht zuvor im Besitze der Materie derselben gewesen«, woraus sich wiederum erhelle, dass »die gemeine Dialektik für solche, denen es um die Erforschung der Wahrheit« gehe, »gänzlich unnütz« sei und überhaupt nur dazu diene, »bereits erkannte Vernunftgründe anderen einfacher klarzulegen«, weshalb sie »aus der Philosophie in die Rhetorik zu verweisen« 81 sei. In den Erwiderungen auf die zweiten Einwände gegen die Meditationen macht Descartes dann unmissverständlich klar, dass die absolute Apodiktizität des cogito/sum nicht das Resultat einer syllogistischen Schlussfolgerung ist, sondern nur durch einen einfachen Einblick des Geistes (mentis intuitus) unmittelbar evidiert werden könne: 82 zitiert und beide Interpretationsansätze miteinander konziliert, bietet Kemmerling, Andreas, »Das Existo und die Natur des Geistes«, in: Meditationen über die Erste Philosophie. (Hg.) Kemmerling, Andreas. (Klassiker Auslegen; 37) Berlin 2009, S. 31–54. Michael Gerten hat in seiner Arbeit zu Descartes den Nachweis geführt, dass schon der frühe Descartes in seiner Forderung nach einer durchgehend methodisch, intuitiv-deduktiv fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis weder objektiv-realistisch bei den Dingen, noch subjektiv-idealistisch beim (empirischen) Subjekt, sondern erkenntniskritisch mit einer Analyse der Differenz-Einheit des Geistes, der Vernunft, des reflexiven »Wissens selbst« ansetzt und demnach bereits bei Descartes’ Philosophie von einem »transzendental-genetischen« Grundcharakter gesprochen werden kann. Cf. Gerten, Michael, Wahrheit und Methode bei Descartes. Eine systematische Einführung in die cartesische Philosophie. Hamburg 2001. Cf. Lauth, Reinhard, Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie. (Quaestiones; 12) Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. 81 Descartes, René, Regeln zur Leitung des Geistes. Die Erforschung der Wahrheit durch das natürliche Licht. Hamburg 1966, S. 50. 82 Zum Intuitionsbegriff bei Descartes: Cf. Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes, S. 12. Damit wären auch die kantische Interpretation des cogito/sum und der zweite Einwand von Thomas Hobbes (1588–1679) gegen die zweite Meditation widerlegt: »Nicht aber schließe ich, daß ich denke aus einem andern Gedanken; denn wenngleich jemand denken kann, daß er gedacht habe (dieser Gedanke ist nichts anderes als die Erinnerung), so ist es doch ganz unmöglich, daß jemand denkt, er denke, wie auch, daß er weiß, er wisse. Die Frage würde ja ins Unendliche gehen: woher weißt du, daß du weißt, du weißt!« Descartes, René, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen. Hamburg 1994, S. 157. In der Kritik der reinen Vernunft (B 422) hatte Kant das cogito-Argument als Schluss abgelehnt: »Das Ich denke ist […] ein empirischer Satz, und hält den Satz, ich existiere, in sich. Ich kann aber nicht sagen: alles, was denkt, existiert; denn da würde die Eigenschaft des Denkens alle Wesen, die sie besitzen, zu notwendigen Wesen machen. Daher kann meine Existenz auch nicht aus dem Satz, Ich denke, als gefolgert ange-
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Wenn wir aber bemerken, daß wir denkende Dinge sind, so ist das ein gewisser Grundbegriff, der aus keinem Syllogismus geschlossen wird; und auch, wenn jemand sagt: ›ich denke, also bin ich, oder existiere ich‹, so leitet er nicht die Existenz aus dem Denken durch einen Syllogismus ab, sondern erkennt etwas ›durch sich selbst Bekanntes‹ durch einen einfachen Einblick des Geistes (mentis intuitus) an, wie sich daraus ergibt, daß, wenn er sie durch einen Syllogismus ableiten sollte, man vorher den Obersatz erkannt haben müßte: ›Alles, was denkt, ist oder existiert‹, während man vielmehr umgekehrt diesen erst daraus gewinnt, daß man bei sich erfährt, es sei unmöglich, zu denken ohne zu existieren. Denn es ist die Natur unseres Geistes, daß er die allgemeinen Sätze nur aus der Erkenntnis des Besonderen bildet. 83
Auch Fichte war der Überzeugung, dass unmittelbare Evidenz niemandem andemonstriert werden könne und die dazu erforderliche geistige Intuition in einem Akt der Freiheit von jedem unmittelbar selbst vollzogen werden müsse. Der erste Grund des unmittelbaren Bewusstseins, über den keine Vernunft hinaus gehen könne und der folglich nicht begründbar sei, könne nicht argumentativ bewiesen, sondern nur in intellektueller Anschauung unmittelbar evidiert werden: [D]as unmittelbare Bewustsein ist selbst der erste Grund, der alles andre begründen soll, biß zu ihm muß man gehen, wenn unser Wißen einen Grund haben soll. Wir müßen von diesem lezten Grunde wißen, denn wir sprechen davon, wir kommen dazu durch unmittelbare Anschauung[,] wir schauen unsere unmittelbare Anschauung selbst wieder unmittelbar an, dieß wäre unmittelbare Anschauung der Anschauung. Es ist also reine Anschauung des Ich als Subject=Object möglich, eine solche heißt[,] da sie keinen sinnlichen Stoff an sich hat[,] mit Recht: Intellectuelle Anschauung. 84
In der intellektuellen Anschauung wird also der Anspruch erhoben, die apodiktische Geltung des Anfangsgrundes der Transzendentalphilosophie unmittelbar evidiert zu haben. Jeder, der nur dagegen streitet und dessen Geltungsanspruch leugnet, begeht einen performativen Selbstwiderspruch und kann durch eine retorsive Argumentation widerlegt werden. Diese Doppelstrategie, die auf die direkte Evidenz sehen werden, wie Cartesius dafür hielt, (weil sonst der Obersatz: alles, was denkt, existiert, vorausgehen müßte,) sondern ist mit ihm identisch.« (KrV B 422). 83 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, S. 127 f. 84 GA IV/3, S. 347.
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einer Einsicht und deren indirekt-retorsive Vermittlung rekurriert, nutzt auch Weissmahr, um den Einwand des kritischen Rationalismus zu entkräften, Evidenz gründe auf philosophischem Dogmatismus. Mit dem Hinweis darauf, dass auch die unmittelbare Evidenz, wenn sie von einem Opponenten in Frage gestellt wird, argumentativ vermittelt werden könne, seien alle Missverständnisse, die im Zusammenhang mit der Rede von Evidenz auftauchen und die Erwähnung der Evidenz mit Dogmatismus gleichsetzen, im Grunde beseitigt. 85 Doch was im cogito/sum genau intuiert und in der intellektuellen Anschauung unmittelbar evidiert wird, ist Grundlage anhaltender Kontroversen und Ursache der folgenreichsten Irrtümer der Philosophiegeschichte gewesen. So hatte Husserl in den Cartesianischen Meditationen kritisch vermerkt, dass es das Verhängnis Descartes’ gewesen sei, das transzendentale Ego des cogito zur »substantia cogitans, zur abgetrennten menschlichen mens sive animus« gewendet zu haben und damit zum Vater eines »widersinnigen transzendentalen Realismus« 86 geworden zu sein. Stattdessen gelte es, das transzendentale Ich radikal von jenem psychologischen Ich zu unterscheiden, das uns in der inneren Erfahrung gegeben sei, denn mit der Seinsgeltung der objektiven Welt müsse gleichzeitig auch diejenige der inneren Erfahrung inhibiert werden. Für denjenigen, der »in der ἐποχή stehend und verbleibend, sich ausschließlich als Geltungsgrund aller objektiven Geltungen und Gründe« 87 setze, gäbe es kein psychologisches Ich der inneren Wahrnehmung und keine psychischen Phänomene im Sinne der Psychologie. Descartes habe sich daher nicht ausreichend klar gemacht, dass »sein durch die Epoché entweltlichtes Ich […] unmöglich in der Welt als Thema auftreten« könne und das transzendentale Ego, wie es »in der Epoché als für sich selbst seiend zur Entdeckung« komme, noch gar nicht ein Ich sei, das andere bzw. viele »Mit-Iche« außer sich haben könne. Descartes sei demnach die transzendentalkritische Einsicht verborgen geblieben, dass »alle solchen Unterscheidungen wie Ich und Du, Innen und Außen erst im absoluten ego sich »konstituieren« 88 und in diesem 85 Cf. Weissmahr, Die Wirklichkeit des Geistes, S. 75. Cf. Weissmahr, Letztbegründung, S. 83–135. 86 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 26. 87 Ebd., S. 27. 88 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 83 f. Husserl versagte daher »jeder wie immer gearteten Wissenschaft vom Menschen die Beteiligung an der Fundamentierung der Philosophie« und bekämpfte »alle darauf bezüglichen Versuche
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reinen, transzendentalen Ego kein »kleines Endchen der Welt« 89 gerettet werde, wie Husserl dies in konsequenter Abgrenzung zur cartesianischen res/substantia cogitans formulierte. Dieser einzige Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie ist demnach keine immaterielle, immortale, inkorruptible und personale Seele oder ein »(rundes oder vierektes?) Ding, das unabhängig von seinem Vorstellen als Ding an sich, und zwar als vorstellendes Ding« 90 existiert, wie Fichte die reifizierte Verfehlung transzendentaler Subjektivität in seiner Rezension des Aenesidemus (1792) karikierte. Die Philosophie ist Lauth zufolge erst in dem Augenblick wissenschaftlich zu sich selbst gekommen, als der transzendentale Standpunkt erreicht und erkannt wurde, dass »ihr Objekt nicht die Sache – sei sie nun körperliche oder geistige Sache –, nicht das Sein, sondern allein das Bewußt-Sein sein« 91 könne. Dieses Urprinzip des nicht objektivierbaren und daher kategorial nicht bestimmbaren Bewusst-Seins gründe auf dem unhintergehbaren Faktum, dass »wir Sein immer nur im Medium des Bewußtseins, den Gegenstand unserer Erkenntnis nur im Akte des Erkennens haben« und rechtmäßig nicht von der Erkenntnis abstrahieren können, »wenn wir die Wahrheit nicht verfehlen wollen«: Die Transzendentalphilosophie erkennt, daß das Bewußt-Sein das Grundphänomen ist, das schlechthin unüberschreitbar ist. Es gibt keinen Standpunkt, von dem aus man die Aussagen der Transzendentalphilosophie als Aussagen über die Subjektivität des Subjekts locieren könnte; jede solche als Anthropologismus oder Psychologismus«. Husserl, Edmund, »Phänomenologie und Anthropologie«, in: Edmund Husserl. Aufsätze und Vorträge (1922–1937). (Hg.) Nenon, Thomas – Sepp, Hans Rainer. (Husserliana; 27) Dordrecht/Boston/London 1989, S. 164–181, hier S. 164. Für Zeidler beweist die »hartnäckige Identifizierung von Transzendentalphilosophie und ›Bewußtseinsphilosophie‹«, dass man den transzendentalen Ansatz bis heute »in einem empiristischen und psychologistischen Sinne mißverstanden« habe. Zeidler, Prolegomena zur Wissenschaftstheorie, S. 99. Cf. Ebd., S. 143–164. Werner Flach hat im Anschluss an den Kritizismus neukantianischer Prägung daher jede bewusstseinstheoretische, psychologische, anthropologische und biologische Interpretation der Transzendentalphilosophie durch eine strikt geltungslogische ersetzt. Cf. Flach, Werner, Die Idee der Transzendentalphilosophie. Immanuel Kant. Würzburg 2002. Der (Post-)Neukantianismus richtet sich Krijnen zufolge »gegen jegliche Verabsolutierung beschränkter Standpunkte« und argumentiere dabei »anti-materialistisch, -naturalistisch, -biologistisch, -nihilistisch, -fideistisch, -positivistisch, -empiristisch, -psychologistisch, -lebensphilosophisch, -logizistisch usf.« Krijnen, Nachmetaphysischer Sinn, S. 84. 89 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 25. 90 GA I/2, S. 50. 91 Lauth, Zur Idee der Transzendentalphilosophie, S. 44.
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Lokalisation vergißt, daß sie selber im Akt des Bewußt-Seins geschieht, und bedeutet somit eine Vergessenheit des eigenen Seins, nämlich der Seite des Denkens an demselben. 92
Anfang und Prinzip der Transzendentalphilosophie ist also nicht, wie Fichte dies in einem Brief an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) im Jahr 1801 schreibt, ein objektiviertes Sein, sondern ein nicht-objektivierbares und daher unsichtbares »Sehen« 93. Bereits in der Wissenschaftslehre nova methodo hatte Fichte das Absolute Ich als Grundsatz der Wissenschaftslehre sinnfällig als Auge bezeichnet. 94 Das unmittelbare Bewusstsein sei in allem Bewusstsein das Bewusstseiende, aber nicht das, dessen man sich bewusst sei. Alle Disjunktionen und Bewusstseinsrelationen, wie Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, Einheit und Vielheit, Identität und Differenz sind demnach korrelative Glieder einer Disjunktion, deren Zweiheit eine höhere Einheit verlangt. Im zweiten Berliner Vortrag der Wissenschaftslehre von 1804 verwendet Fichte für dieses transzendentale Bewusst-Sein den Begriff des reinen Wissens, in dem alle Differenz ursprünglich wurzelt: Die absolute Einheit kann daher eben so wenig in das Sein, als in das ihm [/] gegenüberstehende Bewußtsein; eben so wenig in das Ding, als in die Vorstellung des Dinges gesetzt werden; sondern in das so eben von uns entdeckte Princip der absoluten Einheit und Unabtrennbarkeit beider, das zugleich, wie wir ebenfalls gesehen haben, das Princip der Disjunktion beider ist; und welches wir nennen wollen reines Wissen, Wissen an sich, also Wissen durchaus von keinem Objekte, weil es sodann kein Wissen an sich wäre, sondern zu seinem Sein noch der Objektivität bedürfte; zum Unterschiede von Bewußtsein, das stets ein Sein setzt, und darum nur die Eine Hälfte ist 95.
Diese allen Synthesen des Bewusstseins vorausliegende und ursprüngliche Einheit des reinen Wissens ist »das Princip der erscheiEbd., S. 46. GA III/5, S. 46. Schellings abschätzige Antwort ist bekannt. Die von Fichte eingeforderte Notwendigkeit vom Sehen auszugehen, das Schelling mit dem subjektiven Bewusstsein verwechselt, banne Fichte »in eine durch und durch bedingte Reihe, in der vom Absoluten nichts mehr anzutreffen« sei, weshalb er in seiner Bestimmung des Menschen (1800) zum Glauben Zuflucht nehmen musste, von dem in der Philosophie allerdings »so wenig die Rede seyn« könne, »als in der Geometrie.« GA III/5, S. 82 f. 94 »Das Ich der WißenschaftsLehre ist […] ein Auge.« GA IV/3, S. 365. 95 GA II/8, S. 12, 14. 92 93
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nenden Einheit und erscheinenden Disjunktion zugleich« 96 und daher nicht mit dem Relationsbegriff der bloßen Einheit zu verwechseln. Es ist das eine absolut gegensatzlose Wissen, das von aller erscheinenden Dualität und Pluralität absolviert bleibt. Es ist »nicht nur unabhängig von aller Veränderlichkeit des Objektiven, sondern auch des Subjektiven, ohne welche die erste nicht ist« und »das eben deßwegen nicht subjektive Wissen« ist Fichte zufolge »schlechthin unveränderlich und sich selbst gleich.« 97 Als solches ist der Grundsatz des reinen Wissens für Fichte die höchste faktische Evidenz: 98 »[D]ie Einsicht des absoluten Fürsichbestehens des Wissens, ohne alle Bestimmung durch irgend Etwas ausser ihm, irgend eine Wandelbarkeit« 99. Diese qualitative, in sich durchaus unwandelbare Einheit des reinen Wissens leuchte schlechthin a priori durch sich selber ein, als unabhängig von aller Wandelbarkeit und der mit dem Wandel unzertrennlich verbundenen »Subjekt-Objektivität« 100.
GA II/8, S. 86. GA II/8, S. 38. 98 Faktische Evidenz muss von der von Fichte programmatisch geforderten genetischen Evidenz unterschieden werden. Wissen im strengen Sinne ist Janke zufolge »Einsehen aus Gründen.« Es dürfe »sich nicht mit der Feststellung begnügen, daß es sich so verhält.« Wissen dränge hingegen auf »die Erklärung, warum etwas so und nicht anders« sei. Genetische Evidenz sei demnach »die Einsicht in die Genesis oder das Entstehungsgesetz des Faktums.« Janke, Wolfgang, Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970, S. 311. In der faktischen Evidenz, so Urs Richli, sei die Disjunktion aus der Einheit nicht ableitbar und umgekehrt werde die Einheit nur durch eine äußerliche Abstraktion aus der Disjunktion gewonnen. Die transzendentale Reflexion hingegen zeige »den lebendigen Zusammenhang der Glieder, nämlich die Genesis, die in der faktischen Evidenz erloschen war.« Richli, Urs, »Genetische Evidenz – was ist das eigentlich?«, in: Zur Wissenschaftslehre, S. 161– 166, hier S. 163. Die Aufgabe der Wissenschaftslehre ist es also, »das reine Wissen in seinem Wesen, seiner Herkunft und Entstehung zu durchdringen und als Entstehungsgrund der Wandelbarkeit sichtbar zu machen«. Jankes Kommentar in: Fichte, Johann Gottlieb, Wissenschaftslehre 1804. Wahrheits- und Vernunftlehre. I.–XV. Vortrag. Einleitung und Kommentar von Wolfgang Janke. (Hg.) Janke, Wolfgang. (Quellen der Philosophie; 2) Frankfurt am Main 1966, S. 102. An dieser Stelle kann Fichtes hochkomplizierte Genetisierung nicht nachvollzogen werden. Ich verweise auf die Rekonstruktion von Janke, Fichte, S. 301–417. 99 GA II/8, S. 44. 100 GA II/8, S. 52. 96 97
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3.2. Unhintergehbare Faktizität und letztbegründete Wahrheit Damit erscheint der systematische Geltungsanspruch des reinen Wissens, das sich in seiner Selbstgewissheit als das faktisch unüberschreitbare Grundphänomen und leugnungsresistente Prinzip alles Gewussten gezeigt hat, als durchgängiger System- und Deduktionsgrund der Transzendentalphilosophie ausreichend durchdrungen und gesichert zu sein. Trotz der Doppelstrategie direkter Evidenz und deren indirekt-retorsiver Vermittlung kann man an dieser Stelle aber zweifelsohne nicht von einer letztbegründeten Wahrheit sprechen, ohne dabei »bloße Nichtbestreitbarkeit schon mit Letztbegründung, notwendige mit hinreichender Bedingung« 101 zu verwechseln. 102 Bereits Descartes hatte in der dritten Meditation einen recht schwachen (tenuis) und metaphysischen Zweifel vorgetragen, um selbst das cogito/sum als die gewisseste und evidenteste aller Erkenntnisse noch in Zweifel zu ziehen. 103 So komme er nicht umhin zu gestehen, dass es dem Täuschergott, wenn er nur wolle, leicht sei zu bewirken, dass er sich selbst in dem irre, was er mit höchster Evidenz mit seinem geistigen Auge einzusehen glaube. 104 Zudem hatte Descartes in der Antwort auf die ersten Einwände weitere Mängel am Sein der 101 Gerten, Michael, »Fichtes Wissenschaftslehre vor der aktuellen Diskussion um die Letztbegründung«, in: Fichte im 20. Jahrhundert. (Hg.) Schrader, Wolfgang [u. a.]. (Fichte-Studien; 13) Amsterdam/Atlanta 1997, S. 173–192, hier S. 187. 102 Cf. Albert, Hans, »Transzendentaler Realismus und rationale Heuristik. Zum heuristischen Charakter der wissenschaftlichen Methode«, in: Albert, Hans, Die Wissenschaft und die Fehlbarkeit der Vernunft. Tübingen 1982, S. 37–57, hier S. 48. Näheres zur fehlerhaften Vermengung von Gewissheit und Wahrheit bei Kreiner, Armin, Ende der Wahrheit? Zum Wahrheitsverständnis in Philosophie und Theologie. Freiburg [u. a.] 1991, S. 118–165. 103 Cf. Descartes, Meditationen über die Grundlage der Philosophie, S. 44. 104 Cf. Descartes, Meditationen über die Grundlage der Philosophie, S. 62. Andreas Kemmerling weist in seiner Studie über den mittelbaren Zweifel an der eigenen Existenz bei Descartes darauf hin, dass »die evidente Wahrheitsautonomie des Existo« damit verträglich sei, dass »das Existo in metaphysischen Zweifel gezogen« werde und auch »das Existo ohne hinzukommende Gewißheit von der Existenz Gottes nicht gewiß, der Große Zweifel auch im Hinblick auf die eigene Existenz noch nicht ganz überwunden« sei. Kemmerling, Andreas, Ideen des Ichs. Studien zu Descartes’ Philosophie. (Klostermann Rote Reihe; 15) Frankfurt am Main 2005, S. 160. Selbst an der höchsten faktischen Evidenz des reinen Wissens könne unter der selbstgesetzten Voraussetzung eines Täuschergottes noch mittelbar gezweifelt werden, wenn der ExistoGedanke nicht mehr unmittelbar im Bewusstsein perzipiert, sondern nur noch im Gedächtnis, i. e. »im unausgeleuchteten Hintergrund des Bewußtseins« stehe. Ebd., S. 175. Das Existo ist folglich unbezweifelbar, solange es gedacht wird. Die eigene
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cogitatio angemeldet. Das Denken sei immer zeitgebunden, sodass die gegenwärtige Seinsgewissheit nicht meine zukünftige Existenz garantiere: »Ich kann nicht sagen: ich denke (jetzt), also bin ich immer.« 105 Wagner hat diesen argumentativen Schritt in seiner Diskussion von Wolfgang Cramers (1901–1974) Philosophie des Absoluten einsichtig analysiert. Denke man sich das Prinzip des Wissens als endlich und bedingt, m. a. W. als letztbegründungsinsuffizient, wolle aber gleichzeitig den Gedanken der Wahrheit als prinzipiell unbedingt und unendlich, m. a. W. als letztbegründet, festhalten, so müsse die Möglichkeit der Wahrheit des Wissens ganz oder teilweise an einem transzendenten Prinzip außerhalb dieses Wissens hängen und könne folglich nicht unterschiedslos mit ihm koinzidieren. 106 Christian Krijnen bezeichnet diese prinzipientheoretische Option, den letzten Grund aller Geltung durch ein jenseits der endlichen Erscheinung liegendes metaphysisches Seinsprinzip zu sichern, im Anschluss an Heinrich Rickert (1863–1936) als metaphysisches Begründungstheorem. Augustinus’ (354–430 n. Chr.) Gott als die veritas ipsa subsistens und Descartes’ Gott als nicht täuschende Quelle der Wahrheit seien philosophiegeschichtliche Beispiele hierfür. 107 Die »Tübinger Platonschule« hat zudem gezeigt, dass Platons »ungeschriebene Lehre« die systematische Gestalt einer Metaphysik des Einen (henologie) hat, die über sich hinausweist auf die übergegensätzliche Einfachheit der absoluten Transzendenz, die allem Denken und Erkennen prinzipiell entzogen bleibt. 108 Daran anschließend hat Jens Halfwassen Fichtes Philosophie des Absoluten in eine henologische Denktradition eingereiht, die sich durch alle epochalen Wendungen der abendländischen Philosophiegeschichte durchhält und von der negativen Henologie Platons (ca. 428–348 v. Chr.) und seines Neffen Speusipp (ca. 410–338 v. Chr.) und der henologisch fundierten Geistmetaphysik Existenz ist allerdings indirekt bezweifelbar, solange die Existenz eines Täuschergottes für möglich gehalten wird. Cf. Ebd., S. 178. 105 Lauth, Descartes’ Konzeption des Systems der Philosophie, S. 48. Cf. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, S. 98. 106 Cf. Wagner, Hans, »Ist Metaphysik des Transzendenten möglich?«, in: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer. (Hg.) Henrich, Dieter – Wagner, Hans. Frankfurt am Main 1966, S. 290–326, hier S. 319. 107 Cf. Krijnen, Nachmetaphysischer Sinn, S. 170. 108 Cf. Halfwassen, Jens, »Platons Metaphysik des Einen«, in: Platon verstehen. Themen und Perspektiven. (Hg.) Ackeren, Marcel van. Darmstadt 2011, S. 263–278.
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(noologie) eines Plotin (204–270 n. Chr.), Proklos (412–485 n. Chr.) und Damaskios (ca. 458–538 n. Chr.) über die christlichen Transformationen des Neuplatonismus bei Dionysius Pseudo-Areopagita (zw. 476–518/28 n. Chr.), Johannes Scotus Eriugena (9. Jh. n. Chr.), Meister Eckhart (um 1260–1328) und Nikolaus von Kues (1401–1464) bis hin zur Spätphilosophie Schellings führt und ihre Fortsetzung in den zeitgenössischen Arbeiten von Werner Beierwaltes, Dieter Henrich, Wolfgang Janke, Gunnar Hindrichs und Wolfram Hogrebe findet. 109 In den Wissenschaftslehren der Jenaer Schaffensperiode hatte Fichte die Wahrheit hingegen noch in das absolute Ich als der invarianten Grundform allen Wissens und dem letztbegründeten Urprinzip seines Systems gesetzt und somit Wahrheit und Geltung miteinander identifiziert. 110 Von dieser Wahrheitskonzeption unterscheidet sich 109 »Der späte Fichte und der späte Schelling restituieren damit gegen Hegels Ineinssetzung des Einheitsgrundes mit dem Geist Plotins Fundierung des Geistes im transzendenten Einen.« Halfwassen, Jens, Auf den Spuren des Einen. Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte. (Collegium Metaphysicum; 14) Tübingen 2015, S. 25. Für Halfwassen vollendet sich das systematisch unentbehrliche metaphysische Denken in einer noologisch fundierten Henologie als einer radikalen Form negativer Transzendentaltheologie, die das Absolute nicht als in sich komplexe Totalitätsstruktur des Geistes und konkrete Einheit im Hegel’schen Sinne, sondern als schlechterdings alle Differenz und Vielheit ausschließende Einfachheit und absolute Transzendenz jenseits des Seins (epekeina tês ousias) denkt, der als solcher nur in einer radikalen Verneinung der Weltstruktur und Selbstaufhebung des Wissens in der cusanischen Denkform eines wissendes Nichtwissens (docta ignorantia) unterschiedslos entsprochen werden kann. Cf. Ebd., S. 1–87. Gegen diese Lesart der Wissenschaftslehre als einer Variante der negativen Theologie, der es primär um das »Durchbrechen zum Absoluten« geht, hat sich Christoph Asmuth wiederholt kritisch geäußert. Cf. Asmuth, Christoph, Das Begreifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte 1800–1806. (Spekulation und Erfahrung; 2, 42) Suttgart-Bad Cannstatt 1999, S. 376 f. Demnach sei das Absolute in Fichtes Wissenschaftslehre »langweilig« und wer sich dafür interessiere, verfehle den methodologischen Status der Wissenschaftslehre völlig: »Aus dem Absoluten ist nichts herauszuholen, es gibt dort nichts zu erschöpfen, nichts quillt dort über wie beim überseienden Absoluten der Neuplatoniker. Mit dem Absoluten ist so wenig Staat zu machen wie Religion, ja noch nicht einmal Erkenntnistheorie ist durch es möglich.« Asmuth, Christoph, »Fichte und das Absolute. Ein grundlegendes Missverständnis der späten Wissenschaftslehren J. G. Fichtes«, in: Die Begründung der Philosophie im Deutschen Idealismus. (Hg.) Ficara, Elena. (Kultur – System – Geschichte; 3) Würzburg 2011, S. 315–327, hier S. 321. Gegen Asmuths einseitige Deutung von Fichtes Absolutheitstheorie richtet sich die Interpretation von Pecina, Björn, Fichtes Gott. Vom Sinn der Freiheit zur Liebe des Seins. (Religion in Philosophy and Theology; 24) Tübingen 2007, S. 24. 110 Gemäß einer korrespondenztheoretischen Wahrheitstheorie (veritas est adaequa-
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die Position des mittleren und späten Fichte, insofern Wahrheit für Fichte nun in der übergegensätzlichen und einfachen Einheit des Absoluten gründet, die selbst der Einheit und Identität des reinen Wissens noch zugrundeliegt. Dieser Wandel in der Wahrheitskonzeption ist u. a. auf die philosophische Auseinandersetzung mit der einflussreichen Kritik Jacobis und den Atheismus-Streit zurückzuführen, in dessen Verlauf Fichte im Frühling 1799 seiner Professur in Jena enthoben wurde. Jacobi hatte in seinem offenen Sendschreiben (1799) moniert, dass Fichtes Wissenschaftslehre jedes Ansich und damit alle Realität außerhalb des sich selbst setzenden und als Wahrheitsgrund wissenden (absoluten) Ichs zu Nichts mache, indem es alles Wesen in Wissen verwandle, sodass alles im Nichts einer wahrheitslosen Selbstbespiegelung endlicher Reflexionsformen versinke: »Alles außer ihr [der Wissenschaftslehre; F. V.] ist Nichts, und sie selbst nur ein Gespenst; ein Gespenst, nicht einmal von Etwas; sondern, ein Gespenst an sich: ein reales Nichts; ein Nichts der Realität.« 111 Dieser Mangel an Realität hatte Jacobi bekanntermaßen dazu veranlasst, den Idealistio intellectus et rei) besteht Wahrheit in der Adäquation von Gegenstand/Sein (res) und Vorstellung/Denken (intellectus). Die transzendentale Suche nach der Wahrheit setzt grundlegender an und fragt nach dem Punkt ursprünglicher Identität von Vorstellung und Gegenstand und somit nach den apriorischen Bedingungen der Möglichkeit einer aposteriorischen Korrespondenztheorie der Erscheinungswahrheiten. Die Notwendigkeit einer Reflexion auf die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit einer Korrespondenztheorie hatte Schelling in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) folgendermaßen zum Ausdruck gebracht. Die Aufgabe bestehe darin das »Princip alles Wissens zu finden« oder – was das Gleiche sei – einen Punkt zu finden, »in welchem das Objekt und sein Begriff, der Gegenstand und seine Vorstellung ursprünglich, schlechthin und ohne alle Vermittlung Eins« seien. Denn es sei schlechterdings unerklärlich, wie Vorstellung und Gegenstand übereinstimmen können, wenn nicht im Wissen selbst ein Punkt sei, »wo beide ursprünglich Eins – oder wo die vollkommene Identität des Seyns und des Vorstellens« sei. Da nun die Vorstellung das Subjektive, das Sein aber das Objektive sei, bestehe die Aufgabe darin, den Punkt zu finden, »wo Subjekt und Objekt unvermittelt Eines« seien. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, System des transzendentalen Idealismus (1800). (Ausgewählte Werke; 2) Darmstadt 1990, S. 327–632, hier S. 364. In den Wissenschaftslehren der Jenaer Schaffensperiode nahm diesen unvermittelten Kongruenzpunkt von Subjekt und Objekt die intellektuelle Selbst-Anschauung der Intelligenz als reiner Tathandlung ein, die Fichte im unhintergehbaren Grundsatz (Ich = Ich) festhielt und als letztbegründete Wahrheit und einzig sicheren Standpunkt der Philosophie proklamierte. 111 Jacobi, Friedrich Heinrich, »Jacobi an Fichte (1799)«, in: Schriften zum transzendentalen Idealismus. (Hg.) Jaeschke, Walter – Piske, Irmgard-Maria. (Werke; 2, 1) Hamburg/Stuttgart 2004, S. 191–258, hier S. 207.
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mus der Wissenschaftslehre als Nihilismus zu schelten und hinter den wesenlosen Einbildungen der Wissenschaftslehre das im Wissen nicht wissbare Wahre (Gott) zu postulieren, ohne das die Vernunft zu einem phantasmagorischen Unding herabsinken müsse. Fichtes Einheit des reinen Wissens sei demnach nicht das Wesen, nicht das Wahre, sondern verweise als »das Höchste in mir« mit »unwiderstehlicher Gewalt […] auf ein Allerhöchstes über und außer mir« 112, i. e. auf das Reale, »das Seyn, welches einen Schein nur von sich giebt, und das wohl durchscheinen muß in den Erscheinungen, wenn diese nicht An-sich-Gespenster, Erscheinungen von Nichts seyn sollen.« 113 Ohne substantiellen Seinsgehalt, ohne etwas »außer dem bloßen Bilde liegendes Reelles« 114 – so Fichte in seiner zum Teil wörtlichen Adaption der Kritik Jacobis in Die Bestimmung des Menschen (1800) – bliebe uns nur »ein System bloßer Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck.« 115 Wahrheit könne es hier nicht geben, denn das System des Wissens sei in sich selbst absolut leer. Edith Düsing bezeichnet diesen grundstürzenden Umbruch in Fichtes Denken und dessen tiefgreifende Neubestimmung des Verhältnisses von Ich und Absolutem als »Augustinische Wende«, in deren Vollzug das absolute Ich aus seiner ursprünglichen Begründungsfunktion enthoben und das Absolute bzw. Gott als dessen letzter Grund von Fichte anerkannt worden seien. 116 Ebenso radikal wie der Ebd., S. 210 Ebd., S. 208. 114 GA I/6, S. 252. 115 GA I/6, S. 252. »Es ist kein Seyn. – Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind; sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder die vorüberschweben, ohne daß etwas sey, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. – Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken, – die Quelle alles Seyns, und aller [/] Realität, die ich mir einbilde, meines Seyns, meiner Kraft, meiner Zwecke, – ist der Traum von jenem Traume.« GA I/6, S. 251. 116 Dafür steht paradigmatisch folgender Satz: »Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas, et si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende et te ipsum. […]. Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Und wenn du deine Natur noch wandelbar findest, so schreite über dich selbst hinaus!« De vera Religione 39, in: Augustinus, Aurelius, Theologische Frühschriften, S. 486 f. 112 113
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frühe Fichte das sich selbst setzende Ich verkündet habe, so lehre der Fichte ab 1804 nun »das sich selbst depotenzierende Ich« 117 und an die frühere Stelle »originären Sichverstehens des Ich aus dem Urgrunde seiner schöpferischen Freiheit« trete nun das »freiwillige Sichbilden des Ich zum Bilde Gottes.« 118 Doch ungeachtet der historischen Motive, die für Fichtes transzendental-kritische Neubestimmung der Wahrheit angeführt werden können, ist doch vor allem die theoretische Einsicht zentral, dass mit der höchsten faktischen Evidenz des reinen Wissens als dem Grundprinzip alles Gewussten nicht das Wesen der Wahrheit erreicht ist. Dies hat Fichte 1804 besonders deutlich formuliert und jeden Zugang zur absoluten Wahrheit, der an einer Verabsolutierung des Selbstbewusstseins festhält, prinzipiell aus der Wissenschaftslehre ausgeschlossen: [D]er Grund der Wahrheit, als Wahrheit, liegt doch wohl nicht in dem Bewußtsein, sondern durchaus in der Wahrheit selber; von der Wahrheit mußt du also immer das Bewußtsein abziehen, als derselben durchaus nichts verschlagend. Es bleibt dieses nur die äussere Erscheinung der Wahrheit, aus der du nicht herauskommen kannst, […]. Wenn du aber glaubst, in diesem Bewußtsein liege der Grund, daß Wahrheit Wahrheit ist; so verfielest du in den Schein 119.
Seitdem bei Descartes das Selbstbewusstsein als Garant der Gewissheit aufgetreten war, war es immer einer zusätzlichen Sicherung aus dem Absoluten bedürftig geblieben. 120 Insofern auch die Wissenschaftslehre Letztbegründung von Wissen sein soll, muss sie also unweigerlich zu einer Theorie des Absoluten avancieren und die Notwendigkeit eines transzendentalen Transzensus über das reine Wissen anerkennen. So vollzieht auch Fichte in der Berliner Phase eine Wendung von der endlichen Intelligenz zum Absoluten und versucht die Selbstgewissheit des reinen Wissens mit einem absoluten Sein als fundamentum inconcussum und Realgrund zusammenzunehmen, der mit der absoluten Wahrheit koinzidiert und das reine Wissen somit in seinem tiefsten Zusammenhang mit dem Absoluten zu durchDüsing, Edith, »Atheismus – Egoismus – Nihilismus: Jacobis furiose Fichte-Kritik und Fichtes philosophische Antwort«, in: Religion in der globalen Moderne. Philosophische Erkundungen. (Hg.) Schelkshorn, Hans – Wolfram, Friedrich – Langthaler, Rudolf. (Religion and Transformation in Contemporary European Society; 7) Göttingen 2014, S. 123–145, hier S. 136. 118 Düsing, Atheismus – Egoismus – Nihilismus, S. 137. 119 GA II/8, S. 204. 120 Cf. Janke, Fichte, S. 214. 117
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dringen. Für eine wissenschaftliche Letztbegründung bedarf es also einer vollständigen Genetisierung der höchsten faktischen Evidenz des reinen Wissens aus dem Absoluten selbst, um auch noch das Prinzip und die Möglichkeitsbedingung dieses ansich letztbegründungsinsuffizienten Prinzipats des Absoluten einsichtig zu machen. Daran schließt sich die für eine transzendentalkritische Philosophie des Absoluten entscheidende Frage an, die Janke im Anschluss an Friedrich Hölderlins (1770–1843) programmatischen Entwurf Urtheil und Seyn (1795) 121 und Isaak von Sinclairs (1775–1815) Philosophische Raisonnements (1795/96) 122 dergestalt formuliert hat: »Wie kann eine Ontologie über das Bewußtsein hinausgehen, ohne transzendent zu werden« und kann es überhaupt einen Überstieg vom reinen Wissen und der Subjekt-Objekt-Identität zum absoluten Sein geben, der gleichzeitig »die Generalregel beachtet, die Schranken menschlicher Erkenntnis nicht zu überfliegen und die Handlungsgesetze des Ich im Vorstellen von dem, was ist, zu respektieren?« 123 Der darin beschlossenen Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit eines transzendentalen Transzensus vom absoluten Wissen zum absoluten Sein gilt es abschließend nachzugehen.
121 Cf. Hölderlin, Friedrich, »Urtheil und Seyn«, in: Der Tod des Empedokles. Aufsätze. (Hg.) Beissner, Friedrich. (Hölderlin. Sämtliche Werke; 4, 1) Stuttgart 1961, S. 216 f. 122 Cf. Sinclair, Isaak von, »Philosophische Raisonnements«, in: Hegel, Hannelore, Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der idealistischen Philosophie. (Philosophische Abhandlungen; 37) Frankfurt am Main 1971, S. 243–283. 123 Janke, Wolfgang: »›Dieses Seyn muß nicht mit der Identität verwechselt werden.‹ Hölderlin im Jena der Fichtezeit«, in: Janke, Wolfgang: Entgegensetzungen. Studien zu Fichte-Konfrontationen von Rousseau bis Kierkegaard. (Fichte-Studien-Supplementa; 4) Amsterdam/Atlanta 1994, S. 119–133, hier S. 127. Eine ausführliche Analyse der Selbstverleugnung des Ich als Weg zum unbekannten Gott bei Hölderlin, Sinclair und Fichte findet sich bei Janke, Wolfgang, Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes. Berlin/New York 1993, S. 74–106. Auch Novalis bzw. Friedrich von Hardenberg (1772–1801) habe in einigen seiner Programmnotizen bereits »mit Fichte über Fichte hinaus auf den Weg eines transzendentalen Überstiegs ins Absolute« gewiesen. Ebd., S. 315. Bernward Loheide bringt Hardenbergs diesbezügliche Position konzentriert auf den einen Satz: »Nur zugrunde gehend kann das Ich zu seinem Grunde gehen!« Loheide, Bernward, Fichte und Novalis. Transzendentalphilosophisches Denken im romantisierenden Diskurs. (Fichte-Studien-Supplementa; 13) Amsterdam/Atlanta 2000, S. 120.
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3.3. Die Anknüpfung des reinen Wissens an das Absolute im transzendentalen Transzensus Dass das Ich über sein Setzen reflektiere und wissen wolle, was unabhängig von seinem Setzen, die Erscheinung unabhängig vom Subjekt und das Reflektierte ohne Reflexion sei, das war für Sinclair Beweis dafür, dass das Ich »ein Streben« habe, »die Trennung der Reflection aufzuheben, und für das Ich sein in ein absolutes Sein zu verwandeln.« 124 Darin bestehe auch die »unläugbare Aufgabe, Gott, Ich und Materie zu vereinigen« und »etwas unabhängig von meiner idealen Production vorhandes anzunehmen«, sodass die Idee dieser Realität »mich aus meinem Wissen« heraus treibe. Mit »der Form eines Ichs« sei dies allerdings schlechterdings unmöglich, da sich das urteilende Ich bei der gesuchten Realität »immer allem entgegensetzen« und »etwas außer sich denken« 125 würde, wie Gott als »absolutes Nicht-Ich« 126. Dennoch hielt Sinclair es für prinzipiell möglich, über das Wissen hinauszugehen und ein unvordenkliches und schlechthin einfaches Sein jenseits seiner selbst anzunehmen, insofern man dabei rein negierend verfahre. 127 Der theoretische (thetische) Standpunkt, auf dem das Wissen als der letzte Erklärungsgrund angenommen werde und die absolute Einheit des Seins nur als »das höchste Regulativ des Wissens« 128 in den Blick komme, müsse daher zugunsten eines praktischen (athetischen) Standpunktes überwunden werden, denn das erscheinende Wissen sei immer »Produkt der Reflection« und als solches schlechterdings unfähig, die »Einigkeit« als ursprünglich ungeteilte und gegensatzlose Einheit von Einheit und Mannigfaltigkeit zu denken. 129 Nur durch ein »gänzliches Herausgehen aus der Form des Bewusstseins« 130 und eine transzendentale Selbstverleugnung des Ich vermittels einer absoluten Abstraktion von aller Sinclair, Isaak von, Philosophische Raisonnements, S. 254. Ebd., S. 247. 126 Ebd., S. 249. 127 »Transcendent ist die [Philosophie; F. V.], die das Bestimmen des Ich weiter als für ein Ich, außer dem Bewustsein anwendet.« Ebd., S. 250. 128 Ebd., S. 260. 129 »Aber die Einheit ist nicht die höchste Foderung, die Einheit selbst kann noch entgegengesezt werden der Einigkeit und eben deswegen kann sie noch Gegenstand der Reflection sein. Die Einheit also wäre für sich nichts, wenn sie nicht könnte bezogen werden auf die Mannichfaltigkeit, id est entgegengesezt werden der Foderung der Einigkeit.« Ebd., S. 259. 130 Ebd., S. 263. 124 125
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Reflexion sei der Auf- und Überstieg zum Absoluten möglich, ohne dabei transzendent zu werden. Diesen im Gedankenaustausch mit seinem Freund Hölderlin entstandenen Grundgedanken notierte der knapp 20-jährige Sinclair in nicht zu überbietender Klarheit: Die Aufgabe des Wissens geht weiter zurück als die Form des Wissens. Die Gränze des Wissens ist die des Bewustseins eines Ichs, man kann nur wissen für ein Ich. Die Form jedes Wissens ist Reflection. Was aber außer der Reflection ist, das kann ich nur (wissen) durch die Negation meines Wissens, dadurch daß ich zeige, daß die Schuld am Wissen liege, daß ich es nicht wissen könne und dadurch daß ich die Form des Wissens entferne. 131
Allein unter der Maßgabe dieser transzendentalen Selbstverleugnung des Ich und der Reflexion habe das Ich »das Recht etwas absolut zu setzen, nicht für ein Ich zu setzen, nicht mit den Gesetzen der Reflection zu begründen.« 132 Auch Gottlob Ernst (Aenesidemus-)Schulze (1761–1833) hatte in seinen Aphorismen über das Absolute (1803) die prinzipielle Insuffizienz der Reflexion herausgestellt. Der Verstand sei schlechterdings unfähig, sich jemals denkend zu einem An-sich-sein zu erheben, da er wesensmäßig aus lauter Relationen und Bedingtheiten bestehe und alles dasjenige, was bloß durch und für ein Anderes Etwas sei, nur scheinbares Sein für sich beanspruchen könne. Alle einzelnen und bestimmten Begriffe seien nur in durchgängiger Beziehung aufeinander oder bloß dadurch, dass sie nach-, mit- und durch-einander existieren und außerhalb dieser Relation nichts. 133 Davon ist selbst der Begriff des Absoluten nicht ausgenommen, der in einer logischen Dependenz zum Relativen steht und als begrifflich Fixiertes nur eine relative Bestimmung ist, wie Fichte dies eingängig im Erlanger Vortrag der Wissenschaftslehre von 1805 demonstriert: Das absolute, ganz rein gefaßt, ist ein Begriff: u. zwar ein Relationsbegriff, durchaus nur verständlich neben dem Nichtabsoluten, […]. Das Absolute ist sonach als absolutes, eben nicht absolut. 134
Ebd., S. 247. Ebd., S. 250. »Dies selbtverläugnende Bewustsein, diese selbstverläugnende Reflection wie das selbstverläugnende Ich wollen wir das transcendentale nennen.« Ebd., S. 256. 133 Cf. Schulze, Gottlob Ernst, »Aphorismen über das Absolute«, in: Neues Museum der Philosophie und Litteratur. Ersten Bandes zweites Heft. (Hg.) Bouterwek, Friedrich. Heipzig 1803, S. 105–148, hier S. 112. 134 GA II/9, S. 222. 131 132
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Absolut ist selbst ein relativer Begriff, nur denkbar im Gegensatze mit dem relativen; u. ich wünschte das K[un]ststük, den ersten ohne das lezte zu denken, angestellt zu sehen. Sie helfen sich dadurch, daß sie überhaupt nicht denken, […]. Wem die Absolutheit beigelegt wird, dem wird sie gerade dadurch genommen. 135
Das Absolute wird durch das objektivierende Denken im Medium des Relationsbegriffes allerdings nicht nur unausweichlich in ein Relatives verwandelt, sondern als das unmittelbare Leben zugleich auch in den Tod. 136 Sobald wir es nur denken, so Fichte in Der Patriotismus, und sein Gegentheil (1806/07), denken wir das göttliche Sein und Leben »hin, als ein leblos bestehendes und beharrendes Ding« und wir »haben wohl ein anderes Wort, aber keinen andern Sinn.« Stattdessen sollen wir »es denken, ohne es zu denken«, damit »es nicht außer« uns »zu stehen komme und ersterbe«, sondern wir »Eins bleiben mit demselben«. Kurz, wir sollen das Leben »faßen nicht im Denken, sondern in lebendiger Anschauung.« 137 Diese lebendige Anschauung des im Begriff unbegreiflichen Seins, das sich als solches nur in seiner schlechthinnigen Unbegreiflichkeit begreifen lässt und der im Denken unvordenklichen Urrealität des Lebens, das sich als solches nur in seiner Undenkbarkeit denken lässt, stellt sich wie zuvor bei Sinclair auch bei Fichte erst vermittels der methodischen Grundoperation einer transzendentalen Totalabstraktion ein, in der alle Modi und Relationen des Wissens und damit zugleich das Ich abschlie-
135 GA II/9, S. 195. Eine Einsicht, die sich bereits in aller Deutlichkeit im Grundriss der pyrrhonischen Skepsis bei Sextus Empiricus (2. Jh. n. Chr.) findet: »Es läßt sich aber noch gesondert beweisen, daß alles relativ ist, und zwar folgendermaßen: Unterscheidet sich das Absolute vom Relativen oder nicht? Wenn es sich nicht unterscheidet, ist es selbst auch relativ. Wenn es sich aber unterscheidet, so ist das Absolute ebenfalls relativ. Denn alles Unterschiedene ist relativ, weil es mit Bezug auf dasjenige so heißt, von dem es sich unterscheidet.« Pyrrhoneiai hypotyposeis I, 137, in: Hossenfelder, Malte, Sextus Empiricus. Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt am Main 1968, S. 125. 136 Janke charakterisiert das dem Wissen in seinem innersten Wesen unzugängliche Sein Fichtes in Abgrenzung zu Hegels prozessualem Sein treffend als »werdeloses Leben, das immer schon in sich aufgegangen ist.« Janke, Vom Bilde des Absoluten, S. 116. 137 GA II/9, S. 428. Im Erlanger Vortrag der Wissenschaftslehre findet sich eine analoge Formulierung Fichtes. Demnach lasse sich das Absolute als Absolutes »gar nicht verstehen, sondern nur anschauen. Seine Form allhier« sei »Licht, Intuition, als absolut innerlich, geschloßnes u. stehendes Leben«, während »dagegen das Verstehen ein fließendes Leben« sei. GA II/9, S. 274.
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ßend negiert werden. 138 Aus dem Denken kommen wir Fichte zufolge zwar denkend (faktisch) nie heraus, aber intelligibel, insofern sich das Denken im durchgeführten Selbstverständnis vernichtet und über sich hinausweist als bloßes Schema des göttlichen Seins: Nach Aufgabe der absoluten Relation, die selber noch am ursprünglichen Ansich, das auf ein Nichtansich hinwies, sich zeigte, blieb uns Nichts übrig, als das reine bloße Sein, wobei unsere objektivirende Intuition, der Maxime zufolge, als ungültig abgewiesen werden mußte. – Was ist nun in dieser Abstraktion von der Relation dieses reine Sein? Können wir es uns etwa noch deutlicher machen, und es nachconstruieren? Ich sage ja: selber die uns aufgelegte Abstraktion hilft uns. Es ist durchaus von sich, in sich, durch sich; dieses sich gar nicht genommen als Gegensatz, sondern rein innerlich, mit der befohlenen Abstraktion gefaßt, […]. Es ist daher, um uns auf eine scho[/]lastische Weise auszudrücken, construirt, als ein esse in mero actu, so daß beides Sein und Leben, und Leben und Sein durchaus sich durchdringen, in einander aufgehen, und dasselbe sind, und dieses dasselbe Innere das Eine und alleinige Sein. 139
»In der That«, so notiert Fichte zu Johann Friedrich Herbarts (1776– 1841) Hauptpunkten der Metaphysik (1807/08), bezeichne der Grenzbegriff des Absoluten »formell betrachtet und mit Abstraktion von seinem nur im wirklichen Erleben zu erfahrenden Gehalte – lediglich die leere Stelle der Selbstvernichtung des Schema an seinem absoluten Sein« 140. Für die Wissenschaftslehre, die doch »ihr Wesen im Begriffe« habe, müsse diese absolute Negation des Begriffes »wohl ewig = 0 bleiben« und »nur im Leben zur Position« 141 werden. Dieser Methodenweg, der über die Selbstverleugnung des Ich und durch die völlige Abstraktion der Reflexion hindurch zu einem »bewußtseinstranszendenten Absoluten« führt, kann Janke zufolge 138 »[D]er vernichtete Begriff, ist ohne Zweifel das subjektive Denken, oder Bewußtsein […]; so ist seine Vernichtung vor der Gültigkeit an sich, falls ich nicht mehr bin, als sein Princip, zugleich meine Vernichtung in derselben Beziehung, und das ergriffen- und Hingerissenwerden von der Evidenz, die nicht ich mache, sondern die sich selber macht, ist das erscheinende Bild meines Vernichtetwerdens und Aufgehens in’s reine Licht.« GA II/8, S. 116. »Hier liegt nun […] die Stätte der Vernichtung unsrer selber in der Wurzel, d. h. sogar in der Intuition des Absoluten, was denn doch wohl ohne Zweifel unsre Wurzel seyn dürfte, und bisher dafür gegolten. Wer an dieser Stelle zu Grunde geht, der wird wohl keine Wiederherstellung von einem relativen, endlichen, und beschränkten erwarten.« GA II/8, S. 169. 139 GA II/8, S. 228. 140 GA II/11, S. 254. 141 GA II/8, S. 146.
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»gleichwohl transzendental heissen«, denn er laufe »auf die letzte notwendige Bedingung zu, welche das Aufleuchten des wahren Seins« überhaupt erst möglich mache: »die Negierung der Allmacht reflexiver Wissensformen.« Nur eine »transzendentale Selbstvernichtung« ermögliche »einen Überstieg zum Absoluten, der die Begrenztheit menschlichen Bewußtseins« nicht überfliege, sondern »bis zur äußersten Grenze« durchdringe. So zeichne sich bei Fichte »programmatisch die Gestalt einer Philosophie ab, die über das endliche Bewußtsein zu einem überichlichen Sein hinausgeht, ohne die transzendentale Besonnenheit preiszugeben.« 142 Mit dem Gipfelsatz der Wahrheits- und Vernunftlehre – »[D]as Seyn ist durchaus ein in sich geschlossenes Singulum des unmittelbaren lebendigen Seyns, das nie aus sich heraus kann« 143 – befinde sich Fichte »auf der Bahn transzendental-kritischer Selbstbegrenzung zum unbekannten Gott« 144 und eröffne auf diese Weise den Weg »zu einer negativen Theologie im Stadium transzendental besonnener Vollendung« 145. Daran ist im Folgenden anzuknüpfen und Fichtes kritische Grundlegung einer Transzendentaltheologie nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre anhand einer Analyse der Lehre des Absoluten im Advaita-Vedānta auf ihre transkulturelle Anwendbarkeit hin zu prüfen.
4.
Zur Lehre des Absoluten im Advaita-Vedānta
Vedānta bedeutet wörtlich Ende des Veda und bezeichnet damit die Upaniṣads (ab ca. 700 v. Chr.) als jüngste Schicht und Abschluss (anta) der vedischen Textsammlung und in einem metaphorischen Sinn die Vollendung des Wissens (veda) und das Endziel der Veden selbst. Wörtlich bedeutet upaniṣad so viel wie »(sich) niedersetzen«, »sich (zu einem Lehrer) setzen«, aber auch »Zusammen-Setzen« oder »(etwas) in Beziehung setzen«, insofern die Upaniṣads das Prinzip der Analogie und somit den »(verborgenen) Zusammenhang« zwischen menschlichem Mikrokosmos (adhyātman) und göttlichem Janke, Dieses Seyn muß nicht mit der Identität verwechselt werden, S. 129. GA II/8, S. 243. 144 Janke, Wolfgang, »Hölderlin und Fichte. Ein Bivium zum unbekannten Gott (1794–1805)«, in: Transzendentalphilosophie als System. Die Auseinandersetzung zwischen 1794 und 1806. (Hg.) Mues, Albert. (Schriften zur Transzendentalphilosophie; 8) Hamburg 1989, S. 294–312, hier S. 295. 145 Janke, Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus, S. 246. 142 143
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Makrokosmos (adhidaivatam) offenbaren. Diese Lehren galten der orthodoxen Tradition des Brahmanismus als geheim, weshalb die Upaniṣads auch als Arkanum (rahasya) bezeichnet wurden, das im Gegensatz zur Lehre der exoterischen Tradition des frühen Buddhismus, der an Proselytismus und damit grundsätzlich auch an einer Laiengemeinde interessiert war, nur von Berufenen bei einem in der Schriftlehre versierten (śrotriya) und in brahman gegründeten (brahmaniṣṭa) Meister (guru) in Erfahrung gebracht werden konnte. 146 Darin liegt auch der tiefere Grund dafür, dass der Mogul-Prinz Dārā Šukōh (1615–1659) seiner persischen Übersetzung von insgesamt fünfzig Upaniṣads den Namen Sirr-i akbar (das große Geheimnis) gab und Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron (1731–1805) dem Oupnek’hat (1801/1802), seiner zweibändigen lateinischen Übersetzung des Sirr-i akbar, den erläuternden Nebentitel secretum tegendum (ein zu bewahrendes Geheimnis) beifügte. 147 Der südindische Asket und Wanderprediger Śaṅkara, um dessen Auslegung und Systematisierung es im Folgenden gehen soll, leitet aus der Etymologie des Wortes upaniṣad insgesamt vier verschiedene Bedeutungen ab. Demnach bedeutet upaniṣad für ihn wesentlich brahman-Gnosis (brahmavidyā) bzw. das erlösungskonstitutive Wissen, dass göttlicher Urgrund (brahman) und das wahre Selbst (ātman) des Menschen in ihrer Wurzel ewig ungetrennt und uranfänglich eins sind (brahma-ātma-aikyam), weil für diejenigen, die nach diesem Wissen trachten, die Banden der Werdewelt (saṃsāra) in Form von kontinuierlicher Wiedergeburt, Alter, Krankheit und Tod schwinden und zunichte werden (niśātana/avasādana); weil der Mensch durch dieses Wissen zum brahman gelangt (upanigamayitṛtvāt), indem er realisiert »Mein ātman selbst ist das brahman« (svayaṃ ca ātmā brahman) und weil dieses Wissen in sich das höchste Gut (paraṃ śreya) der Befreiung (mokṣa) enthält (upaniṣaṇṇam). Daher tragen auch diejenigen philosophischen Abhandlungen (grantha), die Ursache jenes Wissen sind, den Namen Upaniṣad. 148
146 Cf. Slaje, Walter, Upanischaden. Arkanum des Veda, Frankfurt/Leipzig 2009, S. 383 ff. 147 Cf. App, Urs, Schopenhauers Kompass. Die Geburt einer Philosophie, Rorschach/ Kyoto 2011. 148 Taittiriyopaniṣad: Śaṅkaras Sambandha-Bhāṣya, in: Divyajñāna Sarojini Varadarajān, Taittiriyopaniṣad with Śāṅkarabhāṣyam. Vol. 1. Anaikatti, Coimbatore: Arṣa Vidyā Gurukulam 2014, S. 57 f. Cf. Satchidānandendra Saraswati, Swāmi, How to
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Der strikt nondualistischen (advaita) Veda-Exegese (uttarāmīmāṃsa) Śaṅkaras zufolge lehren die großen Aussprüche der Upaniṣads (mahāvākyāni) die absolute Nicht-Zweiheit (kevalādvaita) des eigenen Selbst (ātman) mit dem attribut- (nirupādhika) und eigenschaftslosen (nirguṇa) Urgrund der Welt (brahman). 149 Gleichwohl nehme man unter dem Einfluss der anfangslosen Verblendung (avidyā) an, dass das Selbst (ātman) »in das Aggregat von Leib u. s. w., welche nicht das Selbst sind, mit seiner Selbstheit eingegangen« 150 sei. Unsere existentiell prekäre Lage im Kreislauf des saṃsāra, der durch die metaphysische Unvollkommenheit einer endlosen Endlichkeit, physisches Leid und die selbstverursachten moralischen Übel willensfreier Wesen bestimmt ist, resultiert nach advaitischer Daseinsanalyse also aus einer fehlerhaften Interpretation der eigenen Person und der phänomenalen Wirklichkeit insgesamt. Wir leiden, weil wir unser leidloses Selbst (ātman), das seiner Natur nach in rein geistigem Sehen (dṛg) besteht, fälschlicherweise mit den ephemeren Projektionen des Gesehenen (dṛśya) identifizieren (adhyāsa). Erlösung (mokṣa) besteht in der intellektuellen Anschauung der übergegensätzlichen Wahrheit des transpersonalen ātman und der existentiellen Gründung in diese körperlose (aśarīra), wesenhaft eigene, all-erhabene und beständige Geistigkeit (kūṭastha-nitya-caitanyasvarūpa), die ununterscheidbar eins ist mit dem bestimmungslosen (nirviśeṣa) und aus bloßer Geistigkeit bestehenden (caitanyamātrātmaka) Wesen des ewigen (nitya), reinen (śuddha), weisen (buddha), erlösten (mukta), allwissenden (sarvajña) und allvermögenden (sarva-śakti-samanvita) brahman. 151 Erklärtes Ziel aller logisch-dialektischen Verfahren, Metaphern, Gleichnisse und Lehren des Advaita-Vedānta ist folglich die rhetorische Vermittlung der an sich unverrecognize the Method of Vedānta. Holenarsipur: Adhyātma Prakāśa Kāryālaya 1995, S. 22. 149 prajñānam brahma: »Bewusstsein ist Brahman« (Aitareyopaniṣad 3, 3); ayam ātmā brahma: »Dieses Selbst (ātmā) ist Brahman« (Māṇḍūkyopaniṣad 1, 2); tat tvam asi: »Das (brahman) bist Du (ātman)« (Chāndogyopaniṣad 6, 8, 7) und aham brahmāsmi: »Ich bin Brahman« (Bṛhadāraṇyakopaniṣad 1, 4, 10). 150 Brahmasūtraśaṅkarabhāṣya 1, 1, 5, in: Deussen, Paul, Die Sûtras’s des Vedânta. Oder die Çârîkara-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa nebst dem vollständigen Commentare des Çañkara. Hildesheim/New York 1982, S. 39. 151 Cf. Brahmasūtraśaṅkarabhāṣya 1, 1, 1, in: Ebd., S. 9. Cf. Upadeśasāhasrī-Gadyabandha 2, 73, in: Hacker, Paul, Upadeshasāhasrī. Unterweisung in der All-EinheitsLehre der Inder von Meister Shankara. Gadyabandha oder das Buch der Prosa. (Religionsgeschichtliche Texte) Bonn 1949, S. 39.
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mittelten Befreiungserfahrung (ātmā-sākṣātkāra/aparokṣānubhūti) durch die Negation falscher Übertragungen (adhyāsa) auf das Selbst (adhyāropa-apavāda-prakiīyā) und die wissende Wahrnehmung (anubhava) unserer zeitlosen Erlösung durch die Vernichtung unseres existentiellen Verblendungszusammenhangs (avidyā-nivṛtti).
4.1. Transzendentale Totalabstraktion und transzendentaler Transzensus im Advaita-Vedānta Um unser wahres Selbst zu erwecken, bedient sich auch der Advaitin der Methode einer radikalen Abstraktion von allem objektbezogenen Denken, um alles das methodisch auszuscheiden, was nicht vollkommen selbstevident und leugnungsresistent ist und durch Erfahrung widerlegt und negiert werden kann (bādhita). In der Schrift DṛgDṛśya-Viveka – der Unterscheidung (viveka) zwischen Sehen (dṛg) und Gesehenem (dṛśya) – wird diese Grenze aller Reduktion und die transzendentale Dimension des ātman als Zeugenbewusstsein (sākṣicaitanya) besonders prägnant indiziert: Das Sinnlich-Reale wird wahrgenommen und das Auge ist der Wahrnehmende. Dieses (Auge) wird wahrgenommen und der Verstand ist der Wahrnehmende. Die Modifikationen des Verstandes werden wahrgenommen und das Zeugenbewusstsein ist der Wahrnehmende. Allein das Zeugenbewusstsein wird niemals wahrgenommen (zum Gegenstand/Objekt der Erkenntnis). 152
Gegenüber diesem Zeugenbewusstsein wird all jenes zum Objekt, das als »Nicht-Ich« (anātman) objektiviert werden kann. Dazu gehört neben den Phänomenen der extramentalen Welt und unserem grobstofflich-physischen (sthūla-śarīra) auch unser feinstofflicher Körper (sūkṣma-śarīra/liṅga-śarīra), der alle intramentalen Gefühls- und Verstandestätigkeiten unserer empirischen Individualität und damit letztlich die gesamte Einheit der geistig-kognitiven und sinnlich-affektiven Innerlichkeit des Menschen umfasst. Alle unsere Affekte, Emotionen, Stimmungen, Erinnerungen und Gedanken müssen als wandelbare Objekte vom unwandelbaren Subjekt der Erkenntnis be152 rūpaṃ dṛśyaṃ locanaṃ dṛk tad dṛśyaṃ dṛktu mānasaṃ | dṛśya dhīvṛttayas-sākṣī dṛgeva na tu dṛśyate || Dṛg-Dṛśya-Viveka 1, Sanskrit in: Nikhilānanda, Swāmī, DṛgDṛśya-Viveka. An Inquiry into the Nature of the ›SEER‹ and the ›SEEN‹. Kalkutta 2006, S. 15.
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gleitet werden. Sie sind aber nur ephemer und akzidentell und dem persistierenden Selbst daher unwesentlich, von dem sie abgelegt werden können wie ein Gewand. 153 Der ātman ist gemäß der Lehre des Advaita-Vedānta also die nicht objektivierbare Grundlage eines jeden Erkenntnisakts und der sich stets gleichbleibende Zeuge (sākṣin), der den wechselnden Inhalten innerer und äußerer Erfahrung zugrundeliegt. Gegenüber diesem transzendentalen Subjekt fällt selbst die gegenständliche Ich-Vorstellung unseres wissenden Selbstbezugs als Gesehenes noch in das Gesichtsfeld des transzendentalen Zeugen. Für Śaṅkara besteht das alleinige Wesen des vom Ich gelösten Selbst daher in immerwährender und unmittelbarer Wahrnehmung (nityaupalabdhisvarūpatvāt), die jeder Objekterkenntnis und damit auch der gegenständlichen Selbsterkenntnis im Ich-Bewusstsein ungegenständlich vorausliegt. Als derart objekt- und subjektloses Zeugenbewusstsein synthetisiert der ātman die Mannigfaltigkeit innerer und äußerer Erscheinungen, die in der Erfahrung angetroffen werden kann, d. h., dass auch im Advaita-Vedānta die von Fichte beschriebene Wandelbarkeit und die mit dem Wandel unzertrennlich verbundene »Subjekt-Objektivität« 154 notwendig auf diese durchgängige Einheit des Bewusst-Seins als den transzendentalen Grund dieser Einheit bezogen werden können muss. Wie im absoluten Ego Husserls konstituieren sich auch im Advaita-Vedānta alle Unterscheidungen, wie Ich und Du, Innen und Außen zuallererst im transzendentalen BewusstSein des ātman-brahman. Da dieses Zeugenbewusstsein selbst nicht zum Objekt der Erkenntnis und daher auch nicht kategorial bestimmt werden kann, ist eine »klassische Subreption im paralogistischen Schein« 155 und die Hypostasierung des ātman zu einer singulären Seelensubstanz im Advaita-Vedānta schlechterdings unmöglich, denn eine Substanz, der dieses Zeugenbewusstsein als Eigenschaft zukäme, gibt es laut Śaṅkara nicht. Ein fehlerhafter Zugriff auf das Absolute, der das Bedingte für das Unbedingte hält oder den ātman reifiziert oder qua Objektivation und Subreption hypostasiert, findet folglich nicht statt. Der ātman ist absolviert von aller Bedingtheit und schlechterdings 153 Cf. Naiṣkarmyasiddhi 2, 22, in: Balasubramanian, R., The Naiṣkarmyasiddhi of Sureśvara. (Madras University Philosophical Series; 47) Madras 1988, S. 127. 154 GA II/8, S. 52. 155 Reisinger, Peter, »Ontologische und transzendentale Egologie«, in: Rationale Metaphysik. Die Philosophie von Wolfgang Cramer. Band 1. (Hg.) Radermacher, Hans – Reisinger, Peter. Stuttgart 1987, S. 140–158, hier S. 154.
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unbedingt (nirupādhika), insofern unbedingt nach Schelling dasjenige heißt, »was schlechterdings nicht zum Ding, zur Sache werden kann.« 156 Diese Präkategorialität des Selbst schließt für Śaṅkara konsequenterweise auch eine Vielzahl von Seelenmonaden aus, weil es »kein Erkenntnismittel (oder: keinen Beweis) für die Annahme einer Aufteilung des Selbst« gibt, da es nicht-objektivierbare »Wahrnehmung als Eigennatur besitzt (na copalabdhisvarūpasyātmano bhedakalpanāyāṃ pramāṇam asti).« 157 Ohne kategoriale Reifizierung des transzendentalen Zeugenbewusstseins kann vom ātman aber keine Singularität prädiziert und folglich auch keine Vielzahl von Geistmonaden postuliert werden. Als das reine Wissen in allem Gewussten ist der ātman für Śaṅkara apodiktisch gewiss, weil niemand sagen könne »›ich bin nicht‹« 158 ohne dem propositionalen Gehalt dieser Aussage in actu exercito unmittelbar zu widersprechen. Der ātman, so auch Śaṅkaras Schüler Sureśvara, könne argumentativ nur retorsiv aufgewiesen werden, da er das Funktionieren der Erkenntnisvorgänge (pramāṇa) zuallererst ermögliche und als deren notwendige Bedingung folglich nicht selbst durch sie bewiesen werden könne. 159 Dennoch liege im ātman absolute Geltung begründet, weil trotz aller Differenz in der Lehrmeinung alle Philosophie und Logik notwendig auf der unhintergehbaren Apriorität und Transzendentalität des Zeugenbewusstseins als letztem Grund aller Geltung ruhe, der als solcher schlechterdings nicht negiert (abādhitatva) werden könne. Der ātman ist folglich selbstevident (svataḥsiddha), insofern er keine weiteren Sätze benötigt und sich in unmittelbarer Evidenz selbst begründet. 160 Damit liegt Sureśvara ganz auf der Linie seines Meisters, der bereits im Brahmasūtrabhāṣya die gleichzeitige Unmöglichkeit des argumentativen Beweises und der Leugnung des ātman konstatiert hatte: Schelling, System des transzendentalen Idealismus, S. 368. Gauḍapādīyakārikābhāṣya 3, 5, in: Vetter, Tilmann, Studien zur Lehre und Entwicklung Śaṅkaras. (Publications of the De Nobili Research Library; 6) Wien 1979, S. 57. 158 Brahmasūtraśaṅkarabhāṣya 1, 1, 1, in: Deussen, Die Sûtras’s des Vedânta, S. 9. 159 »Since the ›I‹ is known through pramāṇas, its relation to the Self is like that of objects such as pot. How can that from which the pramāṇas are established be proved by them?« Naiṣkarmyasiddhi 2, 37, in: Balasubramanian, The Naiṣkarmyasiddhi of Sureśvara, S. 146. 160 »[L]et [experience] be accepted with confidence, for the doctrines of all logicians are dependent on experience [bewusstes Erleben, anubhava; F. V.] alone.« Naiṣkarmyasiddhi 2, 59 a, in: Ebd., S. 169 f. 156 157
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Eben weil es das Selbst ist, deswegen geht es nicht an, das Selbst zu bezweifeln. Denn das Selbst kann man niemandem [durch Beweise] beibringen, weil es an sich schon bekannt ist. Denn das Selbst wird nicht durch einen Beweis seiner selbst erwiesen. Denn es ist dasjenige, welches alle Beweismittel, die Wahrnehmung u. s. w., in Anwendung bringt, um eine Sache, die nicht bekannt ist, zu beweisen. Denn die Objekte der Ausdrücke ›Raum‹ u. s. w. bedürfen eines Beweises, weil sie nicht als von selbst bekannt angenommen werden; das Selbst aber ist die Basis für die Thätigkeit des Beweisens und mithin ist es auch vor der Thätigkeit des Beweisens ausgemacht. Und weil es so beschaffen ist, deshalb geht es nicht an, dasselbe in Abrede zu stellen. Denn in Abrede stellen können wir nur eine Sache, die [von außen] an uns herankommt, nicht aber, die unser eigenes Wesen ist. Denn wer es in Abrede stellt, eben dessen eigenes Wesen ist es; das Feuer kann nicht seine eigene Hitze in Abrede stellen. 161
Im Folgenden soll der advaitischen Lehre des Absoluten anhand einer transzendentalen Reflexion auf die Definition brahmans näher nachgegangen werden, dessen Wesen in der Taittirīyopaniṣad als Sein (satya), Wissen (jñāna) und Unendlichkeit (ananta) bestimmt wird. 162
4.2. Das transzendentale Bewusst-Sein als absolute Erscheinung des Absoluten Die Taittiriyopaniṣad gehört zum Kṛṣṇa-Yajurveda und umfasst insgesamt drei Kapitel – śīkṣāvallī, brahmānandavallī und bhṛguvallī – von denen das zweite mit satyaṃ jñānam anantaṃ brahma eine Wesensbestimmung des brahman enthält. Śaṅkara unterscheidet dabei allgemein zwischen akzidentellen (taṭastha-lakṣaṇa) und substantiellen Kennzeichen (svarūpa-lakṣaṇa). 163 Erstere lehren die bloße Brahmasūtraśaṅkarabhāṣya 2, 3, 7, in: Deussen, Die Sûtras’s des Vedânta, S. 389. Der entsprechende Passus lautet: »Ein Kenner des Urgrunds erreicht das Höchste [brahmavidāpnoti param]. Dazu wird diese [Strophe] zitiert: Der unbegrenzte Urgrund ist Wahrheit, ist Erkennen [satyaṃ jñānamanantaṃ brahma]. Wer ihn verborgen weiß in des Herzens Höhlung, im höchsten Raum, erfüllt sich alle Wünsche zusammen mit dem geistig regen Urgrund (brahman).« Slaje, Upanischaden, S. 53. 163 In Dharmarāja Adhvarīndras (17. Jh.) Vedāntaparibhāṣa, einem späteren Kompendium der Gnoseologie des Advaita-Vedānta, findet sich eine eingehende Diskussion der Differenz von taṭastha- und svarūpa-lakṣaṇa: Cf. Vedāntaparibhāṣa 8, 4–19, in: Suryanarayana Sastri, S. S., Vedāntaparibhāṣa by Dharmarāja Adhvarin. (The Adyar Library Series; 34) Madras 1942, S. 114–119. Eine zeitgenössische Analyse wurde vorgelegt von Murti, Tirupattur Ramaseshayyer Venkatachala: »The Two Definitions of Brahman in the Advaita. (Taṭastha-lakṣaṇa and Svarūpa-lakṣaṇa)«, in: 161 162
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Dasheit, indem sie anhand begrenzender Bestimmungen (upādhi) auf das brahman verweisen (sopādhika brahman) und es mit Bezug auf die Weltausbreitung (dvaitaprapañca) als die selbst zeit- und raumlose Ursache von Zeit und Raum (kāla-ākāśādi-kāraṇatvāt) oder als Material- und Wirkursache (abhinnanimittopādānakāraṇa) der zyklischen Evolution (sṛṣṭi), Erhaltung (sthiti) und Kontraktion (saṃhāra) des saṃsāra lehren. Letztere beschreiben hingegen das wahre Eigenwesen (svarūpa) des brahman, wie es unabhängig aller begrenzenden Bestimmungen (upādhi) an sich selbst verfasst ist (nirupādhika brahman). Während das personale und mit Eigenschaften behaftete saguṇa brahman (hiraṇyagarbha) primär als Objekt der Meditation und Gegenstand religiöser Betrachtungen (upāsanā) dient, die das Thema des ersten Kapitels der Taittiriyopaniṣad (śīkṣāvallī) bilden und deren Frucht (phala) als Erlangung der höchsten Himmelssphäre (brahmaloka prāpti) beschrieben wird, führt die abschließende Gnosis des wahren Wesens des apersonalen nirguṇa brahman zur irreversiblen Ausrottung des Nichtwissens (avidyochedda) und damit zur endgültigen Befreiung von den Banden der Werdewelt (ātyantika saṃsārābhāva) als dem höchsten Ziel des Menschen (parama-puruṣārtha). Zu diesem Zweck unterzieht Śaṅkara das Vedavākya satyaṃ jñānam anantaṃ brahma einer eingehenden Analyse und expliziert das Zusammenspiel der drei lakṣaṇas (satya, jñāna und ananta) als »semantische Perichorese« 164. Alle drei Begriffe stehen dabei in der Beziehung der grammatischen Koordination (samānādhikaraṇa), i. e. sie stehen in demselben Kasusverhältnis und beziehen sich auf dasselbe Subjekt (brahman), das hier in seinem Eigenwesen (svarūpa) erfasst werden soll. Die spätere Advaita-Tradition hat verschiedene Arten der lakṣaṇa-Aussage voneinander unterschieden, wobei es sich im vorliegenden Fall um eine bhāga-tyāga-lakṣaṇā-Aussage handelt, die vermittels semantischer Reduktion (vyāvṛtti) die widersprüchlichen Bedeutungselemente (bhāga) der drei lakṣaṇas ausschließt (tyāga), um den »ungeteilt-einheitlichen-Inhalt« 165 (akhaṇḍārtha)
Studies in Indian Thought. Collected Papers of T. R. V. Murti. (Hg.) Coward, Harold G. Delhi 1996, S. 72–87. 164 Wilke, Annette, Ein Sein – Ein Erkennen. Meister Eckharts Christologie und Śaṃkaras Lehre vom Ātman: Zur (Un-)Vergleichbarkeit zweier Einheitslehren. (Studia Religiosa Helvetica. Series Altera; 2) Bern [u. a.] 1995, S. 314. 165 Hacker, Paul, Untersuchungen über Texte des frühen Advaitavāda. 1. Die Schüler
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des Vedavākya zu dechiffrieren. 166 Der eigentliche Sinn des Satzes erschließt sich also erst durch einen semantischen Verschiebungsprozess, in dem der wörtlichen Bedeutung (vācyārtha) derjenige mittelbar-uneigentliche Bedeutungsinhalt (lakṣyārtha) der Wörter substituiert wird, der die widerspruchsfreie Referenzidentität ihrer lexikalisch-semantischen Relation konstituiert. Satya, jñāna und ananta spezifizieren sich demnach gegenseitig und erhalten ihre wahre Bedeutung erst in Kombination mit den jeweils anderen zwei lakṣaṇas. Einerseits negieren die Begriffe ihr eigenes Gegenteil, sodass satya das Element der Unwahrheit und des Nichtseins (asatya), jñāna das Element der Bewusstlosigkeit und Materialität (ajñāna) und ananta das Element der Endlichkeit und Begrenztheit (anitya) vom brahman ausschließen; andererseits negieren sie die alltagssprachlichen (laukika) Bestimmungen der jeweils anderen Begriffe, ohne deren Bedeutung damit vollständig aufzuheben. Um die ontologische Differenz zwischen den vergänglichen Einzelseienden und dem unwandelbaren Sein brahmans einzuziehen, bedarf es also einerseits der Kennzeichnung der Unendlichkeit und Unbegrenztheit (ananta), um jede Vorstellung von Endlichkeit und Begrenztheit zu negieren und andererseits der Kennzeichnung des Wissens (jñāna), um die Vorstellung auszuschließen, es handle sich beim brahman um eine bewusst- und leblose Materialursache. Der Śaṅkaras. (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1950; 26) Mainz/Wiesbaden 1951, S. 78. 166 Der Begriff bhāga-tyāga-lakṣaṇā geht auf Appayya Dīkṣitas (1520–1593) Siddhāntaleśasaṅgraha (2, 2/31) zurück. Cf. Suryanarayana Sastri, S. S., The Siddhāntaleśasaṅgraha of Appayya Dīkṣita. Volume I. Translation. (Publications of the Department of Indian Philosophy; 4) Madras 1935, S. 260. Eine ausführliche Darstellung der lakṣaṇā-Lehre, i. e. kevala-, lakṣita-, jahal-, ajahal-, jahad-ajahal- bzw. bhāga-tyāga-lakṣaṇā, findet sich in Vedāntaparibhāṣa 4, 19–37, in: Suryanarayana Sastri, Vedāntaparibhāṣa, S. 71–80. Dazu auch Kunjunni Raja, K., Indian Theories of Meaning (The Adyar Library Series; 91) Madras 1963, S. 229–273. In der Begrifflichkeit der systematisierten und ausdifferenzierten lakṣaṇā-Lehre der späteren Schule entspricht der logisch-diskursiven Methode des anvaya-und-vyatireka, die sich in positiver und negativer Argumentation betätigt, die bhāga–tyāga-lakṣaṇā-Aussage, die eine analoge Funktion erfüllt und die Wilke als »a re-statement of anvaya-vyatireka in terms of lakṣaṇā hermeneutics« beschreibt: »[S]omething must be retained and something must be removed to get the correct meaning.« Wilke, Annette – Oliver Moebus, Sound and Communication. An Aesthetic Cultural History of Sanskrit Hinduism. (Religion and Society; 41) Berlin/New York 2011, S. 602. Näheres zur logischdiskursiven Methode bei Hacker, Untersuchungen über Texte des frühen Advaitavāda, S. 93 ff.
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alltagssprachliche Sinn von jñāna wird wiederum durch satya und ananta entgrenzt, um auszuschließen, dass das brahman mit einem der wandelbaren und begrenzten Aspekte des in Wissenden, Wissen und Gewussten unterschiedenen (jñātṛ–jñāna–jñeya-bheda), empirischen Erkenntnisprozess identifiziert wird. Würde jñāna ein intentionales Bewusstsein und relatives Wissen (von) bezeichnen (vṛttijñāna), könnten satya und ananta nicht ohne Widerspruch prädiziert und das brahman nicht als reines Erkennen (avabodha) und wesenhaft unbegrenztes Bewusst-Sein (jñapti/svarūpa-jñāna) ausgewiesen werden. Ananta wird hingegen nur im Sinne der Negation der Begrenztheit (antavattva) verwendet, um die Unvergänglichkeit (avināśitvāt) des brahman zu pointieren und deutlich zu machen, dass es sich bei satya und jñāna um kein begrenztes Sein und Wissen handelt. 167 Dennoch ist satyaṃ jñānam anantaṃ brahma für Śaṅkara keine adäquate Definition des brahman, durch die eine verstandesmäßige Erfassung seines Wesens möglich wäre, sondern vielmehr eine Approximation mit Verweisungscharakter über den Begriff hinaus auf das Absolute, dessen eigentliches Wesen sich jeder Kategorialisierung und Prädizierbarkeit schlechthin entzieht. 168 Das brahman ist weder dieses noch jenes (neti neti) oder – wie es der buddhistische Philosoph Nāgārjuna (ca. 2.–3. Jh. n. Chr.) in Bezug auf die absolute Wirklichkeit (paramārtha–tattva) beschreibt – catuṣkoṭi-vinirmukta, i. e. es ist durch keine der vier kombinatorisch möglichen Thesen, mit denen wir uns auf etwas beziehen können und die in der Figur des Tetralemmas oder Vierkants (catuṣkoṭi) zusammengefasst werden, widerspruchsfrei sag- oder denkbar. So kann das Absolute weder als seiend [~a], noch als nicht-seiend [~~a], noch als sowohl seiend als auch nicht-seiend [~(a۸~a)], noch als weder seiend noch nicht-seiend [~(a۷~a)] konsistent beschrieben oder gedacht werden. 169 Dieser radikalen Apophase entspricht die Definition des Advaitins Śrīharṣa Cf. Varadarajān, Taittiriyopaniṣad with Śāṅkarabhāṣyam, S. 476–545. »When Brahman is described as Intelligence, Bliss, etc., It is described by means of a name, form or action superimposed on It. If we want to describe Its true nature free from the difference due to the limiting adjuncts, it is an impossibility. The only way is by negation, ›Not this, not this‹ [neti neti; F. V.]. However, it is possible for words to suggest meanings and ideas beyond the range of their expressive power.« Kunjunni Raja, Indian Theories of Meaning, S. 254. 169 »›[E]s ist nicht so, es ist nicht so‹ (na iti, na iti)«. Brahmasūtraśaṅkarabhāṣya 3, 2, 22, in: Deussen, Die Sûtras’s des Vedânta, S. 533. 167 168
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(12. Jh.), der das vom Tetralemma befreite brahman als »das Fünfte allein« (pañcamakoṭimātra) bezeichnet. 170 Damit ist auch im AdvaitaVedānta anerkannt, dass das brahman als transzendentales BewusstSein nur absolute Erscheinung des Absoluten für uns und nicht das Absolute an sich selbst ist. Śaṅkara und Fichte teilen offenbar die Einsicht, dass das Absolute selbst kein Sein (satya), noch Wissen (jñāna), noch Identität (ekatva) oder Indifferenz beider ist. Das Absolute (brahman) »ist eben – das absolute – und jedes zweite Wort ist vom Uebel.« 171 Ich deute Śaṅkaras Intention damit inhaltlich in einer Weise, die uns wie Fichte dazu anleiten will, das göttliche Sein und Leben nicht zu fassen »im Denken, sondern in lebendiger Anschauung« 172, denn – so Sinclairs dem Geiste Śaṅkaras verwandte Einsicht in den Philosophischen Raisonnements – »[n]ur in völliger Abstraction von aller Reflection allem Entgegensezen ist Friede« 173.
5.
Ausblick
Aus dem Angeführten – so unvollständig und skizzenhaft es auch sein mag – ergibt sich zusammenfassend für den transzendentalen Ansatz einer transkulturelle Religionsphilosophie folgendes: Sie macht den in jedem Religionsvergleich unabdingbar erhobenen Anspruch auf Geltung und die damit notwendig verbundene Wissensstruktur explizit, die von der unausweichlichen Relativität und Standortgebundenheit der Vergleichsperspektive nicht tangiert wird. 174 Es geht dabei nicht nur um eine historische Darstellung und argumentative Rekonstruktion einer bestimmten philosophischen Position, sondern vielmehr auch um die von Thomas Göller geforderte »kritische Auseinandersetzung mit dem Wahrheits- und Geltungsanspruch einer (jeden) Behauptung«, die »als philosophische auftritt Cf. Naiṣadhacarita 13, 36, in: Handiqui, Krishna Kanta, Naiṣadhacarita of Śrīharṣa. (Deccan College Monograph Series; 14) Poona 1956, S. 529. 171 GA III/5, S. 112 f. 172 GA II/9, S. 428. 173 Sinclair, Philosophische Raisonnements, S. 265. 174 Ich beziehe mich dabei auch auf die Analyse der formalen Struktur des Kulturvergleichs, die Thomas Göller im Anschluss an den geltungstheoretischen Ansatz Werner Flachs entwickelt hat. Cf. Göller, Thomas, »Probleme des Kulturvergleichs«, in: Wahrheit und Geltung, S. 35–62. Cf. Göller, Thomas, Kulturverstehen. Grundprobleme einer epistemologischen Theorie der Kulturalität und kulturellen Erkenntnis. Würzburg 2000. 170
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Transzendentalphilosophie und transkulturelle Religionsphilosophie
oder aufzutreten prätendirt – und zwar unabhängig von der Frage, welcher Kultur oder welchem kulturellen Kontext diese Behauptung zuzurechnen ist.« 175 In letztgenannter Hinsicht zeigen sich substantielle Gemeinsamkeiten einer transkulturellen Religionsphilosophie mit dem von Perry Schmidt-Leukel beschriebenen Projekt einer interreligiösen Theologie als Theologie der Zukunft. Verstehe man wissenschaftliche Theologie als eine Disziplin, dann könne sich eine interreligiöse Theologie auch nur in Form eines interreligiösen Diskurses vollziehen, denn wenn »es in den verschiedenen Religionen tatsächlich Wahrheit gibt, dann […] handelt es sich dabei nicht um ›christliche‹, ›buddhistische‹ oder ›hinduistische‹ usw. Wahrheiten, sondern um ›Wahrheiten im Universum‹, die von Christen, Buddhisten oder Hindus mit Hilfe ihrer Tradition erkannt wurden.« In dieser objektiven Verankerung von Wahrheit liege die Möglichkeit beschlossen, »echte oder vermeintliche Wahrheitserkenntnis konstruktiv in diesen globalen theologischen Diskurs einzubringen.« 176 Der Beitrag der hier umrissenen transkulturellen Religionsphilosophie zum Projekt einer interreligiösen Theologie wäre demnach ihre transzendentale Reflexion und Grundlegung, denn – der Einsicht Husserls folgend – kann nur eine »transzendental aufgeklärte und gerechtfertigte Wissenschaft […] letzte Wissenschaft sein, nur eine transzendental […] aufgeklärte Welt […] letztverstandene Welt« 177 und nur eine transzendental fundierte Theologie letzte Theologie sein. Damit öffnet sich der Weg zu einer transkulturellen Religionsphilosophie als Form einer interreligiösen Transzendentaltheologie, denn auch der »zu Ende gedachte Transzendentalismus ist im Grunde genommen nichts anderes als eine folgerichtige ›negative Theologie des Absoluten‹« 178. 179
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242 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Ein unbekanntes Systemfragment des klassischen deutschen Idealismus Transzendentalphilosophie und Leben – ein sozialplastisches Manifest Kai Gregor (Berlin)
Das folgende mit dem Titel »Systemfragment des deutschen Idealismus« überschriebene Fragment fanden wir, im Grunde aus reinem Zufall, in Form eines Konvoluts von sehr leserlicher Hand beschrifteter, unterschiedlich stark vergilbter Blätter edlen Schreibpapiers mit einem unbekannten Wasserzeichen, dem außerdem ein umfänglicheres Bündel angerissener, bisweilen zerrissener, stockfleckiger Zettel und Papiere von unterschiedlicher Größe, Farbe und Qualität beilag. Wir fanden sie in einer ehemals wohl edel mit feinem grünen Tuch ausgeschlagenen, nun aber zerkratzten, teilweise geborstenen und an den Rändern stark angestoßenen kleinen dunklen MahagoniholzSchatulle, mit für die Zeit um 1806–1818 typischen Intarsien und Dekorationen. Sie scheint die Zeit auf einem Berliner Dachboden überdauert zu haben. Es war offenbar der Dachboden eines jener letzten Berliner Altbauten, die von dem saudisch-amerikanisch-chinesischen Hedgefond Diamonds & Partners (mit Sitz in Guernsey) gekauft worden waren. Sie wurden gerade grundsaniert, um die Wohnungen in luxuriöse Eigentumswohnungen umzuwandeln. Im Zuge ihrer Kernsanierung, die offenbar auch einen Dachbodenausbau vorsah (die alten Mietparteien waren unter Polizeieinsatz, wie man hörte, in günstige Sozialwohnungen irgendwo an den Rand Berlins umgesiedelt worden), war die Kiste vermutlich von einem rumänischen Abriss-Trupp, den wir, als wir die Kiste bargen, noch bei der Arbeit sahen, samt Inhalts in einen vor dem Haus stehenden Bauschuttkontainer entsorgt worden. Wer sie aufgebrochen hatte, konnte oder wollte uns an Ort und Stelle niemand sagen. Von dort bargen wir sie, an einem trüben regnerischen Novembertag, verdeckt von alten Kassettentüren, Zierleisten, zerbrochenem Stuck sowie zerborstenen Fensterscheiben und anderem Bauschutt und Sperrmüll, unter nassem Baustaub, Backsteinen, Balkenstücken, was ihren bemitleidenswerten Zustand erklärt. 243 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Das Gros der Blätter konnte noch einigermaßen gut transskribiert werden. Einige Blätter waren jedoch aufgrund von Schmutz oder Nässe kaum noch lesbar, auf anderen war durch Wasserflecke die Schrift verwaschen oder es klafften Löcher durch unbekannte physische Gewalteinwirkung. Die Datierung der Dokumente, die säuberliche Deutsche-Kurrentschrift, Duktus, Papierart sowie Gesamteindruck deuten darauf hin, dass der Text zwischen 1812 und 1818 in Berlin verfasst worden war. Der Autor ließ sich jedoch trotz intensiver Recherche nicht ermitteln, er dürfte aber philosophisch gebildet gewesen sein und scheint auch mit den philosopischen Debatten dieser Zeit vertraut gewesen zu sein. Das manifestartige Dokument, das wir hier als ›Fragment‹ vorstellen, erscheint einem heutigen Leser einseits seltsam bekannt, fast vertraut, und dann wieder anachronistisch, wie aus der Zeit gefallen, gleichsam zeitlos. Es erweist sich jedoch auch bei wiederholter Lektüre von systematischer Dichte und überraschender Originalität. Die außerdem beiliegenden Zettel und Papiere können nicht aus derselben Zeit stammen, es könnte sich um Kommentare bzw. erste Interpretationsversuche desjenigen unbekannten Sammlers/Besitzers handeln, der auch das manifestartige Dokument aufbewahrt hatte. Es ließ sich aber ebenso wenig ermitteln, woher das beiliegende Bündel stammt, wer es verfasst hatte. Es könnte sich teilweise sogar um Transskriptionen verlorengegangener Seiten handeln, etwa um systematische Vorarbeiten, oder gar eigene Arbeiten und Interpretationsversuche, denn ein thematischer Zusammenhang kann unzweifelhaft festgestellt werden. Gleichwohl nehmen sie andernorts auf verschiedene Zeiten und unterschiedliche Kulturkreise Bezug und müssen demnach jüngeren Datums sein; die Handschriften sind moderner, teilweise sind die Papiere auch mit Schreibmaschine beschriftet worden. Genaueres ließ sich bis jetzt aufgrund des schlimmen Gesamtzustands der übriggebliebenen Blätter und des teilweisen Verlustes einer unbekannten Anzahl von Seiten (sie waren nicht paginiert) nicht feststellen. Es bleibt zudem unklar, wer der Eigentümer der Kiste war, wer die Texte verfasst hat, warum der Inhalt der Kiste überhaupt gesammelt worden ist. Wir wissen nicht, warum die Kiste gerade auf diesem Dachboden stand, und ob, da wir die Kiste ja aufgebrochen vorfanden, der vollständige Inhalt an uns gekommen ist oder nicht. Wir halten trotzdem auch das Wenige und Fragmentarische, das wir retten konnten, für wertvoll und interessant genug, es hier trans244 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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skribiert, in der Reihenfolge, in der wir es vorfanden, einer breiteren philosophisch interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ich habe sie nur insoweit kursorisch kommentiert, als wir die im Kontext erwähnten Texte ausfindig machen konnten und überlasse hiermit das weitere Urteil über diese unbekannten Fragmente der Fachwelt.
Das Fragment […] die ganze Metaphysik fällt tatsächlich in die Moral, und allein eine Ethik – nicht etwa Anthropologie, Phänomenologie, oder Ontologie – kann ein vollständiges System aller Ideen geben. […] Philosophie muss rein praktisch werden; sie muss – kritisch! – den Begriff des Absoluten in der Welt restituieren […] kurz, sie muss es besser machen als Hegel, der das Absolute dialektisch zwar in absolute Negativität aufzulösen suchte, aber dadurch grade in jener Differenzialität des Denkens hängen blieb, die die absolute Einheit des Geistes mit dessen Bild verwechselt. Die Prinzipien dazu liegen in der absoluten Reflexibilität der Reflexibilität, und sind rein praktische, wie bisher allein die spätesten Wissenschaftslehren Fichtes sie anwiesen. Hier zeigt sich, der wahre »Gegensatz« zur Vernunft – und eigentliche terminus ad quem jeder Aufklärung – ist und war nie das Irrationale. Denn dasselbe ist ohnehin immer ebenso strukturiert wie das Rationale, nur gespiegelt in ein Schattenreich des Denkens. Also: Der wahre »Gegensatz« der Rationalität und eigentliche Aufgabe jeder Aufklärung war und ist die integrale Rationalität im lebendigen Daseien des Absoluten oder das Leben sub specie absoluti. Dies allein ist das ursprünglich Unbegreifliche, was sich aber von einer vollständigen Reflexion der Reflexibilität am Inbegriff des Absoluten noch als unbegreiflich, und d. i. als unerschöpflich aber durch und durch transparent begreifen lässt – erst mit Hilfe einer solchen Ethik der Epistemologie, in welcher der Geist absolut schöpferisch bzw. genetisch wird, kann reine Philosophie vollendet und in die Zukunft gerettet werden […] […] die erste Idee ist und bleibt die Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen. Aber, ein absolut freies, selbstbewusstes Wesen handelt und denkt wahrnehmend, nicht tätig! Es lebt und ist allein im reinen Sehen sichsehenden Sehens, in der inneren Abge245 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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schiedenheit der Freiheit von der Freiheit: Absichtsloses Handeln, nicht-denkendes Denken, interesseloses Wohlgefallen sind die Grundlebensweisen dieser höchsten Individualisierung. Der integrale Verstand – dem Begriff des Begriffs, also der Reflexion inkommensurabel – erweist sich in dieser Form, und nur darin, als absoluter Grund der Welt, mit dem absoluten Bewusstsein, dass er es sei. Ihm zeigt sich die Wirklichkeit als einzige und wahre Schöpfung aus Nichts […] die sogenannte Natur in der faktischen Seinsform von Raum, Zeit und Kategorie ist von hier betrachtet, nur leere Scheinwelt, projektive Negativität, die nur dem real erscheint, der mit der differenziellen Funktion des Cogito identifiziert bleibt. […] Die Leistungen der Physik bleiben davon natürlich völlig unberührt, sie erfassen das mathematisch-objektivierte Strukturbild des äußeren faktischen Sinns, nicht jedoch die integrale Wirklichkeit sub specie absoluti, also die eigentliche Welt der Freiheiten. Von letzterer gibt allein reine Philosophie die Ideen und Bedingungsgefüge an, interesselose Wahrnehmung liefert uns dazu die geistigen Data (cf. Goethes sinnlich-sittliche Urphänomene); die Physik gibt und organisiert uns die facta bruta des äußeren Spiegels, ihr verdanken wir immerhin Technik. […] Beide disparate Sichtweisen, reine Philosophie wie Physik, erfassen ihre Wirklichkeit jeweils vollständig, aber beide auch nur in reflexiv-differenzieller Brechung. Denn obzwar absolute Reflexibilität umfassend ist, kommt auch die philosophische Reflexion, selbst wenn sie absolut abstrahiert, nie über ihren faktischen Aktcharakter hinaus – […] Absolute Einheit ist auch der philosophischen Reflexion nur im Möglichkeitsbild, als Spiegelung im Spiegel fassbar, Wahrheit bleibt ungreiflich, sie ist dem Denken nichts als der, nach vollständiger Selbstvernichtung, unauslöschbar übrigbleibende Verweis ans nichtdenkende Denken im reinen SEHEN im Leben sub specie absoluti. Denken ist also dort, wo es richtig ist, ein systematisch präzise dokumentiertes Verfehlen der Wahrheit an sich; philosophisch wahr ist stets nur diese konkrete Entlarvung dieses Verfehlens. Philosophie organisiert systematisch solche Splitter des Wahren zu einem künstlichen Ganzen, das gleichwohl Stückwerk bleibt, und vermag doch weltverändernd zu wirken. Nach dem vollständigen Durchlauf durch die reflexiven Gestalten bleibt ihr der Verweis an den ungetrübten Spiegel (den es an sich natürlich nicht gibt!), an die Stille im einfachen Sehen sub specie absoluti […] Unverstellt und lauter erscheint das absolut hyperkonkrete Integral des Lebens nur dem, der durch höchste Konzentration und völlige Desidentifikation, in das reine, 246 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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unbewegte, abgeschiedene, ebenso absichts- wie reflexionslose Sehen des Sichsehens existentiell einzutreten vermag, also das torlose Tor findet ins einfache Können-Sein nicht-denkenden Denkens im Hier und Jetzt […] Um diesen höchsten Weg zu gehen, ist Reflexion – die einseitige, wie die philosophische – völlig unnütz, dies gelingt nur durch tiefe Anstrengung und langjährige Praxis jener radikal gegenstandslosen Meditation, die man im Westen Kontemplation, im Osten ›chan‹ oder ›zazen‹ genannt hat […] Hier erst ergibt sich das zeitlose Bild von Geschichte […] der Antike […] des Mittelalters […] des Archaischen […] und des Gegenwärtigen […] […] ich komme aufs Menschenwerk: Die Idee der Menschheit voran. Es gibt keine Ideen vom Maschinellen und Verfügbaren, das Abstrakte, Differenzielle, Objektive ist leer, illusionär und sekundär. Nur was unmittelbar im inneren Sehen absoluter Freiheit liegt, kann Idee heißen; sie ist für die Reflexion, die differenzielle Form des Selbstbewusstseins, notwendig paradox, unsichtbar, abgetrennt, inkommensurabel. Insofern, es stimmt schon, wir müssen durchaus über den Staat hinaus ([…] um ihn zu erfüllen […]), aber zuerst müssen wir über das ertötende intentionale Denken hinaus – und zwar im Handeln und im Denken! Um die Prinzipien der Geschichte der Menschheit zu erfassen, müssen wir aus der Geschichte austreten, das ganze positive Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung, Wirtschaft, Wissenschaft, Philosophie, Religion, anonymer Verwertung und Vernutzung muss dazu bis auf die Knochen in seiner inneren Widersprüchlichkeit als Werk einseitiger Freiheit entblößt werden. Dahinter – losgelöst, und doch ungetrennt – ruht, im Herzen der Welt, jene helle zeitliche Ewigkeit, in der sich die Gegensätze zu einem unscharfen, nicht eindeutig fassbaren, aber hyperkonkreten Kontinuum aufheben, in einem absoluten praktischen Verstande. Wir finden ihn, jenseits von Willkür und faktischer Notwendigkeit, im intuitiven Ersehen reinen Sehens, am Grunde aller selbstbewusst sich sehenden Individuen, in uns. Hierin – in dieser desidentifizierten Haltung – vermag die individuelle Freiheit unmittelbar ebenso auf sich wie aufs Ganze, das Können-Sein des Geisterreichs, zu wirken, und eben dadurch absolut frei zu handeln (die gesamte Sinnenwelt bildet nur ab, was da im Unsichtbaren getan wird). Hier erst liegen die Ideen der moralischen Welt = Menschheit, der Gottheit wie der Unsterblichkeit: Absolute Freiheit sucht all diese Ideen nicht außer sich, noch auch in sich, sondern ersieht sie unmittelbar in einem »In247 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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nern«, das sich jenseits kategorialer Zugrifflichkeit, jenseits des Rationalen und Irrationalen, als ein unbegreiflicher, gleichwohl absolut transparenter, d. h. qualitativ unerschöpflicher Geistweltinnenraum sui generis realisiert. Folgenden Satz lasse man sich also auf der Zunge zergehen: Diese Welt, insofern sie Gottes gänzlich leer ist, ist Gott selbst […] alles Paradoxale ist hier auf unauflösliche Weise versöhnt oder, wenn man so möchte – bemeistert […]. […] zuletzt noch die Idee der Schönheit, aber nicht von der objektivierten Art des sich von Gegensätzen nährenden Empfindens (wie Kant sie dachte; man muss diese Form aufheben, ohne sie zu vernichten, d. h. das Schweben der Bildungskraft muss reell und existentiell werden), sondern von jener lebendigen Einheit = 0, die nur noch als Glanz des Unerschöpflichen, als versöhntes Reich des Paradoxalen sichtbar werden kann, und jenseits des Seriellen wie des Einzigartigen im stehenden Hier und Jetzt alles durchdringt. […] In dieser Schönheit liegt der Vollendungsakt absoluter Freiheit, welcher, alle Ideen und Freiheiten umfassend, den intuitiven und differenziellen Verstand zu jener taghellen Mystik verbindet, die im Alltäglichsten und Kleinsten noch bzw. gerade das Absolute zu ersehen vermag – das ewige freie Spiel der Freiheiten miteinander. Da ist und war nie ein Gott dahinter, Erleuchtung heißt immer nur: Eine Kerze anzünden in der Mittagssonne! Diese interesselose Schönheit eröffnet sich dem absichtslosen Handeln und Denken im Leben, nur hier sind Sinnlichkeit, Wahrheit und Güte im Glanz verschwistert. […] Philosophie, die sich selbst versteht, lebt und webt zwar aus dieser Verbindung von exakter und fantastischer Genauigkeit, wird aber, wenn sie redlich und systematisch vorgeht, am Ende zur reductio ad absurdum ihrer selbst – verweisend an das pure wortlose Leben und Ersehen! Sie wird Leiter zu einer neuen, lebendigen, einer praktischen Mythologie der Vernunft. Poesie erhält dadurch wieder jenen höheren Rang, den sie am Anfang hatte: Sie wird praktisches Organ für den Realismus des Symbols im Auge der Welt, der das Organon wahren magischen Handelns in den hell zu sehenden interpersonalen Feldern und Atmosphären des Hier und Jetzt ist. Reflexion und Kritik aber, also das Erfassen und Feststellen der Aufklärung des Lebens im äußeren Spiegel, sind nun recht verstanden eben auch magisch, jedoch von jener illusionären Art unbewusster Anti-Magie, die der performativen Identifikation des Cogito erliegt, als ob es sich geradezu durch Logik und Abstraktion wertneutral zu verhalten vermöchte. Wer das er248 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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sieht, begreift natürlich, dass es sub specie absoluti nie eine Entzauberung der Welt geben kann. Jedes Individuum vermag also die Kraft der Dichter, Schamanen und Propheten wiederzuerlangen, jeder Mensch ein schöpferischer Vernunftkünstler zu sein. Ethik wird die heilsame Lehre direkten absichtslosen Handelns, Religion in der Tat sinnliche Religion, Wissenschaft und Technik werden zu den heiligen Weltgestaltungsmitteln der Leere. Herz und Verstand […] reichen sich erst so die Hand, […] endlich wird Einheit unter uns leben […].
Anhang: beiliegende Zettel Notate, Reflexionen [vergilbt, verschmutzt, angerissen, stockfleckig] 1) Erläuterung ad. Realismus des Symbols (Ernst Heller) Realismus des Symbols meint »nicht jenes Symbol […], das aus dem kollektiven Unterbewußtsein der Symbolisten aufsteigt und die Hülsen toter Erinnerungen mit geträumter und niegeträumter Bedeutsamkeit füllt; noch auch des Symbols, das, nach der Art der Allegorie, ein bloßes ›Erinnerungsmittel an den Begriff‹ und daher, wie Nietzsche in einer vorbereitenden Notiz zur Geburt der Tragödie sagt, Symptom einer sterbenden Kunst ist, weil es in der durchsichtigsten Verhüllung abstrakte Begriffe einführt, – sondern das Symbol in seinem ursprünglichen und unverdorbenen Wesen, welches Nietzsche an derselben Stelle auf erstaunlich Goethische Weise als ›die Sprache für das Allgemeine‹ definiert. Der Realismus des Symbols ist das gemeinsame Eigentum aller großen Kunst. Er strebt nicht nach einer idealen Sphäre, die uns für die prosaische Unwürdigkeit der Welt entschädigen könnte (wie es Schillers Kunst tut), noch sucht er Erlösung von dem Schrecklichen der Wahrheit in der heilsamen Unrealität des schönen Scheins (wie es Nietzsche so oft glaubte), noch ruft er Traum und Alpdruck auf, um heiter und unheiter die öde Glätte der Oberfläche des Lebens zu kräuseln, sondern er beschreibt; und indem er beschreibt, öffnet er uns die Augen für das, was in Wahrheit ist. Und was in Wahrheit ist, ist weder Traum noch Schatten, weder die sinnlose Qual des Willens noch die Abstraktion der Vernunft, sondern die lebendige Offenbarung des Unergründlichen. Warum aber sollte das Unergründliche schön sein? Weil es nur vom Unergründlichen erfaßt werden kann; und die einzige unergründliche Gabe des Menschen ist 249 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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die Liebe. So wird der Realismus des Symbols zur künstlerischen Rechtfertigung einer liebenswerten Welt.« 1 2)
Ermahnung zum Zazen (Wanshi Shogaku [1091–1157]) 2
Das wesentliche Handeln aller Buddhas, das handelnde Wesen aller Dharmavorfahren, ist es, zu verstehen, ohne Dinge zu berühren, und zu erleuchten, ohne Objekten zu begegnen. Verstehen, ohne Dinge zu berühren, dieses Verstehen ist in seinem Wesen subtil. Erleuchten, ohne Objekten zu begegnen, diese Erleuchtung ist ihn ihrem Wesen wunderbar. Das in seinem Wesen subtile Verstehen hat sich nie auf unterscheidendes Denken eingelassen. Die in ihrem Wesen wunderbare Erleuchtung hat nie die leiseste Identifikation gezeigt. Sich nie auf unterscheidendes Denken einlassen, dieses Verstehen ist selten, ist ohne Vergleich. Nie die leisteste Identifikation zeigen, diese Erleuchtung ist vollkommen, ist ohne Ergreifen. Das Wasser ist klar bis hinunter zum Grund, Fische schwimmen träge herum. Der Himmel ist unermeßlich, ist ohne Ende, Vögel fliegen weit in die Ferne.
3)
Hellgrünes liniertes Karteikärtchen, mit altersblasser roter Schreibmaschinenschrift »Nehmen Sie Dada ernst, es lohnt sich!« 3 (Type: Hollywood Starfire)
4)
Weitere beiliegende Notate, Materialien, vermutlich unzusammenhängend, Reihenfolge wie vorgefunden.
[…] im Zentrum des Ganzen steht die schwere Unterscheidung zwischen der einfachen freien, gewöhnlichen oder faktischen Reflexion (die die normale Welt- und Selbstauffassung des endlichen selbstZu finden in: Heller, Erich: Enterbter Geist. Frankfurt a. M. 1981, S. 158 f. Zu finden in: Das Kultivieren des Leeren Feldes. Praxisanleitungen zur Schweigenden Erleuchtung von Zen-Meister Hongzhi Zhengjue (Wanshi Shogaku, 1091–1157), Heidelberg/Leimen 2000, S. 83. 3 Vermutlich von George Grosz, 1920. 1 2
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bewussten Individuum bestimmt), und zwei höheren Erkenntnisweisen: die absolute oder transzendentale Intuition (das unsichtbare reine Sehen des Sichsehens im Leben, hishiryō im Sinne des Zen), und die transzendentale bzw. genetisch evidente Reflexion der Reflexion (im Sinne der späten Wissenschaftslehre Fichtes). Wenn damit schon alles verstanden wäre, wäre schon alles gesagt! Diese Unterscheidungen dürfen aber – und darin besteht eben die nicht unbeträchtliche Schwierigkeit – nicht sub specie facti (aus Identifikation mit der einfachen reflexiven Form des Selbstbewusstseins), sondern müssen durchgreifend sub specie absoluti verstanden werden […] d. h. man muss schon aus der einfachen freien Reflexion ausgetreten sein, um zu verstehen, wie man aus ihr austreten kann .. torloses Tor! […] (Die Unterscheidung zwischen gewöhnlicher und transzendentaler Reflexion kann nur durch die flankierende Unterscheidung zwischen der quaestio iuris sub specie facti und der quaestio iuris sub specie absoluti wirklich begründet werden. Erst durch Einführung des Begriffs des Absoluten als Explanandum und Kriterium transzendentaler Begründung kann die Reflexion über sich selbst und ihr faktisches Agieren – am Ende, über die Form des absoluten Ich, in erster, faktischer Annäherung – hinausgehoben zur transzendentalen Reflexion ihrer selbst werden, sodass sie ihre innere intrikate Funktionsweise und Natur, ihr faktisches Aufgehen im differenziellen Vollzug (performativer Realismus) durchdringen und systematisch konzeptualisieren kann. Sonst bleibt auch die Reflexion der Reflexion bzw. die transzendentale Reflexion nur von der Art der einfachen Reflexion und reproduziert als self-defeating prophecy nur den blinden Flecken ihrer intrikaten Form als re-entry eines beliebigen Gegenstandes (und sei es die der Reflexion selbst), in beliebigen Kreisen von Kreisen. Sie steht dann natürlich auch unter Gesetzen, ihre Bildungen sind durchgreifend gesetzlich bestimmt, aber sie sieht diese Gesetze nicht, sie reproduziert sie bloß – was die strukturelle Ignoranz und Sterblichkeit bedingt. […] Der blinde Fleck jeder Reflexion ist nichts anderes als der formale Freiheitsakt selbst, also die transzendentale Willkür (performativer Realismus = Ding-an-sich-Funktion, an irgendeinem identifikatorischen Gehalt, und sei es die absolute Nichtsheit). Dies bedingt, dass sowohl die Reflexionen als auch Projektionen des freien Selbstbewusstseins (für die meisten die Welt, für einige Frauen, Autos, 251 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Geld, oder Gott, Religion .. es ist immer dasselbe!) qua Freiheit nicht anders als per hiatum irrationalem in den transzendentalen Bewusstseinsvollzug integriert werden können. Hieran kann man das Ganze im Prinzip fassen: Wenn ich mich dabei ertappe, dass ich tätig denke, dass ich also irgendetwas mache oder denke (– ohne dabei zugleich zu SEHEN, dass ich das, was ich da mache oder denke, nicht bin, ja mehr noch: nie sein kann, sich also nur eine symbolische Aktion vor meinem inneren Auge abspielt [die doch desungeachtet auch nicht folgenlos ist]), kann ich von vorne herein das Ergebnis ignorieren, egal was ich denke oder mache. Wenn ich das nicht SEHE, weiß ich, obwohl ich ansonsten vielleicht völlig klar sehe, konzipiere, ansetze, dass ich eben darum gewiss etwas nicht sehe (mit dem ich verwachsen/ identifiziert bin), und dass das Ergebnis manipuliert und einseitig und falsch sein muss! […] das Denken (und auch das Handeln) muss sich in mir machen, nicht auf meine Verantwortung, sondern auf seine, ich muss nur zusehen (das zu sehen, dazu hilft gerade gegenstandslose Meditation: d. h. Gewöhnung an das Sichmachen des Lebens in der faktischen Form meines mir entfremdeten Selbstbewusstseins / cogito sum dagegen: nur ein Witz!). Der Verstand der endlichen Vernunft vermag aufgrund seiner Spontaneität nicht anders denn faktisch zu fungieren, und zwar betrifft seine Abgerissenheit nicht nur die Form und den Gehalt seiner Akte, sondern eben auch deren Sein, d. h. die Grundform des Selbstbewusstseins cogito sum, in letzter Konequenz: sogar der Gedanke des absoluten Ich, ist ohne dieses begleitende Nichtwissen, stets faktisch und sterblich (konkreszierter performativer Realismus). Auch seine Grundform ist dann nur per hiatum irrationalem, unabhängig davon, als was es sich setzt, die in sich geschlossene Einheit der Mannigfaltigkeit, die synthesis integrata.) […] […] zurück: Was heißt das hier? Die Schwierigkeit besteht darin, dass diese Unterscheidung [es ist die zw. sub specie absoluti et facti] hier eingeführt wird, obgleich der Akt der Einführung formal der Bedeutung der Unterscheidung widerspricht. Die oben genannten Unterscheidungen beteffen das intrikate Grundverhältnis der verborgenen transzendentalen Freiheit (E) zum verborgenen absoluten Grund des Bewusstseins (E↓), die in der differenziell-reflexiven Form des sichwissenden bzw. intentionalen Selbstbewusstseins niemals vorkommen, und daher also dieses Grundverhältnis im Grunde einfach re-
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flexiv oder intentional nicht gefasst werden kann, ohne sie durch das Fassen zu manipulieren und zu verfälschen. Leider bleibt dem endlichen Selbst-Bewusstsein (das sich notwendig identifizieren muss, und sei es – wie im Kritischen Rationalismus oder radikalen Konstruktivismus, mit dem formalen namenlosen, aber faktischen Akt selbst) kein anderer Weg, als diese Unterschiede zunächst nur nominell und damit entstellt zu fassen, also da zu differenzieren, wo sie genetisch integriert sein sollten. Am Anfang weiß man in der Tat nicht, worum es geht, einem fehlt das Prinzip reinen SEHENS, d. h. man sieht nicht rein; auch ich hatte über Jahre nur die unstillbare Ahnung, diesen Trieb der Unwissenheit, er war erst am Ende beruhigt; leider überreden sich viele durch Gewalt, oder lassen sich überreden, dabei ist es lange Zeit allein der Trieb der Unwissenheit, der einen noch (geistig) am Leben hält […]) […] Fichte fasst diese pardoxe Situation so zusammen: »Immer«, so schreibt er, »verhüllet die Form uns das Wesen; immer verdeckt unser Sehen selbst uns den Gegenstand, und unser Auge selbst steht unserm Auge im Wege.« 4 Fassen lässt sich nur, dass sich diese Sphäre nicht authentisch erfassen oder begreifen lässt (weder intentional noch identitätslogisch), dies aber lässt sich präzise fassen! Weil das aber so ist, mithin wir noch SEHEN können, was wir nicht erfassen können, können wir absolut sicher sein, dass die Grenze des Fassens nicht die Grenze des Sehens und Wissens bedeutet. […] * Denselben Gedanken bei Cusanus gefunden, in einem seiner spätesten Texte, vom Gipfel der Betrachtung. Er schreibt dort in brillianter Klarheit: »Trotzdem wird das Können-selbst in seinem Ansich – über jeder Erkenntnismächtigkeit hinaus und doch mittels geistig schauenden (intelligibilis) Könnens – wahrheitsangenähert gesehen, wenn man sieht, daß es jede Fassungskraft des geistig schauenden Könnens übersteigt. Das, was die Einsicht faßt, das sieht sie ein. Wenn nun der Geist sieht, daß in seinem eigenen Können das Können selbst, ob seines Überragens nicht gefaßt werden kann, dann sieht er mit dem Blick über seine Fassungsmächtigkeit hinaus, wie ein Knabe sieht,
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Gefunden bei Fichte: Anweisung zum seligen Leben: SW V : 471.
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daß die Größe eines Steines über das hinausgeht, was die Kraft seiner Mächtigkeit tragen könnte. Das Sehen-können des Geistes übertrifft also sein Fassen-können. – Und so ist die einfache Schau des Geistes keine erfassende Schau; sondern von der erfassenden erhebt sie sich zum Sehen des Unerfasslichen. […] [D]ies Sehen-können des Geistes über aller erfassenden Kraft und Mächtigkeit ist des Geistes höchstes Können, in welchem das Können-selbst sich in einem äußersten Maße offenbart; und diesseits des Können-selbst ist es unbegrenzt. […] [D]as Können selbst [ist], wenn es in der Herrlichkeit seiner Majestät erscheinen wird, allein mächtig, das Sehnen des Geistes zu stillen. Denn es ist jenes Was, das wir suchen.« 5 Nur, anhand des Zitats von Cusanus erfassen wir das Begreifen des Unbegreiflichen aber auch nur faktisch = punktuell, das Sehnen des Geistes bleibt, der Unwissenheitstrieb! Aber wir können uns daran orientieren. Das höchste Sehen-können des Geistes sei das Licht, die absolute Intuition (E↓), das absolut-absolute Ich, das ein Wir ist (die Einheit der Einheit und der Mannigfaltigkeit, oder die synthesis disparata = Synthesis der Geisterwelt); das Erfassen-können aber ist E�, das Selbstbewusstseins oder die einfache Reflexion (die Einheit der Mannigfaltigkeit oder die synthesis integrata); die transzendentale Reflexion aber ist die Reflexion der Reflexion aus dem höchsten Sehen-können heraus (als terminus a quo), und darum noch fähig, die Grenzen und differenzielle Natur der einfachen Reflexion im Bilde zu sehen, und eben auch zu erfassen. Entscheidend ist, dass es im faktischen Wissen einen strukturell unsichtbaren Bereich (sichtbar ist er nur, weil er reflexibel ist und wir hier transzendental reflektieren), ein höheres und eigentliches Wissen geben muss, daß in seiner Qualität in der Form des Selbstbewusstseins nicht erfasst und auch nicht erschöpft und durchdrungen werden kann. Aber, wenn es stimmt, was wir sagen, und was mir zu denken gibt, können sich synthesis integrata und synthesis disparata im Leben sub specie absoluti auch nicht disparat zueinander verhalten, das können sie nur in der Form einfacher Reflexion. Wie dem auch sei, jedenfalls hat diese Unterscheidung zwischen der einfachen und der transzendentalen Reflexion bei Cusanus keine sys-
Ort: Nikolaus von Cues: Vom Gipfel der Betrachtung. Leipzig 1947, S. 65 ff. (Mark. von unbekannt)
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tematische Darstellung (= transz. Vollreflexion), er setzt sie aber voraus, auch wenn er naiv darüber spricht, was er kontempliert hat. […] das müssen wir näher erkunden […] * Wir sind und leben immer (im falschen Leben, im richtigen auch?) in der Form unseres begreifend einhergehenden Selbstbewusstsens, sie bestimmt unsere faktische differenzielle Welt-, Wissens- und Selbstauffassung, sie bestimmt intentio recta et obliqua. Wir sehen weder die Welt noch das Wissen in authentischer Unmittelbarkeit, sondern in selbstbewusst reflexiver Brechung. Und doch können wir in der Form des Selbstbewusstseins noch die faktische Geschlossenheit derselben erkennen und als absolute relativieren: […] hier ist ein Nullpunkt! […] Licht […] absolute Intuition […] Offenbar stehen wir absolute (schon im falschen Leben) in einem höheren, nicht-selbstbewusstsein Sehen (E↓), in dem wir die selbstbewusste Form des Sichsehens (E�) ersehen und sukzessive (aber nicht auf einmal und in toto erfassen) systematisch durchdringen können – das letztere festgestellt, ist gewiss wieder ein Gedanke (der transzendentale nämlich), der wieder nur in der Form des Selbstbewusstseins stattfindet, diese reproduziert. Hier aber an einem Gegenstand, an dem sich die intrikate, verwachsene Struktur der selbstbewussten Reflexion explizieren lässt, hier also wissend, intelligierend, dass sie eigentlich uneigentlich ist, eben nicht absolut, sondern Zutat, Brechung. Dadurch wissen wir a forteriori natürlich auch, dass dieselbe Form im Zusammenhang des spontanen Vorfindens der Welt, des faktischen Wissens, uneigentliche Zutat ist. Wir sehen die strukturiere Sinnenwelt, verwachsen mit dem differenziellen Modus, nur durch einen entstellenden Filter, d. h. in falscher und einseitiger Grundbedeutung, der einheitliche Grund der Welt ist eben nicht in Transparenz: E↓|| E� [S�O] sondern in Opazität verborgen: E↓╫ E� [S�O]. Die Welt muss eine andere Grundbedeutung haben, gerade weil wir sie nur so, und nicht anders zu Gesicht bekommen, dürfen wir unseren Augen bzw. dem Verstande nicht trauen! Wie fungiert die Form des Selbstbewusstseins (E�)? […] was tut sie hinzu […] sie ist, differenziell, also unterscheidend, d. h. entgegensetzen, bestimmen; faktisch, also akthaft, d. h. identifiziert; intentional, also gerichtet, also ausblendend. Daran können wir sie erkennen. 255 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Das alles kann die absolute Intuition (E↓) nun nicht sein, darin und darum ist sie unbegreiflich. Da wir das aber sehen, und auf Basis dieses Sehens begreifen können, muss es ein SEHEN geben, jenseits des Sichsehens, dasselbe umfangend. Wie soll man das sonst nennen? Fichte nennt es Licht, Urbild, und das Selbstbewusstsein ein Bild dieses Bildes, ein differenziell überformtes Bild, dieses reinen, einfachen und unsichtbaren Urbildes: formale Differenz, bei absoluter materialer Identität. […] – IDENTITÄT! * […] Was sind wir nun? Sind wir das Urbild, oder sind wir das selbstbewusste Bild? Die Antwort auf diese Frage scheint etwas zu wecken, denn wir müssen sogar sagen, dieses Urbild können wir nicht nicht sein, anders gesagt, wir können nur das Urbild sein, und nicht das Bild des Bildes, was uns ja als ichliche Form vorschwebt. Wir sind nicht, das da, was wir als uns selbst sehen, weil wir es sehen (gleichwohl sind wir es nicht nicht, aber es ist die falsche Form). Also wir können es nicht als ›ich‹ sein, als abgetrenntes cogito, als ›ich denke es‹, als differenziell-faktisch-gerichtet, d. h. wir können es nicht wissend sein, denn insofern wir irgendetwas bestimmen, entgegensetzen .. blenden wir aus. Aus dieser Prämisse, dass wir es sind, folgen aber nur falsche, ich will sagen, (spiegel-) verkehrte Syllogismen. So denken und fühlen wir uns de facto. Dies ist die faktische Form. Wir denken differenziell, sind identifiziert, mit irgendwas. Nicht wahr, wir gehen doch gewöhnlich davon aus, dass wir unser Selbstbewusstsein sind (cogito sum .. ich bin es ..), die Wissenden in unserem Wissen und Bewusstsein, und nicht das unsichtbare faktisch inexistente Urbild am Grunde desselben, oder? Wir glauben und fühlen doch, dass wir, dieses selbstbewusste Individuum mit diesen bestimmten Eigenschaften sind, dieses Ich, gegenüber jenem (= ›ich denke es, nicht du‹) und nicht das Urbild, ohne Eigenschaften etc. pp. […] wir brauchen Differenz, sonst können wir unseren Verstand nicht erhalten […]. Und verhalten uns auch grad so (am Verhalten ist es klar zu erkennen)! Kann es trotzdem sein, daß das Urbild ist, und das einzige ist, was real ist, was also unbedingt und absolut sicher ist? Fichtes Urbild, das Bild des Absoluten; vergiss nicht, dass zwar gilt, formale Differenz, jedoch bei absoluter materialer Identität! […] Das Problem stellt sich wie folgt: Unsere Welt scheint voll und ganz gebaut auf die Form unseres diffenziellen Selbstbewusstseins 256 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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(Verstandes), alles alles alles, was ist, ist nur, inwiefern es uns differenziell bewusst ist – die Welt, das Gehirn, die Wissenschaften, unser Selbstverständnis, die Gesellschaft, selbst das Irrationale. Doch am Grunde dieses Selbstbewusstseins liegt im Wissen etwas (muss dort liegen), von dem wir sicher wissen und sicher sein können, dass es nicht reflexiv selbstbewusst ist noch gemacht werden kann, dass nicht differenziell bewusst sein kann, (nicht faktisch zumindest); daß es aber auch nicht kein Wissen ist, sondern gewissermaßen Über- oder Proto-Wissen (was schlecht gesagt ist), also schlechthin nicht nicht sein kann, und also nicht kein Wissen sein kann, sondern Grund und unerschöpfliche Quelle alles möglichen Wissens sein muss. Just dieser Grund ist aber nicht in der Form des Selbstbewusstseins erfassbar. Wie aber dann? Und was enthält dieser Grund der Welt, wenn er in Transparenz verborgen ist. *
* *
So, jetzt kommts […] formale transzendentale Freiheit. Nun können wir, wie gesagt, noch die Relativität der Form des Selbstbewusstseins durch das Begreifen des Unbegreiflichen begreifen. Wir können künstlich zwischen dem absoluten Integral, dem Leben sub specie absoluti, und dem Begreifen, Erfassen und Selbstbewusstsein unterscheiden, und letztere Form relativieren. Also ist die notwendige Verbindung von Integral und Differenzial des Bewusstseins keine unbedingt notwendige, oder absolute. Sie kann es nicht sein, sonst könnten wir das nicht. Sie ist notwendig, aber nicht absolut notwendig. Sie ist und kann nur sein – faktisch notwendig. Was heißt nur faktisch notwendig? Was kann es heißen? Wenn Notwendigkeit doch immer absolute Notwendigkeit ist, also das Gegenteil von Zufall und Willkür? Es kann nur heißen, dass hier absolute Notwendigkeit bedingt ist durch (formale) Freiheit, also unsere Freiheitsleistung, bzw. genauer, bedingt durch unser faktisches Agieren und Reflektieren (unterscheide, faktisch-absolut und absolut-absolut […] die doppelte Brechung in Form der transzendentalen Reflexion der Reflexion macht diese Merkwürdigkeit sinnvoll). Die Notwendigkeit ist also nicht unbedingt, sondern sie schlägt mit ihrem alle Willkür und Zufälligkeit vernichtenden Zwang erst unter der Bedingung unseres freien Agierens, unserer Setzung zu, also unter der Bedingung, dass wir unsere Freiheit vollziehen, vollzogen haben! Wir haben es bei dem Urbilde mit einem kategorischen Sollen 257 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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zutun, nur das kategorische Sollen bindet die Freiheit auch schon vor dem Akt, ist aber – als Sollen – auch nur Korrelation zu einem Akt, denn ohne irgendeinen Akt ist kein Sollen, sondern Sein, ruhendes, in sich geschlossenes! Der Akt, zum Selbstbewusstsein, instantiiert also das (kategorische) Sollen, es ist kategorisch für jeglichen weiteren Freiheits- und Willkürvollzug. Nur woher kommt der Akt? Wenn Sollen schon intentional und binär ist, und Freiheit voraussetzt, was ist denn dann das Sein, vor der inaugurierten Unterscheidung des Selbstbewusstseins zwischen Akt und Sollen? Wenn man sich das ein wenig überlegt, müssen wir sagen, dass am Grunde der Wirklichkeit unseres Selbstbewusstseins ein transzendentales, die Form und Existenz des Selbstbewusstseins vollständig fundierendes und bedingendes absolutes Freiheitsvermögen liegen muss, hier aber mit absolut-absoluter Notwendigkeit. In der erfassenden Form des Selbstbewusstseins ist diese absolut-absolute Form undenkbar, aber wir können sie rekursiv rekonstruieren, weil das Sehen-Können unser Erfassen-Können übersteigt. Wir können sagen: Wenn es Selbstbewusstsein doch nun offenbar gibt, dann muss es einen Urakt geben. Wir können im Selbstbewusstsein die Unterscheidung zwischen Sollen und Können erfassen: wir wissen, wir können mehr, als wir sollen (vgl. Fichte, SL1798, § 3); wir sollen aber nur, was wir können! Das ist ein erster konstitutiver Gedanke an der Wurzel unseres Selbstbewusteins, Kant zieht daraus das Faktum der Vernunft selbst, den kategorischen Imperativ. Der Gedanke setzt, dass wir diese differenzielle Form im Selbstbewusstsein konstituieren, er setzt aber voraus ein Sehen überhaupt, welches sich durch den Vollzug der Unterscheidung von Kann und Soll in einem primären, im unbedingt erscheinenden Gedanken, also kategorisch, erfasst. .. Warum? Weil wir schlechthin, oder absolut, noch sehen können, dass wir das, was wir da als uns selbst, in kategorischer Form eines ersten unbedingten Gedankens, setzen, nicht sind, nicht absolut sein können, dass sub specie absoluti nicht real ist, sondern nur sub specie facti, insofern wir frei reflektieren. Wenn wir das Sehen können, können wir es aber auch können. Wir können sehen, ein Sein, jenseits unserer Reflexion. Nun, die Form des Sollens ist unbedingt bzw. kategorisch, aber nur, gemessen an den folgenden intentionalen Vollzügen (also gemessen an der synthesis integrata), d. h. sofern wir die Frage stellen, was wir tun sollen. Anders gesagt, das Soll ist nur sub specie facti 258 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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kategorisch, sub specie absoluti kann es das nicht sein, weil wir sehen, unser Können jenseits der synthesis integrata, also jenseits seiner einfachen Negation. Die Form des Selbstbewusstseins ist in ihrer absoluten Wurzel schon Objektivation, Modifkation, Leistung, und daher nur faktisch-absolut, Tathandlung eben, Vollzug; Vollzug, Tathandlung, Leistung setzt aber Vermögen voraus, hier aber das absolute unerschöpfliche Vermögen, das zugleich das reine Sehen und das absolute Sein selbst ist, genauer gesagt, es ist nur Bild des Absoluten, Urbild, das aber innerlich schlechthin ist, wie das Absolute selbst, also schlechthin Eins = Real = Licht, nur eben als durch keine Tat erschöpfliches Vermögen. Daher Cusanus nennt die absolut-absolute Einheit zu Recht ein Können-selbst oder, noch besser, das possest, das Können-Sein. Mithin ein Vermögen, von absoluter Realität, eine absolute transdifferenzielle Potentialität. In der faktischen Form des Selbstbewusstseins gibt es kein Absolutes, kein schlechthin Reales, sondern nur bedingte Unbedingtheit, nur faktische Absolutheit, nämlich unter der Bedingung freier Reflexion und Tat. Damit ist die Sphäre der Freiheit also durch die Form des Selbstbewusstsen bzw. der Intentionalität (vulgo: Moral) keineswegs erschöpft; anders gesagt, wir können nicht nur handeln, in Beziehung auf das kategorische Sollen, sondern wir können auch wollen und handeln, unabhängig davon, oder schlechthin. Dies folgt aus dem absoluten Können, am Grund der praktischen Form des Selbstbewusstseins, jenseits der synthesis integrata. Und daraus folgt indirekt auch, dass ein authentisches daraus erfolgendes Wollen kein absichtliches Wollen, das ein authentisches daraus erfolgendes Wissen kein erfassendes Wissen sein kann, sondern nur ein intuitives. Diese Möglichkeit liegt aber noch im Bereich der Freiheit, wenn sie sich nicht mehr (per Vorstellung) vornimmt zu handeln, sondern schlechthin handelt, hier und jetzt. Wir können handeln schlechthin, wenn wir handeln durch Nicht-Handeln, anders gesagt: Wir können absichtslos wollen oder direkt (nicht vermittelt durch reflexive Vorstellungen, Motive, Intentionen per synthesis integrata [damit ist nebenbei die Unmoral vom Tisch, denn dass absichtsloses Handeln nicht willkürlich, sondern nur intuitiv-gesetzlich sein kann, lässt sich von hier aus leicht zeigen!]); wir können absolut wissen (nicht vermittelt durch dialektische Überlegungen oder diskursive Prozesse), d. h. wir sehen schlechthin, was 259 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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ist, wenn wir aufhören, uns mit unserem bestimmtenden Denken zu identifizieren. Beispiele für dieses unbewusste Bewusstsein: Im Volksmund .. eine Entscheidung spontan ›aus dem Bauch treffen‹ ; ›Bauchgefühl‹ ; oder wie man über sich bestätigende Vorahnungen hört, ›ich hatte es im Urin‹ .. Derlei in heutigen Zeiten, wo Menschen nur rhapsodisch, durch Lebenserfahrung, nicht aber durch Schulung die höheren Vermögen kennenlernen; aber dieses Leben aus dem Nicht-Wissen und Nicht-Wollen kann auch zu einer Haltung weiterentwickelt werden .. im Zen beispielsweise. Andere Beispiele: In der Hypnotherapie lassen sich den Patienten nur solche Suggestionen ›einpflanzen‹, die nicht negativ formuliert sind, und um so leichter um so einfacher und intuitiver sie verständlich sind; Babys, Kleinkinder verstehen zuerst keine Verneinungen, man soll positive formulieren. […] Wenn wir über das Sein des Selbstbewusstseins sprechen, und alles in dieser Form, also die faktische Welt: reden wir immer nur über diese durch den punktuellen Vollzug der Freiheit bedingte Wirklichkeit, und mit dieser sterblichen Faktizität geht diese, die ganze Form des Selbstbewusstsein durchdringende, Scheinhaftigkeit einher. Die Scheinhaftigkeit der Wirklichkeit (opake Verborgenheit des Grundes) liegt in der absoluten Grundlosigkeit der Faktizität, mithin darin, dass sie ebenso gut auch nicht sein könnte. Sie ist nicht absolut-absolut notwendig, sondern nur faktisch-absolut .. offenbar, weil sie aus der transzendentalen Freiheit hervorgeht, die aber in ihrer faktischen Form noch punktuelle Freiheitsakte (Reflexionen) erfordert, um faktisch Notwendigkeit einzusehen. Das Problem, die Freiheit ist also noch unerfüllt, unvollendet, die fordert von sich Notwendigkeit (die Form des Seins im Wissen), muss aber, um diese Notwendigkeit zu erreichen, fortwährend Freiheit vollziehen und reproduziert dadurch struktuell ebenso Kontingenz wie Ignoranz: Absolute Freiheit, ist als Vermögen, absolut notwendig, ihr Vollzug, bleibt faktisch, vollendete, absolute Freiheit ist daher nur als Freiheit von der Freiheit zu denken, nur dadurch vermag Freiheit absolut-absolut zu werden. […] Damit stehen wir in einem Nullpunkt […] freilich nur im Bilde, denn derlei transzendentale Reflexionen sind existenziell nur punktuell, auch wenn sie konzeptuell unbedingt notwendig sind. Im Denken bekommen wir immer nur eine gepunktete Linie, ob und wie sie im Leben durchgezogen werden kann, sehen wir noch zu […] 260 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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[…], anders gesagt: Obwohl es sich um Gesetze handelt, aber bedingte Gesetze, ist es letztlich nur Gewohnheit, dass wir uns mit faktischen Notwendigkeiten zufrieden geben, das Sehen ebenso wie die Freiheit gehen darüber hinaus. Hoher Punkt! Ebenso wie es Gewohnheit ist, das wir das Leben nur differenziell bzw. unterscheidend betrachten, uns reflexiv orientieren. Wir brauchen zwar Differenzen, um uns frei zu verhalten, aber wir können uns auch noch einmal frei dazu verhalten, dass wir sie brauchen. Wenn es Gewohntheit ist, und wir zudem durch das Begreifen des Unbegreiflichen durchaus erkennen können, dass es am Grunde der Form d. Selbstbewusstseins ein unselbstbewusstes seiendes Wissen = Sehen geben muss, das absolut, und nicht nur faktisch notwendig ist, dann können wir den Satz auch umformulieren, und feststellen: Daß am Grunde der faktischen Wirklichkeit des Selbstbewusstseins nicht einfach das unselbstbewusste Wissen fungiert, sondern die sich in dieser Form vollziehende transzendentale Freiheit […] Nochmals: Die Wirklichkeit des Selbstbewusstseins geht auch gerade nur so weit, wie sich die Freiheit in dieser Form vollzieht. Aber Freiheit ist nicht unbedingt, denn sie kann sich vollziehen oder auch nicht. In Kraft und Botmäßigkeit der Freiheit steht aber nur, ob sie sich wirklich und de facto vollzieht oder nicht. Nicht in ihrer Kraft und Botmäßigkeit steht, dass sie das kann, also das absolut-absolute Vermögen, sich vollziehen zu können oder nicht, […] das steht nicht zu ihrer Disposition, sondern nur die Tat. ([…] wir reden hier nicht über die Frage, ob wir Äpfel klauen oder nicht, sondern ob eine Welt, ob ein Raum der Gründe ist, oder nicht!) Da wir aber aus der faktischen Wirklichkeit der Tat faktisch nicht herauskommen, gleichwohl aber auch sagen müssen, dass die Absolutsetzung dieser Wirklichkeit nur eine Gewohnheit ist, die zudem der Einsicht in die absolute Notwendigkeit des unselbstbewussten Wissens widerspricht, müssen wir schließlich zu der Einsicht kommen, dass das Unselbstbewusstsein diese absolute Vermöglichkeit am Grunde der Freiheit ist, oder wie Cusanus zu Recht sagt, ein Können-selbst oder Können-Sein […] […] Beweis, dass das Vermögen absolut ist, nicht bloß faktisch absolut sein kann: Es geht offenbar über das faktische Sein des Freiheitsvollzugs hinaus, wir vermögen, zu abstrahieren, dass die Welt, die Gesetze, das kategorische Soll, alles nur unter der Bedingung des Vollzugs der Freiheit Gestalt und Bedeutung hat […]. […] wir ver261 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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mögen das doch offenbar durchaus zu sehen, […] kurz: das Vermögen ist ein sehendes, ein transfaktisches Auge! (hier ist eigentlich leicht zu sehen, dass es im Bezug auf das höhere Wissen, bzw. in Bezug auf das wissende Nichtwissen nicht um Geltung, auch nicht um absolute Geltung gehen kann, da von Geltung im Grunde immer nur in Bezug auf die binäre Form des Urteils, also letztlich nur in Beziehung auf die Einheit eines Mannigfaltigen ╫ E� [S�O] gesprochen werden kann, und nicht in Beziehung auf die Einheit der Einheit (E↓|| E�). ›Geltung‹ beschreibt eben nie mehr als eine sehr greifliche, tote gleichsam farb- und kraftlose identitätslogische Einheit, die Einheit der Einheit muss aber eine völlig andere unerschöpfliche, unbegreifliche Qualität haben […] sie ist ein integrales Sehen, ein unerschöpfliches Hinsehen des differenziellen sichsehenden Sehens […] wer sich an Geltung abarbeitet, steht im rechtlichen Standpunkt, und geht der Selbstaffirmationsforderung der quaestio iuris sub specie facti auf den Leim […] reproduziert sie am Absoluten, das aber dadurch ins faktische herunter gezogen wird […]) […] denn es ist ein absolut integrales unselbstbewusstes nichtsdestoweniger absolut homogen sehendes Können, dass nur durch die Vollziehung der transzendentalen Freiheit in Wirklichkeit übergehen und sichtbar [werden] kann, wenn die Freiheit sich zur differenziellen Form des Selbstbewusstseins zusammenzieht, und dadurch das absolute Können-Sein in wirkliches Sein, eben das faktische, die Welt, überführt. Das Urbild ist als Können-selbst der absolute Grund der Freiheit vor jeglicher Vollziehung (unerschöpflich durch jede mögliche Vollziehung, darum absolut-absolute Realität = Können-Sein); die Freiheit aber ist als Grund des selbstbewussten Bild des Bildes, wenn sie sich vollzieht, zugleich der Grund seiner inneren Kontingenz und äußeren Grundlosigkeit – und ja, eben auch der Abgetrenntheit, Differenzialität und Abgeschnittenheit des wirklichen Selbstbewusstseins (hiatus irrationalis). Die Freiheit ist das Schanier zwischen faktischer und absoluter Notwendigkeit, […] absolute Notwendigkeit kann aber nur eine praktische, die Freiheit vermögende und binden-könnende Notwendigkeit sein, also eine Notwendigkeit, die nicht auf ein Sein, sondern nur auf das Vermögen/Können zur Überwindung jeglichen faktischen Seins in der BildForm des Selbstbewusstsein, d. h. auf die Selbstaufhebung jeder seiner differenziell-binären Produkte geht, anders gesagt, die Aufhebung seines intrikaten performativen Realismus, der Ding-an262 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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sich-Funktion. Wie gesagt: Ein solches sehendes Können-Sein ist aber gegenüber jeder faktischen Vollziehung dann ein Können-Sein, wenn es durch keine Weise der Vollziehung der Freiheit in Tat aufgehoben und durch Tat vernichtet wird und werden kann, sondern vor, während und nach der Tat Maßstab und Quellgrund des Wirklichen bleibt: es ist unerschöpfliches Prinzip. Und wirklich, wenn ich invariant, aus diesem Punkte die Wirklichkeit sehe, was die Desidentifikation von der punktuellen Reflexion erfordert. Ein solches Können-Sein ist ein echtes Prinzip; am Grunde der transzendentalen Freiheit kann nur ein absolut-absolutes Prinzip liegen, ein unselbstbewusstes Urbild von absoluter innerer Homogenität, Kontinuität, Einheit, Authentizität, Notwendigkeit, und Unerschöpflichkeit – es enthält das ganze Leben in absoluter Dichte in seiner Möglichkeit, denn es ist im Bild des Bildes alles, was in dem Urbilde in seiner absoluten Einheit auch ist, nur formal-different […] […] und was kommt hinzu? Die Abgeriffenheit, Kontingenz, die Unableitbarkeit eben, der wirklichen Vollziehung: Nicht wahr, diese Differenzialität des differenziellen Wissensmodus ist das einzig Hinzukommende, ansonsten sind sichtbare Welt und das Unsichtbare materialiter identisch! [wirklich identisch? Wer sind wir? Wir sind das Bild des Bildes, das sich in dieser faktischen Form selbst aufheben soll, zugunsten einer transparenten Verborgenheit des Urbildes im Bilde, einer vollständigen Darstellung: [Das geht weit […] dann muss auch eine unmittelbare Wirkung des Einzelnen auf das Ganze möglich sein […] aber unter welchen Bdg.n?] Das selbstbewusste und zugleich kontingente Bild dieses Bildes, das nur scheinbar die letzte und höchste Realität darstellt, ist in Wahrheit immer nur ein individuelles faktisches vorgestelltes Exempel, das nur aufgrund von Gewohnheit und Konvention als eigenständige Realität erscheint, weil alle so tun, als ob […] gut, das können wir nun auch, der performative Realismus ist das Maß der Dinge, für alle, die an irgendeiner Stelle mit der reflexiven Bildform identifiziert sind! Und nota bene: Auch durch transzendentale Reflexion, also vollständige Reflexion der Reflexion, ist hier nicht herauszukommen. Auch wenn wir uns nach vollendeter Vollreflexion im synthetischen Perioden von Urbild und seinem Bilde orientieren könnten, reproduzieren wir effektiv zugleich auch stets die faktische Bildform, und bleiben so in deren Grundlosigkeit stehen. Die WL erzeugt eben nur ein künstliches Möglichkeitsbild, eine 263 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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theoretische, keine praktische Wirklichkeit, oder klarer, keinen wirklichen Willen, sie informiert uns nur über die Bedingungen wahrer Freiheit, aber den Willen zum absichtslosen Handeln müssen wir selbst machen (ohne es freilich zu können) […] also wie? Scheitert hieran nicht schon das ganze Unterfangen? WL erschüttert die Identifikationen, schlägt einem die konzeptuellen Ausflüchte und falschen Rationalisierungen aus der Hand; am Ende wird man durch WL mit seiner praktischen Gebrechlichkeit konfrontiert angesichts der klaren Erkenntnis, dass man wirklich höchst selbst sein eigener Verhinderer ist […] Aber ist das nicht zu idealistisch? Muss man nicht konstatieren, dass wenn das Ganze ein absolut homogenes Kontinuum ist, das sich zeitlich ausdrückt, man an seiner Stelle, selbst wenn man aufhört, sich zu verhindern, doch eben auch nicht erwarten können darf, dass einen sofort und ein für alle Mal das begehrte Licht aufgeht […] die Integration des Individuums ins Ganze steht unter Bedingungen, und zwar vornehmlich unter interpersonalen Bedingungen, […] das Ganze ist eben kein diskursives System, sondern Kontinuum […] so wird es mindestens Zeit brauchen, um seinen individuellen Willen in das Kontinuum einzufädeln: Viel scheint gewonnen, wenn man nur schon mal den Weg gefunden hat, aus dem faktischen = praktischen Identifikationen heraus […] aber selbst dann kann man noch alles verlieren. Alter Gedanke: vor dem Himmel kommt die Reinigung, andere nennen das Karmaarbeit […] sie ist nicht zu überspringen. Aber wie soll man arbeiten? Wie hält man sich im Alltag im absichtlosen interesselosen Nichtwissen und Wollen? Später […] erstmal zurück […] Nun kann man leicht sehen, wenn Freiheit der Grund für das faktische Sein der Wirklichkeit ist, dass dieselbe Freiheit durch diesen Akt nicht alle ihre Freiheit verloren haben kann, sonst könnte sie die Relativität der faktischen Wirklichkeit nicht noch als solche im Begreifen des Unbegreiflichen erfassen und übersteigen (sie kann auch deshalb nicht, weil das transzendentale Vermögen für jede ihrer faktischen Bildungen unerschöpflich ist, bis es gesehen wird, als unerschöpflich (Moment, aber dann hat die Freiheit erst theoretisch ihre Vollendung erreicht: sich theoretisch zum Sein erhoben: Praktisch oder absolut wird das erst, wenn sie reines unerschöpfliches Sehen ist).) 264 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Wenn sie das aber kann, muss sie auch annehmen können, und das heißt hier, muss sie ein unerschöpfliches Können-Sein intuieren können, dass sie sich anders zum faktischen Wissen verhalten kann, als sie es für gewöhnlich tut. Anders gesagt, am Begreifen des Unbegreiflichen zeigt sich punktuell intuitiv das Können-Sein zu einer höheren Freiheit, zu einer transzendentalen Freiheit von der (faktisch in ihren Projekten und Einstellungen und interpersonalen Relationen aufgehenden, damit sich identifizierenden) Freiheit. Es zeigt sich intuitiv, heißt, dass es sich vor und unabhängig von der wirklichen Reflexion zeigt, die diese Freiheit von der Freiheit erfasst, d. h. die Intuition ist ein von der Reflexion unabhängiges Erkenntnisorgan = Auge, muss es sein, sonst könnten wir nicht einmal darauf reflektieren. Das offene Herz, das offene, für die Belange und Nöte seiner Mitmenschen offene, diese sehende Herz, ein deren Angelegenheiten nicht aus Schwäche, sondern aus Ruhe und Vertrauen über seine eigenen stellendes Individuum, wäre der klassische Fall einer solchen lebendigen Intuition. Ich komme immer wieder zu diesen alten religiösen Vorstellungen – Klischee oder Wahrheit? Überhaupt, in Bezug auf die absolute Intuition und das SEHEN werden interpersonale Verhältnisse immer wichtiger, diese müssen hier herrschen? Was Fichte das Geisterreich nennt, Kant verobjektivisierend das Reich der Zwecke. Am Ende ist das SEHEN praktisch, ohne moralisch zu sein […] muss es ja auch. Die Sinnenwelt ist für alle gleich, durch die bei allen stereotype Form des Selbstbewusstseins […] fällt die Ding-an-sichFunktion und mit ihr das Gefühl der Disparität und Abgetrenntheit der Welt, ihrer Dinge und Wesen weg, was kann die Sinnenwelt dann noch dokumentieren? was wäre dann noch übrig, ihr Bedeutung zu geben? […] Ausdruck der geistigen Welt […] nichts anderes […] und das Gefühl wäre das primäre basale Erkenntnisorgan […] denn dies ist das einzige Vermögen, dass einem ›strukturierten Kontinuum‹ absoluter Realität homogenen Ausdruck zu verleihen vermag, einer qualitativ in sich bestimmten Bestimmbarkeit. Genau hier bringt auch Fichte das »materielle Gefühl und Gewissen« als »ursprüngliche Beschränkungen« der endlichen Intelligenz (Brief an Schelling vom 8. Okr. 1800). Was haben wir: einen intuitiv einhergehenen, in sich geschlossenen, einen fühlenden Verstand: Und in der WL 1813 zeigt Fichte, dass das reflexive Sich nur die Nachkonstruktion dieser Vorkonstruktion ist. Nachkonstruktion zwar nur in den differenziellen Formen des reflexiven Selbstbewusstseins, aber diese wären sekundär, 265 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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und zugleich wäre das Gefühl in diesen Formen unendlich modifizierbar, unendlich differenzierbar, unerschöpflich, und somit ein guter Kandidat für einen interpersonalen Grundsinn der Welt. Wir sehen und müssen schon sehen, bevor wir uns selbst in Bezug darauf sehen, und mit dem SEHEN, vielmehr in ihm, wird eine innerlich bestimmte Bestimmbarkeit gefühlt = das allgemeine Können-Sein, an dem ich sehend Anteil nehme, bevor ich mich (reflexiv) als Ich fasse: Deshalb Sehen des sichSehens, es sieht, hyperdicht, in sich bestimmt, die Reflexion verarbeitet dieses Sehen differenziell und stellt es auseinander (in disparate Einheiten), gewinnt freilich den distinkten cogito-Reflex dadurch (= faktische Individualität), und kann somit erst sagen: Dass es etwas – Faktizität, SinnenWELT, Wesen, Dinge – gibt, und nicht nichts, betrifft mich im Kern, kann ich mir zwar nicht persönlich zurechnen, aber auch nicht nicht zurechnen, interesseloses Interesse, es geht mich an (nicht als Individuum, es ist kein Unfall, der einem zustößt […] von wegen zur Freiheit gezwungen!). Das Auge […] Gefühl, dir in die Augen zu sehen […] widergesehen zu werden, da ist alles enthalten: Du siehst mich, ich sehe dich, ich sehe mich gesehen, sehe mich sehend dich, sehe dich sehend mich, ich sehe aber ineins auch, die anderen, ja implizit sehe ich, dass sie uns sehen können (könnten, wenn sie hier wären), aber dieses ›können‹ ist hier real (ein Konjunktiv ist hier unvorstellbar); ich sehe sie, sie sehen mich, das allgemeine Sehen sieht mich dich uns alle (E↓|| E�), ich sehe mich durch und von den anderen gesehen werden könnend, ich sehe sie einander sehen könnend, ich sehe, dass, wenn in dieser subtil in feinen Gefühlen sich darstellenden Durchsichtigkeit etwas nicht gesehen würde, der Grund nicht im Sehen liegen kann, sondern im Gesehenen (dadurch sehe ich, was andere nicht sehen, sehe, was du willst)! Das Sehen ist rein, und dies alles sehe ich unmittelbar, in einem Schlag, noch bevor ich dies reflexiv erfasse, ja erfassen könnte, bevor auch die Welt vor meinen Augen aufgeht. Der Augenblick ist realer, tiefer, wahrer als die Welt, im Grunde trägt er die Welt, die Welt ist für ihn da. Und, nicht nur der Augenblick der Menschen, .. auch der Tiere. Wo ein Tier dich anschaut, dich sieht, da verharre in Ehrfurcht! […]
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Die transzendentale Freiheit ist nicht notwendig an sich und ihren Akt gebunden, kann es nicht sein, denn sonst könnte sie absolute Notwendigkeit nicht am Begreifen des Unbegreiflichen ersehen. Das Können-Sein ihres Vermögens muss also als Prinzipielles über die Faktizität ihrer faktischen eigene Vollziehung hinausgehen, (Fichte nennt es an anderer Stelle eine absolute Tendenz zum Absoluten), oder anders gesagt, das Sein der Freiheit muss sich nicht notwendig mit ihrem eigenen Vollzug identifizieren (cogito, performativer Realismus, Ding-an-sich-Funktion), sondern kann sich auch desidentifiziert realisieren, sich sehend begleiten, beim Sichbestimmen, Sichwerden und Sichbleiben, in allen möglichen Konfigurationen und Bestimmungen des Selbstbewusstseins. Muss es KÖNNEN. Hier wird fast fühlbar, was Leben ist, eben das Können-Sein als rein praktisches! […] Als Geistiges! Damit verändert sich noch einmal grundsätzlich unsere Perspektive auf uns selbst. Wir können uns vollziehen, ohne im Vollzug aufzugehen (erinnern! – denn sub specie absoluti sind wir eben nicht, was und indem wir sub specie facti sind: unser cogito, auch wenn uns cogito jedesmal unmittelbar einfällt, wenn wir diese Form zu fassen versuchen, wenn wir sie reproduzieren, wenn wir reflektieren – wir können’s nicht sein!), und da unser Vollzug der Vollzug des selbstbewussten Sehens, des Sichsehens bzw. des Ichs ist, können wir selbstbewusst sehen, ohne uns mit unserem Ich zu identifizieren (das eine SEHEN sieht einfach durch diese notwendige, aber äußerliche Form hindurch, und wir nennen es mein Ich, das mir in der differenziellen Bildwelt als Fixpunkt vorschwebt […]). Anders gesagt, unsere Freiheit erfüllt sich erst dann absolut, d. h. wird real, wenn wir interesselos urteilen, absichtslos handeln, nichtwissend wissen. (das reine Sehen (das unsichtbare Ich) im Sehen des Sich, des sichtbaren Ich; das Auge in unserem Blick! Es hat ja auch noch nie jemand mit seinen physischen Augen irgendwas gesehen, die Augen, das Gehirn, sogar die Welt […] sind immer nur etwas GESEHENES, und im Sehen, so schräg einen das angeht […]). […] Ein solches absichtsloses Sein und Handeln kann man abgeschieden nennen. Es lebt in der Welt, ohne in dieser Welt zu sein, also – an seiner Stelle, durch absolute Intuition – ist klar, dass es sich nur um eine Scheinwelt handeln kann (gegen die Gewohnheit […]). Diese absolute Intuition lebt im Hier und Jetzt, Zukunft und Vergangenheit sind notwendige Vermittlungs- und Projektionsfolien der Form des 267 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Selbstbewusstseins zur Ersichtlichkeit des unselbstbewussten Wissens. Sie sind, wie diese ganze Form nur bedingt notwendig, und haben im Hier und Jetzt nur Realität auf Basis der gewohnheitsmäßigen Identifikation der Freiheit mit dieser Form, sie fallen als bedingt notwendige Formen in den Schein, sobald die Freiheit das Handeln in Abgeschiedenheit realisiert hat. […] Ich die Abgeschiedenheit durchziehe .. Abgeschiedenheit, sich mein Ich durchzieht! *
* *
[…] hierzu Überraschendes gefunden […] erläuterndes Beispiel, bei Joseph Beuys […]: wer hätte es gedacht! Beuys, Joseph, sein Vortrag »Eintritt in ein Lebewesen« vom 6. 8. 1977 anlässlich seiner Aktion auf der documenta 6, »Honigpumpe am Arbeitsplatz«: Da will er in diesem Vortrag die Begriffe der Sozialen Plastik, des Revolutionärs und des Lebewesens verbinden […]. plötzlich kommt Joseph Beuys auf eine Operation zu sprechen, die wir schon beim späten Cusanus gefunden haben. […] er geht in zwei sehr präzisen Schritten darauf zu: Den ersten Schritt leitet er ein durch die Frage: »Was ist das, dieses Wahrnehmen [des in der Umgebung Vorgegebenen, der Empirie]? Ist in diesem Wahrnehmen etwas enthalten, was mich hinführt auf Elemente, mit denen ich begründen kann, daß es eine Möglichkeit der freien Kreativität gibt?« Und antwortet: »Wenn [ein]er vorurteilslos beobachten kann, wird er feststellen, daß er zwar etwas wahrnimmt, aber aus dieser Wahrnehmung nichts herleiten kann, für seine freien Entscheidungen. Im Zusammenhang dessen, was er jetzt innerlich operationell vornimmt, muß er zu der Feststellung kommen: In dem vorgegebenen Wahrgenommenen liegt ein Bild vor, daß bei seiner Betrachtung nichts anderes hergibt, als ein unzusammenhängendes Chaos, das heißt, solange ich passiv mich dem aussetze. Ich bemerke aber, daß es einer großen Energie bedarf, diese Passivität herzustellen. Eine allergrößte Willensanstrengung ist nötig. Im Hinschauen auf diesen Vorgang wird sich zeigen, daß es durchaus Wille ist, mit dem man sich in diese Sondersituation versetzt, passiv in die Welt zu schauen. Im Anschauen ist also schon Wille darin, daß heißt, er ist immer bereit, er ist immer auf der Suche, Details aus diesem Chaos herauszuschneiden, also bewußt auszugliedern. In diesem, den Wahrnehmungsvorgang begleitenden Willensimpuls ist etwas enthalten, was 268 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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sich weiter zurückverfolgen läßt als eine Intension der Kategorie, das heißt in dem Augenblick, in dem ich etwas in den Brennpunkt nehme oder ausschneide, Größe, Breite, Viereckigkeit, Genauigkeit oder nach qualitativen und quantitativen Begriffen, die mich auf die Idee oder den Begriff zurückverweisen, als auf eine Denkkategorie, in der im Denken gehandelt wird. Denken ist Tat.« 6 […] So sein erster Schritt, der offenbar noch auf die faktischen Einheit des selbstbewussten Ich fokussiert: Durch vorurteilslose höchste Energiekonzentration zur Erzeugung maximaler Passivität wird klar; es bedeutet schon Wille, Passivität herzustellen, im bloßen Anschauen ist Wille enthalten, und dieser Wille strukturiert – wenn er nicht durch allergrößte Willensanstrengung zurückgedrängt würde – die Wahrnehmung zur Welt: Denken ist Tat, sonst könnte es gar nicht zurückgedrängt werden; (Fichte sagt dasselbe, Tathandeln) heißt nichts anderes, als Denken ist nicht theoretisch, sondern praktisch. Denken ist intentionales Tun, und erschafft die Weltstrukturen aus einer gegebenen Mannigfaltigkeit, die ja, wenn man die Strukturen abzieht, offenbar nur chaotische Mannigfaltigkeit sein würden (denkt das ›Ich‹). Es heißt auch, dass die Welt nicht an sich existiert, sondern erst in der intentionalen Strukturierung durch begriffliches Denken entsteht, und wir wissen: bis in den Grund. Dadurch ist das an seinen Freiheitsvollzug gebundene Ich in seiner transzendentalen Funktionsweise beschrieben; von Freiheit der Freiheit und reinem Sehen des Sichsehens ist hier zunächst aber noch nicht die Rede. Nun zum nächsten, wirklich radikalen Schritt: Auch seinen zweiten Schritt leitet Beuys wieder durch eine Frage ein: »Wie hängen Begriff und Wahrnehmung [innerlich] zusammen?« Und antwortet: »Ich will nur von dem Operationellen sprechen und von der Notwendigkeit. Ich [sagt Beuys hier] will sehr differenzierte operationelle Schritte übergehen und zu dem Punkt kommen, wo der Revolutionär eine Energie in sich wahrnimmt, die es möglich macht, über das Denken selbst eine Aussage zu machen (nicht nur [wie im ersten Schritt] darüber, wie im Denken die Begriffsinhalte den Ausscheidecharakter im Wahrnehmen herstellen […]), dann vereinigt er [sc. der Revolutionär] bewußt die zusammengehörigen Pole von Wahrnehmung und Denken und überwindet so Subjekt und Objekt. [D. h.:] Es kommt zu einer Möglichkeit nach derselben Methode, Joseph Beuys: Eintritt in ein Lebewesen. hgg. v. R. Rappmann Achberg 1984, 126 f., Mark. unbekannt
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die bei der Ausschaltung des Willens in der Wahrnehmung angewandt wurde. Durch die Ausschaltung der Inhalte (sic! [sc. der Kategorien, samt ihrer Einheit, der synthesis integrata]) des Denkens wird der aktive Wille im Denken zur Wahrnehmung. Wenn ich festgestellt habe, daß das Wahrgenommene auch begriffen werden muß, so muß auch diese Kraft, die ich wahrnehmen kann, als die Betätigung und Selbsttätigkeit meines freien Ichs zum Begriff der Freiheit werden.« 7 Erstaunlich! Damit ist auch Beuys [wie Cusanus] […] zu einem Sich-Stellen in das konzentrierte energische Licht absoluter Intuition vorgedrungen, d. h. in ein reines mediales Sehen des intentionalen Sehens, jenseits der subjektobjektiven Spaltung des Selbstbewusstseins, und er begreift diesen Sehepunkt zu Recht als Kern höherer Freiheit. […] wer hätte das von Beuys gedacht, dem ja viele nachsagen, er sei ein Scharlatan, ein Spinner geradezu […] Es ist wieder der Begriff absoluter Freiheit, einer Freiheit von der Freiheit. Erst diese Freiheit von der Freiheit ermöglicht es, sich über das Denken als Tat und seine Verbindung zum Wahrnehmlichen klar zu werden. Und Warum? […] Weil erst dies den existentiellen oder performativen Realismus der Form des Selbstbewusstseins transzendiert, dessen notorische self-fullfilling prophecy. Wir sind das absolut Wahrnehmliche, die absolute Intuition. Was verändert sich dadurch? Zuvor konnten wir uns hinter den Strukturen des tätigen Denkens nur Chaos vorstellen, jetzt aber sehen wir, dass im qualitativ sinnlichen »Sein« des Wahrnehmlichen selbst eine unerschöpfliche normative und semantische Kraft vorhanden ist, die in dieser höchsten Synthese kein Sollen, sondern das Sein absoluter Freiheit ist, er nennt es »aktiver Wille«, zu der sich die intentionalen Strukturen des tätigen Denkens nur wie eine differenzielle Rekonstruktion verhalten. Beuys meint damit letztlich, dass wir zur Einsicht in die wahre Natur des Geistes nur durch diese doppelte energische Anstrengung und Konzentration kommen, zwei allerhöchste Willensanstrengungen, aber nicht intentionaler Art, sondern allergrößte Willensanstrengungen der Passivität und Tätigkeitsenthaltung. […] das ist interessant und scheint weiter zu führen! Im ersten Schritt der Inhibierung zeigt sich, dass das Denken in der Gestaltung der Wahrnehmungswelt Tat ist, Freiheitstat, ichliche 7
Ebda. Mark. unbekannt.
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Spontaneität. Wir kennen das von Kant, dem frühen Fichte. […] Aber in dieser Anstrengung bleibt nach Beuys noch die »Trennungslinie zwischen den ideellen Begriffen und dem wahrgenommenen Objekt«, erst durch eine noch grundsätzlichere Anstrengung ([…] wie nur könnte das gelingen, […] in und mit der Form unseres uns fortwährend begleitenden Selbstbewusstsein […] es müsste irgendwie eine unbewusste Tätigkeit sein, die aber nicht irrational oder willkürlich sein dürfte […] was kann er meinen?) gelingt über die Ausschaltung der Tätigkeit in der Wahrnehmung hinaus, auch die Ausschaltung der Inhalte des Denkens selbst, und damit wird das formale, rein tathandelnde absolut-absolute Ich, das ein Wir ist, bzw. das Licht in seiner unwandelbaren Einheit als höchste Konzentration indirekt fühlbar, sichtbar, intuierbar. Beuys beschreibt dies nur, wie er sagt, »operationell«, um sie aber im Leben zu erreichen, was muss man tun? Bloß drüber reden reicht eben nicht. […] das muss sich noch zeigen […] *
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Wie kommen wir jetzt weiter? Wohin überhaupt? […] zuerst im Allgemeinen: Am Grunde der transzendentalen Freiheit, das unselbstbewusste transfaktische Wissen – wie kommen wir da jetzt rein? Besser umgekehrt gefragt […] was führt dazu, dass wir diese Ungetrübtheit nicht unmittelbar sind = sehen, sondern nur teilweise, vermittelt und indirekt begreifen können? […] das liegt an der Natur des Aktes der Freiheit selbst. Freiheit ist ein grundloser Vollzug zur differenziellen Struktur des Selbstbewusstseins, der Akt der Freiheit ist zugleich differenzieller Akt […] nur hier kann Differenz entstehen! Denken ist Tat, und als Tat selbstbezüglich, und als tätige Selbstbezüglichkeit selbstbewusst, selbstaffirmativ und in sich geschlossen = also performativ realistisch! Zugleich ist diese Tat an erster Stelle abgerissen (Gefühl und Verstand trennend, letzteren als selbständig inaugurierend), daher grundlos, ein Übergang vom hyperkonkreten Können-Sein zur faktischen Wirklichkeit differenziellen Sichsehens. Gerade in der Grundlosigkeit zeigt sich die scheinbare Absolutheit der faktischen Realität, in dieser Form. Das ist die notwendige Form des Bewusstseins […] nur in dieser strukturellen Insichgeschlossenheit realisiert das Selbstbewusstsein die Ding-an-sichFunktion, als letzte Ausflucht der Repräsentation des Scheiterns der 271 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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differenziellen Darstellung seiner Gegründetheit im rein Wahrnehmlichen absoluter unerschöpflicher Intuition […] die unendliche Aufgabe einer faktisch unmöglichen Begriffsbildung. Ergebnis: […] unsere Welt. Der Akt des Selbstbewusstseins realisiert damit nicht nur die subjektobjektive Form des Selbstbewusstseins als Grundform allen konkreten Wissens (synthesis integrata), sondern eben auch im selben Schlag den unableitbaren Vollzug der Abbildung der Tathandlung zu einem strukturellen performativen Realismus der differenziellen Existenzform. Die transzendentale Apperzeption erscheint sich faktisch selbstgenügsam, autark, grundlos, darum unbedingt, faktisch absolut: Sie ist es – sub specie facti. Sie ist es nicht sub specie absoluti; […] hier beginnt aber erst die eigentliche Freiheit. Da wir in dieser Form nur teilweise indirekt auffassen können (eben vermittelt), fällt uns das nicht auf, wenn wir nicht grundlegende Zweifel erheben (auf Basis der quaestio iuris sub specie absoluti [am leichtesten am deus-deceptor-Argument]). Aber selbst dann kommen wir in der intentionalen Einstellung nicht auf den Gedanken, dass unserer reflexiven Wirklichkeitsauffassung sichtbarlichtransparent eine absolute Erscheinung = das Auge des reinen Sehens, zugrundeliegen könnte, ja muss. Auch die traditionelle Metaphysik ebenso wie die Kritik derselben, auch die Kritik der Kritik usw. verfahren, wo sie nicht eine andere Seinserfahrung (Dürckheim) 8 gemacht haben, immer in denselben reflexiven sich reproduzierenden Formen endlichen Selbstbewusstseins […] Kreise von Kreisen in Kreisen […] symbolische Formen, aber kein neuer Gehalt […]: Das aufrüttelnd Inkommensurable der Möglichkeit des Gedankens eines Absoluten, wird immer wieder in denselben Strukturen an anderen Gründen und Inhalten eingeschläfert. Die self-fullfilling prophecy des tätigen Tuns individuellen Selbstbewusstseins ist konsequent, in sich geschlossen und selbstaffirmativ. Es muss sehr ernst genommen werden, dass unser welterzeugendes Denken als solches, als tätiges Prinzip, prinzipiell nicht aus dem entstellenen Modus heraus kann, denn das Zustellende, Vernagelnde, Alternativlose dieses Modus liegt in seinem zentralen Konstitutionsmerkmal, dass es abgerissen (Abstraktion bedeutet eben vor allem Trennung von Gefühl und Verstand), intentional und differenziell arbeitet. Auch Begriffe wie Sein, Vermutlich: Dürckheim, K.: Vom doppelten Ursprung des Menschen. Freiburg/Br. 1973.
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Ich, Absolutes, Gott, Leben, Totalität, Nichts, Welt, Wirklichkeit, Existenz etc. können alle miteinander in erster Instanz nur einfach abstrakt, differenzell bzw. binär gedacht werden. Diese Einschränkung gilt der Strenge nach nicht nur für die einfache Reflexion, sondern auch für die transzendentale Reflexion (der Reflexion). Die transzendentale Reflexion sieht durch einen Spiegel des Spiegels zwar nicht verkehrt herum, wie die einfache Reflexion; sie erkennt vielmehr das Verkehrherum-Sehen der einfachen Reflexion vollständig und durchgreifend; aber sie sieht es verkehrt herum. Sie kann dadurch zwar der Wahrheit indirekt näherkommen, deren Bedingungen in einem differenziellen Möglichkeitsbild vollständig erschließen, wenn sie vom Begriff des Absoluten ausgehend, von ihrer eigenen in sich geschlossenen faktischen Natur abstrahiert, und zur Vollreflexion der Reflexibilität sub specie absoluti ausgebaut wird. Aber nur dann, und nur am Inbegriff des Absoluten. So oder so, die transzendentale Vollreflexion (= die Reflexion der Reflexion sub specie absoluti) ebenso wie die transzendentale Intuition (= Leben sub specie absoluti) ist für das normale unterscheidende Denken, das differenziell sich verstehende endliche Selbstbewusstsein, unbegreiflich, ungültig, ja geradezu nutzlos (der performativer Realismus der einfachen Reflexion ist gewissermaßen ohne Lücke!), tatsächlich sind beide auch für einzelne oder unvollständige transzendentale Reflexionen unbegreiflich und inexistent. Übrigens ist die Möglichkeit einer transzendentalen Vollreflexion auch für ein Leben sub specie absoluti aus absoluter Intuition unbegreiflich und inexistent, indem nur die Vollreflexion der Reflexion eine Verbindung zwischen der absoluten Intuition und der einfachen Reflexion, zwischen der absoluten und der endlichen Freiheit, man könnte auch sagen, zwischen Mystik und Wissenschaft herstellen kann, und zwar eine Verbindung, die in ihren Prinzipien von beiden »Seiten« akzeptiert werden kann. *
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Die Frage bleibt aber: Wie kommt man praktisch über die Form des reflexiven Denkens hinaus, ohne den Verstand zu verlieren? Lösungsvorschlag: Die transzendentale Reflexion ist, ebenso wie reine absolute Intuition, überhaupt nicht durch fortgesetzte Reflexion (und sprachliche Beschreibung), sondern nur durch NichtReflexion bzw. durch ein Sich-Stellen ins konzentrierte energische 273 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Licht (Fichte) eines unbekannten unsichtbaren höheren transzendentalen absoluten Integrals = X – nicht zwar positive zu erfassen und zu operationalisieren (denn begreifen lässt es sich nur als unbegreiflich) –, wohl aber in der Spitze unseres Geistes zu praktizieren und also – gewissermaßen ›unbewusst, natürlich, automatisch‹ (im sogenannten hishiryó-Modus des Bewusstsein, durch ›Denken ohne zu Denken‹, im ›wissenden Nichtwissen‹.) – wahrzunehmen, indem wir uns im Leben rein negativ zu jeder faktischen Gestalt des ichlichen Denkvollzugs (und letztlich zur relativ-absoluten Form desselben), also sowohl zu jeglichen positiven als auch zu jeglichen negierenden Setzungen, schwebend verhalten. Das können wir nicht kognitiv = reflektierend, wohl aber existenziell, wobei jenseits des differenziell Begreiflichen das Sehen eben – wie oben gesehen – nicht zu Ende ist, sondern sich erst erfüllt und begründet. Und wir können außerdem im Bild dieses unbegreiflichen Sichmachens alle Formen unseres selbstbewussten Begreifens operationell systematisieren und zugleich – per reducionem ad absurdum – von diesem unbegreiflichen Nullpunkt, dem Begriff des Absoluten, subtrahieren. Ersteres ergibt eine formelle Meta-Religion (wie das Zen), letzteres eine formelle Meta-Wissenschaft (wie die höhere Transzendentalphilosophie Fichtes). Allein, was um alles in der Welt ist denn dieses Sich-Stellen ins Licht und wie soll das angehen? Fichte gibt uns, um zu veranschaulichen, was er mit einem energischen Denken meint, folgende Maxime an die Hand: »Tätig sollen wir gar nichts tun!« (SW X : 320). Das ist gut gesagt, doch paradoxal ausgedrückt. Es ist kein Akt, aber auch kein Leiden des Selbstbewusstseins gemeint, keine Intention, auch kein Nicht-Intendieren. Anders gesagt, wir sollen tun, aber wir sollen nicht tätig tun! Es ist eine mediale Einstellung gemeint, ein transbinärer Ort oder Sinn zwischen Aktiv und Passiv, zwischen Positiv und Negativ. Die Rede ist also von einem dritten transintentionalen passiv-aktiven Zustand des Geistes, dem Licht absoluter Intuition, das wir oben als ›E↓‹ symbolisierten, was aber nur eine leere Stelle des differenziellen Denkens = X bezeichnet. Und in dieser weder bewussten, noch unbewussten Medialität scheint das eigentlich unbegreifliche Wesen, und die Lebendigkeit unseres Geistes zu bestehen. Weiter: Nicht nur im energischen Denken, sondern auch im Leben ist die absolute Intuition weder durch Reflexion, noch durch Nicht-Reflexion, sondern nur durch jene Art schwebenden oder medialen Nicht-Reflektierens zu erreichen, durch nicht-intentionale 274 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Tätigkeit. Genauer gesagt, die absolute Intuition ist dieses mediale Nicht-Reflektieren selbst, wenn man sich ihm nur nicht identitätslogisch erfassend nähert. Das mediale Nicht-Reflektieren ist in letzter Konsequenz in sich als reines transdifferenzielles Sichmachen, das kosmische Bewusstsein selbst – so nennt es Deshimaru 9: Es ist eine höchste nonduale Energie, Schwingung und Konzentration. Die mediale Nicht-Reflexion ist im Leben als ein völliges Zum-Schweigen-Bringen der differenziellen Reflexion zu erleben bzw. als Inhibierung unterscheidender Bewusstseinsaktivität: Dann realisiert sich ein Feld des Paradoxalen als absolut in sich ruhende Einheit der Einheit und der Mannigfaltigkeit im reinen Sehen des sichsehenden Sehens des Selbstbewusstseins. Nicht ich denke, und auch nicht, ich denke nicht, sondern das Denken macht sich = Licht; nicht ich atme, auch nicht ich atme nicht, sondern dass Atmen atmet; nicht ich bewege mich in der Welt, noch auch bewege ich mich nicht, sondern die Welt macht und gestaltet sich mir (wenn ich ›mich‹ nicht per Re-entry als abgetrennt von anderen und den Dingen fasse, nachträglich; es ist immer dasselbe […]). Und so mit allem, wenn ich im Nichtdenken verweile, beim Klavierspielen, beim Kochen, beim Laufen, beim Gespräch, bei irgendetwas […] das gilt für die konkrete Zeit, ebenso wie für den konkreten Raum, für den einzelnen Gedanken ebenso wie für jede sinnliche Qualität, für den Schmerz ebenso wie für die Lust, für Glück und Leid … Ich gehe, worauf ich auch in innerer Abgeschiedenheit = Konzentration meine selbstbewusste Aufmerksamkeit richte, in einer höchst konkreten Unendlichkeit von Möglichkeit auf, dass ich von der jeweiligen Einheit der Mannigfaltigkeit, sei es nun eine konkret-konkrete oder eine abstrakte, ganz und gar verschlungen und eingenommen bin […] jedoch immer so, dass ich dies erlebe, weiß, übersehe aus einem absoluten Jenseits (der Einheit der Einheit und der Mannigfaltigkeit, per synthesis disparata), welches mich vom jeweiligen Konzentrationsfokus bzw. vom bestimmten intentionalen Gehalt des Selbstbewusstseins so vollkommen frei, desidentifiziert und ungebunden sein lässt, höchst flexibel und wach, dass ich mich – mit der höchsten Sicherheit und Grazie – zwischen Welten und Weltbildern, Dingen und Gedanken, Individuen und Gruppen, von überschauten Unendlichkeiten bewege, mit höchstem Intensitätsgefühl, tiefstem 9
Eine Stelle konnte nicht nachgewiesen werden.
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Genuss. Die Dinge beginnen wieder so zu glänzen, wie wir es aus der Kindheit kennen, nur jetzt bei vollständiger praktischer Kompetenz. Die Zeit hält an, wo ich hier ganz zugegen bin, der Raum vertieft sich, und wird zu – Bedeutung! (Welche Bedeutung? später.) Nur durch dieses Sichstellen ins Licht, vermag ich mich den Dingen und Gedanken vollkommen zu widmen, nur dadurch vermag ich meine endliche Freiheit vollständig zu verschenken, wegzugeben, zu versenken, nur durch Freiheit von der Freiheit fühle ich die ganze Präzision und Intensität der Welt, nur dadurch kann ich in dieser Scheinwelt real sein, leben! […] […] aber mal langsamer! […][…] […] eigentlich muss man nur die gedankliche Fixierung aufgeben, man müsse sich, bevor man etwas tut, sagt oder erledigt, erst gesondert dazu entscheiden, nach Abwägung, und Selbstkontrolle sozusagen. Dieser fixe Gedanke ist ja eigentlich nicht nur formal eine Illusion, und unmöglich: denn wer steht denn vor sich, und kontrollierte denn die Entscheidung zur Abwägung, und zu welcher überhaupt? Sondern auch inhaltlich, denn man handelt nicht mehr mit ganzer Kraft, Schnelligkeit und Entschiedenheit […] man verpasst den kairos […] nicht nur im Leben, sondern auch im Denken […] hier schon steckt die seltsame Trennug von Gefühl und Verstand, auf der unsere Wissenschaft und Kultur aufgebaut ist […] wir prolongieren eine Pathologie der Normalität, indem wir sie in Wissenschaft, Kultur und Institution ausbuchstabieren […] […][…]Es ist dieselbe empirische Scheinwelt, die jeder äußerlich sieht und kennt, nur aus einer verborgenen abgeschiedenen Tiefe heraus angesehen, wodurch dieselbe Welt im Glanz erstrahlt. Also: Es gibt nur zwei praktikable Möglichkeiten, die Freiheit der Freiheit zu vollziehen! die aber eine Gemeinsamkeit teilen: Beide Wege, durch die man erst die Ersichtlichkeit dieser Unterscheidungen gewinnt, sind künstliche, und meist mühsame Prozesse einer existentiellen (nicht nur theoretischen) Erweiterung des Denkens und Bewusstseins, gegen die gewohnte Blickrichtung. […] die zwei Wege: a. Erster Weg: Die Erweiterung des Bewusstseins im Denken erreicht man, um mit dem Bekannteren anzufangen, durch die transzenden276 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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tale Einstellung als Vehikel einer Vollreflektion der Reflexion sub specie absoluti. Man denkt nicht selbst, sondern stellt sich so, dass man dem Sichmachen des Denkens durch Denkenthaltung Raum schafft (das hat man Epochē genannt, oder evidentes, genetisches Denken), man setzt einen Begriff (sub specie absoluti betrachtet, ist es immer nur der Begriff des Begriffs, der gesetzt wird und werden kann, das darf man nie vergessen), nicht positiv oder axiomatisch, um ihn zu behaupten, willkürlich festzustellen, zu setzen, sondern nur abduktiv, um ihn am Einleuchten des Lichts verifiziert und integriert zu finden (das eigene Denken und Setzen wird daran relativiert). Man setzt den Begriff bedingt, um ihn, als evident einzusehen (ein konkretes Sehen des Sichsehens). Und dieses Verfahren nimmt dem Begriff den Schein der Willkürlichkeit und Zufälligkeit, den er formal als Setzung individueller Freiheit ja stets hätte, haben muss. Es muss hinzugefügt werden, um dem gesetzten Begriff den Schein der Willkürlichkeit gänzlich zu nehmen, und diesen Schein nicht auf eine implizite oder explizite, aber ebenso willkürliche Voraussetzungen zu übertragen, dass der Begriff transzendental in Bezug auf das ganze Vernunftvermögen, also in Bezug auf absolute Einheit legitimiert werden muss. Kurz, es geht darum, den Schein der Willkürlichkeit sub specie absoluti, und nicht nur sub specie facti zu nehmen, wie es in abduktiven empirischen Theoriebildungen der Fall ist. Hier zeigt sich auch, dass eine einzelne transzendentale Reflexion allein dies nicht vermag (da auch eine solche unvermeidlich faktisch und als faktische geltungslogisch dezisionistisch ist, selbst wenn sie formale Apodiktizität ausdrückt [das kann man als Indiz dafür nehmen, dass der Ansatz einer analytischen Transzendentalphilosophie etwas Widersinniges hat]). Es zeigt sich weiterhin, warum das Denken gänzlich aus dem Bereich faktischer Voraussetzungen heraus, in einen transfaktischen Bereich des Begriffs des Absoluten hinein muss, der ohnerachtet erst durch transzendentale Vollreflexion sub specie absoluti als solcher in genetischer Evidenz auszuweisen ist. b. Zweiter Weg, bedeutsamer: Die Erweiterung des Bewusstseins im Leben, und also nicht nur im Denken, als einer intentional-differenziellen Einstellung zum Leben, sondern existentiell. Dies sucht man beispielsweise in Praktiken gegenstandsloser Meditation [dhyana], beispielsweise durch Zazen, Pranayama, Satnam-Rasayan, Vipassanā etc. pp. Beschäftigen wir uns mit dem auch im Text geannten ›zazen‹, ›chan‹, als der vielleicht ursprünglichsten und reinsten From gegen277 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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standsloser Meditation. Durch Zazen, so heißt es, soll der historische Buddha seine Erweckung bzw. Erleuchtung erfahren haben. Zazen ist eine sitzenden Mediationspraxis, in der man sich nur auf die Körperhaltung und die Atmung konzentriert, die Gedanken vorbeiziehen lässt. Aber in Zazen denkt man nicht etwa gar nicht (was unmöglich ist), sondern man sieht sich denken, stellt sich aber, indem man sich strikt auf Atmung und Haltung konzentriert, so ein, dass man sich von allem, was man denkt (fühlt, wahrnimmt, allen also intentionalen Gehalten), grundsätzlich desidentifiziert: Das nennt man eben lapidar: »Man lässt seine Gedanken vorbeiziehen«. Deswegen ist dies eine gegenstandslose Meditation, die allerdings als Übung nicht nur Jahre, also eine nachhaltig fortgesetzte Konzentrationsenergie erfordert, um überhaupt reinzukommen; sondern diese Übung wird zur Lebensform, zur inneren, internalisierten, ja inkorporierten Haltung! In diesem desidentifizierenden negativ jede Bindung abweisenden Sich-Stellen ins Unbegreifliche, stellt man sich eben nicht in Nichts, man stellt sich aber auch nicht in irgendeinen dezisionistischen Anfangs- oder Ausgangspunkt sub specie facti (alle willentliche Tätigkeit ist falsch, tätig sollst du gar nichts tun, wie Fichte sagt), sondern in das Licht sub specie absoluti selbst, man stellt sich also existentiell in das, was eine transzendentale Vollreflexion – im Bilde – am Ende als Begriff oder Erscheinung des Absoluten ausweisen würde. Man tut dies solange, bis der Schein der Selbständigkeit des Ich sich immer mehr verliert, gewissermaßen langsam ausgeschlichen wird, und zu einem bloßen Reflex auf der Oberfläche des umgreifenden kosmischen Bewusstseins wird (nebenbei: ein Reflex unter vielen, denn das umgreifende Bewusstsein ist als Leben sub specie absoluti das Geisterreich, sinnlich sich darstellend). In diesem Sichstellen vergeht Zeit, und Zeit, die in dieser Haltung verstreicht, aktualisiert und trainiert indirekt-intentional sozusagen, das Sehen aus dem hochenergetischen Sich-Stellen ins Licht, man könnte sagen, die vergehende Zeit wird mit der ewigen sukzessive Zeit verflochten. Und zwar solange, bis das endliche Ich als zeitschaffendes Prinzip, eingefädelt wurde in die integrale Grundzeit sub specie absoluti, die uns alle per synthesis disparata verbindet (dann findet man seinen kairós). Also: Je länger man in richtiger desidentifizierter Haltung sitzt (sitzen in intentionaler Identifikation erzeugt bzw. reproduziert freilich das Gegenteil), desto mehr kann das Selbstbewusstsein seine Tendenz zu willkürlicher disruptiver Zeitfüllung in die transzendentale Grundzeit integrieren, und mit dem Licht der synthesis disparata verbinden; so 278 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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bildet sich langsam die gesuchte Einheit der Einheit und der Mannigfaltigkeit […] die sinnliche Welt ist die gleiche, nimmt aber in diesem Lichte betrachtet, eine andere Bedeutung an, oder kategorisch: erhält überhaupt Bedeutung […] und wird klar; die willkürlichen Trennungen, Segmentierungen und Partitionierungen fallen weg, die Zeitwahrnehmung ändert sich, insbesondere auch die interpersonalen Bezüge. Was vorher subjektives, in eine private Inntenwelt abgeschlossenes Gefühlsleben war, wird geistige Wahrnehmung, wird Atmosphäre, wird ein interpersonaler Feldcharakter […] das passiert langsam, schleichend, allmählich, […] unmerklich […] irgendwann geht das Licht an: Sein und Existenz haben sich verbunden. Es kann auch unmittelbar, spontan, sofort passieren. Je nachdem wo man steht. Es werden im Palikanon (Mahā-Assapura Sutta 10) folgende klassische Verwirklichungsstufen der Meditation angegeben: ākāsanañcayatana – Raumunendlichkeit: Der Meditierende entdeckt, dass kein Objekt existiert, sondern nur leerer unbegrenzter Raum. Viññānañcâyatana – Bewusstseinsunendlichkeit: Aber auch der Raum hat keine Existenz. Es verbleibt nur die Wahrnehmung von unbegrenztem Bewusstsein. ākiñcaññâyatana – Nichtsheit: Tiefer betrachtet, existiert kein Bewusstsein, sondern nur Nichtsheit kann wahrgenommen werden. Nevasaññā-nasaññayatana – Schließlich verbleibt man im Zustand von Weder-Wahrnehmung-noch-Nichtwahrnehmung. Auch hier geht es noch weiter […] saññāvedayitanirodham – Nach dem Überwinden der achten Stufe gelangt man in den Zustand der Erlöschung von Wahrnehmung und Empfindung. Liegt hier Ruhe, wissendes Nichtwissen? Aber auch ›diese Zustände treten noch tatsächlich in Erscheinung, nachdem sie vorher nicht vorhanden waren; nach ihrem Vorhandensein zerfallen sie‹. Also: Sie können nicht real sein. Es sind relativ-absolute Fiktionen, Zwischenstufen. Was bleibt, überraschenderweise, das was ist: die Nicht-Leerheit! Da steht: ›Es ist noch die Nicht-Leerheit gegenwärtig, nämlich die mit den sechs Sinnesgrundlagen verbundene, die von diesem KörAnnäherungen hier: vgl. http://www.palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m121z. html.
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per abhängen und durch das Leben bedingt sind.‹ Diese ist die einzige Leerheit! ›Er‹ betrachtet es als leer von dem, was nicht vorhanden ist [sic!], was aber das Restliche anbelangt, so versteht er das, was gegenwärtig ist, folgendermaßen: ›Dies ist gegenwärtig.‹ Die wahre Leerheit ist die Nicht-Leerheit, die durch die Sinnesgrundlagen, den Körper, das Leben bedingt sind. Aber auch hier geht’s noch weiter. Auch diese merkmallose Konzentration des Herzens ist noch produziert und willentlich herbeigeführt. Durch formale Freiheit, Identifikation. Was auch immer produziert und willentlich herbeigeführt ist, ist vergänglich, dem Aufhören unterworfen. Was bleibt? Desidentifikation auch von dieser Identifikation: Aber eine praktische Desidenifikation. Die Nicht-Leerheit bleibt Leerheit, nur dass willentlich herbeigeführt wird, ist noch zu verlassen: Erst hierdurch Eintritt in die Abgeschiedenheit, in die völlige Freiheit von der Freiheit: »Wenn einer so weiß und sieht, ist sein Geist vom Sinnestrieb befreit, vom Werdenstrieb und vom Unwissenheitstrieb. Wenn er so befreit ist, kommt das Wissen: ›Er ist befreit.‹ (= Satori) Er versteht: ›Geburt ist zu Ende gebracht, das heilige Leben ist gelebt, es ist getan, was getan werden mußte, darüber hinaus gibt es nichts mehr.‹« ›Dies ist gegenwärtig.‹ Dies ist echtes, unverzerrtes, reines Hinabsteigen in die Leerheit, vollendet und unübertrefflich. Man kann die Erweiterung des Bewusstseins im Denken, also die Wissenschaftslehre, eine reductio ad absurdum sub specie absoluti im Bilde nennen (Vernichtung des Begriffs des Begriffs), die Erweiterung des Bewusstseins im Leben wird man eine reductio ad absurdum sub specie absoluti im Vollzug nennen müssen, eine praktische oder existentielle, des Willens. Erstere ist eine mittelbare, nämlich vermittels der differenziellen Funktionen der Reflexion, sie liefert systematische Klarheit über die Strukturen des Selbstbewustseins, ist aber durch diese bedingt, letztere ist eine unmittelbare, absolute oder unbedingte. Anders formuliert, die Sicherscheinung hat man zu verlassen, zugunsten des völligen Sehens des Sichsehens. Auch Fichte kennt nun eine bedingte Form der Erweiterung des Bewusstseins im Leben, er nennt sie ›Vollendung der Freiheit‹ : Durch sie tritt man ein in ›die wahre Welt an sich‹, wie er sagt! Wie? in der späten Sittenlehre stehen folgende bemerkenswerte Sätze: »Der Sittliche muß darum 280 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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wollen, daß dieses System sich schließe, und er weiß, daß es sich schließen müsse, wiewohl er gleichfalls weiß, daß es sich nicht schließen könne, bis alles individuelle Bild erschienen und herausgetreten ist in einem gemeinsam anschaulichen Leben, und durch alle zum Einheitsbegriff erhoben ist. Er weiß darum, daß es mit dieser Welt, in der stets neue Individuen zu ihrer Bildung in die Reihe treten, mit dieser Welt des Geborenwerdens und Sterbens einmal ein Ende nehmen, und zu der Welt kommen müsse, in der das nun zur Einheit vollendete Geschlecht sein eigentliches Geschäft treibt, das nun zur Erscheinung gekommene wahre Bild zu realisiren; zu der Welt, um welcher willen die gegenwärtige, als Bedingung ihrer Möglichkeit, allein da ist. Das sittliche Bewußtsein ist Bewußtsein der Welt an sich. Diese ist die Erscheinung des absoluten Bildes: die gegenwärtig gegebene ist das nicht, und kann es nicht sein: indem in ihr das Bild gar nicht erscheinen kann, sondern nur das stets unvollendete Bild des Bildes. Wie vermag sie darum doch zu sein? Sie ist eine der unteren Stufen der Sichtbarkeit, und die Bedingung der Möglichkeit der wahren Welt an sich: und sie vermag selbst da zu sein nur, inwiefern jene ihr zu Grunde liegt. Der sittlichen Erkenntniß geht darum das gegenwärtige Leben allerdings als ein gegenwärtiges und vorläufiges, und die Gewißheit eines künftigen, und der Zusammenhang beider mit einander auf; und mit dieser Ansicht wird sich denn vereinigen und durch sie berichtigen lassen, was aus anderen Quellen über dieses Verhältniß gesagt wird. Der formale sittliche Wille, schlechthin zu wollen die Pflicht, ist stets möglich; und er ist in dieser Gestalt ewig.« 11 Aber: Wieso ist es bei Fichte nur eine bedingte Form der Erweiterung des Bewustseins im Leben? weil Fichte noch von der Trennung von theoretisch und praktisch, zwischen Individuum und Menschheit ausgeht, […] für Fichte ist Religion eben nur eine theoretische Einsicht, die vollendete Sittlichkeit nur individuell, anders gesagt, das reflektieren der Reflexion wird von Fichte zwar als praktische Manipulation der Stille und Leerheit verstanden, aber als alternativlos für den Menschen, die endliche Vernunft gewertet […]. Nun, Fichte waren tiefergehende gegenstandslose Meditationsformen, die sich ins Licht stellen, und sämtliche intellektuelle Tätigkeit suspendieren nicht bekannt. (Prüfen!) Erst kurz vor seinem Tode, wo er bekennt, dass er sich mit seiner Theorie eines absoluten Verstandes (WL 1813) 11
Gefunden bei Fichte: SW XI : 81 f.
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Schelling doch wieder sehr annähern würde 12, gewinnt er einen terminus a quo, der es ihm ermöglicht hätte, die künstliche Bildhaftigkeit der Wissenschaftslehre als Problem zu thematisieren, und dadurch auch die noch 1813 beklagte pädagogische Unfruchtbarkeit der Wissenschaftslehre zu meliorisieren. Es ist wohl nicht mehr dazu gekommen. (Prüfen!) So oder so, ist aber klar: Diese Welt ist dazu da, dass man aus ihr austritt (mag das Austreten ethisch gesehen auch wie ein Eintritt bzw. eine Ankunft wirken), wir sollen hier raus! Hier, in diesem Leben kann es nur um Freiheit von der Freiheit gehen, und das heißt, um Freiheit vom Denken, Freiheit vom identifizierenden Vollzug gleichwelcher Spielart und Sorte. Das ist doch mal ein relevantes Resultat. *
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Wir standen so, zwei Wege […] sich ins Licht sub specie absoluti zu stellen, durch Reflexion der Reflexion oder, was ich existenziell nannte. Aber dieses existenzielle Sich-Stellen und die sich mit der Zeit dadurch ergebende Erweiterung des Bewusstseins im Leben ist eben nicht wie die transzendentale Reflexion und Vollreflexion ein bildliches Bilden, differenziell und diskursiv, sondern genetisch integral, und zwar, wenn es gelingt und durchgehalten wird, genetisch integral sub specie absoluti. Dieses genetische Integral sub specie absoluti ist aber das für den Begriff schlechthin Inkommensurable, Undurchringliche, Unerreichbare, sozusagen = X. Man braucht schon die wirkliche Welt (und nicht nur die reflexive Bildform davon, den Begriff) als Aufkörper, als Projektionsfolie, um die Freiheit von der Freiheit vollumfänglich zu ersehen, als lebendiges Symbolisieren sub specie absoluti. D. h., anders als im Leben zeigt sich die Wahrheit nicht: Oder mit Dostojewskij: »Die Erkenntnis des Lebens, steht höher als das Leben – das ist es, wogegen man kämpfen muss!« 13
Näher dazu: Gregor, Kai: Freiheit – Reflexion – Erfüllung. Der Begriff der Glückswürdigkeit bei Kant und Fichte und seine Folgen für unser Bild vom Menschen. Bamberg 2017; Ders. System – Freiheit – Loos. Zu den letzten Reflexionen Fichtes von 1813 in Bezug auf einen alten Streitpunkt mit Schelling. Würzburg 2010, S. 189–206. 13 Sehr ähnliche Stelle zu finden bei: Dostojewskij, Fjodor, M.: Traum eines lächerlichen Menschen. In: Der Spieler. Späte Romane und Novellen. Die Werke Dostojewskis, München 171910, 746. 12
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Der Begriff (bedenke, es ist der Begriff des Begriffs, der differenzielle Verstand des absoluten) kommt eben nur durch das duale Bild zur nondualen Existenz sub specie absoluti, er kommt aber nicht in die Existenz selbst, wiewohl freilich die erzielten evidenten Einsichten in die transzendentale Struktur der nondualen Existenz bleibend und invariant sind. Davon sagt Fichte nun zwar auch in einem konzeptuellen Brief-Entwurf an Schelling: »Dem Leben«, gemeint ist das Leben sub specie absoluti, also einem Lebensstandpunkt, dessen Wirklichkeitsauffassung weder theoretisch noch praktisch durch Identifikation mit der Willkür vermittelt wird, ist dieses »X. faktisch (nicht genetisch) durchdringlich.« Aber: Es ist durchdringlich, wenn sich das Ich faktisch zum Standpunkt der Freiheit von der (Willkür-) Freiheit erhoben bzw. integriert hat, und nur in dieser rein praktischen Beziehung. Es ist jeglicher Reflexion inkommensurabel, gleichgültig, ob diese eine intentionale oder genetische Bezugnahme darstellt. Dagegen: Der rein praktischen Integration ist aber wiederum unsichtbar, dass dieses Integral durch eine in sich bestimmte genetische Synthese transzendentaler Begriffselemente sub specie absoluti negativ umschrieben werden kann – das ist eben nur der transzendentalen Vollreflexion erkennbar. Also: Sowohl im transzendentalen Denken als auch in gegenstandsloser Meditation handelt es sich um ein Sich-Stellen in ein unbegreifliches intuitives Nichtdenken bzw. Nichtwissen (das Licht oder ›Können-Selbst‹, wie es Cusanus genannt hat), das aber jeder Tätigkeit des Selbstbewusstseins fundamental zu Grunde liegt. Beide Zustände unterscheiden sich, durch die Art, wie man sich zu diesem absolut intuitiven Nichtdenken (Licht) verhält: Durch gegenstandslose Meditation stellt man sich in das absolute Integral des Bewusstseins sub specie absoluti, in der transzendentalen Reflexion steht man dagegen zwar auch dort, allein man wendet das differenzielle Prinzip des Denkens aus diesem Integral heraus auf sich selbst an, um das Sichmachen des Denkens differenziell bzw. genetisch ersehen bzw. evidieren zu können. In der transzendentalen Vollreflexion des Denkens verlässt man also den Bereich des gewöhnlichen Denkens, verbleibt aber nicht in der absoluten Intuition sub specie absoluti in ihrer lebendigen desidentifizierten Reinheit, sondern bedient sich ihrer (nur) in transzendental-reflexiver Funktion und differenziell-systematischer Brechung. Dadurch vermag man ein differenzielles Orientierungswissen des absoluten Integrals zu gewinnen, über sein Verhältnis zum ein283 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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fachen Denken, über das Verhältnis des transzendentalen zum einfachen und zur absoluten Intuition. Gleichwohl interferiert auch der differenzielle Modus der transzendentalen Reflexion noch mit der klaren Transparenz des absoluten Grundes im absoluten Bewusstseins (E↓), und reproduziert den Schein der Abgetrenntheit / Selbständigkeit des Selbstbewusstseins durch die Bildform des Begriffs. Anders gesagt, nicht einmal die transzendentale Vollreflexion realisiert das absolute Integral des Bewusstseins als Wirklichkeit sub specie absoluti (Urerscheinung), sondern bloß als Bild eines nondualen Bildes (= Begriff des Begriffs). Doch dank der transzendentalen Reflexion weiß der Denkende hier wenigstens darum und warum, im Modus der einfachen Reflexion weiß er es nicht, und fällt irgendeiner Identifikation zum Opfer. Er muss fallen, … notwendig! … Erst durch die nachhaltige Praxis gegenstandsloser Meditation vermag der differenzielle Interferenzbereich des gewöhnlichen Denkens ebenso wie der des transzendentalen Denkens existentiell verlassen zu werden: Erst dann realisiert man im Leben durch Freiheit von der Freiheit das Sehen des Sichsehens sub specie absoluti – oder kurz: Man realisiert absolute Freiheit bzw., wenn man es überhaupt noch so nennen will, ein religiöses Leben sub specie absoluti. *
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Zur Bedeutung der Welt. Das Leben sub specie absoluti ist urreligiöse Wirklichkeit par excellence; die Identifikation mit dem einfachen Denken, der performativer Realismus des Cogito erzeugt die abgetrennte, anonyme Realität; und selbst die transzendentale Vollreflexion sub specie absoluti bleibt praktisch nur ein unselbständiges, das religiöse Leben sub specie absoluti bloß formal abbildendes Möglichkeitsbild. Fichte nennt dieses systematisch voll durchdrungene Möglichkeitsbild ›Wissenschaftslehre‹ oder den ›Begriff des Absoluten‹. Wer die urreligiöse Wirklichkeit erlebt, erlebt sie aus einem unbegreiflichen X verborgener Transparenz; sodass am Ende, also sub specie absoluti, die Frage, ob das Leben sub specie absoluti vom Ansatz her eher nur eine deistischen Vernunftreligion im Sinne Meister Eckeharts ist, oder atheistisch im Sinne des Buddhismus, oder theistisch im Sinne Aurobindos, oder pantheistisch im Sinne Spinozas bzw. Goethes etc. pp., sogar falsch gestellt sein könnte; sub specie facti jedenfalls handelt bei diesen Unterscheidungen nicht um unterschiedliche theoretische Funktionen 284 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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oder Perspektiven innerhalb der unbedingten Totalität eines vorausgesetzten epistemischen Apparats (synthesis integrata), sondern um inkommensurable, sich als herrschend gegenseitig absolut ausschließende praktische bzw. epistemopraktische Sehepunkte – genauer: Lebensgrundgefühle, Sinnaffekte, Lebensstandpunkte, Aufgaben. […][…] Nochmals genauer, warum ist das so? Weil die Reflexion bzw. dessen Grundform, die synthesis integrata, ein faktisch identitätslogisch-binäres Differenzial bildet, in dem eine Einheit nicht ohne bzw. nur an einer faktischen Differenzierung erfasst werden kann. Die synthesis integrata wird als Term eingeführt, um den Bereich des faktischen identitätslogischen Denkens, in der Einheit der Mannigfaltigkeit/Dualität eines absoluten Ich (cogito), in einem Schlag thematisieren und beschreiben zu können. Die synthesis integrata ist Vernunfttotalität des Verstandes. Ihr entgegengesetzt ist die synthesis disparata bzw. ›Synthese auseinander‹, wie Fichte diesen Gedanken in der WL 1812 nennt 14, erst in diesem Modus ist die unerklärliche Wechselwirkung, das Band des Können-Seins freier Geister zu denken, im Leben sub specie absoluti kommen beide Synthesen (ob man es nun begreift oder nicht?) in unterschiedlicher affektiver Qualität und Identifizierung verschmolzen und integriert ineinander vor. 15 Es »gibt« sub specie absoluti nur ein Leben! Also: Im Sichsehen des Sehens wird nicht nur die Mannigfaltigkeit gesetzt, sondern eben auch die faktische Einheit. Die höchste faktische Einheit dieses Bereichs ist der alles wirkliche Denken zusammenhaltende formal performative Vollzug des ›ich denk es‹, also der individuell realisierte Gedanke eines absoluten Ich bzw. absoluten Selbstbewusstseins sub specie facti. Um dessen Sicht- und Realitätsbereich zu verlassen, bleibt nichts als das gewöhnliche Denken, die differenzielle Intentionalität des Selbstbewusstseins, existentiell bzw. praktisch zu überwinden. ›Existentiell‹ bezieht sich dabei aber weder auf die Form noch auch den Inhalt des Selbstbewusstseins, sondern ist eine dritte überfaktische Bewusstseins-Einheit (synthesis disparata), dem der performative Realismus des absoluten Ich (cogito – cogitaVermutlich: »In einander kann die Vereinigung nicht sein. Sie müßte darum auseinanderfallen.« (Wissenschaftslehre 1812, SW X : 373). 15 Vermutlich: »Dieses ganze geschloßne Bewußtseyn C.[7] wieder in A. aufgenommen, giebt ein System der GeisterWelt (das obige B.) und einen unbegreiflichen RealGrund der Getrenntheit der Einzelnen, und ideales Band aller = Gott. (Dies ist’s, was ich die intelligible Welt nenne.) Diese lezte Synthesis ist die höchste.« (SW FBr II : 326) 14
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tum, also die Grundintentionalität bzw. Basis Einheit der Mannigfaltigkeit) seine Möglichkeit und eben relativ-absolute Einheit verdankt. Die synthesis disparata ist das absolute Ich, das ein höchst konkretes koordinierte Wir ist, das Geisterreich eben. Existentiell überwindet man das Selbstbewusstsein, indem man dem performativen Realismus des ›ich denke es‹ (also der Freiheit) das Leben bzw., ich möchte sagen, die praktische Energie entzieht (formal wie inhaltlich bleibt dabei die Form des Selbstbewusstsein als äußere Projektionsfolie (d. h. es bleibt der individuelle Verstand) gleichwohl erhalten, sie verändert aber grundsätzlich ihre Qualität, indem der sekundäre performative Realismus der Ichform als bloßen Bild des Bildes (als Reflex) erkannt wird: Wie sagte Beuys »Durch die Ausschaltung der Inhalte des Denkens wird der aktive Wille im Denken zur Wahrnehmung.« Kurz, man ersieht das Sichsehen als bloßes Bild eines Urbildes, vielmehr genauer: im Leben sub specie absoluti ersieht es, das Urbild, natürlich mich (es ist nur die künstliche Orientierung der transzendentalen Reflexion, dass es umgekehrt erscheint)). Je mehr dies gelingt, desto mehr erlebt bzw. ersieht man es als bloßen holografischen Reflex (Prisma) eines unbegreiflichen = hyperdichten hochenergetischen transfaktischen Bewusst-Seins (des Da-des-Seins bzw. der Erscheinung des Absoluten, oder kurz: der synthesis disparata), einer ebenso substanten wie deontischen, einer deistisch-theistisch-pantheistischen, einer ebenso invarianten wie inkommensurablen Einheit der Einheit und der Mannigfaltigkeit, aus der heraus allein die angezeigten Unterscheidungen praktiziert bzw. ersehen werden können. Schwer! Was ist damit gemeint? Frage, was wird aus der Welt, wenn die Ding-an-sich-Funktion des Selbstbewusstseins als bloße Projektion und Autopoesis der transzendentalen Freiheit nicht nur punktuell erkannt wird, sondern realiter verschwindet? Was wird aus den sinnlichen Qualitäten, den primitiven Empfindungen, aus den leiblichen Formen und Konfigurationen des weltlichen Zusammenhangs, wenn sie nicht mehr auf diese anonyme Folie des Ding-an-sich projiziert werden? – Antwort: Ausdruck, Wesen, Bedeutung bzw. Wesenskräftespiel, und das einzige, was diese Kraft ausüben kann, sind und können nunmal sein, nur Freiheiten; aber nicht nur die agierenden, sondern die ›könnend-seinenden‹, also nicht nur die wirklichen Taten, sondern auch die durch ihre geistig angelegte Individualität sein sollenden – im zeitlosen Jetzt muss beides ineins zusammenfallen, denn beides ist im Können-Sein eins, und da das Können-Sein ein Auge ist, 286 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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muss es auch gesehen werden können, wenn das Auge nicht durch die abgerissene Form des individuellen Selbstbewusstseins gestört wird. Also was erscheint? Ein Ausdruck durch ihre Angelegtheit, Wechselwirkung und Verbundenheit im Können-Sein (dem unbegreiflichen geistigen Band des Wir), denn dies ist das einzige legitim-begreifbar Unableitbare in der höchsten Spitze des faktischen Vollzugs des faktischen Wissens. Hier: Erich Hellers Realismus des Symbols! Was sehe ich fortan sich symbolisch in der Wirklichkeit ereignen? ein freies Spiel wechselwirkender freier Kräfte, besser freier Entschiedenheiten, in dem einen Auge, das wir alle sind und teilen; sich bindender und sich von Bindungen befreiender Freiheiten – harmonia mundi intellectualis – eine geradezu holografische Darstellung des Ganzen in jedem Einzelnen, in jeder fensterlosen Monade, und eben auch umgekehrt, einer möglichen praktischen Rückwirkung des Individuums, auf Alles im Ganzen en detail! Eine unmittelbar wechselwirkende unableitbar »praktische« Verbindung und Entwicklung der freien Geister, als solcher, unter sich. Steiner scheint mit seinen Hierarchien in diese Grundsituation hier vorgedrungen zu sein und sie dezidiert zu analysieren (prüfen). 16 Fichte nun stellt dieses geistige Band, der synthesis disparata, in der Anweisung zum seligen Leben aus der eingeschränkten Perspektive der Wissenschaftslehre vom religiösen Standpunkt wie folgt dar: »Jedes Individuum hat daher in seiner freien, durch die Gottheit selbst nicht aufzuhebenden Gewalt die Möglichkeit der Ansicht und des Genusses aus jenen fünf Standpuncten seines, dasselbe als reales Individuum charakterisirenden Antheils an dem absoluten Seyn. So hat jedes Individuum zuvörderst seinen bestimmten Antheil an dem sinnlichen Leben und seiner Liebe; welches Leben ihm als das absolute und als letzter Zweck erscheinen wird, so lange die im wirklichen Gebrauche befindliche Freiheit darin aufgeht. Wird es sich aber, vielleicht durch die Sphäre der Gesetzmässigkeit hindurch, zur höhern Moralität erheben, so wird ihm jenes sinnliche Leben zum blossen Mittel werden, und es wird seiner Liebe sein Antheil an dem höhern, übersinnlichen und unmittelbar göttlichen Leben aufgehen. Jeder ohne Ausnahme erhält nothwendig durch seinen blossen Eintritt in die Wirklichkeit seinen Antheil an diesem übersinnlichen Seyn; denn ausserdem wäre er gar kein Resultat der gesetzmässigen Spaltung des Vermutlich: Anweisung zum seligen Leben, Vortrag 9, SWV 530 f; Mark. unbekannt.
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absoluten Seyns, ohne welches gar keine Wirklichkeit ist, und er wäre gar nicht wirklich geworden; nur kann, gleichfalls jedem ohne Ausnahme, dieses sein übersinnliches Seyn verdeckt bleiben, weil er sein sinnliches Seyn und seine objective Selbstständigkeit nicht aufgeben mag. Jeder ohne Ausnahme, sage ich, erhält seinen ihm ausschliessend eigenen, und schlechthin keinem andern Individuum ausser ihm also zukommenden Antheil am übersinnlichen Seyn, welcher Antheil nun in ihm in alle Ewigkeit fort sich also entwickelt, – erscheinend als ein fortgesetztes Handeln, – wie er schlechthin in keinem andern sich entwickeln kann; – was man kurz den individuellen Charakter [sc. ein individuelles Wesen] seiner höhern Bestimmung nennen könnte. Nicht etwa, dass das göttliche Wesen an sich selbst sich zertheilte; in allen ohne Ausnahme ist gesetzt und kann auch, wenn sie sich nur frei machen, wirklich erscheinen das Eine und unveränderliche göttliche Wesen, wie es in sich selber ist; nur erscheint dieses Wesen in jedem in einer andern, und ihm allein eigenthümlichen Gestalt. (Das Seyn, wie oben, gesetzt = A, und die Form = B; so scheidet das in B absolut eingetretene A, absolut in seinem Eintreten, nicht nach seinem Wesen, sondern nach seiner absoluten Reflexionsgestalt sich in [b+b+b1] = ein System von Individuen: und jedes nb hat in sich 1) das ganze und untheilbare A, 2) das ganze und untheilbare B, 3) sein b, das da gleich in dem Reste aller übrigen Gestaltungen des A durch [b+b+b1]).« 17 Kurzum: Alles, alles, alles in der Sinnenwelt wird zum reinen strukturierten Wesensausdruck des Geisterreichs, also der Freiheitswelt, des Reichs der Zwecke, wird Repräsentation und Ausdruck des faktischen Zustands der Freiheiten, und ihrer Konstellationen untereinander, vor dem kategorischen Soll der höchsten Integration. Die Scheinwelt der Empirie ist auch bei Fichte nur Theaterbühne, für dieses Stück. […] irgendwie: willkommen bei Dionysius Areopagita und im Mittelalter, aber doch auch wieder nicht […]; so fasst er es im fixierten Möglichkeitsbilde zumindest theoretisch, mit den fixierenden Werkzeugen den transzendentalen Reflexion; im Leben sub specie absoluti = X, muss noch die sogenannte praktische Dimension – die ja eigentlich eine weder-theoretische-noch-praktische, sondern absolute mediale ist – hinzukommen, sodass diese geistige Grundwirklichkeit der zeitlichen Ewigkeit eben auch in ihrer aktuellen Rückgekoppeltheit an die wirklichen Taten und Leistungen der Frei17
Vermutlich: Anweisung zum seligen Leben, SW V : 530 ff.
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heiten im Hier und Jetzt gesehen können werden muss, und also in aktueller lebendiger offener fortwährender Entwicklung begriffen. Das müssten gezeigt werden; indem darzulegen wäre, für’s erste, dass synthesis disparata und synthesis integrata, im Leben immer nur zusammen vorkommen können, sie beide – wenn integriert, Willkür durch Vollendung der Freiheit überwunden – in diesem Leben eben die Einheit der Einheit und der Mannigfaltigkeit sind/ist, das absolute Wissen (absolute wissende Nichtwissen) bzw. die Erscheinung Gottes ausmachen, und wir dies eben existentiell erfahren, wenn der religiöse Standpunkt, wenn Satori im Leben realisiert wird; bzw. es auch differenziell gedacht werden kann, in einer zukünftigen Wissenschaftslehre, auf Basis der erweiterten Prinzipien der entstehenden. Auch die Wissenschaftslehre lebt wie gesagt nur aus dem meditativen Sichstellen ins Licht, verarbeitet dieses aber mit den differenziellen Instrumenten der synthesis integrata, nicht integral. Jedoch, was integral im Auge liegt, muss auch differenziell entfaltet werden können. Fichte ringt ganz am Ende noch in den Diarien mit diesen Fragen: Hier kann noch Einiges gefunden werden! Nur durch eine fortgesetzte nicht-identitätslogische und, aus demselben Grund, nicht-intentionale Konzentration des Selbstbewusstseins auf seinen überintentionalen Grund gelingt die Entziehung des Sehens aus seiner der performativen Identifikation mit der differenziellen Form des Denkens, insbesondere der solipsistischen Grundform derselben, der Ding-an-sich-Funktion, seinem relativ absoluten performativer Realismus. […] […] [n]ochmal anders […] der Strenge nach ist das absolute Integral des Bewusst-Seins im Leben der lebendige Begriff des Absoluten selbst (ein absoluter Verstand, das Licht in der Form der Sichtbarkeit), das differenzielle Möglichkeitsbild des absoluten Integrals in der transzendentalen Vollreflexion ist dagegen immer nur der Begriff dieses Begriffs des Absoluten oder die Wissenschaftslehre (die Sichtbarkeit der ersten Form der Sichtbarkeit samt Licht = Reflexibilität der Reflexibilität). Man kann also einen integralen Verstand, den göttlichen oder die absoluten Verstand […] Fichte tut dies in den Diarien und in seiner WL 1813 18 […], und einen differenziellen Verstand, den endlichen, unterscheiden. Im endlichen Verstand kann auch das Absolute, Göttliche, Nicht-Relative thematisiert werden, 18
Vermutlich: Wissenschaftslehre 1813, SW X 30 ff.
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aber formal nur auf differenzielle mithin relative Weise, nur formaliter, unter Absehung des Gehalts. Die transzendentale Vollreflexion oder Wissenschaftslehre ist so nur das differenzielle Strukturbild des göttlichen Verstandes aus der Perspektive des von seiner eigenen irreduziblen differenziellen Natur abstrahierenden, und diese Perspektive vom integralen Verstehen künstlich subtrahierenden endlichen Verstand. Das vermag der endliche Verstand, indem er sich epistemo-praktisch ins Licht des göttlichen Verstandes stellt (auch die Reflexion ist im Leben, eine spez. Einstellung dazu) und die absolute Intuition in reflexiv-differenzieller Funktion gegen seine eigene differenzelle Natur wendet. Die invariante Erweiterung des Bewusst-Seins im Leben vermag man, meiner Voraussetzung nach, nur »durch« eine nachhaltige Praxis gegenstandsloser Kontemplation zu erlangen. Gegenstandslos muss diese kontemplative Praxis sein, indem nur so das absolute Integral jenseits der und gegen die objektivierende und differenzierende Tendenz der Intentionalität des Selbstbewusstseins (als dem für die einfache wie auch transzendentale Reflexion bestimmenden Grunddifferenzial) im Leben realisiert werden kann. Es scheinen verschiedene Methoden gegenstandsloser Meditation möglich, ein radikaler und darum besonders klarer Weg ist das bewegungslose schweigende Sitzen in Zazen (shikantaza), die Erweckungspraxis des Zen-Buddhismus. Orientierung über das allgemeine Verhältnis der gewöhnlichen Reflexion, der transzendentalen Vollreflexion und der absoluten Intuition kann man nur durch eine transzendentale Vollreflexion erreichen. Umgekehrt durchsieht aber allein die zum absoluten Integral gewordene absolute Intuition die interpersonale Situation im Leben sub specie absoluti im Hier und Jetzt in ihrer hyperkonkreten Allgegenwart und Durchtränktheit und also den eigentlichen Gehalt der synthesis disparata, und findet ihn dargestellt, per synthesis integrata, in der reflexiven Form des Selbstbewusstseins, ohne jedoch mit dieser identifiziert zu sein. Damit ist nun ansatzweise der Referenzrahmen gegeben, um das Systemfragment besser zu verstehen. Im Weiteren will ich mir die hier aufgezeigten Strukturen genauer ansehen. Wir können uns dazu wieder insbesondere auf Erkenntnisse der Fichteschen Spätphilosophie beziehen sowie auch anderer Denker und Meister. In diesem reinen Sehen, wenn ich es im Leben realisiere, erschließt sich mir zum ersten Mal die Einzigartigkeit meiner individuellen Bestimmung, bzw. mein Wesen (also meine mir aufgegebene Freiheit) 290 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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jenseits meiner formalen Freiheit, es zu realisieren oder auch nicht. Dieses Sehen (E↓) jenseits der intentionalen Aktivitäten des Selbstbewusstseins (E� [S�O]: also unseres Wollens oder Erkennens, ja der faktischen Seinsform des absoluten Ichs überhaupt) ist eben Einheit – Genesis oder Tathandlung – jenseits der differenziellen Einheit von Subjekt und Objekt des absoluten Ich, deren bildliche Grundform es ist. In diesem einen Sehen jenseits des intentionalen Sehens liegt aber kein Chaos, sondern ein lebendiges Paradox des Können-Seins, dass man vielleicht nicht besser fassen kann, als die absolut in sich bestimmte Bestimmbarkeit, die nur dem identitätslogischen Denken irrational, unbegreifbar, also willkürlich ausgedacht erscheint. Fichte hat diesen unbegreiflichen Nexus zu Recht System der Geisterwelt genannt, denn was sollte denn sonst Freiheiten als Freiheiten binden und koordinieren und doch freilassen können, als ein unbegreifliches Feld absolut in sich bestimmter Potentialität, ein Können-Sein eben, dass den individuellen wie kollektiven Freiheitsleistungen das Feld bereitet wie auch speichert, und zwar sowohl hinsichtlich Materie als auch Form, und insofern als absolute Vermöglichkeit absolut schon da sein muss? Ich nenne die Realisation desselben im Leben, durch radikale Ausschaltung der Inhalte des Denkens, die Synthesis der synthesis disparata und der synthesis integrata. […] und darum, was mir jetzt erst auffällt, hat auch der Revolutionär nach Beuys »erst an dieser Freiheitsschwelle sein Wahrnehmen nach Innen erweitert und erkennt, wie Innen und Außen zusammenhängen, und daß sein eigener Leib, ja seine Gefühle im Verhältnis zu diesem Quellpunkt der Freiheit Außenwelt sind. Jetzt hat er gesehen, daß das, was er an dieser Schwellensituation von Innenwelt und Außenwelt als seine freie Eigentätigkeit bewußt erleben kann, ebenfalls vorgegeben ist, allerdings nur in dieser Ausnahmesituation, daß das Hervorgebrachte nur durch den Hervorbringenden selbst wahrgenommen und begriffen werden kann, als reine Aktivität, ein plastischer Vorgang, in der ein reiner Wille wirkt. Er weiß jetzt, daß er Schöpfer ist, nicht nur Geschaffener, sondern auch Schaffender dessen, was in der Welt das ›was ist zu tun‹ ? genannt werden kann. Im Wahrnehmen dessen, was sich in diesem Wahrnehmungsfeld zeigt, erfährt der Beobachtende, daß das Reich, das er in dieser Weise erkennt und in dem er sich betätigen kann, eine Lebewelt ist.« 19 Wieder Joseph Beuys: Eintritt in ein Lebewesen. hgg. v. R. Rappmann Achberg 1984, 126 f., Mark. unbekannt
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Denke an Eckehart: »In dem Durchbrechen aber, wo ich ledig stehe, meines eigenen Willens und des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selber, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder ›Gott‹ noch Kreatur, bin vielmehr, was ich war und was ich bleiben werde jetzt und immerfort. Da empfange ich einen Aufschwung, der mich bringen soll über alle Engel. In diesem Aufschwung empfange ich so großen Reichtum, daß Gott mir nicht genug sein kann mit allem, was er als ›Gott‹ ist, und mit allen seinen göttlichen Werken; denn mir wird in diesem Durchbrechen zuteil, daß ich und Gott eins sind. Da bin ich, was ich war, und da nehme ich weder ab noch zu, denn ich bin da eine unbewegliche Ursache, die alle Dinge bewegt.« 20 Bzw., anders gesagt, die Welt es ist eben nichts als Spiegel der Freiheitswelt. Was Beuys und Eckehard hier beschreiben, sind die Folgen der existenziellen Realisation des Sichstellens ins Licht absoluter Intuition, »durch« das energetische und konzentrierte Nicht-Reflektieren und Nicht-Tätigsein wird das Sehen des Sichsehens klar. In diesem Sichstellen ins Licht wird der ertötende Charakter des Denkens gewissermaßen durchsichtig, um zu sehen, dass die Welt statt eines Bildes toter Dinge und Verhältnisse, nichts ist als Lebewelt, und also auch nichts repräsentiert als das Werk und Spiegel von Freiheiten. Nichts als Freiheitsprodukt, bis in den Grund. Tot ist an dieser Welt nur, was und indem wir es durch unser Denken ertöten, an sich ist die Welt um uns nichts als der sichtbare Teil der Taten und Leiden lebendiger interaktiver Freiheiten. Die äußerste Tätigkeitsunterdrückung führt also dazu, dass im Sehen eine grundlegende Transformation geschieht. Indem das Selbstbewusstsein seine eigene unterscheidende Tätigkeit als Realitätsfaktor transzendiert, wird sichtbar, dass im Sehen nicht eine tote Welt abgebildet und nachgebildet sein kann (das Ding an sich), sondern dass dieselbe Welt, die zuvor als mehr oder minder totes Abbild eines toten anonymen Seins erschien, ein rein geistig hingesehenes Produkt einer durch und durch lebendigen differenziellen interaktiven Freiheitswelt [ist] […]. Fichte nennt diese wahrnehmbare Sphäre im Inneren der Freiheit wie gesagt ›Geisterreich‹. Bei Cusanus ist es »jenes Was, das wir suchen.« Es ist der unbegreifliche Gehalt der absoluten Intuition. Auf den Zusammenhang von synthesis integrata und synthesis disparata So beispielsweise gefunden In: Meister Eckehart: Deutsche Predigten und Traktate. hgg. v. Josef Quint, München 1979, S. 308 f.
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mit dem sogenannten Geisterreich versuche ich später wieder zurückzukommen. *
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[…] [mehrere fehlende Seiten, unleserliche, verschmierte Handschrift, nicht rekonstruierbare Skizzen, Matheme, Symbole] […] […] wenn man aus diesem Reduktionismus heraus will, ohne positive noch negative Dogmata zu behaupten, bleibt nichts übrig, als das absolute Wissen in eine nicht-(intentional)-wissende Wissensform zu legen, und zu zeigen, dass das intentionale Wissen, dass ja das einzige uns zur Verfügung stehende wissenschaftliche Instrument zur Untersuchung des absolut wissenden Nichtwissens ist, zwar aus seiner intentionale Form nicht heraus kann, jedoch die absolute Form des Wissens immer als es selbst genetisch begründende transzendentallogisch voraussetzt. Dadurch ist eine absolute Reflektierbarkeit mitgesetzt, mittels welcher die intentionale Form des Denkens über sich selbst hinausgehen und ihre eigene Begrenzheit sowohl erfassen als auch strukturell durchdringen kann: Sukzessive kann also in einem negativen Verfahren (reductio ad absurdum) der Brechungfaktor des intentionalen Denkens vom transintentionalen Wissen herausgearbeitet und also künstlich indirekt Erkenntnis über den unbegreiflichen Gehalt des transintentionalen Wissens erlangt werden. So erörtert die späte Fichtesche Lehre auf dem Feld des Denkens die künstliche Selbstdurchdringung der faktischen Form des Denkens mittels genetischer Evidenz. Im Leben, also dem hier unterstellten entgegengesetzen vorreflexiven, also integralen Unmittelbarkeitszustand des realen Erscheinens des Absoluten, durch ein nachhaltiges invariantes existentielles Stehen im Licht gegenstandsloser Kontemplation, zeigt sich der Fortschritt anders. Fortschritt zeigt sich hier allein im sich unmittelbar einstellenden fühlbaren interpersonalen Freiheitsgewinn, absichtslose interpersonale Resonanzen, unglaubliche Zufälle, Ahnungen, anderer atmosphärischer Gesamtausdruck, Seligkeit […] der jede Skepsis des kritischen Rationalismus zum Schweigen bringen müsste und würde, wenn letzterer diese äußere Kritik zulassen, diese subtilen Wahrnehmungen zugeben, ja überhaupt machen könnte. Weil er diese Dimension, aufgrund seiner Denkart nun partout nicht kennt, neigt er noch im Versuch, herrschaftsfreie Diskurse herstellen zu wollen zu zwingmeisterlicher Arroganz, unter Sehenden wirkt 293 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Blindheit, die sich für Sehend hält, immer strukturell gewaltsam […], […] das gilt aus dem selben Grund übrigens auch für die Lebensstandpunkte der Natur, aber erst recht den rechtlichen […]. Auf dem Gebiet des Denkens haben wir es aus Sicht des durchgeführten transzendentalen Gedankens nur mit einem bedingten Möglichkeitsbild des unbedingt notwendigen Gesetzes des transintentional »sich« begründeten intentionalen Wissens zu tun, also mit reflexiv aufgestellten Gesetzen der Irreduzibilität und Inkommensurabilität der Synthese von synthesis integrata und disparata – vom wirklichen lebendigen aktuellen frischen ›wissen‹ im Hier und Jetzt sub specie absoluti ist hierbei abgesehen. Das Wissen sub specie absoluti ist eine für die eigene Reflexion sowohl irreduzible wie auch identitätslogisch inkommensurable Synthese von begreiflichen und unbegreiflichen Wissensmodi, welche sich durch Reflexion im Kern nur als unbegreiflich begreifen lässt, im Leben ist es aber vollkommen durchsichtig, mit der absoluten Apperzeption dieser Transparenz, vgl. den Augenblick. Das Nicht-begreifen-können enthält also nichts von Opazität der Synthese, sondern nur von apperzeptiv klar gesehener Unmöglichkeit, sich selbst reflexiv linear zweckrational einsortieren zu können (und zu wollen). Nochmals in Fichtes Worten: »Die Erscheinung ist Erscheinung Gottes. Was sie als solche ist, ist sie eben durch Gott selbst. Dies ist offenbar nicht a priori einzusehen, sondern aus dem Erscheinen Gottes zu erwarten. Es ist das Reale in der Erscheinung. […] Im wirklichen Sicherscheinen der Erscheinung kommt Reales und Formales mit einander, ohne alle Spur der Verbindung vor: und dadurch ist eben das wirkliche Bewußtsein das wirkliche, das faktische, [transparente].« 21 (Außerdem sind hier die letzten Erkenntnisse noch nicht systematisch ausgebreitet: Erinnere dich, was du bei Fichte fandest: Nicht nur »Warum wäre denn das eigentliche Bild Gottes durchaus ein erschaffen von Sichtbarkeit? Ich muß ja nicht denken, daß Gott sich absetze, als fertige Sichtbarkeit, es ist ja nicht seine Erscheinung, sondern sein Erscheinen, u. sich Sichtbarmachen.«, sondern auch und vor allem: »In Gott herein gedacht, macht er selbst sich sichtbar; ihm ist’s ich.« Damit sprengt Fichte nicht nur den Rahmen jeder vorherigen Wissenschaftslehre, die den absoluten Reflexionshorizont in der erschöpfende Analyse des Sich der Sicherscheinung legen, und also im Modus der Faktizität bleiben, sondern diese Einsichten lassen 21
Vgl. Wissenschaftslehre 1812, SW X : 388.
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auch einen völlig neuen Zugang zum inneren ewigen inkommensurabel-transparenten Wesen des absoluten Verstandes am Grunde der religiösen Wirklichkeit aufscheinen, denn hier deutet sich an, dass der unbegreiflich-paradoxale Verstand des göttlichen Erscheinens logisch noch vor Erscheinung und Sicherscheinung liegt, also dort, wo man im Leben steht, wenn man sein Denken bspw. in Zazen radikal im nicht-denkenden Denken (hishiryo) vorbeiziehen lässt.) 22 […] And[ers] gesagt, nur weil wir es nicht vermögen, nachhaltig im Nichtdenken zu verweilen, erscheint uns unser Leben im Hier und Jetzt opak, intransparent, irrational, kontingent, zufällig, geworfen, endlich oder was der Einschränkungen mehr sind. Wer heißt uns denn aus dem Nichtdenken herauszugehen und uns für eine binäre Logik als Maß der Realität und des Denkens zu entscheiden, und das Denken daran zu binden? […] formal ist es zunächst mal eine Tat, und hat also nur die Realität einer Tat, gilt bloß faktisch. Wir binden uns selbst an diese Voraussetzung und Perspektive, und sind eben auch nur insofern gebunden, als wir uns selbst gebunden haben! […] Trübung kommt nur durch faktischen mit der Form des Denkens identifizierten Freiheitsvollzug. Das Leben ist aus dem Nichtdenken heraus das homogene Kontinuum der Synthese von synthesis integrata und synthesis disparata, es ist in sich selbst so klar, wie der Bergsee in der Stille der Morgendämmerung, man sieht bis zum Grunde. Was ist sie? Siehe hin! Aber siehe hin, interesselos, so still und unbewegt, wie die Synthese in sich selbst ist. Wie erlangt man das? Zen-Meister Joshu sagte: »Die Erweckung verwirklichen, das ist doch ganz einfach. Einfach weiter Zazen praktizieren, zwanzig, höchstens dreißig Jahre, dann versteht es jeder!« 23 Diese absolute Einheit rationaler Inkommensurabiltät und genetischer Gründung, wie spricht man sie an, wo sie doch unaussprechlich ist? – im Leben weiß ich es, sehe ich es, und ich sehen auch: wem ich es sagen kann, wer Augen hat zu hören, und wem nicht, also Ishin Beide Stellen in: Fichte 1813: Diarium I : 42r. Vgl. meine Ausführungen zum Thema ›Absoluter Verstand‹ in: Gregor, Kai: Freiheit – Reflexion – Erfüllung. Der Begriff der Glückswürdigkeit bei Kant und Fichte und seine Folgen für unser Bild vom Menschen. Bamberg 2017, S. 321–350. 23 Vermutlich, Zhaozhou Congshen (chinesisch 趙州從諗, Pinyin Zhàozhōu Cōngshěn, W.-G. Chao-chou Ts’ung-shen; jap. 趙州従諗 Jōshū Jūshin; * 778; † 897) war ein Meister des Meditationsbuddhismus (Chan) im Kaiserreich China. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zhaozhou_Congshen. 22
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Denshin, von Geist zu Geist, von meiner Seele, zu deiner Seele, wir alle in dem einen SEHEN. Jedenfalls nicht durch Überreden, überzeugen, disputieren, diskutieren […] der gemeinsame nicht-intentionale Sinn wird vorausgesetzt, der heilige Geist an Pfingsten ist Hier und Jetzt […] diese Einsinnigkeit ist ja schon in normalen Alltagsgesprächen im Schwange, und wer hat jemals jemanden, der eine Erfahrung, einen Sinn nicht hatte, eine Qualität nicht kannte, darüber erreichen können? Platon hat insofern Recht, es geht nur durch Wiedererinnern dessen, was man eh schon sieht, und was im Wahrnehmungsspektrum des eigenen Freiheitsgrades liegt […] hieraus ja auch die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Exoterik und Esoterik, was der Aufklärung nie geschmeckt hat, aber natürlich faktisch auch für sie gilt: wer hat Zugang zu Wissen, wer nicht? Deutungshoheiten, eine reine Machtfrage. Wie hält man sich deren, also des Lichts der höchsten Synthese, unausdrückliche Ambivalenz ihrer zwar reflexiblen, aber unfasslichen Wesensnatur in Erinnerung, ohne immer wieder einem Re-entry in eine rationale Voraussetzung zu verfallen und dadurch sogar im transzendentalen Reflektieren im Hier und Jetzt den self-fullfilling prophecies auf den Leim zu gehen? Ich schlage vor, diese Einheit von inkommensurabler Rationalität und rational transparenter Irrationalität, die sich zum wirklichen Selbstbewusstsein fundierend verhält, das Feld des Paradoxalen zu nennen, und auch so zu behandeln. Man muss sich klar machen, dass, gemessen am identitätslogischen Verstandesparadigma paradoxal erscheinende Wirklichkeiten wie beispielsweise ›Tathandlung‹, ›das Daseien des Absoluten‹, (bei Fichte), ›Können-Sein‹ (possest) und ›Können-selbst‹, ›wissendes Nichtwissen‹ (docta ignorantia) (bei Cusanus), ›absolute Indifferenz des Subjektiven und Objektiven‹ (Schelling), ›Denken ohne zu denken‹ (hishiryo), ›absichtsloses Handeln‹ (mushotoku bzw. wuwei), aber auch ›Letzt-Begründung‹ (vgl. Münchhausen-Trilemma), ›Hologramm‹ (bei Koestler, Wilber, Primbram), ›zeitliche Ewigkeit‹ (nuncstans), ›Synthesis von synthesis integrata und synthesis disparata‹, die ›Einheit von Freiheit und Notwendigkeit‹ etc. pp. letztlich nur in einem solchen identitätslogisch nicht mehr erfassbaren und doch reflexiblen Feld beheimatet sein und daraus erklärt werden können. Warum Feld? Weil es eine lebendige Synthesis, und als solche ein Potential von Kraft und Zusammenhalten ist, ein Band von Kraft und Sehen, das Band, das Auge, nur eben nicht-faktisch, sondern reines in sich ruhendes wie in sich 296 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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bestimmtes Möglichkeitsfeld, und als solches das umgreifende, hyperkonkret omnipräsente, eben unerschöpfliche Ruhen, daher Stille, SEIN, Leere, Licht. Die Schwierigkeiten der Beschreibung des integralen Sehens aus dem transintentionalen Grund des Bewusstseins im Selbstbewusstsein sollen durch diesen Begriff des paradoxalen Feldes gewissermaßen beim Schopfe gepackt bzw. vereinfachend markiert werden. Ein schwaches Hilfmittel. Er markiere und halte in Erinnerung die struktelle unumgängliche Schwierigkeit, dass uns in der Rede (nicht im erwachten reinen SEHEN) über das absolute Integral des Bewusstseins nur intentionale bzw. binäre Begrifflichkeiten zur Verfügung stehen, diese aber – wo sie wissenschaftlich und exakt vorgehen – gerade den Sachverhalt immer nur einseitig, punktuell und verzerrt erfassen, denn sie müssen von der Voraussetzung eines toten, anonymen Seins, des Ding an sich ausgehen (performativer Realismus). Selbst wenn hier ein eher analoges, metaphorisches oder symbolisches Denken versucht wird, beziehen sie sich immer auf dieselbe anonyme Projektionsfolie der Ding-an-sich-Funktion, eben auch dann, wenn sie sie leugnen: So gehen wir der natürlichen spontanen Tendenz des Selbstbewusstseins immer wieder auf den Leim, dass wir im Reden über das Schweben des absoluten Integrals unbemerkt in irgendeine binäre Polarität des Verstandes rutschen. Das ›Feld des Paradoxalen‹ soll aber eben das transintentionale Schweben des Begreifen des Unbegreiflichen ansprechen, und als einen »anderen mittleren« Zustand im Nullpunkt des Erscheines des Absoluten fest- und erinnerbar halten, obgleich das dem Selbstbewusstsein unmöglich ist, da es nicht reflektiert, sondern nur absichtslos geschaut und interesselos erlebt werden kann. Wovon reden wir: Ein konkretes Beispiel, die subtile Beschreibung Robert Musils eines solchen anderen Zustands, ein paradoxes Feld heilig-nüchterner Ekstase […]: »Es war ein süß ohnmächtiges Brennen. Ich brannte in der Welt wie ein Scheit Holz in der Flamme, und die Welt brannte von mir. Wie es mit den Büchern war, geschah es mit allen Dingen. Der Baum, den ich sah, nahm nicht an sich, was er brauchte, um Baum zu sein, sondern er schenkte sich und nahm dafür mein Sehen von mir. Alles war wie eine unsagbar bewegliche geistige Flüssigkeit, in der sich nicht der feste Bodensatz von den zarten Wellen getrennt hat. Eine starke Bewegung breitete sich in immer neuen Kreisen aus, aber hatte kein Ziel. Alles war Erregung, aber nichts war fest. Nichts blieb wahr, 297 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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alles war nur wahrscheinlich. Alles Wissen, das man erworben hatte, verlischt wie tot, man meidet, wie mit einem höheren Sinn begabt, die gewöhnliche Genauigkeit. Und trotzdem: was dich jetzt entzückt und voll Wille und unausdrückbarer Bedeutung ist, schweigt in der nächsten Stunde und zeigt dir bloß sein nichtssagendes Alltagsgesicht.« 24 Wir sehen beides, wir sehen, dass es nur so geht; wir sehen aber auch, dass das Eigentliche immer ungesagt bleibt und bleiben muss, weil es nur erfahren oder geschaut, nicht aber ausgesprochen werden kann. Das ist ein Scheitern, von denen es viele viele Beispiel gibt. Arthur Koestler thematisiert eines davon in seinem Buch Die Wurzeln des Zufalls anhand des von C. G. Jung vorgeschlagenen Begriffs der Synchronizität, wobei vielleicht die eigentliche Frage ist, wer von den beiden hier fundamentaler scheitert bzw. woran genau: Zunächst aber Koestler: »Sozusagen im selben Atemzug schrieb er [Jung]: ›Wir müssen auf die Vorstellung einer mit einem lebenden Gehirn verbundenen Psyche völlig verzichten und uns vielmehr des ›sinngemäßen‹ bzw. ›intelligenten‹ Verhaltens der niederen Lebewesen, die kein Gehirn besitzen erinnern. Wir befinden uns dort schon in viel größerer Nähe des formalen Faktors, der wie gesagt, mit einer Gehirntätigkeit nichts zu tun hat.‹ Der Begriff ›formaler Faktor‹ bezeichnet ein vermutlich archetypisches Bewusstsein in der Amöbe; aber das kann wohl schwerlich die Ablehnung einer [kausalen] Beziehung zwischen Bewusstsein und Gehirn beim Menschen rechtfertigen. Es ist erschütternd, wie ein großer Gelehrter den kausalen Ketten einer materialistischen Naturwissenschaft zu entrinnen versucht und sich dabei selbst in seinen eigenen wortreichen Formulierungen verstrickt. Kammerer und Jung liefen blindlings, jeder auf seine Art, in dieselbe Falle: der große englische Mathematiker und Philosoph Whitehead nannte sie die Falle der ›unangebrachten Konkretisierung‹. Wie jene Theologen, die von der Voraussetzung ausgehen, daß Gott jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens existiert, und dann versuchten, Gott zu beschreiben, so postulierten sie ein akausales Prinzip und erklärten es daraufhin mit pseudokausalen Begriffen.« 25 – Genau genommen stecken aber sowohl Jung als auch Koestler in der Objektivation des Selbstbewusstseins fest. Dieses Problem ist ein ebenso 24 25
Unbekannt, woher das ist. Offenbar: Koestler, Arthur: Die Wurzeln es Zufalls, Frankfurt a. M. 1980, S. 100.
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unausweichlicher Zirkel des Selbstbewusstseins, aus dem dieses ohne Sprung per se nicht herauskommt. Das heißt, wenn nicht reflektiert (= sondern wenn z. B. meditiert) wird, können wir das Absolute im Bewusstsein, und das wesentlich paradoxale Inkommensurabilitätsverhältnis seines Erscheinens (E↓) und seiner Sicherscheiung (E�), an welchem allgemeinen oder konkreten Phänomen wir es auch vorfinden, zwar erleben bzw. ersehen, jedoch, wenn wir darüber nachdenken (= reflektieren), reproduzieren wir notorisch stets dieselben pseudokausalen Begriffe. Ein Fehler, der offenbar am Grunde der Aufklärung liegt, in ihrer selbstverständlichen Verabsolutierung bewussten Wissens. Einzig die transzendentale Reflexion in Form der Wissenschaftslehre kann diesen notwendigen Fehler des Selbstbewusstseins mittels einer abstrakten Unterschung des Begreifens des Unbegreiflichen entschärfen bzw. aufschieben (wir wissen noch nicht, wieweit das geht?), aber auch ihr bleibt im Konkreten nichts, als an das Erscheinen Gottes zu verweisen. […] Was bedeutet das? Es bedeutet, dass dieses Ich nur dann aus der selfdefeating prophecy seines kontingenten Lebens heraus kommt, wenn es begönne, sich nicht-denkend zu betätigen, zu handeln ohne zu handeln, zu denken ohne zu denken (hishiryo). […] wie? denn nicht-denken und handeln wollen ist eben auch nicht absichtslos […] Dann aber ist das Ende des Schreibens und Redens erreicht. Und wenn doch darüber geredet werden soll? Das bedeutet, dass wir auf jeden Fall Metaphern brauchen, und zwar ›absolute Metaphern‹, aber nicht im Sinne Blumenbergs, oder ›Symbole‹ im Sinne Kant. Derlei wäre sogar das zentrale Erkenntnismittel im Umgang mit dem Unbegreiflichen […] aber können und müssen wir Metaphern allein theoretisch verstehen, oder gibt es auch eine praktische Metaphorologie? Jedenfalls, es zeigt sich hier, dass sich das gesamte Referenzsystem von Metapher wie Symbol verändern muss, von uns anders angesetzt, ja umkehrt gedacht werden muss, wenn man es mit dem Feld des Paradoxalen konfrontiert. Nehmen wir Kants Ansatz: Da zeigt sich, dass Symbole einen nicht-exakten Bereich im Land der Erkenntnis umschreiben können, also gewissermaßen, statt einer pedantischen Genauigkeit, die durch Urteil, Definition, Postulat und Schluss fungiert, einer phantastischen Genauigkeit angehören, sodass wir auch völlig unanschauliche übersinnliche Themen (Ideen etc.pp) denken können. Aber eine Metaphorologie eines authentischen Feldes 299 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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des Paradoxalen erforderte doch weit mehr. Nämlich, es müsste einerseits seine absolut konstitutive und schöpferische Dimension in übertragener Redeweise erfassen, und andererseits seine prinzipiell begreifliche bzw. transparente Unbegreiflichkeit. Es muss zwar auch hier, wie bei Kants Symbolbegriff, eine kognitive Analogie für etwas Nicht-Sinnliches gefunden werden, aber es kann hier nicht nur (weil eben nicht nur die Anschauung, sondern auch der Verstand scheitert) eine einfache Regel der Reflexion über einen verstandenen Gegenstand der Anschauung auf den Bereich übertragen werden, dem keine Anschauung direkt korrepondiert (so wie Kant am Symbol der ›Handmühle‹ für eine ›despotische Regierung‹ verdeutlicht), sondern es muss eine doppelt in sich verschränkte Regel der Reflexion übertragen werden (eben die Einheit der Einheit in ihrer qualitativen Unbegreiflichkeit), und zwar indem zwei in einem Schlage sich gegenseitig aufhebende, das Verstandesdenken des cogito vernichtende Reflexionen sich zugunsten eines höheren transintentionalen Sehens auflösen. Übertragen werden muss hier also nicht nur, die (identitätslogische) Ähnlichkeit der Regel über Despotie und Handmühle und ihre Kausalität zu reflektieren, sondern eben auch und ineins die innere Widersprüchichkeit, eines begreiflichen, aber nun eben nicht mehr identitätslogisch begreiflichen Scheiterns dieser doppelten Beziehung. Und erst hier sind wir im reinen SEHEN des paradoxalen Feldes angekommen, zumindest punktuell, d. h. aber eben metaphorisch. Fichte sagts wieder mal lapidar: Der Begriff muss gesetzt werden, um ihn in seiner Ansich-Gültigkeit am Lichte zu vernichten. Und nennt das ein Schweben oder Übergehen der Evidenz innerhalb einer Drei- oder Fünffachheit. 26 Klassisches Beispiel, der Koan: »Das Klatschen der einen Hand.« – für Erleuchtung. 1. Regel: in der Regel, über das »Klatschen der einen Hand« und »Erleuchtung« und ihre Kausalität zu reflektieren sind beide ähnlich, aber 2. konterkarierende Regel, das »Klatschen der einen Hand« ist eben unmöglich, insofern: es kann keine Kausalität haben! was zunächst die 1. Analogie im Grunde vernichtet, aber, indem sie als 2. Analogie in der Tat gesetzt (und intuitiv gesehen) wird, wird die erste Analogie paradoxalerweise durch die zweite auf eine höhere Ebene gehoben, und hierdurch begriffen, dass Erleuchtung, dass ein Feld des Paradoxalen etc. ppp. eben nicht und nie (identitätslogisch, differenziell, binäre etc. pp.) begriffen werden kann, aber 26
Vgl. Fichte Wissenschaftslehre 1804 X : 113 ff.
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trotzdem rein gesehen! Erst dadruch drückt sich eben die absolute Transparenz der Unbegreiflichkeit des absoluten Verstandes aus. Anderes Beispiel: »Eine Kerze anzünden in der Mittagssonne.« – die fällt gar nicht auf! Und so sei auch die Erweckung.« Man versteht, dass man nichts versteht, und versteht auch, dass man nichts verstehen soll, ja, dass es hier nichts zu verstehen gibt – wohl aber zu SEHEN. Und zwar durch die Übertragung eines empirischen Begriffs auf einen übersinnlichen, und dann deren reziproke Vernichtung des Begreiflichen am invarianten Sehen trotz innerer Widerspruchlichkeit des Begriffs. Die Reflexion hüpft (schwebt) förmlich von einem irritierenen Bezugspunkt zum nächsten (darum Feld ..), und kollabiert am Ende, das aber ist gerade der paradoxale Gehalt absichtslosen Handelns und interesselosen abgeschiedenen SEHENS, um den es geht, die geistige Realität sub specie absoluti. An solchen ›Koan‹ arbeiten sich traditionell die Zenschüler im Rinzai-Zen ab. Aber es gilt wie gesagt implizit (vermittelt über die empirische Provenienz jeder Sprache) letztlich auch für abstrakte abgeleitete philosophische Termini wie ›Letztbegründung‹, ›Tathandlung‹, ›Gott‹, ›Lichte‹, ›Feld des Paradoxalen‹, ›das Daseien bzw. Begriff des Absoluten‹, ›Gefühl‹, ›Können-Sein‹ (possest), ›wissendes Nichtwissen‹, ›absolute Indifferenz des Subjektiven und Objektiven‹, ›quaestio iuris sub specie absoluti‹, ›Denken ohne zu denken‹ (hishiryo), ›Ding an sich‹, ›absichtsloses Handeln‹ (mushotoku bzw. wuwei), ›zeitliche Ewigkeit‹ (nuncstans), ›Synthesis von synthesis integrata und synthesis disparata‹, die ›Einheit von Freiheit und Notwendigkeit‹, letztlich auch für ›Negativität‹ etc. pp. (die philosophische Frage ist allerdings, wird diese Metaphorologie erklärt oder nur gebraucht […]?) Man könnte von einfachen Metaphern bei Kant und verschränkten bzw. komplexen Metaphern sprechen, aber sinnvoller ist vielleicht materiale Metaphern oder Verstandesmetaphern einerseits, und formale bzw. transzendentale, also Vernunftmetaphern (= Ideen) andererseits zu unterscheiden. Man muss auch Blumenberg dahingehend korrigieren, dass dieser materiale Verstandesmetaphern als absolute Metaphern bezeichnet, denn absolut-absolut sind nur gegenstandslose Vernunftmetaphern; nimmt man wie er die ersteren als die einzigen, so setzt man implizit den performativen Realismus des Cogito als vollständigen Raum der Gründe und geht damit der self-fullfilling prophecy des Selbstbewusstseins (Ding-an-sich-Funktion) auf den Leim. 301 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Es kommt also noch etwas hinzu: Denn in formalen Metaphern bzw. absolut-absoluten Symbolen überträgt man nicht nur eine einfache Regel der Reflexion, so dass man reflexiv indirekt analogisch etwas an einer übersinnlichen Vernunftidee versteht; sondern man überträgt zudem mehrere miteinander verschränkte formale Metaregeln, sodass man (unmittelbar) zugleich versteht, dass man nichts versteht, und es eben auch nichts zu verstehen gibt (ohne sekundär zu reflektieren, dass man nichts versteht, und dadurch die reflexive Form zu reproduzieren). Indem man aber versteht, dass es nichts zu verstehen gibt, sieht man die Welt wie sie sub specie absoluti wirklich ist, in ihrer unscharfen, unerschöpflichen Eigentlichkeit und Tiefe – wenigstens punktuell, in einem Gedicht. Wobei jeder gesehene Punkt das ganze Universum enthält, nur in einem eigentümlichen Akzent. Absolute Vernunftmetaphern, gerade weil sie gegenstandslos sind, öffnen – punktuell das Auge, den Blick – für die symbolische Wirklichkeit sub specie absoluti, das reelle Symbol des geistigen Reiches (synthesis disparata), die eigentliche Wirklichkeit! Nur so, können wir über die wahre Welt reden; derlei absolute Metaphern bilden die höchste Funktion der Sprache. Damit überschreitet man natürlich den faktischen epistemologischen Referenzrahmen, den Kant dem Denken gezogen hat; nämlich dass die synthesis integrata, als konstitutive Erkenntnisfunktion des Selbstbewusstseins, die einzige Form ist, in der wir (objektive) Realität (man könnte auch sagen, binäre oder digitale) erfahren können. Nach Kant kann aber allein durch die schematisierende Verbindung der Formen der Anschauung unter den Kategorien eine objektiven Erfahrungsrealität aufgebaut werden; Symbole liefern bei Kant eben nur eine indirekte reflexive Beziehbarkeit von Sinnlichkeit auf unsinnliche Vernunftbegriffe (Ideen: Gott, Welt, Freiheit). Das ist übrigens nun auch der einzige Grund, warum sie bei Kant keine konstitiven Erkentnisprinizpien, sondern nur regulative darstellen. Was Kant bekanntlich nicht sub specie absoluti abgleitete, sondern schlicht, wie Fichte zu Recht findet, aus seiner Selbstbeobachtung – also per selffullfilling prophecy – sub specie facti aufgelesen hat und dann hypostasierend bzw. verallgemeinernd einfach setzt (man denke nur an seinen irritanten Umgang mit dem Ding an sich, der teils das Subjekt affizieren soll, teils das natürlich prinzipiell nicht kann) .. im Feld des Paradoxalen .. können wir jetzt verstehen, warum es der Reflexion notwendig so erscheint, ohne das hier für die Transzendentalphilosophie ein Problem läge. 302 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Der Punkt ist also, wenn gilt, dass das Licht, Realgrund der Sicherscheinung des Selbstbewusstseins ist, also die synthesis disparata Grund der synthesis integrata ist, wie ich voraussetze (und es im Grunde auch nicht anders sein kann!), dann dreht sich das ganze Konstitutionsverhältnis in absoluten Symbolen bzw. bei transzendentale Metaphern noch einmal fundamental herum. Dann muss hier ein nicht-sinnlich anschaubarer und zudem für den endlichen Verstand inkommensurabler absoluter Verstand bzw. sein idealer Gehalt ein konstitutives, aber nicht identitätslogisches Erkenntnisprinzip darstellen. Im Leben wird das im Standpunkt der Religion realisiert (so nannte es Fichte): Unter den Bedingungen der Einheit der Einheit und der Mannigfaltigkeit (also bei völliger Synthese von synthesis disparata und integrata), fungiert hier ein unmittelbar sichtbarer idealer Gehalt (das Licht, die synthesis disparata des Geisterreichs) sowohl als erkenntniskonstitutiv struktuiertes als auch hyperdichtes anschauunggesättigtes Prinzip a priori der reflexiven Form der Sichtbarkeit der bloßen synthesis integrata; allerdings hier nicht als reflexive differenzielle Nachkonstruktion (bei performativem Realismus des cogito), sondern als an sich unscharfe Konstruktion des intuitiven, absoluten Verstandes, oder des reinen Sehens. Wie soll die absolute unerschöpfliche Vorkonstruktion des Lebens sub specie absoluti auch sonst sein? Mit Wegfall der an sich Gültigkeit des cogito, sieht das Individuum die Welt und ihre Dinge und Wesen pur und unmittelbar, d. h. die Faktizität vor ihrem Endzwecke (die identitätslogische Form der synthesis integrata ist nur Aufkörper, Kristallisationspunkt, Inversionspunkt). Unschärfe ist auch hier als präzise Kategorie einer hyperkonkreten transdifferenziellen Exaktheit des absoluten Können-Seins zu verstehen (eben der integralen Einheit hinter der differenzellen). Hierdurch wird klar, dass ursprünglich (im Leben sub specie absoluti jenseits der synthesis integrata) das Gefühl, sowohl das reine, als auch in Form intellektueller oder empirischer Anschauungen, also überhaupt alle Sinnlichkeit, Affekt des Absoluten, von absolut übersinnlicher Provenienz und Transparenz sind, mithin der unmittelbare Ausdruck, das Urbild des Absoluten selbst, und als solches das absolut-absolute, gleichwohl rational inkommensurable Feld des Paradoxalen des Können-Seins in transparenter Opazität darstellen. Was schon mal viel gesagt heißt. (Man muss sich mit seinem Standpunkt nur fest in das reine Licht sub specie absoluti stellen, das
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braucht vielleicht ein paar Jahre Übung, aber es ist dann umittelbar ersichtlich.) Und dass dem affektiven Feld des Paradoxalen – im Leben – die eigentlich primordiale, ja absolut-absolute Realität zukommt, gegenüber der reduktiven Perspektive einer eingeschränkten, nur auf Basis der Form der synthesis integrata stattfindenden Konstitution objektiver Erfahrungsrealität, ja sogar der relativ-absoluten Realität des den logischen Raum der Gründe der reflexiven Rationalität aufspannenden und faktisch zusammenhaltende cogito, ist auch klarer geworden. Weiter, wenn das aber stimmt, dann, muss man auch sagen, dass die empirische Wirklichkeit in der lebendigen Anschauung (und nur in so weit) eines interesselos anschauenden religiösen Individuums ihrem Wesen nach bis in den Grund und vollumfänglich das lebendige, wenn auch unscharfe Realsymbol des lebendigen göttlichen Erscheinens ist, in welchem der reflexiv inkommensurable, unbegreiflich intuitiv-anschauliche Gehalt der synthesis disparata (der Idee /des Lichtes / des könnend-seienden Geisterreichs: E↓|| E� [S�O]) authentisch in der Form der synthesis integrata zur Erscheinung bzw. zum Ausdruck kommt. Genau dann, wenn und indem eben – wie hier Voraussetzung ist – die objektive Scheinwelt der synthesis integrata sich in toto (bis in ihrem Kern, dem cogito) als solche objektive Scheinwelt auflöst, mithin die anonyme Ding-an-sich-Funktion des performativen Realismus des ›ich denke es‹ zugunsten des absolutidealen Gehalts des Lichts im Licht relativiert, der performative Schein ihrer Absolutheit als solcher ersichtlich ist. Realsymbol ist – dem empirischen Blicke unsichtbar, unmessbar – die eigentliche vollständige und höchst reale Lebens-Form des Menschen, die physische Empirie ist nur der tote Aufkörper und Inversionspunkt, der Brechungspunkt des Spiegels, an dem sich realsymbolisch das Geisterreich zeigen kann – leere Bedingung der Sichtbarkeit. Bemerke hier nun, die in allen indigenen Kulturkreisen und allen Völkern vorhandenen sogenannten esoterischen oder primitiven, wissenschaftlich selbstverständlich irrelevanten, weil natürlich empirisch nie nachweisbaren, wohl aber einer erweiterten Wahrnehmung wahrnehmlichen praktikablen bzw. funktionalen oralen und sakralen Wissensbestände: da sind die alt-europäischen Märchen, Göttersagen, Legenden, Mythen; die anthroposophischen Kategorien des Ätherskörper, Astralkörpers, Geistselbsts, etc. pp.; in der traditionellen chinesischen und tibetischen Heilkunst Akupunkturpunkte, 304 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Energiemeridiane, Lebensenergie ›Chi‹ ; heute auch: Homöopathie, Bachblüten; in der indischen Kultur des Tantrismus, Hinduismus und Buddismus die Götter, Devas, die Mandalas, die spirituallen Körper- und Heillehren wie bspw. die sogenannten Chaktren, Nadis, Meridiane, Reflexzonen, reiterativen Beziehungen, Energiefelder wie Prana-Vayu, Apana-Vayu, etc.; hier auch die europäische, indische, chinesische Astrologie, Tarot, I-Ging etc., um nur wenige Beispiele zu nennen. Hier durch bekommen auch symbolische Handlungen im Politischen (wenn die Voraussetzung erfüllt ist), im Guten wie im Bösen, eine neue tiefere Bedeutung; Willi Brandts Kniefall in Wahrschau, der Wagen von Compiègne, Kutusows »Sieg« gegen Napoleon bei Borodino, etc. pp. Letztlich ist auch sogenannte »Realpolitik«, im tieferen Sinne, ein derartiges unbewusstes symbolisches Feld. Das alles sind real-symbolische Handlungen und Perspektiven, die mit Kräften und Funktionszusammenhängen operieren, die sich nicht nur auf Basis des erweiterten absichtslos-interesselosen reinen SEHENS im interpersonalen Feld wirklich wahrnehmen bzw. beobachten lassen, sondern sub specie absoluti eben auch real sind, weil im reinen Sehen jedes Individuum in der Tat mit allem und allen unmittelbar verbunden ist. Die Sprache ist, als modus differenzialis, das Medium, um zwischen inkommensurablen Welten und Wirklichkeiten zu vermitteln, und durch sie, vermag sich der Mensch frei zwischen indigenem Mythos und logischem Rationalismus, zwischen Poesie und Wissenschaft, zwischen exakter und fantastischer Genauigkeit zu bewegen, sich zu orientieren, sie ineinander zu übersetzen; Zugang jedoch zu diesen qualitativ sich ausschließenden Wirklichkeiten erhält das Individuum eben nicht durch Sprache, sondern nur durch »Wahrnehmung« (Gefühl, Sinn), und insbesondere durch die Praxis erweiterter gegenstandsloser Wahrnehmung, d. h. in Meditation, Kontemplation, geistige Übung. (diese ernsthafte oder reine Meditation muss man freilich von allen instrumentellen Formen zugunsten der Gesundheit, Stressreduktion, Leistungsteigerung unterscheiden.) Dabei liegt im vorausgesetzten Zustand wissenden Nichtwissens, absichtslosen Handelns, interesselosen SEHENS seines individuellen Sichsehens eine konstitutive Bedingung: nur, wenn der performative Realismus des cogito E↓╫ E� [S�O] nicht mehr – hiatum per irrationalem – zwischen die geistige Welt und die sinnliche Welt jenen Spalt hintreibt, der durch seine opake faktisch-absolute in sich geschlossene Sichtbarkeit die transparente Opazität des reinen Se305 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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hens des absolut-absoluten Realsymbols rational überlagert, reduziert und abtrennt, kann sich die integrale Gesamtwirklichkeit, gewissermaßen transkulturell, reintegrieren. Passiert Letzteres, entsteht genau das abgerissene Bildverhältnis, das bspw. Kant in seiner Falschheit exemplarisch von einem bestimmten klaren Punkt aus richtig beschrieben hat (nach Fichte der Lebenstandpunkt der Legalität). Danach muss die synthesis integrata als konstitive, die symbolische Erkenntnis dagegen höchstens als analogisch-regulative Funktion verstanden werden. Der Symbolbegriff bei Kant ist nicht falsch, wohl aber einseitig, gewissermaße mechanistisch oder rationalistisch: Er verabsolutiert das intellektualistische Prinzip des differenziellen Verstandes, und blendet die reichere integrale »Wahrnehmung« aus; und kann sich darob auch nicht korrigieren, weil unter seinen Voraussetzungen die rationalen bzw. transzendentalen Legitimationsforderungen nur sub specie facti, nicht sub specie absoluti vollzogen werden können, d. h. sie drehten sich, nur differenziell, im sich selbsterfüllenden Kreis des performativen Realismus. (Wir machen hier übrigens fortwährend dasselbe: komplexe transzendentale Metaphern (es geht reflexiv ja auch nicht anders), wer den Sinn hat, muss immerhin auch noch die Sprache zusammensetzen, ein solcher wird es schon komplex und verwickelt finden; was soll der tun, der glaubt, den Sinn nicht zu haben?; ich fürchte, wenn jemand ohne Erfahrung im reinen Sehen, das alles im SEHEN / SINN halten und integrieren soll, dann geht ihm irgendwo die Luft aus und, was soll er machen, er kann ja die Worte nur re-entryfizieren, automatisch unter sein cogito […] So scheint eine Veröffentlichung dieser Ideen (zumindest in dieser Form) völlig sinnlos, […], hieran ist nicht erst die Wissenschaftslehre gescheitert. (wichtiges Argument, warum bspw. die Didaktik des Zen überlegen ist.)) Dazu müssen wir noch folgendes sagen: Der Realismus des Symbols konstituiert die eigentliche absolute Wirklichkeit zeitlicher Ewigkeit im Hier und Jetzt; es gibt im Grunde (d. h. sub specie absoluti) keine andere Realität, oder anders gesagt, die absolut-absolute Wirklichkeit ist durch und durch symbolisch! Nach Lage der Dinge würde das aber bedeuten, dass wir in Wirklichkeit nur durch symbolisches Handeln (unmittelbar auf das Ganze) zu wirken in der Lage sind, sehend eben oder wie meistens blind (im scheinbaren Glauben, man täte etwas wirklich, hätte unmittelbar Kausalität, dabei geht man nur einer stockblinden Identifikation auf den Leim (hier auch der 306 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Grund, warum viele sich für ihr Gehirn halten, und warum dieser Sicht durch theoretische Argumente nicht beizukommen ist. Der performative Realismus ist eben Tat, Akt oder praktisch!)). Jeder auf seine Weise, von seiner Perspektive, nach seinem Grade von Sehen, Freiheit und Abgeschiedenheit. Freies Handeln wäre somit grundsätuzlich absichtslos-medial (Handeln durch Nicht-Handeln, nicht aber nicht Handeln!) möglich, es kann ja nur symbolisch vonstatten gehen, (wenn, und nur unter dieser Bedingung, die Desidentifikation vom Cogito und also das reine Sehen realisiert wurde). Mithin ist seine Grund-Form notwendig formal-ästhetisch, formales interesseloses Gefallen; der Glanz, ist das symbolische Erkennungsmerkmal (vgl. in mittelalterlichen Allegorien, den ›Heiligenschein‹). Absichtsloses Handeln ist desto wirksamer, je subtiler Akzente gesetzt werden; es ist insofern gewissermaßen formal homöopathisch, je verdünnter, desto potenter; je subtiler, je weniger raum-zeitlich bestimmt, desto umfassender (bei Wanshi: ›bloß nicht die Welt der Dinge berühren‹, ›bloß nie Objekten begegnen!‹), selbst das Denken gehört, aus der Abgeschiedenheit heraus, zur symbolischen Ganzheitsgestalt des sich im Hier und Jetzt zeitigenden Realsymbols Gottes, somit wird – im reinen Sehen – auch das empirische Denken zur sozialen Skulptur, zum subtilen Instrument des Handelns in der symbolischen Letzt-Realität werden. Achte also gut darauf, was Du Dir wünschst, es könnte in Erfüllung gehen! Gleichwohl, man muss es wieder und wieder sagen, nur in einem Zustand, wo das ›ich denke‹ desidentifiziert mit sich, und seiner Reflexion, schweigt, und sich dem Sichmachen des Lichts hingibt. Oder noch weiter gehend gesagt, nur in diesem Zustand, wenn das Ich schweigt, vermögen wir – als Individuen – sehend zu handeln, d. h. besonnen absichtslos zu handeln, selbstbewusst symbolisch zu handeln, nur auf diese Weise mit dem Ganzen der (geistigen) Welt in Korrespondenz bzw. Resonanz zu treten (was auch als transzendentale Metapher zu verstehen ist, die das cogito niederschlägt), sodass wir aufgrund des hyperdichten absolut-absoluten Kontinuums der geistigen Wirklichkeit sicher sein können, dass die konkrete Resonanz auf ein konkretes absichtsloses symbolisches Handelns nicht ausbleiben kann und nicht ausbleiben wird. (wenn wir uns nicht anstrengen, ja, gerade, wenn wir uns nicht anstrengen!) Hier ist Jacobis Wirklichkeit, der die Möglichkeit die Schleppe trägt! 27 Möglichkeit? Eine kritische 27
Vmtl. »Zu einem transcendentalen Begriff des Erhabenen weiß ich keinen Weg;
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Kai Gregor
Theorie symbolischen Handelns (aus Perspektive des cogito, wenn dieses nicht durch seine Kategorien stockblind dafür wäre, muss das geradezu wie magisches Handeln wirken, dabei ist es nur höhere Freiheit), also eine Lehre besonnenen absichtslosen absolut freien Handelns, das aber im interesseloses SEHEN und Wahrnehmen gründet. Welch Fund. So ergibt sich also auch eine funktionale Differenz zwischen absolutem Realsymbol und absoluter Metapher: Realsymbol ist das Leben sub specie absoluti, es gestaltet sich als symbolischer ganzheitlicher Weltgeist-Innenraum, die transzendentale Reflexion (wie auch die sich erläuternde Kontemplation oder Mystik, zb kusen, teisho, mondo während zazen) verwendet absolute Metaphern, wo sie die Reichweite der identitätslogischen Reflexion des cogito zu übersteigen sucht; solche transzendentalen Metaphern sind diskursive Symboliken im reflexiven Möglichkeitsbild sub specie absoluti, setzen das reine Sehen voraus. Es muss also noch hinzu gefügt werden, dass auch eine transzendentale Reflexion (der Reflexion), die das einseitige spiegelverkehrte Bildverhältnis der einfachen Reflexion identitätslogisch zu begreifen sucht, aber stets nur spiegelverkehrt erfasst, auch als höheres identitätslogisches Begreifen des Unbegreiflichen nicht ohne absolute bzw. transzendentale Metaphern auskommen kann; sie aber nicht als solche erfassen kann, sie können nur ersehen werden, im Leben; die WL ist in toto im Grunde nichts als eine transzendentale Metapher, allerdings, wenn sie zu sich kommt, mit der durchgreifenden Apperzeption, dass es so ist – dadurch erst erhalten die Metaphern reale metaphysische Signifikanz! Denn, wie gesagt, streng genommen ist auch die transzendentale Reflexion (wie die einfache Reflexion) struktuell identitätslogisch verfasst, obgleich sie – durch ihren transzendentalen Nullpunkt des Stehens im Licht – diese identitätslogische Bornierung des einfach reflexiven kategorialen Denkens am Begriff des Absoluten bzw. durch das Sichmachen des Licht in der Form der Sichtbarkeit sub specie absoluti zu relativieren in der Lage ist. Das transzendentale Denken nimmt demnach in Form von Vernunftmetaphern (wie das einfache, durch Verstandesbegriffe nach menschlicher Vorstellungsart scheint mir der Erhabene das mehr als Mögliche zu seyn, es ist überall, wo ein Zusammenhang zwischen entgegengesetzten Eigenschaften entsteht, oder, wo ein Widerspruch aufgehoben wird – eine Definition scheitert, eine Regel zu Grunde geht; es ist ein Gespenst; es ist ein Wunder; es ist die Wirklichkeit, der die Möglichkeit die Schleppe trägt.« In: F. H. Jacobis: Auserlesener Briefwechsel: An Lavater vom 12. 12. 1781. 1. Bd. Leipzig 1825, S. 339 f.
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und -metaphern) analogisch bildhaft Bezug auf das Realsymbol des Lebens sub specie absoluti, weiß aber darum, dass sie konstitutive Begründungsverhältnisse und Prinzipien beschreiben, nicht bloß regulative, und kann daher, bis in den Grund, auch die transzendentale Form des differenziellen Begriffs vom integralen Begreifen sub specie absoluti noch subtrahieren, d. h. als nicht an sich gültig ersehen (etwas, was Hegel, bei wohl gleichen Intentionen, eben nicht mehr leistet). Daher leistet Transzendentalphilosophie durchaus mehr als Hegel, aber auch als der Platonismus. Wie oben gesagt, die transzendentale Reflexion vermag das Absolute nur indirekt mittels der Unbegreiflichkeit des Lichtes zu begreifen, begreift es und vor allem die Reflexion dadurch aber völlig, und ohne grauen Rand; dazu muss sie sich existentiell ins Licht stellen, um in demselben die differenziellen Funktionen des Verstandes im Möglichkeitsbilde völlig zu transzendieren und zu durchdringen. Mit der darüber noch hinausgehenden Perspektive eines »reflexionslosen« (d. h. ja immer, eines abgeschiedenen interesselosen, mit der Form der Reflexion desidentifizierten) Lebens, an das die Wissenschaftslehre uns nur verweisen kann, könnte sie, wie sich hier angedeutet hat, mit Hilfe absoluter Metaphern auch noch den praktischen Realismus des Symbols des religiösen Lebens anschließen, beschreiben und grundlegen. Erst hier wird Mystik transzendentaler Gedanke, indem die Lücke zwischen Reflexion und Leben nun vollständig im Licht zugrunde geht, und dem performativen Realismus des cogito die letzte Ausflucht genommen wird. […] […] durch das Einstellen von intentionaler Aktivität zeitigt sich etwas höchst Energiegeladenes, Qualitatives, aber – nur paradoxal – als absolute Einheit von Potential, Energie, völliger Ruhe, Klarheit und Kraft Erlebbares. In diesem Feld des Paradoxalen liegt das Qualitative an sich, mithin alle Qualitäten, von den sinnlichen bis zu den höchsten geistigen Qualitäten inbegriffen, wenn man sie von den binären Kategorien und Überformungen des Denkens freihält. Wiewohl auch diese paradoxale Beschreibung naturgemäß rein äußerlich und leer bleibt, wenn wir uns nicht selbst existentiell und nachhaltig sehend in das Licht absoluter Intuition in der Tat und Wahrheit stellen: Diese mediale Nicht-Tätigkeit ist die absolute Intuition. Zu ihrem Gehalt kommen wir später. […]
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Das Leben sub specie absoluti – jenseits der self-defeating prophecy des Selbstbewusstseins – im Hier und Jetzt vollzieht sich, als völlig begreiflich-unbegreifliches intuitives Integral, in welchem die apriorischen Unterschiede zu einem absolut homogenen Kontinuum (dem Feld des Paradoxalen) hyperdicht konkresziert liegen. Wir können das sehen, wenn wir die religiöse Wirklichkeit in uns realisiert haben, also unseren Sehepunkt aus dem differenziellen Sehen in ein Stehen im Sehen des sich Sehens sub specie absoluti transformiert haben bzw. genauer gesagt, wenn wir es unterlassen, uns mit der differenziellen Aktivität des Selbstbewusstseins zu identifizieren. […] […] Also, wie gesagt, unabhängig von dem Umstand, dass das Denken faktisch für Selbsterhaltung, Recht, Moral und Wissenschaft notwendig ist, ist darin doch nicht befasst, dass es absolut gültig ist, und auch nicht, dass es dazu nicht vielleicht eine tiefer erfüllende Alternative gibt: Wir brauchen zwar Unterscheidungen, um uns frei zu verhalten, aber wir können uns auch noch einmal frei dazu verhalten, dass wir sie brauchen: Und erst hier beginnen die Sphären von Philosophie und Religion. Wir können Unterscheidungen als Abbildung einer toten Realität, oder als notwendige Bedingungen der Sichtbarkeit einer unerschöpflichen und lebendigen auffassen. Die im Übrigen keineswegs zu Weltfremdheit oder Weltnegation führen müssen, indem sowohl im Sehen des Sehens das intentionale Sehen, als auch in der Freiheit der Freiheit die Willkürfreiheit sichtbarlich und voll differenziell enthalten, auch gesehen werden können, allein auf eine für das (in diesem Standpunkt zweifellos nicht mehr existierende) sich performativ absolutsetzende Selbstbewusstseins unbegreifliche qualitativ erfüllte Weise. Der Legende nach erwählte der historische Buddha den greisen Mahakasyapa zu seinem Nachfolger, indem er ihm eine weiße Blume mit folgenden Worten überreichte: ›Ich besitze das Auge des Schatzes des wahren Gesetzes und den heiteren Geist des Nirvana. Jetzt gebe ich ihn an Mahakasyapa weiter.‹ Es gibt vielleicht keine schönere, schlichtere und anmutigere Szene einer Religionsgründung ... Fichte hat diesen tiefen Zusammenhang von Freiheit, Sittlichkeit und Seligkeit wie keiner verstanden .. durch das torlose Tor gelangt man nur durch die völlige Bemeisterung des kategorischen Imperativs, der nie310 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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deren Moral .. es bleibt dabei: gleichgültig, ob Meditation oder Reflexion, wer absichtslos handeln will, muss seine Absichten, .. sein Wissen, .. sein Leben aufgeben! .. nur so kommen wir ins Sehen. *
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Nur eine freie Tat – wenn man ihr Vermögen radikal bzw. transzendental denkt – macht es möglich, dass etwas formal durchaus völlig grundlos sein kann, und trotzdem begründet (man kann hier schon erahnen, woher die strukturelle Ambivalenz des transfaktischen Feldes des Paradoxalen herrührt!). Radikal bzw. transzendental kann man das Vermögen zur Vollziehung der Freiheit denken, wenn man diesen Akt als Übergang und Anfang des differenziellen Wissens, der Intentionalitäten des Selbstbewusstseins (╫ E� [S�O]) oder kurz, der Wirklichkeit des Begriffs überhaupt denkt. […] Fichte nennt die synthesis disparata ein bzw. das Da des Seins bzw. die Urerscheinung des Absoluten oder das Licht, während das Selbstbewusstsein nichts als die Sicherscheinung der Urerscheinung des Absoluten oder das Differenzial des reinen Sehens ist. Im reinen Sehen liegt begründet nun unsere Kompetenz, über die in-sich-Geschlossenheit des intentionalen Sehens hinaussehen zu können (aber: das Können ist hier nicht konjunktivisch, sondern reell, = KönnenSein), mithin zu sehen (und in transzendentaler Reflexion der Reflexion zu begreifen), dass wir hier etwas sehen, was wir eigentlich nicht sehen können dürften. Wenn wir dies (wie Fichte in der späten Wissenschaftslehre demonstriert) sogar im Denken, also in transzendentaler Reflexion, faktisch auf Basis unseres Gestelltseins ins reine Nichtdenken bzw. reine Sehen (= Licht) punktuell selbstbewusst begreifen und bildlich systematisieren können, dann muss es doch erst recht möglich sein, sich existenziell in das reine Sehen, also die Urerscheinung des Absoluten im Leben sub specie absoluti zu stellen, wenn wir uns beispielsweise im Satori durch Zazen von sämtlicher Reflexion oder Nicht-Reflexion absehen finden / sehen bzw. alle tätige Tätigkeit des Selbstbewustseins zugunsten des absichtslosen TUNS inhibieren. Was nach der Totalinhibierung der begreifenden Reflexion geschieht, ist aber nicht der Zusammenbruch der intentionalen Form des Selbstbewusstseins schlechthin und mithin eine absolute Nacht und Bewusstlosigkeit, sondern die Vollendung der Freiheit durch absolute Freiheit von der Freiheit. Da geht das Sehen erst 311 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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los, wird unendlich, uneschöpflich: »Ausscheidung des Wesens« […] nennt es Fichte: da beginnt das absichtslose Sehen des sichsehenden Sehens. 28 Anders gesagt, im Satori kommt es und kann es nur kommen zu einem absoluten match, der integralen und der differenziellen Wissensform, von synthesis disparata und synthesis integrata zur absoluten Einheit der Einheit und der Mannigfaltigkeit. Dies geschieht, wenn das tätige Tun des Selbstbewusstseins versiegt, und mit demselben die Identifikation des Sehens mit der intentionalen Form des Selbstbewusstseins bzw. sich tätig äußernden Freiheit. Hier geht die Freiheit zur Freiheit im reinen einfachen Sehen in seiner Unerschöpflichkeit auf: mit diesem Aufgehen ereignet sich dreierlei, auf einen Schlag: a. die Auflösung der Zufälligkeit und Abgerissenheit der Welt, b. die Auflösung der Subjekt-Objekt-Abspaltung der Welt im Sinne der Ding-an-sich-Funktion, Verlust der Anonymität der Welt, = Erkenntnis des Scheins als Scheins, ohne dass zunächst dieser notwendige Schein einfach verschwände, c. die vollständige Integration der Differenzialität des explizierten Wissens, ohne reflexives Wissen und Reflektieren auszuschließen. Der Existenzmittelpunkt ruht aber nicht mehr darinnen. Damit wird die Bedeutung des Lebens und der Welt eine andere, es »gibt« kein anonymes abgetrenntes Außen mehr, ebenso wenig wie ein Innen (wenn Innen und Außen fallen, ist die Welt erfüllt, symbolische interpersonal relevante Unendlichkeiten, im Größten, wie in den konkretesten unscheinbarsten Details, eingebunden in die symbolische Ganzheitsgestalt des sinnlich endlichen Realsymbols), gleichwohl geht die Welt in ihrer Mannigfaltigkeit auch nicht verloren, sie wird aber ein übersummenhaft-organisches Ganzes, ein unerschöpflicher Glanz, in welchem das Hier und Jetzt des Selbstbewusstseins schwimmt wie weiße Schokolade in frischer Milch. (Glanz ist nichts als der inkommensurable Unendlichkeitsüberhang vor dem Maßstab der endlichen binären Rationalität, insofern glänzen beispielsweise transzendente Zahlen für den Mathematiker auf ihre Weise, ebenso wie die einfache Butterblume glänzt, wenn man meditiert hat […]) Das sehende Individuum tritt ein ins Reich des Paradoxalen zeitlicher Ewigkeit.
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Vielleicht: SW X : 474.
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Ein unbekanntes Systemfragment des klassischen deutschen Idealismus
Der Match amalgamiert die Welt mit der Überwelt (Geisterreich), bzw. die Faktizität mit ihrem tiefsten Grund und Sinn: Abgeleitet kann dies prinziell nicht werden, es kann nur darauf hingewiesen werden, was gesehen wird, wenn sich der Match ereignet. Diese Beschreibungen sind, da nach dem match von Willkür nicht mehr die Rede sein kann, zeitbedingt zeitlos, und insofern kokreativ-nachvollziehbar […] Was geteilt wird, in dem Einen – das Verfließen und Sichbilden, die Gestaltung von geistigen Atmosphären (phänomenologisch dazu Hermann Schmitz’ hilfreiche Arbeiten, die transzendentale Erklärung muss und kann vielleicht nachgeliefert werden). 29 Das Leben aus dem reinen Sehens ist die vollständige Freiheit von der Freiheit, ohne sie zu verlieren. […]
Literatur Beuys, Joseph: Eintritt in ein Lebewesen. hgg. v. R. Rappmann Achberg 1984. Cusanus, Nikolaus von: Vom Gipfel der Betrachtung. Leipzig 1947. Dürckheim, K.: Vom doppelten Ursprung des Menschen. Freiburg/ Br. 1973. Fichte, J. G.: Briefwechsel. 2 Bde., hgg. v. H. Schulz, Leipzig 21930. Ders.: Nachgelassene Werke, hgg. v. I. H. Fichte, Berlin 1834–1835. Ders.: Sämmtliche Werke, hgg. v. I. H. Fichte, Berlin 1845–1846. Gregor, Kai: Freiheit – Reflexion – Erfüllung. Der Begriff der Glückswürdigkeit bei Kant und Fichte und seine Folgen für unser Bild vom Menschen. Bamberg 2017. Ders.: System – Freiheit – Loos. Zu den letzten Reflexionen Fichtes von 1813 in Bezug auf einen alten Streitpunkt mit Schelling. Würzburg 2010, S. 189–206. Heller, Erich: Enterbter Geist. Frankfurt a. M. 1981. Koestler, Arthur: Die Wurzeln es Zufalls, Frankfurt a. M. 1980. Leighton Taigen Dan (Hg.): Das Kultivieren des Leeren Feldes. Praxisanleitungen zur Schweigenden Erleuchtung von Zen-Meister Hongzhi Zhengjue (Wanshi Shogaku, 1091–1157), Heidelberg/ Leimen 2000. Schefer, Christina: Platons unsagbare Erfahrung. Ein anderer Zugang zu Platon. Basel 2001. Schmitz, Hermann: Atmosphären. München 2014. Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 2007.
Vgl. Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 2007.; Ders.: Atmosphären. München 2014.
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Zur künftigen Aufgabe der Philosophie, dargestellt an der Biologie Albert Mues (München)
Meine Damen und Herrn! Ich hoffe, Sie wollten diese Anrede jetzt hören, und ich hoffe, dass Sie, wenn Sie mich jetzt hören, auch hören wollen. Vor drei Stunden wollte ich diesen Vortrag noch nicht halten, sondern wollte lieber noch schlafen. Vielleicht sind unter Ihnen einige hier, die diesen Vortrag nicht hören wollen, jedoch hinauszugehen verpasst haben. Aber ich hoffe, Sie in der nächsten halben Stunden doch dahin zu bringen, dass Sie auch den Rest dieses Vortrag doch noch hören wollen. Was soll eine solche Einführung, werden Sie sich vermutlich jetzt fragen. Worum geht es dem denn? Nun, das ist schnell gesagt: Ich will Sie nur darauf aufmerksam machen, dass Sie wollen, dass in diesem Ja oder Nein zum Vortrag schon Ihr Wollen anwesend ist. Jetzt reduzieren wir die Bedeutung dieses Wollens einmal auf eine ganz kleine Größe, magern es ab, meinen es im weitesten Sinne. Alles Ihr Vorstellen, alles Ihr Begehren, alles Ihr Handeln ist von Ihrem ›ich will‹ begleitet. Es gibt keine Vorstellung, kein Handeln ohne dieses begleitende ›ich will‹ (in dem auch eingeschlossen sei das ›ich will nicht‹). Eine zumindest stille Zustimmung oder Ablehnung haben Sie stets während aller Ihrer Vorstellungen, und auch da ist noch die Spur von Ihrem Wollen, an die ich erinnern will. Kants ›Ich denke muss alle Vorstellungen begleiten können‹, sonst keine Vorstellungen, kann ich hier durchaus mit gutem Gewissen so ändern: ›Ich will muss alle meine Vorstellungen begleiten können, sonst keine Vorstellungen‹. Oder anders: Das ›Cogito, ergo sum‹ ließe sich auch so formulieren: ›Volo, ergo sum‹. Damit stehen wir an dem Punkt unseres Beginnens. Das ›Ich will‹ als Bedingung für alles, was wir als Vorstellen und Handeln fassen, duldet nichts neben sich, ist immer Voraussetzung dafür, dass wir vorstellen oder handeln. Auch diejenigen unter Ihnen, die jetzt protestieren und sagen, »nein, nein, dein ›ich will‹ hat dein Gehirn produziert«, selbst die finden, dieser ihr Satz ist von ihrem 314 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Zur künftigen Aufgabe der Philosophie, dargestellt an der Biologie
›ich will‹ begleitet, und das dürfen sie an dieser Stelle nicht übersehen. In diesem Sinne und rein in diesem Sinne meine ich jetzt das ›ich will‹ als autonomes Tun, als im transzendentalphilosophischen Sinne unableitbar. Sie und ich bedürfen immer zuerst dieses ›ich will‹, sonst haben wir keine Vorstellungen. Unableitbar in diesem Zusammenhang heißt dann, ich rekurriere auf nichts, wenn ich vorstellend oder handelnd tätig von diesem ›ich will‹ begleitet bin. Ich selbst bin genau und nur dadurch, dass ich dieses ›ich will‹ generiere in dem Moment, wo ich vorstelle, in dem Moment, wo ich handle, und in dem Sinne soll hier das ›ich will‹ als autonom und unableitbar gemeint sein. (Dass ich natürlich auch bin, wenn ich schlafe, ist schon ein entliehenes ›ich bin‹ dank eines Rückschlusses aus dem aktuellen, dem wachen.) Gemeint ist also auf keinen Fall eine metaphysische Herkunft oder dergleichen. Unableitbar heißt jetzt aber auch, es gibt keinen Grund, es gibt nichts, das ich heranziehen kann zur Voraussetzung, keinen Grund, der dieses ›ich will‹ erst ermöglicht oder konditioniert, es gibt nichts, durch das ich dieses ›ich will‹ vollziehe oder bin. Es sei hier noch einmal daran erinnert, dass diejenige Position, die da sagt, aber dein Gehirn, deine Geburt, deine Kultur musst du doch für dein ›ich will‹ voraussetzen, den zweiten Schritt vorm ersten macht. Es sei ja gar nicht geleugnet, dass es ohne gut funktionierendes Gehirn nicht zum ›ich will‹ kommt. Doch allein die Feststellung des gerade Gesagten, allein das sich Bedienen eines gesunden Gehirns, diese Feststellung handelnd zu denken oder auszusagen, geht jenem Organ logisch vorher. Es wäre gar nicht »das Gehirn«, wäre es als dieses nicht erkannt und nicht als dieses im Vollzug. Dass »es ist« ist schon Aussage, und dies ist der erste Schritt. Wenn also nichts möglich ist, von wo ich das ›ich will‹ herleiten kann, dann ist es auch nur zu finden, dann ist es nur findbar. In diesem Sinne soll hier das Wort ›findbar‹ gemeint sein, und dem entspräche jenes ›unableitbar‹. ›Unableitbar‹ ist hier abweisend gemeint, zeigt auf, dass es jede Begründung von sich weist, ›findbar‹ ist, ein (und schließlich dann auch, nach vielen weiteren Schritten, mein) Verhältnis zu ihm. Ich kann nicht anders, als mein ›ich will‹ nur dadurch aufnehmen, dass ich es finde. Ich kann es ja nicht von irgendwoher generieren oder ableiten. Ich will hier auf die gegenseitige Verschränkung hinweisen, die wir aber hier nicht behandeln wollen: Auch das Finden dieses ›ich will‹ ist vom ›ich will‹ begleitet, schließ-
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lich bin dann auch ich der Finder, aber ich wollte (und konnte) gar nichts anderes finden als eben dieses ›ich will‹. Lassen Sie es mich an einem Beispiel anschaulich machen. Als Sie heute morgen, sagen wir einmal um halb acht Uhr aufwachten, haben Sie nicht gesagt, ich will jetzt wieder wollen, sondern Sie sind aufgewacht, und im Aufwachen entdeckten Sie, dass Sie wollen. Sie haben nicht im Alter von vielleicht zwei Jahren gesagt, ab jetzt entscheide ich mich zu wollen, sondern Sie haben mit zwei Jahren »angefangen« zu wollen, aber nicht in dem Sinne, dass Sie sich entschieden haben, ab jetzt will ich, sondern Sie haben Ihr Wollen entdeckt, gefunden. Dieses ›gefunden‹ ist an Evidenz gebunden, als Sie sicher wissen, was ›finden‹ heißt, sonst würden Sie zum Beispiel auch hier in diesem Raum nicht seine Fenster, Türen, Bilder, Möbel finden. Sie wissen, was ›finden‹ heißt, und Sie wissen es daher, weil ›finden‹ an jenes ›ich will‹ gebunden ist, gleichbedeutend ist mit ›unableitbar‹. Warum ›unableitbar‹ und ›Unableitbares‹ erwartet werden muss, zeigt die Transzendentalphilosophie und sei hier vorausgesetzt. Hier ist der Ort, von dem aus Sie verstehen, was ›finden‹ heißt, oder von dem aus Ihnen immer selbstverständlich war und ist, dass zu finden keiner Frage bedarf, keinem Zweifel obliegt. Was ›finden‹ heißt und ist, das weiß doch jeder! Der Realismus ist gegenüber der Transzendentalphilosophie dann diejenige Konzeption, die dieses, eben dass ›finden‹ mir evident ist, vergisst. Daher ist der Realismus der Auffassung, dass alles das, was er findet, objektiv oder wie auch immer gegeben ist, da dieses ›gegeben‹ ihm erklärt, warum er findet. Denn er reflektiert nicht, was ›finden‹ für ihn heißt und woher er sich dessen sicher ist. Er vergisst, danach zu fragen, und aus dieser seiner Vergesslichkeit meint er berechtigt zu sein zu seiner Existenz. Dem transzendentalphilosophisch Denkenden ist das ›finden‹ sicher und daraus kann er erwarten, dass es etwas zu finden gibt, das dann konsequent ihm fakultativ gegenüber steht. Dem Realisten ist – konsequent gedacht – das Sein (also das Reich des zu Findenden) notwendig, weil nur es ihm erklärt, warum er findet. Dass dieses sein Sein dann zufällige Züge trägt, kann er nur additiv hinzusetzen, ist ihm eine (sogar noch zufällige) Eigenschaft. Und die nennt er dann ›empirisch‹. Transzendental folgt aus der Sicherheit des ›Findens‹ konsequent und notwendig, dass das Gegebene empirisch sein muss (wohlgemerkt das Gegebene in seiner sinnlichen Gegebenheit). Aus der Transzendentalität folgt das Apos316 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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teriori, aber dem Realismus muss es Voraussetzung sein: ohne Transzendentalität keine Realität, aber ohne Realität kein Realismus. Was bedeutet nun dieses ›finden‹ für uns? Ich will zuvor noch eines einfügen. Was ist dieses ›ich will‹ – theoretisch verstanden? Was oder wie verstehe ich mich, wenn ich mir sage ›ich will‹ ? Und da bietet sich an theoretischen Begriffen an, mit ›ich will‹ meine ich immer ein Ziel, einen Sinn, einen Zweck, dem ich folge. Ich muss mir immer ein Ziel, einen Zweck vorausgeben, Ziele oder Zwecke müssen dem Wissen vorhergehen, wenn ich mich theoretisch verstehe als – praktisch – wollend. Ich setze an dieser Stelle voraus, und das werden ich auch nicht weiter behandeln, dass dieser Zweckgedanke, in dem ich mich als wollend verstehe, Kausalität, Substantialität, kurz alles Kategoriale voraussetzt. Halten wir uns an Kant: »Dagegen aber kann doch auch eine Causalverbindung nach einem Vernunftbegriffe (von Zwecken) gedacht werden, welche, wenn man sie als Reihe betrachtete, sowohl abwärts als aufwärts Abhängigkeit bei sich führen würde, in der das Ding, welches einmal als Wirkung bezeichnet ist, dennoch aufwärts den Namen einer Ursache desjenigen Dinges verdient, wovon es die Wirkung ist.« (KdU, B 279; AA V, S. 289) Auch im Handeln, auch wenn ich mich praktisch verstehe, habe ich immer ein Vorauslaufen des Willens zu einer Willensentscheidung, deren – wenn man so sagen will – Spur ich folge, wenn ich meine Willensentscheidung danach richte. Im Praktischen wäre das dann die Idee. Wir wollen uns jetzt der Frage stellen, wie »verändert« sich mein aktuelles ›ich will‹, wenn ich es finde? Finden heißt, Unableitbarkeit erwarten. Es ist nun nicht dasselbe ›ich will‹, ob ich es vollziehe, oder ob ich es »nur« finde. Beide Positionen liegen allerdings eng beieinander. Mein ›ich will handeln‹, ›ich will vorstellen‹ ist spontaner, aktueller, vollziehender Art. Und dieses ›ich will‹ sei gefunden. Was ist es jetzt als Fund? Das bedeutet, dass dasselbe ›ich will‹, das ich einerseits genetisierend, unableitbar, autonom vollziehend bin, das ich begleitend anschauend habe, denn ich bin meines aktuellen Wollens ja sicher, dass dasselbe ›ich will‹ andererseits jetzt ein Fund, ein Objekt, ein Angeschautes ist. Als dieses wollen wir es weiter betrachten, eben dieses ›ich will‹ als Fundsache, als in diesem Sinne Gegebenes. Überlegen wir uns, was das wieder von der theoretischen Seite aus betrachtet heißt, wenn ich mich verstehe als Ziele, Zwecke setzend, als vorauslaufenden Willen, dem ich handelnd folge, jedoch so, dass ich mich in diesem Verständnis jetzt als Fundsache habe. Das 317 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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heißt, ist jetzt mein Wille gefunden, dann ist er jetzt nicht mehr genetisierend, nicht mehr vollziehend. Was bedeutet das für uns, insofern wir ihn verstehen, also theoretisch betrachten? Wenn der Wille jetzt nicht mehr genetisierend verstanden wird als ›ich will‹ aktiv, sondern ich dieses ›ich will‹ als gefunden gleichsam vor mir habe, dann fehlt genau das, was das Aktive, das Vollziehen und Hervorbringen, das Genetisieren des Willens auf der Verstehensebene ausmacht, eben jenes Zwecksetzen. Ein Wille als Fund entbehrt genau dessen, was ihn als hervorbringend auszeichnet, entbehrt also dessen, Zwecke zu setzen. In diesem Sinne, wenn ich dann mich, mein ›ich will‹, als gefunden behandle, habe ich mich zwar weiterhin als eine Zwecksetzung, aber ohne das treibende, das orientierende Element, ohne Zwecke, die ich mir vorgebe. Darauf wird es mir ankommen. Jede Zweckverwirklichung bedarf ihr vorauslaufender Mittel, die zu diesem Zweck führen. Fehlt der Zweck, so bleiben zwar die Mittel, aber dann bleibt eine Mittel – Mittel-Reihe, an deren Ende es keinen Zweck gibt. Zwecksetzung heißt, um daran noch einmal zu erinnern, dass wir in einem Willen immer das, was wir tun wollen oder was wir vorstellen wollen, in einem Zwecksetzen vor uns hinstellen, voraussetzen, um dann danach unser Handeln einzurichten. Wir haben also ein Ziel, einen Zweck, nach dem wir unsere ihm vorhergehenden Willensentscheidungen als Mittel einrichten. Als ich mich entschied, hierher nach Berlin zu fahren, habe ich in München diesen Vortrag vorbereitet, den Koffer gepackt, das Auto getankt … und habe dieses alles als Mittel an Handlungen nur dafür eingesetzt, um hier diesen Vortrag zu halten. In diesem Sinne verstehen sich Mittel als die vorbereitenden Handlungen, deren ich bedarf, um das Ziel zu erreichen, nämlich dieses, jetzt vor Ihnen zu stehen. Wird nun – nochmals zurück – das ›ich will‹ nur als gefunden, nur als Fundsache betrachtet, dann haben wir unser ›ich will‹ auf der passiven Seiten, und auf dieser passiven Seite fehlt ihm genau das, was sein – aktives – Ziel ist, nämlich der Zweck, und es wird jetzt nur noch gefunden das ›ich will‹ als reine Mittel – Mittel-Kette, ohne den Zweck. Das ist der Begriff des Triebes. Trieb – das ist genau diese Form der Mittel – Mittel-Reihe, in dem kein Zweck vorkommt. Ich nehme dazu ein Beispiel aus einer konkreten Situation: Durst. Der Durst ist zu verstehen als ein Trieb. Durst ist der Ausdruck eines Wollens, eben des Trinkenwollens. Ich will zwar, aber was ich will, trinken, das wollte ich nicht. Anders ausgedrückt: Ihnen ist im Trieb vorgegeben, das Ziel, nämlich material dieses zu wollen, eben 318 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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zu trinken und nicht zu essen. Jedoch eben das haben Sie gar nicht gewollt. Sie finden sich wollend, nämlich zu trinken, aber das Ziel zu trinken, haben Sie nicht gewollt. Sagen wir es umgekehrt, damit es deutlicher wird: Ich kann nicht wollen Durst zu haben, dennoch finde ich mich: Ich will. Das ist eine, auf den ersten Blick widersprüchliche Situation, denn es ist eben die, wenn ich nicht aktuell vollziehend will, sondern »nur« meinen Willen finde. Zurückgenommen von dem einzelnen Beispiel Durst, ist es bei Kant das, was er Begehren nennt. Bei Kant ist dieses Begehren empirisch aufgenommen, ist auf ein Außen gerichtet. Hier nun wird deutlich, dass die Quelle dieses Begehrens unmittelbar das Resultat ist meines ›ich will‹, wenn ich es finde. Als Gefundenes, als unmittelbar Gegebenes, habe ich mich als die, als meine Fähigkeit zu wollen. Da ich mir unableitbar bin, bin ich immer von meiner Fundsache begleitet, eben der Fähigkeit zu wollen. ›Ich kann wollen‹ muss immer mein Wollen begleiten; ›ich kann denken‹ muss immer mein Denken begleiten. Und das ist – jetzt historisch gesprochen – bei Fichte, wenn wir dieses Begehren, dieses Sich-Fähig-Finden generell nehmen, auf der theoretischen Seite meiner selbst der Erkenntnistrieb. Diesem Triebe unterstehend wachen Sie auf, Sie können sich nicht machen zum ›aufwachen wollen‹. Sie können sich nur wollend finden, jeden Morgen. Und das ist, auf das Praktische gerichtet, der moralische Trieb (natürlich nicht ein Trieb, moralisch zu sein, sondern der, sich stets »unter« dem ›soll!‹, ›darf ich?‹ zu finden) oder vielmehr derjenige praktische Trieb, der diesem vorhergeht: getrieben sein zu wollen. Dies ist kein Fatalismus (Sartre: »Zur Freiheit verdammt.«). Denn dass ich mich finde als zum Wollen getrieben, dieses ›finden‹ will ich wieder oder lehne es ab, dem stimme ich zu oder nicht. Ich stehe zu ihm noch in dem Verhältnis meines Wollens dazu. Ich finde mich aufwachend, doch dieses ›aufwachen‹ heiße ich gut oder nicht. Zu mir selbst als Fund stehe ich also noch einmal in einem Verhältnis des Wollens: Ja oder nein. Hier ist wieder die oben genannte Verschränkung, und zwar gerichtet, da stets das aktive ›ich will‹ eröffnend vorangeht. Dieses gilt gleichsam noch »vor« einer individuellen Realisierung. Jetzt zurück zu uns als Individuen. Mein ›ich will‹ ist ein Fall von Wollen, ich verstehe mich immer als Fall des Wollens, nicht als das Wollen selbst; denn ich weiß z. B., dass es auch noch Andere gibt, die wollen können. Könnte ich zurückblicken, so muss ich voraussetzen eine – so nenne ich das einmal – Wollbarkeit, von der ich ein Fall bin, 319 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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eben als Individuum, ein Fall dieser Wollbarkeit. Sie können sie auch, wenn Sie wollen, Vernunft nennen, insofern Sie sie als gegebene fassen. Wollbarkeit ist die Möglichkeit zu wollen, der Ort, von dem an erst diese Wollbarkeit zu etwas wird, das konkret heißt ›ich will‹. Ich bin aber erst Subjekt in dem Moment, wenn ich diese Wollbarkeit zu einem und dann zu meinem Fall mache eines ›ich will‹. Die Wollbarkeit ist noch jenseits der Subjekt – Objekt-Trennung, und ich selbst bin, wenn ich mich der Wollbarkeit oder der Vernunft »bediene«, auch noch nicht Subjekt. Ich werde es erst dadurch, dass ich mich zum konkreten Fall mache. Das wird von all’ den vielen übersehen, die da in ihrem transzendenten Winkel meinen, Transzendentalphilosophie sei Subjektphilosophie. Die Ausräucherung dieser Ecke – wieder ›Zukunft der Philosophie‹ – wäre hier ein kategorisches Soll. Auch diese Wollbarkeit ist nur findbar. Sie ist nicht aus irgend etwas anderem ableitbar. Sie müssen Sie ständig voraussetzen, wenn wir sagen wollen ›ich will‹. Auch sie ist Fundsache und eben das Begehrunsvermögen. In diesem Begehrungsvermögen wäre Durst ein Fall, der darin auftreten kann. Also, wir haben sowohl das konkrete Begehren Durst als auch das Vermögen selbst. Und nun begehen wir einen, nein, den kapitalen »Fehler«. Obwohl wir im spontanen, praktischen Vollzug »wissen« könnten – nur eben wissen können wir an dieser Stelle (noch) nicht –, das ›wollen‹ ist unableitbar und daher nur zu finden, sind wir, im Bilde gesprochen, damit nicht zufrieden, »nur« Fundsache zu sein. Wir fragen: Wo kommt dieses (mein) ›wollen‹ denn her, woher diese Fähigkeit zu wollen? und generieren damit den theoretischen Stand (hier entsteht er!) und suchen nach Antwort. Jenes »nur« ist allerdings doch auch wieder berechtigt, denn fatalistisch (ich – nur Fundsache?) wollen wir nun auch nicht wollen. Daher muss diese Fundsache, sowohl das konkrete ›ich will‹ als auch die abstrakte Wollbarkeit, das Vermögen, die Fähigkeit des Wollens, als Fund wieder befragt werden: Wo kommt das denn her? Wir begnügen uns nicht mit dem Angebot der reinen Unableitbarkeit und der durch sie auftretenden Fälle (obwohl wir uns nur durch sie von der reinen Gesetzesmaschinerie unserer selbst, also gleichsam vor Leibniz »retten«). Wir begnügen uns nicht, sondern fragen: Wo kommen die denn her? Und jetzt haben wir uns dadurch genötigt, einen Blick auf uns selbst zu werfen, eine Vorstellung unserer selbst zu entwerfen. Und die präsentiert sich in Vorstellungen. Jene Frage, ›wo kommt das denn her?‹ beantworten wir, indem wir unser Vorstellen, unser Handeln wiederum versuchen 320 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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durch Ursachen (und Akzidenzien und Vieles mehr) zu belegen. Das ist die Art und Weise, wie wir uns verstehen, obwohl es hier im strengsten Sinne kein solches Verstehen gibt, denn alles, was wir verstehen, sind nicht wir selbst. Da haben wir zum Beispiel vor uns eine konkrete Empfindung, sagen wir ein ›rot‹, als sinnliche Qualität, ein Unableitbares(!), und fragen danach, was ist die Ursache dieses ›rot‹ ? Obwohl wir ›rot‹ sehend wissen, eine Antwort auf diese Frage macht uns das ›rot‹ nicht deutlicher (wir haben es »glaubend«, nicht verstehend), und mit einer – dann »nur« physikalischen – Antwort könnten wir auch keinem Blinden ›rot‹ sichtbar machen, wir fragen dennoch, wollen verstehen, was – verstanden – nicht mehr zum sinnlich-konkreten ›rot‹ zurückführt. Ebenso sind wir auch hier dennoch ständig dabei, unser konkretes Begehren wiederum nach einer Ursache zu befragen: Woher kommt es? Woher kommt mein Begehren, woher kommt das Begehrungsvermögen? Das ist eine berechtigte Frage unter der hier hergeleiteten Voraussetzung, dass wir ein konkretes Begehren gefunden haben und darauf fußend, dass wir unser Begehrungsvermögen gefunden haben. Und wenn wir diese Frage nach dem Woher jetzt stellen, dürfen wir vom philosophischen Standpunkt nicht vergessen, wie diese Fundsache sich generierte. Dann können wir nicht übersehen, dass wir erst aus Anlass eines konkreten Begehrens, etwa des Durstes, demnach eines Gefundenen, danach zu fragen vermögen, was ist seine Ursache? Auch wenn die Biologen, die Physiologen und die Mediziner beteuern werden, die Erhöhung der Osmolarität im Blut, über die Osmorezeptoren registriert, im Hypothalamus verarbeitet, verursache das Durstgefühl – Voraussetzung für diese Forschungsergebnisse ist, dass Durst empfunden wird. Gäbe es keinen solchen Anlass, dann gäbe es auch nichts zu erklären. Bei unserer Frage nach der Ursache jenes Triebes ›Durst‹ komme ich nicht primär zum Leib, komme ich nicht sofort zu Osmolarität, zu Osmorezeptoren, zu Hypothalamus und noch zu vielem mehr, sondern zu dem, in dem diese Funktionen und Organe eingebettet sind, zum Begriff ›Leben‹. (Hier fehlt ein Ableitungsschritt, den ich in meinem Beitrag auf der Fichte-Tagung 2009 in Rammenau nachgeholt habe.) Generalisiere und frage ich nach dem Vermögen des Begehrens, eben danach, was die Ursache dieses Vermögens ist, dann treffe ich auf den Begriff ›Leben‹, auf ›ich lebe‹, oder, genauer betrachtet, dann entsteht, dann entwerfe ich den Begriff ›Leben‹. Es bleibt dabei: Wie sowohl ›Durst‹ als auch das Begeh321 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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rungsvermögen Fundsachen sind, sind die hier gewonnenen Ursachen für ›Durst‹ und allgemein für ›Begehren‹ wiederum Gefundenes, eben ›ich lebe‹ oder ›Leben‹. Wenn also ›Leben‹ oder ›ich lebe‹ als die Ursache für das Begehren ausgemacht ist, dann kann es kein Begehren geben ohne seine Ursache. So wird verständlich, dass auch das ›ich lebe‹ alle meine Vorstellungen begleiten können muss, sonst hätte ich keine Vorstellungen. Hier erst, an dieser Stelle, verstehen wir, was Leben heißt und beschreiben es nicht nur. Innerhalb unseres Generalthemas ›Zukunft der Philosophie‹ gälte es, dem Begriff ›Leben‹ Leben zu geben. ›Leben‹ wäre in diesem hergeleiteten Sinne eine Mittel – Mittel-Kette, ziellos, ohne Zweck. Das ist nicht einfach zu verstehen. Nehmen Sie als Beispiel eine Blüte, von der wir sagen, deren Zweck ist der Samen. Vom Samen sagen wir, dessen Zweck ist der Keim. Vom Keim sagen wir, dessen Zweck ist die Blüte, von der Blüte wiederum, ihr Zweck sei der Samen. Wir kommen in einen Umlauf eines sich selbst auf der Zweckebene begründenden Kreises. Und, wie schon gesagt, aus diesem müssen wir, wenn wir erkennen wollen, was ›leben‹ heißt, uns durchaus zumuten, den Begriff des Zwecks herauszunehmen. Dadurch versteht sich überhaupt erst der Kreis als dasjenige, in dem die Blüte Mittel ist für den Samen, der Samen Mittel für den Keim, der Keim Mittel ist für die Blüte, die Blüte … Wir können nicht anders, als diesen Kreis verstehen, indem wir an einer Stelle einen Schnitt setzen und ›Zweck‹ sagen, aber wir müssen – und das ist das, worauf es mir ankommt –, wir müssen dahin kommen zu sehen, dass wir diesen Zweck willkürlich hinzusetzen und unbedingt wieder abzuziehen haben. Anders ausgedrückt: Im Begriff ›Leben‹ oder ›ich lebe‹ kommt der Begriff Zweck nur als Hilfsbegriff vor. Ohne ihn einzusetzen, gelingt es nicht, die Kette aufzustellen, aber er muss jedes Mal wieder herausgenommen werden. Schärfer ausgedrückt: ›Leben‹ oder ›ich lebe‹ ist auf dieser Ebene ein zielloses Mittel – Mittel-Geschehen. Die Physik hat eine andere Sicht, in ihr kommen Mittel – Mittel-Reihen und Zwecke überhaupt nicht vor. Mein Anliegen – ›Zukunft der Philosophie‹ – ist, dass von dieser Seite endlich einmal so etwas wie ein Begriff, ein sinnvoller Begriff von ›Leben‹ entworfen wird, der nicht von außen, nicht vom Beschreiben herkommt. Für den Realisten, den Vergesslichen, muss Leben immer etwas sein, was er außen findet, was ihm zufällig ist, was gar nicht sein müsste, und was ihm immer etwas sein muss, in den er den Zweck real implantiert nachzuweisen versuchen wird. Er will und 322 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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darf dies aber nicht, darum nimmt er ihn dann wieder heraus, bleibt aber immer in diesem Wechsel. Ohne ›Zweck‹ kann er ›Leben‹ nicht verstehen, mit ›Zweck‹ hat er ›Leben‹ überdefiniert. Er kann aus ›Biologie‹ keine wissenschaftliche Disziplin machen. Nehmen Sie dazu jetzt Folgendes. Die Verhaltensforschung, der Behaviourismus ist eine Disziplin, die das Leben beschreibt unter dem Fragestellung, wie verhält sich das Leben oder ein lebendiges Exemplar? Dazu ein Beispiel: Schule – neues Schuljahr – erste Stunde – wir haben den neuen Stundenplan bekommen – Pause – Pause geht zu Ende – wir sehen aus dem Lehrerzimmer einen Lehrer herauskommen – neues Gesicht – Zirkel und Zeichendreieck unterm Arm. Ah, das ist der Neue! Das ist unser neuer Mathematiklehrer! Ab morgen werden wir ihn haben. Jetzt wissen wir, wer das ist. Wir sehen an dem Äußeren, dem unbekannten Gesicht, das aus dem Lehrerzimmer kommt, mit Zirkel und Dreieck unterm Arm, das ist unserer neuer Mathematiklehrer. Jetzt stellen wir uns vor, dass dieser Mathematiklehrer ein Jahr lang in seinem Verhalten beobachtet wird, Tag und Nacht. Und ziehen wir ab, was andere Menschen in derselben Zeit tun und protokollieren nur das, was ihn auszeichnet – kariertes Papier, Zahlen, Zeichen wie »+« und »-«, Linien, Dreiecke etc. – dann wird der Behaviourismus sagen: Ah, jetzt verstehe ich, was Mathematik ist, und das da ist ein Mathematiklehrer! – Ist Ihnen klar, was ich meine? Wir müssen mit unserem Begriff ›Leben‹ immer von unserer Verstehensseite dort ankommen. ›Leben‹ ist in dem Sinne genausowenig beschreibbar, wie Mathematik beschreibbar ist. Wir kommen, wenn wir in der Biologie Leben durch das Verhalten beschreiben, dahin, dass wir Verhalten mit Verhalten vergleichen. Insofern, als wir – selbst lebend – uns als beschreibbar durch unser Verhalten protokollieren können, sind wir in Bezug auf die Tiere dann auch vergleichbar. Und wir bekommen dann hier die Situation, dass wir einerseits mit Darwin sagen können, wir sind nichts Anderes als das Endprodukt der Evolution, denn das Verhalten zwischen Tieren einerseits und uns andererseits ist doch gar nicht so verschieden. Das ist die ›Kontinuitätsthese‹ Darwins. Wir können umgekehrt unser Verhalten aber auch so beschreiben, dass wir sagen, ja, da gibt es schon Unterschiede, sei es die Sprache, sei es der Werkzeuggebrauch oder dergleichen. Nein, nein, da sind Unterschiede! Und dann nehmen wir die These der ›anthropologischen Differenz‹ ein. Vom Verhalten her gesehen werden wir die Frage nach der Geltung, nämlich ob die Kontinuitäts323 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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these oder die anthropologische Differenz zutrifft, nie entscheiden können. Wir bleiben bis ans Ende der Tage in der Beschreibung, deswegen kommen wir nicht weiter, auch nicht zur Mathematik. Es geht aber darum, ein Tier und ›Leben‹ zu verstehen und nicht nur zu beschreiben. Ich will Ihnen noch ein Beispiel dazu anbieten. Ich habe kürzlich mal wieder meinen Bruder angerufen, Physiker, mit dem ich in losem Kontakt stehe, was physikalische Fragen betrifft. Und er meldete sich und unterbrach mich gleich, er hätte wenig Zeit, und ich habe dann schnell gesagt, was ich sagen wollte. Zwischendurch wurde ich wieder unterbrochen, er hätte nicht verstanden, worum es gehe. Ich habe das noch einmal wiederholt, ich wurde wieder unterbrochen »ich habe keine Zeit mehr, später anrufen!« – aufgelegt. Da stand ich da – und plötzlich schoss mir durch den Kopf: »Dieser Lump! Das war nicht er, das war sein Anrufbeantworter.« Er hat also die Aufforderungen mitsamt den Pausen und »Unterbrechungen« aufs Band gesprochen und auf diese Weise vorgetäuscht, er wäre selbst am Apparat. Das ist mir so passiert, und das passierte Ihnen allen so, hätten Sie ihn angerufen. Vorgegeben ist Ihnen nur das, was Sie hören. Einerseits sagen Sie: »Ja, ich muss ihn später anrufen, er hat mir ja gesagt, er habe keine Zeit«, andererseits sagen Sie: »Oho, das war der Anrufbeantworter.« Sie sind derjenige, der hier die Positionen ändert, der es einmal so sieht und es einmal so sieht. Durch das Beobachten des »Verhaltens«, das Sie über das Telefon hören, ist Ihre Position dazu letztlich nicht entscheidbar. Das müssen schon Sie machen. Sie ändern sie, bei vorgegebenem, unverändertem »Verhalten«. Ob ich von einem krabbelnden Etwas sage, das ist hochkomplizierte Mechanik oder das lebt, ist ein Käfer, das ist meine Stellungnahme zum Vorliegenden. Beide Deutungen gab es und gibt es wohl noch. Am Befund allein ist nicht zu entscheiden, welche zutrifft. Noch krasser: Ob ein Weizenkorn vor mir liegend lebt oder abgestorben (nur noch Physik) ist, ob es also keimfähig ist oder nicht, lässt sich an seinem »Verhalten« nicht entscheiden. Aber dass ich angesichts dieser Winzigkeit zwei verschiedene, ja entgegengesetzte Positionen einnehmen kann, ohne dass sich vor mir etwas ändert, darauf sei hier hingewiesen. ›Leben‹ ist eine andere Haltung der Herangehensweise an das zu Beschreibende, an das Verhalten als Physik und diese Haltung ist Voraussetzung für das Verständnis, in der das Beschriebene, das Erforschte das wird, als das es dann beschrieben ist: als ›lebendes‹, als ›physikalisches‹ Objekt. 324 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Auch wie ich ein Objekt »Tier« einschätze, hängt davon ab, welche Haltung ich dazu einnehme. Sie können zum Beispiel einen Schimpansen daraufhin betrachten, ist der jetzt »schon« zwecksetzend tätig oder ist er »noch« blind Mittel – Mittel-setzend tätig. Das ist aber eine Position, die ich wählen und dann einnehmen muss, die mir das Verhalten nie zeigt. Schwierig wird dies für den Verhaltensforscher, der ja ›neutral‹ zu bleiben sich vorgenommen hat. Doch diese »Neutralität« hat er nicht, weil er sie gar nicht haben kann. Seine Sicht auf sein Forschungsobjekt ist immer die einer Haltung, einer eingenommenen Position und sei sie schwankend. Doch könnte es ihm gelingen, mit einem festen Begriff an sein Objekt heranzugehen. Die Versuchung, dies nicht zu tun, ist groß. Sich aber einmal zusammenzureißen und zu sagen, bei all’ den hochentwickelten Handlungen, die ein Schimpanse vollzieht, ist es nicht doch möglich, ihn nur zu verstehen als blind handelndes Wesen, in dem überhaupt keine Zwecke als Endzwecke vorkommen? Gelänge ihm das, dann gewänne er die zutreffende Sicht für biologisches Leben und er könnte das Verhalten seines Versuchobjekts einordnen als Mittel – Mittel-Kette (und nicht als Mittel – Zweck-Kette, denn, bei allem Entgegenkommen, Moralität kann ich auf den Schimpansen schwerlich anwenden). Dadurch käme er dazu, generell einen sicheren Stand zu gewinnen, der ihm dafür bürgt, Tier von Mensch zu unterscheiden. Und dann wäre ihm jenes Objekt »Tier« ein Tier. Denn dieser Unterschied ist nicht kontinuierlich zu ebnen. Wenn einem Untersuchungs- oder Verhaltensobjekt ›Leben‹ und demnach eine reine Mittel – MittelKette zugesprochen wird, dann unterscheidet es sich grundsätzlich von dem der Physik, in dem ausdrücklich Mittel – Mittel- und Mittel – Zweck-Folgen nicht eingeschrieben werden. Zur Veranschaulichung ein Beispiel. Sie laufen – es muss nicht gleich ein Marathon sein. Weder wird im Lauf Ihr gerade unbelastetes Bein durch eine horizontale Gravitationskraft physikalisch nach vorn gezogen noch bewegen Sie es absichtlich in die Laufrichtung. Es geschieht unwillkürlich, aber dennoch sinnvoll. Diese selbstverständliche Funktion, ohne die wir nicht leben und mittels derer wir leben, das ist ein Fall jener Mittel – Mittel-Reihe, jenes biologischen Ereignens, das wir ›Leben‹ nennen. Sie werden dazu weder getrieben, noch treiben Sie ihn. Dennoch können Sie, anders als Pflanze und Tier, zweckbestimmt eingreifen. Dieses biologische Treiben finden Sie und halten es ohne Frage für sinnvoll und dies unbegleitet von Ihrer Absicht. Gelänge es uns, derart gerichtet ins Reich des Biologischen 325 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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zu treten, dann gewännen wir auch endlich einmal ein Verständnis jener so vielfältigen Welt, eroberten uns einen Zutritt, der sich ihr nicht nur von außen beschreibend näherte. Auch jene Vielfalt wieder zu entdecken wird auf den ersten Blick nicht einsichtig, denn die hier vorgestellte Vorgehensweise hat eine Ungenauigkeit. Sie tut so, als wäre der Wille einfach. Doch ich kann auf oder in verschiedenen (Reflexions-)Stufen wollen. Der Wille kann sich auf sich zurückbeziehen und ihn, also sich, weiter bestimmen. Die sich eben dadurch von der Transzendentalphilosophie verabschiedenden »Transzendentalphilosophen« sagen dann eilig: Der Wille hat Strukturen. Der Wille ist aber ursprünglich kein – strukturell – Gegebenes, sondern vollziehendes Wollen. Und zu diesem meinem spontanen, aktuell sich äußernden Willen stehe ich auch noch in einem willentlichen, gestaltenden Verhältnis. Ein Beispiel soll veranschaulichen, was gemeint ist. Ein Pianist kann spontan einen Lauf spielen und bei aller Spontaneität und ins Blut übergegangenen Geläufigkeit sagen, der unterlag meinem Wille. Er kann dem Lauf nämlich zusätzlich noch eine dynamische Steigerung geben oder ein Accelerando. Auch hier wird er darauf beharren, dass der Lauf kein mechanisch eingeübter Ablauf war, sein Wollen war stets dabei, und er wird hinzusetzen, dieses Crescendo war zusätzlich meine Absicht, dieses Accelerando wollte ich noch dazu. Ich kann meinen »laufenden« Willen nicht nur ändern, das hieße hier, den Lauf abbrechen, nein, ich kann ihn auch überformen. Ich kann meinem Willen auf höhere »Etagen« heben, indem ich mich wieder auf ihn beziehe. Auch dieser so geschichtete Wille kann Fundsache sein, und erst dann hätte er so etwas wie Strukturen. Die hat er aber zuvor selbst gebildet. Und wird er so gefunden und wird er als Fund nun noch ursächlich erklärt (eben als ›Leben‹), dann müssen solche Rückwendungen des Willens auf sich selbst hier, auf der ›Lebensseite‹, auch erwartbar sein. Es wären dann verschiedene Bezüge des ›Lebens‹ auf sich, also der Mittel – Mittel-Kette auf sich selbst. Und da sie verschieden sein können, müssten sich unterschiedliche Rückbezüge, unterschiedliche Mittel – Mittel-Reihen finden lassen, etwa die der Pflanzen, dann die der Tiere. Schon phänomenologisch betrachtet haben die Tiere offenbar zusätzlich mindestens einen SichBezug mehr als die Pflanzen. Hier könnte ein Unterscheidungskriterium für Tier von Pflanze versteckt sein, dessen Ursprung im spontanen Wollen liegt und einmal herausgearbeitet werden sollte. Man hat zum Beispiel in der Art der Beweglichkeit einen Unter326 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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schied zwischen Tier und Pflanze finden wollen. Das Tier ist aktiv beweglich, die Pflanze standortfest oder passiv beweglich etwa bei der Samenverteilung und darin sähe man ein wesentliches unterscheidendes Merkmal. Wollten wir diesem alten aus der Beobachtung des Verhaltens stammenden Unterscheiden nachgehen, so ließe sich zeigen, dass wir schon hier verschiedene Verständnisse vom Ursprung jener Bewegungen einbringen. Wir meinen nicht nur ›aktiv‹ und ›passiv‹. Wir unterstellen beim Tier zugleich eine »gezieltere«, »gewolltere« Beweglichkeit und »mehr« Absicht als bei der Pflanze und fühlen uns bei diesen Komparativen unbehaglich, wenn wir streng wissenschaftlich arbeiten wollen. Wo sind sie beheimatet? Auch heutige Begriffe der Verhaltensforschung wie Trieb, Wahrnehmung, Stimmung, Reiz, Instinkt, Balz, Appetenz, Auslösemechanismus, Reflex, Prägung – alle diese doch meistens zutreffenden Begriffe sind letztlich Abstriche von unserem Wollen, sonst könnten wir sie gar nicht verstehen. Nicht Abstriche freiwilliger (idealistischer) Art von unserem spontanen, aktuellen Wollen (das Bewusstsein eines Schimpansen hätte doch mindestens den halben Umfang des unsrigen), sondern Einschränkungen – logisch – erst und nachdem wir unser Wollen als Fundsache vor uns haben und sehen können, welche Einschränkungen es sich auferlegen kann. Weil ich instinktiv zu handeln weiß, kann ich dies auch entdecken als meine Fähigkeit; und daher kenne ich den Instinkt. Eine spitze Bemerkung an die Adresse der Hirnforscher: Sie können einen Trieb, einen Reflex etc. hirnphysiologisch erklären, aber müssen zuvor schon wissen, was sie erklären wollen. Offenbar ist ihnen dieses ›was‹ schon bekannt, ehe sie nach seiner Herkunft suchen. Das Begehren ›Durst‹ ist ihnen die Ursache dafür, nach einem Ort im Hypothalamus zu suchen, und der dann ausgemachte Fundort verdankt sich der Suche. ›Durst‹ ist ihnen gegeben, dann erst können sie sagen, er wäre nicht gegeben, gäbe da nicht einen Ort im Hypothalamus. Da auch sie Realisten sind, teilen sie mit ihnen die Vergesslichkeit, weil sie das explanandum, eben das zu Suchende, flugs zum explanans erklären. Zur Differenz biologisch – physikalisch ein Beispiel, wieder unser ›rot‹. Wir sehen eine rote Blume. Wir können dieses ›rot‹ jetzt unter zwei Gesichtspunkten betrachten, dem einen, dass dieses ›rot‹ sein soll für etwas anderes, dass es offenbar einen Zweck erfüllen soll, nämlich den, Insekten zur Bestäubung anzulocken. Wir können nun durchaus den Zweckbegriff abziehen und dieses ›rot‹ als Mittel betrachten, als ein blindes ›um zu‹. Damit wird das ›rot‹ zu einem Blick327 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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fang, durch den dieses ›rot‹ biologisch verstanden wird. Wir können dasselbe ›rot‹ auch betrachten ohne jene Mittel – Mittel-Sicht, sie abweisen und dann ist es für uns ein physikalisches ›rot‹. Auch unter diesem Gesichtspunkt bleibt es ›rot‹, wenngleich ohne Leben. Dasselbe ›rot‹ – einmal biologisch, einmal physikalisch –, dies gelingt uns am selben Objekt, an der Blume, je nachdem, unter welchem Blick wir es sehen wollen. Wiederholen wir dies. Wir sehen wieder ein ›rot‹ (und es ist nicht sichtbar, ob es das einer Blume ist oder nicht) und prüfen an ihm (und dazu sind weitere empirische Zugänge nötig), ob sich dieses ›rot‹ verstehen lässt innerhalb einer Mittel – Mittel-Kette oder nicht. Wenn ja, dann wird daraus ein lebendiges ›rot‹, ein biologisches ›rot‹. Muss ich die Einbettung in eine Mittel – Mittel-Kette verwerfen, dann wird daraus ein nur physikalisches ›rot‹. Physikalisch ist es immer, auch bei der Blüte, denn die Ursache für dieses gefundene ›rot‹, nach der wir ja fragen, ist auf jeden Fall findbar, ob wir sie aber als zweckfrei (physikalisches), oder auch Mittel – Mittel-besetztes (biologisches) oder Zweck-besetztes (Absicht, etwa bei der Verkehrsampel) ›rot‹ einordnen, das obliegt uns. Nur durch diese Einordnung, die nicht willkürlich erfolgt, auch nicht fröhlich idealistisch, jedoch auch nicht der schlichten Empirie entspringt, entstehen erst die Objekte der verschiedenen Betrachtungsideen und mit ihnen ihre Disziplinen. Es gibt nicht zuerst das Tier und dann die biologische, gemeint ist die animalische Sicht auf das Tier. Wechselseitig mit dem Einen entsteht das Andere. Daher sind auch die Weisen des Sehens auf ein Objekt, des nach der Ursache Fragens im Blick auf ein Gegebenes, etwa auf das ›rot‹, sei es Mittel – Mittel-frei oder sei es eines dieser Reihe, schlechthin unterschieden. Die physikalische Sicht erlaubt nicht ein Mittel – Mittel- oder ein Mittel – Zweck-Verständnis des Vorgefundenen, und das biologische schließt wiederum das physikalische aus, lässt nur zu, dass seine Phänomene (unser ›rot‹) auch physikalisch betrachtet werden können. Dann sind sie aber auch Phänomene des Physikalischen und nicht solche des Lebens. Diese nur diskret zu entscheidende Herangehensweise hat nun auch dieses zur Folge: Leben kann nicht entstanden sein. Entstehung des Lebens hieße, und so wird es ja auch heute noch verstanden, es habe sich entwickelt aus der Physik, aus physikalischen Abläufen. Der Begriff des Lebens ist ein Begriff der folgenden Entscheidung: Ich will – mit Kant gesagt – das Gewühle der Empfindungen nur unter dem Begriff der Mittel – Mittel-Kette betrachten und ver328 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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stehen. Tue ich das, dann habe ich Leben vor mir. Es gibt daher auch keine Entstehung des Lebens etwa stetiger Art aus dem Reich des Nichtzwecks, aus dem Bereich des Nichtmittels, aus dem Bereich also der physikalischen Dinge. Auch nicht in irgendeiner Weise kontinuierlich: erst ein Begriff von einem winzig kleinen Zweck, dann ein etwas größerer, dann ein vollständiger etc., um daraus das Leben entstehen zu lassen. Entweder entwerfe und betrachte ich die Welt unter dem Gesichtspunkt der Mittel – Mittel-Kette oder der Mittel – Mittel-Zweck-Kette, oder eben nicht. Das ist hier diskret, also kein Übergang. Wiederum an dieser Stelle – ›Zukunft der Philosophie‹ – muss begriffliche Vorarbeit geleistet werden bezüglich der Biologie und bezüglich der Physik, auf dass hier mal endlich ausgeräumt wird mit dem Begriff der Entstehung des Lebens. Entstehung des Lebens – das ist ein ebensolcher Begriff wie der des viereckigen Dreiecks. Hier ist Korrekturarbeit nötig. Dazu ein Gedanke. Die Stetigkeit in der Entwicklung der Lebenswelt widerspricht doch auf den ersten Blick dieser hier vehement vertretenen diskreten Trennung von Physik und Leben und spricht doch eher für sein allmähliches Entstehen aus dem Reich und Reichtum der physikalischen Welt: Entstehung des Lebens – na klar! Stellen wir uns eine Kugel vor. Ihre Oberfläche ist endlich, aber randlos, unbegrenzt, stetig. Die Endlichkeit macht sie strikt unterscheidbar von den Oberflächen aller Kugeln anderen Ausmaßes. Unsere Kugel hat also eine Oberfläche, die a) unterscheidbar und b) stetig ist. Sie repräsentiere in unserem Bild das Reich des Biologischen. An dieser »Lebenskugel« soll anschaulich werden das lebendige Nebeneinander von diskret und kontinuierlich, da das Reich des Lebendigen sowohl a) unterscheidbar ist vom Reich der Physik als auch b) stetig, ohne Aussicht auf eine Grenze sich selbst biologisch entwickelnd darstellt. Das Innere dieser Kugel soll das Mittel – Mittel-Prinzip vertreten. Eine zweite Kugel soll die Physik vertreten, ihr Volumen ist das mittel- und zweckfreie Prinzip. Die Oberflächen beider Kugeln sind dann wiederum stetig, doch untereinander wohlunterschieden. Wir hätten dann zwei Repräsentanten für zwei Welten, die sich streng unterscheiden und in denen unbegrenzt viele Ereignisse stattfinden können. Diese Ereignisse auf den Oberflächen lassen sich auch wieder unterscheiden, ihre Mengen können jedoch wie die Zahlen in einem Zahlenintervall infinit sein und darin sich gleichend den Eindruck einer gemeinsamen Stetigkeit vermitteln. Lassen wir nun beide Kugeln aufeinander abrollen, so blieben ihre Oberflächen trotz ihres 329 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Berührungspunktes sowohl scharf getrennt als auch beide stetig. Die biologische Welt ist stetig, die der Physik ebenfalls oder zumindest in der Menge ihrer Ereignisse infinit. – Dem Biologen sei vorgeschlagen und auch das letzte Wort zur Entscheidung überlassen, ob es nicht auch im Reich des Lebens schon verschiedene Kugeln gibt, die sich bestens unterscheiden. Eine berge in sich zum Beispiel das Prinzip der Pflanzenwelt, eine zweite das der Tierwelt (ich weiß, man klassifiziert heute anders). Es wären beides Mittel – Mittel-Volumina, doch sie blieben in ihren Unterprinzipien (wie oben schon angedeutet) separat. Wieder gäbe es zwei wohlunterschiedene, zu keinen Übergängen auf andere Kugeln bereite Stetigkeiten: hier die unbegrenzte Pflanzenwelt, dort die der Tiere. Statt zweier verschiedener Kugeln ließen sich anschaulicher ein kugeliger und ein eiförmiger Körper gegeneinander stellen. Sie wären homöomorph zueinander und zugleich wohlunterschieden. – Und lassen Sie mich jetzt, Ihre Geduld strapazierend, das Bild überdehnen ins Unanschauliche. Die jeweiligen Oberflächen der beiden letzten Körper seien nun nicht räumlicher, sondern zeitlicher Dimension. Die Zeit ist gerichtet, eine Zeitfläche dann ebenfalls. Wieder wären die Mengen der Ereignisse auf diesen »Flächen« endlich, aber dennoch infinit. Dank jener jeweiligen randlosen »Flächen« wären sie dann stets auch durch die Zeit in der Zeit gerichtet, zukunftoffen. Jede Mittel – Mittel-Kette trägt eine Richtung in sich, eben die der ziellosen Geschlossenheit, wie jener Keim – Blüte – Same – Keim-Zirkel. Alle bestehen aus solchen geschlossenen Kreisen, ohne vorauslaufendes Ziel und ohne Zweck, wie Ringe geschlossen. Sie sind Ereignisse auf jeweils ihrer zur Zukunft gerichteten Zeitfläche eben jenes Systems, das sie trägt, leben alle auf Stetigkeit fußend und sind durch ihre »Fläche«, die Zeitlichkeit, offen zu einer möglichen Entwicklung. Auch dies ein Bild dafür, dass zwei Welten, Pflanze und Tier, nebeneinander bestehen können, ohne dass unser heutiges Allerweltsprinzip ›Evolution‹ sie egalisiert und in die gleichmachende Reihe eines einzigen Nacheinanders zwingt. – Genug des Übermuts zur Anschaulichkeit. Vielleicht geben die Topologen sogar ihr Einverständnis zu diesem Vergleich, möglicherweise stimmen sie auch zu, oder sie korrigieren sogar das Bild: Du hättest zwei zueinander nicht homöomorphe Körper auswählen müssen, etwa Kugel und Ring, da schon deine Wohlunterschiedenheit tiefer liegt. Und sie gestatten eventuell auch noch, dass nur mit ihrer Hilfe die Biologie sich ihrer endgültigen systematischen Gestalt nähern kann. Nun zurück! Das Ganze stammt ja daher, weil das ›ich will‹ 330 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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gefunden ist. Jene Mittel – Mittel-Reihe ist ja nur dank der Kategorie der Relation (Ursache1 – Wirkung1 mit ihrer Vertauschung: die Wirkung1 wird Ursache2 für die ihr vorangegangene Ursache1, die selbst zur Wirkung2 wird) erstellt worden und in der verstehe ich ja auch mich, hier zum Beispiel als lebend. Doch auch dieses Aufbauen der Kategorien muss, bis ich im ›ich will‹ als mich verstehend vor mir stehe, gefunden sein. Denn – transzendentallogisch – solange ich mir nicht zu einem Verstandenen, eben zu einem Subjekt-Objekt und dann in diesem Sinne zu einem, zu meinem immer ein Etwas verstehenden ›ich‹ geworden bin, solange kann ich reflexiv diese »meine« Kategorienarbeit nicht verstehend begleiten. Erst, wenn »ich« (subjektiv) mit ihrer Hilfe zu einem »mich« (objektiv) geworden bin, und zwar einerseits (hälftig) in den, andererseits (hälftig) gegenüber den in den Kategorien auftretenden Wechselgliedern, kann ich angesichts dieser auftretenden Objektwelt »Subjekt« zu mir sagen. Als dieses bin selbst ich auch noch Fund! Dazu ein scheinbar abwegiges Beispiel. Vor gut 350 Millionen Jahre, im Devon, begannen die Fische das Schwimmen zu lernen. Zu Beginn ihres langen Werdens konnten die Urfische noch nicht hören. Diesen Wahrnehmungssinn haben sie erst im langen Lauf ihrer Geschichte dazugewonnen. Nun stellen wir uns nachkonstruierend einmal vor, dass in irgendeinem Paar der frühen Fischpopulation die Mutation ›Hören‹ eingetreten ist. Müssten wir – von außen her betrachtet – jetzt nicht dazu sagen: Das Hören ist doch überhaupt nicht für dieses Fischpärchen zu verarbeiten. Die »wissen« gar nicht, was das ist. Akustik ist in ihrem Programm ein störender Faktor, sie müsste sofort eliminiert werden dadurch, dass dieses Pärchen, mit einer ungeeigneten, da unproduktiven Mutation ausgestattet, dem Selektionsdruck erliegen wird. Wenn wir dennoch annähmen, dass diese Mutation sich durchsetzte, dann wäre das Nächste, dass dieses Fischpärchen und seine Nachkommen, die jetzt ja auch »hören« können, sich fragen, was machen wir damit? Die einen drehen sich dann mechanisch links herum im Kreis, die anderen rechts herum, wieder andere um ihre Achse, andere wieder schwimmen rückwärts, andere vorwärts, aber dieses »Hören«, eben diese Mutation mit etwas anderem sinnvoll zu verbinden, ist ihnen überhaupt nicht möglich. Denn, was immer diese Fische vernehmen – »blupp, blupp« – ist ihnen völlig sinn-(und in diesem Fall ist dann gemeint Mittel-)los. Dieser neue Imput (er ist ja noch nicht einmal ein Signal oder eine Information) ist nicht nur Energie vergeudend, er ist für diese neue Generation der 331 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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schallgebeutelten Fische nicht nur störend, er bietet nicht einmal einen Bezug auf oder zu irgend etwas. Wie kann es denn da gelingen, an dieser Stelle der erhofften Entstehung eines Wahrnehmungssinnes, dass wir dem Fisch unterstellen, auch er wird, sollte er einmal zufällig mutierend zur akustischen Wechselwirkung gediehen sein, sich sagen: »Moment, dieser Lärm bedeutet was. Er muss sich auch in mein bisheriges Wahrnehmen einordnen lassen, muss sich hier auf das, was ich schon kann, etwa aufs Sehen, beziehen. Wenn es da schallt, muss ich mir stets sagen, das ist ja ein neuer Wahrnehmungssinn, das ist ja ›hören‹, bisher noch nie was davon gehört. Doch was ich da neuerdings höre, sagt mir: ›Weg da, das könnte ein Feind sein, oder hin, da gibt etwas zu fressen oder gar, da gibt es einen Lebenspartner‹.« So zu reagieren ist auch dem Fisch immer nur möglich, wenn er intellektuell ein Phänomen wäre und das neue Phänomen – nämlich den Schall – zu einem Wahrnehmen an einem Wahrgenommenen macht, das er etwa durchs Sehen kennt, demnach mit ›Sinn‹ verbindet. Da wird dem Fisch viel abverlangt. Denn das Hören ist immer eingebaut in einem kategorialen Gitterwerk, ist nur in diesem Aufbau. Wenn ich höre, dann ist das Gehörte immer auch Wirkung von etwas, das auch sichtbar ist, sonst könnten wir gar nicht Beides miteinander verbinden. Die Evolution muss also voraussetzen, wenn man unter einer akustischen Sensibilität – als Mutation – etwas Sinnvolles verstehen will, dass dann zugleich diese Sensibilität von einer kategorialen Kaskade, die hier zu einer Mittel – Mittel-Kette absteigt, begleitet sein muss, sonst kann von ›hören‹ keine Rede sein. Sie sehen an dieser Stelle, dass hier die Evolutionstheorie sich zuviel zumutet. Das kann sie, so wie sie sich derzeit versteht, nicht leisten. Sagen wir es anders: Wenn ich in meinem Verständnis meiner selbst auch Kategorien anwenden muss, denn sonst verstehe ich mich nicht, dann muss dieses Anwenden der Kategorien auf der Seite des Findens meiner Selbst wiederum Fundsache sein. Und das heißt hier in diesem Beispiel: Dass ich immer Hören auf Sehen beziehe – ich höre einen Donner, ah, der Blitz, Sichtbares, war die Ursache dafür! – ist nichts anderes als mein eigenes kategoriales Ordnen auf der Seite des Findens. Deswegen verstehe ich, ohne mich zu fragen, warum das Hören immer in einem Bezug zu etwas Sichtbaren und dann auch Tastbaren steht, und jetzt erst verstehe ich, warum mit Selbstverständlichkeit Hörbares auf Sichtbares und Tastbares bezogen wird. 332 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Weil dieses kategoriale Ordnen auf der Seite des Gefundenen mir begegnet, war ich gleichsam nicht aktiv dabei, als geordnet wurde. Ich finde mich schon geordnet vor, habe die Wahrnehmungssinne schon aufeinander geordnet, ehe ich auf sie auch schließlich reflektiere. Sie sehen auch hier, der Evolutionstheorie ist dies nicht bekannt, deswegen siedelt sie dies alles als zufällig errungenen Erfolg unter der Last des Selektionsdruck an. Sie oszilliert zwischen Physik und Absicht. Aber wenn wir von dieser Höhe, auf der sich die Evolutionstheorie zu hoch angesiedelt hat, sie zwingend hinunter begleiten zu dem, wie sie eine konsistente Theorie sein oder werden kann, dann – wieder ›Zukunft der Philosophie‹ – ließe sich einmal aufzeigen, wie das Kategoriengefüge unserer selbst auf der Seite des Findens wiederum etwas ergibt, was gefunden wird, nämlich: Hören muss auf Sichtbares bezogen werden. Das macht die Katze auch, ohne jede bewusste Absicht. Sie ist Fundsache, wie ich mir – lebend – Fundsache bin. Die Evolutionstheorie vermeidet mit Recht, dass so etwas wie Zweck in der Biologie vorkommt. Aber wie? Sie muss einerseits so etwas wie eine Teleologie ansetzen, eine Zielgerichtetheit, sonst ist ihr ganzes Vorhaben nicht zu verstehen. Andererseits muss sie sagen: Nein, Zwecke dürfen nicht vorkommen, denn dann sind wir anthropomorphisierend, nein, es muss ohne Zwecke möglich sein. Die Evolutionstheorie rettet sich dadurch, dass sie sich sagt, das Ganze läuft statistisch, durch Zufall, hält aber dann dasjenige, was durch die Mutation sich zufällig durchsetzt, für einen Vorteil. Woher der Begriff ›Vorteil‹ ? Dieser Begriff – wie ebenso sein Pendant ›anpassen‹ – wird von außen, unlegitimiert eingeführt. Sie benötigt ihn, und nur mit ihm gedeiht sie. Aber sie kann sich nicht ausweisen, wie sie in einem von Statistik und Zufall regierten Ganzen systematisch berechtigt einen solchen Begriff, eben den Wertbegriff ›Vorteil‹, einführen kann. Für die Evolutionstheoretiker ist Leben vorteilhafter als Nichtleben, und das ist ja auch verständlich. Doch wie sie diesen Begriff des Vorteils in ihre Theorie hineinschmuggeln, das ist schon sehr geschickt. Es sollte ihnen stattdessen – ›Zukunft der Philosophie‹ – eine Eingangspforte zugewiesen werden. Wie kommt ›Vorteil‹ mit Erlaubnis in die Theorie hinein? Wenn das ›ich will‹ immer ein Ziel, einen Zweck setzt, dessentwegen ich will, dann ist dieser Zweck für dieses ›ich will‹ auch zugleich der Wert. Das Objekt meines Wollens ist der Wert. Wenn das Vorbereiten, das Kofferpacken, das Tanken usw. diejenigen Handlungen waren, die auf diesen Zweck ›Vortrag‹ hin gewählt und geordnet ausgeführt worden 333 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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sind, dann ist dieser Vortrag eben der Wert, der Zweck, um dessentwillen das Vorherige geschah. In jener Mittel – Mittel-Kette, die des Zweckes entbehrt, seiner aber bedarf, um als diese verständlich zu sein, ist dann auch, wenn wir für Zweck ›Wert‹ setzen, auch dieser ›Wert‹ der Kette vorzuenthalten, obwohl wir ihn voranstellen mussten, um die Kette als Mittel – Mittel-Kette reihen zu können. Dieser die Kette konstituierende ›Wert‹, der nicht sein darf und daher außerhalb jener Reihe bleiben muss, das ist das, was evolutionstheoretisch ›Vorteil‹ heißt. Gehen wir an dieser Stelle zur Verdeutlichung einen Schritt zurück. Dieser Wert (wie hier ›Vortrag‹) sei hier nicht mehr von mir bewusst ausgewählt, ich habe mich nicht zu ihm entschieden und ihn nicht selbst gesetzt oder gemacht, sondern er sei gefunden, er sei ganz ohne meine Entscheidung einfach da, sei also jene uns schon so vertraute Fundsache. Dann ist dieser Zweck als Wert, den ich ja schuf, wiederum insofern wieder weg, da ja mein Schaffen des Wertes, wenn er denn gefunden ist, nicht nur gar nicht mehr vorkommt, sondern auch ausgeschlossen sein muss. Fasse ich mein ›ich will‹ als Fundsache, dann kommt da eine, meine Zwecksetzung und damit ein Wert nicht mehr vor. Am Beispiel des Durstes: Ich trinke nicht deswegen, weil ich meinen Durst löschen will; das ist schon Interpretation. Ich trinke, weil ich Durst habe, und ich trinke solange, bis der Durst gelöscht ist. Verständlicher beim Tier: Ein Hund säuft, bis sein Begehren des Saufens gestillt ist, und dann hört er mit dem Saufen auf. Es ist nicht so, dass er einen Zweck damit verbindet. Diese Tendenz des Saufens zu entwickeln, wird als Vorteil gesehen, weil er sonst verdurstete. Verdursten soll oder »will« er aber nicht, also ist allgemein das Leben als der generelle Vorteil gesehen, nicht vom Hund, sondern vom Evolutionstheoretiker. Es kann also zwangsläufig nur dieses Prinzip selbst, das Leben, jener ›Vorteil‹ sein, denn ein Außen, ein Zweck ist ihm ja verschlossen. Die Mittel – Mittel -Kette klinkt in sich selbst wieder ein. Wie steht es hier mit uns, wenn wir jetzt fragen, was ist der Vorteil bei der Evolution bezüglich der Mutation? Wir dürfen hier nicht übersehen, dass der Zweck als Zweck nur noch ein Hilfsbegriff ist für die reine Mittel – Mittel-Kette und für nichts anderes. Das bedeutet also, dass das, was bei meinem ›ich will‹ noch als Wert auftaucht, dort nur noch als ›Vorteil‹, als – blind – vorgegebener Vorteil erscheint, der nicht im Sinne eines Zweckes der Mutation voran geht oder gar zur Verfügung steht. Und hier ist auch der ›Vorteil‹ wie der Zweck nur 334 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Hilfsbegriff. Also von daher gesehen erhält die Evolution ihren ›Vorteil‹, den sie eigentlich vom ›ich will‹ destillierend abzieht. Die Evolutionstheorie bewerkstelligt dies derzeit aber so: Sie gründet sich für die teleologische Richtung – die Mittel – MittelReihe – auf die Physik, oder – schwächer – bedient sich der Physik in Gestalt der zufälligen Mutationen und der Statistik. Sie müsste sich – wiederum ›Zukunft der Philosophie‹ – sagen: Vorsicht, physikalisch dürfen wir den Begriff des Vorteils nicht einführen, denn die Mittel – Mittel-Kette hat mit der Statistik erst einmal nichts zu tun. ›Vorteil‹ heißt in diesem Zusammenhang, einen Zweck anzusetzen in der Mittel – Mittel-Reihe, der nicht Zweck sein soll. Das mag erst einmal schwierig sein, aber da müssen wir hinkommen. Die Philosophie könnte zeigen, warum ein Vorteil auftritt, und sie könnte auch zeigen, warum die Evolutionstheorie durch ihren Begriff ›Vorteil‹, so, wie sie ihn derzeit nutzt, zirkulär arbeitet. Sie setzt ihn voraus, um mit ihm nicht nur zu zeigen, warum zu leben, zu hören von Vorteil ist, sondern auch dazu zu beweisen, warum es lebende, hörende Fische geben können muss. Damit überhebt sie sich aber. Diese blinde Mittel – Mittel-Reihe macht aber jetzt auch verständlich, warum das Evolutionsgeschehen dem Zufall obliegt. Von einem nicht »sichtbaren« ›Vorteil‹ geführt, tappt sie im Dunklen voran. Hier entspringt ihre Zufälligkeit, nicht an den Mutationen der Erbfaktoren; sie ermöglichen sie nur, ihrer bedient sie sich. So ist auch die Vorteilshäufung, da ein aus hier nicht behandelten Gründen erreichter Vorteil nicht verloren geht, sondern gespeichert und vererbt wird, nicht zielgerichtet. Auch sie geschieht blind und deshalb statistisch, aber trotz und dank des nicht vorhandenen, aber vorauszusetzenden ›Vorteils‹ oder des fehlenden Zwecks blind gerichtet. Aus der Ferne der Zeit sieht dies dann aus wie eine auf ein Ziel gerichtete Evolution. Kommen wir zum Schluss. Seit 150 Jahren gibt es die Evolutionstheorie. Wenn ich es richtig sehe, war doch Heraklit der Erste, der sagte, Leute, lasst die Götter aus der Mechanik heraus, es geht auch ohne Götter. Das Weltgeschehen regiert sich selbst ganz ohne Zutun des Olymps, das läuft schlicht mechanisch. Ein solcher Heraklit fehlt in unserer Zeit für die Biologie. Wir müssen endlich einmal dahin kommen, die Biologen unter dem zu verstehen, unter dem wir beanspruchen, sie – also uns – verstehen zu können, und das heißt soviel: Wie können sich die Biologen selbst legitim und in ihrer Wissenschaft konsistent verstehen? Mit Kant gibt es seit gut 200 Jahren 335 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Transzendentalphilosophie. Was ist seitdem geschehen? Was hat sie naturphilosophisch gesehen geleistet in Bezug auf die Physik? Meines Erachtens viel zu wenig oder nahezu gar nichts, von Kants Versuchen einmal abgesehen. Was hat sie naturphilosophisch gesehen geleistet angesichts der nahezu alles beherrschenden Evolutionstheorie? Die Antwort wissen wir. Unser gesamtes praktisches Tun und theoretisches Erkennen ist das Erschaffen und Behandeln dieser Fundsache meiner selbst, meines ›ich will‹. Nur durch das Erschaffen und Behandeln dieses meines ›ich will‹ werden wir überhaupt jeweils ein Subjekt, werden ein und derselbe und erhalten uns als ein ›ich will‹. Frei sind wir dadurch, dass wir diese unsere Fundsache selbst schaffen und weiter bestimmen, aber als Fundsache und daher als Gegebenes. Nur im und am Gegebenen (eben dem, das ehemals »das Sein« war) stellen wir uns vor. Insofern kann ich auch sagen: Unser ›ich stelle vor‹ muss mein ›ich will‹ begleiten. Dieses Gegebene zu durchleuchten auf seine transzendentale Herkunft, das wäre der Transzendentalphilosophie von Vorteil. Sie sollte dahin mutieren. Auch auf dieser Tagung ist in meiner Sicht mehr über die Transzendentalphilosophie geredet worden, als dass sie getrieben und ausgeübt wurde. Der philosophische Selektionsdruck sollte sie jagen, dies und sich selbst als die Aufgabe für die Zukunft der Philosophie zu erkennen. Dazu ein letzter Satz: Wenn die Philosophie – hier die Transzendentalphilosophie – nicht endlich auch wieder Verstehen bereitend in den Zeitgeist eingreift, dann trifft das Wort zu von Einem, der seine Karriere hier in Berlin begonnen hat, von Karl Valentin: »Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.«
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Die Zukunft der Philosophie – Schicksal oder frei und vernünftig zu gestaltende Aufgabe? Zehn Thesen Michael Gerten (Bamberg) I.
Vorbemerkungen zur Einordnung des Themas
Der folgende Beitrag zum Thema »Die Zukunft der Philosophie – Die Philosophie der Zukunft« 1 entstammt nicht dem Bereich der reinen, sondern dem der angewandten Philosophie: Thematisiert wird die geschichtliche Entwicklung des realen Philosophierens in theoretischer und praktischer Perspektive. Immanentes Ziel des realen Philosophierens ist Erkenntnis, genauer: grundlegende, universal orientierte, alle weitere Erkenntnis fundierende, seit alters her eben ›philosophisch‹ genannte Erkenntnis. Sofern Stagnation ja in sich selbst keine Geschichte kennt, kann auch die relevante Geschichte der philosophischen Erkenntnis nur eine Geschichte von Erkenntnisfortschritten und -rückschritten sein. Und weiter: Sofern man nun bezüglich jeder Erkenntnis zwar irren, aber niemals für sich selbst irren wollen kann, ist das immanente, verborgene oder offene Ziel allen Philosophierens und damit aller Entwicklung der Philosophie philosophischer Erkenntnisfortschritt und Vermeidung von Stillstand oder gar Rückschritt. Dieser Fortschritt der real existierenden Philosophie, so die Grundüberlegung meiner folgenden Ausführungen, sollte in Zukunft nicht länger dem Schicksal, einem bloßen Ungefähr, einem instinktiven Vernunftgebrauch, bestenfalls einer ›unsichtbaren Hand‹ überlassen werden. Sofern Philosophie die Grundlagenerkenntnis für alle weiteren Wissenschaften und ihre jeweiligen Geltungs- und Wirklichkeitsbereiche (wie etwa Natur, Recht, Moral, Religion, um nur die wichtigsten zu nennen) zu liefern hat, ist es an der Zeit, ihn als frei und vernünftig zu gestaltende Aufgabe zu verstehen und anzugehen. Genauer formuliert: Der zukünftige Fortschritt der PhilosoSo das Titelthema einer Tagung, die im Dezember 2008 an der Berliner TU abgehalten wurde und auf die mein Beitrag wie die Konzeption des vorliegenden Bandes zurückgehen.
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phie soll selbst zum ausdrücklichen Gegenstand der Reflexion gemacht werden mit dem Ziel, diesen Fortschritt in gemeinsamer Anstrengung, aus freier Einsicht und nach vernünftigen Erkenntnissen reiner und angewandter Philosophie zu fördern und mitgestalten zu helfen. Nach außen hin muss eine gemeinsame Anstrengung für den zukünftigen Fortschritt der Philosophie notwendig als Streit erscheinen. Dieser philosophische Streit soll aber durch sein Ziel (Vernunfterkenntnis) und sein Mittel (freier argumentativer Vernunftgebrauch) in dem positiven Verständnis aufgefasst werden, das er verdient, um ihm so den Schein von Selbstzweckhaftigkeit oder gar von persönlicher Feindschaft zu nehmen, der ihm zwar oft anhaften mag, seinem Wesen und seiner Aufgabe aber eben nicht gerecht werden kann. 2 Im Folgenden versuche ich eine solche ausdrückliche Reflexion auf die Möglichkeit eines freien und vernünftigen Fortschritts der Philosophie, beschränke mich aber weitgehend auf die äußeren, d. h. gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen. Nur an Punkten, wo es mir systematisch unvermeidlich erscheint, ergreife ich selbst Partei in diesem Streit und gehe auch auf innerphilosophische Prinzipien dieses philosophischen Fortschritts ein, sofern sie in Begriff und systematischer Form der reinen Philosophie selbst liegen (die natürlich keineswegs allgemein anerkannt, sondern selbst strittig sind!). Der historische Ausgangspunkt meiner als nicht im harten Sinne ›thetisch‹, sondern als Denkanstöße gedachten Thesen ist durch drei Fakten der Kultur bestimmt, der ich selbst angehöre und die in Anlehnung an den gewöhnlichen Sprachgebrauch im Folgenden die ›westliche‹ genannt sei: Erstens leben wir in zumindest prinzipiell freiheitlichen und rechtsstaatlichen Gesellschaften, die in Ansichten und Verhältnissen, über die (noch) keine Einigkeit erzielt worden ist, pluralistisch verfasst sind. Zweitens ist in unserer Kultur über den richtigen philosophischen Grundansatz, das wahre System der Philosophie noch keine Einigkeit erzielt worden; weder unter Fachphilosophen, noch (weil davon abhängig!) durch die Gesellschaft, bzw. den gelehrten Teil derVgl. dazu auch vom Verf.: »Bedeutung und innere Struktur des Streits um die Erste Philosophie«. In: Christian Schäfer/Uwe Voigt (Hg.): Memoria – Intellectus – Voluntas. Festschrift für Erwin Schadel. Frankfurt a. M. 2011, S. 119–146.
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selben. Deshalb herrscht auch innerhalb der real existierenden Philosophie unseres Kulturkreises ein starker Pluralismus vor (der sich folgerichtig und zunehmend auch in einem Pluralismus von – immer auch philosophisch beeinflussten – Weltanschauungen und Religionen spiegelt). Drittens ist dieser Pluralismus von Perspektiven in der westlichen Philosophie doch selbst wieder in globaler Hinsicht begrenzt; nicht als ob es keine Wechselwirkung mit anderen Kulturkreisen gegeben hätte (das war vielmehr immer der Fall, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß), aber doch insofern, als aller Globalisierung zum Trotz unsere Tradition der Philosophie im akademischen Betrieb noch immer weitgehend mit sich selbst beschäftigt ist. Was den letzten Punkt betrifft, so ist eine solche Begrenztheit für jede philosophische Perspektive anfänglich noch unvermeidlich, die Ignoranz entsprechend verzeihlich, wo sie auf einem unverschuldeten Informationsmangel beruht. Diese Unwissenheit ist aber in der globalisierten Welt des Informationszeitalters dabei, ihre Unschuld zu verlieren. Sofern bessere Kenntnis möglich ist, die Ignoranz trotzdem aufrechterhalten wird, verwandelt sie sich in eine peinliche, sogar gefährliche Borniertheit. Die Globalisierung ist nun zwar selbst keineswegs ein neuer Gedanke. Aber unbestreitbar neu sind ihre explizite Reflexion und immense Beschleunigung in unserem gegenwärtigen Zeitalter. Dies wird auch in der Philosophie zu denselben Phänomenen führen, die in anderen, beweglicheren Sphären unserer Kultur (etwa Wirtschaft, Technik, Musik, Mode) schon prägend sind: Multikulturalität (verschiedene Kulturen in der gleichen Gesellschaft), Interkulturalität (Kontakt und Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kulturkreisen), keimende Transkulturalität (Verwischung der Grenzen von Kulturkreisen, beginnend mit der Erkenntnis und dem Verständnis anderer Kulturen und dem Hervortreten von bislang verborgenen Gemeinsamkeiten). Inwieweit eine vollkommene, endgültige Transkulturalität auf allen kulturellen Ebenen möglich oder auch nur wünschbar ist, stellt selbst eine eminent philosophische und wiederum strittige Frage dar, weshalb sie in diesem Beitrag bewusst offengehalten wird. Sicherlich wächst das Bewusstsein um die Interkulturalitätsproblematik gerade auch für Einheit und Verschiedenheit der philosophischen Perspektiven selbst; aber Formen der Institutionalisierung interkulturellen Philosophierens sind zweifellos ebenso wichtig, wie leider auch unterentwickelt. Vor der Perspektive des interkulturellen Philoso339 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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phierens muss der Streit um die richtige Philosophie zu einem globalen Phänomen werden – der wohlzuverstehende Streit, der kein trennender Kampf zwischen Kulturen, sondern gemeinsamer Kampf um Kultur, philosophisch: um die Grundlagen einer zukünftigen Weltkultur in einem vernünftigen Verhältnis von Einheit und Vielheit sein soll. Im innerkulturellen wie interkulturellen dialogischen Streit um den Erkenntnisfortschritt auf ›die Philosophie‹ im Sinne von ›die richtige, wahre Philosophie‹ hin darf Toleranz nicht mit Billigung, Missbilligung nicht mit Intoleranz verwechselt werden. Es kann nicht darum gehen, dass verschiedene, einander widersprechende philosophische Ansätze sich als solche gegenseitig billigen. Niemand kann zwei sich widersprechende Behauptungen, Theorien, philosophische Systemansätze gleichermaßen hinsichtlich ihrer Geltung, ihrer Wahrheit anerkennen. In dem Moment, wo ich einer anderen Ansicht recht gebe, sie in ihrem (übrigens unvermeidlichen) Geltungsanspruch anerkenne, d. h. billige, ist sie gar nicht mehr eine andere, sondern meine eigene Ansicht. Wohl aber muss die Gesellschaft den Philosophierenden und diese sich untereinander im Sinne der Toleranz das äußere Recht zugestehen, im Rahmen des rechtlich Legitimen ihre jeweilige philosophische Ansicht überhaupt erst einmal äußern, in den dialogischen Streit einbringen zu können. Genau betrachtet macht ja die Forderung nach Toleranz anderer Meinungsäußerungen erst da einen Sinn, wo ich eine andere Meinung zwar verstehe, aber eben (noch?) nicht billige, nicht teile. Von diesem Verhältnis zwischen Billigung und Toleranz her betrachtet, müssen die äußeren Bedingungen des vernünftigen Fortschritts der Philosophie in freiheitlichen Gesellschaften so beschaffen sein bzw. gestaltet werden, dass dieser Fortschritt nicht der Willkür in ihren beiden freiheitsfeindlichen Fehlformen zum Opfer fällt: der Willkür prinzipienloser Beliebigkeit (die in ihrer Indifferenz deswegen nichts anderes missbilligt, weil ihr letztlich alles gleich-gültig ist) und der Willkür eines nicht legitimierbaren Zwanges im Sinne einer institutionellen Anordnung einer bestimmten Philosophie (bzw. Weltanschauung oder auch Religion) durch äußere Macht (die nichts anderes toleriert, weil es ihr gar nicht um Geltung und Wahrheit, sondern eben nur um die Durchsetzung der eigenen Position geht). Äußere Freiheit führt zunächst zu einem Pluralismus, auch und gerade der philosophischen Positionen. Tatsächlich ist die erscheinende Philosophie gegenwärtig da, wo sie sich äußerlich frei 340 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Die Zukunft der Philosophie
entfalten kann, also unter den gesellschaftlichen Bedingungen des sogenannten ›Pluralismus‹, von einer historisch beispiellosen Mannigfaltigkeit und Partikularität geprägt. Zugleich sind rechtlich-politische Freiheit der Meinungsäußerung und der Forschung äußere Bedingungen allen zukünftigen Philosophierens, auch des philosophischen Fortschritts, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden sollte (eine Forderung, die selbst wieder einer rechtsphilosophisch fundierten Begründung bedürftig und fähig ist). Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich persönlich wünsche mir zwar (wie insgeheim alle Philosophen, die ernsthaft einen Systemansatz verfolgen) von allen anderen Philosophierenden eine freie und vernünftige Entscheidung für den philosophischen Ansatz, den ich selbst für den richtigen, vernunftgemäßen und damit universalen und allgemeingültigen halte – den transzendentalphilosophischen nämlich. Doch gibt es, von einem vorphilosophischen Standpunkt des gesellschaftlichen Pluralismus’ aus betrachtet, keinen vernünftigen Grund, warum in einer freiheitlichen gesellschaftlichinstitutionellen Gestaltung der äußeren Fortschrittsbedingungen der Philosophie ausgerechnet auf einen bestimmten philosophischen Ansatz mehr institutionelle Rücksicht genommen werden sollte als auf alle jeweils anderen. Die Gestalter der äußeren Bedingungen des Fortschritts der Philosophie sind eben nicht in erster Linie Philosophen oder gar Transzendentalphilosophen. Um eine vernünftige Entscheidung treffen zu können, welche Philosophie, welcher philosophische Grundansatz die bzw. der prinzipiell richtige ist und deshalb weitere philosophische wie außerphilosophische Fortschritte verspricht, müssten die politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen selbst schon am vernünftigen Ende des philosophischen Streits über den richtigen Grundansatz, über das wahre System der Philosophie stehen – in Platons Worten: die Könige Philosophen geworden sein. So weit sind wir aber nicht. Und selbst wenn, müssten die heutigen ›Philosophenkönige‹ noch etwas berücksichtigen, was zu Platons aristokratischen Zeiten übergangen werden konnte: sie müssten für ihre Entscheidung die Legitimation demokratischer Mehrheitsentscheidung erhalten, was voraussetzte, dass das Volk selbst auch schon mehrheitlich philosophisch durchgebildet wäre (womit der philosophische Fortschritt allerdings schon sein Ziel im Wesentlichen erreicht, der Streit ein positives Resultat ergeben hätte). Ich formuliere meine weiteren Überlegungen zur Zukunft der Philosophie in Form von zehn Thesen, denen ich jeweils kurze Erläu341 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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terungen beifüge. Wenn ich dabei einen ›inneren‹, qualitativen Fortschritt der Philosophie von den äußeren sozialen und institutionellen Bedingungen für einen solchen Fortschritt der Philosophie unterscheide und mich über Beides äußere, dann mit folgendem Anspruch: Idee und Grundansatz der Philosophie, Sinn und Möglichkeit des qualitativen Fortschritts liegen wie dieser selbst innerhalb des philosophischen Streits, sie bilden seinen Gehalt und sind deswegen unter Philosophen noch strittig. Hier bilden meine diesbezüglichen Aussagen also von außen betrachtet nur eine von vielen Parteien in diesem Streit. Dagegen liegen meine Ausführungen über die äußeren Bedingungen für diesen Fortschritt vor und außerhalb einer Entscheidung über den richtigen philosophischen Ansatz. Als äußere Bedingungen des Streites selbst sind sie unabhängig von einer besonderen Partei oder Position in demselben und beanspruchen deshalb auch unabhängig von einer solchen verständlich zu sein.
II.
Zehn Thesen
1. Eine Themenstellung wie »Die Philosophie der Zukunft – die Zukunft der Philosophie« macht, sofern sie mehr als bloße Faktenprognosen anzielt, nur Sinn, wenn sie mit der Grundfrage der qualitativen Veränderung und Weiterentwicklung der Philosophie, d. h. mit der Frage nach dem philosophischen Fortschritt und seinen inneren und äußeren Möglichkeitsbedingungen verbunden wird. Die Frage nach der zukünftigen Philosophie kann quantitativ verstanden werden: Wird die Philosophie, sei es als individuelle Denkanstrengung, sei es als kollektive Institution, in Zukunft einen Boom oder die Marginalisierung, gar den Tod erleiden? Was die bloße quantitative Existenz institutioneller Philosophie in unserem Teil der Zivilisation angeht, braucht man sich mittelfristig wohl keine Gedanken zu machen: Trotz immer wieder zu beobachtender Kürzungen und Marginalisierungsversuchen wird sie kaum ganz aus der Wissenschaftslandschaft oder gar der Geisteskultur verschwinden. Einen wirklichen Fortschritt, eine substantielle Zukunft in wissenschaftlicher wie gesamtgesellschaftlicher Hinsicht wird die Philosophie allerdings nur haben, bzw. zu Recht haben, wenn sie auch qualitativ fortschreitet. Die Grundfrage lautet also: Welches sind die Bedingungen der Möglichkeit des qualitativen, ›innerphilosophischen‹ Fortschrittes der Philosophie? 342 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Die Zukunft der Philosophie
2. Ausgangspunkt dieser Frage nach dem qualitativen Fortschritt der Philosophie ist die Unterscheidung von einheitlichem, idealem Wesen und vielheitlichem, real erscheinendem Dasein der Philosophie. (Die folgende Bestimmung des Philosophiebegriffs soll an dieser Stelle nicht näher begründet werden. Sie ist selbst noch strittig.) Das Wesen, die Idee der Philosophie besteht in einem einheitlichen logisch-systematischen Prinzipiengefüge von durchgehend notwendiger Bestimmtheit, Einheit und Totalität. Wegen seiner notwendigen, objektiven, allgemeinen und insofern rein-rationalen Gültigkeit ist dieses ideale System der Philosophie zeitlich und räumlich unabhängig und unveränderlich und daher keines Fortschritts fähig und bedürftig. Ihr reales, zeitliches Dasein hat die Philosophie in der Form einer Pluralität von auftretenden ›Philosophien‹, von mehr oder weniger verwandten Versuchen, die Idee und das Wesen der Philosophie in der Erkenntnis mehr oder weniger systematisch zu entfalten. Nur dieser reale philosophische Erkenntnisprozess, die Arbeit an Idee, Grundansatz und Systementfaltung der Philosophie, ist eines Fortschrittes fähig. Das ist die Auffassung von Philosophie, wie sie – in klassischer Weise von Leibniz – unter dem Begriff der philosophia perennis konzipiert wurde: Das System der Vernunftwahrheiten verändert sich nicht, wohl aber unsere Auffassung und Sichtweise derselben. Die von einem innersystematisch zu fundierenden Grundansatz aus systematisch fortschreitende Erkenntnis des reinen Bereichs dieses Prinzipiensystems bis hin zu den Prinzipien einer angewandten Philosophie ergibt sich durch die kritische Methode der durchgehenden, strikten, transzendentalen Geltungsreflexion (wie sie klassisch Kant und Fichte konzipiert haben). Mit dieser im Wissen durch das Subjekt des Wissens frei und doch gesetzmäßig zu vollziehenden Reflexion auf Wesen, Prinzipien und Gesetze, Möglichkeiten und Grenzen des Wissens in theoretischer wie praktischer Hinsicht, letztlich also der Vernunft selbst, ergibt sich zugleich auch die Differenzierung des einen Wissens, der einen Vernunft in verschiedene Wissens- bzw. Vernunftbereiche. Als je zeitlicher endlicher Realisierungsversuch der Idee der Philosophie steht das reale Philosophieren immer in der Gefahr, dass es in falschen, verkürzten Totalitäten erstarrt, oder aber sich in Mannigfaltigkeit (Vielheit der Positionen) und Partikularität (Verlust der Einheitsperspektive des Wissens) zerstreut, dass sich ihm also Zu343 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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fälliges, gar Falsches als überzeitliche, logische Notwendigkeit darstellt, oder Zeitbedingtes, Zufälliges mit Zeitüberhobenem, Notwendigem mischen. Pluralität und Partikularität des Philosophierens unter gesellschaftlichen Verhältnissen, die als außerphilosophische Bedingungen im Sinne eines Fortschritts der Freiheit und des Rechts zu begrüßen sind, dürfen nicht, in Verwechslung von Mittel und Zweck, von Erscheinung und Wesen der Philosophie, zur innerphilosophischen Notwendigkeit oder gar methodischen Tugend erhoben werden. Mannigfaltigkeit und Partikularität der philosophischen Meinungen sind allenfalls ein unvermeidliches Durchgangsstadium, aber nicht das Ziel des Philosophierens. In der Vielheit der auftretenden Positionen ist die Geschichte des Philosophierens sowohl Erkenntnis- wie Irrtumsgeschichte. Nur sofern Philosophierende tatsächlich aus den Erkenntnissen und Irrtümern ihrer Vorgänger oder Zeitgenossen lernen, ist die Philosophiegeschichte aufs Ganze gesehen eine Fortschrittsgeschichte. Dabei sind Retardierungen und Rückschritte des philosophischen Erkenntnisniveaus keineswegs auszuschließen (was natürlich nur für Arbeiter am Fortschritt der Philosophie einen Grund zum Leiden an der faktischen Philosophie abgeben kann). 3. In ihrem äußeren Auftreten als Philosophie-Versuch mit dem Anspruch, anderen, konkurrierenden Philosophie-Versuchen überlegen zu sein, sind alle philosophischen Grundansätze oder Standpunkte gleich. Über deren Geltung und damit die Berechtigung ihrer jeweiligen Ansprüche kann nur innerphilosophisch befunden werden. Jede Vertreterin, jeder Vertreter eines real auftretenden Philosophie-Ansatzes (dies gilt auch für skeptizistische oder relativistische) erhebt entweder ausdrücklich, oder zumindest durch den performativen Vollzug des Lehrens und Publizierens den Anspruch, mit dem eigenen Philosophie-Versuch und dem ihm eigentümlichen Ansatz die Idee der Philosophie adäquater zu treffen und darzustellen, als andere Ansätze – sonst hätte sie bzw. er ja eben einen anderen oder gar keinen gewählt, gelehrt, publiziert. Äußerlich und als Erscheinung betrachtet, als eine philosophische Position unter anderen auftretend und auf dem Markt der Meinungen konkurrierend sind also alle Philosophie-Versuche gleich. Über die Berechtigung des jeweiligen Geltungsanspruchs und damit die argumentative Überlegenheit oder Unterlegenheit einer Position ist nur innerphilosophisch durch streng rationale Argumentation in Form strikter Geltungsreflexion zu befinden. 344 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
Die Zukunft der Philosophie
4. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Fortschritts der Philosophie erlaubt zwei Möglichkeiten der Beantwortung: der Fortschritt der Philosophie ist ein quasi-natürlicher Prozess, für uns also Schicksal, oder aber er ist durch freie Eingriffe positiv beeinflussbar, vernünftig gestaltbar. Selbst wenn die Fortschrittsgeschichte der Philosophie von freien Vernunftwesen getragen wird, erscheint in der ersten Antwortmöglichkeit der philosophische Progress in seiner Ganzheit als ein quasi-naturhaftes Geschehen, als zufälliges oder von ›unsichtbarer Hand‹ geleitetes Schicksal. Daraus ergäbe sich konsequent die Forderung nach einem Laissez-faire, da jeder reflexive Eingriff in diesen Prozess als Störung seiner natürlichen Entwicklung, als Hemmung seines allmählichen Selbst-Fortschreitens erscheinen muss. Im Gegensatz dazu geht die zweite Möglichkeit davon aus, dass der jeweils zukünftige Fortschritt der Philosophie nicht völlig dem historischen Zufall oder seinem natürlichen Schicksal überlassen werden sollte, sondern dass es die Möglichkeit einer der quasi-natürlichen Entwicklung überlegenen vernünftigen Steuerung desselben gibt. Damit stellt sich die Aufgabe, die Art und Möglichkeit eines den qualitativen Fortschritt der Philosophie befördernden wie kontrollierenden Ordnens darzutun. 5. Die Frage nach dem Fortschritt der Philosophie hat vom außerphilosophischen Standpunkt des öffentlichen oder privaten lebensweltlichen Interesses aus gesehen eine andere Bedeutung als aus der rein systematischen, innerphilosophischen Perspektive. Vom außerphilosophischen Standpunkt des lebensweltlichen Interesses aus wird an die Philosophie in der Regel die Forderung eines Nutzens, einer bestimmten Dienstleistung gestellt, etwa rechtliche, politische, kulturelle, moralische, wissenschaftliche Aufklärung und Orientierungshilfe zu bieten. Nur hinsichtlich dieser praktischen Konsequenzen der Philosophie können im öffentlichen Urteil Zweck, Zustand und Fortschritt der Philosophie gemessen und kontrolliert werden. Die Erfüllung der berechtigten öffentlichen Erwartungen kann die Philosophie nur in der Form einer angemessenen Popularisierung bzw. einer angewandten Philosophie leisten. Hierin besteht die exoterische Seite der Philosophie. Solche Formen der Philosophie setzen aber den eigentlichen inneren Kern der reinen Philosophie, die streng systematische Erkenntnis des allgemeinen erstphilosophischen und dann auch des besonderen bereichsphilosophischen Prinzipiengefüges voraus. Über diesen 345 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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innerphilosophischen Kern kann vom außerphilosophischen Standpunkt aus kein Urteil gefällt werden, denn er ist für ihn gar nicht vorhanden. 3 Darin besteht die esoterische Seite der Philosophie. 4 Diese innere Systemform der Philosophie, ihre Grundidee, ihr Grundansatz, ist der ausdrückliche oder verborgene Gegenstand sowohl des perennierenden Streits der Philosophie, als auch ihres eigentlichen, qualitativen und substantiellen Fortschritts. In und mit dem Prinzipiensystem der Philosophie werden sowohl die Ordnung des Denkens wie die Ordnung des Strebens und Handelns theoretisch fundiert und entfaltet. So bestimmt und begründet die allgemeine Wissens- oder Vernunftlehre, auch philosophische Grundlehre, Fundamentalphilosophie oder Erste Philosophie (philosophia prima) genannt, zunächst sich selbst, dann auch besondere abgeleitete philosophische Bereichslehren etwa der Natur, des Rechts, der Moral, der Religion, der Kunst, der Geschichte usw. Diese rein-rationalen Bereichsphilosophien bilden wiederum die Grundlagen der einzelwissenschaftlichen empirisch-rationalen Weiterbestimmung und Anwendung in den einzelnen Erkenntnis- und Wirklichkeitsbereichen. Erst von dieser existentiellen wie wissenschaftlichen Grundlegungsfunktion her ergibt sich die wahre Bedeutung der Philosophie selbst, erst recht ihres Fortschrittes und der äußeren Beförderung desselben. Von dem philosophischen Grundlagenstreit und seinen Ergebnissen hängt letztlich auch die Qualität der lebenspraktischen Dienstleistung der populären und der angewandten Philosophie ab.5 Vgl. dazu auch vom Verfasser: »Bürgerliche Aufklärung und streng systematische Philosophie. Zum Verhältnis von Leben und Philosophie bei K. L. Reinhold.« In: George di Giovanni (Ed.): Karl Leonhard Reinhold and the Enlightenment. Dordrecht 2010. S. 65–85. 4 Natürlich meine ich hier: (positiv) esoterisch nur in Relation zum exoterischen Teil der Philosophie, als über diesen öffentlichen, populären Gebrauch der Vernunft hinausgehend, nicht (negativ) esoterisch im Sinne von über den Gebrauch der Vernunft schlechthin hinausgehend. 5 Bedenklich, weil fraglos ein Rückschritt, ist das offensichtlich stark schwindende Bewusstsein für diese Zusammenhänge innerhalb der Philosophenzunft selbst. Im Sinne einer Bestandsaufnahme wäre einmal zu untersuchen, welcher (meist allenfalls implizit bewusste) Philosophiebegriff den Binnenstrukturen und philosophischen Disziplinenkanons philosophischer Fakultäten von Universitäten zugrundeliegt. Dass schon die übliche Grundeinteilung, die in (bloß) theoretische und (bloß) praktische Philosophie, unvollständig ist, weil ihr eigentlich eine Disziplin vorangestellt werden muss, die das gemeinsame Fundament beider Teildisziplinen erörtert (wie immer man diese auch nennen will: Philosophie überhaupt, Fundamentalphilosophie, Erste Philosophie, Philosophische Grundlehre …), scheint gar nicht bedacht zu werden, drückt 3
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Die Zukunft der Philosophie
6. Es ist nicht auszuschließen, dass der Fortschritt im entscheidenden Streit um Grundidee, Grundansatz und Systemgestalt der reinen Philosophie durch den Geniestreich eines einzelnen Philosophen erbracht wird. Erfolgversprechender erscheint jedoch ein vergleichender Systemstreit. Auf den Geniestreich einer einzelnen, neuen, die Grundsatzproblematik lösenden Philosophie zu warten, hieße, den philosophischen Fortschritt doch wieder dem historischen Geschick auszuliefern. Zudem wäre damit für den allgemeinen Fortschritt der Philosophie nichts gewonnen: Diese neue Philosophie wäre wiederum als erscheinende nur eine weitere Position auf dem unübersehbaren Markt der Konkurrenten um den richtigen Ansatz. Darüber hinaus ist gar nicht auszuschließen, dass auf diesem Markt der entscheidende Grundansatz schon aufgetreten, nur noch nicht in richtiger und darüber hinaus auch wirksamer Weise rezipiert worden ist. Statt auf einen neuen, dann zunächst aber notwendig monologisch wirkenden Lösungsvorschlag zu warten, dessen Rezeptionsund Wirkungsgeschichte wiederum den zufälligen Bedingungen des philosophischen Marktes unterliegen würde, wäre es sinnvoller, in einen allgemeinen, dialogischen und vergleichenden Systemstreit zu treten und damit eine grundlegende positive Funktion des Marktes zu erfüllen: den Wettbewerb. Dieser Systemvergleich hätte zunächst die Aufgabe einer Typologie und Topologie wirklicher oder möglicher philosophischer Grundansätze und Systemgestalten im weitesten Sinne, müsste also auch solche einbeziehen, die sich möglicherweise (noch?) nicht im Sinne einer primär begrifflich-diskursiven Form der Darstellung verstehen (lassen). Es wäre systematisch zu untersuchen, inwieweit philosophische Grundansätze sich tatsächlich ausschließen bzw. sich ineinander integrieren, einander unter- und überordnen lassen. 6 sich jedenfalls nicht in der Disziplineneinteilung aus. Entsprechend dürften Lehrveranstaltungen, die ausdrücklich die Frage nach dem oder den philosophischen Grundprinzipien schlechthin thematisieren und behandeln, weitgehend die Ausnahme sein. 6 Die Bezeichnungen von philosophischen Grundpositionen sind, ohne weiteren tieferen Streit um ihr jeweiliges Verständnis, nur Schlagworte. Einen Eindruck von der Vielfalt und Ungeordnetheit mag die folgende, zunächst kaum mehr als Assoziationen zulassende Aufzählung geben: Idealismus, Realismus, Spiritualismus, Materialismus, Absolutismus, Relativismus, Skeptizismus, Nihilismus, Pragmatismus, Mystizismus, Nominalismus, Rationalismus, Empirismus, Theismus, Pantheismus, Atheismus, Dogmatismus, Kritizismus, Transzendentalismus, Subjektivismus, Objektivismus, Positivismus, Apriorismus, Naturalismus, Supranaturalismus, Monismus, Pluralis-
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7. Der philosophische Streit, wenn er systematisch geführt wird, treibt aus seiner inneren Logik heraus immer tiefer auf die Fundamente der Philosophie und damit auch der Prinzipien allen Wissens, Argumentierens, Streitens. Ein rationaler, systematischer Streit folgt allein dem, was man die innere Logik des Streites nennen kann. Diese besagt: Ebenso wenig wie etwa einen totalen Irrtum, kann es einen totalen Streit geben, denn sonst herrschte eben kein Streit, sondern Kommunikationslosigkeit. Jeder Irrtum setzt eine Erkenntnis, jeder Streit einen gemeinsamen Boden voraus, auf dem er ausgefochten wird. In logischer Hinsicht sind Unterscheidungs- und Einheitsgrund identisch (Beispiel: Rot und Blau unterscheiden sich darin, verschiedene Farben zu sein; sie kommen aber genau darin auch überein: eben Farbe zu sein). Je tiefer, d. h. grundsätzlicher man nun im philosophischen Streit geht, desto deutlicher und grundsätzlicher gerät man an die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der streitenden Positionen und desto überschaubarer müsste die Vielfalt der philosophischen Grundpositionen werden. Mit dem ausdrücklichen Streit der Philosophen und philosophischen Positionen um ihre letzten Gründe und Annahmen würde der philosophische Fortschritt endlich nicht mehr dem historischen Zufall überlassen, sondern mit den Mitteln der Vernunft selbst vorangetrieben. (Das ist der Kerngedanke meiner Ausführungen!) 8. Die äußere Freiheit ist nur notwendige, nicht hinreichende Bedingung für den philosophischen Fortschritt. Der entscheidende Motor für diesen ist vielmehr die ausdrückliche inner(fach)philosophische und außer(fach)philosophische Intensivierung und Förderung des philosophischen Streits um Idee, Grundansatz und Systemgestalt der Philosophie. Zwar kann der Grundlagenstreit in sachlicher Hinsicht nur innere Angelegenheit der Fachphilosophie selbst sein. Dagegen muss es nicht auch allein die innere Angelegenheit der Philosophenzunft sein, diesen Streit in Gang zu setzen und zu fördern. Bisher wurde der Streit um Idee, Grundansatz und Systemgestalt der Philosophie eher mus, Traditionalismus, Modernismus, Essentialismus, Existentialismus. Und für die gibt es dann wiederum Spielarten: subjektiver, objektiver, absoluter, kritischer, transzendentaler, dogmatischer Idealismus; empirischer, reiner, rationaler, absoluter, kritischer, transzendentaler, dogmatischer Realismus usw. Spätestens wenn dann noch die Bezeichnung ›neu‹ hinzukommt (Neo-Idealismus, Neopositivismus, ›neuer‹ Realismus usw.), kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass es sich dabei oft nur um alten Wein in neuen Schläuchen handeln könnte.
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sporadisch, von einzelnen systematisch ernsthaften Philosophen geführt, war gar von aufsteigenden und abebbenden Stimmungen und Moden abhängig. Die Allgemeinheit, repräsentiert vor allem durch die für Wissenschaft und Bildung zuständige Politik und die öffentlichen Medien, kann kein Interesse an philosophischem Stillstand, an bequemem Burgfrieden bis hin zur völligen gegenseitigen Gleichgültigkeit zwischen philosophischen Positionen, Systemansätzen, Parteiungen und Schulen haben. Es liegt im innerphilosophischen wie im außerphilosophischen öffentlichen Interesse, bezüglich dieses Grundsatzstreites nicht nur auf die immanente Dynamik institutionellen Philosophierens zu warten (das in seinem gegenwärtigen Zustand einen nicht gerade fruchtbaren Nährboden für einen solchen Streit darzustellen scheint). Der Streit kann und muss öffentlich gefordert, gefördert, intensiviert und institutionalisiert werden – durch Ausschreibungen von Preisen, Projekten, Definition von Lehrstühlen bis hin zur Errichtung von Akademien oder festen Forschungseinrichtungen, die sich ausdrücklich mit Fragen des philosophischen Grundansatzes, des philosophischen Systemvergleichs und deren jeweiligen anwendungsbezogenen Konsequenzen beschäftigen. (Das ist die Kernforderung meiner Ausführungen!). 9. Die Forderung und Förderung eines philosophischen Grundlagenstreits ist keine Bedrohung der akademischen Freiheit, sie richten sich primär nicht gegen einen bestimmten philosophischen Ansatz. Im Sinne des innerphilosophischen Wettbewerbsgedankens bedeutet sie vielmehr eine Chance für den inneren Fortschritt wie die außerphilosophische Anerkennung der Philosophie. Die Förderung des Grundsatzstreits, die öffentlichen Erwartungen, die sich daran knüpfen werden, befreien die herrschende Philosophie von der durch ihre derzeitige Institutionalisierung ständig drohenden Gefahr des philosophischen Scheinfriedens, der gegenseitigen Ignoranz, des Ausruhens an philosophischen Oberflächen oder auf exotischen philosophischen Inseln, der Partikularisierung und der Verzettelung in Einzeldebatten. Sie entlasten vom Druck, sich auf dem ›philosophischen Markt‹ durch ständig neue, ›eigene‹ Systementwürfe persönlich profilieren zu müssen. Darüber hinaus ist ein solcher Grundsatzstreit institutionell natürlich nicht etwa als Ersatz oder bloßer Konkurrent, sondern zunächst nur als Ergänzung und Herausforderung für das philosophische Alltagsgeschäft aufzufassen und zu konzipieren. Trotz seiner (allein durch die Tat erst zu bewährenden) fundamentalen innerphilosophischen Bedeutung und seiner 349 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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angewandt wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Langzeitwirkungen wäre er äußerlich-institutionell betrachtet nur ein weiterer Teil der gesamten philosophischen Bemühungen – ein notwendiger, gegenwärtig aber leider weithin fehlender Teil. 7 10. Die Forderung und Förderung eines philosophischen Grundlagenstreits ist auch keine Bedrohung der kulturellen Identität, Souveränität und Vielfalt von Völkern, Nationen oder Kultursphären. Seine notwendig kulturübergreifende Perspektive impliziert vielmehr die institutionelle Öffnung der realen, partikulären Philosophiekulturen und ihrer Geschichten füreinander und die geistige Auseinandersetzung miteinander. Diese Öffnung und gegenseitige Rezeption unter dem vorrangigen philosophischen Interesse an den jeweiligen kulturellen Grundlagen und Grundprinzipien gereichte zum gegenseitigen Vorteil und müsste als Beitrag zur Genese einer globalen Kultur in der Ausgewogenheit von kultureller Einheit und Vielheit verstanden werden. Imperialismus und Kolonialismus haben gezeigt (und zeigen es auch in ihren neuen Formen wieder), dass es sich bei der Idee, an irgendeinem partikulären kulturellen Wesen könne die Welt genesen, um einen gefährlichen Wahn handelt. Zwar mag es einen vorläufigen Sinn haben, dass partikuläre philosophische Grundlagenstreits (oder auch geistige Auseinandersetzungen vorphilosophischer, etwa weltanschaulicher oder religiöser Art) zunächst innerhalb begrenzter Kultursphären und ihrer jeweiligen historischen Traditionen ausgetragen werden. Aber dort kann ein philosophischer Streit keinesfalls abgeschlossen und dann einfach in andere Kulturen exportiert oder von anderen Kulturen, etwa durch unkritische Adaption oder gar Imitation, importiert werden. Der Streit muss letztlich globaliEs gibt Institute, Kollegs, Stiftungen für Grundlagenforschung, die nach wegweisenden Naturwissenschaftlern, wie etwa Max Planck oder Werner Heisenberg, oder Sozialwissenschaftlern, wie etwa Max Weber, benannt sind. Noch grundlegender als die physikalische und die sozial- oder kulturwissenschaftliche ist aber die philosophische Grundlagenforschung. Eine übergreifende spezifische Institution dafür fehlt jedoch. Nun ist die Bedeutung Kants für Grundsatzfragen in der Philosophie überhaupt wie in ihren einzelnen Disziplinen, etwa Natur-, Rechts-, Moral-, Religionsphilosophie und Ästhetik, für Anhänger wie für Gegner unstrittig. Man müsste also kein Kantianer sein, um sich etwa mit der Idee anzufreunden, in Deutschland ein oder mehrere ›Immanuel-Kant-Institut(e) für philosophische Grundlagenforschung‹ einzurichten. Auf europäischer Ebene und mit Blick auf Begriff und Anliegen einer ›philosophia perennis‹ wäre auch Leibniz ein guter Namensgeber für eine solche Institutionalisierung.
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siert werden, positiv gesprochen: für alle philosophischen Positionen, Traditionen, Kulturen geöffnet werden. Mit dieser Öffnung der kulturellen Grenzen philosophischer Dialoge und Debatten werden sich der Pluralismus, die Perspektivenvielfalt zweifellos erst einmal erweitern. Allerdings ist ja keineswegs nur mit Differenzen, sondern auch mit Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zu rechnen, sofern man bei aller innerkulturellen und interkulturellen Verschiedenheit des Vernunftgebrauchs letztlich doch die eine und selbe Vernunft am Werke sieht (die sich vielleicht sogar notwendig plural äußert, damit jede partikuläre Kultur sich selbst gegenüber, in und mit der anderen besser begreifen lernt). Mit kulturvergleichender und so immer stärker interkultureller und transkultureller Philosophie, die auch institutionell zu etablieren und zu fördern wäre, erhielte so die alte Idee der ›immerwährenden Philosophie‹, der einen, zugleich besonderen wie universalen philosophia perennis (im oben genannten Sinne, wie Leibniz sie verstanden hatte), eine ganz neue Chance. Diese Idee darf nicht etwa als partikuläre, nur europäische Idee missverstanden und verkürzt werden, sondern muss ihrem Universalitätsgedanken entsprechend auch endlich in der faktischen Umsetzung des realen Philosophierens gestaltet werden als philosophisches Gemeinschaftsunternehmen: auf der Suche nach verborgenen Gemeinsamkeiten in den Wurzeln und wesentlichen Traditionen aller Kulturen, im gemeinsamen philosophischen Streit um die Prinzipien von Kultur, von Wirklichkeit schlechthin.
III. Resümee »Welches sind die Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolff’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?« – so formulierte 1791 die Akademie der Wissenschaften in Berlin eine philosophische Preisfrage, die deshalb heute noch bekannt ist, weil auch von Immanuel Kant posthum Aufzeichnungen zu ihrer Beantwortung überliefert sind. Unser gegenwärtiges Zeitalter ist nicht nur in der Philosophiegeschichte, sondern auch in der allgemeinen Weltgeschichte an einen Punkt gelangt, wo wir den wichtigsten, weil grundsätzlichsten Prinzipienfortschritt, den philosophischen nämlich, nicht mehr seinem natürlichen Schicksal überlassen können. Der Fortschritt der Philosophie muss reflexiv werden. Er muss Gegenstand einer freien und bewussten Entscheidung, ausdrückliche Angelegenheit des interper351 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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sonalen, internationalen, interkulturellen und im weiteren Fortschritt transkulturellen Symphilosophierens werden. Dabei müssen sowohl das Extrem der zwangsuniformierten kulturellen (in Konsequenz aber kulturvernichtenden) Gleichmacherei, wie das eines ebenso gefährlichen Irrtums einer unüberwindlichen Disparatheit von Kulturen und philosophischen Positionen vermieden und überwunden werden. Die Einigkeit der Philosophenzunft über Grundprinzipien der Vernunft, d. h. des Wissens überhaupt und der Natur, des Rechts, der Moral, der Religion usw. im Besonderen, ist Voraussetzung dafür, dass Philosophie über medial vermittelte Moden hinaus von der Politik und der weiteren Öffentlichkeit gehört und ernstgenommen werden kann. Diese Einigkeit kann nur Ergebnis einer Diskussion, eines leidenschaftlichen, aber leidenschaftlich sachlichen Streits um diese Prinzipien und damit über Idee, Ansatz und System der Philosophie sein. Dieser für den Fortschritt der Philosophie und, in Anwendung derselben, für die gesamte Menschheit notwendige Streit darf nicht im Kampf um Jobs, um gesellschaftliches Renommee, um finanzielle Vorteile oder gar um kulturelle Hegemonien untergehen. Er muss ausdrücklich zu dem werden, als was ihn die besten und edelsten Gestalten der Philosophiegeschichte implizit immer verstanden und betrieben haben: zum entschlossenen und letztlich gemeinschaftlichen Ringen um die systematische philosophische Erkenntnis der letzten und höchsten Prinzipien der Vernunft selbst mit dem Ziel aller Kultur schlechthin: der freien und vernünftigen theoretischen Durchdringung und praktischen Gestaltung der Wirklichkeit.
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Universalitätsanspruch des philosophischen Diskurses und Globalität der Zukunftsproblematik Cristiana Senigaglia (Triest/München)
1 Die zeitliche Dimension der Zukunft hat durch die wissenschaftlichtechnologische, ökonomische und mediatisierte Entwicklung an Zentralität gewonnen. Die Hervorhebung der Dimension der Zukunft ist wesentlich aus zwei unterschiedlichen theoretisch-geschichtlichen Momenten hervorgegangen: Erstens, die Fokussierung auf die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Lebens, welche sich sowohl von einem zyklischen, auf Wiederholung basierenden Verständnis der kosmologischen Ereignisse als auch vom Glauben an Ewigkeit und statische Unveränderlichkeit abgehoben haben; zweitens, die Fokussierung auf Neuheit und Erneuerungsfähigkeit, die zunehmend in ihrer Zwiespältigkeit und ihrer kontroversen Beschaffenheit erfasst worden sind und daher die Zukunftsbedeutung nicht nur potenziert, sondern auch ins Zentrum von Debatten, Auseinandersetzungen und Prognosen gerückt haben. 1 Das erste Moment kann mit der Moderne und ihrem prägenden Geist in Verbindung gebracht werden. Die Einstellung der Weltablehnung, welche für Max Weber mit der protestantischen Reformation entstand und das unternehmerische Handeln beförderte, 2 die Subjektivierung der Denkprozesse, die hauptsächlich mit Descartes und Kant eine Verschiebung des Erkenntnisverständnisses von der Widerspiegelung der Welt zu einem nach eigenen Gesetzen hervorzubringenden konstruktivistischen Unterfangen vollbrachte, die natur-
1 Vgl. Rohbeck, Johannes, Zukunft der Geschichte. Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik. Berlin 2013, S. 8 ff. 2 Vgl. Weber, Max, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. In: Gesamtausgabe. (Hg.) Baier, Horst u. a. Tübingen 1984 ff. = GA, I–19, S. 473 ff.
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rechtlichen Theorien, welche den Normativismus der autonomen, sich bestimmenden Individuen geltend machten, und die Idee einer dem Menschen zustehenden Modifizierbarkeit der Welt, welche, wie Hans Jonas betont, die Dimension des homo faber privilegierte, 3 haben alle dazu beigetragen, den Dynamismus, die Autonomie und das Zielgerichtet-sein des menschlichen Handelns hervorzuheben. Was aber die Umwälzung der Perspektive in Bezug auf die zeitliche Dimension bewirkt hat, war die doppelte Feststellung, dass zum Aufbau des Menschen und seines Wissens auch die geistesgeschichtliche Erfahrung einen unentbehrlichen Beitrag leistet (man denke an die Gestalten der Hegelschen Phänomenologie) und dass die erworbene Erkenntnis sich auf die praktische Ebene auswirkt und eine Veränderung hervorbringen muss und soll (unter einer idealistischen Perspektive Fichte, 4 auf einer anthropologisch-geschichtlichen Basis Feuerbach 5 und der junge Marx). 6 Was das zweite Moment dann spezifisch charakterisiert, ist die Verlagerung des Novums von den theoretischen sowie gesellschaftlichen Ansätzen zu den technisch-produktiven Errungenschaften, die insbesondere in den letzten Jahrzehnten enorm und unvergleichlich sowohl an Quantität als auch an Qualität die Wirklichkeit verändert haben. Wissenschaft, Wirtschaft und neue Medien haben Dimensionen eröffnet, die eine Zäsur der traditionellen Weltauffassung verursachen und zugleich eine Auseinandersetzung mit den Idealen der Moderne hervorrufen. Die Wissenschaft hat ihre Ergebnisse in technologische Produkte und Erfindungen umgesetzt, die das Leben radikal von den naturbedingten Verhältnissen abheben und darüber hinaus verbreitete Anwendung finden. Die Wirtschaft hat durch diese Errungenschaften ein riesiges Produktionssystem zustande gebracht, das zunehmend die unterschiedlichsten Regionen der Welt ergreift. Die neue Medialität hat durch ihr unerschöpfliches Vernetzungs- und Kommunikationspotenzial alle diese Veränderungen hervorgehoben, sie von der lokalen auf die universalen Ebene übertragen und gleich-
Vgl. Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung (1979). Frankfurt a. M. 2003, S. 31 f. Vgl. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. GA I, 8. 5 Vgl. insbesondere Feuerbach, Ludwig, Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: Gesammelte Werke. (Hg.) Schuffenhauer, Werner. Berlin 1967 ff. = GW, IX. 6 Vgl. Marx, Karl, Noten an Feuerbach. In: Marx, Karl / Engels, Friedrich, Gesamtausgabe. Berlin 1975 ff. = MEGA, IV–3–1, S. 19–21, und Ökonomisch-philosophische Manuskripte. MEGA, Bd. I–2–1. 3 4
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zeitig eine neue Wirklichkeit geschaffen, die sich der alltäglichen Konkretheit und der geschichtlich tradierten Erfahrung gegenüberstellt. Die radikale Veränderung der Lebensbedingungen, der Abstand von den früheren Lebensverhältnissen und die negative Belastungen dieser einmaligen Entwicklung haben die Frage nach der Zukunft aufgeworfen und gleichzeitig dramatisch zugespitzt. Odo Marquard hat dieses Zeitalter durch ein »Machsal« definiert, das zum »Schicksal« wird, 7 und dies bedeutet laut Benno Hübners Aussage, dass »die Zukunft, die uns bevorsteht, immer mehr bestimmt werden wird durch das, was durch die Folgen und Nebenfolgen unseres jetzigen Tuns auf uns zukommen wird. Zukunft wird also immer mehr Zu-kunft unserer selbst sein, selbstverursachte, selbstverschuldete Zukunft«. 8
2 Irreversibilität, Geschwindigkeit und Globalität der einzelnen Phänomene und Ereignisse tragen dazu bei, dass Universalitätsverständnis auf der einen Seite, Artikulierung und Verflechtung der Pluralität auf der anderen Seite für die zukünftige Entwicklung entscheidend sind. Die Irreversibilität der technologischen Entwicklung ist insbesondere am Ende der Siebziger Jahre und in den Achtziger Jahren von Hans Jonas und Ulrich Beck von einem theoretischen Standpunkt aus problematisiert worden. Jonas hat sie insbesondere mit der einmaligen Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Könnens in Verbindung gesetzt, die durch den kumulativen Charakter des menschlichen Handelns gekennzeichnet ist: Die Erfindungen und die dadurch hervorgebrachten Veränderungen nicht nur im menschlichen Leben, sondern auch in der ganzen Biosphäre, verlangen laut Jonas eine vorsichtige Haltung und eine Heuristik der Furcht, damit Prozesse nicht in Gang gesetzt werden, deren Konsequenzen zerstörerisch für Mensch und Natur sein könnten. Dies wird von Jonas dadurch begründet, dass sich die Einmaligkeit und Geschwindigkeit des wissenschaftlichen Fortgangs zuverlässigen Prognosen entziehen, da die Nebenwirkungen nicht durch die vorherige Erfahrung ausreichend berechnet werden können. Seinerseits bestätigt Ulrich Beck Vgl. Marquard, Otto, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1970. S. 70 f. Hübner, Benno, Die selbstverschuldete Zukunft. Metaphysik der permanenten Veränderung. Wien 1997, S. 117. 7 8
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die globale Gefährdung, welche durch den Widerspruch zwischen menschlichem Irrtumspotenzial und Irreversibilität entsteht: Ein Fehler kann gravierende oder sogar fatale Konsequenzen nach sich ziehen, weil er das Gesamtsystem gefährdet. Für diese Konstellation prägt Beck den Begriff der Risikogesellschaft, 9 die hauptsächlich durch die Selbstbedrohungspotenziale konnotiert ist. Beide Autoren sind sich außerdem darüber einig, dass die menschliche Entwicklung eine einzigartige Bedrohung für die Zukunft bedeute und die Möglichkeit der Zukunft selbst in Frage stelle. Irreversibilität, Geschwindigkeit und Globalität der Auswirkungen sind daher wesentliche Faktoren, welche die Zukunft und ihre Ermöglichung in der technologischen Welt bestimmen. Durch die Globalisierung der Wirtschaft und die allgemeine Vernetzung der Medien können diese Faktoren darüber hinaus auch auf weitere Ebenen übertragen werden, da lokale Vorkommnisse sehr schnell an Bedeutung gewinnen, ganz andere Teile des Planeten mit einbeziehen und dafür verantwortlich gemacht werden können, dass neue Richtungen in der Politik und im menschlichen Handeln überhaupt eingeschlagen werden. Wohlgemerkt, diese Tendenz ist nicht unbedingt mit negativen Effekten und Nebenwirkungen verknüpft. Sie führt aber dazu, dass lokale Episoden an Resonanz gewinnen und die Zukunft mitprägen oder mitgestalten. Andererseits haben die die Allgemeinheit betreffenden Fragen in der Wirtschaft, Umwelt und Politik bereits die Bedingungen dafür geschaffen, dass globale oder mindestens übernationale Institutionen und Organisationen entscheidungsfähiger und -bewusster gemacht werden und versuchen, umfangreiche Lösungen zu finden und allgemeingültige Richtungen einzuschlagen. »Lokal« und »Global« treffen nicht immer reibungslos aufeinander und erweisen sich beide als fähig, obgleich sie im Prinzip auf unterschiedlichen Ebenen agieren, die Gestaltung der Zukunft zu beeinflussen. Unter dieser Perspektive gewinnt die Suche nach einer erfolgreichen Verflechtung zwischen Allgemeinheit bzw. Globalität und pluralisierter Differenziertheit erheblich an Bedeutung. Mit den Worten Otfried Höffes: »Nur ein interkultureller Gültigkeitsanspruch, der auch weiterhin zutrifft, befähigt das Völkerrecht, sich über viele Kulturen auszubreiten und ein hohes Maß
Vgl. Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986.
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interkultureller Geltung zu erlangen«. 10 Dieser interkulturelle Rahmen für eine mögliche Zukunftgestaltung, wie man sie auch verstehen mag, verlangt aber die Begrifflichkeit einer artikulierten Einheit, die gleichzeitig einen wichtigen Platz für die Mannigfaltigkeit, Vielfalt und Originalität einzuräumen vermag.
3 Entwicklung, Spezialisierung und Technisierung der Gesellschaft stellen neue Fragen und Probleme und verlangen Orientierungen, die sie selber jeweils nicht autonom lösen und erarbeiten können. Bereits Max Weber hatte auf die Doppeldeutigkeit und auf die inneren Widersprüche der Entwicklung in der Moderne hingewiesen: auf der einen Seite das Ideal der Selbstgestaltung des Menschen, das auf einer allmählich erlangten Freiheit, Selbstständigkeit und Selbstbezogenheit beruht, auf der anderen Seite die Schaffung von Mechanismen und Apparaten, die zunehmend den Menschen in ein stählernes Gehäuse einsperren. 11 Die Mechanisierung und Technisierung werden unentbehrliches Mittel zum Zweck der freien Selbstverwirklichung; sie schaffen aber gleichzeitig die Bedingungen für eine neue Form von Abhängigkeit und externer Beherrschung. Max Scheler hat diesen Prozess zutreffend geschildert: »Der Mensch muss im selben Maße, als er ›denkt‹, auch ›mechanisch‹ denken, und als er ›will‹, immer mehr Mechanismen hervorbringen und zwischen sich und die Natur stellen, bis zu einem Punkte, da er diese Mechanismen nicht mehr zu beherrschen und zu regieren vermag und sie ihn daher unter sich gleichsam begraben«. 12 Die Entwicklung birgt aber weitere ernstzunehmende Gefahren. Als Erstes, sie verläuft weder gleichmäßig noch harmonisch. Dies ruft eine Disparität zwischen Zonen der Welt und zwischen Lebensbedingungen hervor, und enthält potenzialen Zündstoff für Konflikte, die nur durch komplexe Formen des Ausgleichs bewältigt zu werden vermögen. Wir verfügen, wie Höffe bemerkt, über »einen globalen Zivi-
Höffe, Otfried, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung. München 2004, S. 157. 11 Vgl. Weber, Parlament und Regierung, GA I–15, S. 464 ff. 12 Scheler, Max, »Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs« (1927), in: Ders., Von der Ganzheit des Menschen. Bonn 1991, S. 135–160, Zit. S. 139. 10
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lisationsrahmen, aber keine weltweit homogene Zivilisation«; 13 dieselbe Bemerkung gilt für die Wirtschaft, die Wissenschaft, den Reichtum, den Zugang zu Ressourcen und zur Technologie etc. Als Zweites, und Allgemeineres, greift die technologische Entwicklung auf die Domäne der Natur über, enthüllt ihre Verletzlichkeit und ihre grundsätzliche Gefährdung. 14 Dies impliziert, dass die Entwicklung selbst zum Problem wird und nach einer übergreifenden Thematisierung verlangt. Diese Infragestellung setzt wiederum auf den Erwerb von Informationen und Kenntnissen, die aber kritisch und bewusst verarbeitet werden müssen. Ein Wissen wird daher dringend benötigt, denn, wie Beck sagt, »das Bewusstsein bestimmt das Sein«, 15 und dies geschieht insbesondere in einer Gesellschaft, die noch unbekannten Risiken ausgesetzt ist. 16 Das technische Wissen stellt diesbezüglich eine notwendige Komponente dar, da es nützliche Daten und Entdeckungen vermittelt, Prognosen bereitstellt und mittels von Experimenten Methode, Verfahren und konkreten Ablauf überprüft. Dennoch ist das technische Wissen nicht ausreichend und selbstgenügsam, da es auch ein Teil des Problems konstituiert. Beck diagnostiziert diesbezüglich: »Wo Risiken die Menschen beunruhigen, liegt der Ursprung der Gefahren also nicht mehr im Äußeren, Fremden, im Nichtmenschlichen, sondern in der historisch gewonnenen Fähigkeit der Menschen zur Selbstveränderung, Selbstgestaltung und Selbstvernichtung der Reproduktionsbedingungen allen Lebens auf dieser Erde. Das aber heißt: Die Quellen der Gefahren sind nicht länger Nichtwissen, sondern Wissen, nicht fehlende, sondern perfektionierte Naturbeherrschung, nicht das dem menschlichen Zugriff Entzogene, sondern eben das System der Entscheidungen und Sachzwänge, das mit der Industrieepoche etabliert wurde«. 17 Das technische Wissen bzw. Fachwissen ist hauptsächlich mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert: Erstens, es ist selbstreferentiell, das heißt: Es organisiert sich als selbstständiges Höffe, Wirtschaftsbürger, S. 12. Zuletzt die Verbesserung des Menschen (enhancement). Vgl. (Hg.) Ebert, Udo / Riha, Ortrun / Zerling, Lutz, Der Mensch der Zukunft – Hintergründe, Ziele und Probleme des Human Enhancement. Stuttgart/Leipzig 2013. 15 Beck, Risikogesellschaft, S. 31. 16 D. h. das »Wachstum des Nichtwissens«. Vgl. Wehling, Peter, »Rationalität und Nichtwissen«, in: Zugänge zur Rationalität der Zukunft. (Hg.) Karafyllis, Nicole / Schmidt, Jan. Stuttgart/Weimar 2002, S. 255–276. 17 Beck, Risikogesellschaft, S. 300. 13 14
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System, das tendenziell nicht reflexiv handelt und daher die Gründe, Werte und Zwecke seines Operierens nicht kritisch hinterfragt, sondern kumulativ, linear und rein erfolgsorientiert aufstellt. Zweitens, es weist selbst Grenzen auf, indem die Geschwindigkeit der Entwicklung und die Wirklichkeitsentfernung der Technisierung oft eine ausführliche Prognose verhindern oder bloß zeitbegrenzt gültig machen. Deswegen werden auch Wissensformen benötigt, die zwischen Fachwissen und Universalismusinstanz, Projektion und Reflexion, Verwirklichungselan und Möglichkeitsrahmen vermitteln und sich insbesondere von Verschlossenheit und reiner Immanenz abheben können.
4 Warum soll die Philosophie die Zukunft thematisieren? Die Philosophie hat sich von Anfang an mit Fragen befasst, welche Grundthemen und -konzeptionen angehen und universelle/allgemeine Bedeutung und Gültigkeit für sich beanspruchen. Bereits in seinen Anfängen hat sich die Philosophie mit den Grundfragen des Seins und der Existenz beschäftigt. Dabei können zwei Hauptrichtungen des Denkens festgestellt werden: auf der einen Seite, die ionische Philosophie, deren Interesse insbesondere den natürlichen konstitutiven Grundelementen galt und Mensch und Natur in einer kosmologischen sowie auch kosmogonischen Einheit auffasste; auf der anderen Seite, das pythagoreische-eleatische Denken, welches das Verhältnis Einheit-Vielheit sowie Sein-Werden problematisierte und logisch-nummerische Relationen zu untersuchen versuchte. Der Mensch wurde dadurch von Grund auf in umfassende Perspektiven und Problematiken einbezogen und auch durch seine Verhältnisse charakterisiert. Es kann mit Karen Gloy zu Recht behauptet werden: »Thema der Philosophie ist nicht wie in den Einzelwissenschaften ein Spezialgebiet oder Teilbereich, sondern das Ganze«. 18 Andererseits stimmt es auch, dass die Philosophie sehr früh Verbindungen zu anderen Wissensformen und Disziplinen hergestellt hat, sodass »das Ganze« unmittelbar auch auf Formen der inneren Artikulation und internen Schlüssigkeit angewiesen war. Diese interne Durchlässigkeit hat sich auch auf der Ebene der rezi18
Gloy, Karen, Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft, Wien 2002, S. 34.
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proken Einflüsse der unterschiedlichen Kulturen und Traditionen gezeigt: Da die Philosophie den Anspruch auf Universalität erhob, war sie für ethnische und geographische Auseinandersetzungen weniger anfällig und zeigte sich dagegen immer bereit, wenngleich in der Form der Widerlegung und der Widerrede, alle möglichen Thesen erschöpfend zu diskutieren. Dies verschaffte ihr die Fähigkeit, Unterschiede zu vermitteln und zu überbrücken sowie allgemein geltende Ansprüche zu erheben. Hinzu kam, dass Wissen und Weisheit in der Philosophie von Anfang an eng verbunden wurden, sodass aus der Theorie sowohl performative (man denke beispielsweise an das Verhalten von Zynikern und Sophisten) als auch praktische Handlungen hergeleitet werden konnten. Da die Thematik der Zukunft in den letzten Jahrzehnten derart viel an Bedeutung und Dringlichkeit gewonnen hat, kann und sollte sich die Philosophie auch in einer umfassenden und unvoreingenommenen Weise damit befassen. Dies kann umso mehr erwartet werden, als ihre Verschiebung der Perspektive in der Moderne viel mehr die Zeit, die Veränderlichkeit, die Subjektivität und ihr Tun in Betracht gezogen hat. Wie Richard Rorty hervorgehoben hat, ist die Reflexion von der Zentrierung um die Frage »Was ist der Mensch?« zur Frage »Was könnten wir versuchen, aus uns zu machen?« übergegangen. 19 Dies hat auf die grundlegende Potenzialität beim Menschen hingewiesen, die Zukunft anders als die Vergangenheit zu gestalten und dadurch eine schöpferische, aber auch verantwortungsbeladene Rolle zu übernehmen. Ein richtungweisender Ansatz ist in dieser Hinsicht durch die Transzendentalphilosophie Kants und Fichtes geleistet worden. Wenn es um die Zukunftsgestaltung geht, sind die Bereiche des Möglichen, Unmöglichen und der Ermöglichung genau zu untersuchen und zu eruieren. Ein philosophisches Denken, das sich mit der prinzipiellen Frage der Bedingungen der Möglichkeit befasst und sich vom Bereich des reinen Faktischen und Empirischen abhebt, ist per Definition dazu geeignet, mögliche Bedingungen auch für die Zukunftsgestaltung aufzustellen und gleichzeitig auf Risiken und Nebenwirkungen aufmerksam zu machen. Wird im Sinne Jonas auf die Bedeutung einer Ethik hingewiesen, welche das Handeln des Menschen der Überlebungsfähigkeit des ganzen Planeten und Biosystems unterzieht, so ist auch ein Wissen gefragt, welches 1) nicht nur technisch ist und dennoch mit technischen Informationen und Prognosen 19
Vgl. Rorty, Richard, Philosophie und die Zukunft. Frankfurt a. M. 2000, S. 14.
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ein ständiges Verhältnis unterhält, welches 2) die Immanenz der Gegenwart und des Vorhandenseins transzendiert und 3) mit dem Bereich der Möglichkeit vertraut ist und daraus wirksame Richtlinien für das Handeln entnehmen kann.
5 Warum ist die Philosophie geeignet, die Zukunft zu thematisieren? Die Philosophie befasst sich grundsätzlich mit den Verhältnissen zwischen Einheit und Vielheit, Allgemeinheit und Besonderheit, Universalität und Singularität und versucht zu den Grundfragen des Menschen und seines Lebens argumentativ Stellung zu nehmen. Die Thematisierung der Zukunft verlangt zuerst ein geeignetes logisches Instrumentarium von Kategorien, die sie ausführlich artikulieren und ihre Momente argumentativ in Verbindung bringen. Das aktuelle Verständnis und die entsprechende Problematisierung der Zukunft weisen allgemein auf universell bedeutende Thematiken hin, die sich nicht nur mit allgemein geltenden Ansprüchen konfrontiert sehen, sondern auch mit allgemeinen Konsequenzen zu rechnen haben. Die Vorgangsweise der Globalisierung, die Belastung der Umwelt und der Biosphäre, die Mondialisierung der Wirtschaft sind auf konzeptionelle sowie politische Lösungen angewiesen, die nur auf weitsichtigen, allgemein verfassten Ideen und Richtlinien fußen können. Andererseits sind wegen der Vernetzung der Medien, des Ausmaßes der Information und der schlagartigen Reduzierung der örtlichen und zeitlichen Abstände auch einzelne Vorkommnisse und lokale Eigenarten imstande, die globale Ordnung herauszufordern und mindestens partiell neu zu beanspruchen. Dazu ist ein flexibles und innerlich artikuliertes Denken unbedingt erforderlich, welches mit dieser logischen Kategorisierung und Strukturierung etwas anzufangen weiß. Diese logische Kategorisierung gehört aber unbestreitbar zum allgemeinen und grundsätzlichen Instrumentarium der Philosophie. Die Artikulierung des Verhältnisses zwischen Einheit und Vielheit wurde bereits im altgriechischen Denken insbesondere von Platon tiefgründig durchdacht, und sie gehört zu den grundsätzlichen Fragestellungen der gesamten Geschichte der Philosophie. Wenngleich sie sich unmittelbar durch eher quantitative Begriffe auszeichnet, bezieht sie aber das Qualitative mit ein, indem die Vielheit auch einen 361 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Raum für die Unterschiede gewährt und sich eingehend mit der Problematik befasst, einen gemeinsamen Nenner zu entdecken oder mindestens vereinheitlichende Regeln auszuhandeln. Das Einheit-Vielheit-Verhältnis entspricht in dieser Hinsicht hinlänglich einem Weltbild, das es mit einer globalen Perspektive und globalen Einrichtungen zu tun bekommt und dennoch durch hochdifferenzierte Kulturen, Lebensweisen und -bedingungen zusammengesetzt ist. Durch die Beziehung und die Dialektisierung des Verhältnisses zwischen Allgemeinheit und Besonderheit hat die Philosophie darüber hinaus nicht nur die Formen der Verknüpfung zwischen dem Spezifikum, der Eigenart auf der einen Seite und den sie enthaltenden und darauf zurückgreifenden Oberbegriffen auf der anderen Seite ausfindig gemacht, sondern gleichzeitig den normativen Rahmen ihres ungleichen Verhältnisses untersucht und festgestellt. Dies entspricht einer Vision der Globalität, die sich der Einebnung der Unterschiede widersetzt und dennoch an der Notwendigkeit festhält, gewisse allgemeine Maßnahmen zu treffen und einen gemeinsamen Rahmen für die Diskussion und das Handeln offen zu halten. Die Besonderheit kann durch qualitative, sich von Fall zu Fall differenzierende Bestimmungen bereichert werden, während gleichermaßen ein Bereich für die Allgemeinheit bereitgestellt wird, der eine gewisse Kooperation, Koordination, aber auch Integration gewährleistet. Schließlich ist die Untersuchung der Beziehung zwischen Singularität und Universalität von unübersehbarer Bedeutung für die Thematik der Zukunft, insbesondere, wenn man auf Nietzsches Behauptung zurückgreift, dass nur Individuen, singuläre Erscheinungen und sogar Entartungen dafür zuständig sind, dass etwas Neues geschehe. 20 Ist das Neue auf sie angewiesen, so ist es erforderlich, eine Form von Gleichgewicht zu sichern, welche neue Elemente und Anspornungen ertragen und in sich aufnehmen kann, aber sie auch vor einem zu starken destabilisierenden Effekt bewahrt. Der unentbehrliche Wert des Singulären ist insbesondere in der philosophischen Reflexion der letzten Jahrzehnte zur Geltung gebracht worden, aber wurde durch die unterschiedlichen philosophischen Positionen und Systeme performativ immer wieder bewerkstelligt, indem es einzelnen Denkern gelang, neue Ansätze aufzustellen und sie logisch-argumentativ zur Vgl. Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches. In: Kritische Studienausgabe. (Hg.) Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino. München 1988 (2. durchgesehene Auflage) = KSA IV–2, Aph. 224, S. 187–189.
20
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Universalität zu erheben. Darauf kann sich die Philosophie berufen, wenn es darum geht, das Neue nicht zu unterdrücken oder zu bagatellisieren, sondern mit dem Ganzen verträglich zu machen.
6 Welches ist der spezifische »Vorteil« der Wissensform Philosophie? Die Fähigkeit, Grundfragen in logisch-argumentativ komplexen Strukturen zu artikulieren und dabei eine fortwährende Selbstbefragung und einen performativen Dialog intern sowie mit anderen Konzeptionen und Wissensbereichen durchzuführen. Die Philosophie war von Anfang an darum bemüht, ihre Voraussetzungen zu begründen und sie und ihre Konsequenzen folgerichtig darzustellen. Gleichzeitig hat sie wesentlich dazu beigetragen, die Voraussetzungen der anderen Wissensformen gründlich zu hinterfragen und sie miteinander sowie mit den eigenen in Verbindung zu setzen. Dies geschah auf einer argumentativen Basis, welche Gründe für ihre Behauptungen vorbrachte und Einwände zu erwidern und zu widerlegen versuchte. Karen Gloy hat diesbezüglich bemerkt: »Philosophie ist insofern kritisch-argumentative Aufklärung der eigenen Bedingungen wie auch kritisch-argumentative Aufklärung der anderen Wissenschaften. Auch in dieser Hinsicht geht sie allen anderen Wissenschaften voran und liegt ihnen zugrunde«. 21 Auch wenn der Anspruch der Philosophie nicht verabsolutiert wird, ist sie nichtsdestoweniger auf allgemeine Interpretationen der Welt und des Lebens angewiesen, die eine kritische Selbstbefragung mit einbeziehen, und unterhält dabei einen ständigen Dialog mit anderen Wissensformen und Wissenschaften, von denen sie Anregungen für die eigenen Entwicklung erhält. Ihre die Probleme auf Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit übertragende Perspektive versetzt sie darüber hinaus in die Lage, auch zwischen unterschiedlichen Wissensbereichen Verbindungen aufzudecken. Diese innere Dynamik hebt sie prinzipiell vom Risiko ab, in der reinen Immanenz ihres eigenen Wissens verfangen zu bleiben. Wenn mit Rorty deswegen behauptet werden kann, dass die Philosophie eine Art von Entprofessionalisierung des Diskurses mit sich bringt, soll diese aber nicht als Mangel an Fundament ausgedeutet werden, sondern als ständige Selbstbefragung 21
Gloy, Denkanstöße, S. 33.
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und argumentatives Verfahren, die im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften vielmehr um die allgemeinen Bedingungen, zu denen auch die Grundwerte und -ziele hinzugerechnet werden können, zentriert sind. Die Philosophie kann somit durch ihre doppelte Fähigkeit zum Vergleich und zum Ausgleich als wertvolle Wissensform in Bezug auf die Zukunft betrachtet werden. Die Fähigkeit zum Vergleich ergibt sich daraus, dass sie mindestens teilweise auf geschichtlich-kulturell differenzierte Konstellationen Bezug nimmt. So Gloy: »Umfassende Aufklärung setzt einen Überblick über die gesamte gegenwärtige kulturelle Situation sowie einen Vergleich mit anderen historischen Situationen voraus, was nicht zuletzt die starke Geschichts- und Traditionsgebundenheit der Philosophie erklärt, die nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck ist, nämlich zur Beurteilung der geschichtlich bedingten und bestimmten Gegenwart«. 22 Die Fähigkeit zum Ausgleich entspringt hingegen ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit oder mindestens Verallgemeinerungstendenz, die aber den Unterschieden und Spezifizierungen Rechnung trägt und nach Vermittlungen sucht. Scheler hatte von der Notwendigkeit eines Ausgleiches der Kulturen, der Mentalitäten, der Geschlechter, der Menschenalter, der sozialen und nationalen Unterschiede gesprochen, die er als unumgängliche Aufgabe seines von ihm definierten und global intendierten »Weltzeitalters« stellte. Er sah darin auch eine unterschiedliche Geschwindigkeit, welche die Ausgleichsforderungen je bestimmte: »Der ›kosmopolitische Ausgleich‹ der Kulturen geht unvergleichlich langsamer und mit ganz anderen Mitteln vor sich als der zivilisatorische-technische, vor allem an den Welthandel geknüpfte ›internationale Ausgleich‹, auf dessen Voraussetzung freilich auch der erstere mitberuht«. 23 Diese doppelte Fähigkeit zum Vergleich und zum Ausgleich, die nur argumentativ, vermittelnd und auswiegend vollzogen werden kann, steht der Philosophie zu: Sie erlaubt diesen verallgemeinernden und zugleich intern artikulierenden, Abstand gewährenden Blick, der gleichzeitig auch auf sich selbst und seine ermöglichenden Bedingungen gerichtet ist.
22 23
Ebd., S. 34. Scheler, Der Mensch, S. 144.
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7 Welche methodologischen Strategien kann die Philosophie verwenden? Reflexion, Kritik, konstruktives Verfahren und schöpferisches Denken erbringen jeweils Leistungen, die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Grundauffassungen und möglichen Entwicklungen herstellen und gleichzeitig problematisieren. Alle diese Methoden gewährleisten eine Überwindung der reinen Gegenwärtigkeit und der reinen Immanenz. Reflexion und Kritik ermöglichen einen Abstand vom Faktischen, wodurch eine bewusste Auseinandersetzung mit der vorhandenen Lage stattfinden kann. Während die Reflexion gestattet, den linearen und kumulativen Vorgang in Frage zu stellen und dabei eine Hinterfragung der Prinzipien und Richtlinien in Gang zu setzen sowie die Funktion des Subjektes und seines Handelns zu überprüfen, leistet die Kritik eine Hervorhebung der Mängel und Widersprüche des Gegenwärtigen und signalisiert die dringendsten Probleme und den Bereich für mögliche Korrekturen, Reformen und Veränderungen. Ist die Kritik mit den unbefriedigenden Aspekten der objektiven Wirklichkeit unmittelbar konfrontiert, so impliziert die Reflexion eine Inanspruchnahme der Subjektivität, ihrer Funktion und Tätigkeit innerhalb der Wirklichkeit selbst. Deswegen kann behauptet werden, dass die Kritik eine schlichte Unterbrechung der Immanenz im Ablauf der externen Welt bedeutet, während die Reflexion durch die Selbstbefragung die doppelte Unterbrechung sowohl der Beständigkeit der äußeren Welt als auch der Kontinuität des subjektiven Lebens vollzieht. Konstruktion und schöpferisches Denken können dann eine alternative bzw. korrektive Funktion im Bereich des vorhandenen Zustandes ausüben. Die Konstruktion geht von der Untersuchung der Strukturen und Vermögen der Subjektivität aus und bezweckt eine Gestaltung der Zukunft, die ihrer grundlegenden Beschaffenheit besser entspricht. In dieser Hinsicht leistet sie ein eher vereinheitlichendes, die Unterschiede aufhebendes Gestaltungsmodell, das auf die grundsätzlichen, das Subjekt Mensch charakterisierenden Merkmale angewiesen ist. Angesichts der dringenden Fragen der Umwelt, aber auch der den Menschen selbst betreffenden Erfindungen im Bereich der Medizin und der Genetik, ist die Konstruktion allerdings nicht nur auf die geistig-intellektuellen Vermögen zu beschränken, sondern sie ist vor die Aufgabe gestellt, das Mentale und das Leibliche als sich ergänzende Einheit zu begreifen und den Menschen im lebendigen und unent365 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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behrlichen Austausch mit Welt und Natur zu erfassen. Zudem ist ein schöpferisches Denken erforderlich, damit neue Lösungen gefunden werden können, die der Differenz und Eigentümlichkeit der besonderen Lage Rechnung tragen und eine kreative Vermittlung zwischen Lokalem und Globalem, Besonderem und Allgemeinem, Momentanem und Verbleibendem leisten können. Die Anknüpfung der Zukunft an die Vergangenheit ist durch diese unterschiedlichen Methoden und Verfahren ermöglicht, weil sie alle die Voraussetzung der notwendigen Unterbrechung der Anwesenheit und ihrer Immanenz bereits erfüllen. Als zusätzliche Forderung ist es nötig, dass der Vergangenheit eine wichtige Funktion im Sinne nicht nur der Belehrung, sondern auch des Erwerbs von grundlegenden Erfahrungen, Kenntnissen und kulturellen Ausdrucksweisen und Produkten zuerkannt wird. Die Philosophie, auch wenn sie nicht geschichtlich orientiert ist, leistet mindestens performativ diese Verbindung, indem sie sich ausnahmslos mit anderen Positionen, Einstellungen und theoretischen sowie kulturellen Begebenheiten befasst. In dieser Leistung der Selbstbefragung und in der internen Auseinandersetzung der philosophischen Standpunkte wird unmittelbar ein Prozess der Kritik und der Reflexion über die Vergangenheit eingeleitet, der zugleich über sie Rechenschaft ablegt und sie dadurch in die Gestaltung der Zukunft in einer verlebendigenden Weise mit einbezieht.
8 Welche inhaltliche Orientierung kann die Philosophie bieten? Die Philosophie bietet komplexe Modelle der Betrachtung, Strukturierung und Verbindung von Problembereichen, die sowohl intern in den einzelnen philosophischen Konzeptionen entwickelt werden, als auch sich im Metadiskurs der philosophischen Debatte ergeben. Darüber hinaus eröffnet die inhaltliche Behandlung der menschlichen Grundfragen die Möglichkeit, Orientierungen für das Handeln auszusprechen. Die Philosophie beschäftigt sich mit den grundsätzlichen Fragen des menschlichen Lebens und sucht nach allgemeingültigen Prinzipien, die sie, wie gesagt, von der Unmittelbarkeit des Faktischen abheben. Andererseits konfrontiert sie sich auch mit den schwerwiegendsten und dringlichsten Problemen, die ihr Zeitalter charakteri366 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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sieren, da sie die Gültigkeit und Anwendbarkeit ihrer Theorien auch und überhaupt durch das Verhältnis zur zeitgenössischen Lage auf die Probe stellt. Dies verschafft ihr innerhalb der einzelnen Theorie eine Mischung aus beobachtender Distanz und reflexionsauslösender Betroffenheit, wodurch sie auch auf die konkreten Inhalte des Lebens eingeht. Man kann in dieser Hinsicht von einer Durchlässigkeit der Inhalte sprechen, die sich aus dem ständigen Austausch mit der konkreten Situation sowie mit den aus anderen Wissensbereichen entnommenen Sachverhalten ergibt. Hinzu kommt, dass der Reichtum der Inhalte durch die Vielfalt der philosophischen Diskurse und Debatten verstärkt wird, da die einzelnen Theorien sich auf teilweise unterschiedliche Sachverhalte beziehen und dennoch den Anspruch erheben, dass ihre jeweiligen Behauptungen auch in anderen Gebieten standhalten und sich überhaupt mit anderen philosophischen Theorien und Diskursen argumentativ auseinandersetzen können. Somit weist die Philosophie aber die doppelte Fähigkeit auf, eine Vertiefung des Theoretischen zu leisten und dennoch eine begehbare Brücke zur Praxis zu bauen. Die Vertiefung des Theoretischen kommt nicht nur daher, dass sie sich überhaupt mit einer ganzheitlichen Perspektive und ihrer Begründung befasst, sondern wird auch dadurch zugespitzt, dass die ungelösten Fragen, Problembereiche und Verhältnisse der anderen Wissensformen und Disziplinen sowie die ungeklärten sozialen, geschichtlichen und kulturellen Konstellationen sie in Anspruch nehmen. Die Anknüpfung an die Praxis ergibt sich dann aus einem doppelten Sachverhalt, und zwar einerseits aus dem Wirklichkeitsbezug, der in der Problemstellung durch den Kontakt mit der aktuellen Situation und dem (Fach-)Wissen bereits implizit enthalten ist, und andererseits aus der Suche nach Antworten, die durch ihre Richtigkeit und Anwendbarkeit Bestätigung finden können. Insbesondere der Anspruch auf Anwendbarkeit repräsentiert die Vermittlung und den Übergang zur Praxis, der mit der Ethik unmittelbar verbunden ist, da der Hinweis auf das Handeln aus der Selbstbefragung und Selbstproblematisierung gleichzeitig die Frage nach seinem Wert, seiner Wünschbarkeit, seiner Geltung und seinen Konsequenzen stellt. Mit anderen Worten: Die Frage des Handelns bezieht die Frage nach dem Sollen des Handelns unumgänglich mit ein. Die aus der philosophischen Reflexion entstammende Ethik genießt den Vorteil, dass sie sich durch die logisch-argumentative Begründung und reflexive Selbstbefragung als mindestens gewissermaßen unvoreingenommen erweist und nicht verbindlich an Glau367 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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bensaussagen anknüpft. Das kritische, Abstand gewährende Verhalten gestattet ihr darüber hinaus, mit den unterschiedlichen Standpunkten auszukommen, indem diese ernst genommen, argumentativ vorgeführt und in ihrem Wahrheits- und Bedeutungsgehalt überprüft werden. Da die philosophische Reflexion darüber hinaus als eine Form von Kritik an den Wissenschaften, an der Politik, an den alltäglichen sowie glaubensabhängigen Überzeugungen gelesen werden kann, ist die auf ihr basierende Ethik auch in die Lage versetzt, gewisse Vorbehalte zum Ausdruck zu bringen und die möglichen negativen Nebenwirkungen objektiver auszuwerten. Der philosophische Ansatz verträgt sich daher grundsätzlich mit einer auf die Zukunft orientierten Ethik, die auf den von Jonas formulierten Imperativ: »Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden«, 24 grundsätzlich angewiesen ist und die Charakteristika einer Verantwortungsethik trägt. 25
9 Welcher Wahrheitsbegriff kann dazu verwendet werden? Es geht um eine komplexe Auffassung, die sich durch unterschiedliche Perspektiven und Behandlungen bereichert, indem diese aber gleichzeitig in Verbindung gesetzt werden und ständige Problematisierungen, gegenseitige Korrekturen, Integrierungen und Umformulierungen zulassen. Die Philosophie hat durch ihren Anspruch auf die Begründung der ersten und wesentlichen Prinzipien und durch ihren Versuch, eine Gesamterklärung des Lebens, der Wirklichkeit und des Menschen abzugeben, auf die Herstellung einer ganzheitlichen und artikulierten Einheit bewusst abgezielt. Dieser entsprach ein Wahrheitsbegriff, der sich mit dem Absoluten befasste und auf ein absolutes, allgemeingültiges und allgemein geltendes Wissen verwies. In Anbetracht der heutigen Lage, wo man sich bewusst geworden ist, dass die Welt durch komplexe Sachverhalte und Wissenskonstellationen charakteJonas, Prinzip Verantwortung, S. 36. Noch früher als Jonas hatte Max Weber auf die Wichtigkeit der Verantwortungsethik hingewiesen, da sich diese mit den Konsequenzen des Handelns beschäftigt und sich daher auch als zukunftsbewusst herausstellt.
24 25
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risiert ist, welche die Geltung von unterschiedlichen »Paradigmata«, Modellen, Begriffen und Theorien nachweisen, kann der Anspruch auf absolute Geltung höchstens eine regulative Funktion ausüben. Dies bedeutet: Der Anspruch auf absolute Wahrheit kann nicht ein und für allemal behauptet und begründet werden, da die durch Situationen, Wissensformen, technische Leistungen, geschichtliche, kulturelle und politische Konstellationen errungene Vielfalt und Komplexität es äußerst schwierig macht, die Gesamterklärung auf wenige oder sogar eine allgemeingültige und ewig geltende Voraussetzung (en) zurückzuführen. Auch die Selbstbefragung und die Selbstreflexion können nicht als abgeschlossen betrachtet werden, da sie sich dann als bloßes Faktum herausstellen und ihren inneren Dynamismus verlieren würden, der sie befähigt, die Wirklichkeit genetisch zu untersuchen und ihre innere Prozessualität sowie ihre möglichen Entwicklungstendenzen zu ermitteln. Die Methode ihrerseits sollte fortwährend die doppelte Fähigkeit aufweisen, sich einerseits mit Einwänden und anderen Methoden argumentativ auseinandersetzen zu können, und andererseits durch die immer neue und durchdachte Anwendung ihre Gültigkeit performativ unter Beweis zu stellen. Die Fokussierung auf die Problematik der Zukunft und der Erscheinung des Neuen, die sich durch die Technisierung der Welt enorm zugespitzt und an umwälzender Bedeutung gewonnen hat, bekräftigt außerdem die Notwendigkeit einer methodologischen Vorsicht, da die Erscheinung neuer, nicht voraussehbarer Faktoren und Probleme (man denke an die Umweltproblematik oder an die Neuerscheinung von Krankheiten) prinzipiell nicht ausgeschlossen werden kann und die Möglichkeit einer radikalen gedanklichen Veränderung mindestens hypothetisch offen lässt. Unter dieser Perspektive, die durch das Erneuerungspotenzial der Zukunft und ihrer Globaleffekte unheimlich zugespitzt wird und die auf der anderen Seite die partielle Geltung von Theorien entdeckt bzw. wiederentdeckt (was im Übrigen in der Philosophie ständig der Fall war), ist der Wahrheitsbegriff vielmehr auf eine Pluralisierung der Diskurse und auf mögliche Verflechtungen und Integrationen angewiesen, die wie auch in der Wissenschaft selbst komplexe Sachverhalte vor Augen haben und auf der Auffassung der Wahrheit als einfacher Korrespondenz zwischen Theorie und Fakten verzichten. Thomas Kuhn hat diesen Standpunkt am klarsten erläutert: »Für den Historiker zumindest liegt nicht viel Sinn in der Feststellung, dass die Verifikation die Übereinstimmung zwischen Faktum und 369 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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Theorie bestätigt. Alle geschichtlich bedeutsamen Theorien haben mit den Fakten übereingestimmt, aber nur bis zu einem gewissen Grade. Eine genauere Antwort gibt es nicht auf die Frage, ob und wie gut eine einzelne Theorie zu den Fakten passt. […] Es ist durchaus sinnvoll zu fragen, welche von zwei [oder mehreren] miteinander konkurrierenden Theorien besser zu den Fakten passt«. 26 Dies erlaubt Kuhn, zuerst zwischen zwei Typen der Entwicklung zu unterscheiden, welche jeweils einen schlichten kumulativen Wissensprozess oder in Alternative eine völlige Veränderung der Auffassung, des Bezugssystems und der Begrifflichkeit bedeuten. 27 Der zweite und radikale Typus der Entwicklung ist angesichts der um die Zukunft zentrierten Perspektive als wahrscheinlicher einzuschätzen und impliziert daher die Möglichkeit völlig neuer gedankliche Dimensionen; dies verhindert aber nicht, dass der Wahrheitsbegriff als best account (beste Erklärung) und zwar als die vollständigere, innerlich mehr artikulierte, kongruentere ganzheitliche Theorie ausgedeutet werde.
10 Welches Anwendungspotenzial ist der Philosophie zuzuschreiben? Kritische Selbstanalyse der Wissensformen und seiner Entwicklungen, Vernetzung der Wissensbereiche und der Theorien, Orientierungen für das Handeln, die Wissenschaft(en) und die Technik sollen hier auch in Bezug auf konkrete Anwendungsbereiche (Bioethik, Umwelt, interkulturellen Dialog, gesellschaftlich-ökonomische Entwicklung und Politik) in Betracht gezogen werden. Da auch in den globalen Anwendungsbereichen von rein positivem und sich auf sich selbst verlassendem Zukunfts- und Fortschrittsglauben nicht mehr die Rede sein kann, gibt es für die Philosophie erneut Anlass, ein Wort mitzusprechen. Wenn die allgemeine Reflexion von Schlüsselbegriffen wie Risikogesellschaft, Existenzgefährdung und bedrohter Zukunft geprägt wird, dann, mit den Worten Jonas, »dringt die neue Pflicht zuallererst auf eine Ethik der Erhaltung, der Bewahrung, der Verhütung und nicht des Fortschritts 26 Kuhn, Thomas, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962), Frankfurt a. M., 1973, S. 195. 27 Vgl. Kuhn, Thomas, Was sind wissenschaftliche Revolutionen?, München 1982, S. 5 ff.
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und der Vervollkommnung«. 28 Dies bedeutet aber nicht, dass auf Entwicklung, Veränderung und Erneuerung verzichtet werden soll, sondern, dass innovative Technologien und gesellschaftliche Reformen ständig von der Kritik und einem tiefgründigen Reflexionsprozess begleitet werden sollen. Im Bereich der Bioethik ist es insbesondere wichtig, Erfindungen, Wissenschaft und Technologie mit der Vorgabe in Einklang zu bringen, dass Menschen- und Naturwesen qua Einzelne in ihrer Integrität respektiert werden und, die Zukunft betreffend, dass sie gattungsmäßig nicht irreversibel gefährdet oder verunstaltet werden. Diese Forderungen implizieren die Behandlung philosophischer Fragen, welche die grundlegenden Charakteristika des menschlichen Lebens eruieren und sie in ihrem Verhältnis zur Leiblichkeit ausloten. Damit einbezogen wird insbesondere die Thematik der Subjektivität, ihres Willens und der damit zusammenhängenden Verantwortung, zumal die biotechnischen Erfindungen (man denke auch an die Medizin und die Genetik) auf der einen Seite das Leben erleichtern und auf der anderen Seite aber den Menschen durch Experimente und Eingriffe tendenziell zum Objekt machen. Der philosophische Diskurs kann durch seine Unparteilichkeit, Verallgemeinerungsfähigkeit und Unterschiedsbewusstheit zu einer Vermenschlichung der Verhältnisse beitragen. Moralische und religiöse Ansätze können zweifelsfrei ähnliche Leistungen erbringen, aber für die Philosophie bzw. die Ethik spricht die zusätzliche methodologische und argumentative Anstrengung sowie die Aufmerksamkeit auf Einwände und gegensätzliche Standpunkte. Was die Problematik der Biosphäre, der Natur und ihrer Erhaltung angeht, kommt der Philosophie die Fähigkeit zugute, sich grundsätzlich auch mit dem »Anderen« des Menschen befasst zu haben, die Idee eines artikulierten, lebensfähigen und lebenserhaltenden Ganzen ständig vor Augen gehabt zu haben, und überhaupt das Vermögen, sich über begrenzte Interessen und Lagen hinwegsetzen zu können. Die Idee einer nachhaltigen Entwicklung und des Respekts der Natur benötigt nicht nur einen langsichtigen, »ökonomisierenden« Blick, welcher sparsam und sorgfältig mit ihren Ressourcen umgehen kann, sondern auch eine Subjektivierung der Natur, die auf der Anerkennung und Berücksichtigung ihrer Rechte, ihrer Forderungen, ihrer eigenen Rhythmen und Zeitverläufe fußt. Das Verhält28
Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 249.
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nis zwischen Mensch und Natur soll insbesondere als ein Spektrum von zum Einklang zu bringenden Unterschieden gedacht werden, die sich aber harmonisch ausgleichen und ergänzen sollen. Das Verständnis des Anderen kann auch als allgemeines Muss für alle Fragen gelten, die auf einer gesellschaftlichen und politischen Ebene sowohl lokale als globale Lösungen fordern und daher eine Artikulierung des Unterschiedsverständnisses mit Hinblick auf die Auswirkungen auf die Allgemeinheit verlangen. Die Philosophie charakterisiert sich durch ihre bewusste und reflektierte Problemstellung und Suche nach Lösungen; deswegen ist sie bereits von einem formalen Standpunkt aus geeignet, sich über die dringlichsten Herausforderungen bewusst zu werden und nach den möglichst passenden Antworten zu suchen. Logisch basiert sie auf einer durchdachten Problematisierung und Strukturierung des Ganzen und ihrer Verhältnisse, welche Beziehungen zwischen Einheit und Vielheit, Identität und Differenz, Allgemeinheit und Besonderheit vorsehen und zugleich herausarbeiten. Argumentativ ist sie darüber hinaus in der Lage, einen interkulturellen Dialog durchzuführen, da sie die unterschiedlichen Behauptungen und Anforderungen überprüft und auswertet. Dadurch kann eine auf das Ganze gerichtete Urteilsfähigkeit entstehen, die nicht durch die Verabsolutierung eines gewissen Standpunktes erfolgt, sondern interkulturell aufgestellt und allmählich aufgebaut wird. Insbesondere in Anbetracht der ökonomischen Disparitäten innerhalb der globalisierten Welt und mit Hinblick auf eine Zukunftsperspektive kann die Philosophie die Methode des Vergleiches anwenden und die Suche nach Ausgleich befördern. Die performativen Ansprüche der Philosophie auf Autonomie, Selbstgestaltung und Selbstverwirklichung können eine Entwicklungspolitik unterstützen, welche die Formen der Ausbeutung anprangert und dagegen kooperative Strategien verfolgt, um Selbstständigkeit, Selbstorganisation und Problemlösungsfähigkeit in den jeweiligen Ländern herbeizuführen. Dazu gehört auch diese interkulturell geprägte und Unterschiede hervorhebende Vorgangsweise, welche individualisierte Lösungen bieten kann und sie dennoch im dialektischen Verhältnis zum Ganzen konzipiert und dementsprechend um ihre Entwicklung bemüht ist.
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Universalitätsanspruch des philosophischen Diskurses
Literatur Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986. Ebert, Udo; Riha, Ortrun; Zerling, Lutz (Hg.), Der Mensch der Zukunft – Hintergründe, Ziele und Probleme des Human Enhancement. Stuttgart/Leipzig 2013. Feuerbach, Ludwig, Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: Gesammelte Werke. (Hg.) Schuffenhauer, Werner. Berlin 1967 ff. = GW, IX. Fichte, Johannes Gottlieb, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. (Hg.) Lauth, Reinhard u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 1964 ff. GA. Gloy, Karen, Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft, Wien 2002. Höffe, Ottfried, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung. München 2004. Hübner, Benno, Die selbstverschuldete Zukunft. Metaphysik der permanenten Veränderung. Wien 1997. Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung (1979). Frankfurt a. M. 2003. Kuhn, Thomas, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962), Frankfurt a. M., 1973. Kuhn, Thomas, Was sind wissenschaftliche Revolutionen?, München 1982. Marquard, Otto, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1970. Marx, Karl / Engels, Friedrich, Gesamtausgabe. Berlin 1975 ff. = MEGA. Nietzsche, Friedrich, Kritische Studienausgabe. (Hg.) Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino. München 1988 (2. durchgesehene Auflage) = KSA. Rohbeck, Johannes, Zukunft der Geschichte. Geschichtsphilosophie und Zukunftsethik. Berlin 2013. Rorty, Richard, Philosophie und die Zukunft. Frankfurt a. M. 2000. Scheler, Max, »Der Mensch im Weltalter des Ausgleichs« (1927), in: Ders., Von der Ganzheit des Menschen. Bonn 1991, S. 135–160. Weber, Max, Gesamtausgabe. (Hg.) Baier, Horst u. a. Tübingen 1984 ff. = GA. Wehling, Peter, »Rationalität und Nichtwissen«, in: Zugänge zur Rationalität der Zukunft. (Hg.) Karafyllis, Nicole / Schmidt, Jan. Stuttgart/Weimar 2002, S. 255–276.
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Christoph Binkelmann, geb. 1974, Studium der Philosophie, klassischer Philologie (Latein, Griechisch) und Mathematik in Bonn und Heidelberg. 2002/03 Forschungsaufenthalt am Centre de recherche sur Hegel et l’idéalisme allemand in Poitiers (Frankreich). 2006 Dr. phil im Fach Philosophie über die Theorie der praktischen Freiheit. Fichte – Hegel (erschienen 2007 bei De Gruyter). Seit 2006 Lehrbeauftragter und wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Berlin; regelmäßiger Gastdozent am IUC Dubrovnik. Seit 2008 Redakteur des Internetauftritts und Mitglied des Internationalen Forschungsnetzwerkes Transzendentalphilosophie/ Deutscher Idealismus (www.a-priori.eu). 2009 Wiss. Mitarbeiter an der HumboldtUniversität und der Technischen Universität Berlin im Projekt »Translating Doping«. Martin Bunte, geb. 1984, Studium der Philosophie, Deutschen Philologie und Allgemeinen Religionswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit Auszeichnung; Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Philosophischen Seminars Münster am Exzellenzcluster »Religion und Politik«; Promotion zu Kants Logik der Erkenntnis bei Prof. Dr. Walter Mesch. Titel der Dissertation: Erkenntnis und Funktion. Zur Frage der Vollständigkeit und Geschlossenheit von Kants Philosophie der Erkenntnis; Publikationen: Kompendium zur vorsokratischen Philosophie (2002); Grimmelshausens Courasche als satirisches Gegenbild der Lucretia, Simpliciana (2009); Subjektivität und Transzendenz im Anattavāda (in Vorbereitung). Paul Cobben, ist Professor für moderne Philosophie an der Universität Tilburg (Niederlanden). Seine Publikationen beziehen sich auf die praktische Philosophie (in der Tradition von Kant, Hegel, Marx und der Frankfurter Schule) und vereinen systematische und histori375 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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sche Gesichtspunkte. Er veröffentlichte u. a. folgende Bücher: Das endliche Selbst, Würzburg (Königshausen & Neumann) 1999; Das Gesetz der multikulturellen Gesellschaft, Würzburg (Königshausen & Neumann) 2002; Hegel-Lexikon (ed.), Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2006; The Nature of the Self. Recognition in the Form of Right and Morality, Berlin/New York (De Gruyter) 2009; Institutions of Educations: then and today (ed.), Leiden/Boston (Brill) 2010; The Paradigm of Recognition. Freedom as Overcoming the Fear of Death, Leiden/Boston (Brill) 2012. Michael Gerten, PD Dr. phil., Magisterstudium der Philosophie, Politikwissenschaft sowie Katholischen Theologie in Bamberg. Promotion ebd. in Philosophie mit der Arbeit »Wahrheit und Methode bei Descartes«; Philosophische Habilitation in Siegen. Seit 1988 mit einigen Unterbrechungen Lehre und Forschung an der Universität Bamberg in den Fächern Philosophie, Politische Theorie, Betriebswirtschaftslehre sowie an weiteren Hochschulen. Systematische Forschungsschwerpunkte: Philosophische Grundlehre einschließlich System- und Wissenschaftslehre, Rechts- und Sozialphilosophie einschließlich Ökonomik, Ethik, Religionsphilosophie, propädeutische und transkulturelle Fragen der Philosophie. Kai Gregor, geb. 1975, Dr. phil., Studium von Philosophie, Geschichte und Physik in Berlin und Bamberg; 2002 Humboldt-Preis; 20052007 Referent der Expertenkommission des BKM zur Schaffung eines Geschichtsverbundes Aufarbeitung des SED-Unrecht; ab 2008 Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität, seit 2009 Lehrbeauftragter und wiss. Mitarbeiter an der Technischen Universität Berlin. Gründungspräsident der Internationalen Gesellschaft für Transzendentalphilosophie e.V.; seit 2012 Zenmönch und Zen-Lehrer am ZenZentrum der AZI Fuku Gen e. V. Einige Kunstprojekte seit 2010: f.i.u. revisited im Freien Museum Berlin; 2012 – earth-forum-workshop mit Shelley Sachs; 2012 forum agenda 2012 mit Dr. Hildegard Kurt; 2017 I-A-R – Institut für angewandte Realitätsveränderung mit Prof. Dr. Arthur Engelbert; 2018 Projekt zur Wirkungsmacht des Sakralen im Säkularen mit Bazon Brock; 2019 geldschule – Geld als Weg schöpferischer Freiheit mit Bernhard Vierling. Forschungsschwerpunkte: Transzendentalphilosophie, klassischer deutscher Idealismus, Romantik, Mystik, Buddhismus, Zen sowie Theorien des Paradoxalen, die Erforschung invertierter Handlungs- und erweiter376 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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ter Wahrnehmungsweisen sowie der Logiken absichtslosen Handelns und nicht-denkenden Denkens (hishiryō). Albert Mues, geb. 1937; 1957 Abitur in Detmold; 1957–1959 pharmazeutische Lehre mit pharmazeutischem Vorexamen; anschließend Studium der katholischen Theologie in Paderborn und München, mit Synodale 1965; Studium der Philosophie in München; Promotion 1976; 1977–1985 wissenschaftlicher Assistent an der Universität München, katholische Religionspädagogik; ab 1986 tätig an der Edition des Briefwechsels Friedrich Heinrich Jacobis, seit 1990 innerhalb der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Außenstelle OttoFriedrich-Universität Bamberg; dort auch Lehrbeauftragter für Philosophie. Nicolaas Nuyens, geb. 1976, Studium der Philosophie in Groningen (NL) und Berlin bis 2008. Magisterarbeit zum Thema Cassirer und die Architektonik der Philosophie der Symbolischen Formen. Mitglied des Internationalen Forschungsnetzwerkes Transzendentalphilosophie/Deutscher Idealismus (www.a-priori.eu). Arbeitet heute als Lokalisierungs- und Qualitätssicherungstester bei Apple in Cork, Irland. Matthias Scherbaum, geb. 20. 12. 1972, Studium der Philosophie, katholischen Theologie und Germanistik an den Universitäten Eichstätt, München, Bamberg und Würzburg. Promotion in Philosophie 2006, Promotion in katholischer Theologie 2015; Habilitationsprojekt in Philosophie (voraussichtlicher Abschluss: 2019). Forschungsschwerpunkte: Antike Philosophie, Deutscher Idealismus, Fundamentaltheologie. Cristiana Senigaglia, geb. 1961. Lehrbeauftragte an der Universität Passau, Studium der Philosophie, Studienpreis und Promotion über das Thema: Razionalità e Politica: Fondamenti della riflessione di Hegel e di Weber sulla burocrazia an der Universität Triest mit Auslandsaufenthalt an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Forschungsstipendium an der Universität Regensburg, Post-DocStipendium an der Universität Padua, Forschungsstipendium und mehrere Lehraufträge an der Universität Triest. Habilitation in Moralphilosophie. Arbeitsschwerpunkte: Deutscher Idealismus (Fichte, Hegel), Moralphilosophie, Sozialethik, Theorie und Geschichte der 377 https://doi.org/10.5771/9783495820575 .
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politischen Lehren und politische Philosophie (Max Weber, Kommunitarismus). Christian Spahn, geb. 1974, 2006–2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Lehrstuhl für Theoretische Philosophie (Friedrich SchillerUniversität Jena), ab 2009 Assistant Professor, (Keimyung University, Daegu, Süd-Korea). Arbeitsschwerpunkte: Philosophie des Deutschen Idealismus: Hegel, Philosophie der Natur: Philosophie der Biologie, Erkenntnistheorie, Transzendentalphilosophie. Fabian Völker, geb. 1983, Studium der Deutschen Philologie, Philosophie und Religionswissenschaft in Münster und Oslo. Seit Januar 2013 Lehrbeauftragter und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit Januar 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Interreligiöse Theologie« und Mitglied der Graduiertenschule des Exzellenzclusters »Religion und Politik« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Januar/ Februar 2013 Gastdozent (Erasmus Visiting Scholar) an der Vrije Universiteit Amsterdam / ACCORD (Amsterdam Centre for the Study of Cultural and Religious Diversity). Seit 2014 Vorstandsmitglied des Centrums für religionsbezogene Studien (CRS) der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
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