Ästhetische Kategorien: Perspektiven der Kunstwissenschaft und der Philosophie 9783839435915

Without thinking about it much, we speak of a beautiful outfit, a sublime landscape, or a dense atmosphere. The occasion

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German Pages 440 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung Aus Philosophischer Perspektive
Ästhetik – ästhetische Erfahrung – ästhetische Kategorien: Zur systematischen Orientierung
Der Dissens im ästhetischen Urteil und Kants Auflösungsversuch
Einleitung Aus Kunstwissenschaftlicher Perspektive
Die „Entgrenzung des Ästhetischen“ und die Kunstwissenschaft
Das Schöne / Kunstwissenschaft
Wenn Gegenwartskunst und die Kategorie des Schönen aufeinandertreffen
Das Schöne / Philosophie
Das Schöne als grundlegende Kategorie der Philosophie. Eine Skizze entlang von Platon, Thomas und Kant
Das Erhabene / Philosophie
Arbeit am Absoluten: Das Erhabene in philosophischer Perspektive
Das Erhabene / Kunstwissenschaft
Die Objektivität des Erhabenen: ein kunsthistorischer Versuch
Das Hässliche / Kunstwissenschaft
Ganz schön hässlich
Das Hässliche / Philosophie
Das Hässliche
Nachahmung / Philosophie
Nachahmung
Nachahmung / Kunstwissenschaft
Das Zeigen des Nicht-Zeigens
Atmosphäre / Kunstwissenschaft
Atmosphäre in der Architektur und in der freien Kunst
Atmosphäre / Philosophie
Atmosphäre als ästhetische Kategorie. Versuch einer philosophischen Annäherung an ein schwer zu fassendes Phänomen
Zeitlichkeit / Philosophie
Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding
Zeitlichkeit / Kunstwissenschaft
Zeitlichkeit
Zeichen / Kunstwissenschaft
Der „endlose“ Herrenanzug. Zum Mäandern des Sinns zwischen dem „modernen Künstler“ und der Uniform des bürgerlichen Mannes im Deutschland der Nachkriegszeit
Zeichen / Philosophie
Umrahmung des Realen. Motive einer Kunst der Zeichen im Ausgang von Proust, Morandi und Burri
Handlung_Performance_Transformation / Philosophie
Handlung – Performance – Transformation
Handlung_Performance_Transformation / Kunstwissenschaft
Performing Mimikry. Künstlerische Strategien der Transformation von Identität
Anhang
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Ästhetische Kategorien: Perspektiven der Kunstwissenschaft und der Philosophie
 9783839435915

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Monika Leisch-Kiesl | Max Gottschlich | Susanne Winder [Hg.]

Ästhetische Kategorien

Li n ze r B e i t rä g e z u r Ku n s t w i s s e n s c h a f t u n d Ph i l o s o p h i e   Monika Leisch-Kiesl I Stephan Grotz [Hg.]

Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft KATHOLISCHE PRIVAT U N IVERSITÄ T LIN Z

Beirat: Artur Boelderl, Klagenfurt Ludwig Nagl, Wien Birgit Recki, Hamburg Sigrid Schade, Zürich Anselm Wagner, Graz

Band 7

Monika Leisch-Kiesl | Max Gottschlich | Susanne Winder [Hg.]

Ästhetische Kategorien Perspektiven der Kunstwissenschaft und der Philosophie

Die Publikation wurde gefördert mit freundlicher Unterstützung von: Bischöflicher Fonds zur Förderung der Katholischen Privat-Universität Linz Günter Rombold Privatstiftung Energie AG Raiffeisen Landesbank Oberösterreich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Layout: Designstudio LUCY.D, Wien Satz: BK Layout+Textsatz, Rutzenmoos (A) Lektorat: Reinhard Kren, Linz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN: 978-3-8376-3591-1 PDF-ISBN: 978-3-8394-3591-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

9  Vorwort Monika Leisch-Kiesl | Max Gottschlich | Susanne Winder

Einleitung aus philosophischer Perspektive Ä  sthetik – ästhetische Erfahrung – ästhetische Kate­gorien: Zur systematischen Orientierung Max Gottschlich 11

37  Der Dissens im ästhetischen Urteil und Kants Auflösungsversuch Wilhelm Lütterfelds Einleitung aus kunstwissenschaftlicher Perspektive 47  Die

„Entgrenzung des Ästhetischen“ und die Kunstwissen­schaft Monika Leisch-Kiesl | Susanne Winder

Das Schöne | Kunstwissenschaft 53  Wenn

Gegenwartskunst und die Kategorie des Schönen aufeinandertreffen Monika Leisch-Kiesl Das Schöne | Philosophie Schöne als grundlegende Kategorie der Philosophie. Eine Skizze entlang von Platon, Thomas und Kant Michael Hofer 75  Das

Das Erhabene | Philosophie am Absoluten: Das Erhabene in philosophischer Perspektive Stephan Grotz 101  Arbeit

Das Erhabene | Kunstwissenschaft 125  Die Objektivität des Erhabenen: ein kunsthistorischer Versuch Andrei Pop

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Das Hässliche | Kunstwissenschaft 49 Ganz schön hässlich 1 Wilfried Lipp im Gespräch mit Monika Leisch-Kiesl Das Hässliche | Philosophie 69 Das Hässliche 1 Max Gottschlich Nachahmung | Philosophie 93 Nachahmung 1 Leo Dorner Nachahmung | Kunstwissenschaft 15 Das Zeigen des Nicht-Zeigens 2 Christian Spies Atmosphäre | Kunstwissenschaft 35  2 Atmosphäre in der Architektur und in der freien Kunst Susanne Hofmann Atmosphäre | Philosophie 253  Atmosphäre als ästhetische Kategorie. Versuch einer philosophischen Annäherung an ein schwer zu fassendes Phänomen Florian Uhl | Antonia Krainer Zeitlichkeit | Philosophie 75 Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding 2 Günther Pöltner Zeitlichkeit | Kunstwissenschaft 01 Zeitlichkeit 3 Martin Hochleitner Zeichen | Kunstwissenschaft 323  Der „endlose“ Herrenanzug. Zum Mäandern des Sinns zwischen dem „modernen Künstler“ und der Uniform des bürgerlichen Mannes im Deutschland der Nachkriegszeit Barbara Schrödl Zeichen | Philosophie 351  U mrahmung des Realen. Motive einer Kunst der Zeichen im Ausgang von Proust, Morandi und Burri Isabella Guanzini

Inhalt

Handlung_Performance_Transformation | Philosophie 71 Handlung – Performance – Transformation 3 Dieter Mersch Handlung_Performance_Transformation | Kunstwissenschaft 395  Performing Mimikry. Künstlerische Strategien der Transformation von Identität Julia Allerstorfer Anhang 421 Abbildungsverzeichnis 425 Personenregister 430 Autorinnen und Autoren

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Vorwort

Ästhetische Kategorien sind uns alltagssprachlich geläufig. Wir sprechen von einem schönen Outfit, einer erhabenen Landschaft, einer dichten Atmosphäre. Gerade weil fraglos klar zu sein scheint, was ästhetische Kategorien bedeuten, mutieren sie vielfach zu Schlagworten, mit denen bloß vage Vorstellungen verknüpft werden – nicht nur in der Alltagssprache, auch in den Wissenschaften. Inflationärer Gebrauch führt zu einer Nivellierung und Entleerung ihrer Bedeutung. Im Gegensatz dazu stehen Ansätze innerhalb der Philosophie und der Kunstwissenschaft, die allerhöchste Erwartungen in die Ästhetik setzen – so auch in die Erschließungskraft ästhetischer Kategorien. Ästhetik wird dabei nicht als eine Disziplin unter anderen, sondern als Rationalitätskritik par excellence in Stellung gebracht. Ästhetische Kategorien stehen zwischen Bedeutungslosigkeit und höchsten Ansprüchen. Sind sie sachhaltig – und wenn ja, in welchem Sinn? Einfache Antworten greifen zu kurz. Denn das Spezifikum ästhetischer Kategorien scheint gerade darin zu liegen, dass sie weder bloß eine Eigenschaft eines Objekts prädizieren, noch auch bloß den Zustand des Subjekts artikulieren. Aber was dann? Beides zugleich – aber in welchem Sinn? Ausgangspunkt der vorliegenden Publikation war eine Ringvorlesung, die im Sommersemester 2014 von der Fakultät für Philosophie und für Kunstwissenschaft (damals „Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie ad instar facultatis“) an der Katholischen Privat-Universität Linz ausgerichtet wurde. Die Konzeption der Vorlesungsreihe, ausgewählte Kategorien einmal aus philosophischer und einmal aus kunstwissenschaftlicher Perspektive zu behandeln, stieß auf großes Interesse. Überraschende Zugänge sowie lebhafte Diskussionen im Anschluss an die Vorträge motivierten zur Veröffentlichung in Buchform.

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Der vorliegende Band thematisiert acht ausgewählte klassische und zeitgenössische Kategorien: Das Schöne, Das Erhabene, Das Hässliche, Nachahmung, Atmosphäre, Zeitlichkeit, Zeichen und Handlung_Performance_Transformation. Jede Kategorie wird aus philosophischer und aus kunstwissenschaftlicher Perspektive betrachtet. Dieses Wechselspiel kunstwissenschaftlicher Kenntnis und Aufmerksamkeit für das Einzelne von Kunst und ästhetischer Erfahrung einerseits und von philosophischer Begriffsbestimmung und Begründungsreflexion andererseits erscheint als vielversprechender Weg, die Erschließungskraft dieser Kategorien neu zu erproben. Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren, die das Gelingen dieses Vorhabens ermöglicht haben, den Bildrechtegebern für ihr großzügiges Entgegenkommen und Reinhard Kren für die sorgsame Betreuung des Projekts. Insbesondere zu Dank verpflichtet sind wir den Förderern: dem Bischöflichen Fonds zur Förderung der KU Linz, der Günter Rombold Privatstiftung, der Energie AG sowie der Raiffeisen Landesbank Oberösterreich. Monika Leisch-Kiesl Max Gottschlich Susanne Winder Linz, Frühjahr 2017

Ästhetik – ästhetische Erfahrung – ästhetische Kategorien: Zur systematischen Orientierung* Max Gottschlich

Die philosophische Auseinandersetzung mit ästhetischen Kategorien sieht sich heute vor eine dreifache Aufgabe gestellt: Erstens gilt es, angesichts einer schlagwortartig werdenden Rede in Bezug auf diese, aber auch auf die ästhetische Erfahrung und die Ästhetik insgesamt, das Bewusstsein der Sache, um die es geht, wachzuhalten. Zweitens gilt es von da her, angesichts einer scheinbar zusammenhanglosen Vielfalt von Positionen in aestheticis, übergreifende systematische Motive herauszustellen. Dies führt drittens zur Erklärung der hohen Erwartungen, die innerhalb der Philosophie seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in die Ästhetik und die Erschließungskraft ästhetischer Kategorien gesetzt werden: Ästhetik scheint nicht bloß Disziplin, sondern eine Weise von Rationalitätskritik mit übergreifender Bedeutung zu sein.1 Im Folgenden werden systematische Linien ausgezogen, die zur Beantwortung dieser Fragen sowie zum Verständnis der Verknüpfung der in den Beiträgen dieses Bandes behandelten Themen, Fragen und Probleme verhelfen mögen. I.

„Ästhetik“ wird unterschiedlich verstanden und scheint so nicht „als Disziplin mit streng definierbarem Gegenstand“2 fassbar * 1

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Für kritische Hinweise danke ich Werner Schmitt. Vgl. die Arbeiten von Wolfgang Welsch zum Begriff der „Aisthesis“ und dem „ästhetischen Denken“, wobei zusammenfassend verwiesen sei auf Welsch, Wolfgang, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.  M. 1996, 485 – 509. Barck, Karlheinz/Kliche, Dieter/Heininger, Jörg, Ästhetik/ästhetisch, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, 308 – 399, hier 309 (Karlheinz Barck).

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zu sein. Geprägt wurde der Terminus im 18. Jahrhundert von einem Vertreter der rationalistischen Schulmetaphysik, Alexander Gottlieb Baumgarten, dessen Aesthetica (1750) als die Geburtsstunde der Ästhetik im Sinne einer eigenständig sein sollenden Disziplin gilt. Wir können mit Blick auf die Geschichte der Philosophie – der Sache nach wurden seit der Antike „ästhetische“ Fragestellungen bedacht – vier Grundbedeutungen unterscheiden: Ästhetik als   1) Philosophie der (sinnlichen) Wahrnehmung,   2) Philosophie des Schönen,   3) Philosophie der Kunst und   4) Philosophie „des Ästhetischen“ und der „ästhetischen Erfahrung“3. 1) Dies ist die wörtliche Bedeutung, die auf Baumgarten zurückgeht. Sie relativiert sich in doppelter und entgegengesetzter Weise in den anderen Bedeutungen. Für 2) und 3), die terminologisch ebenfalls auf Baumgarten zurückgehen und bis zur Moderne prägend waren, ist 1) zu allgemein. In Bezug auf 4) – die spezifisch moderne Auffassung von Ästhetik4 – ist sie zu eng, da es nicht bloß um eine Wahrnehmungstheorie geht.5 Was macht eine philosophische Ästhetik zu einer solchen? Diese Frage beantwortet sich zunächst dadurch, dass wir sie von einzelwissenschaftlichen Reflexionsgestalten (kunstwissenschaftlichen, musikwissenschaftlichen, psychologischen Ästhetiken usw.) unterscheiden. Philosophische Ästhetik zeichnet sich zunächst durch die Weise ihrer Fragestellung aus. Die Philosophie geht nie unmittelbar an ihren Gegenstand heran. Es wird nicht ein bestimmtes Vorverständnis vorausgesetzt oder einfach mit Definitionen begonnen und dann weitergeschlossen. Philosophische Ästhetik setzt so z. B. nicht als selbstverständlich voraus, dass es so etwas wie sinnliche Wahrnehmung, das Schöne, ästhetische Erfahrung, Kunstwerke usw. gibt, oder 3 4 5

Vgl. Küpper, Joachim/Menke, Christoph, Einleitung, in: dies. (Hg.), Dimensionen ästhe­ tischer Erfahrung, Frankfurt a. M. 2003, 7 –15, hier 7. Zur Unterscheidung von vormoderner und moderner Kunst und Ästhetik vgl. Dorner, Leo, Traktat über vormoderne und moderne Kunst, Würzburg 2010. Vgl. Pöltner, Günther, Philosophische Ästhetik (Grundkurs Philosophie 16), Stuttgart 2008, 14 –16.

Ästhetik – ästhetische Erfahrung – ästhetische Kategorien | Max Gottschlich

gar, dass uns ihr Wesen bekannt ist, sondern deren adäquate Bestimmung ist zunächst ein Problem. Auch setzt sie ihre Begriffe bzw. Kategorien nicht als fraglos gegebenes Inventar voraus, das sie wie Werkzeuge gebraucht. Sie reflektiert ihre Kategorien – aber nicht nur wie die Einzelwissenschaften, die vorfindliche oder dokumentarisch verbürgte Gebrauchsweisen und „Anwendungsgebiete“ beschreiben, klassifizieren, ordnen usw., sondern die Philosophische Ästhetik befragt diese auf ihre Begründung und Gültigkeit hin. Im Unterschied zu einzelwissenschaftlichen Ästhetiken geht es in der Philosophischen Ästhetik immer auch um Argumentationsformen und deren zugrundeliegende Prinzipien, die in die Reflexion aufgenommen und geprüft werden. Philosophische Ästhetik hat also die Aufgabe, ihre (sachhaltig sein sollenden) Kategorien bzw. Begriffe zu begründen, abzuleiten, in haltbarer Weise zu bestimmen. Dabei zeigt sich schnell: kein Begriff kann isoliert, für sich genommen definiert werden. Jeder Begriff hat seine Bestimmtheit in Relation zu allen anderen Begriffen, d. h. im System der Philosophie.6 So hängt etwa der Begriff des Schönen mit dem Begriff des Guten und des Wahren zusammen.7 Dabei hat Philosophische Ästhetik die Geschichtlichkeit der Begriffe in ihrer Bewegung und Differenziertheit mit zu bedenken, um nicht den weitverbreiteten Fehler zu begehen, bestimmte Bedeutungen (von Kunst, dem Schönen usw.) als starre semantische Kerne zu betrachten, unter die die geschichtlich aufgetretenen Formen als bloße Fälle subsumiert werden.8 Philosophische Ästhetik hat auch ihren eigenen Status als Wissenschaft zu bedenken und zu begründen. Diesbezüglich ist der Standpunkt Kants entscheidend, was uns nun zur systematischen Grundlage im Verständnis von Ästhetik führt. Es ist ernst zu nehmen, dass nach Kant mit Blick auf die

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Erstmals demonstriert dies Platon im Sophistes bezüglich der „höchsten Gattungen“. Noch die Negation dieses Zusammenhanges in der Moderne setzte den negierenden Zusammenhang voraus, zumindest wenn das Hässliche als Organon der Gesellschaftskritik fungieren soll. Hier ist der „hermeneutische Zirkel“ (Hans-Georg Gadamer) zu bedenken, dann aber auch dies, dass dem hermeneutischen Zirkel der „Zirkel“ des Begriffs und seiner Geschichte zugrunde liegt: Die geschichtlichen Bedingungen sind vom zureichenden Grund des Verstehens, dem Begriff im Sinne Hegels, zu unterscheiden. Andernfalls wäre die Aufgabe eines stets neuen Verstehens einer Sache aporetisch.

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Voraussetzungen und Resultate der Kritik der reinen Vernunft9 nicht umstandslos von Ästhetik als einer Wissenschaft die Rede sein kann, sondern nur von einer Kritik der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft. Man kann nicht genug betonen: die Differenz zwischen bestimmender Urteilskraft (Subsumtion des Einzelnen unter den Verstandesbegriff) und reflektierender Urteilskraft (Aufsuchen eines Allgemeinen zu einem „gegebenen“ Einzelnen) ist das entscheidende Lehrstück für die Fundierung einer Philosophischen Ästhetik.10 Denn diese ermöglicht zunächst die Einsicht in den prinzipiellen Unterschied zwischen der einen wissenschaftlichen Erfahrung und ihres korrespondierenden Gegenstandes, des räumlich-zeitlich-kategorial bestimmten Erscheinungsgegenstandes einerseits und der ästhetischen Erfahrung und ihres ungegenständlichen Gegenstandes andererseits. Die wissenschaftliche Erfahrung beruht auf dem Herstellen eindeutiger Gegenstandsbestimmtheit – wobei der Gegenstand nicht als Individuum11 vorkommen darf, sondern nur als prinzipiell durchgängig bestimmbar ansehbares Element eines gesetzmäßig (mathematisch) formulierbaren, unanschaulichen funktionalen Zusammenhanges gilt. Dagegen hat es ästhetische Erfahrung im Kant’schen Verständnis nicht mit gegenstandsbezüglicher Prädikation in diesem Sinne zu tun, sondern mit einer gefühlten Zweckmäßigkeit, und zwar von Natur und Freiheit, breiter gesagt: des Subjektiven und Objektiven. Es ist, mit Hegel formuliert, die Erfahrung einer bestimmten Einheit von Gegenstandsverhältnis und Selbstverhältnis, eine unmittelbare Präsenz der Vermittlung selbst – mithin in sich reflektierte (selbstbezügliche) Erfahrung. Hier ist das Aisthetische anders präsent und bedeutsam als in der funktionalisierten Anschauung, die der Verstand für die Erstellung der einen wissenschaftlichen Erfahrung benötigt. Denn die Anschauung im Sinne der KrV bietet ihr Material in den Anschauungsformen schon so vorstrukturiert (quantifizierbar, mathematisierbar) dar, dass ihr Status als funktionales Mittel zur Gegenstandskonstitution im 9 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, 2 Bde. (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 3 u. Bd. 4), Frankfurt a. M. 1975, im Folgenden mit der Sigle KrV abgekürzt. 10 Vgl. die Einleitung in die Kritik der Urteilskraft (in Folgenden mit der Sigle KdU abgekürzt): Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014, 87 – 96; B XXVI – XXXVIII. 11 Im Sinne der ou¬sía ai¬sqhtä der vorkantischen Metaphysik.

Ästhetik – ästhetische Erfahrung – ästhetische Kategorien | Max Gottschlich

Sinne der „Grundsätze des reinen Verstandes“ von vornherein gesichert ist. Anders gesagt: Für den Blick auf die Welt im Sinne der exakten Wissenschaftlichkeit zählt nicht das Individuum als ein immer auch anschauliches Dieses-da; es kommt als sich manifestierendes Individuum von vornherein nicht in den Blick, sondern nur als Singularität, an der sich strukturelle, mathematisch fassbare Sachhaltigkeiten fixieren lassen, die es als Fall eines Gesetzesallgemeinen ausweisen. Für die bestimmende Urteilskraft darf das als gegeben anzusehende „Material der Sinnlichkeit“ nicht an ihm selbst bestimmt sein, wenn die Sachhaltigkeit der (formal-)logischen Form, die durchgängige Bestimmbarkeit des Erscheinungsgegenstandes a priori garantiert sein können soll. Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft dagegen fordert ein immer auch sinnlich-anschauliches Einzelnes, das als an ihm selbst bedeutend (im Sinne der Zweckmäßigkeit) erfahren werden können muss. Es geht um eine andere Weise des Erkennens als jene der exakten Wissenschaftlichkeit, eine Weise, die die Kunst immer schon geübt hat, die auch die „Alltagserfahrung“ zu prägen vermag. Damit stehen wir auf der Schwelle zur Einsicht in die wirkliche, individuelle Erfahrung. Denn die wissenschaftliche Erfahrung im Sinne der KrV ist jene, in der wir uns zum wissenschaftlichen Subjekt diszipliniert haben, das sich eine eindeutig bestimmbare, widerspruchsfreie Objektwelt in einem Einheitsraum und einer Einheitszeit gegenübersetzt. Die wissenschaftliche Erfahrung lebt von der methodischen Ausklammerung der Individualität von Erfahrung in ihrer Pluralität der Räume und Zeiten.12 Wir können festhalten: Wenn wir in haltbarer und gehaltvoller Weise von ästhetischer Erfahrung und dem Ästhetischen sprechen wollen, dann nur auf der Grundlage dieser kantischen Unterscheidung. Aber: Kant zeigt zwar einerseits auf das Apriorische ästhetischer Erfahrung, andererseits aber gibt es von der logischen Grundfrage Kants her, nämlich der Frage nach der Erkenntnisdignität formaler Logik,13 keinen Weg, die (transzendentale) 12 Im Sinne der Leibniz’schen Monade. 13 Die transzendentallogische Grundfrage Kants lautet: Mit welchem Recht können die „subjektive[n] Bedingungen des Denkens“ (KrV B 122), also die Formen und Prinzipien, die die formale Logik festhält, zugleich objektive Gültigkeit beanspruchen? Wie ist Erkenntnis prinzipiell zu bestimmen, wenn a priori garantiert sein können soll, dass logisch

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Reflexion auf diese Erfahrung als Wissenschaft bzw. Erkenntnis fassen zu können. Erkenntnis ist restringiert auf Erfahrungserkenntnis im Sinne der exakten Wissenschaftlichkeit – mit der bekannten Konsequenz, dass für Kant die Frage, wie Transzendentalphilosophie selbst als eine Wissenschaft möglich sei, unbeantwortbar bleibt. Dies zeigt schon an, dass wir beim Wissenschafts- und Erkenntnisbegriff der KrV nicht stehenbleiben können. Darüber muss man aber erst einmal hinauskommen, ohne hinter das Niveau der transzendentalen Reflexion zurückzufallen. Die These lautet, dass man nur auf dem Boden des dialektischen Begriffs des Begriffs haltbar von einer Erkenntnisdignität von Ästhetik sprechen kann. Der dialektische (hegelsche) Begriff ist, was hier nur angedeutet werden kann,14 kein Gedankending, sondern Ich – aber nicht das bloß psychologische Ich oder bloß als Bewusstsein überhaupt (Kant), sondern die gedachte Einheit beider: Ich als konkret Allgemeines, Individuelles, Freies. Zwei Punkte sind entscheidend für das Verständnis: 1. Ursprünglich ist nicht ein isoliert vorgestelltes „autonomes Subjekt“, schon gar nicht das begegnende Objekt (im Sinne vorkritischen Philosophierens), aber auch nicht die Subjekt-Objekt-Relation im Sinne der Bewusstseinsdifferenz, sondern ursprünglich ist die Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation. Zwei Relationen sind zusammenzudenken: a) Selbstverhältnis und Gegenstandsverhältnis stehen nicht nebeneinander, sondern sind als ursprünglich eins zu denken: „Der Mensch ist das Wesen, das, indem es sich zur Sache verhält, sich damit zugleich zu sich selbst verhält.“15 b) Wir sind niemals unmittelbar mit den Sachen verbunden (auch nicht im wissenschaftlichen Weltumgang), korrektes Denken zugleich sachhaltig ist? Die Antwort darauf ist die KrV. Vgl. dazu die im Grundsätzlichen wie im Detail so erhellende Kantinterpretation von Liebrucks, Bruno, Sprache und Bewußtsein, Bd. 4: Die erste Revolution der Denkungsart. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a. M. 1968. 14 Zum Zusammenhang zwischen dialektischem Begriff und Sprache vgl. Gottschlich, Max, Einleitung, in: Ungler, Franz, Bruno Liebrucks’ „Sprache und Bewußtsein“. Vorlesung vom WS 1988, m. Geleitwort v. Josef Simon a. d. Nachlass hg. v. Max Gottschlich, Freiburg i. Br./München 2014, 19 –186, hier 170 –183. 15 Liebrucks, Bruno, Über das Wesen der Sprache. Vorbereitende Betrachtungen, in: ders., Erkenntnis und Dialektik. Zur Einführung in eine Philosophie von der Sprache her. Aufsätze aus den Jahren 1949 bis 1971, Den Haag 1972, 1– 20, hier 8.

Ästhetik – ästhetische Erfahrung – ästhetische Kategorien | Max Gottschlich

sondern – und darin sind wir Gesellschaftswesen – unsere Weltbegegnung ist immer durch andere Menschen vermittelt (Anerkennung, Erziehung). Der Begriff im Sinne der Dialektik ist die Entfaltung dieser Momente als „menschlicher Weltumgang“ (Bruno Liebrucks). Er existiert, indem er die Einheit der Subjekt-Objekt-Relation sowie der Subjekt-Subjekt-Relation ursprünglich aufbaut. Er ist die Einheit dieser Relationsgefüge, von der her erst die Relata ihre Bedeutung haben. 2. Diese Einheit der Relationen ist, wie Liebrucks in seiner Lehre von der Sprachlichkeit des menschlichen Weltumganges expliziert,16 durch Sprache möglich und als Sprache wirklich. Der Begriff, der als Sprache existiert, ist Ausdruck und Darstellung der Subjekt-Subjekt-ObjektRelation in untrennbarer Einheit. Für unsere Zusammenhänge ist entscheidend: Ästhetik, ästhetische Erfahrung, ästhetische Kategorien – dies setzt, fundamentalphilosophisch durchdacht, den Gedanken der Einheit von Ausdruck und Darstellung der Subjekt-Subjekt-Objekt-Identität voraus. Es geht um das Bewusstsein dessen, dass der Mensch bereits in der Aisthesis immer schon den Doppelblick auf den Gegenstand und sich selbst übt, wobei dieser Blick zugleich die gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen des Wahrgenommenen mitreflektiert. Diesen Blick führt uns die Kunst vor. Sie ist Ausdruck und Darstellung der in den Gegenständen des Weltumganges zunächst vergessenen Subjekt-Subjekt-Objekt-Identität. In diesem Sinne ist Kunst Erkenntnis. Diese Einheit der Entgegengesetzten muss aber für alles Denken, das fraglos die Erkenntnisdignität formaler Logik, zumal des Satzes des zu vermeidenden Widerspruchs, voraussetzt, Nonsens sein. So gibt es Versuche, Ästhetik von der bestimmenden Urteilskraft her als exakte Wissenschaftlichkeit zu konzipieren. Ästhetik wird damit zur Gebildebetrachtung (Liebrucks), einer verdinglichenden prädikativen Rede, die die Relata der Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation gegen ihre Vermittelt­heit

16 Liebrucks, Bruno, Sprache und Bewußtsein, 7 Bde., Frankfurt a. M. 1964 –1979.

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isoliert. Darin besteht der Kardinalfehler im Verständnis von Ästhetik. Man spricht in diesem Zusammenhang z. B. von der Decodierung von Kunstwerken, die als Zeichenkonstellationen gefasst werden, wobei das Zeichen als gegenständlicher Referent auf eine ihm äußerliche Bedeutung gefasst wird. Aisthetisches und Intelligibles stehen im cwrismóß17 zueinander. Das ist ein Denken im Zeichen der sinnlich-übersinnlichen Differenz, die das, was in der ästhetischen Erfahrung gerade eins ist, nämlich Ideales und Reales, Anschauliches und Begriff, um willen der eindeutigen, widerspruchsfreien Bestimmtheit auseinander­ reißt.18 Oder man versucht die ästhetische Erfahrung in eine Objektsprache zu übersetzen, indem diese als „Sprachspiel“ betrachtet wird, dessen Vokabular und Regeln sowie die damit verknüpften Handlungsformen beschrieben werden. Die e¬nérgeia dessen, womit es Ästhetik zu tun hat, wird so als bloßes e¢rgon betrachtet.19 Die diesem Standpunkt korrespondierende falsche Erwartungshaltung gegenüber der Philosophischen Ästhetik besteht darin, dass man meint, sie wäre unmittelbar anwendbar für die Erklärung einzelner Kunstwerke bzw. der ästhetischen Erfahrung, von ästhetischen Objekten usw. Das wäre die technische Vorstellung von Ästhetik, in der sich das neuzeitliche Verständnis von Theorie als bloße Praxisanleitung artikuliert, wobei auch die prâxiß von der técnh her verstanden ist.20 Was ist also der logische Grund des Auftretens von Äs-

17 Im Sinne einer Unterscheidung des (anschaulich) Einzelnen und (unanschaulichen) Allgemeinen, die beide Seiten als feste Bestimmungen gegeneinander fixiert – was sich paradigmatisch beim frühen und mittleren Platon ausspricht. 18 Man kann den Zeichenbegriff auch tiefer fassen, nämlich als Einheit von Zeichenbildung und Sinnbildung, wie auch in der Sprache Stimmbildung, die gegenständliche Artikulation der Laute, und Sinnbildung untrennbar sind. Vgl. dazu insgesamt Simon, Josef, Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989. 19 Dies ist in Entsprechung zu Wilhelm von Humboldts Bestimmung der Form der Sprache formuliert. Die Form der Sprache kann zunächst als bloßes Gebilde (als Zeichensystem mit bestimmter Grammatik und bestimmtem Wortschatz) betrachtet werden. Sprache ist jedoch wesentlich e¬nérgeia: die Tätigkeit des Ausdrucks und Darstellung einer Weltansicht. Sobald sie als Gebilde, d. h. als gegenständliche Form beschrieben wird, wird von dieser lebendigen Tätigkeit abstrahiert und Sprache mit dem bloßen Produkt dieser Tätigkeit der Weltauseinandersetzung (e¢rgon) identifiziert. Vgl. dazu Humboldt, Wilhelm von, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830 –1835], in: ders., Schriften zur Sprachphilosophie (Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flintner u. Klaus Giel, Bd. 3), Darmstadt 41972, 368 – 756, hier 418. 20 Es gibt Ästhetiken, die eine technische Auffassung der reflektierenden Urteilskraft begünstigen oder sich explizit als Bearbeitungsinstrument in Hinblick auf gegebene Gegenstände verstehen. Dabei wird vorausgesetzt: Es gibt Phänomene, die als ästhetische gelten, und es gibt verschiedene Theorien, die nach Brauchbarkeit eingesetzt werden. Wenn wir z. B. etwas vor uns haben, das als Kunstwerk gilt, wir aber in Bezug darauf mit einer bestimmten „Theorie“ nichts anfangen können, brauchen wir eine andere Theorie (etwa bei Arthur C. Danto).

Ästhetik – ästhetische Erfahrung – ästhetische Kategorien | Max Gottschlich

thetik als Gebildebetrachtung? Wenn das Dialektische (der gedachte Widerspruch) zugunsten eindeutiger und widerspruchsfreier gegenständlicher Bestimmtheit (hier Sinnliches/Zeichen, dort Intelligibles/Bedeutung, hier Gegenstandsverhältnis, dort Selbstverhältnis) vermieden werden soll, wird Ästhetik zur Gebildebetrachtung. II.

Wir haben nun die systematische Grundlage, von der her wir zu den eingangs genannten unterschiedlichen Formen von Ästhetik blicken und diese näher bestimmen wollen. 1)  Ästhetik im weiteren Sinne als Theorie der Sinneswahrnehmung: Diese ist Teil der philosophischen Psychologie bzw. Erkenntnisphilosophie. Die neuzeitliche Ästhetik als Lehre von der Sinnlichkeit betont den Erkenntnischarakter der Sinnlichkeit, der sinnlichen Wahrnehmung, sucht nach eigenen Gesetzlichkeiten in den Formen der Sinnlichkeit, des Wahrnehmens, wobei auch die Kunst eingeschlossen ist.21 Das Movens dessen ist eine Wendung gegen eine Einseitigkeit des rationalistischen Erkenntnisbegriffes (Christian Wolff’scher Prägung), der die Bewusstseinsinhalte hinsichtlich ihrer Klarheit und Deutlichkeit gradualisiert, während der Sinnlichkeit für sich keine Klarheit zukommen soll. Alle Klarheit gründe demnach im Verstand. Was sich darin ausspricht – und genau das ist die Weise der Rationalität, die kritisiert wird –, ist die Voraussetzung einer unmittelbaren Autonomie und Autarkie des Allgemeinbegriffs gegenüber der Anschauung, die Herrschaft des Begriffs über die Anschauung, die nur die instrumentelle Funktion des Knechts, des Materialbeschaffers innehaben soll. Das ist der Standpunkt des Eleatismus, des Verstandes, der formalen Logik. Baumgarten sieht darin eine Einseitigkeit22: Die Sinnlichkeit, die er als relativ selbständig gegen den Verstand ansetzt, habe eine eigenständige Klarheit und Vollkommenheit – was wiederum zu der unhaltbaren Meinung Anlass geben kann, dass das Denken etwas 21 Einen guten Überblick gibt Beiser, Frederick C., Diotima’s Children. German Aesthetic Rationalism from Leibniz to Lessing, Oxford 2009. 22 Vgl. Baeumler, Alfred, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Reprogr. Nachdr. d. 2., durchges. Auflage (1967), Darmstadt 1974, 195.

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von einer Art23 wäre und neben der Sinnlichkeit stünde. So naiv, wie es mitunter rezipiert wird, ist die Sache bei Baumgarten indes nicht. Gemeint sind vielmehr klare, aber „verworrene“ Bewusstseinsinhalte, bei welchen wir die Merkmale zwar nicht als solche unterscheiden können, dennoch eine ganz bestimmte Vorstellung – eine Gestalt – vergegenwärtigen: Zwar unterscheidet der Verstand z. B. Gerüche und Farben voneinander, aber die unterscheidenden Merkmale selbst können diskursiv nicht angeführt werden, sondern dazu muss auf die sinnliche Anschauung zurückverwiesen werden.24 Dies bedeutet aber, dass die Sinnlichkeit so zu denken ist, dass sie schon an ihr selbst etwas zu bedeuten gibt und nicht bloß bedeutungsnacktes Material ist. Es geht also, genau besehen, um eine Logizität der Sinnlichkeit (was nur konzipierbar ist, wenn das Denken nicht neben der Sinnlichkeit steht, sondern das Umgreifende, es selbst und sein anderes ist, was erst die Dialektik begreift). Daher ist Ästhetik als eine explizite Lehre von der Sinnlichkeit möglich und notwendig, in welcher Baumgarten nach Gesetzlichkeiten in den Formen der Sinnlichkeit, des Wahrnehmens sucht. Dabei wird Ästhetik als ergänzendes Gegengewicht zur Verstandeserkenntnis im Sinne der abstrahierenden Begriffsbildung gefasst. Letzterer setzt die Ästhetik Baumgartens eine „individualisierende Begriffsbildung“25 entgegen. Zwei miteinander verknüpfte Aspekte sind hier wesentlich: a) Baumgarten hat mit der „Neubewertung der Sinnlichkeit“ einen Grundgedanken im Blick, der ins Zentrum der Dialektik führt, nämlich die Einheit der durch den Verstand getrennten Seiten des Allgemeinen und Einzelnen, von Sinnlichkeit und Bedeutung, von Anschaulichem und Noetischem. Damit steht nichts Geringeres als ein Hauptproblem der Philosophie26, das erstmals Platon im Begriff der méqexiß aufwirft und in seiner 23 Das Denken ist, wie bereits Platon im Charmides zeigt, nicht bloß bestimmtes Allgemeines, etwas, das im Sinne einer Einteilung des Seienden als Art neben anderen stünde, sondern es ist das schlechthin Allgemeine, das sich selbst und sein anderes Umgreifende, die Voraussetzung alles Einteilens und Bestimmens, aller Gegenständlichkeit überhaupt. Mit Kant gesagt: Alle Anschauungs- und Begriffsvorstellungen müssen im Zeichen der einen logischen Form „Ich denke“ stehen können (vgl. KrV § 16). 24 Entsprechend argumentiert Baumgarten in Bezug auf das Schöne und Kunst. Vgl. Franke, Ursula, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten (Studia Leibnitiana, Supplementa 9), Wiesbaden 1972. 25 Vgl. Baeumler, Irrationalitätsproblem, 207 – 231 (Kap. 4 „Baumgartens individualisiernde Begriffsbildung“). 26 Das andere Hauptproblem ist das Problem des Subjektiven und Objektiven.

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späten Dialektik in gewisser Weise löst, zur Debatte. Baumgartens Einsicht lässt sich auf die spätplatonische Einsicht beziehen, dass Allgemeines und Einzelnes als zwei Seiten einer Vermittlungsbewegung, die das wirkliche Erkennen ist, zusammenzudenken sind, und dass dem Erkennenden diese Vermittlung immer schon objektiv im Sinne von gestalthaft entgegenkommt – andernfalls könnte der Verstandesbegriff niemals bei Gelegenheit der Wahrnehmung27 gebildet werden. Die „Sinnlichkeit“ ist nicht das abstrakt andere des Denkens, sondern durch eine unmittelbare Logizität oder Intelligibilität charakterisiert, die ernst zu nehmen ist. b) Ästhetik ist Rationalitätskritik, indem sie gegenüber der technisch-praktischen Reduktionsstufe des Anschauens und Begreifens (die dem rationalistischen Modell zugrunde liegt) diese unmittelbare Logizität der Sinnlichkeit akzentuiert. Sie eröffnet darin zumindest im Ansatz den Blick auf das wirkliche, menschliche Anschauen und Begreifen. Der technischen Vorstellung von Erkenntnis im Sinne der verständigen Diskursivität wird die Erkenntnis von etwas in nicht-begrifflicher Klarheit gegenübergestellt, in welcher es um das anschaulich Einzelne geht, das sich als etwas zeigt. Dies setzt den nur dialektisch zu begreifenden sinnlichen Allgemeinbegriff (Giambattista Vicos universale fantastico) voraus, eine unmittelbare Einheit von Sinnlichkeit und Sinn. Weil dies die menschliche Erfahrung in ihrer ganzen Breite und Tiefe kennzeichnet, hat Ästhetik bei Baumgarten einen praktisch-normativen Anspruch: Als Organon zur „Vervollkommnung“ der sinnlichen Erkenntnis soll sie zur Bildung des Menschen in nicht nur einseitiger, sondern umfassender Weise im Sinne des felix aestheticus beitragen. Kant bringt auch für die Ästhetik im weiteren Sinne den entscheidenden Wendepunkt. Mit der KrV ist zunächst die Rede von einer eigenständigen sinnlichen Erkenntnis erledigt. Warum? Weil die KrV die transzendentale Begründungsreflexion genau jenes eleatischen, technisch-praktischen Verständnisses von Anschauung und Begriff darstellt, indem sie das Gebiet der

27 Vgl. Platon, FAIDWN. Phaidon, in: ders., Phaidon. Das Gastmahl. Kratylos, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Léon Robin u. Louis Méridier, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 3), Darmstadt 1974, 1– 207, hier 58 – 59; 74b.

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einen wissenschaftlichen Erfahrung im Singular begründet und begrenzt. Die Lehre von den zwei Erkenntnisstämmen (Sinnlichkeit und Verstand) in der transzendentalen Ästhetik ist daher auch – was oft missverstanden wird – nicht als Aufwertung der Sinnlichkeit28 gegenüber der „Arroganz des Begriffs“ (Hans Blumenberg) zu verstehen. Warum das so ist, wissen wir bereits: Die Sinnlichkeit, die das Material der Erkenntnis liefert, ist stumm und blind ohne Verstandesbegriff; ja sie darf an ihr selbst keinerlei Bedeutung haben, nicht in den Begriff einfließen, da sonst der Notwendigkeitscharakter der Erkenntnis nicht sicherbar und wissenschaftliche Erfahrung unmöglich wäre. Dass die Unmittelbarkeit der sinnlichen Anschauung etwas zu bedeuten gibt, darf es dort, wo die formallogisch gefasste logische Form Erkenntnisdignität haben können soll – mithin überall dort, wo es um die Herstellung von eindeutiger, widerspruchsfreier Gegenstandsbestimmtheit geht –, nicht geben. Kant eröffnet aber in der KdU die entscheidende weitergehende Perspektive, indem er aufzeigt, dass das, was man ästhetische Erfahrung nennt, nicht eine Freizeitbeschäftigung des Menschen neben der eigentlichen wissenschaftlichen Erfahrung ist, sondern etwas vor den Blick bringt, was der Erfahrung im Sinne der KrV begründungslogisch vorausgeht. Damit wird die wissenschaftliche Erfahrung relativiert. 2)  Auch für die Ästhetik im engeren Sinne als Lehre vom Schönen und der Kunst bedeutet Kant, näherhin die KdU, eine Revolution der Denkungsart. Wichtig ist v. a. dies: Das Schöne (unkantisch verallgemeinert: das Ästhetische) ist nicht Eigenschaft eines Dinges. „Schön“ ist nicht ein Prädikat, das etwas am Gegenstand bezeichnet. Damit sind alle Ästhetiken, die als Gebildebetrachtung auftreten, erledigt. Die kritische Grundfrage lautet nicht: Wie sind ästhetische Dinge möglich, warum können wir Seiendes schön nennen?29 Sondern Ausgangspunkt kann nur das Subjekt sein: Das Schöne gibt es nur für ein Ich, nur im Urteil. Schön ist etwas nur in Relation auf das beurtei-

28 So etwa Höffe, Otfried, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2004, 81. 29 Die auf Platon beruhende klassische Bestimmung lautet: Schön ist die sinnliche Präsenz (parousía) des Entsprechens von Allgemeinem (ei®doß) und Einzelnem.

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lende/erfahrende Ich. Die kritische Frage lautet: Unter welchen allgemeingültigen und notwendigen (apriorischen) Bedingungen beurteilen wir eine Vorstellung als schön? Es geht um eine Logik der ästhetischen Beurteilung. Das ästhetische Urteil gründet in der Art und Weise, wie wir uns auf bestimmte Gegenstände beziehen, nämlich in Bezug auf das Gefühl der Lust/Unlust, das sich im Tun der reflektierenden Urteilskraft herstellt. Entscheidend ist: der Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteils ist nicht eine Empfindung, sondern beurteilt wird (im Falle des Schönen) zunächst eine Einheit der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand bei Gelegenheit der Wahrnehmung von etwas, das im Sinne der vier Momente des Geschmacksurteils30 beurteilt zu werden vermag. Das Gefühl der Lust/Unlust vermittelt sich erst über die Beurteilung dieser Einheit der Erkenntnisvermögen in der Art und Weise des Vorstellens von etwas. Reflexion oder Selbstverhältnis und Gegenstandsverhältnis kommen im Sinne der Zweckmäßigkeit (ohne Bewusstsein eines Zwecks wie im Handeln und Herstellen) zusammen. In dieser Einheit besteht dasjenige, was man ästhetische Erfahrung nennt. Die kopernikanische Wende in der Ästhetik besteht also im Schritt über das Reflektieren in gegenständlicher Gerichtetheit (Was macht ein ästhetisches Objekt aus?) hinaus zur Frage hin: Was macht ästhetische Erfahrung aus? Die Dignität der ästhetischen Erfahrung besteht darin, dass sie Erfahrung einer Entsprechung ist, und zwar jener entgegengesetzten Bestimmungen, zu denen Kant die „unbekannte Wurzel“, d. h. die Einheit der theoretischen und praktischen Vernunft finden muss, wenn die Einheit der Vernunft nicht auseinanderbrechen soll. Ästhetik gewinnt damit systematisch übergreifende Bedeutung. Kants Begriff der Ästhetik bzw. der ästhetischen Erfahrung grenzt sich also in doppelter Hinsicht ab: a) Ästhetische Erfahrung hat es nicht mit „ästhetischen Objekten“ zu tun, die, wie in exakter Wissenschaftlichkeit, in gegenständlicher Prädikation in eindeutiger Weise zu „decodieren“ wären. Das Schöne gefalle „ohne Be-

30 Vgl. KdU §§ 1– 22.

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griffe“31 – d. h. es bedarf für die ästhetische Erfahrung nicht erst der subsumierenden Tätigkeit der bestimmenden Urteilskraft. Letzteres praktiziert das Erklären der Physik: Der Verstand konstituiert ein gesetzlich bestimmtes Insgesamt von Erscheinungen, eine „übersinnliche Welt“32 von Gesetzen und Kräften, welche die Phänomene als gesetzmäßige Fälle transparent machen soll. In diesem Erklären des Phänomens aber muss das Einzelne, zumal das Lebendige, als wirkliches Individuum methodisch übersprungen werden, ohne dass es durch die fortschreitende Spezifikation der Gesetze als Individuum wiederum eingeholt werden könnte.33 Gleiches gilt für das Erklären von Kunstwerken in einer sich als Gebildebetrachtung verstehenden Ästhetik: Es wird in verschiedenen Hinsichten beschrieben als Fall von x (soziale Umstände, Künstlerbiographie, Form, Gattung, Stil, Material, Herstellungstechnik usw.), wodurch die ästhetische Erfahrung aufgeschlossen werden soll. Das Wohlgefallen in der individuellen Anschauung kann aber nicht auf diesen Begriff gebracht werden. Man muss z. B. keinen wissenschaftlichen Begriff von der Fugenform haben, um die Schönheit einer Bach’schen Fuge vollziehen zu können. b) Ästhetische Erfahrung hat es umgekehrt auch nicht mit bloß Psychologischem, dem Geschmack im Sinne des schlecht Subjektiven zu tun. Angesichts verbreiteter Missverständnisse ist zu betonen, dass Kants Verankerung des Schönen im Urteil nicht gleichbedeutend ist mit dem, was das Sprüchlein „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“ besagt. Oft wird in vernebelnder Weise von der „Subjektivierung der Ästhetik“ gesprochen, die Kant vorgenommen habe.34 Es geht beim „ästhetischen Reflexionsurteil“ aber gerade nicht um ein Urteil, das 31 Vgl. KdU § 6. 32 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 3), Frankfurt a. M. 122012, 107 –136 (Kap. III „Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt“). 33 Vgl. dazu bereits KdU § 75, wo Kant die prinzipielle Grenze der Reichweite des Erklärens exakter Wissenschaftlichkeit angesichts des Organischen festhält. 34 Gewisse Formulierungen Kants sind irreleitend, wenn sie nicht im größeren Kontext verstanden werden: „Was an der Vorstellung eines Objekts bloß subjektiv ist, d. i. ihre Beziehung auf das Subjekt, nicht auf den Gegenstand ausmacht, ist die ästhetische Beschaffenheit desselben […].“ KdU B XLIII.

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bloß subjektiv wäre wie das „ästhetische Sinnenurteil“35, bei welchem das Urteil keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit hat. Die KdU zeigt – v. a. in der Bestimmung des allgemeinen und interesselosen Wohlgefallens – vielmehr, dass es Ästhetik nicht mit der schlechten Subjektivität zu tun hat, mit privatgültigen Vorlieben, sondern mit Allgemeingültigem – wenngleich nicht im Sinne der exakten Wissenschaftlichkeit!36 Hegel betont daher, dass Kant „das erste vernünftige Wort über Schönheit“37 zu verdanken sei. Kant ist in der Tat die Grundlage für die weitere Entwicklung der Ästhetik bis heute. Aber es bleiben nicht eingeholte Voraussetzungen: Möglichkeitsbedingung des ästhetischen Urteils bzw. des Ausübens der reflektierenden Urteilskraft ist ein Einzelnes, das in einer Weise an ihm selbst bedeutend sein können muss, dass sich das Spiel der Erkenntniskräfte bei Gelegenheit seiner Wahrnehmung herzustellen vermag. Dies kann der Erscheinungsgegenstand im Sinne der KrV niemals. Was Kant hier (ebenso in der teleologischen Urteilskraft) voraussetzt, ist der Begriff eines sich manifestierenden Wesens, also eines objektiven Selbstverhältnisses (im Sinne der Entelechie). Das wahrhaft Seiende der ehemaligen Metaphysik musste ja in der KrV als Ding an sich, als ignotum x angesehen werden, die Sinnlichkeit im Sinne der wissenschaftlichen Erfahrung als stummer und blinder Knecht des Verstandesbegriffs. Wie wäre dieser Widerspruch aufzulösen? Die Systematik der drei Kritiken gibt den entscheidenden Hinweis: Indem die KdU es mit der Einheit von theoretischer und praktischer Vernunft zu tun hat, die KrV hingegen mit der Fundierung der theoretischen Vernunft, stehen beide nicht auf derselben Ebene. Wir können sagen: Das „Ästhetische“, insofern es der wissenschaftlichen Erfahrung angehört, ist nur eine technisch-praktische Abstraktion an der 35 Zur Unterscheidung von ästhetischem Sinnenurteil und Reflexionsurteil vgl. die erste Fassung der Einleitung in die KdU, 34 – 45: „VIII. Von der Ästhetik des Beurteilungsvermögens“. 36 Sieht man Schwierigkeiten in der Begründung der Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils (vgl. den Beitrag von Wilhelm Lütterfelds in diesem Band), dann resultiert dies zunächst daraus, dass man irrigerweise meint, das ästhetische Urteil müsse den Kriterien des Urteilens im Zusammenhang mit dem technisch-praktischen Weltumgang genügen. 37 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 20), Frankfurt a. M. 1986, 377.

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wirklichen menschlichen Erfahrung. Diese thematisiert die KdU durchaus bereits als Einheit von Selbst- und Gegenstandsverhältnis, damit in Richtung des dialektischen Begriffs weisend. So wurde die KdU zum maßgeblichen Anstoß zur Entwicklung der Ansätze Schellings und Hegels. 3)  Blicken wir nun vor diesem Hintergrund zur modernen Ästhetik (ca. seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts). Man kann für diese zumindest folgende wesentliche Eigenschaften anführen: a) Das Aufgeben eines umfassenden systematischen Anspruchs, insbesondere wie er von Hegel und der Hegelschule a.) vertreten (Friedrich Theodor Vischer, Karl Rosenkranz u.  wurde. Systematisches Denken wird als Konstruktion eines äußerlichen Verstandes, als Prokrustesbett verstanden, das gegenüber der Sensibilität für das Phänomen zu distanzieren sei. Ästhetik versteht sich vielfach überhaupt als Speerspitze gegen ein einzwängendes „Systemdenken“. Dabei wird der rationalitätskritische Impuls Baumgartens aufgegriffen. b)  Eine zweifach sich unterscheidende Stellung zu den bisherigen (klassischen) Ästhetiken: Einerseits wird Ästhetik im weiteren Sinn umfassender und teilweise grundsätzlicher gefasst, vor allem als Theorie der „ästhetischen Erfahrung“. Andererseits wird Ästhetik im engeren Sinn „entgrenzt“: – als Kunstphilosophie: Diese besondert sich parallel zum geschichtlichen Auftreten der modernen Kunst, sodass es scheint, als bedürfe es für jede Art von Kunst, ja für jeden Künstler einer ganz eigenen „Theorie“. Diese Fragmentierung folgt aus dem Begriff der modernen Kunst als Reflexionskunst (Hegel): Die freigesetzte Freiheit des Bestimmenkönnens der Einheit von Material, Form und Inhalt erlaubt keine universalen Sinnlichkeitssprachen, Gattungen, Stile und Syntaxen mehr wie in der Vormoderne – mithin auch keine Leitkategorien im Verständnis derselben.38 – als Philosophie des Schönen: Das Schöne verliert in der Moderne seinen Rang als Leitkategorie. Die traditionell leitende Letztreferenz der Einheit des Wahren, Guten und Schönen 38 Vgl. dazu insgesamt Dorner, Traktat über vormoderne und moderne Kunst.

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wird negiert. Daraus folgen eine ästhetische Umwertung aller Werte (die sogenannte Befreiung des Hässlichen seit der Romantik) und das Auftreten einer Vielheit von partiell traditionell aufgeladenen, aber neu gedeuteten Bestimmungen (das Erhabene, das Charakteristische, das Interessante u. a.). Keine dieser Bestimmungen vermochte den Rang einer neuen universal verbindlichen Leitkategorie einzunehmen. So machte im Lauf des 20. Jahrhunderts eine formelle Kategorie, nämlich die des „Ästhetischen“ Karriere. Nur eine formelle Kategorie kann, so scheint es, als gemeinsamer Nenner der Kategorien moderner Ästhetik fungieren. Was ist nun mit dem Ästhetischen und der ästhetischen Erfahrung gemeint? Man kann sehen, dass die Rede vom Ästhetischen in gewisser Weise an Kant anschließt: „The concept of the aesthetic as a mode of awareness or a way of framing one’s attention has a history going back at least to Kant’s discussion of disinterestedness in his Critique of Judgement (§§ 2 – 5) […] as necessary to appreciating the beautiful and the sublime.”39 Das Ästhetische spricht nicht das Prädikat eines Objekts aus, sondern bringt unsere Beziehung auf die Vorstellung eines Gegenstandes zum Ausdruck. Aber im Unterschied zu Kant40 ist dies nur formell bestimmt: Es besteht in der Art und Weise, wie wir uns etwas bewusst machen, etwas wahrnehmen. Dabei wird ein Bezug zu Kants interesselosem Wohlgefallen hergestellt. Auch das Interesse ist eine reflexive Kategorie, die nicht unmittelbar einen Gegenstand, sondern mein Verhältnis zu etwas bestimmt. Interesselosigkeit bei Kant bedeutet Freiheit von jenen Interessen (am Angenehmen und Guten), von denen her mir das, was mir anschaulich/sinnlich begegnet, nur Mittel ist. Positiv formuliert bedeutet das: etwas um seiner selbst willen betrachten. Dies ist mit der erwähnten „awareness“ angesprochen. Worauf bezieht sich diese?

39 Crawford, Donald W., The Aesthetics of Nature and the Environment, in: Kivy, Peter (Ed.), The Blackwell Guide to Aesthetics (Blackwell Philosophy Guides 15), Oxford 2004, 306 – 324, hier 306. 40 Bei Kant ist das Apriorische des ästhetischen Urteils im Sinne der Kategorien (Interesselosigkeit usw.) sowie durch die Beziehung auf das sittlich Gute näher bestimmt.

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Der terminus ad quem der modernen Ästhetiken ist die wiederum formelle Bestimmung der ästhetischen Erfahrung des Individuellen, wobei dies als genetivus objectivus und als genetivus subjectivus zu verstehen ist. Man kann drei Interpretationsformen ästhetischer Erfahrung unterscheiden: 1. Ästhetische Erfahrung dient als Kritik eines anschauungsunabhängig gefassten Denkens, das Erkenntnisanspruch haben soll. Indirekt hat schon die KrV gezeigt, dass es dies nicht gibt. Darüber hinaus geht es darum, dass das Denken, wenn es sich als rein interpretiert im Sinne des wissenschaftlichen, technisch-praktischen Weltumganges, schematisch wird, das Einzelne als Individuum, die menschliche Wirklichkeit durch technisch-praktisch brauchbare Modelle ersetzt. Demgegenüber wird ästhetische Erfahrung als Erfahrung einer sinnlichen Unmittelbarkeit von etwas gefasst, die ihre Bedeutung nicht erst in einem bestimmten Funktionalitätszusammenhang hat. Es geht um das Einzelne, das sich gegen seine Subsumtion unter den Allgemeinbegriff spreizt, weil es als von ihm selbst her bedeutungshaft gefasst wird.41 Es geht um ein Begreifen, das Bilder und Bedeutungen erschafft, indem es empfängt, also um eine (nur dialektisch zu begreifende) Einheit von Rezeptivität und Spontaneität (ein Verfahren, dass wir in der Sprache permanent vollziehen). Wahrnehmung hat in diesem Sinne responsorischen Charakter: als interpretierende, produktive Antwort auf etwas, das sinnlich begegnet. Daher bemüht man sich um die Herausstellung des Zusammenhangs von Sinnlichkeit und Sinnbildung schon auf der Ebene der Wahrnehmung.42 Von da her wird die Kunst als Sinnbildungsprozess verstanden. Die Aufgabe der Ästhetik wird auch als Kultivierung der Wahrnehmung gefasst (z. B. von Konrad Fiedler), die über die wissenschaftliche schematische Wahrnehmung, die keinen Raum für Individualität kennt, hinausgeht – eine Wahrnehmungskultivierung, die in paradigmatischer Weise in der Kunst vollzogen werde. Moderne Ästhetik ist hier tendenziell immer Kritik an der Tendenz zur Einheits-

41 So etwa bei Theodor W. Adorno, der Inspirator für viele zeitgenössische Ästhetiken ist, aber auch in phänomenologischen und differenzphilosophisch motivierten Ästhetiken (Gilles Deleuze). 42 Vgl. Martin Seels „Ästhetik des Erscheinens“ und Ästhetik als Theorie der Aisthesis bei Gernot Böhme. Auch die sich als Symboltheorie verstehende Ästhetik (Nelson Goodman) kreist um diesen Gedanken.

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wissenschaftlichkeit. In dem Zusammenhang wird die Bedeutung der Perspektivität von Wahrnehmung, ja die Perspektivität und Endlichkeit des Erkennens überhaupt betont. 2. Der nächste Schritt besteht darin, ästhetische Erfahrung nicht bloß im Sinne der Erfahrung von etwas, das sich anschaulich präsentiert, sondern im Sinne der Erfahrung des erfahrenden Selbst zu verstehen (ein Unding im Sinne der KrV). Der rationalitätskritische Kontext ist in diesem Zusammenhang die Kritik am „autonomen Subjekt“, d. h. das Aussprechen der Unwirklichkeit des reinen Ichs im Sinne Kants, eine Wendung gegen die technische Vorstellung von Ich: als gäbe es ein (undialektisches) unmittelbares Selbstverhältnis, das sich nicht immer schon als Weltumgang im Sinne der Einheit der SubjektSubjekt-Objekt-Relation vermittelt. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der Erfahrung der Leiblichkeit von Ich für die Etablierung von Selbst- und Weltverhältnissen betont. 3.  Schließlich kann ästhetische Erfahrung so gefasst werden, dass es in ihr darum geht, diese Einheit von Selbst- und Weltverhältnis selbst ins Bewusstsein zu heben. Dabei ist der hegelsche Begriff der Erfahrung als sich selbst bewegende Einheit von Bewusstsein und Gegenstand maßgeblich. Ästhetische Erfahrung meint hier ein Innewerden eines Weltumganges. So erfahre ich etwa in der Hässlichkeit einer Maschinenwelt einen anderen Weltumgang als in der Gestaltung eines Barockgartens. In diesem Sinne kann jede menschliche Weltbegegnung als ästhetische Erfahrung begriffen werden.43 Mit der letzten Bedeutung von ästhetischer Erfahrung sind wir im Zentrum der Sache angelangt, nämlich beim dialektischen Begriff, der Entfaltung der Subjekt-Subjekt-Objekt-Identität. Ästhetische Erfahrung bedeutet hier, dass uns an der Aisthesis diese Einheit als solche aufgeht. Wir erfahren etwas, das in seiner Gegenständlichkeit nicht bloß ein anderes ist, sondern in dem wir uns als Weltumgang entgegenkommen. Nur in diesem Sinn kann es eine Erfahrung und Erkenntnis des erfahrenden Selbst geben, etwas, das Kant von seinen Voraussetzungen 43 Dieses Motiv findet sich bei Seel und in Böhmes Begriff der „Atmosphäre“, ebenso in Formen von Naturästhetik, die auf eine neue Form der Wahrnehmung der Natur abheben, in der Natur nicht bloß als Mittel, sondern als anderes Selbst zur anschaulichen Präsenz kommt. Vgl. Böhme, Gernot, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a. M. 1989. Daraus entspringt auch ein spezielles Interesse an der „Alltagskultur“.

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her als paralogistisch ansehen musste. Wir können – im Sinne der Phänomenologie des Geistes – sagen: Alle Erfahrung ist insofern ästhetisch, als sie uns zunächst gegenständlich, gestalthaft entgegenkommt. Das aber, was uns gegenständlich erscheint, ist die Vermittlung der Subjekt-Subjekt-Objekt-Relation selbst, die Totalität der vergangenen Erfahrung (auch der vorangehenden Generationen, die im Sinne Humboldts in der Sprache als „Weltansicht“ gespeichert sind). Der dialektische Begriff ist insofern immer sinnlich, als diese Unmittelbarkeit nicht übersprungen werden kann. Unsere These lautet also: Das Grundmotiv der modernen Ästhetik besteht, fundamentalphilosophisch durchleuchtet, darin, eine neue Aisthesis im Sinne eines sinnlichen Begriffs zu suchen. Diese ist nichts anderes als der Begriff im Sinne der Dialektik, der „menschliche Begriff“ (Bruno Liebrucks). Gegenüber der Verabsolutierung des technisch-praktischen Weltumganges und der damit einhergehenden Verkürzung des Menschen auf ein anschauungsunabhängiges Denken und den Wirklichkeitsverlust auch des Anschauens, soll dieser menschliche Begriff in Erinnerung gebracht werden. Dies ist der Grund der hohen Erwartungen in die Ästhetik. Insofern ist Ästhetik nicht bloß „Disziplin“ (sofern es so etwas in der Philosophie überhaupt gibt), sondern durchaus als Rationalitätskritik zu fassen. Es geht um die Kritik des abstrakten (d. h. in sich nicht differenten) Allgemeinbegriffs (des Begriffs der formalen Logik), der abstrakten Identität im Zeichen des konkreten Allgemeinbegriffs, der konkreten Identität (der Einheit Unterschiedener), mithin der internen Pluralität des menschlichen Weltumganges.44 Darin gründet das den Ansätzen gemeinsame Interesse am Individuellen, das mir etwas in seinem Sich-Zeigen zu bedeuten gibt – und darin zugleich auf mich zeigt. Aus dieser Volte gegen den Verstandesbegriff entspringt auch die Suche nach neuen Kategorien, die dies zum Ausdruck bringen (z. B. Böhmes „Atmosphäre“). Von da her ergeben sich auch die Verbindung zum Praktischen und der in der Moderne zentrale gesellschaftskritische Impuls

44 Adornos Emphase des Nicht-Identischen gegenüber der Dominanz eines Denkens im Zeichen des abstrakten Verstandesbegriffs zielt auf dieses Problem. Sein Ansatz weist aber in die Richtung einer entgegengesetzten Einseitigkeit: zur Verabsolutierung der Nicht-Identität im Sinne der Verschiedenheit.

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von Ästhetik. Ist diese neue Weise der Aisthesis in ihrer Notwendigkeit erkannt, dann ist es nur eine Frage der Konsequenz, entsprechend zu handeln. Ästhetik wird so auch als Organon zur Revolutionierung des menschlichen Weltumganges gefasst, freilich in der Moderne unter negativem Vorzeichen: Das Nichtmehr-Schöne erscheint als Anklage/Kritik eines entfremdenden Weltumganges, es dient der Kritik an Herrschaftsstrukturen, die das Individuum nur als Fall kennen, der gewaltsam einverleibt, integriert wird. Zusammengefasst: Das systematische Grundthema der Ästhetik (das zugleich jenes der Philosophie überhaupt ist) besteht im Problem der Vereinigung der entgegengesetzten Bestimmungen45: von Sinn und Sinnlichkeit, Einzelnem und Allgemeinem, Denken und Anschauung/Wahrnehmung, von Subjektivem und Objektivem, Erkennen und Handeln. Dies zielt aber nicht auf einen Perspektivismus, sondern auf ein Wachhalten des Bewusstseins der Totalität gegenüber technisch-praktischen Einseitigkeiten. Anders gewendet ist das Thema der Ästhetik die Erfahrung von Wirklichkeit, wobei Wirklichkeit weder schlecht objektiv im Sinne der Faktenaußenwelt noch schlecht subjektiv im Sinne der Fakteninnenwelt zu denken ist, sondern, wie Hegels Logik zeigt, als Einheit von Innerem und Äußerem, näherhin: von Gegenstands- und Selbstverhältnis. Gegenüber dem verobjektivierenden Blick des technischen Weltumganges zeigt sich Wirklichkeit immer im Doppelblick auf Gegenstand und zugleich auf sich. Ästhetik zielt auf das Bewusstsein der Einheit beider Blicke. Die Werke der Kunst führen diesen Doppelblick an ihnen selbst vor – und sind daher nicht bloße Gebilde, Zeichen auf und von etwas. Die Schwierigkeit der modernen Ästhetik besteht darin, dass die Rationalitätskritik mitunter in selbst irrationaler Weise vorgetragen wird, indem man – analog zur „anthropologischen Wende“ im 19. Jahrhundert (Ludwig Feuerbach) – unmittelbar beim Konkreten sein will und so in die entgegengesetzte Einseitigkeit verfällt. So wird der abstrakten Identität des Verstandesbegriffs ein Perspektivismus gegenübergesetzt,46 der

45 Die Einheit der Entgegengesetzten ist das Vernünftige. 46 Etwa bei Roland Barthes’ „pluralem Subjekt“.

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einer konsequenten Rationalitätskritik ebenso wenig standhalten kann; oder es wird die Unmittelbarkeit in einem Sinnlichkeits-Fetischismus hypostasiert und vergessen, dass das vermeintlich nur Sinnliche sich immer schon sprachlich, d. h. im Element des Allgemeinen vermittelnd ist. Verstand und Vernunft werden undifferenziert zusammengeworfen, überhaupt Denken, die logische Form naiv gefasst. Dieses erscheint als etwas von einer Art neben der Anschauung und Wahrnehmung, wobei Letztere Garanten für eine vorurteilslose Rezeption des wirklich Seienden sein sollen – als ob man das Denken wegdenken könnte und es Anschauung und Wahrnehmung ohne die Form des Denkens (die Form „Ich denke“ als absolute Form) für den Menschen geben könnte. Dies führt zu einem zentralen Punkt: Ästhetik bedarf der Logik zur Fundierung gerade ihrer rationalitätskritischen Motive. Sollen die Grundmotive der Ästhetik nicht nur den Status von Behauptungen haben, sondern fundamentalphilosophisch begründet sein, wird man nicht umhinkommen, sich der Frage nach dem konkreten Allgemeinbegriff zu stellen. Das ist der dialektische Begriff. Auf dem Boden der formalen Logik (mithin partiell noch transzendentallogisch) muss eine Einheit der Entgegengesetzten als Nonsens, weil nicht widerspruchsfrei konzipierbar, erscheinen. Eine Ästhetik, die auf eine solche fundamentalphilosophische Fundierung verzichtet und auf formallogischem (bzw. transzendentallogischem) Grund errichtet ist, wird niemals mehr sein als eine Gebildebetrachtung. III.

Vor diesem Hintergrund beantwortet sich die Frage nach dem Wesen und der Bedeutung ästhetischer Kategorien. Die Grundbedeutung von „Kategorie“ ist Aussageweise. So sind sie Aussageweisen ästhetischer Erfahrung. Aber in welchem Sinne und mit welchem Recht setzen wir voraus, dass sich ästhetische Erfahrung durch Kategorien, die Gedankenbestimmungen sind, zu erschließen vermag? Dies ist angesichts der in formaler Logik vorausgesetzten Trennung von Anschauung und Begriff nicht selbstverständlich. Es ist vielmehr vorausgesetzt, dass die Anschauung immer schon intellektuell und der Begriff immer schon

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sinnlich ist. Dazu aber muss die logische Form als das konkrete Allgemeine gefasst werden, das die Sinnlichkeit nicht außer sich, sondern als Unmittelbarkeit der Vermittlung in sich hat. Wir können drei Grundbedeutungen von „Kategorie“ im Anschluss an die drei „Stellungen des Gedankens zur Objektivität“ (Hegel) unterscheiden: 1. Im Rahmen der Ontologie ist sie Aussageform dessen, was nicht nur logisches, sondern zugleich seiendes Subjekt ist. Die Kategorie ist daher nicht a) Name, beliebiges Merkmalsbündel, b) Abstraktionsprodukt oder c) bloße Denkform im Sinne formaler Logik. Dies ist zu distanzieren, wenn ernsthaft von ästhetischen Kategorien gesprochen werden soll. Warum? Die Grundvoraussetzung im Begriff der Kategorie ist die Einheit des Logischen und Realen. Wie und unter welchem Prinzip ist aber diese Einheit möglich? Diese Frage ist ontologisch unbeantwortbar und erzwingt die transzendentale Reflexion. 2. Im Rahmen von Kants Transzendentalphilosophie ist die Kategorie die hinsichtlich ihrer Erkenntnisrelevanz reflektierte formallogische Form. Dabei zeigt sich die Wesentlichkeit des Anschauungsbezuges für die Sachhaltigkeit der Kategorien und dies, dass die Kategorie von der einen logischen Form schlechthin, der Form „Ich denke“ her als partikulare Synthesisform zu denken ist. So sind die Kategorien formende Formen, welche die Einheit von Denken und Sein – freilich im Sinne des Gegenstandes der wissenschaftlichen Erfahrung – konstituieren. Damit ist die Einsicht gewonnen, dass die Kategorien nicht technisch vorzustellen sind als äußere Formen, die wir auf „gegebene“ Gegenstände anwenden. Ohne Kategorie kein Gegenstand. Aber auch diese Bedeutung von Kategorie müssen wir distanzieren, denn die Bestimmungen der reflektierenden Urteilskraft ermöglichen keine „Erkenntnisurteile“, sind daher im terminologischen Sinne Kants keine Kategorien. Dieser Standpunkt beruht aber auf der Voraussetzung der Dialektik, die sich schon darin

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zeigt, dass die Kategorie nur bei sich ist, indem sie bei ihrem anderen, der Anschauung ist. 3. Im Rahmen der Dialektik (Hegels Logik) kommen die Momente von 1) und 2) zusammen: Aussageform des Wirklichen und ichhafte Synthesis zu sein. Ästhetische Kategorien werden damit als Aussageformen der menschlichen Aisthesis hinsichtlich des Ausdrucks und der Darstellung der Subjekt-Subjekt-Objekt-Identität begreifbar. Darin besteht ihre Erkenntnisdignität.

Literatur Baeumler, Alfred, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Reprogr. Nachdr. d. 2., durchges. Auflage (1967), Darmstadt 1974 Barck, Karlheinz/Kliche, Dieter/Heininger, Jörg, Ästhetik/ästhetisch, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, 308 – 399 Baumgarten, Alexander Gottlieb, Ästhetik. Lateinisch – Deutsch, 2 Bde., übers., m. Einf., Anm. u. Reg. hg. v. Dagmar Mirbach (Philosophische Bibliothek 572a u. 572b), Hamburg 2007 Beiser, Frederick C., Diotima’s Children. German Aesthetic Rationalism from Leibniz to Lessing, Oxford 2009 Böhme, Gernot, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a. M. 1989 Crawford, Donald W., The Aesthetics of Nature and the Environment, in: Kivy, Peter (Ed.), The Blackwell Guide to Aesthetics (Blackwell Philosophy Guides 15), Oxford 2004, 306 – 324 Dorner, Leo, Traktat über vormoderne und moderne Kunst, Würzburg 2010 Franke, Ursula, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten (Studia Leibnitiana, Supplementa 9), Wiesbaden 1972 Gottschlich, Max, Einleitung, in: Ungler, Franz, Bruno Liebrucks’ „Sprache und Bewußtsein“. Vorlesung vom WS 1988, m. Geleitwort v. Josef Simon a. d. Nachlass hg. v. Max Gottschlich, Freiburg i. Br./München 2014, 19 –186 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 3), Frankfurt a. M. 122012 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 20), Frankfurt a. M. 1986 Höffe, Otfried, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2004 Humboldt, Wilhelm von, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts [1830 –1835], in: ders., Schriften zur Sprachphilosophie (Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flintner u. Klaus Giel, Bd. 3), Darmstadt 41972, 368 – 756 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, 2 Bde. (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 3 u. Bd. 4), Frankfurt a. M. 1975 Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014 Küpper, Joachim/Menke, Christoph, Einleitung, in: dies. (Hg.), Dimensionen ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a. M. 2003, 7 –15

Ästhetik – ästhetische Erfahrung – ästhetische Kategorien | Max Gottschlich Liebrucks, Bruno, Sprache und Bewußtsein, 7 Bde., Frankfurt a. M. 1964 –1979 Liebrucks, Bruno, Sprache und Bewußtsein, Bd. 4: Die erste Revolution der Denkungsart. Kant: Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt a. M. 1968 Liebrucks, Bruno, Über das Wesen der Sprache. Vorbereitende Betrachtungen, in: ders., Erkenntnis und Dialektik. Zur Einführung in eine Philosophie von der Sprache her. Aufsätze aus den Jahren 1949 bis 1971, Den Haag 1972, 1– 20 Platon, FAIDWN. Phaidon, in: ders., Phaidon. Das Gastmahl. Kratylos, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Léon Robin u. Louis Méridier, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 3), Darmstadt 1974, 1– 207 Pöltner, Günther, Philosophische Ästhetik (Grundkurs Philosophie 16), Stuttgart 2008 Simon, Josef, Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989 Welsch, Wolfgang, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a. M. 1996

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Der Dissens im ästhetischen Urteil und Kants Auflösungsversuch Wilhelm Lütterfelds

Vor Kurzem war ich zu Besuch in Köln und da diskutierte ich über das große Fenster von Gerhard Richter im Kölner Dom1 mit verschiedenen Bischöfen, die darüber unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Meinung waren. Dies ist für mich ein schönes Beispiel dafür, dass offensichtlich die Logik des ästhetischen Diskurses – das heißt die begriffliche Struktur der Kommunikation über Kunst, das Schöne, das Erhabene, das Hässliche – völlig anders ist als die Logik der Kommunikation über Phänomene der natürlichen Welt; wenn wir also die empirische Wirklichkeit in Raum und Zeit beschreiben oder erklären, und wenn wir dabei Konsens suchen, oder wenn wir darüber im Streit stehen. Offenbar ist die Situation, wenn wir uns über den ästhetischen Wert eines Kunstwerkes unterhalten, in der logischen Struktur der Kommunikation anders. Und diese begriffliche Struktur ist wiederum anders als die logische Struktur der Kommunikation über Probleme der Moral oder der Metaphysik, also wenn wir über Gott sprechen und streiten, also auch dann, wenn wir keinen Konsens suchen; oder wenn es um die Freiheit geht – ob es sie gibt oder nicht; oder wenn wir in einer Mischung aus privater Erfahrung, begrifflichen Gehalten und alltäglichen sprachlichen Beobachtungen die Existenz einer geistigen Seele zum Thema machen. Was macht nun die ästhetische Diskurssituation aus? Kant hat bekanntlich drei Kritiken geschrieben, die sich mit der Erkenntnistheorie, mit der Moralphilosophie und mit der Phi-

1

Vgl. zum Richter-Fenster jetzt auch Kermani, Navid, Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015, 267 – 273.

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losophie des Schönen (beziehungsweise der Zweckmäßigkeit in der Natur) beschäftigen. In allen drei Kritiken folgen nach den Analytiken, in denen es um die begriffliche Analyse von Erkenntnis, Moral und Schönheit geht, die Dialektiken. Diese thematisieren die unvermeidlichen Widersprüche, in die wir uns verstricken, wenn wir Behauptungen über metaphysische Sachverhalte machen – wie über Gott, über die Vereinbarkeit von Glück und Moral oder über eine rationale Grundlage ästhetischer Urteile. Letzteres soll hier vorgestellt werden – als Dialektik des ästhetischen Urteils. Zunächst: Wie kann man Kunstphänomene und Phänomene des Schönen analytisch bestimmen? Ich nenne jene vier Formulierungen, die Kant in der Kritik der Urteilskraft resultathaft macht (§§ 5, 9, 17, 22). Das erste Moment in der Erklärung des Schönen lautet: „Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Missfallen, ohne alles Interesse.“2 Wir haben zum Beispiel ein Interesse am Guten im Handeln und wir haben natürlich auch ein Interesse an psychologischen, internen privaten Phänomenen, wie zum Beispiel am Angenehmen. Wenn wir etwas als Kunstwerk, als schön oder nicht schön – in allen ästhetischen Schattierungen – beurteilen, dann haben wir nach Kant kein Interesse an seinem ästhetischen Wert. Natürlich hat ein Kunstliebhaber häufig das Interesse daran, das Werk zu besitzen, wenn es künstlerisch gut ist, wenn es wertvoll ist oder wenn es ihm viel bedeutet. Diese Interessensformen fallen jedoch in der genuin ästhetischen Beurteilung weg. Darin besteht das erste Moment des analysierten Schönen: interesseloses Wohlgefallen. Die zweite Bestimmung lautet: „Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.“3 Was meint Kant mit „ohne Begriff“? Wir müssen doch, wenn wir etwas anschauen, immer begreifen, sonst ist die Anschauung unmittelbar begrifflos. Sie ist damit aber auch bestimmungslos. Das kann dieses Moment offenbar nicht bedeuten – ein Punkt, der später noch ausführlich zur Spra-

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Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014, 124 (§ 5). Die Sperrungen des Originals sind hier und im Folgenden kursiv hervorgehoben. Ebd., 134 (§ 9).

Der Dissens im ästhetischen Urteil und Kants Auflösungsversuch | Wilhelm Lütterfelds

che kommt. Der andere Punkt ist zunächst wichtiger: was „allgemein gefällt“. Wenn wir ästhetische Aussagen machen, dann können sie nicht nur darin bestehen, Ausdrucksbezeugungen eines Gefühls (eines Wohlgefallens zum Beispiel) zu sein, wie: „Aha!“, „wunderbar!“. Dies ist offenbar für das ästhetische Urteil zu wenig. Sondern wir versuchen, Aussagen zu machen, für die wir intersubjektive, allgemeine Geltung und Akzeptanz beanspruchen. Wenn ich sage: „Dies ist aber sehr schön, dieses Kirchenfenster im Kölner Dom, auch wenn es völlig ohne Heiligenbilder ist“, oder wenn ich diese Aussage genau deswegen bestreite, dann fälle ich in dem „ist“-Ausdruck des Urteils ein Urteil über einen Sachverhalt, derart, dass ich dafür beanspruche, dass es auch tatsächlich so ist. Damit entsteht das Problem der Objektivität des Schönen. Darüber hinaus beanspruche ich aber auch, dass mein Gesprächspartner zustimmt, dies auch feststellt. Würde ich dies nicht wenigstens beanspruchen, würde ich kein intersubjektives Urteil fällen; und zwar unabhängig davon, ob ich am Begriff des objektiv Schönen festhalte oder ob ich den ästhetischen Wert subjektiv in den Kunstrezipienten verlagere. Kants drittes – und sehr umstrittenes – Element in der analytischen Erklärung des Schönen soll hier nicht weiter interessieren: „Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.“4 Kant wollte eine Ästhetik schreiben, eine Philosophie des Schönen und der Kunst, und zugleich eine Philosophie der Natur. Und der Schlüsselbegriff, der beides miteinander verbinden soll, ist der Begriff des Zwecks, der in der empirischen Naturwissenschaft nicht vorkommt. In der Ästhetik eigentlich auch nicht. Aber irgendwie scheint doch in der Beurteilung des Schönen bzw. in der Kunst etwas zweckmäßig zu sein. Aber was ist darin zweckmäßig? Liegt es daran, dass das Schöne irgendwie so organisiert ist, dass es in uns ein bestimmtes Wohlgefallen oder ein bestimmtes Missfallen hervorruft? Damit wollte Kant aber nicht die Vorstellung verbunden sehen, dass das Schöne auch einen Zweck hat – ersichtlich eine sehr problematische Konstruktion. 4

Ebd., 155 (§ 17).

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Offensichtlich ist das Problem des Zwecks nicht erst in der Ästhetik, sondern bereits in der Naturphilosophie höchst umstritten. „Zweck“ ist keine Kategorie, mit der wir Objekte bestimmen, sondern „Zweck“ ist ein Begriff in unserer pragmatischen Welt des Handelns. Und trotzdem sprechen wir auch in der Natur von Zwecken, etwa bei der Beschreibung von Verhaltensweisen bei Tieren. Konrad Lorenz setzt die „Teleonomie“ an die Stelle der Teleologie. Aber Kant ist der Meinung, dass wir gar nicht anders über die Natur – zum Beispiel über das Verhalten von Tieren – urteilen können, als dass wir den Begriff des Zwecks verwenden. Allerdings handelt es sich dabei nur um unsere subjektive Interpretationsweise und Beurteilungsform natürlicher Vorgänge. Und nach Kant soll eben auch in der ästhetischen Wahrnehmung eine Zweckmäßigkeit des Schönen gegeben sein. Doch das wollen wir hier offen lassen. Der vierte Punkt in der Erklärung des Schönen führt nun direkt in das Problemzentrum des ästhetischen Diskurses: „Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird.“5 Das Wohlgefallen ist nicht nur privat, sondern etwas, das ich einem jeden unterstelle, wenn ich sage, „das ist schön“. Entsprechendes gilt für das Missfallen. Beides ist zudem als notwendig allgemein von mir unterstellt. Diese Allgemeinheit kann also nicht zufällig sein. Nun muss ich auch feststellen, dass mir im ästhetischen Diskurs häufig viele Teilnehmer, was den ästhetischen Wert eines Kunstwerkes betrifft, nicht zustimmen, wenn ich zum Beispiel sage: „Dieses Kunstwerk ist schön“ (oder hässlich). Wenn ich ein ästhetisches Urteil fälle und wenn ich darin ein allgemeines Wohlgefallen unterstelle, das zudem notwendig ist, ich also dieses Wohlgefallen als intersubjektiv streng allgemein erkenne – ist dann nicht jene immer nur partielle Konsenssituation samt Streit nicht begrifflich ausgeschlossen, obwohl die Praxis des ästhetischen Diskurses dem völlig widerspricht? Oder ist ein solcher Dissens im ästhetischen Urteil, trotz der notwendigen Allgemeinheitsansprüche, unvermeidlich? Aber dann ist das Urteil auch unvermeidlich widersprüchlich.

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Ebd., 160 (§ 22).

Der Dissens im ästhetischen Urteil und Kants Auflösungsversuch | Wilhelm Lütterfelds

Nun kann man darüber streiten, ob diese klassische Ästhetik in ihren bestimmenden Momenten heute noch haltbar ist oder ob sie modifiziert werden muss. Dies will ich hier nicht tun, sondern ich will erläutern, warum Kant den Dissens im ästhetischen Urteil für notwendig hält und welche Lösung er vorschlägt. Alle drei Kritiken Kants haben im zweiten Teil eine Dialektik. Diese besteht bei Kant aus Antinomien, das heißt aus entgegengesetzten Aussagen. Also etwa in der Erkenntnistheorie: „Der Mensch ist frei – der Mensch ist nicht frei“, oder: „Gott existiert – Gott existiert nicht“. Dies ist auch in der Ästhetik so. Ästhetische Urteile sind auf den ersten Blick notwendig widersprüchlich, das heißt, es gibt notwendig beides: das Urteil „das ist schön“ und das Urteil „das ist nicht schön“. Die notwendige ästhetische Allgemeinheit des Wertes des Kunstwerkes wird ebenso behauptet wie zugleich bestritten. Was ist der Grund dafür? Kant behandelt diese Problematik in der ästhetischen Dialektik, und sein Ausgangspunkt ist zunächst trivial: (1) „Ein jeder hat seinen eignen Geschmack.“6 Ästhetische Urteile sind zunächst private Geschmacksurteile. Doch wenn das nur so wäre, dann müssten wir unsere Geschmacksurteile für uns behalten und sie nicht Anderen zumuten. Kunstwissenschaft wäre freilich so begrifflich unmöglich. Aber dieser allbekannte, triviale Satz wird bei Kant kontrastiert durch seinen Gegen-Satz, der lautet: (2) „über den Geschmack läßt sich nicht disputieren.“7 Unter einer „Disputatio“ – die es heute als Verteidigung von Doktorarbeiten an vielen Universitäten noch gibt – versteht man eine Auseinandersetzung, die mit Begriffen operiert, mit logischen Gesetzen, mit begrifflichen Zusammenhängen, vor allem mit Argumenten, normalerweise in Form von Beweisoperationen. Über den privaten Geschmack lässt sich aber nicht disputieren, zum Beispiel nichts beweisen. Die Disputationssituation fällt hier weg. Kant fügt jedoch ausdrücklich hinzu: Dies schließt aber nicht aus, dass wir uns trotzdem in unseren ästhetischen Aussagen ununterbrochen streiten.8 Wenn allerdings die Disputationssituation wegfällt, das heißt die begriffliche Auseinandersetzung, dann

6 7 8

Ebd., 278 (§ 56). Ebd., 279 (§ 56). „[…] mithin kann über das Urtheil selbst durch Beweise nichts entschieden werden, obgleich darüber gar wohl und mit Recht gestritten werden kann.“ Ebd.

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sollte doch auch die Streitsituation wegfallen, das heißt die begriffliche Auseinandersetzung mit Argumenten. Ästhetische Urteile wären dann im Grunde nur private Geschmacksurteile. Nun stellt Kant jedoch dezidiert fest, dass sich offensichtlich sehr wohl über den ästhetischen Geschmack streiten lässt.9 Dies ist ein Kommunikationsfaktum des ästhetischen Diskurses. Dann sind aber ästhetische Urteile keine bloß privaten Geschmacksurteile, sondern implizieren Begriffe, für die wir Allgemeinheit und Intersubjektivität unterstellen. Dies ist ja schon mit der Sprachlichkeit des ästhetischen Diskurses gegeben. Liest man das Feuilleton und Berichte etwa über die documenta in Kassel oder über Richters Kerze (1982) oder über sein Fenster im Kölner Dom (2007), dann hat man durchaus den Eindruck eines argumentativen Diskurses. Es handelt sich dabei natürlich teilweise auch um einen Streit zwischen Positionen, innerhalb derer ein gewisser sachlicher Konsens herrscht, gleichwohl lässt sich gerade deswegen über den Geschmack auch streiten. Doch gerade dann geraten wir, so Kant, in eine Antinomie, also in einen scheinbar unauflöslichen Gegensatz. Auf der einen Seite behaupten wir, das ästhetische Geschmacksurteil basiere auf dem eigenen Geschmack, also nicht auf Begriffen. Begriffe sind allgemeine Vorstellungen, die wir intersubjektiv teilen. Die gibt es dann in diesem Diskurs nicht, also auch nicht bei der Bestimmung des ästhetischen Objekts im eigenen Geschmack. Das Geschmacksurteil ist ein Privaturteil, mit dem ich bestenfalls mitteile, ob mir etwas gefällt. Freilich ist es das auch. Ob ich etwas als schön empfinde, als hässlich oder geschmacklos, dies liegt immer auch in der Wahrnehmung meines eigenen Geschmacks. Für diesen zu behaupten, er sei intersubjektiv und allgemein, ist nicht falsch, sondern sinnlos. Das Geschmacksurteil fußt nicht auf dafür erforderlichen Begriffen. Aber auf der anderen Seite – das ist dann die Antithesis – müssen wir feststellen, dass das Geschmacksurteil sich sehr wohl auf Begriffe gründet. Sonst wäre jeder Streit darüber in der ästhetischen Kommunikation sinnlos. Im Streit wollen wir ja – zumindest normalerweise – so etwas wie einen allgemeinen Konsens herbeiführen, und wir wollen sehen, wie 9 „[…] über den Geschmack läßt sich streiten (obgleich nicht disputieren).“ Ebd.

Der Dissens im ästhetischen Urteil und Kants Auflösungsversuch | Wilhelm Lütterfelds

weit unsere Argumente tragen und wie weit sie nicht tragen, und zwar auf der Basis von gemeinsamen sprachlichen Überzeugungen. Dann haben wir jedoch Aussagen, die antinomisch zueinander stehen, die sich also gegenseitig ausschließen und sich widersprechen: Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffe. Es gibt in der Konsequenz dieser These also keine rationale, wissenschaftliche Aussage und Kommunikation über ästhetische Phänomene, dazu zählen die Begriffe, welche die ästhetische Wahrnehmung bestimmen, die einem Kunstgegenstand bestimmte Eigenschaften entweder zu- oder absprechen können, zumal diese auch überhaupt kein Inhalt des subjektiven Geschmacks sind. Die Antithesis lautet: Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffe. Disputieren können wir darüber zwar nicht, weil scheinbar die ästhetischen Begriffe fehlen. Gleichwohl streiten wir über den ästhetischen Wert eines Objekts, was vorauszusetzen scheint, dass das Geschmacksurteil auch mit ästhetischen Begriffen operiert, die eben nicht bloß ästhetisch neutrale Beschreibungen eines Kunstwerkes betreffen, welche wiederum unproblematisch sind, sondern gerade auch seine ästhetische Qualität. Im moralischen Diskurs ist das anders. Wenn ich sage: „Diese Person hat gelogen“, und einer sagt: „Diese Person hat nicht gelogen“, dann streiten wir mit Argumenten, und dann verwenden wir Begriffe, zum Beispiel den Begriff davon, was eine Lüge ist, oder was als Handlung im Einzelfall vorliegt, und ob eben dies eine Lüge ist oder aber nicht. Eine solche Situation haben wir beim ästhetischen Geschmacksurteil und der entsprechenden Kommunikation nicht. „Ja, aber schau doch, diese wunderschöne Farbkomposition!“ – aber was heißt hier „wunderschön“? Natürlich ist für uns der Begriff einer wunderschönen Farbkomposition bedeutungsvoll, etwa was die Art der Farben betrifft, ihre Schattierung, ihre Formen und Anordnungen. Aber dies ist kein Begriff ihrer wahrgenommenen Schönheit. Also scheint es so, als ob wir hier in einer sehr misslichen Situation sind. Einerseits Privaturteil, anderseits kommunikativer Streit! Wie bringt Kant das zusammen? Beides schließt sich doch gegenseitig aus. Nun hat Kant versucht, diese Antinomie aufzulösen. Meines Erachtens handelt es sich bei der ästheti-

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schen Antinomie der entgegengesetzten Aussagen oder Urteile um eine Struktur, die auch unsere scheinbar objektiv fundierten Aussagen über die empirische Welt kennzeichnet. Kant trennt nämlich die objektive Geltung einer Aussage über einen Sachverhalt – z. B. eines Urteils über ein Objekt („Das ist eine gelbes Auto.“) – von der intersubjektiven, allgemeinen Geltung dieser Aussage. Diese Trennung ist typisch für das ästhetische Urteil. Kant glaubt, dass wir damit den Widerspruch auflösen können. Zu diesem Zweck fügt er eine Unterscheidung ein – ein Weg, den Philosophen immer anwenden, wenn sie zwei scheinbar völlig widersprüchliche Urteile vorfinden. Auf der einen Seite steht also: das Geschmacksurteil ist begrifflos, es hat keine Intersubjektivität, es ist privat, über das Geschmacksurteil kann man nicht argumentieren, diskutieren und wissenschaftliche Aussagen machen. Und auf der anderen Seite steht: das Geschmacksurteil enthält wegen des ästhetischen Streites Begriffe, und damit fallen alle eben genannten Defizite desselben weg. Und es gibt den ästhetischen Diskurs samt kommunikativer Auseinandersetzung. Nun kommt das Wort „Begriff“ in beiden antinomischen Aussagen vor. Wenn aber „Begriff“ in beiden Aussagen im selben Sinne verwendet würde, hätten wir in der Tat einen echten Widerspruch. „Begriff“ wird aber in beiden Aussagen nicht gleichsinnig verwendet, so Kants Lösungsvorschlag. Im bloß subjektiven, je eigenen Geschmacksurteil bestimmt man ja ein ästhetisches Objekt nicht in seinen objektiven ästhetischen Qualitäten, nicht in seinen ästhetischen Eigenschaften. Dafür fehlen darin in der Tat die Begriffe. Wenn man aber dann argumentiert, das Geschmacksurteil gründe sich auf Begriffe, dann muss „Begriff“ in dieser entgegengesetzten Aussage offenbar anders verwendet werden, um einen Widerspruch zu vermeiden. Von welcher Art ist Kants eingeführte Unterscheidung? Hier hilft eine idealistische These Kants weiter. Wenn man sich – in der Ästhetik des Deutschen Idealismus, also bei Kant, Hegel, Schelling – auf etwas Ästhetisches bezieht, dann bezieht man sich auf die Wirklichkeit als Erscheinung für uns, in der wiederum eine noumenale Wirklichkeit des An sich erscheint. Im Würzburger Dom erklärte man mir vor einiger Zeit ein schönes Bild von Tod und Auferstehung. Es besteht aus einem grau-

Der Dissens im ästhetischen Urteil und Kants Auflösungsversuch | Wilhelm Lütterfelds

en Hintergrund von etwa 2 mal 2 Metern, aus einem schwarzen Balken in der Mitte, vielleicht 20 Zentimeter breit und 50 Zentimeter hoch, oberhalb ist ein flächiger Lichtschimmer hineingemalt. Die Menschen haben, so sagte man mir, nach den Bombenangriffen auf Würzburg ihre Toten in diesen Raum des Doms gebracht: der schwarze Balken als bildliches Symbol des Todes und das Licht darüber als flächiges Zeichen für die Auferstehung. Wenn man nun so das Bild interpretiert, bezieht man sich nicht auf eine objektive Eigenschaft des Schönen im Bild. Man kann zwar anfangen, die Art der Bildelemente, den Grad ihrer Farbigkeit sowie ihre Zuordnung zueinander begrifflich zu bestimmen. Aber dies betrifft nur das Bild als Erscheinung, in der für Kant jedoch eine nichtsinnliche Wirklichkeit an sich erscheint. Kant nennt diese im ästhetischen Zusammenhang „die unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns“, das sich freilich als „übersinnliche[s] Substrat“10 dieser Erscheinung all unseren Urteilen, Erkenntnissen und Aussagen entzieht. Lässt sich nun dieses „übersinnliche Substrat“, das der Erscheinung, dem sinnlich Greifbaren und Fassbaren im Bild zugrunde liegt, dem bildlichen Symbol der Auferstehung zuordnen? Oder wenn man an das Richter-Fenster im Kölner Dom denkt: keine Figuren, keine Bilder nur farbige Kästchen in einer sehr verschiedenen Anordnung – was erscheint da als „übersinnliches Substrat“? Dasselbe, was in einem Glasfenster erscheint, das aus Heiligenbildern besteht? Derart versucht Kant, den fraglichen „Begriff“ im antinomischen Geschmacksurteil zu doppeln: Der Begriff von etwas Übersinnlichem, das im Kunstwerk sinnlich erscheint, ist ein anderer Begriff als der einer ästhetischen Eigenschaft im Kunstwerk, die jedoch im Kunstwerk nicht objektivierbar vorliegen kann, weil der Geschmack begrifflich der je eigene subjektive ist. Deswegen verwenden wir das Wort „Begriff“ für Kant korrekt und widerspruchslos in zwei verschiedenen Bedeutungen, wenn wir sagen: (1) das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffe und (2) das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffe. Dann können wir diese scheinbare Widersprüchlichkeit umgehen, falls etwa Skeptiker kommen und sagen, wenn 10 Ebd., 282 (§ 57).

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beide Sätze stimmen, dann liegt Unsinn vor, weil es sich dabei um eine Kontradiktion handelt („nicht“). Darin können zwar nicht beide Sätze wahr sein, aber immerhin muss dann einer von beiden wahr sein. Mit Kants Begriffsunterscheidung kann man eine solche missliche Entscheidungssituation abwenden, und wir können beide Sätze irgendwie verstehen und akzeptieren, und beides kann nebeneinander bestehen, ohne dass man einseitig entweder den ästhetischen Objektivismus akzeptieren müsste oder den ästhetischen Rationalismus. Diese Lösung wird durch Kants Konzept der ästhetischen Qualität eines Kunstwerkes ermöglicht. Sie liegt in der Art und Weise, wie „die unbestimmte Idee des Übersinnlichen in uns“ gerade in ihrer Unbestimmtheit im Kunstwerk erscheint und auch nur unter diesem Vorbehalt darin begriffen und interpretiert wird. Schließlich glaubt Kant mit diesem Konzept zwar nicht den Streit und die Auseinandersetzung im ästhetischen Diskurs über das Schöne aus der Welt schaffen zu können. Aber zumindest lässt sich für ihn damit der ästhetische Dissens als sinnvoll, wenn auch in aller Unbestimmtheit als vernünftig und alternativlos akzeptieren.

Literatur Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014 Kermani, Navid, Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015

Die „Entgrenzung des Ästhetischen“ und die Kunstwissenschaft Monika Leisch-Kiesl | Susanne Winder

Lässt sich heute – angesichts gegenwärtiger Kunstformen und in Anbetracht einer „Entgrenzung des Ästhetikbegriffs“1 – überhaupt noch vom Schönen, vom Erhabenen oder vom Hässlichen in der Kunst sprechen, oder sind uns diese Begriffe entglitten? Zu verstaubt, zu universell in ihrem Anspruch, oder auch zu heiß umkämpft in ihrer Bedeutung, um Kunst – insbesondere aktuelle Entwicklungen – in den Blick zu bekommen? Impulsgebend für die Ringvorlesung „Ästhetische Kategorien. Kunstwissenschaft und Philosophie im Diskurs“ im Sommersemester 2014 und die daraus hervorgegangene Publikation war und ist die Frage: Haben ästhetische Kategorien in der Auseinandersetzung mit Kunst eine – über die aus der Betrachtung gewonnenen Einsichten hinausgehende – erhellende bzw. vertiefende Bedeutung? Helfen sie, die aus der Betrachtung gewonnenen Einsichten in einem weiteren Reflexionshorizont zu kontextualisieren? Die Kategorien, die in diesem Band behandelt werden, zielen weder auf Vollständigkeit noch sind sie als Ranking der wichtigsten oder gängigsten zu verstehen. Bei der Auswahl leiteten uns ganz konkrete Fragen: Welche ästhetischen Kategorien sind im heutigen Wissenschaftskontext virulent, welche sind fragwürdig geworden und doch befragenswert? Bei welchen Begriffen ist es sowohl für KunstwissenschaftlerInnen als auch

1

Vgl. Barck, Karlheinz/Fontius, Martin/Schlenstedt, Dieter/Steinwachs, Burkhart/ Wolfzettel, Friedrich, Vorwort, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, VII – XIII, hier VII.

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für PhilosophInnen lohnend, sie innerhalb der jeweiligen Theorie- und Diskurskontexte erneut zu erörtern? I. Ästhetische Kategorien in den kunstwissenschaftlichen Beiträgen

Die Auswahl der Kategorien zeigt an, dass das Interesse nicht nur klassischen bzw. kanonisch gewordenen ästhetischen Begriffen wie dem Schönen, dem Erhabenen, dem Hässlichen oder der Nachahmung gilt, sondern auch solchen, die erst in jüngerer und jüngster Zeit im Feld der Ästhetik verhandelt werden, wie etwa die Begriffe Zeichen, Atmosphäre, Zeitlichkeit oder Performativität. Die Beiträge zeugen von Interesse an der historischen Bedeutung ästhetischer Begrifflichkeiten, die aus einer heutigen Perspektive beleuchtet werden. Sie zeugen aber auch von einer Suche, die zu beantworten trachtet, unter welchen theoretischen Konzepten bzw. ästhetischen Kategorien sich Kunst heute erschließen lässt. So stößt man in den Beiträgen dieses Bandes auf eine Neubefragung traditioneller ästhetischer

Kategorien, an denen ein Bedeu-

tungs- bzw. Funktionswandel sichtbar wird: Andrei Pop gelingt es, am Beispiel eines historischen Kunstwerks für das Verständnis des Erhabenen überraschende Aspekte zu entdecken. Monika Leisch-Kiesl konfrontiert Theorien des Schönen mit Gegenwartskunst und zeigt eine neue Funktion dieser ästhetischen Kategorie auf. Christian Spies erörtert unter dem Leitbegriff der Nachahmung die Relation von Sagen und Zeigen. Eine

kritische

tektur

Hinterfragung

der heutigen

Kunst, Kultur

und

Archi-

entlang eines traditionellen Verständnisses von Ästhetik

findet sich im Gespräch mit Wilfried Lipp über das Hässliche. Ein semiotischer Zugang innerhalb der Kunstwissenschaft ist nicht neu, doch nach wie vor dazu geeignet, die Verwobenheit der Kunst

in unterschiedliche gesellschaftliche und kulturelle

Diskurse

deutlich zu machen. Barbara Schrödl analysiert den Begriff des Zeichens im Blick auf Mode und Modetheorie. In den Beiträgen von Julia Allerstorfer, Martin Hochleitner und Susanne Hofmann werden Neuformulierungen von

bzw. die

Etablierung

Kategorien erarbeitet, mit denen man Gegenwartskunst zu

fassen sucht, die auf den ersten Blick nur wenig für ästhetische

Die „Entgrenzung des Ästhetischen“ | Monika Leisch-Kiesl · Susanne Winder

Fragestellungen bereitzustellen versprechen – zumindest dann, wenn man von einem (traditionellen) Ästhetikbegriff ausgeht, der sehr eng mit einer klassischen Theorie des Schönen verbunden ist. Das Feld der Ästhetik genauso wie das der Kunst befinden sich in einem stetigen Wandel. Einen einschneidenden Wendepunkt in der Frage über den Ort und den Status von Ästhetik sieht Karlheinz Barck in den 1980er Jahren – eingebettet in die Debatte über die Postmoderne (freilich mit einer langen Vorlaufzeit).2 Die Kritik an der traditionellen Ästhetik und das Bemühen um eine Neubewertung charakterisiert er als zwei Entgrenzungsprozesse: Der erste gemahnt in Orientierung an der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs aisthesis an die Relevanz der Wahrnehmung im Alltagsverhalten und in der Wissenschaft; der zweite wird mit dem Schlagwort ‚Ästhetisierung‘ als eine „Öffnung des Geltungsbereichs der Ästhetik über Kunst und Künste hinaus für andere Bereiche von Wissen, Alltag, Politik, Ökonomie und Natur“3 beschrieben. Ersterer weist zurück in die Tradition Alexander Gottlieb Baumgartens und findet einen Niederschlag in einer in unterschiedlichen Wissenschaften beobachtbaren Aufwertung ‚sinnlicher Erkenntnis’; der Begriff der Ästhetik bezeichnet inzwischen weniger eine philosophische Teildisziplin, sondern vielmehr eine Forschungshaltung im Sinne eines „Horizont[s] von Interrelationen zwischen verschiedenen Wissens- und Lebensbereichen.“4 Letzterer wird als ein deskriptiver Begriff verstanden, der, in der Tradition Nietzsches stehend, nicht zuletzt von Wolfgang Welsch unter der Devise einer ‚Ästhetisierung der Lebenswelt’ – in Absetzung von Oberflächenphänomenen eines bloßen ‚Ästhetizismus’ – ins Spiel gebracht wurde. Aus kunstwissenschaftlicher Perspektive ist vor allem der erstgenannte Entgrenzungs- bzw. Aktualisierungsprozess der Ästhetik interessant, der Wahrnehmungsweisen aus verschie-

2

3 4

Vgl. Barck, Karlheinz, Ästhetik/ästhetisch. Einleitung: Zur Aktualität des Ästhetischen, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, 308 – 317, hier 311. Ebd., 309. Ebd., 311.

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denen Blickrichtungen befragt. So gewann der nicht zuletzt durch Gernot Böhme artikulierte Begriff der Atmosphäre innerhalb kunst- und kulturwissenschaftlicher Debatten rasch an Bedeutung. Susanne Hofmann zeigt in ihrem Aufsatz, wie diese Kategorie in der Planung und in der Rezeption von Architektur neue ästhetische Zugangsweisen eröffnet. Martin Hochleitner legt dar, welch bevorzugte Aufmerksamkeit Zeitlichkeit seit den 1990er Jahren innerhalb künstlerischer und innerhalb kuratorischer Praxis zukommt. Er lässt damit erkennen, wie der schwer fassbare Begriff der Zeit eine für das Feld der Ästhetik relevante Größe wurde. Julia Allerstorfer verdeutlicht in ihrem Beitrag, wie die Kategorie der Performativität eine sowohl ästhetische als auch ethische Relevanz künstlerischer Strategien fassbar macht. Dabei hat sie nicht nur die westlichen Kunstzentren im Blick, sondern analysiert körperliche (Selbst-)Inszenierungen von Kunstschaffenden in unterschiedlichen kulturellen Kontexten. Natürlich betrifft ebenso der zweite Aspekt der Entgrenzung in Richtung Ästhetisierung desgleichen auch die Kunstwissenschaft. Die Herausgeber der Ästhetischen Grundbegriffe sprechen in diesem Zusammenhang von einer „gegenwärtigen Entgrenzung des ästhetischen Feldes in Waren- und Alltagswelt (Reklame, Unterhaltung, Spiel), in Festkultur (Karneval, Urlaub, Sport), in rituellen und kultischen Formen der Religiosität, in staatlicher Repräsentation und Symbolik […].“5 GegenwartskünstlerInnen reflektieren diese Phänomene in ihrer Arbeit und konfrontieren so kunstwissenschaftliches Beobachten. In einer viel grundlegenderen Weise tangiert diese Entgrenzung in Richtung Ästhetisierung unseren Begriff von Wirklichkeit, wie es etwa auch Welsch betont: Insofern Wirklichkeit keine erkenntnisunabhängige Größe darstelle, bilde das Ästhetische eine fundamentale Form der Weltorientierung. „Wahrheit, Wissen und Wirklichkeit haben in den letzten zweihundert Jahren zunehmend ästhetische Konturen angenommen.“6 Kunst ist so gesehen nicht Ort der Nachahmung, sondern vielmehr Ort der

5 Barck/Fontius/Schlenstedt/Steinwachs/Wolfzettel, Vorwort, X. 6 Welsch, Wolfgang, Ästhetisierungsprozesse. Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), 7 – 29, hier 25; siehe auch die Ausführungen zu Welsch bei Barck, Ästhetik/ästhetisch. Einleitung, 315 – 316.

Die „Entgrenzung des Ästhetischen“ | Monika Leisch-Kiesl · Susanne Winder

Konstruktion von Wirklichkeit. In diesem nicht unumstrittenen Feld hat sich in den letzten Jahren auch die „Künstlerische Forschung“ zu Wort gemeldet; nicht selten begreifen sich künstlerische Projekte in einem wissenschaftlichen Sinn als Forschungsarbeiten und involvieren sich in unterschiedlichste Wissens- und Praxisfelder.7 Doch ist die in diesem Band anvisierte Stoßrichtung eine andere: Inwiefern helfen ästhetische Kategorien künstlerische Strategien und Artefakte zu erschließen und auf dieser Basis mit philosophischen Denktraditionen und Reflexionskontexten in einen Diskurs zu treten? II. Ästhetische Kategorien: Kunstwissenschaft und Philosophie

Ästhetische Kategorien könnte man aus der Sicht der Kunstwissenschaft als Haltepunkte bezeichnen, an denen sich KunsthistorikerInnen entlang bewegen, um die vielfältigen Escheinungsformen von Kunst in den (Be-)Griff zu bekommen. An diesen Haltepunkten lässt sich ein Orientierungsrahmen aufspannen, der eine gewisse Systematisierung bei der Erschließung von Kunstwerken erlaubt. Kunstwerke und Theorien bedingen sich gegenseitig und beide sollen, ja müssen sogar immer wieder neu befragt zu werden. Dort, wo die Kunst etablierte Begriffe möglicherweise vor den Kopf stößt und auf neue Fährten lockt oder die Reflexion zu neuen Wortschöpfungen drängt, erinnert die Philosophie an unterschiedliche Facetten der Begriffsgeschichte und klärt die Implikationen seitens der Kunstwissenschaft anvisierter Theoriepfade. Die einzelnen Beiträge treffen in unterschiedlicher Weise aufeinander. Manche sind im Wissen umeinander (am explizitesten in der Vortragssituation), andere unabhängig voneinander entstanden. Doch bedeutet die wechselseitige Kenntnis nicht eo ipso eine sachliche Ergänzung und Erhellung, und zieht ein voneinander unabhängiger Schreibprozess nicht automatisch die

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Siehe dazu etwa kunst und kirche 77 (4/2014), Heftthema: kunst forscht, red. v. Monika Leisch-Kiesl u. Hannes Langbein.

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Beziehungslosigkeit der Gedankengänge nach sich. Vielfältig sind die gesponnenen Fäden und gezogenen Fährten, da und dort verbinden sie sich und bilden neuartige Netze, anderswo weisen sie unbekannte Wege, die erst noch zu erproben sind.

Literatur Barck, Karlheinz, Ästhetik/ästhetisch. Einleitung: Zur Aktualität des Ästhetischen, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, 308 – 317 Barck, Karlheinz/Fontius, Martin/Schlenstedt, Dieter/Steinwachs, Burkhart/Wolfzettel, Friedrich, Vorwort, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, VII –XIII kunst und kirche 77 (4/2014), Heftthema: kunst forscht, red. v. Monika Leisch-Kiesl u. Hannes Langbein Welsch, Wolfgang, Ästhetisierungsprozesse. Phänomene, Unterscheidungen, Perspektiven, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), 7– 29

Wenn Gegenwartskunst und die Kategorie des Schönen aufeinandertreffen Monika Leisch-Kiesl

Abb. 1: Ai Weiwei, Bang, 2010 – 2013, Ausstellungsansicht: Biennale von Venedig, Französischer Pavillon, 2013

I. Ai Weiwei und die klassischen Konzeptionen des Schönen

Ai Weiwei, Bang, der deutsche Beitrag auf der 55. Biennale von Venedig 2013, präsentiert im Französischen Pavillon (die beiden Länder hatten ihre Pavillons getauscht), zeigt eine Installation bestehend aus 886 dreibeinigen Holzhockern (Abb. 1). Der Besucher wird zunächst mit einem rhizomartigen Gefüge konfrontiert, das sich über den ganzen Raum und bis zur Decke hin erstreckt. Er/Sie bewegt sich entlang der Sesselskulptur, schreitet sie ab, begibt sich ein Stück weit hinein, lässt den

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Blick nach oben schweifen, trifft auf andere BesucherInnen, geht weiter. Das gesamte Ensemble ist von der Oberlichte her in ein warmes Tageslicht getaucht, am Boden und an den Wänden entsteht ein Spiel aus Lichtreflexen und Schatten, die Gesamtatmosphäre ist trotz der Menschen im Raum ruhig. Was sehen, empfinden, erkennen wir bei einer Installation wie dieser? Und: Ist sie schön? Nach gängigen Konzeptionen der Schönheit beurteilt wohl nicht. Die Situation des Hockerensembles wirkt wirr und unsinnig. Unter gängigen Konzeptionen verstehe ich die bereits in der Antike entwickelten Auffassungen, die sich im Wesentlichen in vier Theoreme bündeln lassen: Da ist zunächst die pythagoreische Konzeption – überliefert in einigen Fragmenten, am prominentesten fassbar im sogenannten Kanon des Polyklet –, die Schönheit im Sinne eines Reflexes kosmischer Sphärenklänge als ein harmonisches Zusammenspiel der Teile begreift.1 Es ist ein stärker an der Musik orientiertes Modell, das mit den Aspekten von Maß, Proportion und Harmonie aber auch in die Bildende Kunst Eingang fand. Mit Polyklet wurde das Modell eines rechten Zusammenspiels der Maßverhältnisse zu einem Kanon erhoben, was im Zuge der weiteren Tradition nicht selten zu einer Erstarrung im Sinne festgelegter Regeln führte.2 Eine zweite Konzeption ist die bei Gorgias, Xenophon oder auch Cicero und anderen artikulierte Vorstellung einer Idealisierung des natürlich Gegebenen.3 Entwickelt wird dieses Argument meist am Körper der Frau: Um eine wirklich schöne beziehungs1

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Für die pythagoreische Tradition vgl. Diels, Hermann, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, 2 Bde., hg. v. Walther Kranz, unveränd. Nachdr. d. 6. Aufl. (1951), Berlin 1974, I, 22, 8; I, 22, 10; Aristoteles, Metaphysik. Griechisch-Deutsch. Erster Halbband: Bücher I (A)–VI (E), übers. v. Hermann Bonitz, neu bearb., m. Einl. u. Komm. hg. v. Horst Seidl (Philosophische Bibliothek 307), Hamburg 1978, 28 – 33; 985b 23 – 986b 8 (Buch I, Kap. 5); für die Überlieferung zum Kanon des Polyklet vgl. Diels, Fragmente der Vorsokratiker, I, 40 sowie Kaiser, Norbert, Schriftquellen zu Polyklet, in: Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik (AK, Liebieghaus, Museum Alter Plastik, Frankfurt a. M., 17.10.1990 – 20.01.1991), hg. v. Herbert Beck, Peter C. Bol u. Maraike Bückling, Mainz 1990, 48 – 78. Vgl. Leisch-Kiesl, Monika, Kanon, in: Kunstforum International 162 (2002), 64 –81. Vgl. Gorgíou ¿Elénh¤ ∫Egkåmion. Gorgias: Lobpreis der Helena (Fragment 11), in: Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, Griechisch-Deutsch, übers., m. e. Einl. u. Anm. hg. v. Thomas Buchheim (Philosophische Bibliothek 404), 2., verb. Aufl., Hamburg 2012, 2 –17, hier 15 (Abs. 18); Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, Griechisch-Deutsch, hg. v. Peter Jaerisch, 2., verb. Aufl., München 1977, 212 – 215; III, 10, 1– 2; Cicero, De inventione. Über die Auffindung des Stoffes, in: ders., De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorium. Über die beste Gattung von Rednern, lateinisch-deutsch, hg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Zürich 1998, 8 – 337, hier 164 –167; II, 1, 1– 3.

Gegenwartskunst und die Kategorie des Schönen | Monika Leisch-Kiesl

weise vollkommene Frau bilden zu können, müsse man mehrere (bereits von sich aus schöne) natürliche Modelle zum Vorbild nehmen und von jeder das Beste auswählen. Offen bleibt dabei die Frage nach dem Kriterium der Beurteilung; es scheint sich hierbei um ein alltäglich gängiges Argument zu handeln, nach dem der (männliche) Künstler von sich aus in der Lage ist, die Schönheit seiner (weiblichen) Modelle zu beurteilen und jeweils den besten Teil zu wählen. Für unsere Fragestellung wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass Schönheit nicht in der Natur gefunden wird, sondern in einem diese überbietenden Ideal gesehen wird. Eine dritte Konzeption des Schönen findet sich in der ebenfalls bei Xenophon, aber auch bei anderen überlieferten Vorstellung von Schönheit im Sinne einer Zweckmäßigkeit.4 Dieses Argument wird am Beispiel eines sogenannten Panzermachers entwickelt: Schön könne ein Panzer genannt werden, wenn er seinen Zweck erfüllt. Vor allem aber spielte und spielt diese Auffassung in der Architekturtheorie seit Vitruv sowie in Architekturdebatten insbesondere der Moderne eine wesentliche Rolle. Für die Vorstellung einer Zwecklosigkeit von Kunst ist in dieser Konzeption kein Platz. Als vierte und letzte seit der Antike wirksame Konzeption des Schönen sei die neuplatonische genannt, wie sie zunächst von Plotin entwickelt wurde. Hier begegnet erstmals explizit die Vorstellung von dem Schönen (im Singular) als dem Einen, Ewigen und in sich gleich Bleibenden, das sich in weiterer Folge in die Vielfalt der Erscheinungen verflüchtigt.5 Diese vor allem im Mittelalter, aber auch in der Renaissance vielerorts wirksame Vorstellung des Schönen kann der Vielfalt ‚schöner‘ Phänomene keinen wirklichen Reiz abgewinnen, sie gelten als vorläufig und damit beiläufig und ohne eigenen Erkenntniswert – ist doch ‚das‘ Schöne von ewig her gewusst. Und nicht nur gewusst, sondern

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Vgl. Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, 200 – 205; III, 8, 1–10 (hier insbesondere 202 – 203; III, 8, 5 –7) sowie 216 – 221; III, 10, 9 –15. Vgl. Plotin, Pepì toû kaloû. Das Schöne (Enneaden I, 6), in: Plotins Schriften, Bd. 1a: Die Schriften 1– 21 der chronologischen Reihenfolge. Text und Übersetzung, Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, übers. v. Richard Harder (Philosophische Bibliothek 211a), Hamburg 1956, 2 – 25 sowie ders., Pepì toû nohtoû kállouv. Die geistige Schönheit (Enneaden V, 8), in: Plotins Schriften, Bd. 3a: Die Schriften 30 – 38 der chronologischen Reihenfolge. Text und Übersetzung, Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, fortgef. v. Rudolf Beutler u. Willy Theiler, übers. v. Richard Harder (Philosophische Bibliothek 213a), Hamburg 1964, 34 – 69.

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auch gegeben. Vielfach erhält die Kunst dabei die Qualität einer Läuterung des natürlich Vielfältigen. Als solche vermöge sie den Sinnen eine Ahnung des wahren Schönen zu vermitteln. Aber es gibt darin nichts Neues oder Überraschendes zu entdecken. Für eine an diesen gängigen Konzepten geschulte Seherwartung ist Ai Weiweis Berg aus Hockern augenscheinlich nicht schön. Er ist a) nicht harmonisch. Eine am pythagoreischen Modell orientierte Reaktion könnte lauten: „Was soll dieses Chaos?“ Er bildet b) keinerlei Idealisierung natürlicher beziehungsweise alltäglicher Sitzmöbel. Eine am Modell der Idealisierung orientierte Reaktion könnte lauten: „In jedem Einrichtungshaus finde ich schönere Stühle!“ Er ist c) zwecklos. Eine an der Zweckmäßigkeit orientierte Reaktion könnte lauten: „Wozu ist das gut?!“ Und er vermittelt d) keinerlei Vorstellung des idealen beziehungsweise des einen Schönen. Wenn man von vornherein weiß, was Schönheit ist, verlässt man diese Installation jedenfalls irritiert, nicht selten verärgert. Häufig sind derart empörte Kommentare gepaart mit der erzürnten Frage: „Und das ist Kunst?!“ – Dabei ist die Verknüpfung von Schönheit und Kunst ein zusätzliches Theorem, das weiter unten diskutiert werden soll. Zunächst nochmals zurück zu Ai Weiwei (geb. 1957), dem international wohl bekanntesten Künstler Chinas, einem Konzeptkünstler, dessen Œuvre sich aus Installationen, Fotoarbeiten, Demonstrationen, regimekritischen Statements (und damit verbundener Inhaftierung), Skulpturen und Filmen zusammensetzt. Ist es völlig abwegig, Bang mit traditionellen Theoremen des Schönen in Verbindung zu bringen? Im Zuge einer aufmerksamen und an formalen Qualitäten orientierten Betrachtung lassen sich eine Reihe ästhetischer – Ästhetik verstanden im Sinne erkennender Wahrnehmung – Qualitäten erkennen. Man entdeckt die Qualität des Materials: es handelt sich um Holz, und zwar um handwerklich bearbeitetes. Man erkennt die Maserung, man erkennt Schnitzspuren, man erkennt auch Gebrauchsspuren. Auf diesen Stühlen haben Menschen gesessen, sie sind zum Teil abgewetzt und fleckig. In der im Biennale-Pavillon zu sehenden Installation kontrastierte zudem das (warme) Material Holz mit den glatten Wänden und der Stahl-Glas-Konstruktion des Daches. Weiters kommen Farb-

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qualitäten ins Spiel: Wir sehen unterschiedliche Abstufungen von hellerem und dunklerem Braun bis hin zu Schwarz. Auch diese kontrastierten mit dem Weiß der Wände und der Metallkonstruktion und den Farbschattierungen des Glases. Wie steht es mit Komposition und Raumauffassung? Es gibt kaum Horizontalen und Vertikalen, es dominieren vielmehr Schrägen und Kreisformationen – was u. a. den Eindruck der Unordnung erzeugt. Aber dennoch gibt es sowohl die Horizontal- als auch noch mehr die Vertikalerstreckung. Das Auge wandert den Hockerkonglomeraten entlang durch den Raum, häufig nach oben. Aber nicht nur das Auge, auch der Körper wandert – man bleibt bei der Betrachtung dieser Skulptur nicht stehen, sondern bewegt sich unweigerlich durch den Raum. Es besteht jedoch nicht nur eine gewisse Strukturierung hinsichtlich der Horizontalen, Vertikalen, Diagonalen und Ellipsen, sondern es kommt auch zu mehrfachen Verdichtungen, wodurch eine gewisse Rhythmik zwischen eher lockeren beziehungsweise lichten und dichteren beziehungsweise dunkleren Konglomeraten entsteht. Damit kommen auch Lichtwirkungen zum Tragen: Das Stuhlensemble ist gekonnt in den lichtdurchfluteten Hauptraum des Französischen Pavillons eingefügt. Die einzelnen Elemente nehmen das durch die Oberlichte einfallende Tageslicht auf, brechen es und werfen Schatten. Sonnenstand, Wind und Wolken tragen ihrerseits zur Bewegung und Rhythmik der – an sich fix montierten – Installation bei. Weitere synästhetische Qualitäten wie Gerüche – das Holz, die Menschen im Raum –, Temperaturempfindungen, auch der Tastsinn – trotz der Anweisung „bitte nicht berühren“ – begleiten die Wahrnehmung. Der Besucher, die Besucherin ist in einer sehr umfassenden Weise körperlich-sinnlich herausgefordert. Ich formuliere als eine 1. These: Was bei einer unvorbereiteten Konfrontation den Anschein hat, als sei es unvereinbar, nämlich Gegenwartskunst und klassische Theoreme des Schönen, lässt bei einer auf Aisthesis ausgerichteten Betrachtung neue Bezüge erkennen. So bin ich der Auffassung, dass sich bei der Installation Ai Weiweis Aspekte von Rhythmik und Harmonie im Sinne eines feinen und lebendigen Zusammenspiels der unterschiedlichen Material-, Farb-, Raum-, Licht-, Geruchs- und Empfindungsqualitäten erfah-

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ren lassen. Auch kommt eine gewisse Heraushebung aus dem Alltäglichen – Überhöhung beziehungsweise Idealisierung wären eher irreleitende Begriffe – zum Tragen. Der Betrachter gewinnt einen anderen Blick auf Stühle. Die Frage nach dem Zweck wäre mit Kant neu zu stellen, betont er doch gerade die Zwecklosigkeit als spezifische Qualitäten der Wahrnehmung des Schönen – doch dazu später. Schwierig wird es jedoch sein, die neuplatonische Konzeption an eine Arbeit wie Bang heranzutragen. Das bedeutet für These 1: Eine differenzierte Wahrnehmung von Werken der Gegenwartskunst vermag den seit der Antike überlieferten Konzeptionen des Schönen neue Dimensionen abzugewinnen. Dies impliziert, dass die klassischen Schönheitsbegriffe nicht als fixe Größen, sondern vielmehr als Strukturmomente zu begreifen sind. Mit dieser Antwort ist jedoch zunächst nicht mehr gewonnen als erstens die Einsicht, dass es lohnt, auch und gerade bei zunächst irritierenden Werken genauer hinzusehen – eine Stoßrichtung, die auf Kunstvermittlung zielt –, und zweitens die Erkenntnis, dass auch traditionelle Konzeptionen des Schönen mit neuen Inhalten zu füllen sind – eine Stoßrichtung, die auf die Virulenz der Überlieferung zielt. Doch mein Interesse hier ist ein anderes: Ist es in einem kunsttheoretischen Sinne lohnend, die Kategorie des Schönen angesichts von Werken der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts ins Spiel zu bringen? Das heißt, bietet diese Kategorie einen Erkenntnisgewinn insofern, als sie Qualitäten der Kunst pointiert, die ohne die Folie des Schönen verborgen oder zumindest diffus blieben? II. Die gegenwärtige Debatte um das Schöne in der Kunst

Wir sind keineswegs die Einzigen, die die Kategorie des Schönen erneut in die kunsttheoretische Debatte einbringen. Bereits im Jahr 2008 widmete Kunstforum International die Bände 191 und 192 dem Schönen: Schönheit I und Schönheit II.6 Diese jedenfalls in Kunstkreisen breit rezipierte Zeitschrift zu aktuellen 6

Vgl. Seidel, Martin/Raap, Jürgen (Hg.), Titel-Thema Schönheit I, in: Kunstforum International 191 (2008), 38 –177 und Seidel, Martin/Raap, Jürgen (Hg.), Titel-Thema Schönheit II, in: Kunstforum International 192 (2008), 38 –117.

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Kunstentwicklungen mit zudem auch theoretischem Anspruch fungiert in dem hier erörterten Zusammenhang als Seismograph für Phänomene, die gewissermaßen in der Luft liegen. Die Herausgeber dieses Themenschwerpunkts, Jürgen Raap und Martin Seidel, artikulieren im Editorial zunächst eine gewisse Verwunderung über den Stachel des Begriffs „Schönheit“ und schreiben – in einer Replik auf die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts: „Überall, wo es um Geld und Macht geht, wird Schönheit als strategisches Mittel missbraucht. Doch lässt falsche [bezogen auf ein dekoratives Verständnis von Schönheit, Anm. M. L-K.] oder instrumentalisierte Schönheit nicht aufs Scheitern der Schönheit schlechthin schließen.“7 Was an dieser Aussage interessiert, ist weniger der Hinweis auf möglichen Missbrauch, dem ein „wahres“ Verständnis von Schönheit entgegengehalten wird, als vielmehr die Tatsache einer (offenbar wirksamen) Strategie, das ‚Schöne‘ für die Durchsetzung von Interessen und Ideologien zu nutzen. Im Sinne einer Gretchenfrage: Was hat es mit dem Schönen auf sich, dass es als Vermarktungsstrategie – sei es für totalitäre Systeme, sei es als Mittel der Werbung – zu funktionieren scheint? Ich zitiere weiter: „Obwohl Schönheit nie wirklich weggetaucht war, zeigen sich in den letzten Jahren Tendenzen, die das Schöne herbeisehnen und herbeireden. Aus der biologischen Notwendigkeit des Schönen als Attraktivitätsfaktor im Lebenskampf leiten Künstler und Philosophen die geistige, sinnliche und psychologische Unabdingbarkeit des Schönen ab. Mehrere Ausstellungen widmeten sich der Schönheit. Sie propagierten eine neue Sinnlichkeit, suchten das Schöne in der Anmutung der Themen, der Formen und Farben und Materialien, setzten auf die schlichte Eleganz der Kunst oder auf Glanz und Glamour.“8 An dieser Aussage wäre manches kommentarbedürftig, was jedoch für die hier zu entwickelnden Argumente unerheblich ist. Ein gewisser Schönheitsboom – auch in der Kunst, und dies zu einem Zeitpunkt da man meinen könnte, die Kategorie des Schönen sei definitiv passé – ist jedenfalls offensichtlich. Aus der Fülle der in den beiden Bänden angesprochenen Aspekte, 7 8

Seidel, Martin/Raap, Jürgen, Schönheit I (Editorial), in: Kunstforum International 191 (2008), 38 – 39, hier 38. Ebd.

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aufgelisteten Ausstellungen und herangezogenen Bildwerke greife ich nur die für die Frage nach der Wahrnehmungs- und Erkenntnisleistung der Kategorie des Schönen lohnenden Gedanken heraus. Schönheit sei kein Fixstern, sie sei vielmehr abhängig von unterschiedlichen Kontexten, so die Herausgeber des Titel-Themas Schönheit. Es sei davon auszugehen, dass der Schönheitsbegriff der Werbung oder jener der Attraktivitätsforschung ein anderer ist und auch andere Intentionen verfolgt und Ansprüche erhebt als jener der Natur oder auch der Kunst. Wenn Schönheit demnach als kontextabhängig begriffen wird, so impliziert dies, dass sie auch abhängig ist von den wahrnehmenden Subjekten. Bereits Kant und vor ihm schon Diderot unterscheiden zwischen der Qualität der Wahrnehmung des Schönen und dem Schönen als Qualität eines Gegenstandes. Diderot differenziert in seinem Traité du Beau von 1751 (noch nicht so ausgefeilt wie später Kant) zwischen einem „Schönen außer mir“ und einem „Schönen in Beziehung auf mich“. „Als ‚Schönes außer mir‘ (beau hors de moi) bezeichne ich also alles, was in sich irgend etwas hat, das in meinem Verstand die Idee von Beziehungen zu erwecken vermag, und ‚Schönes in Beziehung auf mich‘ (beau par rapport à moi) nenne ich alles, was diese Idee in mir erweckt.“9 Damit kommt hier erstmals explizit der Rezipient ins Spiel. Das Schöne verbindet sich mit einer besonderen Weise der Wahrnehmung. Den letzteren Aspekt hat bekanntlich Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) höchst differenziert ausgearbeitet – während die Frage nach der Qualität des als schön wahrgenommenen Gegenstandes für ihn keinerlei Relevanz mehr besitzt.10 Die Beurteilung eines Gegenstandes als schön – in Kants Terminologie ein Geschmacksurteil, das er im Weiteren jedoch als von allgemeiner Verbindlichkeit ausweist – habe die Qualität eines „Wohlgefallen[s] […] ohne alles Interesse“.11 Näherhin: 9

Vgl. Diderot, Denis, Das Schöne. 1751 [Traité du Beau], in: ders., Ästhetische Schriften, Bd. 1, hg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1984, 98 – 137, hier 120. 10 Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014, 115 –164 (1. Abschnitt, 1. Buch: Analytik des Schönen. §§ 1– 22). 11 Vgl. ebd., 115 –124 (Erstes Moment des Geschmacksurteils, der Qualität nach. §§ 1– 5), hier 124 (Aus dem ersten Moment gefolgerte Erklärung des Schönen, § 5). Die Sperrungen des Originals sind hier und im Folgenden kursiv hervorgehoben.

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„Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.“12 Für den hier zu erörternden Zusammenhang interessiert die Wahrnehmungsqualität. Die Wahrnehmung des Schönen zeichnet sich demnach durch eine besondere Wachsamkeit und Beweglichkeit aus. Kant spricht von einem freien Spiel der Erkenntniskräfte, die – im Gegensatz zur Kategorie des Erhabenen – beim Schönen ein in Bewegung versetztes Ganzes bilden.13 Kants Konzeption des Schönen ließe sich in die Richtung weiter denken, dass das Schöne die Sinne in einer Weise affiziert, die dem Denken neue Richtungen aufstößt. Und zwar in anderer Weise als die den Verstand überfordernden Gewalten des Erhabenen, anders auch als etwa die provozierenden Kräfte des Hässlichen. Ich formuliere als eine 2. These: Die Kategorie des Schönen birgt ein Potenzial des Evozierens von positiv empfundener Aufmerksamkeit – kantisch: von „Wohlgefallen“. Diese Akzentuierung der Subjektseite impliziert auch eine Relativierung des Schönen. Das heißt, je nach Diskurs und je nach Augenmerk gewinnt die Kategorie des Schönen ihre spezifische Qualität und Relevanz. Und doch sind es spezifische (also nicht x-beliebige) Diskurse, die sich mit der Kategorie des Schönen verbinden. Letzteres ist in einem zweiten Gedanken der Herausgeber des Kunstforum-Themas angesprochen. Schönheit, so der Tenor, sei kein Oberflächenphänomen; dieses ziele eher auf die Geschmacksfrage – Geschmack nun im herkömmlichen Sinn verstanden. Das bedeutet: Die Aussage „das gefällt mir“ oder auch „das sieht gut aus“ trifft einen anderen Sachverhalt als die Aussage „das ist schön“. Letztere erhebt in einer gewissen Weise – in welcher wird noch zu prüfen sein – einen Anspruch auf Gültigkeit. Das lässt die vorhin gestellte Frage wieder aufgreifen: Leistet die Kategorie des Schönen einen Erkenntnisgewinn insofern, als sie Qualitäten der Kunst pointiert, die ohne die Folie des Schönen verborgen oder zumindest diffus blieben? 12 Ebd., 134 –155 (Drittes Moment der Geschmacksurteile, nach der Relation der Zwecke. §§ 10 –17), hier 155 (Aus diesem dritten Moment geschlossene Erklärung des Schönen, § 17). 13 Vgl. ebd., 164 –167 (§ 23 „Übergang von dem Beurteilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen“).

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62 III. Das Wahre, das Gute, das Schöne

Das Schöne affiziert, so wurde eben betont, in herausragender Weise die Sinne – und darin scheint ein spezifisches Vermögen dieser Kategorie zu liegen –, das, worauf das Schöne zielt, reicht jedoch tiefer. Was ist dieses Besondere, das die Kategorie des Schönen ins Bewusstsein lockt? Holen uns möglicherweise die alten Transzendentalien – das Wahre, das Gute, das Schöne (ohne das Eine) – wieder ein? Jene im 13. Jahrhundert beginnend mit der Summa Halensis sich ausbildende Ontologie, welche die Grundbestimmungen des Seins im Einen, Wahren und Guten zu verorten sucht, fragt auch wiederholt nach möglichen Bezügen zum Schönen. So diskutiert etwa Thomas von Aquin die Frage, inwiefern sich das Wahre auf das Gute und in weiterer Hinsicht auch auf das Schöne erstrecke. Schön werde demnach genannt, was im Angeschaut-Werden gefalle. Während das Gute das Strebevermögen evoziere, rege das Schöne das Erkenntnisvermögen an. „Das Gute und das Schöne in einem Ding sind sachlich eins, wie sie auch ein und dasselbe zur Grundlage haben, nämlich die (Wesens-)Form. Und darum wird das Gute auch als schön gerühmt. Begrifflich aber sind beide verschieden. Das Gute nämlich geht das Strebevermögen an […]. Das Schöne aber geht das Erkenntnisvermögen an, denn schön werden die Dinge genannt, deren Anblick Wohlgefallen auslöst. […] Denn die Sinne finden Wohlgefallen an harmonisch geordneten Dingen […].“14 Beachtenswert ist zum einen das Augenmerk auf das AffiziertWerden der Sinne, zum anderen, dass diese sinnliche Dimension mit dem Erkenntnisvermögen in Beziehung gesetzt wird. Ich formuliere eine 3. These: Es könnte lohnen, die Kategorie des Schönen im Sinne der Transzendentalien weiter zu denken. Allerdings gälte es, dieses „verum“ nachmetaphysisch zu fassen, als den Anspruch einer ‚Wahrheit‘, von der man nicht schon von vornherein weiß, was sich dahinter verbirgt – sei es eine Idee, eine Transzendenz oder Gott.

14 Vgl. Thomas von Aquin, Gottes Dasein und Wesen (Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollst., ungek. dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologica, übers. v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschl. u. Österr., Bd. 1 [Summa Theologica I, 1–13]), Salzburg o. J. [1933], 104 –105; I, q. 5, a. 4 ad 1 (Hervorhebungen im Original gesperrt).

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IV. Die nicht mehr schönen Künste

Warum, so ließe sich weiter fragen, besteht überhaupt ein Interesse, das Schöne und die Künste zusammen zu denken? Seit der Moderne – wobei die Frage nach deren Beginn hier offen bleiben kann (setzt man den Beginn mit den Ereignissen um die Französische Revolution, also etwas um 1800, oder mit den radikalen formalen Revolutionen der europäischen Avantgarden wie Expressionismus, Kubismus, Dadaismus etc., also mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts?) – sei es nicht mehr primäre Aufgabe der Kunst schön zu sein, vielmehr seien andere Kategorien wie Wahrhaftigkeit, das Erhabene oder das Hässliche an seine Stelle getreten. Dabei bleibt kritisch anzumerken, dass die Frage nach Kunst einerseits und nach dem Schönen andererseits an sich zwei unterschiedliche Diskurse der abendländischen Philosophieoder weiter gefasst Geistes- und Kulturgeschichte sind, die sich manchmal berühren, über weite Strecken aber getrennte Wege gehen. Im Moment habe ich sie miteinander verbunden, wenn auch, die Rede ist von den ‚nicht mehr schönen Künsten‘, mit einer Negation versehen. Halten wir uns kurz beim Begriff ‚Kunst‘ auf. Was wir heute unter ‚Kunst‘ verstehen, entstand erst mit der Renaissance; und in der Systematisierung der Artes (gemeint ist die seit dem Mittelalter geläufige Ausdifferenzierung in artes liberales und artes mechanicae) taucht der Begriff der „schönen Künste“ erstmals in Frankreich im Umfeld des Akademismus des 17. Jahrhunderts auf: Im Cabinet des Beaux-Arts von 1690 ist von acht „schönen Künsten“ zu lesen, die den herkömmlichen „freien Künsten“ gegenübergestellt werden: Éloquence, Poésie, Musique, Architecture, Peinture, Sculpture, Optique, Méchanique. Ich will mich bei den einzelnen „Künsten“ nicht näher aufhalten; wichtig ist mir: der Begriff der „schönen Künste“ begegnet erstmals 1690. Wenn man bedenkt, dass sie ab der Moderne (um 1800/um 1900) ‚nicht mehr schöne‘ sind, dann war ihre Existenz von sehr kurzer Dauer. Bleiben wir noch ein wenig beim Begriff der Kunst. Sowohl alltagssprachlich als auch innerhalb der Kunstwissenschaft hat

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sich durchgesetzt, bei allen ‚bildlichen Zeugnissen‘, die einen gewissen Sinn für ‚Gestaltung‘ erkennen lassen, von ‚Kunst‘ zu sprechen. So spricht man von „Prähistorischer Kunst“, „Antiker Kunst“, „Kunst des Mittelalters“, auch die bildlichen Zeugnisse anderer Kulturen und Kontinente werden unter den Begriff „Kunst“ subsumiert. Und dies obwohl man – jedenfalls im wissenschaftlichen Kontext – weiß, dass diese Objekte sehr unterschiedliche Funktionen erfüllten und jeweils auch anderen Qualitätskriterien unterlagen. Auch ich folge hier diesem Allgemeingebrauch von ‚Kunst‘; ‚schöne Kunst‘ scheint aber nur ein sehr kleines Segment innerhalb dieses unerschöpflichen Fundus menschlicher Kultur zu sein. – Und dennoch halten sich diese Seherwartung und dieser Reflexionsansatz mit unübersehbarer Beharrlichkeit. Ebenso gibt es die ‚nicht mehr schönen Künste‘ nicht erst seit Egon Schiele oder Pablo Picasso (wobei diese und andere ExponentInnen der Avantgarden inzwischen nirgendwo mehr Anstoß erregen), und auch nicht erst seit 1800 – wiederholt werden die Desastres de la Guerra Francisco Goyas als Markierung des ‚nicht mehr Schönen‘ genannt –, sondern quer durch die Jahrhunderte. Seien es die Fratzen und Monstren romanischer Kirchen, Passionsdarstellungen der Spätgotik (man denke etwa an Grünewald) oder eine Enthauptung des Holofernes Artemisia Gentileschis – um nur einige Beispiele zu nennen. Es gab und gibt möglicherweise viel mehr ‚nicht schöne Kunst‘ als ‚schöne Kunst‘, und auch diese (die ‚nicht schöne Kunst‘) ist in ihren Ausdrucks- und Kommunikationsformen höchst divergent. Und dennoch gibt es sie, die Rede über das Schöne in der Kunst, und zwar in unterschiedlichen Facetten. Im Alltäglichen wird diese Seherwartung unhinterfragt vorausgesetzt, in Kaffee­ haus- und Biertischdebatten wird das Schönsein der Kunst mit zuweilen aggressiver Selbstverständlichkeit eingefordert. Im allgemeinen akademischen Diskurs passiert es nicht selten, dass dort, wo ich von Kunst spreche, der Kollege mit Überlegungen zum Schönen antwortet. Und selbst innerhalb der Kunstkritik sowie der Kunstwissenschaft hält sich der Stachel des Schönen.

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Wie treffen – um nochmals auf die beiden Bände des Kunstforums zurückzukommen – aktuelle Phänomene der Kunst und Schönheit aufeinander? Der Ausdifferenzierung des Phänomens Kunst – Stichwort ‚erweiterter Kunstbegriff‘ – entspreche eine Ausdifferenzierung der Konzeption des Schönen: „Ihre [der Schönheit, Anm. M. L-K.] Möglichkeiten erweiterten sich mit den erweiterten Kunstbegriffen so wie sich die Kunstbegriffe mit den erweiterten Schönheitsbegriffen erweiterten.“15 Wenn Expression, Abstraktion und Neue Sachlichkeit, Ready Made und Konzeptkunst, Body Art, Künstlerische Interventionen im Öffentlichen Raum und Medienkunst ganz unterschiedliche Artikulations- und Kommunikationsformen von Kunst darstellen: wie vermögen die unterschiedlichen Artikulationsformen der Kunst und die Rede vom Schönen einander zu fordern? Einem Kunstwerk, und sei es dem Großen Glas Marcel Duchamps, den Marilyns Andy Warhols, den Körperkonfigurationen Valie EXORTs oder den Präparaten Damien Hirsts (um nur einige Ikonen der Kunst des 20. Jahrhunderts anzuführen, die man nicht von vornherein mit dieser Qualifizierung verbindet), Schönheit zuzusprechen, bedeutet – so wurde im Blick auf die Transzendentalien konstatiert –, einen gewissen Anspruch von Gültigkeit zu erheben. Wie lässt sich dann die Kategorie des Schönen fassen? Ich formuliere als eine 4. These: Auch die Kunst in ihrer Ausdifferenzierung lockt die Kategorie des Schönen. Man könnte den ‚Anspruch einer Wahrheit‘ als einen ‚Zustand evozierender Aufmerksamkeit‘ fassen. Die philosophische Tradition hält dafür den Begriff ‚Ästhetik‘ im Sinne sinnlicher Erkenntnis bereit. V. Anders schön

Die Zuschreibung der Kategorie des Schönen zu Ai Weiweis Bang evoziert eine andere, ich möchte sagen ernsthaftere, neugierigere, sinnierendere Aufmerksamkeit, als wenn ich etwa sage: „Das Ding ist witzig!“, „Das Gebilde ist skurril.“ oder „Das Ungetüm ist bedrohlich!“ – was zweifelsohne ebenfalls zutrifft. Derartige Charakterisierungen würden die Aufmerksamkeit und dann vor allem die Reflexion in eine andere Richtung lenken und 15 Seidel/Raap, Schönheit I, 38.

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entsprechend auch andere ästhetische Kategorien ins Spiel bringen. Wenn ich die Kategorie des Schönen nun mit dem Signum ‚anders schön‘ versehe, so markiere ich damit die Forderung einer Gültigkeit dieser Kategorie jenseits der klassischen Zuschreibungen. Ich trage die so markierte Kategorie nochmals an das Ensemble Ai Weiweis sowie an die anderen im Französischen Pavillon 2013 gezeigten Arbeiten heran. Bislang habe ich mich bei einer differenzierten Beschreibung – ‚Wahrnehmung‘ – aufgehalten. Nun gilt es, mögliche Assoziationen und Reflexionen, die sich bei der Betrachtung selbstverständlich früher oder später einstellen, mit ins Spiel zu bringen. Erst damit gerät eine Situation evozierender Aufmerksamkeit zu einer Situation wahrnehmender Erkenntnis. Es handelt sich bei den dreibeinigen Holzhockern um ein in der chinesischen Tradition fest verankertes Alltagsutensil, das quer durch alle Gesellschaftsschichten Verwendung fand. Nach der Kulturrevolution jedoch wurde deren Produktion unterbunden und wurden sie aus dem Alltag verbannt. Somit sind die Stühle nicht mehr nur Objekte von bestimmter Form, sie treffen auch eine politische Aussage. Jedoch stimmt die gelegentlich geäußerte Vermutung, in der Zahl 886 eine explizit politische Anspielung zu sehen, so nicht.16 Die politischen Pointen Ai Weiweis sind subtiler. Bei der documenta 12 (2007) arrangierte Ai Weiwei 1001 (antike) chinesische Stühle in den diversen Ausstellungsräumen, lud für Fairytale 1001 Chinesen nach Kassel ein und fügte in Template 1001 Fenster und Türen traditioneller Gebäude der Mingund Qing-Dynastie zu einer rund zehn Meter hohen Skulptur. Die Zahl 1001 war hier, als eine Anspielung auf Tausendundeine Nacht, eine gezielte Pointe gegen den Orientalismus und damit ein dezidiertes Statement im Zusammenhang mit der von Roger M. Buergel und Ruth Noack für diese documenta formulierten 16 Eine Interpretation der Zahl 886 geht dahin, dass die Arbeit auf eine durch ein Erdbeben zerstörte Schule Bezug nehme, in der 886 Kinder zu Tode gekommen seien. Nach Auskunft des Ai Weiwei Studios in Peking hat die Zahl 886 keine explizite Bedeutung. Auch in Ai Weiweis Arbeiten, die – im Gegensatz zu Bang – tatsächlich auf das Erdbeben in Sichuan (2008) zurückgehen, wie z.B. Remembering (2009), hat die Anzahl der verwendeten Elemente keine bestimmte Bedeutung. Remembering, eine FassadenInstallation aus 9000 Rucksäcken, erinnert zwar an die Kinder, die dem Erdbeben zum Opfer gefallen sind, doch die Zahl 9000 stellt nicht die Anzahl der Toten dar. eMail-Korrespondenz mit dem Ai Weiwei Studio Peking, 13.08.2015 (Archiv der Verfasserin).

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(in der Rezeption vielfach kritisierten) These einer „Migration der Formen“. Was die Kasseler Arbeit mit jener in Venedig verbindet, ist der Rückgriff auf die traditionelle chinesische Kultur, die dem Modernisierungswahn der Kulturrevolution und deren Folgen zum Opfer gefallen war. Die Pointe von Bang ist eine andere, doch hier wie da handelt es sich auch um eine politische Arbeit. Bang zielt somit nicht nur auf den ästhetischen – nun verstanden im Sinne ‚bloßen‘ Wohlgefallens –, sondern auch auf den ethischen Diskurs. Und das gilt ebenso für die anderen gezeigten Arbeiten sowie für viele Positionen der zeitgenössischen Kunst. Im an den Zentralraum des Französischen Pavillons links angrenzenden Raum waren Fotoarbeiten des südafrikanischen Künstlers Santu Mofokeng ausgestellt; im dahinter liegenden Raum wurden Dokumentarfilme des nun in Deutschland arbeitenden Filmemachers Romuald Karmakar gezeigt, im rechts angrenzenden Raum waren großformatige Schwarz-Weiß-Fotografien sowie Diaprojektionen der indischen Künstlerin Dayanita Singh zu sehen. Allein die Auswahl stellt (neben dem künstlerischen) auch ein politisches Statement dar. Die Kuratorin Susanne Gaensheimer begründete in einem Interview die gewählte Zusammenschau mit der historischen wie gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verwobenheit Deutschlands.17 Was war zu sehen? Und welche Assoziationen und Gedanken stellen sich ein und stimulieren sich wechselseitig? Santu Mofokeng reflektiert in seiner groß- und mittelformatigen Fotoserie südafrikanische Landschaften in ihrer Verbundenheit mit alten spirituellen Traditionen, mit den Machenschaften internationaler Konzerne und mit individuellen Schicksalen im Zusammenhang der Apartheidpolitik. Die Schönheit dieser Landschaften – vor Augen geführt in Form hochwertiger Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografien (Pigment prints und Silver gelatin prints) – würde, so der Künstler in einem Interview, im Wissen um die vielen Toten, die diese Orte bergen, gebrochen. Und diese ‚Brüche‘ sieht man auch – auf den zweiten Blick. Romuald Karmakar untersucht in seinen Filmen die Mechanismen von Gewalt und die Eigendynamik von Massenphänomenen

17 Vgl. Gaensheimer Susanne (Interview), www.deutscher-pavillon.org/2013/biennalearte-2013 -germany [Stand: 08.06.2015].

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und bezieht sich dabei bevorzugt auf Ereignisse der deutschen Geschichte. 8. Mai (2013) zeigt die Ereignisse der Demonstration der NPD vom 8. Mai 2005 am und um den Berliner Alexanderplatz anlässlich des 60. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs – für die Neonazis ein dunkler Tag der deutschen Geschichte. Hamburger Lektionen (2006) reinszeniert zwei Reden des orthodox-salafistischen Imams Mohammed Fazazi, die dieser im Jänner 2000 in einer Hamburger Moschee gehalten hatte, einer muslimischen Gemeinschaft, die auch regelmäßig von den Terroristen des 11. September frequentiert worden war. Ergänzt wird diese Manifestation von Gewaltexzessen radikaler Ideologien durch zwei Kurzfilme: Anticipation (2013) und – an der Außenwand des Pavillons – Panzernashorn (2013). Ersterer zeigt die Momente kurz vor dem Einbruch des Hurrikans „Sandy“ an der Ostküste der USA im Oktober 2012, letzterer ein Nashorn im Gehege des Zoos Berlin-West. Die von ihrem Herkunftsland her indische, doch Zeit ihres Lebens viel gereiste Künstlerin Dayanita Singh führt die Besucher in einen abgedunkelten, traumartig wirkenden Raum mit vier jeweils wandfüllenden Schwarz-Weiß-Arbeiten. Ihre fotografischen Essays und Diaprojektionen überlagern Bilder ihrer indischen Vergangenheit mit Eindrücken gegenwärtiger Gesellschaft und Kultur. Im Zentrum der filmisch anmutenden Sequenzen Mona and Myself (2013) steht die Figur der Mona, jene Person, auf die Singh sich immer wieder rückbezieht und die sie mehr als jede andere porträtiert, eine Person ohne klare geschlechtliche Zuordnung, ohne Angehörige und mit einer Bleibe am Friedhof von Alt-Delhi. Nach dem Wissen um die kulturellen und politischen Hintergründe der Skulptur Ai Weiweis, im Durchwandern des Pavillons, im Rezipieren der weiteren hier ausgestellten Positionen, im Betrachten der Landschaften Mofokengs, die bei all ihrer Offenheit und Weite dennoch nicht aufatmen lassen, beim Hineingeworfen-Werden in die Filme Karmakars, die höchste Erregung und intellektuellen Ernst gleichzeitig vermitteln, schließlich im Eintauchen in die wie Schatten wirkenden Welten Dayanita Singhs wird jedenfalls eines deutlich: hier kommen höchst brisante politische Konflikte zur Darstellung, die jeweils tief in die Körper und Seelen von Individuen eingeschrieben sind.

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All die gezeigten Arbeiten sind in gewissem Sinne schön – gut gemacht, interessant anzusehen, eindrucksvoll inszeniert. Ähnlich wie ich die Installation Ai Weiweis zunächst unter den Leitbegriffen klassischer Schönheitskonzeptionen beschrieben habe, ließen sich diese Qualitäten auch bei den anderen Positionen zeigen. Alle Arbeiten zeichnen sich durch besondere formale Qualitäten wie Einsatz eines bestimmten Mediums, Farbkompositionen, Arbeit mit Licht etc. aus und sind in diesem Sinne schön – aber eben nicht nur. Man bemerkt Brüche, ist angesichts der medial sehr unterschiedlich präsentierten Informationsfülle überfordert, empfindet ein Gefühl der Bedrohung. Dabei bin ich der Auffassung, dass es zunächst die eher klassischen Qualitäten des Schönen sind, die Aufmerksamkeit evozieren. Um diese Aufmerksamkeit jedoch auch zu halten, bedarf es des ‚anders schön‘. Möglicherweise schaffen erst diese Brüche jene ästhetische Lust, die über die Lust des Gefallens hinausgeht – und damit meine ich noch nicht die kantische ‚Unlust‘ des Erhabenen. Ich meine nicht den Schock, sondern die gleichermaßen faszinierte und irritierte Aufmerksamkeit. Erst dieses ‚anders schön‘ schafft jenen Zustand, in dem die Sinne und das Denken gleichermaßen gefordert sind. Es sind jene Werke, die einer zunächst schweifenden Aufmerksamkeit plötzlich Einhalt gebieten, bei denen man stehen bleibt und aufmerkt: „Das hat was!“ Dieser im besten Sinn des Wortes ‚ästhetische‘ Moment erfordert die Qualität der Werke ebenso wie die Bereitschaft des Betrachters, der Betrachterin. „Das hat was!“ weckt die Sinne und aktiviert die Reflexion. Es mag als eine andere Beschreibung für ‚anders schön‘ fungieren. Eine rein formale Beschreibung der im Französischen Pavillon 2013 gezeigten Arbeiten und der Hinweis auf Maß, Proportion und Harmonie reichen nicht zum Aufweis jener Schönheit, die zu denken gibt. Erst das Wissen auch um die politischen Kontexte und Implikationen hält in der sinnlichen und denkenden Aufmerksamkeit des ‚anders schön‘. Um auch das Denken zu provozieren genügen die in der Ausstellung gereichten Begleittexte nicht. Es braucht auch den Bruch, und dieser Bruch des Schönen ist bei guter Kunst auch zu sehen. Dieser Bruch des Schönen erfasst etwas Anderes als der Bruch formaler Schönheit, der das Hässliche auszeichnet.

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Der Bruch des Schönen, der auch zu ‚denken‘ gibt, lässt nochmals auf die Transzendentalienlehre rekurrieren. ‚Schön‘ sind die gezeigten Arbeiten, weil es ihnen gelingt, die Komplexität gesellschaftlicher Zustände, politischer Strukturen und ideologischer Gewalt sowie die feinen Fäden, welche die Individuen mit diesen Systemen verweben, in einer Weise zu zeigen, die – ohne zu moralisieren – in eine Haltung sinnlicher und denkender Aufmerksamkeit führt. Das freie Spiel der Erkenntniskräfte erinnert an die Kant’sche Konzeption des Schönen. In der Pointierung der Brüche gehe ich jedoch über Kant hinaus insofern, als ich die ethische Dimension der Erfahrung von Kunst nicht erst beim Erhabenen (Kant situierte diese Kategorie bekanntlich nicht in der Konfrontation mit Kunst, sondern mit der als übermächtig erfahrenen Natur), sondern bereits beim Schönen ansetze. Unversehens erfährt man sich in der Rezeption der gezeigten Arbeiten – und sie stehen hier selbstverständlich exemplarisch für zahlreiche Phänomene der zeitgenössischen Kunst – auch selbst, wenn auch an einem anderen Ort des Planeten, sei es in subtiler, sei es in erschreckender Weise in die Ereignisse und Situationen mit hinein verwoben. Es ist nicht notwendig, die Grausamkeiten plakativ vor Augen zu führen; man erkennt sie in den Brüchen, die oft erst bei längerer Betrachtung spürbar werden. In diesem Sinne verbindet sich das ‚Schöne‘ mit dem ‚Wahren‘ und – in weiterer Konsequenz – auch mit dem ‚Guten‘. Ich formuliere eine 5. These: Vermag das Schöne die Aufmerksamkeit zu evozieren, so gibt die Situation des ‚anders schön‘ auch zu denken. Die Aktivität der Sinne und das reflektierende Sinnieren sind zwei Vorgänge in einem Zustand des Zugleich. ‚Anders schön‘ provoziert den Diskurs des ‚Wahren‘, häufig auch den des ‚Guten‘. VI. Das evozierend Widerständige des Schönen

Unter dem Titel Die Souveränität der Kunst unternimmt Christoph Menke eine äußerst differenzierte Argumentation zwischen Adorno und Derrida um die Geltung von Kunst in außerästheti-

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schen Diskursen.18 Die Betonung der Negativitätserfahrung im Zusammenhang von ‚ästhetischem Genuss‘ wirft nochmals von anderer Seite ein Licht auf das hier entwickelte Verständnis der Kategorie des Schönen. Demnach zeichnet sich ‚ästhetischer Genuss‘ durch eine Lust insbesondere an dem aus, das sich nicht wiedererkennen oder identifizieren lässt. Ich beziehe diese Überlegung auf den Stimulus des Schönen, der nicht nur die Sinne affiziert, sondern auch zu denken gibt. Verstanden als ein Denken, das zu keinem Ergebnis kommt, sondern in der Anschauung virulent gehalten wird. „Ästhetische Erfahrung“, schreibt Menke, „ist ein negatives Geschehen, weil sie eine Erfahrung der Negation (des Scheiterns, der Subversion) des gleichwohl notwendig versuchten Verstehens ist.“19 Das Ineinander von Verstehen-Wollen und Nicht-Verstehen-Können und die dabei auch noch erfahrene ‚Lust‘ expliziert Menke u.a. am Begriff der Schönheit im Anschluss an Adorno folgendermaßen: „‚Schön‘ nennen wir demnach einen Gegenstand, der als Grund wie Abgrund des Verstehens erscheint.“20 Was in dieser Formulierung gut zum Ausdruck kommt und sich mit meinem Anliegen deckt, ist der in einer Spannung gehaltene Zustand der Aufmerksamkeit. Das Schöne ist demnach kein Etwas, das es zu erfassen gilt, sondern ein Zustand reflektierender Wahrnehmung. „Das Schöne als Erscheinendes ist niemals ganz gegenwärtig und doch kein repräsentierender Verweis.“21 Semiotisch gesprochen könnte eine Charakterisierung so lauten: „Das als Bild erläuterte Schöne ist vielmehr die affirmative Form des ausgehaltenen Zögerns zwischen Ding und Zeichen.“22 Die Formulierung des „ausgehaltenen Zögerns“ trifft meines Erachtens sehr gut die herausfordernde Erfahrung von Kunst. Menke erörtert eingehend die Frage, in welcher Beziehung diese Erfahrung von Kunst zum rationalen sowie zum ethischen Diskurs steht – eine

18 Vgl. Menke, Christoph, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a. M. 1991. Auf die äußerst lohnende Debatte zwischen Semiotik und Hermeneutik kann hier nicht näher eingegangen werden. 19 Ebd., 43. 20 Ebd., 173. 21 Ebd., 181. 22 Ebd., 184.

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zweifelsohne lohnende Auseinandersetzung, die einer eigenen Erörterung bedürfte. Ich formuliere eine 6. These: Sind die Frage nach dem Schönen und die Frage nach der Kunst auch zwei unterschiedliche Diskurse, die es auseinanderzuhalten gilt, so scheint die Kunst doch ein bevorzugter Ort der Erfahrung des ‚anders schön‘ zu sein. Das ‚ausgehaltene Zögern‘ kann als Differenzkriterium zur bloßen Attraktivität des Schönen gelten, von der es aber ebenso wenig zu trennen ist. Die Frage, die es hier zu klären galt, war, ob die Kategorie des Schönen einen Erkenntnisgewinn für die Rezeption von Gegenwartskunst insofern leistet, als sie Qualitäten pointiert, die ohne die Folie des Schönen verborgen oder zumindest diffus blieben. Ich denke ja. Die Kategorie des Schönen vermag zunächst den Zustand der Aufmerksamkeit zu beschreiben und trifft als solche unterschiedliche Situationen und Intentionen. Sie artikuliert darüber hinaus aber auch ein Sensorium für die Ansprüche des Wahren und des Guten, und sie markiert im ‚anders schön‘ die ausgehaltenen Brüche ästhetischer Erkenntnis.

Literatur Quellen (chronologisch) Diels, Hermann, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch, 2 Bde., hg. v. Walther Kranz, unveränd. Nachdr. d. 6. Aufl. (1951), Berlin 1974 Gorgíou ¿Elénhv ∫Egkåmion. Gorgias: Lobpreis der Helena (Fragment 11), in: Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, Griechisch-Deutsch, übers., m. e. Einl. u. Anm. hg. v. Thomas Buchheim (Philosophische Bibliothek 404), 2., verb. Aufl., Hamburg 2012, 2 –17 Kaiser, Norbert, Schriftquellen zu Polyklet, in: Polyklet. Der Bildhauer der griechischen Klassik (AK, Liebieghaus, Museum Alter Plastik, Frankfurt a. M., 17.10.1990 – 20.01.1991), hg. v. Herbert Beck, Peter C. Bol u. Maraike Bückling, Mainz 1990, 48 –78 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, Griechisch-Deutsch, hg. v. Peter Jaerisch, 2., verb. Aufl., München 1977 Aristoteles, Metaphysik. Griechisch-Deutsch. Erster Halbband: Bücher I (A)–VI (E), übers. v. Hermann Bonitz, neu bearb., m. Einl. u. Komm. hg. v. Horst Seidl (Philosophische Bibliothek 307), Hamburg 1978 Cicero, De inventione. Über die Auffindung des Stoffes, in: ders., De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorium. Über die beste Gattung von Rednern, lateinisch-deutsch, hg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Zürich 1998, 8 – 337 Plotin, Pepì toû Kaloû. Das Schöne (Enneaden I, 6), in: Plotins Schriften, Bd. 1a: Die Schriften 1– 21 der chronologischen Reihenfolge. Text und Übersetzung, Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, übers. v. Richard Harder (Philosophische Bibliothek 211a), Hamburg 1956, 2 – 25

Gegenwartskunst und die Kategorie des Schönen | Monika Leisch-Kiesl Plotin, Pepì toû nohtoû kállouv. Die geistige Schönheit (Enneaden V, 8), in: Plotins Schriften, Bd. 3a: Die Schriften 30 – 38 der chronologischen Reihenfolge. Text und Übersetzung, Neubearbeitung mit griechischem Lesetext und Anmerkungen, fortgef. v. Rudolf Beutler u. Willy Theiler, übers. v. Richard Harder (Philosophische Bibliothek 213a), Hamburg 1964, 34 – 69 Thomas von Aquin, Gottes Dasein und Wesen (Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollst., ungek. dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologica, übers. v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschl. u. Österr., Bd. 1 [Summa Theologica I, 1–13]), Salzburg o. J. [1933] Perrault, Charles, Le cabinet des beaux arts ou recueil d’estampes gravées d’après les tableaux d’un plafond où les beaux arts sont representés. Avec l’explication des ces mêmes tableaux, Paris 1690 Diderot, Denis, Das Schöne. 1751 [Traité du Beau], in: ders., Ästhetische Schriften, Bd. 1, hg. v. Friedrich Bassenge, Berlin 1984, 98 –137 Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014 Sekundärliteratur Gaensheimer Susanne (Interview), www.deutscher-pavillon.org/2013/biennale-arte- 2013 germany [Stand: 08.06.2015] Leisch-Kiesl, Monika, Kanon, in: Kunstforum International 162 (2002), 64 – 81 Menke, Christoph, Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt a. M. 1991 Seidel, Martin/Raap, Jürgen, Schönheit I (Editorial), in: Kunstforum International 191 (2008), 38 – 39 Seidel, Martin/Raap, Jürgen (Hg.), Titel-Thema Schönheit I, in: Kunstforum International 191 (2008), 38 –177 Seidel, Martin/Raap, Jürgen (Hg.), Titel-Thema Schönheit II, in: Kunstforum International 192 (2008), 38 –117

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Das Schöne als grundlegende Kategorie der Philosophie. Eine Skizze entlang von Platon, Thomas und Kant Michael Hofer

Schönheit ist ein großes und – zugleich – schönes Thema.1 Dabei fällt auch auf, dass Schönheit zunehmend wieder ein Thema wird bzw. ist. Denn es ist unübersehbar, dass vom Schönen offensichtlich wieder in einer geradezu erstaunlich anmutenden, weil direkten und unverstellten Weise die Rede ist und auch sein kann. Das war in den letzten Jahrzehnten nicht immer so. Diese Behauptung, dass das Schöne wieder Thema sei, lässt sich auch durch folgende Beobachtung stützen: Unübersehbar ist der neue Stellenwert des Schönen – oder besser gesagt: des vermeintlich Schönen im Sinne des Gefälligen geworden, und zwar im Bereich der Warenästhetik, der Körperkultur und insgesamt im Bereich dessen, was neuerdings Lifestyle heißt. Angesichts dieser Verzeichnung und Verharmlosung als leicht und flüchtig konsumierbar, kann es als aufschlussreich gelten – und erst hier sind wir am Punkt –, dass die „Errettung des Schönen“ zum Thema der Philosophie wird. Es geht dabei darum, das Schöne als überwältigendes Ereignis wieder in Erinnerung zu rufen.2 Auch Martin Seel, einer der gegenwärtig maßgebendsten Ästhetiker im deutschen Sprachraum, sieht „sich die Zeichen für eine Rehabilitierung des Schönen seit längerem

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Der Beitrag stellt die überarbeitete und um einige wenige Anmerkungen ergänzte Fassung eines Vortrags im Rahmen der Ringvorlesung „Ästhetische Kategorien“ dar. Stil und Gestalt eines Vortrags wurden beibehalten. Vgl. dazu Han, Byung-Chul, Die Errettung des Schönen, Frankfurt a. M. 2015 und, ähnlich essayistisch gehalten, Scruton, Roger, Schönheit. Eine Ästhetik, übers. v. Reinhard Kreissl, München 2012 (Originalausgabe Oxford/New York 2009); ausdrücklich sei hingewiesen auf Pöltner, Günther, Philosophische Ästhetik (Grundkurs Philosophie 16), Stuttgart 2008, 214 – 255 und zuletzt das Schwerpunktthema „Gibt es eine Philosophie des Schönen?“, in: Philosophisches Jahrbuch 122/II (2015), 374 –  438.

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mehren.“3 – Nun ist aber Trendforschung nicht unsere Aufgabe. Vielmehr verdient in philosophischer Hinsicht folgender Hinweis von Seel unsere Aufmerksamkeit. Der Begriff des Schönen, so seine Forderung, sollte auch weiterhin im Bereich der Ästhetik den zentralen Stellenwert einnehmen. De facto sei dem auch so, da bei genauerem Hinsehen Wörter wie „bezaubernd“, „elegant“, „spannend“, „großartig“ etc. nichts anderes als Ersatzwörter für „schön“ seien. Dabei schlägt Seel folgende – hilfreiche – Unterscheidung vor: „Schön“ werde, vielfach unbemerkt, in zweifacher Bedeutung verwendet. Einmal als Kennzeichnung einer ästhetischen Qualität neben anderen Qualitäten, die durchaus in Gegensatz treten können (z. B. schön und hässlich). Neben dieser speziellen gelte es aber auch an einer allgemeinen Bedeutung des Schönen festzuhalten, zu der es keinen Kontrastbegriff gebe; damit werde „die innere Verbindung der vielfältigen Formen ästhetischer Attraktion“ bezeichnet.4 Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung betont er bezüglich des Begriffs des Schönen in allgemeiner Bedeutung: „Er, und nur er, stellt die grundlegende und in dieser Hinsicht konkurrenzlose Kategorie einer philosophischen Ästhetik bereit – und damit natürlich eine grundlegende Kategorie der Philosophie überhaupt.“5 Hier sollten wir aufhorchen! Nicht objektive Bestimmungen des Schönen – die soeben angesprochene spezielle Bedeutung – werden uns im Folgenden interessieren, wie sie etwa im Laufe der europäischen Geistesgeschichte immer wieder ersonnen, ergänzt und verworfen wurden. Vielmehr interessiert uns das Schöne in der in Aussicht gestellten allgemeinen Bedeutung, in der es von grundlegender Bedeutung ist. Diesbezüglich spricht Thomas Rentsch von der „Tradition der metaphysischen Idee des Schönen“, von der er die besondere Bedeutung als die „Tradition des Maßes“ abhebt, und für die beiden Bedeutungen des Schönen die Kurzformel prägt: „Metaphysik und Werkstatt“.6 Damit 3 Seel, Martin, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt a. M. 2014, 362. 4 Ebd. 5 Ebd., 361. 6 Rentsch, Thomas, Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt, in: ders., Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York 2011, 394 –  408, hier 394.

Das Schöne als grundlegende Kategorie der Philosophie | Michael Hofer

ist auch klar, dass das Schöne nicht auf Fragen der Kunst eingeengt werden kann. Diese Unterscheidung im Begriff des Schönen findet seine Entsprechung in der Gestalt dessen, was philosophische Ästhetik sein kann: Als allgemeine Ästhetik kommt sie um den Begriff des Schönen als Grundbegriff nicht herum, während die spezielle Ästhetik als Kunstphilosophie der Ort ist, das Schöne als besondere ästhetische Qualität neben anderen zu thematisieren.7 Indem das Bemühen auf eine Erörterung des Schönen in möglichst grundsätzlicher Bedeutung zielt, werden uns durch unsere Gewährsleute – gewissermaßen nebenbei – für zwei Fragen entsprechende Antwortversuche zufallen. Einmal bezüglich der Frage, inwieweit die Erfahrung des Schönen eine Verheißung von Glück sei. Außerdem möchte ich deutlich machen, was es mit der sogenannten „Subjektivierung des Schönen“ auf sich hat. Üblicherweise wird diese Kennzeichnung einer solchen Subjektivierung mit dem Aufkommen einer eigenständigen philosophischen Disziplin „Ästhetik“ in der Neuzeit in Verbindung gebracht. Neben dem „Begründer“ Alexander Gottlieb Baumgarten spielen die Empiristen Francis Hutcheson und Edmund Burke eine prominente Rolle, darüber hinaus wird auch Kant gegenüber dieses Schlagwort gebraucht. Er wird diesbezüglich im Zentrum unserer Überlegungen stehen. Um dies tun zu können, möchte ich mit Ihnen einen Ausflug auf lange zurückliegende Positionen unternehmen, mit deren Hilfe sich für unseren eigenen Zusammenhang einiges – fast hätte ich gesagt: schön – verdeutlichen lässt. I. Die Entsinnlichung des Eros und das intelligible Schöne: Platon

Warum sollten wir nicht bei Platon beginnen? Warum sollten wir die Erfahrung, von der uns in den Dialogen Symposion und 7

Die Einschätzung, dass dieser „wichtige und ambivalente Begriff der Ästhetik zwar nicht entbehrlich geworden [ist], aber […] unübersehbar eine begriffliche [!] Existenz zweiter Ordnung“ friste, mag als Kennzeichnung des status quo, wonach „der lädierte Begriff des Schönen“ nicht mehr im Zentrum ästhetischer Erörterungen stehe, seine Berechtigung haben. Der Sache nach wird die zweifache Bedeutung des „Schönen“ übersehen: Reschke, Renate, Schön/Schönheit, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, 390 –  436, hier 435 u. 396.

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Phaidros erzählt wird, nicht als ästhetische Erfahrung ansprechen. Birgit Recki ermuntert ausdrücklich dazu.8 Und sie hat recht. Dabei wird deutlich, dass diese von Platon besprochene Erfahrung eine ästhetische Erfahrung sui generis ist: Sie ist auch eine metaphysische Erfahrung. Schönheit war in der Metaphysik des Abendlandes zweifellos bis zur Neuzeit ein metaphysischer Begriff von erheblichem Gewicht, jedenfalls in der platonischen Tradition. Und es war ein Begriff von Schönheit, der von der Kunst entkoppelt war. Es ging um metaphysisch, ja transzendent Schönes und nicht – wie wir es gewohnt sind – in erster Linie um Kunstschönes.9 Vielleicht stellen sich bei Ihnen Geruchswahrnehmungen beim Lesen ein oder andere körperliche Empfindungen. Erinnern Sie sich etwa an die schwüle, abgestandene Luft, die einem entgegenschlägt, der Geruch von Schweiß, Untergang, Tod? In der Lagunenstadt Venedig sollte es gewesen sein, so will es die Erzählung Der Tod in Venedig (1912) von Thomas Mann. Gustav Aschenbach verliert sich hier an den blonden Jüngling Tadzio und findet den Tod durch die Cholera. Dieser Text ist gewissermaßen ein Gegenentwurf zu Sokrates insgesamt, wie wir ihn von Platon kennen, und im Besonderen zum Symposion. Dort geht es im Rahmen eines Gelages ebenfalls um den Eros, und es werden mehrere Reden auf ihn gehalten. Auch Sokrates fügt sich in den Reigen ein, allerdings verspätet, weil er – wieder einmal – wie verwurzelt vor dem Eingang, in der Jugendsprache würde man sagen: vor der location der party, und das über längere Zeit hinweg, stehen geblieben ist. Sein Daimon hatte ihn wieder in Anspruch genommen. Die Rede des Sokrates geht auf Diotima zurück, von ihr hätte er den Inhalt erhalten. In dieser Rede, die den Rang von Weltliteratur eingenommen hat, kommt er dann auf etwas zu sprechen, das als „anagoge“ (a¬nagwgä) bzw. auch „anabasis“ (a¬nábasiß), also als Aufstieg für die abendländische Geistesgeschichte von 8 9

Vgl. Recki, Birgit, Ästhetik, philosophische, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 2010, 159 –168. Vgl. dazu pointiert Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 231 (Anm. 1): „Wenn die Scholastik von Schönheit spricht, so ist damit ein Attribut Gottes gemeint. Schönheitsmetaphysik (z. B. Plotin) und Kunsttheorie haben nicht das Geringste miteinander zu tun. Der ‚moderne‘ Mensch überschätzt die Kunst maßlos, weil er den Sinn für die intelligible Schönheit verloren hat, den der Neuplatonismus und das Mittelalter besaß. […] Hier ist eine Schönheit gemeint, von der die Aesthetik nichts weiß.“

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größter Bedeutung wurde. Eros wird charakterisiert als Halbgott, der bezeichnenderweise Poros und Penia zu seinen Eltern hat. Also der Weg, Poros, im Sinne des Aufstiegs zu etwas, und Penia, die Armut, sind es, die für Eros kennzeichnend sind. Eros sucht etwas bzw. führt zu etwas, das er selbst nicht ist und hat. Insofern wurde er in dieser Verfasstheit auch als Sinnbild für die Philosophie verstanden. Der Ausgang wird vom sinnlich Gegebenen genommen, vom einzelnen schönen Körper. Bröcker spricht diese Stufe als die „naiv-erotische“ an.10 Im Sinne des Aufstiegs geht es nun darum, beim Einzelnen nicht stehen zu bleiben, sondern sich zu immer größerer Allgemeinheit zu erheben. Vom einzelnen schönen Körper zu den schönen Körpern insgesamt, dann zur schönen Seele (d. h. zu einer guten Lebensführung bzw. Erziehung), weiters zu schönen Handlungen, schönen Sitten und zum schönen Wissen: Am Ende des Aufstiegs steht schließlich das Schöne selbst, d. h. für Platon die Idee des Schönen. Die Schau dieses Schönen erschließt sich – e¬xaífnhß – plötzlich. Dieses Modell des Aufstiegs bildete einen großen Strom der Tradition. Man denke an Augustinus und die Erfahrung in Ostia; aber auch an die Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca im Jahr 1336.11 Dabei wurde auch eine Abkehr vom Sinnlichen und eine Einkehr in das Geistige wirksam. Es hat im abendländischen Überlieferungszusammenhang freilich einen Vorläufer: Parmenides, der nicht von ungefähr von Platon als „unser Vater“ bezeichnet wird. Eros bzw. die Erotik wird hier entsinnlicht: als Wissbegier bzw. Liebe zur Weisheit strebt sie über das Sinnliche hinaus. Diese „Entsinnlichung des Eros“, wie es der große Platonforscher Michael Erler nennt, wird auch deutlich an dem Verhältnis des Alkibiades zu Sokrates: Dieser schöne, begabte junge Mann, der nach Beendigung der Rede durch Sokrates in die Runde platzt, Alkibiades also kennzeichnet Sokrates als Silen. Das sind jene Figuren, die mit Flöte sitzend ausgeführt wurden und geöffnet 10 Vgl. Bröcker, Walter, Platos Gespräche, Frankfurt a. M. 41990, 157. 11 Am Gipfel angekommen schlägt er Augustinus’ Confessiones auf, ausgerechnet an der Stelle X, 8,15: „Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst [relinquunt se ipsos].“ Vgl. Petrarca, Francesco, Die Besteigung des Mont Ventoux. Lateinisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Kurt Steinmann, Stuttgart 1995, 23 – 25 (Absatz 26 – 29): Nach dem äußerlichen Aufstieg auf den Berg vollzieht er – gut augustinisch, angeregt und betroffen von der Augustinus-Stelle – die Einkehr nach innen.

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werden konnten. Innen war dann ein Götterbild zu sehen. Auch Sokrates hat ein anziehendes, weil tugendhaftes Inneres, das Äußere aber sei hässlich und gleiche dem Marsyas. Dennoch bleibt Alkibiades mit seinem erotischen Streben dem Sinnlichen verhaftet, da er Sokrates verführen will. Unser vorauf aufgerufener Gustav Aschenbach bleibt ebenfalls dem Sinnlichen verhaftet und kommt um.12 Geschaut wird, was in allem Einzelstreben immer schon das eigentlich Anziehende war: das Schöne selbst – das als Idee unkörperlich, unvergänglich und eins ist, also immer schön, selbst schön. Das Schöne selbst, das „an sich und für sich […] stets eingestaltig [ist], während alles andere Schöne etwa derart an ihm teilhat, daß dies andere zwar entsteht und vergeht, es selbst aber in nichts sich vergrößert oder verringert noch irgendeine Einwirkung erfährt.“13 Diese absolute Schönheit ist selbst in höchstem Grade schön: das Schöne selbst (tó kalón au¬tó). Besonders hervorzuheben ist noch, dass die Schau des Schönen das Leben erst lebenswert (biwtón) mache: „Und an dieser Stelle des Lebens […], wenn irgendwo, ist es dem Menschen erst lebenswert, wo er das Schöne selbst schaut […].“14 – Nur nebenbei sei hier auf die Anfänge der sogenannten Transzendentalienlehre verwiesen. Eine Verbindung des Wahren, Guten und Schönen wird hier folgendermaßen in den Blick genommen: Wer das Schöne selbst schaut, sieht das Wahre mit der Folge, dass er wahre Tugend hervorbringt und nicht bloße Abbilder. Das Schöne hat dabei kognitive Funktion – es wirkt also nicht affektiv, wie bei Aristoteles; es entspricht gewissermaßen dem Licht. Denn es macht sich selbst als das Schöne (Urschöne, Idee) sichtbar und es macht etwas sichtbar (das sinnlich Gegebene). Die Schau des Schönen wird als gottgewirktes Außersichsein (göttlicher Wahnsinn), Enthusiamus (in Gott sein, gott12 Vgl. dazu Mann, Thomas, Der Tod in Venedig, in: ders., Frühe Erzählungen (Frankfurter Ausgabe, hg. v. Peter de Mendelssohn), Frankfurt a. M. 1981, 559 – 641, hier 605 – 606. Thomas Mann nimmt insgesamt auf Platon im vierten Kapitel Bezug, ausdrücklich ruft er dann den Phaidros in Erinnerung. 13 Platon, Symposion 211b. Übersetzung nach: Platon, Symposion. Griechisch und Deutsch, hg. u. übers. v. Franz Boll, neu bearb. v. Wolfgang Buchwald (Sammlung Tusculum), München/Zürich 81989, 109. 14 Platon, Symposion 211d. Übersetzung nach: Platon, SUMPOSION. Das Gastmahl, in: ders., Phaidon. Das Gastmahl. Kratylos, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Léon Robin u. Louis Méridier, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 3), Darmstadt 1974, 209–398, hier 349.

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begeistert sein) gekennzeichnet. Ein letztes Mal Aschenbach: auch er wird als „Enthusiasmierter“ von seinem Autor gekennzeichnet.15 Im Phaidros macht Platon klar, dass die Manie, das Außersichsein, das von der Schönheit ausgelöst wird, von edelstem Ursprung ist und deshalb als die edelste anzusehen ist. (Andere Weisen der Manie gibt es im Bereich der Wahrsagerei, heiliger Handlungen und der Dichtung.) Hier findet sich auch der bekannte Mythos zur Erläuterung des „Wesens der Seele“. Die erzählerische Ausschmückung möchte ich Ihnen vorenthalten und lediglich auf die der Sache nach wichtigen Punkte eingehen: Vorm Sturz der Seele, so wird behauptet, sei diese ausgezeichnet durch Schau, näherhin geistige Schau, was soviel meint wie unmittelbare Präsenz, Gegenwärtigkeit des Geschauten; darin liege das Wesen der Seele. Die Seele hat nach dem Sturz im Bereich des Sinnlichen ihren Weg zu finden. Der jeweils eingeschlagene Lebensweg in diesem Bereich kann sich auf die totale Hingabe an leibliche Genüsse beschränken oder darüber hinaus zielen – in jedem Fall wird es Folgen für die Seele und eine mögliche Wiedergeburt haben. Das sinnenfällig Schöne erweist sich im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren als für die Seele in besonderem Maße angemessen. Warum? Schönen Dingen, darin liegt ihr Vorzug, eignet eine besondere Transparenz auf die in ihnen wirksame Idee. Deshalb vermag das sinnlich Schöne die Erinnerung zu wecken. Dennoch bleibt ein jeweils unterschiedlicher Umgang mit dem sinnlich Schönen möglich. Im Bild des Mythos gesprochen ist dies u. a. von der Kraft der Erinnerung abhängig, die nicht in jedem Mensch gleich sei;16 kurz, im Bild des Pferdegespanns, das für die Seele und deren Strebungen steht: Welches Pferd ist am Zug? Das hässliche der Begierde17 oder züchtigt der 15 Mann, Tod in Venedig, 606. 16 Vgl. Platon, FAIDROS. Phaidros, in: ders., Phaidros. Parmenides. Briefe, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Léon Robin, Auguste Diès u. Joseph Souilhé, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher u. Dietrich Kurz (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 5), Darmstadt 1983, 1–193, hier 86 – 87; 250a. 17 Zur eindrücklichen Beschreibung der Pferde vgl. Platon, Phaidros 253d – e: „Das eine von ihnen in schönerer Haltung, ist aufrecht von Wuchs, feingegliedert, den Hals aufreckend, mit geschwungener Nase, von weißer Farbe, Scham liebend, und da es den wahren Gedanken vertraut ist, wird es ohne Schlag, allein durch Befehl und Ermunterung gelenkt. Das andere ist senkrückig, plump und rasselos, steifnackig, kurzhalsig, stumpfnasig, schwarz von Farbe, die Augen mattblau mit Blut unterlaufen, der Ausschweifung

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Wagenlenker, d. h. die Vernunft dieses Pferd? Der jeweilige Umgang mit den Pferden hat – wie gesagt – Folgen für die Seele und die mögliche Wiedergeburt. Sinnliche Erscheinungen des Schönen lösen in der – nun – leibgebundenen Seele sehnsuchtsvolle Erinnerungen aus: Hier kommt eine weitere Leistung des Schönen in den Blick, dessen anagogische Funktion. Erneut wird die Stufenfolge und vor allem auch die Verbindung Sinnliches – Noetisches deutlich. Die Begeisterung für Sinnliches wird durchaus – als Impulsgeber – wertgeschätzt; das Sinnliche hat insofern Dignität und Legitimität im Erkenntnisprozess, lediglich die Absolutsetzung würde heißen: Reduktion des Schönen auf ein Sinnenphänomen, des Menschen auf seine sinnliche Natur, die die ursprüngliche Affinität der Seele zu den Ideen übersieht. Das Schöne ist hier als metaphysisch Schönes in den Blick genommen. Es handelt sich dabei um eine Qualität des Seienden selbst und diese Qualität fasziniert universell. Das Schöne ist nicht relativ auf Geschmack. Eines sei noch erwähnt: die Bevorzugung des Auges. Der Vorzug des Gesichtssinnes sei es, der deutlichste der Sinne zu sein, er befähigt uns beim Schönen von der Erscheinung zur Idee aufzusteigen. Dem Auge kommt damit eine Vermittlerposition zu: Der am meisten zur Erkenntnis geeignete Sinn18 vermittelt zwischen Wahrnehmbarem (ai¬sqhtón) und Denkbarem (nohtón); genauso vermittelt die Erscheinung des Schönen zwischen Wahrnehmbarem und Denkbarem – während andere „ewige Dinge“ wie z. B. die Tugenden (Gerechtigkeit, Besonnenheit) im Sinnlichen nur schwach vertreten sind, gilt: „nur der Schönheit aber ist dieses zuteil geworden, daß dies uns das Hervorleuchtendste ist und das Liebreizendste [e¬kfanéstaton kaì éfasmiåtaton].“19

und Frechheit freund, zottig um die Ohren, taub, kaum der Peitsche und dem Sporn gehorchend.“ Übersetzung nach: Platon, Phaidros oder Vom Schönen, übertr. u. eingel. v. Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1994, 53 – 54. 18 Vgl. Aristoteles, Metaphysik. Griechisch-Deutsch. Erster Halbband: Bücher I (A) –VI (E), übers. v. Hermann Bonitz, neu bearb., m. Einl. u. Komm. hg. v. Horst Seidl (Philosophische Bibliothek 307), Hamburg 1978, 3; 980a 26. 19 Platon, Phaidros 250d. Übersetzung nach Schleiermacher/Kurz: Platon, FAIDROS. Phaidros, 89.

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Der Glanz des Schönen ist kein falscher Schein. Was hier glänzt und durchscheint ist das wahrhaft Seiende, die Schönheit bzw. das Schöne selbst, das den Menschen anzieht und begeistert. Wir fassen zusammen: Die Idee des Schönen hat bei Platon eine Sonderstellung. Die Erkenntnis des Schönen lässt das Leben des Menschen allererst lebenswert sein. Das Schöne im eminenten Sinne, als Idee, ist eine geistige Gegebenheit, es ist intelligibel. Der Idee des Schönen kommt eine Sonderstellung zu: aufgrund ihrer kognitiven und anagogischen Funktion. Sie ist diejenige Idee, die am leichtesten zugänglich ist. Am Schönen wird die Fundiertheit des Seienden in den Ideen am deutlichsten. Das Schöne in der Erscheinung hat Vermittlungsfunktion: zum Schönen an sich selbst und zu den Ideen insgesamt. Freilich lassen sich bei dieser Konzeption Fragen aufwerfen. Unter anderem wurden diese unter dem Stichwort der Selbstprädikation verhandelt (Muss die Idee des Schönen selbst schön sein? Damit einher geht die Frage der Auffassung der Idee als Bild oder als Begriff und die entsprechende Weise des Erfassens als Begreifen oder Schauen.) oder hinsichtlich des Problems der Steigerung (Die Idee aufgefasst im Sinne der Steigerung: „Sie ist, was sie ist, in vollendeter Weise.“20 – Diese Idealisierung der Bestimmungen ist nicht bei allen Prädikaten gleich problematisch, z. B. bei mathematischen Bestimmungen zieht dies einen Zugewinn an Bestimmtheit (Kreis an sich und gezeichneter Kreis) nach sich; aber: wird das Schöne idealisiert, geht der Bezug zur Sinnlichkeit verloren und auch dessen Bestimmtheit?). II. Der Stellenwert des Schönen als Transzendentalie: Thomas von Aquin

In einem zweiten Abschnitt möchte ich Ihnen nun – in gebotenem Umfang, also kurz – Thomas von Aquin und seine Überlegungen zum Thema Schönheit präsentieren. Im Mittelalter

20 Angehrn, Emil, Der Weg zur Metaphysik. Vorsokratik, Platon, Aristoteles, Weilerswist 2000, 223.

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wurde das Schöne vor allem auch im Rahmen der sogenannten Transzendentalienlehre verhandelt. Was sind Transzendentalien? Unter Transzendentalien versteht man allgemeine Bestimmungen alles Seienden. Diese Bestimmungen transzendieren alle Gattungs- und Artgrenzen, analog im Gegensatz zu den univok gebrauchten Kategorien, die vom Seienden jeweils eine Besonderheit aussagen; die Dreiheit war dabei unumstritten: unum, verum, bonum – lediglich die Verortung des pulchrum erfolgte unterschiedlich. Aus dem bisher Gesagten erhellt also: in dem Maße, in dem einem Seienden Sein zukommt, ist es auch im Besitz dieser Eigenschaften und umgekehrt (ens et unum, verum, bonum – pulchrum? – convertuntur). Wie ist das zu verstehen? Die gängig gewordene Auslegung in der Schulphilosophie lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Jedes Seiende ist ein unum, um ein bestimmtes Etwas und somit überhaupt zu sein. Verum: sofern das Seiende seinem Begriff entspricht und dadurch erkennbar ist; bonum: sofern das Seiende seinen Begriff verwirklicht und erstrebbar, bejahbar ist. Was lässt sich vom pulchrum als Transzendentalie sagen? – Insgesamt gibt es eine mehr oder weniger verborgene Wirkungsgeschichte der Transzendentalienlehre bis in die Neuzeit, man denke nur an die drei Kritiken Kants, die sich entlang der transzendentalen Bestimmungen entfalten lassen, und auch in die Moderne hinein, z. B. bei Alfred North Whitehead.21 Dabei fällt auf, dass die Verortung der Transzendentalie „schön“ unterschiedlich erfolgt. Das mag als Problemanzeige genommen werden. Grundsätzlich schälen sich drei systematische Möglichkeiten heraus: Erstens im Rahmen des Guten, mit Nähe zum Wahren – zum Beispiel bei Alexander von Hales (gest. 1245). Unter dem Einfluss von Dionysius Areopagita (De divinis nominibus) stehend, werden zwei Festlegungen getroffen, die in der Folgezeit Beachtung finden – vor allem bei Albertus Magnus und Thomas: Die grundsätzliche Übereinstimmung von bonum und pulchrum, allerdings mit dem Unterschied, dass das bonum den Affekt

21 Besondere Hervorhebung verdient die Berücksichtigung von Schönheit als Transzendentalie bei Tegtmeyer, Henning, Kunst, Berlin/New York 2008, 186  –193.

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erfreue, während das Schöne als Bestimmtheit des Guten der Wahrnehmung (apprehensio) gefalle. Zweitens Schönheit als eine selbständige Transzendentalie – wie dies in einem anonymen Traktat De transcendentalibus entis conditionibus, der möglicherweise Bonaventura zugeschrieben werden kann, erfolgt: Die Transzendentalien werden mit den Ursachen ins Verhältnis gesetzt: das Eine mit der Wirkursache, das Wahre mit der Formursache, das Gute mit der Zielursache, das Schöne umfasst alle drei Ursachen und ist ihnen allen gemeinsam, es hat eine synthetische Funktion. Drittens die Erweiterung (extensio) des Wahren zum Guten, wie dies in der Vorlesungsnachschrift durch Thomas überliefert ist: Schönheit besteht formal in Glanz (splendor) und Licht, material in Proportionen. Das Schöne ist ident mit dem Guten, die begriffliche Differenz geht dahin, dass das Schöne resplendentia der Form über die Materie sei, während das Gute auf das Verlangen gehe. Das Schöne ist hier keine eigene Transzendentalie, sondern eben eine Erweiterung (extensio) des Wahren zum Guten; insofern dem als wahr Erkannten auch das Gutsein zukommt, entspreche dies dem Hervorgang des Schönen. Kommen wir nun zu Thomas selbst. Dazu möchte ich Ihnen nun zuerst zwei Stellen aus der Summa Theologica zur Kenntnis bringen, um Ihnen eine grundsätzliche Vorstellung zu vermitteln. Die erste Stelle lautet: „‚Schön‘ ist dasselbe wie ‚Gut‘ und nur gedanklich von ihm verschieden. Da nämlich gut das ist, ‚wonach alle streben‘ […], gehört zum Begriff des Guten, daß in ihm das Streben zur Ruhe kommt. Nun gehört es aber zum Begriff des Schönen, daß in seinem Anblick oder Erkennen das Streben zur Ruhe kommt. […] So ist klar, daß ‚schön‘ zu ‚gut‘ eine Beziehung zur Erkenntniskraft hinzufügt, so daß ‚gut‘ genannt wird, was schlicht dem Strebevermögen gefällt, schön aber das heißt, bei dem schon die Wahrnehmung gefällt.“22 22 Thomas von Aquin, Die menschlichen Leidenschaften (Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollst., ungek. dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologica, übers. v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschl. u. Österr., Bd. 10 [Summa Theologica I –  II, 22 –  48]), Heidelberg u. a. 1955, 76; I  –  II, q. 27, a. 1 ad 3: „Ad tertium dicendum quod pulchrum est idem

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Hier wird die Differenz zwischen bonum und pulchrum hervorgehoben: Das Gute selbst ist das, „wonach alle streben“. Beim Schönen kommt der Anblick oder das Erkennen (aspectus seu cognitio) hinzu; dabei handelt es sich um eine Hinzufügung zum bonum (nicht zum ens!) – hinzugefügt wird also die Beziehung zur Erkenntniskraft; das Schöne hat einen Bezug zur Wahrnehmung bzw. zur Erfassung (apprehensio). Worüber uns die Stelle keinen Aufschluss gibt, ist: warum gefällt das Schöne beim Anblick? – Hier hilft eine zweite Stelle aus der Summa weiter: „Das Gute und das Schöne in einem Ding sind sachlich eins, wie sie auch ein und dasselbe zur Grundlage haben, nämlich die (Wesens-)Form. Und darum wird das Gute auch als schön gerühmt. Begrifflich aber sind beide verschieden. Das Gute nämlich geht das Strebevermögen an, denn gut ist das, wonach alle verlangen. Daher hat es auch die Natur des Zieles: das Verlangen nach etwas ist gewissermaßen eine Bewegung zum Gegenstand des Verlangens hin. Das Schöne aber geht das Erkenntnisvermögen an, denn schön werden die Dinge genannt, deren Anblick Wohlgefallen auslöst. Darum besteht die Schönheit im harmonischen Verhältnis der Teile.[23  ] Denn die Sinne finden Wohlgefallen an harmonisch geordneten Dingen wie an ‚antwortenden Gegenbildern ihrer selbst‘. Denn auch der Sinn und überhaupt jede Erkenntniskraft ist eine Art Vernunft. Weil aber die Erkenntnis durch Verähnlichung [mit dem Gegenstand] zustande

bono, sola ratione differens. Cum enim bonum sit ‚quod omnia appetunt‘, de ratione boni est quod in eo quietetur appetitus: sed ad rationem pulchri pertinet quod in ejus aspectu seu cognitione quietetur appetitus. […] Et sic patet quod pulchrum addit supra bonum, quendam ordinem ad vim cognoscitivam: ita quod bonum dicatur id quod simpliciter complacet appetitui; pulchrum autem dicatur id cujus ipsa apprehensio placet.“ (Hervorhebungen M. H.) 23 Zur näheren Charakterisierung vgl. auch Summa Theologica I, q. 39, a. 8: „Form aber, oder [!] Schönheit, hat Ähnlichkeit mit den Eigenschaften des Sohnes. Für die Schönheit bedarf es dreier Dinge. Erstens der Vollständigkeit oder Vollkommenheit; unvollständige Dinge nämlich sind häßlich. Weiter der rechten Proportion oder Harmonie. Und schließlich der Klarheit oder des Glanzes: Denn wir nennen solche Dinge schön, die leuchtende Farben haben.“ „Species autem, sive pulchritudo, habet similitudinem cum propriis Filii. Nam ad pulchritudinem tria requiruntur. Primo quidem, integritas sive perfectio: quae enim diminuta sunt, hoc ipso turpia sunt. Et debita proportio sive consonantia. Et iterum claritas: unde quae habent colorem nitidum, pulchra esse dicuntur.“ Thomas von Aquin, Gott der Dreieinige (Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollst., ungek. dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologica, übers. v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschl. u. Österr., Bd. 3 [Summa Theologica I, 27–  43]), Salzburg/Leipzig 1939, 236 (Übersetzung leicht redigiert).

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kommt und die Verähnlichung auf die Form geht, so wirkt das Schöne in der Weise der Form-Ursache.“24

Dinge, deren Anblick gefällt (quae visa placent), sind schön. Und nun erfahren wir auch den Grund: Er liegt (1) im Ding selbst, also in einer objektiven Schönheit (harmonisches Ganzes), darüber hinaus wird aber ein weiterer für uns besonders bedeutsamer Grund genannt: (2) Dem Erkenntnisvermögen (Vernunft) gefallen harmonisch geordnete Dinge aufgrund der Ähnlichkeit mit sich selbst (in sibi similibus); man könnte hier von einer convenientia (Übereinkunft) oder auch correspondentia (Entsprechung) zwischen Erkenntnisvermögen und Wirklichkeit reden! Hier handelt es sich in Gestalt der „objektiven“ Kennzeichnung um uralte Bestimmungsmerkmale des Schönen, schon bei Plotin, aber z. B. auch bei Augustinus, die dort aber ausschließlich auf die Dinge selbst – und zwar auf die Übereinstimmung bzw. Entsprechung von Form und Einheit bzw. der Teile und des Ganzen – bezogen sind. Bei der Rede von der Verähnlichung (assimilatio) wird die Erkenntnistheorie nach Aristoteles bemüht, wonach die Akzidentien durch die Sinne und die Form durch die Vernunft wahrgenommen werden. Die maßgebliche Übersetzung in der Deutschen Thomas-Ausgabe bringt eine interessante Anmerkung zur Übersetzung von in sibi similibus – „an antwortenden Gegenbildern ihrer selbst“ –, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdient: „Auf dem Bewußtsein, daß ‚besonders begabte Menschen zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, noch in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder suchen und dadurch das Innen völlig zum Ganzen und Gewissen steigern‘, ruht das ganze Weltbild Goethes, der in seiner Absage an den Descartes-

24 Thomas von Aquin, Gottes Dasein und Wesen (Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollst., ungek. dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologica, übers. v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschl. u. Österr., Bd. 1 [Summa Theologica I, 1–13]), Salzburg o. J. [1933], 104 –105; I, q. 5, a. 4 ad 1: „Ad primum ergo dicendum quod pulchrum et bonum in subjecto quidem sunt idem, quia super eamdem rem fundantur, scilicet super formam: et propter hoc, bonum laudatur ut pulchrum. Sed ratione differunt. Nam bonum proprie respicit appetitum: est enim bonum quod omnia appetunt. Et ideo habet rationem finis: nam appetitus est quasi quidam motus ad rem. Pulchrum autem respicit vim cognoscitivam: pulchra enim dicuntur quae visa placent. Unde pulchrum in debita proportione consistit: quia sensus delectatur in rebus debite proportionatis, sicut in sibi similibus; nam et sensus ratio quaedam est, et omnis virtus cognoscitiva. Et quia cognitio fit per assimilationem, similitudo autem respicit formam, pulchrum proprie pertinet ad rationem causae formalis.“ (Hervorhebungen M. H.)

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Kantischen Subjektivismus als Vorläufer unserer Zeit [?] und als unbewußter später Nachfahr einer thomistischen Ganzheitslehre erscheint […].“25 Hier ist er: der Subjektivismusvorwurf. In der Neuzeit sei das Schöne Sache des subjektiven, will heißen: individuellen Geschmacks. Verantwortlich zu machen sind dafür Descartes und Kant. Kant wird uns im Anschluss beschäftigen und es wird zu fragen sein, ob diese Kennzeichnung der Subjektivierung der Ästhetik ihm gegenüber auch angebracht ist. Besonderes Augenmerk legten wir bislang auf die Bestimmung, dass das Schöne in einer Art Entsprechung (correspondentia) oder Übereinkunft (convenientia) von Gegenständen und Erkenntnisvermögen bestehe. Anhand eines anderen Textes können wir diesen Befund noch vertiefen. Dabei handelt es sich um De veritate 1,1.26 Thomas leistet dort nochmals eine Bestimmung der Transzendentalien und stellt eine Art Begriffsgeographie zur Verfügung. Zuerst werden die Transzendentalien von den Kategorien abgegrenzt: Während die Besonderung durch die Kategorien erfolge, werde die Kennzeichnung der allgemeinen Seinsweisen durch die Transzendentalien geleistet. In weiterer Folge trifft er eine Unterscheidung innerhalb der Transzendentalien selbst, und zwar dahingehend, ob das Seiende (1) als in sich seiend (in se) aufgefasst wird oder (2) in der Hinordnung auf anderes (in ordine ad aliud). Sofern die allgemeine Seinsweise, die bedacht wird, eine ist, die das Seiende in sich (in se) nimmt, lässt sich innerhalb dieser Seinsweise erneut eine Differenzierung anbringen, die sich als positiv bzw. negativ kennzeichnen lässt: (1a) Positiv ist damit das „Wesen“ (res), der Sachgehalt gemeint; zugleich ist jedes Seiende in sich eine (1b) Negation im Sinne der Nichtgeteiltheit, als es eines (indivisum) ist. Das Seiende lässt sich aber – wie gesagt – auch thematisieren, insofern es (2) auf ein anderes hingeordnet

25 Ebd., 365. 26 Thomas von Aquin, Von der Wahrheit. De veritate (Questio I), Lateinisch-Deutsch, ausgew., übers. u. hg. v. Albert Zimmermann (Philosophische Bibliothek 384), Hamburg 1986, 2  –13; q. 1, a. 1.

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ist (ens in ordine ad aliud); und auch hier lässt sich erneut eine Unterscheidung anbringen hinsichtlich Unterschiedenheit und Übereinstimmung. Insofern es (2a) von anderem unterschieden ist, ist es ein aliquid: immer auch „etwas“ (aliquid), wobei dieses „etwas“, so der Vorschlag des Thomas, als „ein anderes Was“ (aliud quid) zu verstehen sei und damit vom anderen getrennt, unterschieden ist. Das Seiende kann aber auch (2b) übereinstimmen mit einem anderen. Dies ist der Fall bei verum und bonum: Die Seinsweise kommt in diesem Fall als eine der Hinordnung im Sinne von Übereinstimmung (convenientia) in den Blick; dazu bedarf es aber einer Voraussetzung: Denn um diese Übereinstimmung festmachen zu können, braucht es etwas, mit dem es übereinstimmen kann. Thomas führt hier die Seele (anima) ins Treffen. Und er bringt hier das berühmte Zitat aus Aristoteles’ De anima ins Spiel: Seele, die mit allem übereinstimmen kann (anima est quodam modo omnia).27 Das Gute besagt die Übereinstimmung mit dem Streben (gut ist, was erstrebbar ist) und das Streben endet im Ding. Das Wahre besagt die Übereinstimmung mit dem Verstand, in der Seele endet gewissermaßen das Erkenntnisvermögen.28 Das Schöne wird in diesem Text allerdings nicht erwähnt. Nicht zu Unrecht ist deshalb die Rede vom pulchrum als „forgotten transcendental“ aufgekommen und vielfach zitiert worden.29 Allerdings begegnet man hier einem „striking paradox“. Denn – so Jan Aertsen – obwohl Thomas nirgendwo eine eigene quaestio dem Schönen gewidmet habe, „in the study of the last decades more attention has been devoted to the beautiful than to any other transcendental.“30 Nehmen wir also die Überlegungen der jüngeren ThomasForschung auf und fragen wir: Wo ließe sich hier, nach dem bisher Gesagten, das Schöne verorten? – Ich unterbreite Ihnen 27 Vgl. Aristoteles, De anima, recogn. brevique adnot. instr. William D. Ross (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis), repr. (1956), Oxford 1984, III, 8; 431b 21: h™ ysucæ tà o¢nta påv e¬sti pánta. 28 Vgl. Thomas, Von der Wahrheit. De veritate, 14; q. 1, a. 2: „Motus autem cognitivae virtutis terminatur ad animam […] sed motus appetitivae terminatur ad res […].“ 29 Gilson, Etienne, Elements of Christian Philosophy, Garden City (New York) 1960, 159. 30 Aertsen, Jan A., Medieval Philosophy as Transcendental Thought. From Philip the Chancellor (ca. 1225) to Francisco Suárez (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 107), Leiden/Boston 2012, 173. Aertsen spricht sich gegen den Status einer selbständigen Transzendentalie bei Thomas aus.

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folgenden Vorschlag, der sich Günther Pöltner verdankt: Die Tatsächlichkeit der Übereinstimmung als solcher von Seele und Seiendem ist mit „schön“ gemeint.31 Das Schöne bringt als transzendentale Bestimmung zum Ausdruck, dass das Erkenntnis- bzw. Strebevermögen insgesamt, also die Seele mit dem Seienden übereinkommt, dass es hier eine Entsprechung (correspondentia) bzw. eine Übereinkunft (convenientia) geben kann.32 Die Vermittlungsfunktion des Schönen ist hier eine, die stärker auf Gegenstand und Seele geht, und nicht wie bei Platon innerhalb des Seienden und seiner Fundiertheit in der Idee statthat. Darüber hinaus kommt im Vernehmen des Schönen, das Freude mit sich bringt, die Seele zur Ruhe (quietetur appetitus); d. h. die Seele ist hier – eine zweite Gestalt der convenientia – in Übereinkunft mit sich.33 Schön meint dann nicht nur – wie im Wortsinn des Griechischen – das, was sich sehen lassen kann. Das Schöne meint nun – der Sache nach – den Umstand, dass sich etwas sehen lassen kann. Mit dieser Formulierung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die convenientia zwischen der Seele und dem Seienden statthat und im Schönen erfahren wird. Seiendes kann sich zeigen und kann gesehen werden (in aspectu seu cognitione). Dadurch wird die Transzendentalie pulchrum zu einer notwendigen – man kann dazu sagen: transzendentalen – Bedingung für kategoriales Erkennen und Streben.34

31 Vgl. dazu kurz im treffend betitelten Kapitel 3 „Schönheit als Seinserschlossenheit“ den Abschnitt zu Thomas bei Pöltner, Ästhetik, 58 – 68; ausführlich ders., Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, Wien/Freiburg i. Br./ Basel 1978, insbesondere 71–  86 u. 128  –132. Dort findet sich auch eine ausführliche und subtile Begründung für den Ausfall der Erörterung des Schönen als selbständiger Transzendentalie, der hier nicht nachgegangen werden kann. 32 Als Beleg für das pulchrum als die vorausliegende transzendental Einheit von verum und bonum gilt: „pulchrum addit supra bonum, quendam ordinem ad vim cognoscitivam […].“ Summa Theologica I – II, q. 27, a. 1 ad 3; Thomas von Aquin, Die menschlichen Leidenschaften, 76. Vgl. dazu auch Kovach, Francis J., The Transcendentality of Beauty in Thomas Aquinas, in: Wilpert, Paul (Hg.), Die Metaphysik im Mittelalter. Ihr Ursprung und ihre Bedeutung (Miscellanea mediaevalia 2), Berlin 1963, 386 – 392. 33 Vgl. dazu Pöltner, Schönheit, 75. Pöltner weist auch darauf hin, dass die hier in den Blick gerückte Seele nicht dazu verleiten dürfe, neuzeitliche Subjektivitätsmetaphysik zurückzuprojizieren. Der intellectus ist ein Vernehmen des bzw. Teilhaben am Seienden. 34 Aertsen spricht bezüglich Thomas ebenfalls von zwei „Aspekten der Transzendentalien“ (315), dem ontologischen (im Sinne der allgemeinen Seinsbestimmungen) und den notwendigen Bedingungen für Erkennen und Streben. Diese Bedingungen sieht er in seiner Thomas-Interpretation im ens, unum und bonum. Das Eigene des thomasischen Ansatzes sei es, diese beiden Aspekte nicht zu trennen. Insofern lasse sich von einer „Transzendental-Philosophie“ eigener Gestalt im Mittelalter sprechen. Vgl. Aertsen, Jan A., Die Lehre der Transzendentalien und die Metaphysik. Der Kommentar von Thomas von Aquin zum IV. Buch der Metaphysica, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 35 (1988), 293 – 316.

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III. Das Schöne als Übereinstimmung: Kant

Der Weg des kritischen Geschäfts zur Ästhetik ist bei Kant ein Umweg. Jedenfalls wenn man unter Ästhetik eine philosophische Disziplin versteht, die sich mit dem Schönen – und Erhabenen – befasst. Ästhetik, in Erinnerung an die etymologische Wurzel aisthesis, als Lehre von der Wahrnehmung, hat hingegen schon ihren Ort in der Kritik der reinen Vernunft. Dort kommt, dem Aufbau folgend – wie Kant ihn gelernt und sich geradezu unveräußerlich zu eigen gemacht hat, denn er wird für alle drei Kritiken an eben diesem Aufbau festhalten –, im Rahmen der Transzendentalen Elementarlehre die Transzendentale Ästhetik als Gegenstück zur Logik zu stehen und hat die Erörterung der apriorischen Elemente unserer Sinnlichkeit zum Gegenstand. Auf vergleichsweise wenigen Seiten werden hier Raum und Zeit als apriorische Anschauungsformen herausgearbeitet. Gegenüber der Durchführung einer Ästhetik als Theorie des Schönen, oder in seinen Worten: „Kritik des Geschmacks“, spricht er sich hier abfällig in einer bekannten Fußnote aus: Diese Kritik des Geschmacks könne nicht als Wissenschaft durchgeführt werden, da es nicht möglich sei, apriorische Gesetze für Geschmacksurteile zu erheben.35 Freilich hat sich der „galante Magister“ seinerzeit, also vor seiner Ausarbeitung der Transzendentalphilosophie, über Ästhetik im Sinne einer Theorie des Schönen und Erhabenen bereits einmal geäußert: In den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) ist er dem Empirismus – eines Hutcheson oder Burke – verpflichtet und spricht sowohl dem Schönen als auch dem Erhabenen das Gefühl des Angenehmen zu, allerdings in der Differenz, dass das Schöne reize, während das Erhabene rühre. 1790, in der Kritik der Urteilskraft, wird er „Reiz“ und „Rührung“ als mögliche Wirkungen des Schönen zurückweisen;36 hier hat sich Kant nun die Unterscheidung von angenehm und schön erarbeitet. Zwar können beide Urteile, diejenigen über das Schöne und diejenigen über das Angeneh35 Vgl. KrV B 35; WW II, 70. Die Werke Kants werden mit den geläufigen Siglen (KrV, KdU, KpV) bezeichnet und nach der Originalpaginierung unter Angabe der Auflage sowie nach der von Wilhelm Weischedel besorgten Werkausgabe (Kant, Immanuel, Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1956  –1964) unter der Sigle WW mit Band- und Seitenzahl zitiert. 36 KdU B 130; WW V, 370.

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me, als ästhetische Urteile bezeichnet werden, Geschmacksurteile im eigentlichen Sinne, reine Geschmacksurteile also, sind aber nur die Urteile, die etwas als schön bestimmen.37 Anhand dieser Einteilung der ästhetischen Urteile wird erneut der doppelte Sinn von Ästhetik zum Ausdruck gebracht: Einmal Ästhetik als Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung, die auch in gegenwärtigen Debatten wieder auf Interesse stößt und ihren Akzent gerne durch die Kennzeichnung „Aisthetik“ zum Ausdruck bringt; Gernot Böhme oder auch, von der Kunstwissenschaft kommend, Lambert Wiesing bemühen sich um entsprechende Ausarbeitungen, um nur zwei Vertreter dieses Forschungsfeldes zu nennen. Der Umweg wird notwendig, da die Vermittlung von Natur und Freiheit vordringlich wird. In der Kritik der reinen Vernunft wird Freiheit, näherhin transzendentale Freiheit, in ihrer Denkmöglichkeit festgehalten. Im Vordergrund steht die Ermöglichung der Erkenntnis der Natur durch die Konstitution von Gegenständlichkeit gemäß allgemeiner Naturgesetze (z. B. Kausalität). In der zweiten Kritik, in der die praktische Vernunft geprüft wird, wird der Ausgangspunkt von der „Tat“38 genommen. Abgesichert und vorbereitet ist der Gegensatz von Natur und Freiheit durch die Dichotomie von Noumenon und Phainomenon, Ding an sich und Erscheinung. Wie lässt sich aber die Verwirklichung von Freiheit, die als moralisch bestimmte gesollt ist, als möglich denken in einer Natur, die von Kausalgesetzen bestimmt ist? Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, die Dichotomie von Ding an sich und Erscheinung nun nicht nur in Bezug auf das Vernunftwesen Mensch auszuarbeiten, sondern das Ding an sich in der Rede vom „übernatürlichen Substrat der Erscheinungen“ auch für die Natur gehaltvoller in den Blick zu nehmen. Dadurch soll es gelingen, die Natur so zu denken, dass sie die Verwirklichung unserer Freiheit zulässt, sich als „zweckmäßig“ für unser Handeln erweist. Für das Erkennen stellt sich eine ähnliche Frage: Zwar ist die Natur durch das Subjekt konstituiert, doch ist damit die Frage der Erkennbarkeit der Natur in ihrer besonderen, empirischen

37 KdU B 39; WW V, 303. 38 KpV A 3; WW IV, 107.

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Naturgesetzlichkeit nicht beantwortet. Um Erkennen möglich zu machen, bedarf es eines Zusammenhangs dieser besonderen Naturgesetze zu einer Einheit, „ohne welche sich der Verstand in sie [die Natur] nicht finden könnte“39, wie Kant in der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft formuliert, denn es könnte keine zusammenhängende Erfahrung gemacht werden. Auch hier stellt sich also die Frage, ob denn die Natur für unser Erkennen „zweckmäßig“ sei und Erkennen gewissermaßen „zulasse“. Die sowohl für die Wirklichkeit von Erkennen und Handeln erforderte Zweckmäßigkeit kann nicht Gegenstand der Erfahrung sein, da sie diese erst möglich macht. Es muss ein apriorisches Prinzip sein, das nun aber weder dem Verstand (Erkennen) noch der Vernunft (Handeln) angehört. Vielmehr ist es dem „Mittelglied“ dieser Vermögen, wie Kant es nennt, zuzuschreiben, das es „doch“ „in der Familie der oberen Erkenntnisvermögen gibt“40: der Urteilskraft, die nun aber in einer neuen Gestalt in den Blick kommt, nämlich als reflektierende. Als bestimmende Urteilskraft, die Besonderes unter Allgemeines subsumiert, ist sie aus der Kritik der reinen Vernunft (Anschauungen, die unter einen Begriff gebracht werden: Schematismus-Kapitel und Grundsätze des reinen Verstandes) und der Kritik der praktischen Vernunft (Anwendung einer Regel auf eine Handlung)41 bekannt. Die Urteilskraft als reflektierende geht hingegen vom Besonderen aus, eben den besonderen, empirischen Naturgesetzen, und soll das Allgemeine, das System der Erfahrung als Einheit finden; sie verfährt – im Gegensatz zur bestimmenden Urteilskraft – regulativ. Was hat das alles mit dem Schönen zu tun? Diese Frage mag sich dem unvoreingenommenen Hörer und ebenso einer solchen Hörerin aufdrängen. Zur Beruhigung der Gemüter soll weniger ein Appell an Ihre – möglicherweise bereits strapazierte – Geduld dienen, vielmehr mag es erlaubt sein, an den Beginn dieser Ausführungen zu erinnern. Der Weg des kritischen Geschäfts zur Ästhetik ist bei Kant ein Umweg – hieß es. In aller Kürze haben wir diesen, nein: nicht abgeschritten, aber kurz, an einigen Punkten sozusagen aufgesucht. Die Kritik der Ur39 KdU B LI; WW V, 268. 40 KdU B XXI; WW V, 249. 41 KpV A 119; WW IV, 186.

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teilskraft besteht, neben der berühmten Einleitung, aus zwei Teilen: der Kritik der ästhetischen Urteilskraft und der Kritik der teleologischen Urteilskraft. In beiden Teilen wird das Prinzip der Zweckmäßigkeit verhandelt, allerdings in unterschiedlicher Gestalt. Während es im zweiten Teil um die objektive, materiale Zweckmäßigkeit geht, wird in der Abhandlung zur Ästhetik eine Zweckmäßigkeit erörtert, die als subjektiv und formal gekennzeichnet wird. Im Rahmen der teleologischen Abhandlung wird das Verhältnis der Naturgegenstände untereinander als auch diese selbst – sofern sie lebendig, also Organismen, „Naturzwecke“ sind – als zweckmäßig beurteilt. Der Ausgang wird jedoch von der subjektiven, formalen Zweckmäßigkeit genommen; man könnte meinen, gut erkenntniskritisch werde der Ausgang vom Subjekt genommen. Denn: die Zweckmäßigkeit der Natur wird hier in Bezug auf das Erkenntnisvermögen erörtert. Darüber hinaus wird gewissermaßen der teleologischen Urteilskraft vorgearbeitet, als in der Erfahrung der Naturschönheit ein Gedanke nahegelegt wird: dass es sich bei Natur nicht bloß um einen Mechanismus handle, sondern um Kunst42, sodass das Verständnis von Natur gehaltvoller wird und der objektiven Zweckmäßigkeit der Teleologie, wie sie für den Organismus schlagend wird, zugearbeitet bzw. dieses vorbereitet wird. Naturschönheit dient gewissermaßen der Vorbereitung für die Auffassung des Organismus als Naturzweck, der eben kein bloßes Aggregat ist und nicht bloß mechanisch verstanden werden kann. Dem Naturschönen gegenüber bringt der Mensch ein intellektuelles, unmittelbares Interesse auf: Es ist uns daran gelegen, dass unsere sittliche Selbstbestimmung in der Natur verwirklicht werden kann. Das Schöne der Natur wird als absichtslos schön erfahren; es ist ein Beispiel zweckloser Zweckmäßigkeit. Das Interesse, das wir diesbezüglich aufbringen, ist unmittelbar, weil es keinen Zweckbegriff voraussetzt, wonach es für irgendetwas gut sein könne; vielmehr gefällt es um seiner selbst willen. In diesem Gefallen kommt eine Entsprechung, oder wie es im Text heißt: „Übereinstimmung“43 zum Tragen: Die Natur scheint einem gewissermaßen „entgegenzukommen“, ja aufgrund der

42 Vgl. KdU B 77; WW V, 331. 43 KdU B 169; WW V, 398.

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erfahrenen Zweckmäßigkeit scheint sie „für unsere Urteilskraft gleichsam vorherbestimmt zu sein“.44 Diese Erfahrung des absichtslos Schönen der Natur, das als zweckmäßig erfahren wird, spricht Kant vorsichtig und zurückhaltend als „Spur“ und als „Wink“ an: als ob damit angezeigt werde, dass der Mensch in die Welt passe, um auf die vielzitierte Notiz von 1771 anzuspielen.45 Darin liegt das – oder jedenfalls ein – Glücksversprechen des Schönen! Die Erfahrung des Schönen als Übereinstimmung lässt uns aufmerksam werden auf die Übereinstimmung, die wir in jeweiligem Handeln und Erkennen immer schon in Anspruch nehmen. Ist in diesem Zusammenhang nicht auch das Schöne bei Thomas bedeutsam geworden – ohne dabei die unterschiedlichen „metaphysischen Voraussetzungen“ übersehen zu wollen? Mit Kant lässt sich aber noch eine weitere Gestalt der Übereinstimmung finden: Das Schöne, darauf legt Kant großen Wert, kann nicht mit dem Angenehmen, Reizvollen, Attraktiven gleichgesetzt werden. Ganz so wie es uns auch schon im alltäglichen Sprachgebrauch begegnet ist. Schön ist das, was auf unsere Sinne wirkt und unmittelbar Wohlbefinden auslöst. Gegenüber diesem sinnlichen Reiz verhält sich das Subjekt passiv. Es nimmt das Schöne lediglich auf und wird dem damit einhergehenden Gefühl unterworfen. Im Übrigen erinnern diese Problemzusammenhänge an solche der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert. Edmund Burke legte eine ähnlich psychologisch angelegte Konzeption des Schönen 1757 vor. Gegenüber dieser sensualistischen Auffassung von Erfahrung, die Erfahrung in passiv hingenommenen Sinnenreizen aufgehen sieht, hat bereits Goethe ironisch angemerkt: „sie [die ausschließlich die Erfahrung anpreisen] bedenken nicht, daß die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist.“46 Also der sinnliche Reiz, von den Empiristen verkürzt als das Ganze der Erfahrung angenommen, ist lediglich deren Hälfte. Erfahrung bedarf sowohl der Sinn44 KdU B 76; WW V, 330. 45 „Die Schöne[n] Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe [...].“ Kant, Immanuel, Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 3: Logik (Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [Akademie-Ausgabe], Bd. 16), Berlin 1914, 127 (Reflexion 1820a). 46 Goethe, Johann Wolfgang von, Maximen und Reflexionen, in: ders., Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen (Werke [Hamburger Ausgabe], hg. v. Erich Trunz, Bd. 12), München 101982, 365 – 547, hier 490 (Nr. 885).

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lichkeit als auch des Verstandes. Ästhetische Erfahrung geht nicht in einem bloßen Sinnenreiz auf. Schlegel betont deshalb in seiner Ästhetikvorlesung 1798: „Das Schöne ist aber das Land zwischen der sinnlichen und geistigen Welt.“47 Damit das angesprochene Land der Schönheit kein Niemandsland bleibt, bedarf es der näheren Bestimmung. Die Verwischung der Grenzen des Schönen gegenüber dem Angenehmen und dem Nützlichen rührt daher, dass alle drei mit einem Wohlgefallen verbunden sind. Wenn wir etwas als nützlich, als ‚ganz schön praktisch‘ beurteilen, dann haben wir an diesem Gegenstand ein Interesse. Solche Gegenstände wollen wir haben, um sie als geeignete Mittel zu gewünschten Zwecken gebrauchen zu können. Das Behagen ist hier vermittelt: Es braucht den Begriff eines Zwecks, um die Nützlichkeit zu ermessen. Ein solches Interesse an der Existenz wird, so Kant, auch gegenüber dem Guten in moralischer Hinsicht, von dem bislang nicht die Rede war, aufgebracht: schließlich soll es verwirklicht werden. Und wie verhält es sich mit dem reizvollen, angenehmen Gegenstand? Das Vergnügen, das er bereitet, lässt ihn erstrebenswert erscheinen. Der Genuss ist hier ein unmittelbarer, ausgelöst durch sinnliche Reize. Die Lust am Schönen kommt aus anderen Gründen zustande und ist, wie Kant immer wieder betont, frei. Das, was wir in Abhebung vom Nützlichen als schön bezeichnen, ist – im wahrsten Sinne des Wortes – zu nichts gut. In der ästhetischen Erfahrung wird unsere alltägliche Praxis aufgebrochen. Etwas gefällt dann nicht aufgrund seiner Funktionalität, sondern es wird der gewohnte Verwendungszusammenhang unterbrochen. Dazu braucht es eine Entlastung von Zwängen des Alltags, eine Einstellung, die Thomas Mann trefflich als „Ferien-Verantwortungslosigkeit“48 kennzeichnet. Ästhetische Erfahrung will nichts, wenn man so sagen kann, vom Gegenstand. Er wird in einer solchen Einstellung weder als Angenehmes begehrt noch als nützlich gebraucht. Er wird nicht einmal erkannt, indem man ihn begrifflich bestimmte. Vielmehr handelt es sich um ein Welt47 Schlegel, August Wilhelm, Vorlesungen über die philosophische Kunstlehre [Jena 1798  –1799], in: ders., Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. I: Vorlesungen über Ästhetik I (1798  –1803), hg. v. Ernst Behler, Paderborn u. a. 1989, 1–177, hier 167. 48 Mann, Thomas, Der Zauberberg (Frankfurter Ausgabe, hg. v. Peter de Mendelssohn), Frankfurt a. M. 1981, 221.

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verhältnis sui generis: In der ästhetischen Erfahrung betrachtet man den Gegenstand, oder wie Kant schön sagt, man erweist ihm seine „Gunst“49. Da man vom Gegenstand nichts will, ist die Lust eine grundsätzlich andere: Sie ist unabhängig vom Gegenstand. Man spricht von „ästhetischer Distanz“ (Moritz Geiger) oder von „interesselosem Wohlgefallen“. Diese Unabhängigkeit lässt sich an dem Umstand verdeutlichen, dass jedes sinnlich Gegebene Gegenstand einer ästhetischen Erfahrung werden kann. Betrachtung als Kennzeichen ästhetischer Erfahrung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Subjekt dabei aktiv ist. Es überlässt sich eben nicht bloß dem Sinnenreiz im Genuss, sondern es vollbringt eine eigentümliche Leistung. Es reflektiert auf sich, um die Wirkung des Gegenstandes in Bezug auf ein Gefühl der Lust oder Unlust zu beurteilen. Das Gefühl der Lust entsteht also nicht unmittelbar durch Sinnenreiz; sie ist keine „dumme Sinnenlust“50, vielmehr verdankt sich dieses Gefühl der „Belebung der Erkenntniskräfte“51. Schönheit ist deshalb das Land zwischen sinnlicher und geistiger Welt, weil Sinnlichkeit und Verstand durch die Anschauung eines Gegenstandes in Tätigkeit versetzt werden, indem man eine Vorstellung („wodurch uns ein Gegenstand gegeben ist“ – wie es bei Kant immer wieder formelhaft heißt) „gegen das ganze Vermögen der Vorstellungen hält, dessen sich das Gemüt im Gefühl seines Zustandes bewusst wird.“52 Dieses Bewusstwerden des Zusammenspiels der Erkenntniskräfte erfolgt in der Reflexion. Und aus dieser Reflexion erhebt sich das Gefühl der Lust als Folge, die somit freie Lust bleibt, sie ist „Reflexions-Lust“53. Dieses Gefühl der Lust stellt sich dann ein, wenn Sinnlichkeit und Verstand so aufeinander wirken, dass sie miteinander spielen, ohne sich gegenseitig zu dominieren. Diese „Harmonie“54 ist dem sinnlichen Genuss ebenso versagt wie dem Erkennen. Im Vergnügen herrscht die Sinnlichkeit vor, im Erkennen wird ein Gegenstand auf den Begriff gebracht. 49 50 51 52 53 54

KdU B 15; WW V, 287. Vgl. Bubner, Rüdiger, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1989, 118. Vgl. KdU B 37; WW V, 302. KdU B 5; WW V, 280. Vgl. KdU B XLVIII; WW V, 266 u. KdU B 155; WW V, 388. KdU B 29; WW V, 296.

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Die spielerische wechselseitige Belebung unserer Sinne und unseres Denkens ist zugleich eine Steigerung unseres „Lebensgefühls“55. Wir erfahren uns in besonderem Maße als lebendig und die Erkenntniskräfte als zusammenstimmend. Darin besteht ein weiteres Glücksmoment am Schönen! Damit wird auch die kopernikanische Wende Kants in der Ästhetik deutlich: „Schön“ ist kein Prädikat, das etwas am Gegenstand bezeichnet, wie dies das Prädikat „rot“ oder „lang“ tut. „Schön“ beurteilt eigentlich die Wirkung des Gegenstandes – seiner Form nach – auf uns: Der Gegenstand gefällt, weil er uns belebt. Bestimmungsgrund des Urteils ist nicht die Lust, sondern die Zweckmäßigkeit. Die Zweckmäßigkeit der Form des Gegenstandes entspricht der Form der Zweckmäßigkeit im Spiel der Erkenntniskräfte. Der Gegenstand belebt uns aufgrund seiner formalen Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen. Die Zweckmäßigkeit ist deshalb formal, weil sie ohne Materie, ohne Zweck ist: Denn wäre ein Zweck angebbar, dann wäre das Schöne wiederum verspielt an das Angenehme in Gestalt eines subjektiven Zwecks oder der Zweck wäre objektiv bestimmt durch einen Begriff, sodass damit wieder das Gute – als moralisches oder nützliches – erreicht wäre. Deshalb wird durch die Kennzeichnung „schön“ auch nichts am Gegenstand erkannt. Damit haben wir nun Folgendes erreicht: Bei Kant sind uns Versatzstücke aus den vorauf besprochenen Autoren wieder begegnet. Platon betreffend, die Steigerung des Lebensgefühls, das sich zwar einer intellektuellen Lust verdankt – hierin liegt die Ähnlichkeit zu Platon. Diese Lust verdankt sich aber nicht einer Schau des intelligiblen Schönen, sondern dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand. Die Vermittlungsfunktion des Schönen auf die Ideen hin wird transformiert und bei Kant angesprochen mit dem Wink, dass den Dingen ein „übersinnliches Substrat“ zugrunde liege. Wie bei Thomas ist die Rede von einer Entsprechung oder Übereinkunft zwischen Erkenntnisvermögen und Gegenständen. Im Unterschied zu Thomas wird aber die Möglichkeit von Erkenntnis nicht mit Aristoteles passivisch-realistisch im Sinne eines 55 KdU B 4; WW V, 279 u. KdU B 75; WW V, 329.

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Einprägens der Form in die Vernunft gedacht. Von einer Subjektivierung des Schönen kann insofern die Rede sein, als das Subjekt als beteiligtes in den Blick kommt; allerdings ist damit nicht verbunden, dass die Erfahrung des Schönen bloß subjektiv, also eine individuell beliebige sei, wie dies die Formel der Subjektivierung oft meint. Auch in einem zweiten Sinn erweist sich die oft pejorativ gebrauchte Kennzeichnung als unangemessen: Der Erfahrung des Schönen, auch das wird mit Kant erreicht, kommt es zu, uns mit uns selbst und mit der Welt als übereinstimmend zu erfahren. So wurde mit Hilfe der drei Positionen die systematische Bedeutung des Schönen in ontologischer und epistemologischer Hinsicht herausgestellt. Der Stellenwert des Schönen als eine grundlegende Kategorie der Philosophie sollte damit deutlich geworden sein.

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100 Kant, Immanuel, Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 3: Logik (Kant’s gesammelte Schriften, hg. v. d. Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin [Akademie-Ausgabe], Bd. 16), Berlin 1914 Kovach, Francis J., The Transcendentality of Beauty in Thomas Aquinas, in: Wilpert, Paul (Hg.), Die Metaphysik im Mittelalter. Ihr Ursprung und ihre Bedeutung (Miscellanea mediaevalia 2), Berlin 1963, 386 – 392 Mann, Thomas, Der Tod in Venedig, in: ders., Frühe Erzählungen (Frankfurter Ausgabe, hg. v. Peter de Mendelssohn), Frankfurt a. M. 1981, 559 – 641 Mann, Thomas, Der Zauberberg (Frankfurter Ausgabe, hg. v. Peter de Mendelssohn), Frankfurt a. M. 1981 Petrarca, Francesco, Die Besteigung des Mont Ventoux. Lateinisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Kurt Steinmann, Stuttgart 1995 Platon, SUMPOSION. Das Gastmahl, in: ders., Phaidon. Das Gastmahl. Kratylos, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Léon Robin u. Louis Méridier, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 3), Darmstadt 1974, 209 – 398 Platon, Symposion. Griechisch und Deutsch, hg. u. übers. v. Franz Boll, neu bearb. v. Wolfgang Buchwald (Sammlung Tusculum), München/Zürich 81989 Platon, FAIDROS. Phaidros, in: ders., Phaidros. Parmenides. Briefe, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Léon Robin, Auguste Diès u. Joseph Souilhé, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher u. Dietrich Kurz (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 5), Darmstadt 1983, 1–193 Platon, Phaidros oder Vom Schönen, übertr. u. eingel. v. Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1994 Pöltner, Günther, Schönheit. Eine Untersuchung zum Ursprung des Denkens bei Thomas von Aquin, Wien/Freiburg i. Br./Basel 1978 Pöltner, Günther, Philosophische Ästhetik (Grundkurs Philosophie 16), Stuttgart 2008 Recki, Birgit, Ästhetik, philosophische, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 2010, 159  –168 Rentsch, Thomas, Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt, in: ders., Transzendenz und Negativität. Religionsphilosophische und ästhetische Studien, Berlin/New York 2011, 394 – 408 Reschke, Renate, Schön/Schönheit, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2003, 390 – 436 Schlegel, August Wilhelm, Vorlesungen über die philosophische Kunstlehre [Jena 1798– 1799], in: ders., Kritische Ausgabe der Vorlesungen, Bd. I: Vorlesungen über Ästhetik I (1798–1803), hg. v. Ernst Behler, Paderborn u. a. 1989, 1–177 Schwerpunktthema „Gibt es eine Philosophie des Schönen?“, in: Philosophisches Jahrbuch 122/II (2015), 374 – 438 Scruton, Roger, Schönheit. Eine Ästhetik, übers. v. Reinhard Kreissl, München 2012 (Originalausgabe Oxford/New York 2009) Seel, Martin, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt a. M. 2014 Tegtmeyer, Henning, Kunst, Berlin/New York 2008 Thomas von Aquin, Gottes Dasein und Wesen (Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollst., ungek. dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologica, übers. v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschl. u. Österr., Bd. 1 [Summa Theologica I, 1–13]), Salzburg o. J. [1933] Thomas von Aquin, Gott der Dreieinige (Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollst., ungek. dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologica, übers. v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschl. u. Österr., Bd. 3 [Summa Theologica I, 27–  43]), Salzburg/Leipzig 1939 Thomas von Aquin, Die menschlichen Leidenschaften (Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollst., ungek. dt.-lat. Ausgabe der Summa Theologica, übers. v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschl. u. Österr., Bd. 10 [Summa Theologica I – II, 22 – 48]), Heidelberg u. a. 1955 Thomas von Aquin, Von der Wahrheit. De veritate (Questio I), Lateinisch-Deutsch, ausgew., übers. u. hg. v. Albert Zimmermann (Philosophische Bibliothek 384), Hamburg 1986

Arbeit am Absoluten: Das Erhabene in philosophischer Perspektive Stephan Grotz

Für Marianne Sperb, den hellsten Leitstern des letzten Jahres

Wer sich aus einer philosophischen Perspektive dem Erhabenen als einer ästhetischen Kategorie nähert, wird bald feststellen, dass das Erhabene schon bessere Zeiten – und das meint: Phasen der intensiven Reflexion – erlebt hat. Derartigen Konjunkturschwankungen unterliegen zwar auch andere philosophische Begriffe, etwa der Begriff der Seele, und sogar ganze disziplinäre Zweige, beispielsweise die philosophische Gotteslehre bzw. die Natürliche Theologie.1 Beim Begriff des Erhabenen oder des Sublimen kommt jedoch erschwerend hinzu, dass er kaum einmal den Rang und die Funktion einer grundlegenden oder gar universalen Bestimmung erhalten hat, wie das etwa für den Begriff des Seienden, des Guten oder des Schönen gilt. Dementsprechend gering ist der Umfang an philosophischen Texten, die sich mit dem Erhabenen nicht nur beiläufig, sondern ausführlich und systematisch beschäftigt haben.2 Die, historisch gesehen, nur sporadisch erfassbare Reflexion auf diesen Begriff ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass das Erhabene in seiner inhaltlichen Fassung so schillernd anmuten kann. Die Einleitung zu einem gewichtigen Sammelband über

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Von philosophischer Seite hat Henning Tegtmeyer vor kurzem den derzeit interessantesten Restitutionsversuch einer Natürlichen Theologie vorgelegt: Tegtmeyer, Henning, Gott, Geist, Vernunft. Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie (Collegium Metaphysicum 8), Tübingen 2013. Guter Überblick etwa bei Müller, Armin/Tonelli, Giorgio/Homann, Renate, Erhaben, das Erhabene, in: Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 624 – 635.

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das Erhabene hält denn auch unmissverständlich fest, dass „der Versuch einer exakten Begriffsbestimmung von vornherein scheitern“ muss.3 Ja, man könne „über das Erhabene nichts aussagen, ohne gleichzeitig das Gegenteil behaupten zu müssen.“4 Freilich sei die Bedeutungsvielfalt des Begriffes kein Ausdruck von Beliebigkeit, sondern habe eine sachliche Grundlage: Das Erhabene sei selbst von einer „paradoxen und ‚unfaßlichen‘ Struktur“.5 Das ist, so will mir scheinen, ein etwas forciertes Argument. Denn in der Linie dieser Begründungsstrategie könnte man mit gleichem Recht auch behaupten, dass es keinen exakten Begriff vom Sein gibt, weil das Sein in sich selbst verschieden ist und wir es immer schon in mannigfachen Bedeutungen gebrauchen: als Kopula, als Existenzaussage, als Gleichheitszeichen, aber auch als Ausdruck für die Ousia (ou¬sía) oder das Absolute. Bereits ein kursorischer Blick in die Geschichte der Metaphysik reicht, um ausreichend Zweifel an solch einer Gedankenfigur zu bekommen. Und so lässt sich sicher nicht bestreiten, dass das Erhabene im Lauf der Zeit sich als ein wandlungsfähiger Begriff gezeigt hat. Zugleich aber ist nicht zu verkennen, dass es gewisse Konstanten gibt: dass das Erhabene in durchaus vergleichbaren Problemkreisen diskutiert wird. Das versuchen meine folgenden Bemerkungen anhand dreier Autoren zu zeigen, die aus einer Begriffsgeschichte des Erhabenen nicht wegzudenken sind: an dem spätantiken Anonymus, der traditionell den Namen Longinus trägt, sowie an Kant und Hegel. I.

Die Gründungsurkunde für eine Theorie des Erhabenen ist bekanntlich die spätantike Schrift Peri Hypsous (Perì uçyouß), die lange Zeit unter dem Namen des Longinus firmierte. Merkwürdig ist der nur mehr fragmentarisch erhaltene Traktat allemal: Sein tatsächlicher Verfasser ist unbekannt, selbst die Datierung

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Pries, Christine, Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Größenwahn und Grenzerfahrung, Weinheim 1989, 1– 30, hier 11. 4 Ebd. 5 Ebd., 12.

Arbeit am Absoluten: Das Erhabene in philosophischer Perspektive | Stephan Grotz

des Textes ist unsicher.6 In seiner Zeit entfaltet er offensichtlich keinerlei Wirkung: „Kein antiker Autor zitiert ihn.“7 Heute zählt die Schrift über das Erhabene neben der Aristotelischen Poetik und der sogenannten Ars poetica des Horaz zum Dreigestirn der antiken Dichtungstheorie. Diese Prominenz verdankt der Text insbesondere dem klassizistischen Regelpoetiker Boileau, dessen französische Übersetzung von 1674 die damalige Debatte um die anciens und modernes befeuerte.8 Freilich, eine präzise Definition des Erhabenen sucht man bei Longin vergebens. Dies hätte sich aber um so mehr angeboten, als er (anders als Aristoteles und Horaz) mit dem Erhabenen ein einzelnes poetisches Phänomen in den Fokus seiner Schrift rückt. Aufbau und Durchführung des Ganzen vermitteln eher einen unsystematischen Blick auf das Erhabene, für das der anonyme Autor „immer neue Anläufe“ braucht, um „dieser für [ihn] offenbar schwer faßlichen Gegebenheit“ Herr zu werden.9 Die Geschichte des Erhabenen startet also offenbar mit einem Geburtsfehler: Der Begriff bleibt von Anfang an opak. Aber das scheint nur so. Keiner hat das deutlicher gemacht als Ernst Robert Curtius. Für ihn ist der Anonymus ein seinem Gegenstand gewachsener, kongenialer Autor, der dem Erhabenen ein wesentliches Merkmal zuspricht: Es ragt nicht einfach wie ein Gipfel aus seiner Umgebung hervor, den jedermann ohne weiteres erklimmen kann. Vielmehr bricht das Erhabene mit aller Macht in einen Kontext ein, der dafür eigentlich nicht gewappnet ist: „Das Erhabene zerreißt, wenn es im richtigen Augenblick hervorbricht, wie ein Blitz alle Dinge und offenbart mit einem Schlag die geballte Kraft des Redners.“10

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Zur Frage der Autorschaft und der Datierung siehe etwa Fuhrmann, Manfred, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973, 137 – 138. 7 Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 21954, 402. 8 [Boileau-Despréaux, Nicolas] Œuvres diverses du Sieur D*** avec le traité du sublime ou du merveilleux dans le discours, traduit du Grec de Longin, Paris 1674. „Überhaupt ist vor Boileau nirgendwo ein starker Einfluß der Schrift bemerkbar“, so Otto Schönberger in seinem Nachwort zu: Longinus, Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Otto Schönberger, Stuttgart 1988, 135 –155, hier 152. 9 So die Einschätzung bei Fuhrmann, Dichtungstheorie, 140. 10 Longinus, Vom Erhabenen/Perì uçyouv, 1,4: uçyov dé pou kairíwß e¬xenecqèn tá te prágmata díkhn skhptoû pánta diefórhsen kaì tæn toû r™ätorov eu¬qùv a¬qróan e¬nedeíxato dúnamin. Der griechische Text folgt der in Anm. 8 angeführten Ausgabe Otto Schönbergers, im Folgenden zitiert unter der Sigle VE (mit Kapitelzählung). Soweit nicht anders angegeben stammen sämtliche Übersetzungen ins Deutsche von mir.

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Eine derart geballte Kraft, aus der das Erhabene sich speist, kann für unseren anonymen Autor nur einer natürlichen Veranlagung des Redners entspringen: Jemand hat diese Begabung oder er hat sie eben nicht. Eine fehlende Begabung lässt sich daher auch nicht durch eine rhetorische Kunstlehre (técnh), mittels der man sich sprachliche Kniffe – insbesondere literarischrhetorische Stilmittel – aneignet, kompensieren. Von der puren técnh führt also kein Weg zum Erhabenen. Aber damit redet Longinus keiner Genie-Ästhetik das Wort: Bloßes Naturtalent reicht für ihn ebensowenig aus. Das Erhabene lässt sich zwar nicht kurzerhand mit rhetorischer Technologie (tecnología) erzwingen. Doch aber ist es eine Gabe, die auch trainiert werden muss. Folgerichtig widmet sich Longin des Langen und Breiten den technischen Quellen, mit denen das Erhabene auf rechte Art und Weise seinen Ausdruck findet. Im Aufbau seiner Schrift stehen diese artifiziellen Quellen allerdings an zweiter Stelle. Erst ab Kapitel 16 wendet sich Longin den Figuren (scämata), der Diktion (frásiv) und der Satzfügung (súnqesiv) zu.11 Das Erhabene ist demnach nichts bewusstlos Naturwüchsiges, sondern etwas, das sich zwar von selbst, auf natürlicher Basis entfaltet, dies aber auf kunstvolle Weise. Wenn sich das Erhabene Bahn bricht, dann eben nicht „willkürlich oder ganz ohne Regel“.12 Longin formuliert das auch so: Wie bei allem, so ist auch beim Erhabenen die Natur das Prinzip des Entstehens (prøton genésewv); ohne Natur ‚geht nichts‘. Doch die richtige, gemäße Entwicklung des Erhabenen erfolgt – anders als bei einem Naturprodukt – nicht von selbst. Vielmehr bedarf es gewisser technischer Regeln und Methoden, damit das Erhabene in seiner natürlichen, unverfälschten Form in Erscheinung tritt. Natürlichkeit (fúsiv) ist insofern das Ziel jeder artifiziellen Veranstaltung (técnh): „Die Kunst hat nämlich dann ihr Ziel erreicht, wenn sie Natur zu sein scheint. Und die Natur wiederum ist gelungen, wenn sie die Kunst unmerkbar in sich birgt.“13 11 Eine gute Übersicht über den Aufbau der Schrift vermittelt Schönberger im Nachwort zu seiner Edition. Vgl. VE, 144 –148. 12 Vgl. VE 2,2: ou¬k ei¬kaîón ti ka¬k pantòv a¬méqodon. 13 VE 22,1: tóte gàr h™ técnh téleiov, h™ník’ a£n fúsiv ei®nai dokñı, h™ d∫ au® fúsiv e¬pitucäv, oçtan lanqánousan periéchı tæn técnhn. Entsprechend heißt es in VE 17,1 von den rhetorischen Figuren (scämata): „Eine Figur erscheint dann am besten, wenn eben dies

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Kunst, Technik ahmt also (nach dem Adagium des Aristoteles)14 die Natur nach. Sie ist umso kunstvoller, je natürlicher und weniger gekünstelt sie erscheint.15 Umgekehrt aber lässt sich die Natur anhand der Technik als etwas Zielgerichtetes und Reguläres verstehen: „Im Falle des Pathetischen und des Gehobenen verfährt die Natur gewöhnlich nach eigenem Gesetz [au¬tónomov].“16 Das bedeutet wiederum: Die Eigenwüchsigkeit der Natur schießt nicht ins Kraut, sondern sie hat etwas Maßvolles – eine selbstgewählte Beschränkung oder Autonomie – an sich. Beim Erhabenen den rechten Ton und das rechte Maß zu treffen, erfordert Technik – und die rechte Einsicht.17 Erst dadurch vermag das „wirklich Erhabene“ (ta¬lhqèv uçyov)18 seine ihm eigentümliche Wirkung zu entfalten: eine Bewunderung beim Rezipienten auszulösen, die nachhaltig anhält. Nun erregt natürlich bei verschiedenen Menschen Unterschiedliches Bewunderung. Wie aber das wahrhaft Bewunderungswürdige aussieht, entfaltet Longin an einem Paradigma: Zwar sind gemeinhin Glücksgüter wie Vermögen, Ruhm oder politische Macht Gegenstände der Bewunderung. In gut antiker Tradition hält Longin aber doch die Geringschätzung dieser Güter für noch achtenswerter. Freilich, so könnte man einwenden, ist das ein Leichtes, wenn man gar nicht mit diesen Glücksgaben gesegnet ist. Am meisten nötigen uns daher diejenigen Menschen echte Bewunderung ab, „die diese Glücksgüter zwar besitzen könnten, sie aber aus großer Gesinnung [megaloyucía] verachten.“19

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verborgen bleibt: dass es sich um eine (Kunst-)Figur handelt.“ (tóte a¢riston dokeî tò scñma, oçtan au¬tò toûto dialanqánhı, oçti scñmá e¬stin). Diese Gedankenfigur kehrt immer wieder, etwa in VE 38,3: „Die besten Hyperbeln sind die, denen man gar nicht ansieht, dass es sich um Hyperbeln handelt“ (a¢ristai tøn u™perboløn [...] ai™ au¬tò toûto dialanqánousai oçti e¬isìn u™perbolaí). Aristoteles, Physica, recogn. brevique adnot. crit. instr. William D. Ross (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis), repr. (1950), Oxford 1985, II, 2; 194a 21. Zu diesem Axiom vgl. neuerdings Spaemann, Robert, Was heißt: „Die Kunst ahmt die Natur nach“?, in: Philosophisches Jahrbuch 114 (2007), 247 – 264 (wieder abgedruckt in: ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, Stuttgart 2011, 312 – 348). Klassisch zu diesem Themenkomplex: Flasch, Kurt, Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der Kunst, in: ders. (Hg.), Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur Problemgeschichte des Platonismus (FS Johannes Hirschberger), Frankfurt a. M. 1965, 265 – 306. VE 2,2: h™ fúsiv, wçsper tà pollà e¬n toîv paqhtikoîv kaì dihrménoiv au¬tónomon [...] ei®nai fileî. Vgl. VE 2,3, wo Longin das Verhältnis von Glück und Einsicht demjenigen von Natur und Kunst analog setzt. VE 7,2. VE 7,1. Zur megaloyucía vgl. die bekannten Ausführungen bei Aristoteles, Ethica Nicomachea, recogn. brevique adnot. crit. instr. Ingram Bywater (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis), repr. (1894), Oxford 1984, IV, 7– 8; 1123a 34 ff.

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Eben diese Haltung ist nun für Longin vorbildlich, und zwar gerade im Hinblick auf das Erhabene. Dieses hinterlässt dann einen nachhaltigen Eindruck, wenn es bewusst – und für den Rezipienten bemerkbar – auf eingebildete Größe (megéqouv fantasía) und Prunk (caûna) verzichtet.20 Über den durchschlagenden Erfolg entscheidet der angemessene und souveräne Einsatz von Mitteln, über die man eigentlich in Hülle und Fülle gebietet. Wie das im Einzelnen umgesetzt werden kann, lässt sich für Longin offensichtlich nicht auf Regeln bringen, sondern höchstens an einer Fülle von Beispielen veranschaulichen. Erhabenheit ist daher eine Frage der Verhältnismäßigkeit: Weder gibt es apriorisch erhabene Themen noch eine apriorisch erhabene Sprache. Von bestimmten sprachlichen Erscheinungen automatisch auf Erhabenheit zu schließen, verbietet sich für Longin daher von vornherein. Schwülstigkeit, Manier und falsches Pathos sehen zwar so aus, als speisten sie sich aus dem Erhabenen. In Wahrheit aber sind sie keine natürliche Folge aus dem Erhabenen, sondern ihnen haftet etwas Künstliches oder gar Gekünsteltes an. Mehrfach warnt Longin daher vor einer Verwechslung des Erhabenen mit solchen sprachlichen Erscheinungen. Das scheint ihm so wichtig zu sein, dass er dies bereits in den Anfangskapiteln seines Traktats tut.21 Umgekehrt ist eine bestimmte Thematik nicht gleich ein Selbstläufer in Sachen Erhabenheit. Immerhin könnte die Sphäre des Göttlichen so erscheinen. Für Longin ist aber entscheidend, dass das in Rede stehende Thema sorgfältig erwogen und die dann eingesetzten sprachlichen Mittel reflektiert, also im Rückbezug auf das Thema gebraucht werden. Geschieht das nicht, so kennt Longins Kritik keine Scheu. Nicht einmal vor den ganz Großen der griechischen Literatur macht Longinus Halt. Der „ansonsten göttliche Platon“ verfehlt in seinem Alterswerk der Nomoi (Nómoi) mindestens zwei Mal das Erhabene. Longin zitiert beide Textpassagen an, ohne auf den Kontext näher einzugehen: „Und was ist mit dem ansonsten göttlichen Platon? Er will von Gesetztafeln sprechen und sagt: ‚In den Tempeln 20 Vgl. VE 7,1. 21 Vgl. insbesondere VE 3 – 5.

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werden sie Tafeln aus Zypressenholz hinterlegen zur Erinnerung [für später].‘ Und an anderer Stelle heißt es: ‚Bei den Mauern [für die Stadt], lieber Megillos, halte ich es mit Sparta und lasse die Mauern schlafend auf der Erde liegen und sie nicht aufwecken.‘“22

Der Kontext bei Platon macht aber schnell klar, woran sich Longinus stört. Inmitten der Erörterungen von „hochheiligen Dingen“23 – wie etwa den Schwüren bei den Göttern, die Priester durch Opfer heiligen, oder dem Tempelbau und den Stätten der Rechtsprechung – wirken Platons Ausführungen auf Longin hier geradezu pedantisch bis flapsig. Dass die bei diesen Schwüren verwendeten Tafeln aus Zypressenholz sind, scheint ein allzu kleinliches und eben dadurch störendes Detail zu sein. Auch das Bild von den schlafenden Stadtmauern verstellt den Blick auf die große Sache, um die es Platon eigentlich geht: Starke Befestigungsanlagen wiegen die Bürger in einer Scheinsicherheit, sie führen auf die Dauer zur Verweichlichung und hemmen das Engagement des Einzelnen, für das Gemeinwesen im Konfliktfall mit dem Leben einzustehen.24 Wohl am markantesten ist aber der stillschweigende Eingriff, den sich Longinus in den Text Homers erlaubt. Bevor er jedoch seine Emendationen daran anbringt, tadelt Longin erst einmal den ‚Vater Griechenlands‘. Besonders diejenigen Stellen, an denen das Erhabene in sein „Übermaß“ (u™perbolæ toû megéqouv)25 umschlägt bzw. nur mehr ein „übersteigertes Wesen“ (u™perfuá)26 zeigt, stören Longinus. Bezeichnenderweise sind das alles Passagen, in denen Homer von den Göttern spricht. Nun ist die Kritik an den Homerischen Göttern zwar fast so alt wie der kritisierte Text.27 Doch Longin geht es hier nicht um ein rein sachliches

22 Vgl. VE 4,6: Tí dé o™ ta®lla qeîov Plátwn; tàv déltouv qélwn ei¬peîn „gráyantev“ fhsín „e¬n toîv i™eroîv qäsousin kuparittínav mnämav.“ kaì pálin „perì dè teicøn, w® Megílle, e¬gœ xumferoímhn a£n tñı Spárthı tò kaqeúdein e¬ân e¬n tñı gñı katakeímena tà teích kaì mæ e¬panístasqai.“ Longins Referenztext ist Platon, Leges, in: id., Platonis Opera, Tom. 5: Tetralogiam IX definitiones et spuria continens, recogn. brevique adnot. crit. instr. Ioannes Burnet (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis ), repr. (1907), Oxford 1984, 741 C 5 ff. sowie 778 D 3 ff. 23 Platon, Leges 778 C 8: i™eråtata. 24 Dazu Platon, Leges 778 E 5 ff. 25 VE 9,5. Die Anspielung an die Aristotelische Differenz von u™perbolä (bzw. u™perocä) – Übermaß – und e¢lleiyiv – Mangel – dürfte kein Zufall sein. 26 VE 9,6. 27 Gute Zusammenstellung etwa bei Bühler, Winfried, Beiträge zur Erklärung der Schrift vom Erhabenen, Göttingen 1964, 68 ff.

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Problem: um ein falsches Bild von den Göttern; sondern es geht ihm gleichzeitig um die sprachlich ungenügende Vermittlung dieses Bildes. Falsches Denken und falsches Reden über die Götter gehören für Longinus offensichtlich untrennbar zueinander. Daher bleibt Longin gegenüber allegorischen Ausdeutungen des Homer-Textes skeptisch, da sie gerade den Zusammenhang zwischen dem sprachlich Formulierten und dem sachlich Gemeinten zerreißen.28 Homer ist also wörtlich zu nehmen; und sogleich zeigen sich alle Fehler ungeschminkt. Der in der Ilias mehrfach geschilderte Götterkampf, der Himmel und Erde in Aufruhr versetzt, ist „vollkommen gottlos und wahrt nicht das Geziemende.“29 Mit anderen Worten: Er ist sachlich wie rhetorisch indiskutabel.30 Diese Kritik dient nun als Kontrastfolie für eine gelungene Darstellung des Erhabenen bei Homer. Es ist sinnigerweise keine spektakuläre Szene, in der für Longin „das Göttliche makellos, wahrhaft groß und unvermischt“31 zur Darstellung kommt. Homer setzt das Dahinschreiten des Gottes Poseidon über Land und Meer in „großartiger und langhin rollender“32 Diktion um. Um seiner „Idealvorstellung vom Großen und Erhabenen“33 möglichst nahezukommen, montiert Longin Homer-Verse aus verschiedenen Passagen zu einem einzigen Bild zusammen: „Und es erzitterten die großen Berge und der Wald, Auch die Gipfel, und der Troer Stadt und die Schiffe der Achaier Unter den Füßen, den unsterblichen, des Poseidon, wie der da schritt. Und er ging und trieb über die Wogen, und es hüpften die Ungeheuer unter ihm Überall her aus den Schlünden und verkannten nicht ihren Herrn. 28 VE 9,7. Ein Klassiker zur antiken Homer-Exegese ist Fritz Wehrlis Dissertation: Zur Geschichte der allegorischen Deutung Homers im Altertum, Borna-Leipzig 1928. 29 VE 9,7: pantápasin a¢qea kaì ou¬ såızonta tò prépon. 30 Zum Prepon/Aptum als rhetorische Kategorie vgl. etwa Pohlenz, Max, Tò prépon. Ein Beitrag zur Geschichte des griechischen Geistes [1932], in: ders., Kleine Schriften, Bd. 1, hg. v. Heinrich Dörrie, Hildesheim 1965, 100  –139. 31 VE 9,8: a¢crantón ti kaì méga w™v a¬lhqøv kaì a¢kraton. 32 Auerbach, Erich, Camilla oder über die Wiedergeburt des Erhabenen, in: ders., Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, 135 –176, hier 170. 33 Ebd.

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Und in Freude trat auseinander das Meer, und die flogen dahin.“34

Vorbildlich ist die Szene wohl darin, dass sie Wirkungen des Göttlichen in der Natur schildert, und zwar anhand einer an sich unscheinbaren Tätigkeit. Diese ist zwar nur ein „bloßes SichIn-Bewegung-Setzen“35, sie löst aber eine Wirkung – eine Erschütterung und Freude bei Flora und Fauna – aus, mit der die Macht des Göttlichen unvermutet hervorbricht. Eben diese Konstellation ist für Longin der direkte Anknüpfungspunkt an eine weitere berühmte Passage, die so unvermutet in diesem Zusammenhang auftaucht, dass sie lange als nachträgliche Interpolation galt. Gemeint ist das Genesis-Zitat aus dem Alten Testament.36 Auch hier speist sich die Erhabenheit aus einer an sich unspektakulären Tätigkeit des Göttlichen, die Wirkungen auslöst, welche unter menschlichen Bedingungen mit dieser Tätigkeit gar nicht möglich sind. Dieses Mal ist es das bloße Sprechen Gottes, das die Schöpfung ins Sein setzt. Auch hier ist es für Longin zunächst die rechte Auffassung vom Göttlichen, die „dem Gesetzgeber der Juden“ dann auch die entsprechend erhabenen Formulierungen ermöglicht. Offensichtlich imponiert Longin die schlichte, wiederholte Sequenz von „Es werde! Und es ward“: „Weil [...] der Gesetzgeber der Juden die Macht des Göttlichen richtig einschätzte, konnte er sie gleich zu Beginn seiner Gesetze sprachlich offenbaren und schrieb: ‚Gott sprach‘ – Ja, was? ‚Es werde Licht, und es ward Licht; es werde Land, und es wurde Land.‘“37

An Longins Behandlung von Homer und der alttestamentarischen Genesis-Stelle zeigt sich, worauf es ihm beim Erhabenen ankommt: Es geht ihm nicht um eine Diskrepanz in dem Sinne, dass die sprachliche Formulierung niemals heranreicht an einen 34 VE 9,8 (leicht modifizierte Übersetzung nach Wolfgang Schadewaldt). Gute Übersicht über die Verse bei Auerbach, Camilla, 169 –170; siehe auch Bühler, Beiträge, 32 – 33. 35 Auerbach, Camilla, 170. 36 Trotz erfolgter Kritik im Detail ist immer noch erhellend: Norden, Eduard, Das Genesiszitat in der Schrift vom Erhabenen (Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst 1954/1), Berlin 1955. 37 VE 9,9: o™ tøn ’Ioudaíwn qesmoqéthv [...] e¬peidæ tæn toû qeíou dúnamin katà tæn a¬xían e¬cårhse, ka¬xéfhnen eu¬qùv e¬n tñı ei¬sbolñı gráyav tøn nómwn· „ei®pen o™ Qeóv“ fhsí· tí; „genésqw føv, kaì e¬géneto· genésqw gñ, kaì e¬géneto.“

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intendierten erhabenen Gegenstand, wie es das Göttliche ist. Im Gegenteil: Wahre Erhabenheit zeigt sich da, wo ein hoher Gegenstand und dessen Wirkungen ganz bewusst den entsprechenden Ausdruck erhalten. Nicht das Paradox, das ständige Auseinanderklaffen von Aussage und Sinn ist das Paradigma für das Erhabene, sondern das Unverfügbare, das Inkommensurable. Das wahre Erhabene bzw. Große meint demnach nicht die bloße Übersteigerung des Gewöhnlichen, sondern die Überschreitung jedes üblichen Maßes.38 So unspektakulär und unscheinbar eine Tätigkeit wie etwa das Sprechen und das Einherschreiten sind, so sehr sind die Auswirkungen nicht an normalsterblichen Maßstäben zu messen. So wird das Inkommensurable sachlich und zugleich sprachlich auf den Punkt gebracht – mit einer künstlerischen Ökonomie, wie sie sonst nur die Natur kennt. Eben deshalb kommen für Longin im Erhabenen Naturveranlagung und Kunst so stark zur Deckung.39 Das bedeutet zum einen, dass das erhabene Sprachkunstwerk einen bloß artifiziellen, gekünstelten Charakter ausschließt. Die Kunst liegt hier eben darin, eine dem Wesen oder der fúsiv des Erhabenen entsprechende sprachliche Umsetzung zu finden. Zum anderen ist mit der Verschmelzung von Natur und Kunst die Unverfügbarkeit des Erhabenen garantiert – und damit sein überraschendes, unplanmäßiges Auftreten. Genau das sichert ihm aber seine überwältigende, erhebende Wirkung beim Zuhörer. Das Erhabene will den Rezipienten nicht von etwas überzeugen oder ihm gefallen, sondern reißt ihn mit: „Immer und überall wirkt ja das, was uns zur Bewunderung hinreißt, mit seiner erschütternden Kraft mächtiger als das, was nur überzeugt und gefällt.“40 Und das, was Bewunderung auslöst (qaumásion), orientiert sich offensichtlich nicht nur am Aussagegehalt wie

38 Entsprechend differenziert Longin terminologisch die bloße Steigerung (au¢xhsiv) vom Erhabenen. VE 12,1: „Das Erhabene besteht in einem Aufschwung, die Steigerung dagegen in der Mehrung. Daher liegt jenes oft in einem einzigen Gedanken, diese aber tritt durchgängig mit einer Fülle und einem bestimmten Überfluss auf.“ (keîtai tò mèn uçyov e¬n diármati, h™ d’ au¢xhsiv kaì e¬n pläqei· di¬ oÇ keîno mèn ka¬n noämati e™nì pollákiv, h™ dè pántwv metà posóthtov kaì periousíav tinòv u™fístatai.) 39 Siehe nochmals oben, S. 104 mit Anm. 13. Vgl. auch VE 36,4: Aus der Verbindung (a¬llhloucía) von Natur und Kunst „entsteht vielleicht das Vollkommene“ (  i¢swv génoít’ a£n tò téleon). 40 VE 1,4: pánth dé ge sùn ekpläxei toû piqanoû kaì toû pròv cárin a¬eì krateî tò qaumásion.

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das Überzeugende (tò piqanón), noch ausschließlich am Ausdruck wie das Gefällige (tò pròv cárin).41 Es ist aber nicht bloß die Intensität der Wirkung, die dem Erhabenen den Vorrang vor dem Gefälligen und dem Überzeugenden sichert. Seine Wirkung scheint sich auch natürlicher zu entfalten: Sie stellt sich geradezu unausweichlich ein, ähnlich wie bei einer Schockwirkung. Dagegen wollen Überzeugungen bzw. ein Schönheitsempfinden beim Leser und Zuhörer erst einmal geweckt werden.42 II.

Kant hat sich bekanntlich in zwei seiner Schriften explizit zum Erhabenen geäußert. Erstmals tat er dies in seinen 1764 erschienenen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Neu war die Zusammenstellung des Erhabenen mit dem Schönen und deren Klassifizierung als Gefühle freilich nicht. Edmund Burke war 1757 mit seinem Traktat vorangegangen.43 Anders als Burke lehnt Kant jedoch von vornherein einen rein sensualistischen und empirisch-psychologischen Zugang zu den Gefühlen des Schönen und Erhabenen ab. Andernfalls wären diese Gefühle, die beim Umgang mit bestimmten Gegenständen der Natur und Kunst auftreten, nicht bloß abhängig von den subjektiven Neigungen des Einzelnen. Auch der Begriff der Kunst wäre desavouiert: als reines Instrument für unabsehbar viele und wechselnde Neigungen. Unverhohlen ironisiert Kant daher diese möglichen Folgen in den ersten Sätzen seiner Beobachtungen: Ein gutes Buch löst unter Umständen nur deshalb ein gutes Gefühl aus, „weil sich sehr wohl [also: ‚wohlig‘] dabei einschlafen läßt“. Und in den Augen eines Gourmets wäre der größte Künstler – sein Leibkoch.44 41 Gegen meine Deutung scheint VE 35,5 zu sprechen, wo Longin ausdrücklich das ‚Paradoxe‘ als bewundernswert bestimmt: qaumastòn [...] a¬eì tò parádoxon. Mit Letzterem ist aber nicht die moderne Bedeutung des Wortes verknüpft, sondern das Unerwartete, Außergewöhnliche und jeder Regel Spottende. 42 Vgl. VE 1,4: „Die Wirkung des Überzeugenden hängt in der Regel von uns ab, doch dieses [d. h. das Bewunderung Erregende] übt eine unwiderstehliche Kraft und Gewalt aus und befällt jeden Zuhörer“ (taûta dè dunasteían kaì bían a¢macon prosféronta pantòv e¬pánw toû a¬krowménou kaqístatai). 43 Burke, Edmund, Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, übers. v. Friedrich Bassenge, neu eingel. u. hg. v. Werner Strube (Philosophische Bibliothek 324), Hamburg 1989. 44 Kant, Immanuel, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: ders., Vorkritische Schriften, hg. v. Artur Buchenau (Immanuel Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 2), Berlin 1912, 243 – 300, hier 245.

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Bereits in dieser vorkritischen Schrift ist sich Kant im Klaren darüber, dass das Erhabene und Schöne keine objektive Grundlage haben, und das meint: dass sie keine Eigenschaften an bestimmten Gegenständen sind. Sie sind und bleiben vielmehr Gefühle des Subjekts. Gleichwohl sind dies Gefühle, mit denen eine ganz bestimmte – nämlich die ästhetische – Einstellung zur Welt zum Vorschein kommt. Diese Position verschärft Kant in seiner berühmten „Analytik des Erhabenen“, die er in die zugleich strenge und komplexe Architektonik seiner dritten und letzten Kritik über die Urteilskraft eingelassen hat.45 Dort entkoppelt Kant die Frage nach Schönheit und Erhabenheit vollends von der Existenz eines womöglich schönen oder erhabenen Gegenstandes. Erst dadurch ist für Kant bekanntlich gesichert, dass es für ein ästhetisches Wohlgefallen mehr als nur Privatgründe geben kann. Die Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens ist der Grund für seine mögliche Verallgemeinerung. Wer sein Wohlgefallen nicht an einen bestimmten Gegenstand knüpft und mit ihm kein bestimmtes Interesse mehr verbindet, kann dann auch zu Recht den Anspruch erheben, „jedermann ein ähnliches Wohlgefallen zuzumuten.“46 Damit ist der erste Schritt dafür getan, dass Schönheit nicht einfach im Auge des Betrachters liegt, sondern dass ein Geschmacksurteil für jeden anderen zustimmungsfähig sein muss, so, „als ob es objektiv wäre.“47 Hinzu kommt ein Zweites: Die Interesselosigkeit im Umgang mit den Dingen setzt einen Blick auf die Natur frei, der ihr eine Zweckmäßigkeit unterstellt. Zweckmäßige Dinge sind nämlich von anderer Art und Organisation als Objekte, die durch äußere Anlässe und Ursachen zustande kommen. Ein Hühnerei kann ebenso gut als Naturprodukt wie als ein wohlproportioniertes Gebilde in den Blick kommen. Kurzum: in der ästhetischen Einstellung beurteilen wir die Natur „als Ausprägung einer inneren Form“.48 Die Natur denken wir uns „an ihren schönsten Produk-

45 Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, m. Einl. u. Bibl. hg. v. Heiner F. Klemme (Philosophische Bibliothek 507), Hamburg 2006, im Folgenden zitiert unter der Sigle KdU mit Paragraphenzählung und Angabe der B-Paginierung. 46 KdU § 6, B 17. 47 KdU § 32, B 136. 48 Cassirer, Ernst, Kants Leben und Lehre, Berlin 1921, 303.

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ten als Kunst“49 – und damit nicht als das zufällige Konglomerat eines grenzenlosen Ursache-Wirkung-Mechanismus.50 Schön ist die Natur dann, wenn sie sich unserem Denken als ein in sich zentriertes Ganzes darstellt, das gleichwohl nicht über sich selbst hinausweist. Sowohl für das Schöne als auch dann für das Erhabene gilt, dass „beides für sich selbst gefällt.“51 Kant hat das auf die griffige, aber auch irritierende Formel von der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ gebracht.52 Mit der Zweckmäßigkeit hat Kant jedenfalls ein erfahrungsunabhängiges Prinzip gefunden, anhand dessen jedes Geschmacksurteil seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit legitimieren kann. Freilich: Zwecke sind niemals objektiv an Gegenständen zu beobachten, sondern lassen sich nur denken. (Dies allein schon deswegen, weil ein Zweck stets die Antizipation eines – noch nicht vollends gegenwärtig gewordenen – Zukünftigen impliziert.)53 Beim Begriff des Erhabenen scheint es sich nun ganz anders zu verhalten, insofern „er überhaupt nichts Zweckmäßiges in der Natur selbst“54 impliziert. Im Gegenteil: Erhabenes zeichnet sich für Kant vornehmlich durch eine Formlosigkeit und Unbegrenztheit aus, der kein innerer Zusammenhang oder eine Totalität unterstellt werden kann. Anders als das Schöne hat das Erhabene nichts Vollkommenes an sich, das in sich abgeschlossen wäre. Das Erhabene hat vielmehr etwas Exzessives, Unproportioniertes, das unsere Urteilskraft übersteigt und in gewisser Weise auch überfordert. 49 KdU § 42, B 170. Ähnlich bereits KdU § 23, B 77: Im Naturschönen begegnet uns die Natur nicht einfach „in ihrem zwecklosen Mechanism“, sondern zugleich „auch als zur Analogie mit der Kunst gehörig“. 50 Zu Kants terminologischer Differenzierung von Grenze und Schranke vgl. etwa seine Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders., Schriften 1783 –1788, hg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer (Immanuel Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 4), Berlin 1913, 1–139, hier 103 (§ 57): „In der Mathematik und Naturwissenschaft erkennt die menschliche Vernunft zwar Schranken, aber keine Grenzen, d. i. zwar, daß etwas außer ihr liege, aber nicht, daß sie selbst in ihrem innern Fortgange irgendwo vollendet sein werde.“ 51 KdU § 23, B 74. 52 KdU § 42, B 170. Siehe auch Cassirer, Kants Leben und Lehre, 334: „Denn Zweckmäßigkeit bedeutet [...] nichts anderes, als die individuelle Formung, die eine Gesamtgestalt in sich selbst und ihrem Aufbau aufweist, während der Zweck die äußerliche Bestimmung meint, die ihr zugewiesen wird. Ein zweckmäßiges Gebilde hat seinen Schwerpunkt in sich, ein zweckhaftes außer sich […].“ 53 So etwa KdU § 75, B 336 (Hervorhebungen im Original): „Denn da wir die Zwecke in der Natur als absichtliche eigentlich nicht beobachten, sondern nur in der Reflexion über ihre Produkte diesen Begriff als einen Leitfaden der Urteilskraft hinzu denken, so sind sie uns nicht durch das Objekt gegeben.“ 54 KdU § 23, B 78.

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Gerade an quantitativen Phänomenen von ganz bestimmter Art lässt sich dies für Kant deutlich aufzeigen. Üblicherweise sind ja quantitative bzw. quantifizierbare Phänomene „relative Größe[n] durch Vergleichung mit anderen gleicher Art“.55 Das Erhabene dagegen ist etwas, „was schlechthin groß ist“, und das heißt: „was über alle Vergleichung groß ist“.56 Für das Erhabene fehlt daher jeder äußerliche Maßstab. Wenn überhaupt, so ist ein Maß für das Erhabene jeweils „bloß in ihm zu suchen [...]. Es ist eine Größe, die bloß sich selber gleich ist.“57 Aufzusuchen ist das Erhabene demnach nicht „an Kunstprodukten (z. B. Gebäuden, Säulen usw.), wo ein menschlicher Zweck die Form sowohl als die Größe bestimmt, noch an Naturdingen, deren Begriff schon einen bestimmten Zweck bei sich führt (z. B. Tieren von bekannter Naturbestimmung), sondern an der rohen Natur [...], bloß sofern sie Größe hat.“58

Phänomene des Erhabenen lassen sich also weder in einen äußeren Funktionszusammenhang bringen noch als in sich zentrierte Gebilde verstehen. Daraus resultiert nun unmittelbar das Unvermögen unserer Vernunft, sich in ein angemessenes Verhältnis zu Phänomenen des Erhabenen zu setzen. Denn um sich von ihnen einen Begriff bilden zu können, müsste unsere Vernunft diese Phänomene erst einmal als ein Ganzes, in ihrer jeweiligen Totalität fassen können. So mag hier zwar eine mathematische Größenschätzung nicht weiterführen, da es für sie nach Kant „kein Größtes“ gibt: „denn die Macht der Zahlen geht ins Unendliche“.59 Doch die Anschauung eines übergroßen Phänomens lässt eine weitere Einstellung zu: die „ästhetische Größenschätzung“, die durchaus den Begriff eines Maximum erlaubt.60 Mit ihr geht daher „die Bestrebung zur Zusammenfassung“ einher, die aber zugleich in

55 56 57 58 59 60

KdU § 26, B 87. KdU § 25, B 80 – 81. KdU § 25, B 84. KdU § 26, B 89 (Hervorhebung im Original). KdU § 26, B 86. Ebd. Erhellendes zur mathematischen und ästhetischen „Größenschätzung“ bei Fœssel, Michaël, Analytik des Erhabenen (§§ 23 – 29), in: Höffe, Otfried (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (Klassiker Auslegen 33), Berlin 2008, 99 –119, hier 108 –111.

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dieser synthetischen Anstrengung die Unangemessenheit solch eines Vorgehens spüren lässt.61 Die Überforderung unserer kognitiven Fähigkeiten unterläuft daher nicht einfach, sondern sie wird auch erkannt. Damit erkennt unsere Vernunft hier auch, bis wohin sich unsere Ohnmacht angesichts des Erhabenen erstreckt – und wo sie aufhört. In ihrer unermesslichen Kraft und Ausdehnung gibt die Natur „uns, als Naturwesen betrachtet, zwar unsere physische Ohnmacht zu erkennen, aber entdeckt zugleich ein Vermögen, uns als von ihr unabhängig zu beurteilen, und eine Überlegenheit über die Natur, worauf sich eine Selbsterhaltung von ganz anderer Art gründet, als diejenige ist, die von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann [...].“62

In der Begegnung mit dem Erhabenen in der Natur kommt somit letztlich unsere eigene Erhabenheit über die Natur, unser Status als freie Vernunftwesen, zum Vorschein. Auch aus diesem Grund sind für Kant Urteile über das Erhabene eigentlich Urteile über uns selbst und unsere Stellung als sittliche Wesen innerhalb der Natur. Zum Schönen brauchte es daher einen Grund außerhalb von uns: die Zweckmäßigkeit, die wir einem schönen Gegenstand ansinnen. Für das Erhabene müssen wir dagegen einen Grund in uns suchen.63 Hatte unsere Einbildungskraft das Naturschöne unter dem Prinzip der Zweckmäßigkeit von einem blinden Naturmechanismus emanzipiert, so befreit sie das Erhabene nun auch noch von dieser Zweckmäßigkeit, um eben dadurch „eine von der Natur ganz unabhängige Zweckmäßigkeit in uns selbst fühlbar zu machen“.64 So wird aber das Erhabene zum Anknüpfungspunkt für das Absolute, für ein Maximum, das über die Anschaulichkeit hinausführt; es verschafft damit „dem Intellektuellen und den Vernunftideen über die Sinnlichkeit Obermacht“.65

61 KdU § 26, B 93. 62 KdU § 28, B 104 –105. 63 KdU § 23, B 78. 64 Ebd. 65 KdU, Allgemeine Anmerkung, B 124.

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Dies geschieht aber auf dem Wege der Negation und Abstraktion. Indem das Erhabene jede Größenordnung negiert und sich dadurch der Einbildungskraft verweigert, haben wir es beim Erhabenen mit einer „abgezogenen“ – also: abstrakten – „Darstellungsart“ zu tun, „die in Ansehung des Sinnlichen gänzlich negativ wird“. Die „Wegschaffung der Schranken“ führt zu einer „Darstellung des Unendlichen, welche zwar eben darum niemals anders als bloß negative Darstellung sein kann, die aber doch die Seele erweitert.“66 Das Urbild hierfür ist nach Kant das mosaische Bilderverbot: „Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen noch irgendein Gleichnis […].“67 Kants Beschäftigung mit dem Erhabenen mündet so in eine doppelte Absetzungsbewegung. Zunächst negiert Kant die Möglichkeit einer Proportion, die zwischen einer erhabenen Erscheinung und unserem Erkenntnisapparat bestehen könnte. Das verhilft ihm dann dazu, ein negatives Verhältnis zwischen der sinnlich erfassbaren Natur und dem Reich der Zwecke zu etablieren. Anhand von bestimmten sinnlichen Eindrücken erschließt sich damit die Dimension des Nichtsinnlichen: Das Erhabene führt Kant an die Grenzen der Ästhetik. III.

Auch für Hegel markiert das Erhabene eine Grenze, allerdings in ganz anderer Weise, als dies bei Kant der Fall war.68 Das Erhabene steht bei Hegel nämlich ganz im Zeichen einer Beschränkung, insofern es eine bestimmte Stufe innerhalb der geschichtlichen und zugleich systematischen Entwicklung der Kunstformen einnimmt. In Hegels Perspektive hat die Kunst ganz allgemein den „Zweck“, „die sinnliche Darstellung des Absoluten“ zu bewerkstelligen.69 Insofern aber das Absolute oder die Idee hier nur in sinnlicher –

66 Ebd. 67 Ebd. 68 Dazu auch Bertinetto, Alessandro, Negative Darstellung. Das Erhabene bei Kant und Hegel, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism 4 (2006), 124 –151 (dort weitere Literaturhinweise). 69 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik I (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 13), Frankfurt a. M. 1970, 100.

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und damit letztlich: in unangemessener – Form zur Erscheinung kommt, kann das Absolute in der Kunst (anders als dann in der Philosophie) nicht seinen wahren Ort haben.70 Gleichwohl heißt das für Hegel nicht, dass die Kunst und ihre Formen nicht systemrelevant wären. Unangemessenheit im Ausdruck des Absoluten bedeutet kein vollkommenes Versagen: „Wenn wir also hier zunächst [...] noch unangemessenen Kunstformen begegnen, so ist dies nicht in der Weise der Fall, in welcher man gewöhnlich von mißlungenen Kunstwerken zu sprechen gewohnt ist, die entweder nichts ausdrücken oder das, was sie darstellen sollten, zu erreichen nicht die Fähigkeit haben; sondern für den jedesmaligen Gehalt der Idee ist die bestimmte Gestalt, welche derselbe sich in den besonderen Kunstformen gibt, jedesmal angemessen, und die Mangelhaftigkeit oder Vollendung liegt nur in der relativ unwahren oder wahren Bestimmtheit [...].“71

Sowohl in sich selbst – angesichts ihrer „besonderen Kunstformen“ – als auch im Hinblick auf die beiden anderen Großformen der Religion und der Philosophie präsentiert sich die Kunst als ein und in einem Entwicklungsgang. Das Erhabene ist dabei nur eine, wenngleich eine gewichtige Durchgangsstation. Näherhin gehört das Erhabene in den Kreis der symbolischen Kunst, die ihrerseits, noch vor der klassischen und romantischen Kunst, die erste Stufe des Kunstschönen bildet.72 Sowohl in einem sachlichen wie auch im chronologischen Sinn besitzt das Erhabene daher einen anfänglichen Charakter. Das meint zunächst: Mit einer ganzen Reihe anderer symbolischer Phänomene73 zählen die Spielarten des Erhabenen 70 Von daher rührt für Hegel der berühmt-berüchtigte Vergangenheitscharakter der Kunst: „In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.“ Ebd., 25 (Hervorhebung St. G.). 71 Ebd., 390 (Hervorhebungen St. G.). 72 Einen prägnanten Abriss des Entwicklungsganges der symbolischen Kunst bei Hegel gibt Szondi, Peter, Hegels Lehre von der Dichtung, in: ders.; Poetik und Geschichtsphilosophie, Bd. 1: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung, hg. v. Senta Metz u. Hans-Hagen Hildebrandt (Peter Szondi. Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 2), Frankfurt a. M. 1974, 267 – 511, hier 362 – 398. 73 Rüdiger Bubner spricht von einem „breiten Feld von Phänomenen“, das Hegel unter der Bezeichnung des Symbolischen zusammengebracht habe und zollt „der unerwarteten Kombination dieser heterogenen Aspekte“ zur symbolischen Kunstform durchaus seinen Respekt: „Wer wäre denn ohne weiteres darauf verfallen, orientalische Kulte, didaktische Gedichte und die ehrwürdige Lehre vom Sublimen zu einem dialektischen Dreischritt zu vereinigen?“ Bubner, Rüdiger, Gibt es ästhetische Erfahrung bei Hegel?, in: ders., Innovationen des Idealismus (Neue Studien zur Philosophie 8), Göttingen 1995, 164  –174, hier 170  –171.

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für Hegel zur „Vorkunst“74 bzw. zu den „Vorversuchen der Kunst“75. Das liegt wiederum daran, dass in einem Kunstwerk, das diesen Namen auch verdient, die äußere Erscheinung in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung bzw. zum Inhalt steht. Bei der symbolischen Kunst ist dies offenkundig (noch) nicht der Fall. Bei ihr kommt vielmehr auf mannigfache Weise eine Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Inhalt und dem individuellen Ausdruck zum Vorschein. Gleichsam in Reinform lässt sich das an der Spielform des Erhabenen beobachten. Hier nämlich, bei Werken, die der Symbolik der Erhabenheit zugerechnet werden können, kommt es erst gar nicht zu dem Versuch, die Diskrepanz von allgemeiner Idee und ihrer besonderen äußeren Erscheinung im Kunstwerk zu überspielen, zu überbrücken oder gar zu tilgen. In erhabenen Kunstwerken ist es vor allem diese Diskrepanz, die dort zum Austrag und daher auch auf spezifische Weise zur Erscheinung kommt. Und so ist Erhabenheit für Hegel zunächst und zuvor ein Strukturmerkmal: das „Hinaussein über die Bestimmtheit der Erscheinung“.76 Prädestiniert für dieses „Herausgehobensein aus der sinnlichen Existenz“77 ist die Sphäre des Göttlichen, und zwar in seiner reinen, völlig der endlichen Wirklichkeit enthobenen Form: als absolute Unendlichkeit. Entscheidend ist dabei aber auch, welche Konsequenzen sich aus der Erhabenheit des Unendlichen hier für das Endliche bzw. für die Welt ergeben: „Die Erhabenheit ist erst die Erscheinung und Beziehung [des Unendlichen] auf die Welt, daß diese als die Manifestation desselben gefaßt wird, aber als Manifestation, die nicht affirmativ ist oder die, indem sie affirmativ zwar ist, doch den Hauptcharakter hat, daß das Natürliche, Weltliche als ein Unangemessenes negiert und als solches gewußt wird.“78 74 75 76 77 78

Hegel, Ästhetik I, 393. Ebd., 411. Ebd., 394. Szondi, Hegels Lehre von der Dichtung, 380. „Die Erhabenheit“, so Hegel weiter, „ist also diejenige Erscheinung und Manifestation Gottes in der Welt, und sie ist so zu bestimmen, daß dieses Erscheinen sich zugleich als erhaben zeigt über diese Erscheinung in der Realität. [...] Zur Erhabenheit ist es daher nicht genug, daß der Inhalt, der Begriff etwas Höheres sei als die Gestalt – wenn diese auch übertrieben und über ihr Maß gesetzt wird –, sondern das, was sich manifestiert,

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Literarisch dokumentiert sich dies für Hegel nun in der vor-klassischen, hebräischen Poesie, insbesondere in der alttestamentarischen Psalmendichtung, „welche den bildlosen Herrn des Himmels und der Erden nur dadurch zu feiern und zu erheben weiß, daß sie die gesamte Schöpfung nur als Akzidens seiner Macht, als Boten seiner Herrlichkeit, als Preis und Schmuck seiner Größe verwendet und in diesem Dienste das Prächtigste selbst als negativ setzt, weil sie keinen für die Gewalt und Herrschaft des Höchsten adäquaten und affirmativ zureichenden Ausdruck zu finden imstande ist [...].“79

Scharf kommt hier also der Gegensatz von Endlich und Unendlich zum Vorschein: in Form eines rein negativen Bezuges. Dergleichen hatte bereits Kant festgestellt, im Zusammenhang seiner Erwähnung mit dem mosaischen Bilderverbot: Eine Darstellung des Unendlichen ist innerhalb der Sinnenwelt nur ex negativo möglich.80 Dies ist jedoch die systematische Stelle, an der für Hegel die Probleme erst beginnen: Als das Erhabene ist das Unendliche bloß als „das Negative des Endlichen“81 gefasst – und hat sich noch längst nicht vermittelt mit dem Endlichen als dem Anderen seiner selbst. Im Erhabenen bleibt der Gegensatz von Unendlich und Endlich abstrakt; entsprechend zementiert und perpetuiert eine negierende Abstraktionsbewegung diesen Gegensatz nur. Ein Ausgang aus dem Endlichen und ein zureichender Übergang ins Unendliche gelingt so nicht: In dieser Perspektive wird das Unendliche vielmehr „als das Jenseits des Endlichen beharrlich bestimmt“82 und damit seinerseits als ein Endliches. Es ist daher kein Wunder, wenn Hegel in seiner Ästhetik dem Erhabenen einen vorläufigen Charakter attestiert und zugleich in seiner Wissenschaft der Logik Kants Begriff des Erhabenen

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muß auch die Macht sein über die Gestalt.“ Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II: Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 17), Frankfurt a. M. 1969, 64 (Hervorhebungen im Original). Hegel, Ästhetik I, 416. Siehe oben, S. 115 f. Hegel, Philosophie der Religion II, 37 (Hervorhebung im Original). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik I. Erster Teil: Die objektive Logik, Erstes Buch (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 5), Frankfurt a. M. 92012, 263 – 264.

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als den Ausdruck einer „schlechten Unendlichkeit“, also als Ausdruck eines „Progresses des Quantitativen ins Unendliche“83 einstuft. Und wie die erhabene „Unendlichkeit, die sich auf die äußere sinnliche Anschauung bezieht“84 – d. h. Kants berühmter „gestirnte Himmel über mir“ – kein Ende kennt, so prolongiert Kant in Hegels Augen auch das „moralische Gesetz in mir“: Es bleibt hier beim reinen Sollen, dessen Verwirklichung niemals gesichert ist, immer wieder aufs Neue aussteht, und das so „das Gefühl der Ohnmacht dieses Unendlichen oder dieses Sollens“85 nach sich zieht. So übersieht Hegel hier auch nicht den Unterschied zwischen der erhabenen hebräischen Poesie und einer „moderne[n] Erhabenheit“86. Letztere, so Hegel, mache „nicht den Gegenstand groß, welcher vielmehr entflieht, sondern nur das Subjekt, das so große Quantitäten in sich verschlingt.“87 Tatsächlich war es die Einbildungskraft bei Kant, mit der sich das Subjekt als Betrachter erhabener Gegenstände „über den Platz erhebt, den es in der Sinnenwelt einnimmt“88 – durch den misslingenden Versuch, die Anschauung einer perennierenden quantitativen Unermesslichkeit zu einer Ganzheit zu synthetisieren. Allein dass unsere Vernunft diesen Versuch wagt, indiziert Kant zufolge ihren über die Sinnenwelt erhabenen Charakter. Für Hegel scheint das die pudenda origo der Kantischen Moralphilosophie zu sein: Sie führt über die Welt der Erscheinungen hinaus, statt in rechter Weise in sie hinein. Erst mit seiner Deutung des Erhabenen, so Hegels Anspruch, geht es einen richtigen Schritt in diese Richtung. IV.

In unserem Durchgang von Kants und Hegels Theorie des Erhabenen scheint sich, wieder einmal, eine „permanente Über-

83 Ebd., 264. 84 Ebd., 267. 85 Ebd. (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu Marquard, Odo, Hegel und das Sollen, in: Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), 103 –119 (wieder abgedruckt in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973, 37 – 51). 86 Hegel, Wissenschaft der Logik I, 264 (Hervorhebung im Original). 87 Ebd. (Hervorhebungen im Original). 88 So Hegel, Wissenschaft der Logik I, 265, hier die berühmte Schlusspassage aus Kants Kritik der praktischen Vernunft zustimmend, aber etwas ungenau zitierend.

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forderung des Ästhetischen durch die Philosophie“89 abzuzeichnen. Aber das scheint nur so. Während Longin das Erhabene zum ersten Mal überhaupt entdeckt und insbesondere die dichterisch gelungene Darstellung des Göttlichen für es reklamiert, wirkt das Phänomen des Erhabenen, auch angesichts der Überfülle an konkreten Beispielen, bei ihm doch eher „rhapsodistisch“ aufgerafft.90 Das hat jedoch durchaus seine innere Logik. Das Erhabene lässt sich für Longin offensichtlich nicht im systematischen Zugriff prognostizieren, sondern höchstens anhand großer Literatur paradigmatisch nachzeichnen. Bei Kant stellt sich Erhabenheit offensichtlich in der Begegnung mit der Natur und weniger mit der Kunst ein. Das Erhabene markiert hier einen Wendepunkt, an dem die Orientierung unserer kognitiven Kapazität an den Erscheinungen (im Kantischen Sinn) nicht mehr weiterhilft. Die Erhebung über die sinnlichen Phänomene erbringt jedoch ein dezidiert negatives Resultat: Ein Jenseits des Sinnlichen ist für Kant nicht positiv, allenfalls noch in seinen formalen Bedingungen ausbuchstabierbar. Auch Hegel versteht das Erhabene als ein Phänomen des Überganges – mit einem ganz anderen Richtungssinn: Ihm gilt das Erhabene als ein geschichtlich wie systematisch überholter Modus, wie sich das Absolute im Endlichen manifestiert. Für alle drei Autoren spielt das Problem des Unsagbaren bzw. des Nicht-Darstellbaren jedoch keine entscheidende Rolle. Die Paradoxie, die mit dem gegenwärtigen Verständnis des Erhabenen zumeist einhergeht, wonach das Erhabene allenfalls anschaulich werden lässt, dass sich da etwas der Anschaulichkeit prinzipiell entzieht, scheint das Resultat einer Akzentverschiebung zu sein, die wesentlich mit einer Krise der Abbildbarkeit – und somit, nach Hans Beltings bekannter Diagnose, mit einem „Zweifel an der Referenz“ – in der jüngsten Geschichte der Kunst zu tun hat.91 In ihrer Auseinandersetzung mit dem Er-

89 Sandkühler, Hans Jörg, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Stuttgart 1970, 91. 90 So Kants berühmte Formulierung angesichts der zehn Aristotelischen Kategorien. Vgl. Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Albert Görland (Immanuel Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 3), Berlin 1913, B 106 –107. 91 Belting, Hans, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 42011, 18: „Die Krise der Repräsentation ist in Wahrheit ein Zweifel an der Referenz, die wir den Bildern nicht mehr zutrauen. Die Bilder scheitern nur dort, wo wir in ihnen keine Analogien mehr für das finden, was den Bildern voraus geht und auf das sie sich in der Welt beziehen könnten.“

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habenen zeigen Longin, Kant und Hegel, auf je verschiedenem Weg, etwas Anderes: die Leistung der Kunst anhand von deren Grenzen.92

Literatur Aristoteles, Ethica Nicomachea, recogn. brevique adnot. crit. instr. Ingram Bywater (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis), repr. (1894), Oxford 1984 Aristoteles, Physica, recogn. brevique adnot. crit. instr. William D. Ross (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis), repr. (1950), Oxford 1985 Auerbach, Erich, Camilla oder über die Wiedergeburt des Erhabenen, in: ders., Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, 135 –176 Belting, Hans, Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 42011 Bertinetto, Alessandro, Negative Darstellung. Das Erhabene bei Kant und Hegel, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism 4 (2006), 124 –151 [Boileau-Despréaux, Nicolas] Œuvres diverses du Sieur D*** avec le traité du sublime ou du merveilleux dans le discours, traduit du Grec de Longin, Paris 1674 Bubner, Rüdiger, Gibt es ästhetische Erfahrung bei Hegel?, in: ders., Innovationen des Idealismus (Neue Studien zur Philosophie 8), Göttingen 1995, 164 –174 Bühler, Winfried, Beiträge zur Erklärung der Schrift vom Erhabenen, Göttingen 1964 Burke, Edmund, Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, übers. v. Friedrich Bassenge, neu eingel. u. hg. v. Werner Strube (Philosophische Bibliothek 324), Hamburg 1989 Cassirer, Ernst, Kants Leben und Lehre, Berlin 1921 Curtius, Ernst Robert, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 21954 Flasch, Kurt, Ars imitatur naturam. Platonischer Naturbegriff und mittelalterliche Philosophie der Kunst, in: ders. (Hg.), Parusia. Studien zur Philosophie Platons und zur M. Problemgeschichte des Platonismus (FS Johannes Hirschberger), Frankfurt a.  1965, 265 – 306 Fœssel, Michaël, Analytik des Erhabenen (§§ 23 – 29), in: Höffe, Otfried (Hg.), Immanuel Kant. Kritik der Urteilskraft (Klassiker Auslegen 33), Berlin 2008, 99 –119 Fuhrmann, Manfred, Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Wissenschaft der Logik I. Erster Teil: Die objektive Logik, Erstes Buch (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 5), Frankfurt a. M. 92012 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik I (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 13), Frankfurt a. M. 1970 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II: Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 17), Frankfurt a. M. 1969 Kant, Immanuel, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, in: ders., Vorkritische Schriften, hg. v. Artur Buchenau (Immanuel Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 2), Berlin 1912, 243 – 300 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Albert Görland (Immanuel Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 3), Berlin 1913

92 Welche Möglichkeiten der Fortschreibung des Erhabenen sich von Kant aus eröffnen, hat Monika Leisch-Kiesl anhand von Adorno und Lyotard in einer instruktiven Studie gezeigt: Leisch-Kiesl, Monika, Diesseits der Grenze. Reflexionen zum Begriff des Erhabenen, in: Orientierung 60 (1996), 9 –12 u. 22 – 24.

Arbeit am Absoluten: Das Erhabene in philosophischer Perspektive | Stephan Grotz Kant, Immanuel, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: ders., Schriften 1783 –1788, hg. v. Artur Buchenau u. Ernst Cassirer (Immanuel Kants Werke, hg. v. Ernst Cassirer, Bd. 4), Berlin 1913, 1–139 Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft, m. Einl. u. Bibl. hg. v. Heiner F. Klemme (Philosophische Bibliothek 507), Hamburg 2006 Leisch-Kiesl, Monika, Diesseits der Grenze. Reflexionen zum Begriff des Erhabenen, in: Orientierung 60 (1996), 9 –12 u. 22 – 24 Longinus, Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Otto Schönberger, Stuttgart 1988 Marquard, Odo, Hegel und das Sollen, in: Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), 103 –119 (wieder abgedruckt in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973, 37 – 51) Müller, Armin/Tonelli, Giorgio/Homann, Renate, Erhaben, das Erhabene, in: Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 624 – 635 Norden, Eduard, Das Genesiszitat in der Schrift vom Erhabenen (Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst 1954/1), Berlin 1955 Platon, Leges, in: id., Platonis Opera, Tom. 5: Tetralogiam IX definitiones et spuria continens, recogn. brevique adnot. crit. instr. Ioannes Burnet (Scriptorum Classicorum Bibliotheca Oxoniensis ), repr. (1907), Oxford 1984 Pohlenz, Max, Tò prépon. Ein Beitrag zur Geschichte des griechischen Geistes [1932], in: ders., Kleine Schriften, Bd. 1, hg. v. Heinrich Dörrie, Hildesheim 1965, 100 –139 Pries, Christine, Einleitung, in: dies. (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Größenwahn und Grenzerfahrung, Weinheim 1989, 1– 30 Sandkühler, Hans Jörg, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Stuttgart 1970 Spaemann, Robert, Was heißt: „Die Kunst ahmt die Natur nach“?, in: Philosophisches Jahrbuch 114 (2007), 247 – 264 (wieder abgedruckt in: ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. 2, Stuttgart 2011, 312 – 348) Szondi, Peter, Hegels Lehre von der Dichtung, in: ders.; Poetik und Geschichtsphilosophie, Bd. 1: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit. Hegels Lehre von der Dichtung, hg. v. Senta Metz u. Hans-Hagen Hildebrandt (Peter Szondi. Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 2), Frankfurt a. M. 1974, 267 – 511 Tegtmeyer, Henning, Gott, Geist, Vernunft. Prinzipien und Probleme der Natürlichen Theologie (Collegium Metaphysicum 8), Tübingen 2013 Wehrli, Fritz, Zur Geschichte der allegorischen Deutung Homers im Altertum, BornaLeipzig 1928

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Die Objektivität des Erhabenen: ein kunsthistorischer Versuch Andrei Pop

Abb. 1: Pieter Bruegel der Ältere, Bekehrung Pauli, 1567

Vieles Gewaltige lebt, und Nichts ist gewaltiger als der Mensch. Sophokles1

Laut dem Duc de La Rochefoucauld würden manche sich gar nicht verlieben, wenn sie nicht vorher über die Liebe etwas erfahren hätten. Dasselbe vermute ich vom Erhabenen: Darüber haben wir vor allem gelesen. Freilich, im alten Gebrauch hieß ‚erhaben‘ nichts anderes als hoch, edel, groß oder gehoben. Dort gab es aber schon eine gewisse Zweideutigkeit, denn das Adjektiv 1

Antigone, Verse 332 – 333 (in der Sophokles-Übersetzung von Johann Jacob Christian Donner, Heidelberg 1839, 168).

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kommt aus dem Partizip des Zeitworts ‚erheben‘, womit die Sache subjektiver wird: Der Mensch selbst kann Dinge und Menschen erheben, wodurch auch die Gefahr entsteht, Unwürdiges zu erheben. Daher hieß Martin Luthers erzürnter Traktat gegen die Heiligsprechung von Sankt Benno Widder den newen Abgott und allten Teuffel der zu Meyssen sol erhaben werden.2 Doch solche sprachliche Unschuld behielt das Erhabene nicht lang. Die Zweideutigkeit zwischen der Bestimmung als einer objektiven Eigenschaft der Außenwelt oder als Resultat innerer Tätigkeit wurde zu Zeiten der Aufklärung zu einem intrikaten Mischbegriff. Die Folgen bezeugen die Gebrüder Grimm markant mit einer Auslese aus den Schriften Immanuel Kants: „Kant gibt folgende bestimmungen: erhaben nennen wir das, was schlechthin grosz ist, das ist, was über alle vergleichung grosz ist […]; diese erklärung kann auch so ausgedrückt werden, erhaben ist das, mit welchem in vergleichung alles andere klein ist […]; erhaben ist, was auch nur denken zu können ein vermögen des geistes beweist, das jeden maszstab der Sinne übertrift […]; erhaben ist die natur in denjenigen ihrer erscheinungen, deren anschauung die idee ihrer unendlichkeit bei sich führt […]; erhaben ist das, was durch seinen widerstand gegen das interesse der sinne unmittelbar gefällt.“3

Also mal groß; mal das Größte; mal etwas, das eine übersinnliche Fähigkeit in unserem Geist aufweist (doch nicht die Mathematik?); mal die Natur, wenn sie unendlich ist (ist sie es jemals?); mal das Trotzige, das trotzdem gefällt. Was Kant selber als Beispiele gab, klingt nicht weniger heterogen. Als junger Mann fand er hohe Eichen, die Nacht, den Mann, eine lange Dauer, die Freundschaft sowie die Deutschen erhaben. Der reifere Kant freilich bewunderte lieber „de[n] bestirnte[n] Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“4, nur die Vermengung 2 3 4

Erschienen 1524 in Wittenberg. Deutsches Wörterbuch von Jakob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 3, Leipzig 1862, Sp. 834: erhaben, zweite Bestimmung (Hervorhebung im Original). Kant, Immanuel, Critik der practischen Vernunft, Riga 1788, 288 („Beschluß“). Kantkenner mögen erwidern, der junge Kant finde in dem Mann und dem deutschen Volk lediglich mehr Gefühl fürs Erhabene als in der Frau und den Franzosen; aber er wechselt gern von Empfindsamkeit zu Essenz. Vgl. Kant, Immanuel, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [1764], Riga 31771, 76: „Daraus muß folgen, daß

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von moralischen und physikalischen Tatsachen bleibt ihm sein Leben lang eigentümlich. Aus solchem Streit von inneren und äußeren Maßstäben kann keine kunsthistorische Auslegung des Erhabenen entstehen, wir können lediglich die grundlegende Frage stellen, ob eine Begriffsbestimmung überhaupt stattfinden kann.5 Andere meinen, unter einem solchen Widerstreit verberge sich nichts Tieferes als eine bürgerliche Ideologie der Verbeugung vor der Macht.6 Ich werde aber weder die Wandelbarkeit des Wortes noch seine angebliche ideologische Fracht betonen; sogar in der Übereinstimmung von Autoritäten, die keine gemeinsame Politik verbindet, ist der Begriff des Erhabenen grundsätzlich gefährdet: nämlich in der allgemeinen Meinung, das Erhabene beschreibe nicht reale Eigenschaften von imponierenden Objekten, sondern subjektive Reaktionen, die diese in uns erwecken. Diese Übereinkunft werde ich nicht nachweisen, sondern nur umreißen. Kant spricht in der dritten Kritik bekanntermaßen von einem Unterschied zwischen „dem Schönen der Natur“, zu dem wir „einen Grund außer uns suchen“ müssen, und dem Erhabenen, das wir „bloß in uns und in der Denkungsart, die in die Vorstellung der ersteren Erhabenheit hineinbringt“, zu suchen haben.7 Und schon der Stifter der Tradition, Longin, führt in Vom Erhabenen (Perì uçyouß, 1. Jahrhundert n. Chr.) den Begriff auf Basis subjektiver Beschaffenheiten ein: „Dasjenige hingegen ist in der That erhaben, welches viel Nachdenken verursachet, welches wir schwerlich, oder vielmehr unmöglich besser geben können, ja, welches fest im Gedächtniß bleibet, und mit Mühe vergessen wird.“8 Seine Beispiele, die von Homer 5

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die Zwecke der Natur darauf gehen, den Mann durch die Geschlechterneigung mehr zu veredeln und das Frauenzimmer durch eben dieselbe noch mehr zu verschönern.“ Vgl. Elkins, James, Gegen das Erhabene, in: Hoffmann, Roald/Whyte, Iain Boyd (Hg.), Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst. Über Vernunft und Einbildungskraft, Berlin 2010, 97 –113. Wie hier herauskommen wird, teile ich nicht Elkins’ These, dass das Erhabene nur Kunst seit der Romantik beschreibt, wohl aber seine Überzeugung, dass es, trotz der großen Verwirrung um den Begriff, Erfahrungen des Erhabenen gibt. So vor allem Eagleton, Terry, The Ideology of the Aesthetic, Oxford 1990. Kant, Immanuel, Critik der Urtheilskraft, Berlin/Libau 1790, 77 (§ 23 „Übergang von dem Beurtheilungsvermögen des Schönen zu dem des Erhabenen“). Deshalb findet Kant „de[n] Begriff des Erhabenen der Natur bei weiten nicht so wichtig und an Folgerungen reichhaltig“ (ebd.) wie den des Schönen. Dionysius Longin, Vom Erhabenen, Griechisch und Teutsch, Nebst dessen Leben, einer Nachricht von seinen Schrifften, und einer Untersuchung, was Longin durch das Erhabene verstehe, von Carl Heinrich Heineken, Dresden 1737, 53 (Abt. 7). Wie Kant mit ‚edel‘, ‚Ehrfurcht‘, ‚Achtung‘ usw. gebraucht Longin nicht nur ein einziges Wort für das Erhabene (tó uçyov, ‚das Hohe‘, die Höhe, der Wipfel): an der zitierten Stelle steht im Griechischen für erhaben μéga (groß). Zu Autorenschaft und Rezeption des Werks siehe Vöhler, Martin,

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bis zur Genesis reichen, werden eben durch deren Einfluss auf das Gemüt (am klarsten in Sapphos Versen) gekennzeichnet. Demnach wäre das Erhabene ein psychologisches Phänomen. Das heißt aber nicht, wie oft bei Kant, es sei etwas Transzendentes oder sonst Übernatürliches. Wir sind doch an subjektive, aber ontologisch unmysteriöse Vorkommnisse gewohnt, wie Kopfschmerzen, die uns Leid verursachen und doch eine neurologische Erklärung haben. Soll das Erhabene nicht etwa „in einer zu gewaltsamen Spannung der Nerven bestehen“, wie Edmund Burke bereits 1757 vermutete?9 Die Neurologen wären dementsprechend kompetenter, das Erhabene zu erklären, als Ästhetiker oder Kunsthistoriker es sind. Nun, Kants Verdienst in seiner Critik der Urtheilskraft besteht darin, die Unzulänglichkeit physiologischer Reduktionen dieser Art anzudeuten. Wenn ästhetische Reaktionen auf naturalistische Weise zu erklären wären, sagt er, wären sie bloß egoistische und nicht pluralistische, normative Phänomene: denn für den Reiz oder die Rührung „befragt jeder mit Recht nur seinen Privatsinn.“10 Damit nimmt Kant auch das berühmte „Paradoxon der Analyse“ vorweg, laut welchem eine zusammengesetzte (physikalische) Erklärung nie ein einfaches (bewusstes) Phänomen beschreiben kann: „Nehmen Sie zum Beispiel gelb. Wir können versuchen, es durch die Beschreibung seines physikalischen Äquivalents zu definieren; wir können feststellen, was für Lichtschwingungen das normale Auge reizen müssen, damit wir es wahrnehmen. Aber eine kurze Überlegung genügt, um zu zeigen, dass diese Lichtschwingungen selbst nicht das sind, was wir mit gelb meinen. Sie sind es nicht, die wir wahrnehmen.“11 Pseudo-Longinos. Perí hýpsus, in: Walde, Christine (Hg.), Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon (Der Neue Pauly, Supplemente 7), Stuttgart/ Weimar 2010, Sp. 773 –782 sowie den Beitrag von Stephan Grotz in diesem Band. 9 Burkes Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabnen und Schönen nach der fünften englischen Ausgabe, Riga 1773, 215. Dies ist die Übersetzung, die Kant im § 29 der Critik der Urtheilskraft am Ende der „Allgemeinen Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflectirenden Urtheile“ zitiert (Kant, Critik der Urtheilskraft, 127). Vgl. Burke, Edmund, A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful, London 1757, 122: „an unnatural tension of the nerves“. 10 Kant, Critik der Urtheilskraft, 128. 11 Moore, George Edward, Principia Ethica, übers. u. hg. v. Burkhard Wisser, Stuttgart 1996, 40 (Hervorhebung im Original). Vgl. Moore, George Edward, Principia Ethica, Cam-

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George Edward Moore, der moderne Urheber solcher Bedenken, geht weiter als Kant und sagt, wir wären nicht einmal auf die naturalistische Erklärung gekommen, wenn wir nicht zuvor die Erfahrung des Gelb gemacht hätten. Verhält es sich nun mit ‚erhaben‘ so wie mit ‚gelb‘: das Resultat physiologischer Prozesse, jedoch als beobachtbare Qualität objektiv vorhanden? Doch dies ergibt eine Schwierigkeit für Kant insofern, als dessen Erhabenes „bloß in uns“ ist und er dadurch „die Ideen des Erhabenen von der einer Zweckmäßigkeit der Natur ganz abtrennt […].“12 Damit wären wir nicht – wie mit gelb – imstande, eine uns mehr oder weniger gemeinsame Vorstellung physikalisch oder psychologisch zu untersuchen: Was erhaben ist, bliebe im „Privatsinn“ gefangen. Ich nenne Eigenschaften, die keinen Träger außerhalb des Subjekts zu haben scheinen, ‚radikal subjektiv‘. Das Wort ‚unbeschreibbar‘ zum Beispiel scheint, wenn es überhaupt etwas bedeutet, etwas radikal Subjektives zu bedeuten.13 So etwas können wir ex hypothesi nicht wissenschaftlich, das heißt allgemein, untersuchen. Wenn das Erhabene radikal subjektiv wäre, bliebe es wohl ein Ziel unendlicher metaphysischer Spekulationen, aber keiner Erfahrungswissenschaft, und somit auch nicht der Kunstgeschichte. Gegen eine radikal subjektive Natur des Erhabenen häuften sich jedoch schon im 19. Jahrhundert Bedenken. Die Idealisten, Kant nacheilend, brauchten Objekte des Erhabenen ebenso wenig wie ‚Dinge an sich‘ in der Metaphysik. Dagegen protestierte entschieden etwa Karl Rosenkranz 1853: „Dies ist ein Irrthum, denn die Natur ist, unter Anderm, auch an sich selbst erhaben. Wir wissen sehr wohl, wo das Erhabene in ihr existirt; wir suchen es auf, es zu genießen; wir bridge 21922, 10: „Consider yellow, for example. We may try to define it, by describing its physical equivalent; we may state what kind of light-vibrations must stimulate the normal eye, in order that we may perceive it. But a moment’s reflection is sufficient to shew that those light-vibrations are not themselves what we mean by yellow. They are not what we perceive.“ (Hervorhebung im Original) Und weiter heißt es: „Indeed we should never have been able to discover their existence, unless we had first been struck by the patent difference of quality between the different colours. The most we can be entitled to say of those vibrations is that they are what corresponds in space to the yellow which we actually perceive.“ 12 Kant, Critik der Urtheilskraft, 77 (Hervorhebung im Original). 13 Vgl. Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 1994, Satz 6.522: „Es gibt allerdings Unaussprechliches.“ Ich bevorzuge ‚Unbeschreibbares‘, denn ‚Unaussprechliches‘ erstreckt sich nur auf die Sprache, nicht auf die Dinge.

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machen es zum Ziel beschwerlicher Reisen. Wenn wir auf dem schneebedeckten Gipfel des rauchenden Aetna stehen und nun Sicilien zwischen den Küsten Calabriens und Afrika’s von den Wellen des Meeres umfluthet erblicken, so ist das Erhabene dieses Anblicks nicht unsere subjective That, vielmehr das objective Werk der Natur, das wir, bevor wir noch auf dem Gipfel angelangt waren, schon erwarteten. Oder wenn der Niagarafall mit zum Himmel dampfendem Gischt über die bebende Felsenmauer meilenbreit hindonnert, so ist er an sich erhaben, mag ein Mensch Zeuge dieses Schauspiels sein oder nicht.“14

Rosenkranz verwendet hier zwei Argumente: erstens die Intentionalität bzw. die nach außen gerichtete Empfindung (wir erwarten die Erhabenheit des Ätna), und zweitens die unabhängige Existenz des erhabenen Objekts. Laut dem ersten Argument hat das Erhabene immer ein Objekt außer uns; ästhetische Begegnungen, wie alle Wahrnehmungen, verlangen ein Subjekt und ein Objekt. Laut dem zweiten Argument aber ist das Objekt erhaben auch ohne Betrachter. Dieser zweite Anspruch wurde nun von Rosenkranzens ehemaligem Schüler Julian Schmidt als ‚schülerhaft‘ verspottet: „Die Schülerhaftigkeit liegt nämlich darin, dass die doppelte Bedeutung des Begriffs Objectivität verkannt wird. Das Gefühl des Erhabenen ist insofern objectiv, als es einen Gegenstand erfordert, der in allen gleich organisirten Wesen das nämliche Gefühl hervorruft, aber nicht insofern objectiv, dass es ein eigens organisirtes Subject überflüssig machte. Freilich können wir uns denken, dass der Niagarafall existirte, auch wenn keine Menschen da wären, die ihn sehen oder ihn sich vorstellen könnten, aber alsdann wäre es auch mit dem Gefühl des Erhabenen vorbei. Für einen Gulliver aus dem Riesenlande, der den Niagarafall durchwaten könnte, wäre der Niagarafall so wenig erhaben, als für uns eine Schleuße.“15

14 Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Häßlichen, Königsberg 1853, 178 –179. Die Gegner sind Arnold Ruge, Kuno Fischer und (mit weniger Recht) Friedrich Schiller. 15 [Schmidt, Julian] Anonymus, Rez. Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur 12 (1853), 2. Semester, 1. Band, 1– 9, hier 5.

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In seinem Gegenbeispiel nimmt Schmidt an, wie Kant und wohl auch Rosenkranz, dass etwas groß sein muss, um erhaben zu sein: etwas, zu dem man „emporblicken“ kann. Wir werden Grund finden, dies zu bezweifeln. Aber auch wer sich dem Argument anschließt, kann es nicht für bündig halten: Denn die Größe Gullivers sowie das Größenverhältnis zwischen ihm und Niagara ist eine objektive physische (bzw. mathematische) Tatsache. Doch ein Realist, der die Körpergröße des Betrachters als Beurteilungskriterium nimmt, verliert damit ein mehreren Subjekten gemeinsames Objekt der Betrachtung.16 Die Debatte zwischen Realisten und Idealisten des Erhabenen ist also nicht so leicht abzuschließen. Eines aber steht fest: Die Unterscheidung Schmidts zwischen einer relativen (ein Objekt muss sein) und einer radikalen Objektivität (das Objekt reicht ohne Betrachter) entspricht unserer bereits angedeuteten Unterscheidung zwischen einer relativen (ein Subjekt muss sein, um Erhabenes zu empfinden) und einer radikalen Subjektivität (ein Subjekt genügt). Radikale Objektivität und Subjektivität schließen einander aus, während die relativen zueinander in Beziehung stehen. Eine radikale Subjektivität des Erhabenen, wie die Qualität ‚unbeschreibbar‘, wäre durch keine Untersuchung bestimmbar. Sogar Schmidt muss dies zugeben: Die Frage stellt sich beim Erhabenen ebenso wie für Qualitäten wie ‚gelb‘ – ist sie das Resultat einer Zusammenarbeit zwischen Subjekt und Objekt (relativ objektiv) oder haftet sie allein am Objekt (radikal objektiv)?17 Einfacher ausgedrückt: Kann der Niagarafall (oder eine Schleuse) unabhängig von Menschen, Riesen oder Ameisen erhaben sein? Die starke Rolle konkreter Beispiele bestimmt die Beantwortung dieser Frage: Im Folgenden wird ein Ölbild untersucht, das erhabene Themen behandelt und auch erhaben wirkt, und dessen Autor die scholastischen Debatten über den Begriff des Erhabenen im 18. Jahrhundert unbekannt waren, der klassische Diskurs um Longin aber vertraut. Die Möglichkeit der

16 Allenfalls gesteht Schmidt als Vertreter eines ‚programmatischen Realismus‘ die Notwendigkeit eines Objekts zu, denn er schließt: „Das Erhabene liegt nicht in dem Gegenstand, sondern in der Seele, die durch den Gegenstand afficirt wird.“ Ebd. 17 Eine metaphysische Untersuchung müsste entscheiden, ob und in welchem Sinn ein unbetrachtetes Objekt phänomenale Qualität besitze. Hier interessiert uns sozusagen die weniger kontroverse Frage, ob diese Qualität unabhängig von Betrachter fortbestehe.

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unbeobachteten Erhabenheit wird erwogen, und damit die einer objektiven Begriffsbestimmung des Erhabenen. 1567 malte Pieter Bruegel der Ältere auf einer Eichentafel die Bekehrung Pauli (Abb. 1). Aus einer in der unteren rechten Bildecke erhaltenen Unterschrift wissen wir so viel: BRVEGEL · M·D·LXVII. Keine Quelle zum ersten Besitzer ist erhalten. Bruegel starb zwei Jahre später; das Gemälde taucht erstmals in Erzherzog Ernsts Hauptbuch von 1594 auf und wird dort mit 320 Florin bewertet.18 Ebenso nüchtern ist Karel van Manders Satz von 1604: „Voorts een Bekeeringhe Pauli, met seer aerdige Clippen.“ [Dann eine Bekehrung Pauli mit sehr feinen (artigen) (Fels-) Klippen.]19

Eine merkwürdig knappe Inhaltsbeschreibung. Wie sieht das aus? Eine weitschweifende Aussicht, die von einem mit Galeonen besetzten Meer im linken Hintergrund und steilen Hängen im linken Vordergrund über eine Bergwiese mit säulenartigen Nadelbäumen, die etwa Libanon-Zedern sein könnten, bis zu lauernden Wolken und einem engen Bergpass im oberen rechten Winkel reicht. Die Armee Sauli bevölkert diese Landschaft, wider Erwarten schwer bewaffnet und gepanzert. Edelmänner zu Pferd teilen den Bergpfad mit einem barfüßigen Hirten, dessen Hund aus Bruegels Sturz des Ikarus eingewandert ist. Die Wirkung erinnert an die Peruanischen Berge, wie Werner Herzog sie am Anfang von Aguirre, der Zorn Gottes (1972) aufnimmt. Nur anstatt des komprimierten Raumes eines modernen Fernobjektivs gelingt es Bruegel mit seiner leicht gebeugten Perspektive einen Blick vorzuspielen, der von links nach rechts zunächst in die flachen Weiten, dann zum Bergkamm im Vordergrund und schließlich auf die Berggipfel wandert. Über den Schiffen, von links oben, kaum merkbar, erstreckt sich aus goldenen Wolken, in der Form von gewöhnlichen Sonnenstrahlen, der Eingriff Gottes, der Saulus zu Paulus macht. 18 Algemeen Rijksarchief, Brussels, Manuscrits Divers no. 2924, fol. 155, zit. n. Buchanan, Iain, The Collection of Niclaes Jongelinck: II The ‚Months‘ by Pieter Bruegel the Elder, in: The Burlington Magazine 132 (1990), no. 1049, 551– 550, hier 542. 19 Van Mander, Karel, The Lives of the Illustrious Netherlandish and German Painters. From the First Edition of the „Schilder-boeck“ (1603 –1604), Vol. 1, introd., transl. and ed. by Hessel Miedema, Doornspijk 1994, 192 –193 [fol. 233v] (Übersetzung A. P.).

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Wir werden die Rolle der Natur in Bruegels Bildern weiter unten besprechen. Es ist plausibel zu vermuten, dass das Gemälde seinen Weg in die Wiener Sammlung durch den Verkauf der Sammlung von Niclaes Jonghelinck fand, ebenso wie die Jahreszeiten. Der einst wohlhabende Kaufmann besaß sechzehn Bilder von Bruegel.20 Reicht dies als Kontext für unser Gemälde? Oder sollten wir uns erinnern, dass im Jahr zuvor die Niederlande eine beispiellose Zerstörung von Andachtsbildern erlitten? Kirchen wurden ausgeraubt, ausgeleert, geweißt. Kunstwerke wurden zerbrochen, zur Gewinnung wertvoller Metalle eingeschmolzen. Der Beeldenstorm, durch hegenpreker (Heckenprediger) angezettelt, begann in Dorfkirchen, verwüstete im August und September 1566 Antwerpen, Tournai, Breda, die Mehrheit der urbanen Niederlande.21 Bruegel, der in Brüssel arbeitete, malte zu dieser Zeit Die Predigt Johannes des Täufers (Szépmu ˝vészeti Múzeum, Budapest), ein Werk, von dem viele Historiker meinen, es zeige eine gewisse Sympathie für die Heckenprediger. In Brüssel, dem Sitz Margarethes von Parma, erlebte Bruegel keinen Bildersturm. Hingegen wohnte die Mehrheit seiner Kunden (Jonghelinck, der Geograph Abraham Ortelius, sein Verleger Hieronymus Cock) in Antwerpen, das als erste Großstadt am 20. August 1566 durch Jacob de Buyzere und andere Radikale ‚gesäubert‘ wurde.22 Wir kennen keine Kirchenaufträge Bruegels, und Gemälde in Häusern reicher Männer fielen ohnehin nicht den Reformatoren zum Opfer.23 Aber die Gewalt dieser Bewegung ließ den gelehrten Kreis nicht gleichgültig. Ein dramatischer Fall: der Schriftsteller Dirck Volkertszoon Coornhert, ein Freund des Ortelius, hat fast alleine die Zerstörungen in Haarlem gebremst.24

20 Buchanan, The Collection of Niclaes Jongelinck, 541. Die geläufige Schreibweise lautet – anders als bei Buchanan – Jonghelinck. 21 Vgl. Freedberg, David, Art and Iconoclasm, 1525 –1580. The Case of the Northern Netherlands, in: Filedt Kok, Jan Piet/Halsema-Kubes, Willy/Kloek, Wouter Theodoor (Red.), Kunst voor de Beeldenstorm. Noordnederlandse kunst 1525 –1580 (AK, Rijksmuseum Amsterdam, 13.09. – 23.11.1986), ’s-Gravenhage 1986, 69 – 84. 22 Vgl. ebd., 71–73. 23 Wie Stridbeck, Carl Gustaf, ‚Combat between Carnival and Lent‘ by Pieter Bruegel the Elder. An Allegorical Picture of the Sixteenth Century, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 19 (1956), 96 –109 zeigt, waren die Ansichten der holländischen Humanisten zu dieser Zeit eher einstimmig: pazifistisch, pietistisch und kritisch den Katholiken und Reformierten gegenüber. 24 Freedberg, Art and Iconoclasm, 73.

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Was besagt das über die Möglichkeitsbedingungen von religiöser Malerei um 1567? Das Gemälde war weder gefährdet noch eine öffentliche Aussage, aber immerhin: die Lage war unruhig. Die theoretische Stoßrichtung des Ikonoklasmus zielte auf die radikale Kritik jeder Darstellung des Heiligen. Der Heidelberger Katechismus lehrt: „Denn wir nit sollen weiser sein denn Gott / welcher seine Christenheit nit durch stumme götzen, sonder durch die lebendige predig seines worts  /  wil underwiesen haben.“25 Dieser Text wurde noch in seinem Erscheinungsjahr 1563 ins Holländische übersetzt. Nicht dass die Reformierten keine Bilder anfertigten. Der Kunsthistoriker Hessel Miedema hat anhand der kraak (Lettner oder Chorschranke) der reformierten Kirche in Oosterend einige allgemeine Merkmale der reformierten religiösen Kunst festgestellt: Sie bevorzuge das Alte Testament, lehne die christliche Typologie ab und schildere oft Szenen der falschen Prophezeiung, wie die Geschichte von Daniel oder die der BaalsPriester.26 Ziemlich das Gegenteil von Bruegel, der eine Szene des Neuen Testaments mit vollem prophetischen Gewicht zeigt.27 Doch gab er auch Reformierten wenig Grund zum Tadel: weder Gottvater noch Christus sind zu sehen. Vielleicht ähnelte Bruegels Verhalten in diesem Punkt eher demjenigen des Philosophen und Bibliophilen Justus Lipsius, der sich neutral verhielt, weil er „nicht seine Freunde verärgern wollte, die verschiedenen Konfessionen angehörten.“28 David Freedberg meint jedoch, ohne genauere Quellen sollten wir keine solch langweilige (unexciting) Neutralität Bruegels in religiösen Dingen annehmen.29 Die Bekehrung besitzt eine Wortwörtlichkeit (auf die Karel van Manders knappe Bildbe-

25 Catechismus Oder Christlicher Underricht / wie der in Kirchen und Schulen der Churfürstlichen Pfalz getrieben wirdt, Heidelberg 1563, 66 (Frage 98 [nicht nummeriert]). 26 Diese seien aber keine ikonoklastischen Bilder, sondern – so Miedema – verkörpern „die neue direkte Pietät [...], die eher mit dem Namen Erasmus als mit Luther zu verbinden ist.“ Zit. n. Freedberg, Art and Iconoclasm, 79 (Übersetzung A. P.). 27 Sein Tod der Jungfrau (Upton House, Warwickshire), den Ortelius durch eine Radierung verbreitete, wurde sogar vom spanischen Geistlichen Montanus gelobt. Vgl. Popham, Arthur Ewart, Pieter Bruegel and Abraham Ortelius, in: The Burlington Magazine 59 (1931), no. 343, 184 –188. 28 Dieses Urteil fällte der Calvinist Adrianus Saravia über Lipsius’ Position, zit. n. Freedberg, David, Allusion and Topicality in the Work of Pieter Bruegel. The Implications of a Forgotten Polemic, in: The Prints of Pieter Bruegel (Exhib. cat., Bridgestone Museum of Art, Tokyo, 07.01. – 26.02.1989), ed. by David Freedberg, Tokyo 1989, 53 – 65, hier 55 (Übersetzung A. P.). 29 Vgl. ebd.

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schreibung vielleicht ironisch anspielt), die jede Kategorisierung als religiöse Kunst in Frage stellt. Nicht dass die körperliche Abwesenheit Gottes bei der Bekehrung Pauli in der Kunst neu wäre – in Medien wie Buchillustration oder Keramik war sie manchmal sogar unvermeidlich –, aber in der Malerei findet sie sich bei Zeitgenossen Bruegels so gut wie nicht: vom Holländer Herri met de Bles (Landschaft mit Bekehrung des Saulus am Weg nach Damaskus, um 1545, Allen Memorial Art Museum, Oberlin College)30 bis zu den großen römischen Werken von Raffael (Bekehrung des Saulus, Tapisserie, 1515/16, Vatikanische Museen, Rom) und Michelangelo –1545, Cappella Paolina, Rom), (Bekehrung des Paulus, 1542  die Bruegel auf seiner Italienreise hätte sehen können.31 Eine Ausnahme bildet Lucas van Leyden. Er hatte in seiner Radierung Die Bekehrung Pauli von 1509 (Abb. 2) Saulus’ Pferd ebenfalls durch einen Donnerkeil zur Erde gebracht; in der Szene links hinten sitzt Saulus zunächst noch fest im Sattel. Die Szene gemahnt an einen altertümlichen Kunstgriff: eine Verdoppelung der Hauptfigur, die sich im Vordergrund, gemäß dem Text der Apostelgeschichte, durch Wegfährten nach Damaskus führen lässt. Das Weglassen eines anthropomorphen Gottvaters wird also bei Lucas van Leyden durch einen Archaismus verdeckt und gleichzeitig gesteigert. Denn die Gewalttat findet am Bildrand und im Hintergrund statt, ein Einfall, den Bruegel vorsichtig übernahm, als er seinen winzigen Saulus ein wenig mehr in den geometrischen Mittelpunkt des Bildes rückte.

30 Eine zweite Version, mit einer Stadtlandschaft im Hintergrund und einer ähnlich panischen Kavalkade, wurde im Januar 2002 bei Christie’s in New York versteigert. 31 Raffaels Tapisserie wurde während der Plünderung Roms nach Paris verschleppt, 1554 aber dem Papst zurückerstattet. Was Keramikmalerei betrifft (z.B. Francesco Xanto Avellis Bekehrung des Heiligen Paulus, um 1525, National Gallery of Art, Washington D.C.), so ist die Abwesenheit Gottes vermutlich dadurch zu erklären, dass man auf einen Teller, auf den etwas gesetzt werden kann, keine Gottvater-Figur malen möchte. Andererseits bezeugen Reduktionen wie diejenige bei „Januar“ (fol. 1r ) der Petites Heures de Jean de Berry von 1375/1390 (Bibliothéque Nationale, Paris), wo über Paulus nur eine Gotteshand zu sehen ist, eher Platzmangel. Reformierte gingen mit dieser Detailfrage nicht konsequent um: Die Holzschnitte in den Annotationes Philippi Melanthonis in Evangelia Dominicalia […] (Wittenberg 1561) und Luthers Kercken Postilla, dat ys, Vthlegging der Epistelen vnde Evangelien, an de Söndagen vnde vornemesten Festen (Wittenberg 1563) zeigen Gott, wie auch Erasmus’ Noui Testamenti aeditio postrema (Zürich 1547). Anton Sorg tut es in Hie vahet an das Register uber die bibeln des alten testaments (Augsburg 1477) nicht; die bekannte Zürcher Bibel von 1531, Christoph Froschauers Die gantze Bibel der vrsprüngliche[n] Ebraischen vnd Griechischen waarheyt nach auffs aller treüwlichest verteütschet, hat einen Holzschnitt ohne Darstellung Gottes im Text (aus Platzmangel?) und einen mit – das berühmte zweite Frontispiz („Das ander teyl des Alten vnnd Neüwen Testaments“) aus der Schule von Hans Holbein dem Jüngeren.

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Abb. 2: Lucas van Leyden, Die Bekehrung Pauli, 1509

Zurück zu Bruegel. Kühn verkürzt, mit dem linken Ellenbogen in unsere Richtung gestreckt und das linke Bein unter seinem Rock verborgen, ist Saulus fast ausschließlich durch seine unbeholfene Körperhaltung hervorgehoben. Denn das Wunder des göttlichen Lichtstrahls vergoldet vor allem den zum Schutz erhobenen rechten Arm eines gelb gekleideten Begleiters; weitere Sonnenstrahlen verlieren sich im satten Grün der Zedern. Somit übertreibt Daniela Hammer-Tugendhat, wenn sie schreibt: „Es geschieht ein Wunder, ein alles veränderndes Ereignis – aber niemand bemerkt es.“32 Das Wunder wird, auf plausible Weise, einer geographisch abgerückten Minderheit verbürgt. Außer den in Gelb gekleideten Begleitern und einer Handvoll Soldaten, die empört blicken, gibt es eine Menge gepanzerter Reiter, die wörtlich umkehren, ohne das Heilsereignis bewusst wahrzunehmen – sie begutachten lediglich den Unfall oder versuchen Saulus zu helfen; weiter links lehnt ein kleines Publikum entspannt am vordersten Baumstamm, dessen Wurzeln am Felshang hängen. Diese Gruppe scheint bloß eine Pause zu genießen: In ihrer Versunkenheit erinnert sie an eine Miniatur der Predigt 32 Hammer-Tugendhat, Daniela, Peripherie und Zentrum. Eine Glosse zu Pieter Bruegels d. Ä. Bekehrung Pauli, in: Futscher, Edith u.a. (Hg.), Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur (FS Friedrich Teja Bach zum 60. Geburtstag), Paderborn/ München 2007, 229 – 236, hier 232.

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Johannes des Täufers, auch wenn sie weniger ernst wirkt. Die restlichen Männer, mehr als zweihundert, haben natürlich nicht alles verstanden; sie sind über das ganze Gebirge verteilt, gehen oder reiten, kriegerisch oder fantastisch ausgestattet,33 begleitet von Bergleuten, Zwergen oder Kindern (die gepanzerte Figur am linken Rand der Wiese), sogar von einigen, deren bunte Stoffmuster im 16. Jahrhundert als orientalisch galten.34 Eine kleine Welttheatertruppe erklimmt also diese hohe Bühne, welche die Schweizer Alpen, die Bruegel auf seiner Italienreise gesehen hat (Rubens besaß ein Bild des Sankt Gotthard von ihm),35 die Savoyer Alpen, die der Herzog von Alba 1567 auf seinem Kriegszug gegen die Niederländer überquerte,36 oder, noch wahrscheinlicher, den libanesischen Berg Hermon darstellen mag.37 Laut Karel van Mander habe Bruegel „nach seiner Heimkehr all die Berge und Steine auf Leinwänden und Tafeln wieder ausgespuckt.“38 Das Erhabene ist also in der Landschaft und der Menschenmenge wortwörtlich zu sehen; auch der Begriff war dem 16. Jahrhundert bekannt. Die erste moderne Edition des griechischen Originals von Longin wurde 1554 von Franciscus Robortellus in Basel verlegt, ein Jahr später kam die bekannte Version von Paulus Manutius in Venedig heraus – lateinische und volkssprachliche Übersetzungen folgten ab den 1560er Jahren.39 Auch wer den Traktat nicht kannte, wie vielleicht Rubens, war von der Begeisterung für Naturmächte angesteckt, die Longin in der Renaissance weckte, wenn er etwa Homer mit der auf- und untergehenden Sonne sowie mit dem Ozean verglich. „Wie das große Weltmeer bisweilen zurücktritt und seine Gestade verlässt, ebenso bemerken wir die Ebbe des Erhabenen 33 Ein Adeliger ganz rechts trägt Quasten wie Balthasar in der Anbetung der Heiligen drei Könige von Hieronymus Bosch (Philadelphia Museum of Art). 34 Vgl. Kavaler, Ethan Matt, Pieter Bruegel. Parables of Order and Enterprise, Cambridge 1999, 180 –181. 35 Vgl. Stechow, Wolfgang, Pieter Bruegel the Elder, New York 1969, 28. 36 Diese These geht zurück auf Glück, Gustav, Bruegels Gemälde, Wien 1932, 76 –77 und wurde aufgegriffen und ergänzt durch Ferber, Stanley, Pieter Bruegel and the Duke of Alba, in: Renaissance News 19 (1966), 205 – 219. 37 Vgl. Demus, Klaus, The Pictures of Pieter Bruegel the Elder at the Kunsthistorisches Museum in Vienna, ed. by Wilfried Seipel, Milano 1999, 114 –115, der die These der Savoyer Alpen als indiskutabel ablehnt. Kunsthistoriker, die den dargestellten Berg als zu hoch für den Mittleren Osten bezeichnen, haben weniger Geographiekenntnisse als Bruegel oder Ortelius: Das Hermon-Massiv, südlichster Teil des Anti-Libanons, der sich über rund 150 km erstreckt, erreicht am höchsten Gipfel 2.814 m. 38 Van Mander, Lives of Painters, 190 –191 [fol. 233r]: „[…] al die berghen en rotsen had in gheswolghen, en t’huys ghecomen op doecken en Penneelen uytghespogen hadde […].“ 39 Vgl. Longinus, On the Sublime, introd., transl. and app. by William Rhys Roberts, Cambridge 1935, 1 (Introduction) sowie Vöhler, Pseudo-Longinos, Sp. 776 –779.

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in jenen fabelhaften und unglaublichen Ausschweifungen der Odyssee.“40 Ein Käufer wie Ortelius oder Jonghelinck dagegen war mit diesem Text vertraut: Bruegel hätte für sie ruhig etwas Erhabenes darstellen können. Jedoch: tut er dies? Eine spektakuläre Verfilmung gibt er allenfalls, mit voller Besetzung und dem Text treu: Wie im 9. Kapitel der Apostelgeschichte zeigt Bruegel nur ein Licht, das er nicht einmal wie Lucas van Leyden zu einem Donner verdichtet. Zeigt er auch eine Stimme? Das Wesentliche an diesem Eingriff Gottes ist der Malerei gar nicht zugänglich. Andere Maler haben sich beholfen, indem sie eine ganze Armee zum Rennen gebracht haben, als sei sie von einer lauten Stimme erschreckt. Die Begleiter bei Bruegel bleiben ruhig, zeigen aber eine deutliche Spannung, still staunend, wie die Apostelgeschichte erklärt: „sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemand.“41 Mitten in diesem gewaltigen Naturpanorama wird also eine Unsichtbarkeit in eine Stille übersetzt. Schauen wir die dramatisch erstarrte Gruppe um Saulus genauer an. Am oberen Rand dieser Gruppe liegt sein Pferd auf dem Bauch, ein Soldat und der gelb gekleidete Begleiter greifen nach den Zügeln. Unmittelbar daneben (auf der linken Seite des Pferdes) liegt, auf den linken Ellenbogen gestützt, der türkis gekleidete Saulus. Vor ihm gestikuliert ein Speerträger mit seiner freien linken Hand; vielleicht will er Saulus’ vom Kopf gefallene Wollmütze aufsammeln. Der Eindruck von übertriebener Besorgtheit gibt dieser Figur eine komische Färbung – ungleich dem Mann mit den goldenen Ärmeln, der nach oben blickt, scheint diese nämlich völlig mit Saulus und seinem Wohlergehen beschäftigt. Die Ablenkung durch ihn und den verlorenen Hut leitet uns aber weiter zu einer erstaunlichen Entdeckung: Auf der Erde zwischen Saulus’ Stirn und dem Pferdebauch, bzw. noch an Saulus’ rechtem Ohr hängend, prangt eine Brille in einem runden schwarzen Rahmen (Abb. 3). Das Ding, dessen Verlust oder Verrückung den werdenden Apostel seiner weltlichen Sicht beraubt, fordert nun unseren

40 Dionysius Longin, Vom Erhabenen [1737], 87 (Die Übersetzung Heinekens ist hier der heutigen Schreibweise angepasst). 41 Apg. 9,7. Diese Abweichung Bruegels von Herri met de Bles betont Hammer-Tugendhat, Peripherie und Zentrum, 233 – 234, nennt aber nicht seine Quellen in Lucas van Leyden und dem Bibeltext. Snow, Edward, Inside Bruegel. The Play of Images in Children’s Games, New York 1997, 24 beschreibt die Naturmacht in diesem Bild als „realm of Job“.

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Abb. 3: Pieter Bruegel der Ältere, Bekehrung Pauli, 1567, Detail

Augensinn heraus. Nur millimeterbreit, mit dem Zobelpinsel gemalt – ist diese geisterhafte Brille wirklich da oder nur das irreführende Resultat einer Verfärbung, die eine Unterzeichnung ans Licht bringt?42 Nein, der Rahmen ist von einem eindeutigen Schwarz, während die Pentimenti in der Nähe – die linke Hand des Mannes mit dem Schnurrbart und das Gelenk des linken 42 Den Vorschlag, hier einen durchscheinenden Entwurf zu erkennen, schulde ich Marisa Bass. Ich habe die Brille zum ersten Mal vor elf Jahren gesehen und sie damals, vor dem Gemälde im Kunsthistorischen Museum, mit Marisa Bass, Odilia Bonebakker, Rosario Inés Granados-Salinas, Edward Wouk und Hugo van der Velden diskutiert.

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Vorderbeines des Pferdes – ein grünliches Kolorit aufweisen. Solcherart Brillen finden sich wiederholt in Bildern Bruegels, wo geistige und weltliche Blicke sich kreuzen: in einer dickeren Variante beim Mann am rechten Bildrand in der Anbetung der Könige von 1564 (National Gallery, London), auf derselben Tafel dünn und skizzenhaft beim an den Balken gelehnten Jäger links im Hintergrund; oder vor den (einschlafenden oder nach innen sehenden?) halboffenen Augen des bärtigen Gelehrten hinter den Mönchen in der schon erwähnten Predigt Johannes des Täufers (1566). Alle Welt glaubt zu wissen, dass die dicke Brille des Connaisseurs, der den Künstler in der um 1565 entstandenen Federzeichnung Maler und Käufer (Albertina, Wien) besucht, auf dessen Unkenntnis verweise. Doch der tatsächliche Reichtum an Brillen in Bruegels Bildern lässt sich nicht so gedankenlos dechiffrieren – die meisten verlangen eine Findigkeit, bevor wir sie überhaupt bemerken. Die Kunden Bruegels hatten diese Findigkeit, die Zeit und die Freiheit, sich nah ans Bild zu begeben – piepsende Sicherheitsmaßnahmen gab es damals ja noch nicht. Mit dieser Brille, die elegant die irdische Blindheit des Saulus sowie die spirituelle Einsicht des neu geborenen Paulus versinnbildlicht, haben wir auch endlich einen festen Grund im Treibsand um den Begriff des Erhabenen. Denn dass die Lage des Saulus nicht nur eine erhabene ist (insofern er das erhabenste Wesen kennenlernt), sondern erhaben auf uns wirkt, ist, hoffe ich, überzeugend. Bewiesen ist es zwar nicht – wir könnten einem, der die Szene gar nicht erhaben fände, kein logisches Argument dagegen setzen. Doch ist das keine schlimmere Lage als sonst in der Empirie: immer wieder streiten Menschen über ihre Sinneseindrücke. Von den Vernünftigen hoffe ich jedenfalls dies zugestanden zu bekommen: Nicht nur sind die „artigen (Fels-)Klippen“ erhaben, sondern auch und vorrangig das Unsichtbare, das Schwer-zu-Sehende, das, worüber die Menschenmenge um Saulus staunt. Dieses Unsichtbare wirkt sinnlich durch kaum sichtbare Indizien – wie die just bemerkte Brille. Nun verhält es sich nicht so, dass – weil das Bild mit oder ohne Brille erhaben wirkt – die Brille nichts zu dessen Erhabenheit

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beitragen würde. Die Sache ist genau umgekehrt: In der Brille sehen wir eben eines der Elemente, die das Bild erhaben machen. Da die Brille selber schwer zu sehen ist und es Konzentration und Augendisziplin verlangt, sie überhaupt zu entdecken, und da wir, indem wir sie bemerken, das übrige Bild fast aus den Augen verlieren, zeigt sie uns ihre Herausforderung an unseren Wahrnehmungsapparat – und damit ihre Erhabenheit. Die relevanten Qualitäten befinden sich in der Brille selbst. Auch wenn wir sie zunächst (oder gar) nicht sehen. Wer mir diese Erfahrung der Erhabenheit zugesteht, wird zunächst mit Julian Schmidt sagen können, das Erhabene brauche Subjekt und Objekt, wie von jeder ästhetischen Beziehung angenommen. Was bedeutet dies für die nochmals stärkere These von Karl Rosenkranz, das Ding selbst sei bereits erhaben? Ich kann angesichts meiner Erfahrung mit der Brille bestätigen: Bevor ich sie sah, fand ich sie auch nicht erhaben. Doch ebenso wenig konnte ich die Brille für unerhaben halten, bevor ich sie sah. Wiederum steht uns die tautologische Einmischung eines Betrachters im Weg: Am Bild könnten wir doch keine betrachterunabhängigen Eigenschaften nachweisen. Die Frage muss anders gestellt werden, und zwar so wie Schmidt mit seinem Beispiel Gullivers: Liegt die Qualität, uns gegenüber erhaben zu wirken, im Objekt? Wenn nicht, dann ist das Subjekt entscheidend, und Erhabenheit sollte eine relativ subjektive, jedoch schwerlich eine radikal subjektive Eigenschaft genannt werden. Allerdings, mit Schmidts Begriff von Betrachterabhängigkeit ist es noch nicht getan: Ein Riese oder eine Ameise, die Bruegels Bild sehen, wenn sie es überhaupt sehen und verstehen sollten, müssen ebenfalls Verhältnisse darin erkennen können. Jeder Betrachter, der eben betrachtet, nimmt damit die rein physischen – und somit objektiven – Verhältnisse zum Körper des Betrachters in Kauf, wie sie in der Perspektive, oder allgemeiner ausgedrückt: in den Sichtweisen des Bildes zum Tragen kommen. Auch eine Ameise oder ein Riese müssten über die Brille staunen.43 Ihre Stellung im Bild ist zentral, jedoch relativ

43 Auch wenn diese für die Ameise lebensgroß, für den Riesen winzig ist: was in allen Fällen konstant bleibt, ist das Verhältnis der Brille zu den übrigen Bildelementen.

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zu Saulus, den Männern, dem Pferd und dem Berg an der Grenze der Sinnlichkeit. Damit sehen wir auch, was an Schmidts Beispiel irreführend ist. Ein Riese betrachtet die Niagarafälle nicht isoliert; wenn er die ganze Landschaft betrachtet, die noch kleineren Bäume und Boote und Hügel und Inseln auf dem Fluss Niagara, müsste er doch die relative Mächtigkeit der Wasserfälle erkennen. Die Kontextabhängigkeit des Erhabenen schadet seiner Objektivität nicht, denn der Kontext – das Kunstwerk – ist selbst ein Objekt der Betrachtung. Ohne Betrachter gäbe es freilich kein Gefühl des Erhabenen. Doch dieses Gefühl, wie das des Gelb, ändert nicht mehr am Erhabenen als am gelben Objekt. Dass manche Denker diese radikale Objektivität des Erhabenen im Bild für eine radikale Subjektivität halten, zeigt wahrscheinlich, dass sie das Bild selbst als ein subjektives menschliches Gebilde verkennen. Somit ist an der Erfahrung des Erhabenen nicht ein autonomes Subjekt, sondern ein erhabenes Objekt das Wesentliche. Es gilt dann, die Modi und Ursachen der Erhabenheit in Objekten zu untersuchen – und nicht die Gemütsarten, die diese empfangen bzw. hervorrufen.44 Wenn dies als ein bescheidenes Resultat mühevoller Vorarbeit scheint, so meine ich: die Kunstgeschichte darf auch Vorarbeit leisten, soweit sie ehrlich ist. Und darüber hinaus gibt es ein vielleicht überraschendes Resultat: Das Erhabene kann auch klein sein. Warum nicht, wenn nur „der Maßstab der Sinne“ übertroffen werden sollte? Somit kommen wir nicht nur mit Longins Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten von Erhabenheit in Berührung (die laute, sonnenaufgangartige in der Ilias; die leise, sonnenuntergangartige in der Odyssee), sondern mit einer Quelle seiner Ideen, der Poetik des Aristoteles:

44 Mein Resultat ist fast dasselbe wie dasjenige Friedrich Schillers in einem wenig beachteten Aufsatz: Von der ästhetischen Größenschätzung, in: Schillers Sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Karl Goedeke, 10. Theil: Ästhetische Schriften, Stuttgart 1871, 187– 206 (unter „Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände“), hier 201: „Obgleich aber das Erhabene eine Erscheinung ist, welche erst in unserm Subjekt erzeugt wird, so muß doch in den Objekten selbst der Grund enthalten seyn, warum gerade nur diese und keine andern Objekte uns zu diesem Gebrauch Anlaß geben. Und weil wir ferner bey unserm Urtheil das Prädikat des Erhabenen in den Gegenstand legen, (wodurch wir andeuten, daß wir diese Verbindung nicht bloß willkührlich vornehmen, sondern dadurch ein Gesetz für Jedermann aufzustellen meynen) so muß in unserm Subjekt ein nothwendiger Grund enthalten seyn, warum wir von einer gewissen Klasse von Gegenständen gerade diesen und keinen andern Gebrauch machen.“ (Hervorhebung im Original)

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„Jedes zusammengesetzte schöne Object, sei es ein lebendes Wesen oder etwas nicht Lebendes, muss nicht nur in seinen Bestandtheilen wohl geordnet sein, sondern auch eine gewisse Grösse haben, die keineswegs beliebig ist; denn die Schönheit beruht auf Grösse und Ordnung, weshalb weder ein ganz kleines Thier schön sein kann, – denn die Anschauung wird verworren an der Grenze des nicht mehr Wahrnehmbaren, – noch auch ein äusserst grosses, – denn man kann das nicht in allen seinen Theilen zusammen wahrnehmen, da die Einheit und Ganzheit dem Betrachtenden aus seiner Anschauung entschwindet, z.B. bei einem Thier, das 10,000 Stadien lang wäre.“45

Aristoteles, wohlgemerkt, spricht dem Übergroßen wie dem Kleinen die Schönheit ab. Doch wer Kants Argumentation angesichts der Erhabenheit des sehr Großen akzeptiert, müsste angesichts Aristoteles’ konsequenter Erklärung geneigt sein, dasselbe dem sehr Kleinen zuzuschreiben.46 Was an die Grenze des Wahrnehmbaren stößt, wirkt erhaben. Die Naturwissenschaft wie die Bildtheorie sollen weiter an der Psychologie und Neurologie des Phänomens arbeiten (vor allem daran, warum es uns Lust bereitet). Doch ich möchte resümierend zurück in die Welt Bruegels führen, um damit auch dem Subjektiven und seinem Anteil am Erhabenen gerecht zu werden. Dass Bruegel Modern-Erhabenes enthält – Sturm, Feuer – ist bekannt. Dass er außer der Brille andere Beispiele des ‚aristotelischen‘ Erhabenen malt, sollte nicht überraschen: Denn er ist nicht nur der Maler von Felsen, Volksmengen und verschwommenen Weiten, sondern auch von festen, witzigen Details, sodass einem, „egal wie ernst und standhaft er sein mag, sein Mund zumindest zu zucken und zu lächeln gezwungen wird.“47 Solches befindet sich sogar in Bruegels düstersten Werken, wie in der Winterlandschaft mit dem Bethlehemitischen Kindermord (um 1565), von

45 Aristoteles, Über die Dichtkunst, übers. v. Friedrich Ueberweg (Philosophische Bibliothek oder Sammlung der Hauptwerke der Philosophie alter und neuer Zeit 19), Berlin 1869, 13 (Kap. 7). 46 Aristoteles selber fügt an dieser Stelle den Rat hinzu, ein Werk nur so groß zu machen, wie es sich mit seiner Deutlichkeit und daher Schönheit verträgt. Das ist aber Kunstkritik; seine Philosophie fordert eine gleiche Behandlung des ‚Zu-Großen‘ und ‚Zu-Kleinen‘. 47 Van Mander, Lives of Painters, 190 [fol. 233r] (Übersetzung A. P.).

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dem eine vermummte Version (mit durchbohrten Säcken statt Kindern) in der Royal Collection (Hampton Court, London) und eine Kopie im Kunsthistorischen Museum in Wien erhalten sind. In der oberen linken Hälfte der Tafel, nur wenig oberhalb eines der wartenden Pferde, findet sich eine seltsame Szene: Ein Soldat, sein Schwert in der Scheide, geht vorsichtig, wie auf Zehenspitzen, einen Säugling vorsichtig mit seinen Armen umhüllend, über die Schneefläche, während er gleichzeitig nach den Kollegen im Vordergrund Ausschau hält. Unweit steht eine Frau, die Hände vor ihrem Gürtel verschränkt, mit einem sonst im Bild nirgends zu findenden Gleichmut. Offenbar sucht der Soldat ihr Kind zu retten. Solche kleine Dramen, die sich gut mit Bruegels humanistischer Haltung vertragen, werden sogar von Kunsthistorikern übersehen, die von den „unbemerkten Details in diesen berühmten Bildern“ schwärmen.48 Dabei handelt es sich, wie bei Saulus, weniger um physische als um psychische Kurzsichtigkeit. Es ist die Lust an den Details, das Verweilen in zerstreuten, fast verschwindenden Wahrnehmungen, die Bruegel uns anbietet, und welche uns und unserer eiligen Zeit manchmal fehlen.49 Diese Entdeckungen erhaben zu nennen, heißt nichts anderes, als über sie zu staunen, so wie auch über die großen und mächtigen Dinge, die Bruegel malte. Damit kommt auch die Grammatik zu ihrem Recht: Wir erheben das, was wir erhaben finden, auch wenn wir es nicht erfinden. Was wir erheben, mag auch klein und niedrig sein. Deshalb ist es sehr passend, dass das Frontispiz der zweiten Ausgabe von Carl Heinrich Heinekens LonginusÜbersetzung 1738 (Leipzig/Hamburg) nicht nur die Erhabenheit und die Kunst, die Natur und die Geometrie, den Glauben und 48 Kunzle, David, From Criminal to Courtier. The Soldier in Netherlandish Art 1550 –1672, Leiden/Boston 2002, 107: „Famous as the paintings are, such details [die anscheinend streitenden Soldaten im Hintergrund] have not been noted. There are others [...].“ Kunzle beschreibt in der Tat wichtige Details, aber trotz mehrerer Kapitel über den „guten Soldat“, findet er diesen im Kindermord nicht. Shawe-Taylor, Desmond/Scott, Jennifer, Bruegel to Rubens. Masterpieces of Flemish Painting (Exhib. cat., Queen’s Gallery, Buckingham Palace, London, 17.10.2008 – 26.04.2009), London 2008, 88 sehen darin den Vater des Kindes: „In the background, immediately below the church, a father tries to smuggle his baby to safety, though the mounted soldier on the bridge behind and the many horses tethered (their riders presumably searching houses) suggest that he is unlikely to succeed.“ Ist der Mann kein Soldat? Oder hat er etwa mit der Dorfbewohnerin ein Kind? Ist das an seinem Verhalten abzulesen? Wäre hier eine moralische Bekehrung nicht ebenso plausibel? 49 Zum dynamischen Sehen in den Bildern Bruegels vgl. Kahane, Catharina, Flecken der Ästhetik. Macchia und Detail bei Pieter Bruegel dem Älteren, in: Futscher, Edith u.a. (Hg.), Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur (FS Friedrich Teja Bach zum 60. Geburtstag), Paderborn/München 2007, 205 – 228.

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Abb. 4: Christian Philipp Lindemann nach Heinrich Christoph Fehling, Frontispiz zu Dionysius Longin, Vom Erhabenen, Leipzig/Hamburg 1738

die Astronomie abbildet, sondern auch den Geist der Neugier: Unter dem Hügel, über welchem die Erhabenheit schwebt, in einer Sandgrube, schnüffelt ein Wesen mit dem Körper eines Kindes und dem Kopf eines Ameisenbären (Abb. 4). Wien, am Neujahrstag 2016

Literatur Aristoteles, Über die Dichtkunst, übers. v. Friedrich Ueberweg (Philosophische Bibliothek oder Sammlung der Hauptwerke der Philosophie alter und neuer Zeit 19), Berlin 1869 Buchanan, Iain, The Collection of Niclaes Jongelinck: II The ‚Months‘ by Pieter Bruegel the Elder, in: The Burlington Magazine 132 (1990), no. 1049, 551– 550 Burke, Edmund, A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful, London 1757

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146 [Burke, Edmund] Burkes Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabnen und Schönen nach der fünften englischen Ausgabe, Riga 1773 Catechismus Oder Christlicher Underricht / wie der in Kirchen und Schulen der Churfürstlichen Pfalz getrieben wirdt, Heidelberg 1563 Demus, Klaus, The Pictures of Pieter Bruegel the Elder at the Kunsthistorisches Museum in Vienna, ed. by Wilfried Seipel, Milano 1999 Deutsches Wörterbuch von Jakob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 3, Leipzig 1862 Eagleton, Terry, The Ideology of the Aesthetic, Oxford 1990 Elkins, James, Gegen das Erhabene, in: Hoffmann, Roald/Whyte, Iain Boyd (Hg.), Das Erhabene in Wissenschaft und Kunst. Über Vernunft und Einbildungskraft, Berlin 2010, 97 –113 [Erasmus von Rotterdam] Noui Testamenti aeditio postrema, Zürich 1547 Ferber, Stanley, Pieter Bruegel and the Duke of Alba, in: Renaissance News 19 (1966), 205 – 219 Freedberg, David, Art and Iconoclasm, 1525 –1580. The Case of the Northern Netherlands, in: Filedt Kok, Jan Piet/Halsema-Kubes, Willy/Kloek, Wouter Theodoor (Red.), Kunst voor de Beeldenstorm. Noordnederlandse kunst 1525 –1580 (AK, Rijksmuseum Amsterdam, 13.09. – 23.11.1986), ’s-Gravenhage 1986, 69 – 84 Freedberg, David, Allusion and Topicality in the Work of Pieter Bruegel. The Implications of a Forgotten Polemic, in: The Prints of Pieter Bruegel (Exhib. cat., Bridgestone Museum of Art, Tokyo, 07.01. – 26.02.1989), ed. by David Freedberg, Tokyo 1989, 53 – 65 [Froschauer, Christoph (Drucker/Herausgeber)] Die gantze Bibel der vrsprüngliche[n] Ebraischen vnd Griechischen waarheyt nach auffs aller treüwlichest verteütschet, Zürich 1531 Glück, Gustav, Bruegels Gemälde, Wien 1932 Hammer-Tugendhat, Daniela, Peripherie und Zentrum. Eine Glosse zu Pieter Bruegels d. Ä. Bekehrung Pauli, in: Futscher, Edith u.a. (Hg.), Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur (FS Friedrich Teja Bach zum 60. Geburtstag), Paderborn/ München 2007, 229 – 236 Kahane, Catharina, Flecken der Ästhetik. Macchia und Detail bei Pieter Bruegel dem Älteren, in: Futscher, Edith u.a. (Hg.), Was aus dem Bild fällt. Figuren des Details in Kunst und Literatur (FS Friedrich Teja Bach zum 60. Geburtstag), Paderborn/München 2007, 205 – 228 Kant, Immanuel, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [1764], Riga 31771 Kant, Immanuel, Critik der practischen Vernunft, Riga 1788 Kant, Immanuel, Critik der Urtheilskraft, Berlin/Libau 1790 Kavaler, Ethan Matt, Pieter Bruegel. Parables of Order and Enterprise, Cambridge 1999 Kunzle, David, From Criminal to Courtier. The Soldier in Netherlandish Art 1550 –1672, Leiden/Boston 2002 [Longinus] Dionysius Longin, Vom Erhabenen, Griechisch und Teutsch, Nebst dessen Leben, einer Nachricht von seinen Schrifften, und einer Untersuchung, was Longin durch das Erhabene verstehe, von Carl Heinrich Heineken, Dresden 1737 (Leipzig/ Hamburg 21738) Longinus, On the Sublime, introd., transl. and app. by William Rhys Roberts, Cambridge 1935 Luther, Martin, Widder den newen Abgott und allten Teuffel der zu Meyssen sol erhaben werden, Wittenberg 1524 Luther, Martin, Kercken Postilla, dat ys, Vthlegging der Epistelen vnde Evangelien, an de Söndagen vnde vornemesten Festen, Wittenberg 1563 [Melanchthon, Philipp] Annotationes Philippi Melanthonis in Evangelia Dominicalia […], Wittenberg 1561 Moore, George Edward, Principia Ethica, Cambridge 21922 Moore, George Edward, Principia Ethica, übers. u. hg. v. Burkhard Wisser, Stuttgart 1996

Die Objektivität des Erhabenen: ein kunsthistorischer Versuch | Andrei Pop Popham, Arthur Ewart, Pieter Bruegel and Abraham Ortelius, in: The Burlington Magazine 59 (1931), no. 343, 184 –188 Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Häßlichen, Königsberg 1853 Schiller, Friedrich, Von der ästhetischen Größenschätzung, in: Schillers Sämmtliche Schriften. Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Karl Goedeke, 10. Theil: Ästhetische Schriften, Stuttgart 1871, 187– 206 [Schmidt, Julian] Anonymus, Rez. Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, in: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur 12 (1853), 2. Semester, 1. Band, 1– 9 Shawe-Taylor, Desmond/Scott, Jennifer, Bruegel to Rubens. Masterpieces of Flemish Painting (Exhib. cat., Queen’s Gallery, Buckingham Palace, London, 17.10.2008 – 26.04.2009), London 2008 Snow, Edward, Inside Bruegel. The Play of Images in Children’s Games, New York 1997 Sophokles, übers. v. Johann Jacob Christian Donner, Heidelberg 1839 [Sorg, Anton (Drucker/Herausgeber)] Hie vahet an das Register uber die bibeln des alten testaments, Augsburg 1477 Stechow, Wolfgang, Pieter Bruegel the Elder, New York 1969 Stridbeck, Carl Gustaf, ‚Combat between Carnival and Lent‘ by Pieter Bruegel the Elder. An Allegorical Picture of the Sixteenth Century, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 19 (1956), 96 –109 Van Mander, Karel, The Lives of the Illustrious Netherlandish and German Painters. From the First Edition of the „Schilder-boeck“ (1603 –1604), Vol. 1, introd., transl. and ed. by Hessel Miedema, Doornspijk 1994 Vöhler, Martin, Pseudo-Longinos. Perí hýpsus, in: Walde, Christine (Hg.), Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon (Der Neue Pauly, Supplemente 7), Stuttgart/Weimar 2010, Sp. 773 –782 Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 1994

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Ganz schön hässlich Wilfried Lipp im Gespräch mit Monika Leisch-Kiesl

Abb. 1: Windpark, Foto aus dem Internet

Ausgehend vom gleichnamigen Vortrag Wilfried Lipps im Rahmen der Ringvorlesung „Ästhetische Kategorien. Kunstwissenschaft und Philosophie im Diskurs“1 führten der Referent und Monika Leisch-Kiesl ein Gespräch, bei dem neben Themen des Vortrags weitere Momente und Aspekte des Hässlichen zur Sprache kamen. (Redaktion)

Monika Leisch-Kiesl: Es gab für die geplante Vortragsreihe verschiedene ästhetische Kategorien zur Auswahl, du hast dich spontan für das ‚Hässliche‘ entschieden – was hat dich daran gereizt? 1

Der Vortrag fand am 7. April 2014 statt und wurde von Max Gottschlich moderiert.

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Wilfried Lipp: Gereizt hat mich daran zunächst, dass ich aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit, die sich vierzig Jahre lang mit dem Kulturerbe beschäftigt hat, auch beobachten musste, wie die ‚Verhässlichung‘ der Welt durch zivilisatorische Eingriffe zugenommen hat. M. L-  K.: Woran denkst du dabei? W. L.: Man kann diese Erfahrung am Städtebau festmachen, an der Siedlungsentwicklung, an der Vernichtung von Kulturgut, an den Millionen Tonnen von Geschichte, die entsorgt worden sind, kurz gesagt: an der willkürlichen oder bloß ignoranten Liquidation des historisch ‚Schönen‘. Für das, was an dessen Stelle getreten ist, spricht man vielfach besser nicht von Verbesserung, sondern von ästhetischer Verschlimmerung. Darüber hinaus begegnet man Phänomenen der ‚Verhässlichung‘ gewissermaßen überall, in der Umwelt, in der Lebenswelt, im Raum der Humanitas. M. L-  K.: Ich zitiere eine Stelle aus deinem Vortrag: „Niemand will sich ein hässliches Eigenheim bauen, wenngleich es so viele gibt.“ Wie kann das sein? Wo verortest du in diesen Phänomenen das ‚Hässliche‘ und worin siehst du dessen Ursachen? W. L.: Die Menschen wollen ja nicht willentlich für sich selbst etwas ‚Hässliches‘ machen, die Expansion des ‚Hässlichen‘ liegt im Zug der Zeit. Das Paradoxe daran ist, dass es – so meine These – im Grunde um das ‚Schöne‘ geht. M. L-  K.: Du hast ja schon im Titel deines Vortrags „Ganz schön hässlich“ die Ambivalenz dieses Begriffspaares angesprochen. W. L.: Ich wollte in diesem Titel zum Ausdruck bringen, wie sehr ‚schön‘ und ‚hässlich‘ einander korrespondieren. „Ganz schön hässlich“ kann sich dann schnell auch zum vorgeblich ‚hässlich Schönen‘ kehren. M. L-  K.: Ist das eine Entwicklung, die sich deiner Einschätzung nach in der Moderne verstärkt hat? Wo ortest du Anfänge einer solchen Relativierung des ‚Schönen‘ und ‚Hässlichen‘?

Ganz schön hässlich | Wilfried Lipp · Monika Leisch-Kiesl

W. L.: Um der Versuchung des Historikers zu widerstehen, die Genesis von Phänomenen an immer weiter zurückreichenden Stufen festzumachen, möchte ich in unserem Zusammenhang nur auf eine wichtige Weichenstellung hinweisen: auf die Querelle des Anciens et des Modernes. Diese gelehrte Diskussion kreiste bekanntlich um die Frage der Vorbildlichkeit der Antike. Sie erreichte Ende des 17. Jahrhunderts einen Höhepunkt in der Abhandlung von Charles Perrault mit dem Titel Parallèle des anciens et des modernes.2 Diese Schrift bedeutete den Abschied von der normativen ästhetischen Idealität der Antike. Claude Perrault, der Schöpfer der Ostfassade des Louvre und Bruder des Verfassers der Parallèle, sprach den Wandel am deutlichsten aus, indem er das ‚Schöne‘ nicht mehr auf das absolute Ideal der Antike bezog („le beau absolu“), sondern auf das Schönheitsideal der Zeit („le beau relatif“). Verbindlich wird damit ein gesellschaftlich imprägnierter, in Zeitgenossenschaft und nationaler Gesinnung verbindender Geschmack, der sich im Laufe der weiteren Entwicklung zunehmend stärker subjektiv artikulierte. M. L-  K.: Das ‚Schöne‘ und das ‚Hässliche‘ werden also im Zuge der Neuzeit, und verstärkt seit der Moderne, zu subjektiven ‚Kategorien‘? W. L.: Ja – gipfelnd in der durch David Hume Mitte des 18. Jahrhunderts populär gewordenen, wohl aber schon auf die Antike (Theokrit) zurückgehenden Formel: „Das Schöne liegt im Auge des Betrachters.“3 Nach einer solchen Definition wird das ‚Schöne‘ Ergebnis einer persönlichen Geschmacksentscheidung, letztlich etwas Subjektives, das sich nicht an objektiven Normen festmachen lässt. Abgesehen davon,

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Perrault, Charles, Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, m. einl. Abh. v. Hans Robert Jauß u. kunstgeschichtl. Exkursen v. Max Imdahl, Faksimile-Druck d. vierbänd. Orig.-Ausg. Paris 1688 –1697 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 2), München 1964. Vgl. insgesamt den kurzen Überblick bei Wine, Humphrey, Ancients and Moderns, Quarrel of the [Fr. Querelle des Anciens et des Modernes], in: Turner, Jane (Ed.), The Dictionary of Art, Vol. 1, London 1996, 897 – 898. „Beauty is no quality in things themselves: It exists merely in the mind which contemplates them; and each mind perceives a different beauty. One person may even perceive deformity, where another is sensible of beauty; and every individual ought to acquiesce in his own sentiment, without pretending to regulate those of others.“ Hume, David, Of the Standard of Taste, in: id., Essays. Moral, Political, and Literary, Vol. 1 (David Hume. The Philosophical Works in 4 Volumes, ed. by Thomas Hill Green and Thomas Hodge Grose, Vol. 3), London 1882 [Nachdr. Aalen 1964], 266 – 284, hier 268 – 269. Für die

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dass es auch in dieser Entwicklung zur Subjektivität ästhetischer Urteile immer so etwas wie (quasi normative) „Geschmacksdiktate“ zeitgeistiger Trends gab und gibt, existiert auf der anderen Seite eine Reihe von Konzepten, die das ‚Schöne‘ sehr wohl von zugrundeliegenden Prinzipien abzuleiten suchen. So gibt es zum Beispiel – heute ziemlich verdrängt – eine biologische, aus der Evolution der Natur abgeleitete Wurzel des ‚Schönen‘. Dazu zählt unter vielen anderen Aspekten das Prinzip der Symmetrie: Biologische und biotischen Muster bauen vielfach auf symmetrischen Entfaltungen, Zerteilungen, Differenzierungen auf, weil dadurch im Sinne der Evolution bessere Entwicklungschancen gegeben sind. M. L-  K.: Du willst damit deutlich machen, dass es sehr unterschiedliche Zugangsweisen zur Frage des ‚Schönen‘ – und des ‚Hässlichen‘ – gibt? W. L.: Ich möchte darauf verweisen, dass es ein weitgespanntes Mosaik von Erklärungsmustern für das ‚Schöne‘ gibt. So existieren seit der Antike normative Muster, die Bezug nehmen auf Struktur und Harmonie, auf Proportion, auf Intervall und Rhythmus. Es gibt aber auch andere Konzepte, die das ‚Schöne‘ an gewisse Kriterien binden und es nicht als eine Monade herumschwirren lassen, die nur subjektivem Empfinden entspricht. M. L-  K.: Woran denkst du? W. L.: Eine Sichtweise etwa geht von der Erfahrung aus, dass das ‚Schöne‘ seit den Anfängen der Geschichte ein Grundbedürfnis des Menschen war und ist. Wenn ich für gegenwärtige Phänomene von ‚Verhässlichung‘ spreche, weil – ästhetisch – jeder macht, was er will, dann bedeutet das ja nicht, dass dieses Urverlangen nach ‚Schönheit‘ völlig aus-



Einbettung dieses Gedankens in ästhetische Theoriebildungen siehe Scheer, Birgit, Gefühl, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, 629 – 660 (hier insbesondere 634 – 640) sowie Lüthe, Rudolf/Fontius, Martin, Geschmack/Geschmacksurteil, in: ebd., 792 – 819 (hier insbesondere 800 – 803). In den Eidyllia des griechischen Dichters Theokrit (3. Jahrhundert v. Chr.) heißt es im Idyll VI „Die Rinderhirten“ (Verse 18 –19) – in der Übersetzung des Wechselgesangs durch Eduard Mörike –: „Denn weißt Du, die Liebe / Nimmt ja was unschön ist oft gar für schön, Polyphemos.“

Ganz schön hässlich | Wilfried Lipp · Monika Leisch-Kiesl

gelöscht wäre. Ganz im Gegenteil: Wir leben in einer Zeit, in der das ‚Schöne‘ sogar eine ganz besondere Rolle spielt, wenngleich eine andere und möglicherweise pervertierte. Ich nenne paradigmatisch den physischen Schönheitskult, wie er in Fitness, Faltenlosigkeit und einer „Für immer jung“Ideologie zum Ausdruck kommt. M. L-  K.: An sich wollten wir vom ‚Hässlichen‘ sprechen; versuchst du auszuweichen, wenn du immer wieder auf das ‚Schöne‘ zu sprechen kommst? Oder siehst du im ‚Schönen‘ eine grundlegendere Qualität, angesichts derer man erst vom ‚Hässlichen‘ sprechen kann? W. L.: Ich möchte es so formulieren: Gehen wir einmal davon aus, dass es das ‚Schöne‘ gibt und dass das ‚Schöne‘ – auch heute noch – eine Herausforderung darstellt. Und weiter, dass das ‚Schöne‘ etwas ist, das man nicht nach einem Rezept, das diese und jene Zutaten braucht, herstellen kann, sondern dass es etwas ist, das historischen Bedingtheiten korreliert. Was aber durch die Zeiten hindurch gleich bleibt, ist, dass das ‚Schöne‘ etwas dem Alltäglichen idealtypisch Gegenübergestelltes ist. Das ‚Schöne‘ ist etwas, das über die Situation, in der man sich gewöhnlich befindet, hinausweist und darin Bereiche des Immateriellen tangiert. Das ‚Schöne‘ führt also über die lebensweltliche Praxis des Alltäglichen hinaus in andere, auch in metaphysische und transmundane Sphären. Damit ist das ‚Schöne‘ etwas, das Bereiche des Nicht-Profanen, man könnte auch sagen: des ‚Heiligen‘ tangiert. Insofern ist die Frage nach der ‚Verhässlichung‘ nicht nur eine Frage des Geschmacks, sie reicht tiefer. Deshalb versuche ich auch, sie an die Geschichte der Säkularisierung zu koppeln. M. L-  K.: Die Moderne hat, insbesondere in der Architektur, ein anderes ‚ästhetisches‘ Prinzip ins Spiel gebracht: „form follows function“. Wie würdest du diese Maxime zum Begriffspaar ‚schön‘ – ‚hässlich‘ in Beziehung setzen? W. L.: Die Moderne hat die Herausforderungen der Säkularisierung und Industrialisierung auf mannigfache Weise zu lösen versucht. Eines der erfolgreichsten – zum Slogan avancierten –

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Angebote war, die Nützlichkeit (alltäglicher Anforderungen) mit der Schönheit (der Form) in Einklang zu bringen. Grundsätzlich war das ein geniales Konzept: die schöne Form, die mit dem Zweck kongruent wird, die den Zweck selbst zum ‚schönen‘, anders gesagt zum ‚guten‘ Zweck erhöht. In dieser knappen Formulierung liegt das ganze Dilemma der Form-Funktion-Inhalt-Debatte. Wenn man den Slogan umkehrt und sagt: die Funktion folgt der Form, dann wird einem klar, dass es im Verhältnis von Form und Funktion Rivalitäten gibt. In der Vormoderne dominierten – sehr vereinfacht ausgedrückt – Form und Stil die Zwecke, wobei vielfach die Zwecke der Repräsentation die Wahl der künstlerischen Mittel heiligten. In der Moderne ist es umgekehrt: die Zwecke sanktionieren die Mittel – eben auch jene der ‚Verhässlichung‘. Damit wird deutlich: das ‚Schöne‘ ist keine Variable der Zweckrationalität. Das Credo purer Zweckrationalität würde letztlich auch die Liquidation der Kunst bedeuten, weil – wie schon Oscar Wilde im Vorwort des Dorian Gray anmerkte – „all art is quite useless“. M. L-  K.: Wird das ‚Schöne‘ damit zu einer bezugslosen Größe? Losgelöst von den Herausforderungen der Moderne? W. L.: Sagen wir so: Das ‚Schöne‘ nistet in den hergestellten Dingen als eine Poiesis, als Fähigkeit des gestalthaften InsWerk-Setzens. Das ‚Schöne‘ interessiert unabhängig von seinem Gebrauchswert, es erfreut unmittelbar durch die Sinne, losgelöst von Urteilen über die Zweckhaftigkeit. M. L-  K.: Du spielst auf Kant an? W. L.: Immanuel Kant hat die Zweckfreiheit des ‚Schönen‘, die ja nicht gleichbedeutend ist mit Zwecklosigkeit, in seiner Definition des „interesselosen Wohlgefallens“4 auf den Punkt gebracht. Diese Auffassung geht – vor Kant – zurück auf

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Bei Kant heißt es in der Kritik der Urteilskraft: „Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön.“ Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014, 124 (§ 5); und gleich im Anschluss: „Diese Erklärung des Schönen kann aus der vorigen Erklärung desselben, als eines Gegenstandes des Wohlgefallens ohne alles Interesse, gefolgert werden.“ Ebd., 124 (§ 6). Die Sperrungen des Originals sind kursiv hervorgehoben.

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den Third Earl of Shaftesbury, einen Schüler Lockes, der 1711 in den Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times darauf hinwies, dass bei Urteilen über die ‚Schönheit‘ die interesselose Haltung des Urteilenden Voraussetzung sei. Andere Interessen seien also auszublenden, um das ‚Schöne‘ als solches erkennen und genießen zu können.5 M. L-  K.: Worin siehst du die Aktualität von Kants Ansatz? W. L.: Kant hat in der Kritik der Urteilskraft (1790) hinsichtlich des ‚Schönen‘ deutlich zu machen versucht, dass ästhetische Urteile über das ‚Schöne‘ den Konflikten mit Interessen anderer Art standhalten müssen.6 Wie schwer das ist, wissen wir aus gegenwärtiger Praxis: Die heute dominanten Interessen der Zweckmäßigkeit, der Nützlichkeit, der Wirtschaftlichkeit, der Ökologie etc. überlagern, verdrängen und okkupieren das – ganz anders gelagerte – Interesse am Schönen. Um es schließlich als ident mit den Interessen der Wirtschaftlichkeit etc. zu deklarieren. Was wirtschaftlich nützt – wem? – ist schön. M. L-  K.: Zurück zum ‚Hässlichen‘. Begreifst du es also weniger als Kategorie für sich, sondern vielmehr als eine Kategorie, die sich nur in Beziehung zum ‚Schönen‘ erläutern lässt? Wäre das ‚Hässliche‘ dann ein Widerspruch zum ‚Schönen‘, ein Mangel an ‚Schönem‘, eine Degeneration des ‚Schönen‘? Ein Ergebnis bloßer Zweckrationalität? W. L.: So diametral liegen die Dinge in Wirklichkeit nicht. Es gibt gleitende Übergänge, Randzonen, Ersatzphänomene und vieles andere mehr. Es gibt auch das Phänomen des Rückverweises, d.h. dass durch das ‚Hässliche‘ die Sehnsucht nach dem ‚Schönen‘ erst geweckt wird. Das ‚Hässliche‘ kann durchaus ein Medium sein, um überhaupt den Begriff des ‚Schönen‘ in Erinnerung zu bringen oder die Sehnsucht nach dem ‚Schönen‘ zu wecken. Das ‚Hässliche‘ figuriert sozusagen als Kompensationsbefund.

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Vgl. Wölfel, Kurt, Interesse/interessant, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2001, 138 –174, hier insbesondere Abschnitt V „Interesselosigkeit“ (152 –162). Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, 115 –164 (Analytik des Schönen. §§ 1– 22).

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M. L-  K.: Also praktisch als Mangel. W. L.: … der sich in den vielen Formen des ‚Hässlichen‘ ausdrückt. M. L-  K.: Worin zum Beispiel? W. L.: Bleiben wir noch bei der Sphäre des – metaphorisch gesprochen – ‚Heiligen‘, des Außeralltäglichen, des metaphysische Pforten eröffnenden ‚Schönen‘. Warum hat in der profanen, durch und durch säkularisierten Welt das ‚Schöne‘ so eine andere Form angenommen? Weil das ‚Schöne‘ im klassischen Sinn – als „Hof des Heiligen“, des Außeralltäglichen – an den Menschen erhebliche Anforderungen stellt. Das ‚Schöne‘ fordert den Menschen heraus und ist eine große Bürde, derer man sich sozusagen durch „leichteres Gepäck“ entledigen möchte. M. L-  K.: Grenzt du hiermit das ‚Schöne‘ vom bloß ‚Angenehmen‘ oder ‚Hübschen‘ ab? W. L.: Dies zählt zu jenen Facetten, durch die man der Aufforderung des ‚Schönen‘, das sich an den Menschen als menschliches Wesen wendet und ihn fordert, ausweichen will. Da sind das ‚Heitere‘, das ‚Hübsche‘, der ‚Kitsch‘ oder auch die Maßlosigkeit, durch die Größe und Masse an sich zu Kriterien des ‚Schönen‘ hochstilisiert werden. Das sind Perspektivenverschiebungen, durch die man dem Anspruch entkommen möchte, dass das ‚Schöne‘ einen ergreift und zu einem anderen Menschen macht. Ich spreche von einem Ethos, das erkennen lässt, dass das ‚Schöne‘ und das ‚Gute‘ in irgendeiner Weise kongruent sind. Ich denke das Grundproblem besteht darin, dass es immer Versuche des Ausweichens gibt, weil einen dieses Ethos zu sehr angreift und in die Pflicht nimmt. Der Appell, den das ‚Schöne‘ an einen selbst stellt, ist eine starke Herausforderung, vor der die moderne, profane, säkulare Zivilisation vielfach ausweicht. Sie hat eben viele andere Dinge erfunden, die – klassisch – in den Analysen Walter Benjamins beschrieben sind: Phänomene der Zerstreuung, des Vergnügens, das Medium des Films, Praktiken des Schocks und der Aufmerksamkeits-Sti-

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mulation. Die Entwicklungen seither haben verschwenderisch zum Ersatz des ‚Schönen‘ beigetragen. M. L-  K.: Bleiben wir bei den Begriffen, die du vorher als diese Ausweichmanöver gegenüber dem ‚Schönen‘ im ethischen Sinne aufgezählt hast: das ‚Heitere‘, das ‚Hübsche‘, den ‚Kitsch‘. Würdest du diese Phänomene dann als ‚hässlich‘ bezeichnen? W. L.: ‚Kitsch‘ ist eine Verbiegung des ‚Schönen‘ zu einer oberflächlichen, zuweilen amüsanten Gefälligkeit. ‚Kitsch‘ depotenziert die Kalorien des ‚Schönen‘ in etwas leicht Verdauliches, ist also Fast Food des ‚Schönen‘. Man kann das dann auch einpacken und wegstellen. ‚Kitsch‘ ist gekoppelt mit Verfügbarkeit, mit konsumistischem Vergnügen. ‚Kitsch‘ ist eine Art der Verfälschung und Verfremdung des ‚Schönen‘ mittels all der Verlockungen, die es eben auch gibt. Man muss das nicht ganz schlechtreden – ‚Kitsch‘ hat in der Vielfalt der ästhetischen Objektivationen seinen Platz, den man aber als solchen auch erkennen müsste. Ich plädiere ja keineswegs dafür, dass jetzt alle ‚Kitschphänomene‘ generell verteufelt und alle Gartenzwerge exiliert werden sollen, aber man soll eben doch im Bewusstsein behalten, dass die Welt nicht zu einer Gartenzwergästhetik verkommen sollte, wie es die zunehmende „Disneyfication of the World“ befürchten lässt. M. L-  K.: Wir haben jetzt zunächst von ‚Kitsch‘ gesprochen. Welche Phänomene würdest du noch benennen, durch die sich die Kategorie des ‚Hässlichen‘ erhellen ließe? W. L.: Da gibt es sehr viele, natürlich auch außerhalb der Künste: Terror und Krieg, soziale Fragen, menschliche Kommunikation – Themenfelder ohne Ende. Aber bleiben wir in unseren Zuständigkeitsbereichen. Ich möchte auf ein Beispiel in den darstellenden Künsten hinweisen. Wir alle kennen in Oper und Schauspiel das Phänomen der Verfremdung des Historischen durch Inszenierungen. Ohne geradezu stereotyp wiederholtes und beliebig ausgespieltes Aufmarschieren von SS-Uniformen geht es offensichtlich nicht mehr, weil diese Potenziale des Schocks zur (im Übrigen inzwischen

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ermüdeten) Aufmerksamkeitssteigerung eingesetzt werden und damit ein Mittel zur Anwendung kommt, das paradoxerweise unter der Vorgabe der Aktualisierung und Vergegenwärtigung zur Verfremdung des Werks führt. Das Bemerkenswerte daran ist, dass diese „Regieeinfälle“ und Inszenierungen – so krude sie auch immer sein mögen – ja gerade nicht mit dem Signum des ‚Hässlichen‘ angeboten, sondern – ethisch gefirnisst – als neue ‚Wahrheit‘, die man dem Werk entborgen hat, verkauft werden. M. L-  K.: Oder möglicherweise als Spiel? W. L.: Natürlich als ein Spiel, das aber selbst sehr ernst genommen werden will. M. L-  K.: So wie du das ‚Schöne‘ auch als eine ethische Kategorie entwickelst, müsste man ja konsequenterweise auch im ‚Hässlichen‘ eine ethische Dimension benennen. Wir sprachen nun von Ausweichmanövern gegenüber den Anforderungen des ‚Schönen‘. Was würde dies dann für die Kategorie des ‚Hässlichen‘ bedeuten? W. L.: Ich glaube, man wird in der ganzen Diskussion um das ‚Schöne‘ und ‚Hässliche‘ nicht umhin können, diese im Laufe der Moderne von ihren angestammten Bojen losgerissenen Begriffscontainer wieder irgendwo festzumachen. Und da bleibt im menschlichen Philosophieren eigentlich nichts anderes als der Hafen der ‚Humanitas‘. Im ursprünglichen Sinne der Aufklärung sollte der Fortschritt ja zur Befestigung und Entwicklung der ‚Humanitas‘ führen, und vieles, was die Möglichkeiten der Technik und des zivilisatorischen Fortschritts eröffnet haben, beflügelte die diesbezüglichen Hoffnungen. Aber wie wir wissen, gab und gibt es auch verheerende Schattenseiten, die wir jetzt nicht aufzuzählen brauchen. Die von mir vorgebrachte Rückbesinnung auf die Koppelung des ‚Schönen‘ mit dem Außeralltäglichen, das jenseits des Profanen sozusagen im „Hof des Heiligen“ anzusiedeln wäre, kann in einer durch und durch profanen Welt eigentlich nur an den Begriff der ‚Humanitas‘ gekoppelt sein. Bleiben wir zum Beispiel beim Städtebau und der Vertikalisierung der

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Städte, die überall Platz greift. Ist es eine Entwicklung der ‚Humanitas‘, dass Menschen in „Personenschließfächern“ im 38. Stock oder sonst wo untergebracht sind? Ist das die Entwicklung, die sich der aufgeklärte Mensch erträumt hat? Wäre das dann der Gipfel der ‚Schönheit‘: sozialer Aufstieg, konfektionierter Komfort und schöne Aussicht? Sind die Tiger Cities in China Muster, die mit dem Begriff der ‚Schönheit‘ zu etikettieren wären? Dabei will ich gar nicht absprechen, dass das eine oder andere formal im Sinne typologischer Entwicklungen interessant sein mag. ‚Interessant‘ ist im Übrigen auch eine Ausweichkategorie des ‚Schönen‘.7 M. L-  K.: Das heißt? W. L.: Als Fazit bleibt, dass man als Haltegriff von Definitionen des ‚Schönen‘ den Gedanken der ‚Humanitas‘ immer miteinbeziehen sollte. M. L-  K.: Und das ‚Hässliche‘ wäre dann der Gegensatz dazu? W. L.: Es gibt jedenfalls in der Zivilisationsgeschichte der Menschheit viele Dinge, die am ‚Humanitas‘-Gedanken vorbeizielen und Entwicklungen des Inhumanen – in der Moderne oftmals in den geschönten Zügen des ‚Hässlichen‘ – forcieren. M. L-  K.: ‚Schönheit‘ gebunden an ‚Humanitas‘ bedeutet für dich also auch wegzugehen vom Modell subjektiver ästhetischer Urteile? W. L.: Die kritische Distanz zur Ermächtigung rein subjektiver Urteile ist eine Sache, eine andere ist die Relativierung des Begriffs von ‚Schönheit‘. Natürlich kann man auch innerhalb der Hochhaus-Kultur befinden: Das hier sind qualitativ bessere Bauten und das dort sind ganz grausliche Schachteln. Aber ich denke nicht, dass es dafür das Konzept des ‚Schönen‘ braucht. Das ‚Schöne‘, wie ich es hier begreifen möchte, ist im Bereich des über das Profane Hinausweisenden angesiedelt. Was uns am ‚Schönen‘ ergreift, ist, dass es 7

Vgl. auch die Beobachtung bei Seel, Martin, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt a. M. 2014, 362 zu bestimmten „Wertwörtern“ als „Stellvertreter“-Begriffen für ‚schön‘.

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über unsere Vorstellung, über unser Vermögen, über unser Können, über unsere Kenntnis und Kreativität hinausgeht. Das ist ja auch wesentlich der Impetus der Kunst, dass man in diese außergewöhnlichen Bereiche vordringt oder zumindest näher dorthin kommt. M. L-  K.: Du hast in deinem Vortrag auch Phänomene der modernen Kunst angesprochen, die explizit mit dem Schock operieren – Stichwort: Futuristen. Wie beurteilst du deren Strategien vor dem Hintergrund des ‚Hässlichen‘, wie du es hier zu entwickeln suchst? W. L.: Es ist ein Beispiel für die Verherrlichung des ‚Hässlichen‘, gipfelnd in der Verherrlichung des Krieges. Und gerade das ist ein besonderes Phänomen der Zivilisationsgeschichte und auch der unmittelbaren Gegenwart: ein Umdichten, dass das ‚Hässliche‘ für letztlich ‚schön‘ erklärt. Das zeigt, dass das Bedürfnis nach ‚Schönheit‘ nach wie vor besteht. Aber man will oder kann es sich nicht eingestehen, dass man mitunter klar sagen müsste: Das ist ‚hässlich‘. Und wie entkommt man dem Konflikt? Aufs Einfachste, indem man es für ‚schön‘ erklärt. Denken wir an die Emporwertung Marcel Duchamps. Er nahm ein seriell hergestelltes Pissoir, erklärte es zum Kunstwerk, und weil es ein Kunstwerk ist, ist es nun auch wertvoll und ‚schön‘ – oder auch nicht ‚schön‘. Ganz bewusst das Alltägliche in die Sphäre der Kunst zu holen und damit per se in die Sphäre des Außeralltäglichen, hat die Ästhetik gewissermaßen auf den Kopf gestellt. M. L-  K.: Würdest du dich darin Hans Sedlmayrs Verlust der Mitte anschließen? W. L.: Meine erste Vorlesung an der KTU Linz8 hielt ich über Sedlmayrs Verlust der Mitte. Ich habe damals viel auch für mich gelernt, vor allem diesen gleichermaßen bejubelten und verteufelten Bestseller der Kunstgeschichte9 im Ab8 Damals Katholisch-Theologische Privatuniversität Linz (KTU Linz), seit 2015 Katholische Privat-Universität Linz (KU Linz). Der Titel der Vorlesung im Wintersemester 2005/06 lautete „Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Eine kritische Revision. Lektüre – Rezeption – Wirkungsgeschichte“. 9 Sedlmayr, Hans, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit, Salzburg 1948. Das Buch erfuhr bereits in den ersten Jahren nach Erscheinen mehrere Auflagen und wurde – und wird bis heute – vielfach neu aufgelegt.

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stand von Jahrzehnten möglichst ohne die Färbungen des Zeitkolorits und ohne ideologisches Vor- und Verurteilen zu lesen und zu interpretieren. In unserem Zusammenhang bleibt vielleicht die Anknüpfung, dass der hier gebrauchte Begriff der ‚Humanitas‘ eine ähnliche Ankerfunktion besitzt wie Sedlmayrs Begriff der ‚Mitte‘. M. L-  K.: Und wo siehst du darin die Verbindung zu Duchamp? W. L.: Hinter der Verkunstung des Alltäglichen stehen letztlich Konzepte, die ihre idealistischen und romantischen Wurzeln in den Modellen der Vermählung von Kunst und Leben haben. Die Frage ist: Auf welcher Ebene schaffe ich das? Wenn ich es nicht ganz nach oben schaffe, versuche ich es ganz unten zu schaffen. Das ist leichter und schneller. Dazu gehören – wie erwähnt – der ‚Kitsch‘, die Unterhaltung, die Zerstreuung, dazu gehören Phänomene wie Warenhaus und Schaufenster, gewissermaßen die Ästhetik des kleinen Mannes, der in die PlusCity10 fährt und im Repro-Venedig seinen Cappuccino trinkt. Fake, Illusion, Ersatzbefriedigungen für das ‚Schöne‘, das außer Reichweite geraten beziehungsweise ins Museum oder Archiv gewandert ist. Bei Stendahl findet sich ein Satz von beißendem Spott: „In den Augen von Spießbürgern ist Karikatur Schönheit.“11 M. L-  K.: Würdest du dieses ‚Ersatz-Schöne‘ mit dem Signum des ‚Hässlichen‘ qualifizieren? W. L.: Schon in der Tatsache, dass das ‚Schöne‘ auch in unserer Gegenwart ein Sehnsuchtsmotiv par excellence geblieben ist, das umso stärker nach Einlösung drängt, je weiter die Ersatzangebote sich davon entfernen, ist ein Zeichen, dass die Suche nach erlösenden Wegen virulent ist. Eine Markierung für einen Pfad aus dem Verhässlichungslabyrinth bietet vielleicht das antike Katharsis-Konzept, das in Tragödien und Dramen durch Einsicht und Läuterung neue Sinnperspektiven eröffnet. Auch – und gerade – in Übersetzungen liegen u.a. vor ins Englische, Spanische, Italienische, Japanische und Rumänische. 10 Eines der Einkaufszentren am Stadtrand von Linz – wie man sie in jeder mittleren und großen Stadt antrifft. 11 Stendhal, Die Kartause von Parma [1839], Frankfurt a. M. 1997, 308.

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der Moderne ist ein Potenzial verborgen, Empfindungen der Katharsis auszulösen. Die „Kunst des Schreckens“, wie das Paul Virilio einmal genannt hat,12 weist in eine ähnliche Richtung. M. L-  K.: Du sprichst viel über Phänomene der Alltagskultur und urbaner Entwicklungen. Das hängt wohl, wie du eingangs bemerkt hast, stark mit deinem Tätigkeitsfeld zusammen. W. L.: Lass’ es mich so sagen: Meine berufliche Praxis hat auf der damit verbundenen Reflexionsebene eine Vielzahl an Fragen provoziert, die ich als Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler zu beantworten suche. Die Erfahrung des Umdeutens, des interpretativen Neubewertens zählt dazu. Also – in unserem Kontext – das Umdeuten vom ‚Hässlichen‘ in das ‚Schöne‘. Ein guter Indikator für derartige Prozesse ist im Übrigen immer auch die Mode. Nehmen wir zum Beispiel die Punk-(Sub-)Kultur, die dann, auf ‚schön‘ umgedeutet, zur positiv konnotierten Mode wurde. M. L-  K.: Du meinst die Beobachtung, dass an sich provozierende Elemente von der Mode rezipiert und dann allgemein ‚tragbar‘ werden? W. L.: Ja, tragbar und sogar vorbildlich. Es lassen sich ununterbrochen derartige Vorgänge beobachten. Die Popkultur ist nur ein Phänomen dieses ständigen Umdeutens. M. L-  K.: Jetzt nochmals stärker zugespitzt auf dein Tätigkeitsfeld, sei es Denkmalpflege sei es der komplexe Bereich von ICOMOS13: Geht es letztlich darum, das ‚Schöne‘ zu retten, es vor dem ‚Hässlichen‘ zu bewahren? W. L.: Bildlich gesprochen könnte man sagen, dass man als Denkmalpfleger als Seiltänzer zwischen den Polen von ‚schön‘ und ‚hässlich‘ agiert, immer bemüht, die Balance des ‚Schönen‘ zu wahren. Nun hat sich aber auch der

12 Vgl. Virilio, Paul, Die Kunst des Schreckens, übers. v. Bernd Wilczek (Internationaler Merve-Diskurs 238), Berlin 2001, in dem die Vorträge Eine gnadenlose Kunst (1999) und Die Kunst des Schreckens (2000) enthalten sind. 13 Der International Council on Monuments and Sites / Internationale Rat für Denkmalpflege (ICOMOS) wurde 1965 in Warschau gegründet und umfasst heute nationale Komitees in mehr als 120 Ländern.

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Denkmalbegriff im Laufe des 20. Jahrhunderts dahingehend gewandelt, dass das zu Bewahrende sich vom Pol des ‚Schönen‘ – erfasst im Begriff des Kunstdenkmals – ins freie und weite Feld des historischen Dokuments erweitert hat, einschließlich der Dokumente des Grauens und der ‚In-Humanitas‘, einschließlich also auch der Dokumente des ‚Hässlichen‘. M. L-  K.: Das ist ein grundlegend anderer Ansatzpunkt. W. L.: Ergänzend dazu: Ich habe einmal in einem Vortrag in Berlin im Anschluss an die aus der Antike überlieferte und durch Francis Bacon Anfang des 17. Jahrhunderts populär gewordene Formel „Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit“14 darauf hingewiesen, dass auch der Irrtum eine Tochter der Zeit sei. Es gibt viele ästhetische und ethische Verirrungen, die man unter diesem Gesichtspunkt auch denkmalbegrifflich erfassen und dokumentieren will, wie etwa ehemalige Konzentrationslager, die als Mahn- und Erinnerungsmal, als Topografie des Terrors an die katastrophischen Irrläufe der Geschichte erinnern sollen. Aber ursprünglich galt die Verantwortung der Denkmalpflege schon dem ‚Schönen‘, gekoppelt mit dem ‚Erhabenen‘ und dem transprofan ‚Heiligen‘. Zu Beginn der sogenannten modernen Denkmalpflege ab dem 18. Jahrhundert war diese Koppelung eindeutig gebunden an das Erlebnis und die Entdeckung des Mittelalters als „heimische Antike“, verknüpft mit dem Gedanken, dass das noch eine Zeit gewesen sei, in der man Gott näher war. In der Wiederherstellung des Kölner Doms ab dem frühen 19. Jahrhundert kommt zur spirituellen Dimension der Entdeckung des Mittelalters noch das nationale Motiv gesellschaftlicher Gründung und Legitimation hinzu. Die Trias Kunst – Geschichte (einschließ14 Aulus Gellius (2. Jahrhundert n. Chr.) bringt das Bild in den Noctes Atticae (Liber 12, Cap. 11, 7), der eigentliche Urheber sei ihm aber nicht mehr erinnerlich: „[…] quidam veterum poetarum, cuius nomen mihi nunc memoriae non est, Veritatem Temporis filiam esse dixit.“ Bei Francis Bacon begegnet die Formulierung im Novum Organum (1620): „Recte enim Veritas Temporis filia dicitur, non Authoritatis.“ Bacon, Francis, Neues Organon. Lat.-Dt., Teilband 1, hg. u. m. e. Einl. v. Wolfgang Krohn (Philosophische Bibliothek 400a), Hamburg 1999, 180 (Aphorismus 84, 191) – Wolfgang Krohn verweist in der Anmerkung (ebd.) neben Aulus Gellius auch auf Aischylos’ Prometheus in Fesseln (Vers 981), wo Prometheus sagt, die Zeit „lehrt in ihrem Fortgang alles.“ Man kann dies nicht nur als relative Wahrheit(en) der Zeit(en) deuten, sondern natürlich auch als Zu-TageTreten der einen Wahrheit mit der Zeit.

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lich der christlichen Glaubensgeschichte) – Nation fand im Kunst- und Nationaldenkmal Kölner Dom seinen Ausdruck. Seither ist aber auch dieses Monument immer mehr in die Perspektivik eines Zeitdokuments geraten. M. L-  K.: Das heißt: Eine gewisse Relativierung auch hier? W. L.: Ein Beispiel dazu aus der Praxis: Ich erinnere mich gut, dass viele Bürger und Denkmaleigentümer die Koppelung des Bedeutenden mit dem ‚Schönen‘ stark verinnerlicht haben. Als ich einmal ein durchschnittliches Objekt im Rahmen der Unter-Schutz-Stellung eines altstädtischen Ensembles aufgenommen habe, hat mich der Eigentümer – um die Schutzwürdigkeit seines Hauses zu relativieren – gefragt: „Was soll daran schön sein?“ Er hat das Erhaltungsgebot also ganz selbstverständlich mit dem Begriff der ‚Schönheit‘ verbunden. Zur ‚Schönheit‘ und zur Bedingtheit des ‚Schönen‘, auch im Hinblick auf die Koppelung mit der ‚Humanitas‘, kann man jedenfalls sagen: das ‚Schöne‘ ist verbunden mit der Vorstellung des Eingebettet-Seins. Das heißt, der Schönheitsbegriff ist eben auch, wie schon erwähnt, ein Sehnsuchtsbegriff. Das ‚Schöne‘ vermittelt etwas wie eine geistig-seelische und physische Geborgenheit. ‚Beauty‘ und ‚embedding‘ gehören zusammen. Die Erfahrung lehrt, dass wir heute in einer Zeit des ‚disembedding‘, der Entbettung leben – Stichworte: Emigration, Asyl, Fluktuation, Flexibilität etc. Das gibt – im Rückkehrschluss – auch Aufschlüsse über die Zuordnungen von ‚schön‘ und ‚hässlich‘. Es geht immer um Erfahrungen, etwas verloren zu haben. Wenn man z.B. Biographien liest, werden Erlebnisse der Kindheit überwiegend als ‚schön‘ dargestellt: „Ach, war das noch schön, als es das und jenes noch gegeben hat!“ Der Begriff der ‚Schönheit‘ hat also mit dieser Einbettung in das Dasein zu tun. Das kann jedoch – wieder ein Paradoxon – durchaus auch etwas sein, das man unter rein abstrakten ästhetischen Kategorien (ohne Bindung an die ‚Humanitas‘) als ‚hässlich‘ beurteilen würde. Auch Kinder, die in Slums groß geworden sind, erinnern sich, trotz der elenden Zustände, an Empfindungen des ‚Schönen‘, die eng verbunden sind mit Momenten der Zuwendung und

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Geborgenheit, so trist die Verhältnisse auch gewesen sind. Vertrautheit und ‚Schönheit‘ sind also ein Geschwisterpaar, und daraus erklärt sich, dass in einer Welt radikal beschleunigten Wandels mit all seinen Traditions- und Kontinuitätsbrüchen der Vertrautheitsschwund auch als Entfernungs- und Entfremdungsprozess des ‚Schönen‘ wahrgenommen wird. In solchen historischen Situationen haben die Umdeutungsideologien – auch die ästhetischen – Konjunktur. Zum Beispiel die Umdeutung der gewaltigen Veränderungen im architektonischen und kulturtechnischen Bereich: Stadtverdichtung, Autobahnen, Windräder (Abb. 1), Solaranlagen, Wärmedämmung etc. werden umgedeutet, sind nun ‚schön‘, weil nützlich und ökonomisch erstrebenswert. Eine ganze Industrie steht dahinter, um diese Dinge als ästhetisch umzudeuten und zu sagen: „Nein, das ist nicht ‚hässlich‘, sondern schön!“ Lärmschutzwände sind doch wunderbar – oder doch nur „ganz schön hässlich“? Insgesamt gesehen wird man von einem durchgreifenden ästhetischen Paradigmenwechsel sprechen können, in welchem das vormals ‚NichtSchöne‘, das Fragmentarische, Kontrastierende, Maßlose, Gegensinnige, zum ‚Schönen‘ umgewertet wird. M. L-  K.: Ein ästhetischer Paradigmenwechsel angesichts gegenwärtiger gesellschaftlicher Herausforderungen? W. L.: Dieser Prozess des Umwertens strapaziert, denke ich, die Grenzen der Toleranz. Was ist tolerierbar und was nicht mehr? Einerseits fühlen wir uns einer pluralistischen Gesellschaft mit all ihren Divergenzen zugehörig, andererseits macht uns diese Situation der Orientierungsproblematik auch zu schaffen. Toleranz ist in Zeiten des beliebigen, plural und antagonistisch definierten ‚Schönen‘ in der Tat gefordert. Daher durchaus Nachsicht gegenüber Spielarten des Ersatz-Schönen, die gewissermaßen in das weite Feld schlechten Geschmacks fallen. Aber Null-Toleranz gegenüber ‚aggressiver Hässlichkeit‘, gegenüber programmatischer und ideologisch basierter ‚Verhässlichung‘, gegenüber der Etablierung einer verkehrten Welt des ‚Schönen‘.

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M. L-  K.: Verkehrte Welt des ‚Schönen‘, das heißt – und kam in unserem Gespräch ja vielfach zum Ausdruck –, dass es, trotz oder gerade wegen aller Strategien des Umdeutens, letztlich um das ‚Schöne‘ geht? W. L.: Ja, das ‚Schöne‘ ist nicht außer Kraft zu setzen und alle Propaganda der Umdeutungsrhetorik verstärkt kathartisch – hoffen wir es zumindest – das Empfinden, dass das ‚Schöne‘ unverzichtbar ist. M. L-  K.: Abschließend würde ich gerne noch auf einen anderen Begriff zu sprechen kommen, den du in deinem Vortrag ebenfalls angesprochen hattest: das ‚Komische‘. Was hilft, was schadet es? W. L.: Das ‚Komische‘ zählt zum Spektrum der dem ‚Schönen‘ anliegenden Kategorien und Ersatzkategorien und ist grundsätzlich ein notwendiges und positives Ventil: um sich von Zwängen zu befreien, um über etwas lachen zu können oder auch um etwas zu provozieren, um aus festgefahrenen Mustern herauszukommen. Das ‚Komische‘ wird man unterscheiden müssen vom Lächerlichen – etwas, worüber man nur lachen kann. Wie verhält es sich nun mit dem ‚Komischen‘ in der Kunst? Wir wissen, es gibt das ‚Komische‘ primär in den darstellenden Künsten, als eine Befreiung aus Zwängen des Alltags oder auch der Politik – Stichwort: Kabarett. Gibt es das ‚Komische‘ aber auch in der Architektur und der bildenden Kunst? Sicher, in Darstellungen von Sujets komischer Situationen, in denen das ‚Komische‘ manchmal auch in den Witz übergeht. Aber in der Architektur? Das ist eine Frage, die man nicht so leicht beantworten kann. Das ‚Komische‘, denke ich, ist etwas Ephemeres, das nicht auf Dauer zu stellen ist. M. L-  K.: Das leuchtet ein! W. L.: Wenn du denselben Witz zwanzig Mal gehört hast, kennt ihn jeder, dann ist er abgeklatscht, hat einen langen Bart und niemand lacht mehr darüber. Das heißt, das ‚Komische‘ – darum gibt es ja auch den Begriff Situationskomik – ist

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immer etwas Ephemeres und Überraschendes. Von allen Randphänomenen des ‚Schönen‘ ist das ‚Komische‘ wohl das sympathischste.

Literatur Bacon, Francis, Neues Organon. Lat.-Dt., Teilband 1, hg. u. m. e. Einl. v. Wolfgang Krohn (Philosophische Bibliothek 400a), Hamburg 1999 Hume, David, Of the Standard of Taste, in: id., Essays. Moral, Political, and Literary, Vol. 1 (David Hume. The Philosophical Works in 4 Volumes, ed. by Thomas Hill Green and Thomas Hodge Grose, Vol. 3), London 1882 [Nachdr. Aalen 1964], 266 – 284 Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014 Lüthe, Rudolf/Fontius, Martin, Geschmack/Geschmacksurteil, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, 792 – 819 Perrault, Charles, Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences, m. einl. Abh. v. Hans Robert Jauß u. kunstgeschichtl. Exkursen v. Max Imdahl, Faksimile-Druck d. vierbänd. Orig.-Ausg. Paris 1688 –1697 (Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste 2), München 1964 Scheer, Birgit, Gefühl, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001, 629 – 660 Sedlmayr, Hans, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symbol der Zeit, Salzburg 1948 Seel, Martin, Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt a. M. 2014, 362 Stendhal, Die Kartause von Parma [1839], Frankfurt a. M. 1997 Virilio, Paul, Die Kunst des Schreckens, übers. v. Bernd Wilczek (Internationaler MerveDiskurs 238), Berlin 2001 Wine, Humphrey, Ancients and Moderns, Quarrel of the [Fr. Querelle des Anciens et des Modernes], in: Turner, Jane (Ed.), The Dictionary of Art, Vol. 1, London 1996, 897 – 898 Wölfel, Kurt, Interesse/interessant, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2001, 138 –174

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Das Hässliche* Max Gottschlich

Das Hässliche wird in der philosophischen Tradition1 als Negation des Schönen bestimmt. Das Verständnis dessen steht und fällt mit dem Verständnis von Negation. Daher wollen wir erstens der Frage nachgehen, was hier Negation bedeutet. Im Ausgang davon werden wir den Begriff des Hässlichen skizzenhaft vorführen, und zwar im Anschluss an Karl Rosenkranz’ Ästhetik des Häßlichen (1853).2 Dieses an Hegel anknüpfende Werk hat zwar gewisse Mängel. Diese bestehen nicht darin, wie die übliche Kritik lautet, dass Rosenkranz zwar das Phänomen des Hässlichen gedanklich durchdrungen hätte, aber noch „idealistisch“ verblieben sei, da er das Hässliche dem Schönen unterordnet und fordert, dass dieses sich aufhebt.3 Diese Kritik verabsolutiert die partikulare moderne Perspektive einer Kunst eines „befreiten Hässlichen“ bzw. eines „Jenseits von schön und hässlich“ und übersieht, dass dieser Standpunkt eine Genesis hat, die ohne einen Vernunftbegriff des Hässlichen, um den sich Rosenkranz bemüht, unbegreiflich bleiben muss. Die beiden Hauptmängel, die wir in dieser Arbeit nur nennen können, bestehen vielmehr darin, dass die Gesamtsystematik die * 1

Für wertvolle Kritik und Hinweise danke ich Leo Dorner und Thomas Sören Hoffmann. Für einen Überblick über die begriffsgeschichtliche Entwicklung vgl. Kliche, Dieter, Häßlich, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2001, 25 – 66 sowie Zelle, Carsten, Das Häßliche, in: Ueding, Gert (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1304 –1326. 2 Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Häßlichen, hg. u. m. Nachw. v. Dieter Kliche, Leipzig 2 1996. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden in Fließtext und Anmerkungen unter bloßer Angabe der Seitenzahl in runder Klammer zitiert bzw. auf diese verwiesen. 3 Diese Ansicht finden wir prominent vertreten bei Adorno, wenn er Rosenkranz eine „harmonistische Ansicht vom Häßlichen“ unterstellt. Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 7), Frankfurt a. M. 2003, 75.

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syllogistische Struktur: Schönes – Hässliches – Komisches haben soll. Dass das Schöne letztlich im Komischen wahrhaft zu sich kommen soll, ist aus systematischer Perspektive problematisch. Der zweite Aspekt ist, dass Rosenkranz in Bezug auf die Kunst eine klassizistische Normativität voraussetzt (als könnte es ein stets neu zu produzierendes Kunstschönes geben), wodurch auch die spezifische Bedeutung des Hässlichen für das Selbstverständnis der modernen Kunst nicht in den Blick zu kommen vermag.4 Gleichwohl ist dieses Werk zur spekulativen Durchdringung des Hässlichen nach wie vor grundlegend und unumgänglich.5 I. Negationstheoretische Grundlagen

Das Hässliche hat seine Bestimmtheit in Bezug auf das ihm Entgegengesetzte, das Schöne, und zwar als dessen Negation. Diese grundsätzliche Verhältnisbestimmung wird seit dem 19. Jahrhundert, zunächst im Rahmen von Künstlerästhetiken, bestritten. Der Grundeinwand lautet, dass das Hässliche nicht nur in Relation auf das Schöne bestimmt sei, sondern etwas Selbständiges, ein „ästhetischer Wert“ sui generis sei.6 Diese Position artikuliert, wie wir sehen werden, eine Perspektive, die im Rahmen der modernen Kunst entstanden ist und dort ihr Recht hat, gleichwohl nicht verabsolutiert werden darf, und zwar weder in Bezug auf die vormoderne Kunst, noch in Bezug auf die sonstigen Wirklichkeitsweisen des Hässlichen in der Natur und im Geist. Wir wollen also mit Rosenkranz zunächst davon ausgehen, dass die philosophische Tradition nicht darin irrte, wenn sie das Hässliche als Negation bestimmt.7 Negation kann Verschiedenes bedeuten: 4

Zur Unterscheidung von moderner und vormoderner Kunst vgl. Dorner, Leo, Traktat über vormoderne und moderne Kunst, Würzburg 2010. Eine konzise Würdigung gibt Scheer, Brigitte, Zur Theorie des Häßlichen bei Karl Rosenkranz, in: Klemme, Heiner F./Pauen, Michael/Rater, Marie-Luise (Hg.), Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, Bielefeld 2006, 141–155. 6 Auf Kant beruft sich dazu Kulpen, Mojca, The Aesthetic of Ugliness – A Kantian Perspective, in: Dorsch, Fabian/Ratiu, Dan-Eugen (Ed.), Proceedings of the European Society for Aesthetics. Volume 5, 2013, Fribourg 2013, 260 – 279. 7 Rosenkranz setzt ebenfalls mit einer Betrachtung des Negativen ein (16 –18), die allerdings nur zwei knappe Abgrenzungen vornimmt: Das Negative überhaupt könne als nicht-sinnlicher Begriff nicht hässlich sein und der Begriff des Unvollkommenen sei noch nicht zureichend, um das Hässliche zu begreifen. Die hier erwähnten Bedeutungen des Negativen ergeben sich im Gang der Hegelschen Logik. 5

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1) Das Hässliche kann zunächst gefasst werden als Mangel oder Privation, als bloße Abwesenheit des Schönen.8 Das Lateinische deformitas reflektiert zunächst den höchsten Gegensatz bei Aristoteles, nämlich jenen von Form (ei®doß, morfä) und Mangel an Form (stérhsiß). So wäre das Hässliche nichts für sich, nichts als das Leere. Dieser Negationsbegriff scheint noch zu abstrakt zu sein, denn in ihm ist noch unterbelichtet, dass der Mangel nur die Seite des Resultats ist, die die tätige Seite der Negation im Sinne der Destruktion der Form voraussetzt, aber außer sich hat. Wir meinen doch: das Hässliche ist auch etwas für sich. 2)  Das Hässliche kann nun gefasst werden als Etwas für sich, das dem Schönen als einem anderen Etwas gegenübersteht. Wir haben hier das (mit Hegel gesprochen: seinslogische) Verhältnis Etwas – Anderes. Hier ist das Negative als Qualität oder unmittelbare Bestimmtheit gefasst. Aber: die Qualität „hässlich“ hat ihre Bestimmtheit nicht unmittelbar für sich, in ihrer Isoliertheit als ein Etwas neben der Qualität „schön“ als einem anderen, sondern beide sind aufeinander wesentlich bezogen. 3)  Das Hässliche ist in der Tat ein wesentlich relationaler Begriff. Das Hässliche ist nicht konzipierbar ohne Relation auf den ihm entgegengesetzten Begriff des Schönen. Die Relata schön-hässlich haben ihre Identität, ihre Bestimmtheit nicht unabhängig von ihrer Relationalität, sondern in ihrer Relationalität. Hegel spricht in diesem Zusammenhang von Reflexionsbegriffen (z. B. Identität – Unterschied, Positives – Negatives, Ursache – Wirkung, Inneres – Äußeres, gut – böse, Licht – Dunkel). Wenn das Hässliche daher seine Identität nicht unmittelbar in sich hat (das hat kein Begriff), sondern in seiner Beziehung auf den entgegengesetzten Begriff, muss die nächste Frage lauten: Wie ist dieser Gegensatz zu denken? Bevor wir diese Frage beantworten können, müssen wir zwei Gegensatzformen festhalten: a) Konträrer Gegensatz: Die Beziehung zweier Urteile („x ist schön“, „x ist hässlich“) ist dann konträr, wenn sie nicht zugleich wahr, jedoch zugleich falsch sein können. Hier gibt es ein Mittleres, mehrere Möglichkeiten, auf jeden Fall eine dritte 8

So bei Thomas von Aquin als „privatio ordinis“ oder „privatio pulchritudinis“. Vgl. Kovach, Francis J., Die Ästhetik des Thomas von Aquin. Eine genetische und systematische Analyse (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 3), Berlin 1961, 194.

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Möglichkeit. Etwa die Farben: was nicht rot ist, muss nicht blau sein, es gibt auch die Möglichkeit grün usw. Hier geht es um den Gegensatz im Sinne der bloßen Verschiedenheit. Was wäre in unserem Falle das Dritte zu den Entgegengesetzten? Etwas, das weder schön noch hässlich ist, ein Indifferentes. Es gibt ja, so scheint es, das ausgeschlossene Dritte: wie etwa beim Gegensatz gut – böse die Unschuld oder in Bezug auf Wahrheit und Irrtum die Unwissenheit. Denken wir an die Kinder. Schön und hässlich wären dann gefasst als Arten einer Gattung und diese Gattung selbst wäre dann das Dritte. Aber was wäre dieses Dritte? Welche Kategorie verhält sich zu schön und hässlich als Gattung zu ihren Arten? Die Tradition lehrt, dass es so etwas nicht geben kann, denn es handelt sich um Transzendentalien. Freilich: die Rede von den „nicht-mehr-schönen“ Künsten behauptet genau dies, dass der Gegensatz zwischen schön und hässlich nur konträr ist. Man will damit behaupten: Nichtmehr-schön bedeutet eben nicht einfach hässlich (im Sinne der bestimmten Negation von schön), sondern eine unbestimmte Negation: ein Jenseits von schön und hässlich.9 b)  Kontradiktorischer Gegensatz: Zwei Urteile sind kontradiktorisch, wenn beide nicht zugleich wahr oder zugleich falsch sein können, wenn also aus der Wahrheit des einen Urteils die Falschheit des anderen Urteils geschlossen werden kann und umgekehrt. Dies spricht sich im Prinzip des ausgeschlossenen Dritten aus: Von entgegengesetzten Bestimmungen muss einem Ding bzw. einem sogenannten Begriff eine der entgegengesetzten Bestimmungen zukommen (entweder – oder). Dies ist ein ausschließender Gegensatz. Das würde bedeuten: alles, was ist, ist entweder schön oder hässlich, es gibt kein Drittes. So wie jede Handlung immer im Zeichen der Differenz von gut und böse steht. 4)  Auch wenn wir es zunächst offen lassen, ob der Gegensatz von schön – hässlich konträr oder kontradiktorisch zu fassen ist, ist zu sehen, dass es in beiden Weisen der Bestimmung des Gegensatzes wiederum zwei Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung gibt:

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Es ist kein Zufall, dass in der Moderne damit zugleich der Anspruch einer Unschuld in der Kunst verknüpft wird. Dass diese Unschuld im Produzieren des Kunstwerks in der Moderne verloren gegangen ist, spricht sich paradigmatisch in Charles Baudelaires Die künstlichen Paradiese (1860) aus.

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a)  Beide Seiten des Gegensatzes sind gleichrangig, koordiniert. Das würde bedeuten: ich kann etwas als hässlich nur erfahren vor der Kontrastfolie des Schönen. Ich kann aber genauso etwas Schönes nur erfahren vor der Kontrastfolie des Hässlichen.10 In welcher Weise müsste das Schöne dann relativ auf diese Kontrastfolie sein? Gibt es dann kein schönes natürlich Seiendes oder Kunstwerk, das nicht das Hässliche an sich hat? b)  Beide Seiten stehen einander nicht gleichrangig gegenüber, denn eine Seite ist sie selbst und das ihr Entgegengesetzte, die Einheit der Entgegengesetzten. Es verhält sich hier, um ein Beispiel zu bringen, wie mit dem Gegensatz des Subjektiven und Objektiven. Das Subjekt ist nicht nur eine Seite der SubjektObjekt-Relation – dies wäre eine Verdinglichung –, sondern die Einheit beider Seiten. Es gilt zwar: ohne Subjekt kein Objekt und in gewisser Weise auch ohne Objekt kein Subjekt. Aber: das Objekt unterscheidet sich nicht von sich, das Subjekt sehr wohl. Denken wir an den Gegensatz von gut – böse. Platon lehrt, dass das Böse „weder ausgerottet werden“ noch „bei den Göttern seinen Sitz haben“ könne, sondern das u™penantíon, wörtlich übersetzt: das „Unter-Entgegengesetzte“ sei.11 Es steht nicht auf einer Ebene mit dem Guten, was sich daran zeigt, dass das Gute Selbstzweckhaftigkeit impliziert, das Böse aber nie Selbstzweck sein kann. Auf das Verhältnis von Schönem und Hässlichem angewandt: es gibt kein Hässliches (Natur, Kunst), das zu seiner Erfahrung und Beurteilung unabhängig von der Relation auf das Schöne wäre. Das Schöne dagegen ist schön, aber nicht unabhängig vom Hässlichen, sondern indem dieses in das Schöne als Moment – d. h. als unselbständige Bestimmung – aufgenommen wird.12 Wir sind an dem Punkt angelangt, wo das Denken von Negativität im Sinne Hegels gefordert ist. Dazu ein Hinweis. Wir sagen oft: Schönes und Hässliches verhalten sich wie Positives und 10 Diese Logik der wechselseitigen Kontrastfolie liegt der Ästhetik der „nicht-mehr-schönen“ Künste zugrunde. 11 Platon, JEITHTOS. Theaitetos, in: ders., Theaitetos. Der Sophist. Der Staatsmann, bearb. v. Peter Staudacher, griech. Text v. Auguste Diès, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 6), Darmstadt 1970, 1– 217, hier 106 –107; 176a. 12 Die Differenz von a) und b) ist zugleich die logische Differenz von Vormoderne und Moderne innerhalb der Kunst. Unter b) kann verbindlich zwischen schön und hässlich differenziert werden, unter a) nicht. Die Verschiedenheit als der gegensatzlose Gegensatz tritt dort ein, wo die Geschichte der Kunst selbst über substanzielle Gegensätze hinaus ist.

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Negatives. Das Positive soll dabei die Identität mit sich sein, die als Unmittelbarkeit interpretiert wird, und das Negative der Gegensatz. Diese Auffassung des Negativen wie des Positiven müssen wir fallen lassen. Wenn wir an den Gegensatz von gut und böse denken, dann wissen wir: das Positive im Sinne der Tugend kann kein bloßer Zustand sein. Der Zustand der Unschuld jenseits von gut und böse ist vielmehr zu verlassen und immer schon – in der Reflexion – verlassen. Das Positive, das Gute ist die sich realisierende Moralität, die Tugend. Aber die Tugend ist kein Zustand (Aristoteles, Kant), sondern Tätigkeit. Tätigkeit bedeutet aber: Negieren des Negativen, der Untugend, die nicht Nichts ist, sondern Hang zum Bösen (Kant). Das heißt, das Positive im Sinne des Guten ist nur als Negation des Negativen. Dies ist die sich auf sich beziehende oder absolute Negativität. Das ist nun auch auf das Verhältnis von schön und hässlich zu beziehen. Das Schöne – wie auch das Gute und das Wahre – ist absolute Negativität, während das Hässliche Moment innerhalb derselben ist. Das Hässliche für sich genommen ist nicht autark gegen das Schöne, sondern das Negative in seiner Positivität, d. h. der Widerspruch des Sollens und Nicht-Realisiertseins der absoluten Negativität. Das Hässliche ist sinnliche Präsenz des Auseinanderfallens des Positiven und Negativen: die Positivität, die nicht von der Negativität durchdrungen ist. Da, mit Hegel gesprochen, die Negativität die absolute Form13 und die Schönheit deren Ausdruck und Darstellung ist, so erhellt von da erst die tiefe Bedeutung von deformitas. Und es erhellt, inwiefern das Hässliche nicht bloß Zustand, bloß Privation ist: Der aktivische Charakter des Negativen besteht hier darin, dass das Hässliche nur es selbst ist, indem es sich (im Bewusstsein des Betrachtenden) von sich abstößt und auf das Schöne als das Negative dieses Negativen bezieht. Von hier aus verstehen wir den Schlüsselsatz bei Rosenkranz: Das Hässliche sei zwar empirisch durch sich selber, „daß es aber das Häßliche ist, das ist nur möglich durch seine Selbstbeziehung [!] auf das Schöne, 13 Anstelle von absoluter Form können wir im Sinne der Hegelschen Logik von der „Idee“, d. h. dem sich selbstbewegenden Subjekt-Objekt oder der Freiheit sprechen. Rosenkranz spricht in diesem Sinne davon, dass das Schöne der „sinnlich erscheinende Ausdruck der Idee“ (36) sei. Zum Begriff der absoluten Form und der Logik als Wissenschaft derselben vgl. Hoffmann, Thomas Sören, Die absolute Form. Modalität, Individualität und das Prinzip der Philosophie nach Kant und Hegel, Berlin/New York 1991, insbesondere Kap. 4 „Hegels Logos der Wirklichkeit“ (278 – 339).

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an welchem es sein Maß besitzt.“ (15) Das Hässliche hat seine Selbstbeziehung, d. h. seine Identität nur in seiner Bezogenheit auf das Schöne.14 Dieses Sich-Abstoßen auf das Negative des Negativen hin ist der logische Kern dessen, was wir auch psychologisch als das Abstoßende des Hässlichen erfahren. Wenn wir weiters bedenken, dass die absolute Negativität im Sinne der Hegelschen Logik der Begriff der Freiheit, des Beisichseins im Anderen ist, so können wir schon aus diesen negativitästheoretischen Hinweisen erschließen, dass das Hässliche seinem Begriff nach immer sinnliche Präsenz von Unfreiheit (in Natur und Geist) ist (56). II. Das Hässliche im Allgemeinen

Wenn wir wissen wollen, was das Hässliche ist, müssen wir, wie aus dem bisher Ausgeführten erhellt, zunächst den Begriff des Schönen fassen. Wir wissen schon: Schönheit ist gefasst als Einheit von unendlichem Inhalt und endlicher Form. Was ist damit näherin gemeint? Rosenkranz schließt an Hegel an: Das Schöne überhaupt sei die „sinnliche Erscheinung der natürlichen und [besser wäre: bzw.] geistigen Freiheit in harmonischer Totalität“ (49). In den Momenten dieser Definition ist die Logik des Schönen enthalten. „Freiheit“ bezeichnet das Moment des Inhalts, die „harmonische Totalität“ das Moment der Form. Blicken wir da etwas näher hinein. a)  Freiheit steht für das, was Rosenkranz sonst im Anschluss an Hegels Logik Idee nennt. Diese ist nicht Vorstellung, nicht abstrakter Allgemeinbegriff, nicht kantischer Begriff der Idee (die ein Sollen bleibt), sondern – und diese Hinweise beziehen sich auf die Hegelsche Begriffslogik – die Einheit des Allgemeinen und Einzelnen wie des Subjektiven und Objektiven, das Sichrealisieren des Begriffs als des Zwecks, die erfüllte innere Zweckmäßigkeit oder Selbstvermittlung im Wahren und Guten. Das Sichrealisieren des Begriffs (als des Zwecks) ist Freiheit in sinnlicher Erscheinung. Freiheit bedeutet zunächst ungehinderte Wesensverwirklichung („ontologische“ Freiheit), die „freie 14 Rosenkranz spricht, vom Bewusstsein her gedacht, in diesem Zusammenhang vom „Subintelligieren“: „Die Disproportion nötigt uns, immerfort die proportionale Gestalt zu subintelligieren.“ (312) Vgl. Scheer, Theorie des Häßlichen, 153.

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Bewegung der Natur“ (54); konkret aber Sichselbstbestimmen. Schönheit ist so die anschauliche Präsenz einer schließenden Vermittlung, eines stimmigen Selbstverhältnisses, des Entsprechens von Begriff und Objektivität. Kein Inhalt kann aber ohne Form existieren: b)  Der Begriff der Harmonie, der auf die Pythagoreer zurückgeht, steht hier für die durchwirkende Einheit in der Mannigfaltigkeit, die Einheit von Einheit und Vielheit, die Insichvermitteltheit. Damit hängt unmittelbar der Begriff der Form zusammen: „Form“ bedeutet Grenze, Endlichkeit, näherhin ist die Form das Setzen der Einheit und der Unterschiede in sich (50). Form meint also nicht die bloß äußere, ruhende Form, sondern sie ist die Tätigkeit, Mannigfaltiges in eins zu setzen. Die Bewegung der Form ist der Ausgang von der Einheit, die in sich den Unterschied erzeugt, in die Vielheit auseinandergeht und diese wiederum in sich integriert. Die Form ist so, von Hölderlin her interpretiert, das Eine in sich selbst Unterschiedene,15 das Harmonisch-Entgegengesetzte. Wie realisiert sich diese Einheit von Inhalt und Form? Worin besteht ihre sinnliche Manifestation? Sie realisiere sich „in bestimmten Verhältnissen, die, abstrakt genommen, Maßverhältnisse sind.“ (51) Hierher gehören systematisch die Bestimmungen der Proportion, Symmetrie usw. Das sind Weisen, wie sich das Schöne (der Freiheitsinhalt) als Einheit in der Mannigfaltigkeit (Form) in sinnlicher Gestalt realisiert. Zum Maß gehöre auch die ästhetische Korrektheit (52) in der Kunst, sofern sie sich mimetisch in Bezug auf ihre Gegenstände verhält. Zwei Momente sind also im Begriff des Schönen festzuhalten: Inhalt (Freiheit) und Form (Einheit in der Mannigfaltigkeit). Die Formbestimmung (Proportion usw.) allein reicht nicht (dies hat man seit dem Neuplatonismus betont), sondern die Form muss auch einem schönheitsfähigen Inhalt (Freiheitsgehalt) entsprechen. Auf die Kunst angewandt bedeutet dies: die Virtuosität in der Gestaltung der Form kann nicht einen nicht-schönheitsfähigen Inhalt (z. B. ein Verbrechen) in einen schönen verwandeln.

15 Vgl. Hölderlin, Friedrich, Hyperion II (Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe], hg. v. Dietrich E. Sattler, Bd. 11), Frankfurt a. M./Basel 1982, 681.

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Vor diesem Hintergrund ergibt sich der allgemeine Begriff des Hässlichen. Wir wissen: Das Hässliche hat sein Bestehen im Voraussetzen und zugleich der Negation der soeben genannten Bestimmungen: 1) Die Grundbestimmung des hässlichen Inhalts lautet: das Hässliche ist sinnlich-anschaulicher Widerspruch bzw. Nicht-Entsprechen von Form und Inhalt, Begriff und Wirklichkeit, von Sein und Sollen, mithin die anschauliche Präsenz der Verfehlung der Zweckrealisierung, der nicht schließenden Mitte bzw. Vermittlung. Man kann in Ergänzung zu Rosenkranz und mit Blick auf die Hegelsche Logik sagen, dass das Hässliche im Nichtaufgelöstsein des höchsten Gegensatzes, d. h. in der Dominanz der Objektivität als der Vergessenheit der Vermittlung bzw. im Nichtausgeführtsein des Zwecks besteht. Es ist die sinnlich manifeste Dominanz des Mechanismus, Chemismus und der äußeren Teleologie über das Leben als innere Zweckmäßigkeit. Es zeigt sich nicht eine realisierte Selbstvermittlung, sondern Selbstentfremdung (in der Natur bzw. im Geist als Unfreiheit), Zerrissenheit, Gebrochenheit, allgemein: der unaufgelöste Widerspruch. 2) Zur Form: Die Negation der Selbstvermittlung erscheint immer als Negation der harmonischen Insichvermitteltheit: allgemein als Formlosigkeit (50), aber eben in Bezug auf einen bestimmten Inhalt. Denn Formlosigkeit als solche ist noch nicht hässlich. Erst dort, wo durch die Formlosigkeit ein Widerspruch entsteht, nämlich dort, „wo ein Inhalt eine Form haben sollte und derselben noch ermangelt“ (50). Die Formlosigkeit ist also näherhin der Widerspruch zwischen Form und Inhalt. Formlosigkeit allgemein bedeutet: a) eine abstrakte Einheit, die keine Unterschiede in sich begreift (64), Unterschiedslosigkeit; b)  eine Einheit, die sich nicht als solche abschließt, d. h. Unterschiede bzw. Gegensätze treten auf, die sich nicht mehr in die Einheit reflektieren. Dies ist die unbestimmt-anarchische Verselbständigung des Mannigfaltigen, des Materials, die Auflösung ins Gestaltlose. Inwiefern kann das Hässliche, das in der Empfindung einen Widerspruch von Form und Inhalt bedeutet, ein Wohlgefallen bewirken? Rosenkranz streift diese Frage kurz (48). Ein ästhetisch legitimes Wohlgefallen am Hässlichen gibt es nach Rosenkranz

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nur im Bereich der Kunst, wobei das Hässliche nur in indirekter Weise gefällt, indem sich an ihm die Macht des Schönen, die es überwindet, zeigt. Rosenkranz kennt auch ein Wohlgefallen am Hässlichen um seiner selbst willen: „Auf krankhafte Weise, wenn ein Zeitalter physisch und moralisch verderbt ist, für die Erfassung des wahrhaften, aber einfachen Schönen der Kraft entbehrt […]. Um die abgestumpften Nerven aufzukitzeln, wird das Unerhörteste, Disparateste und Widrigste zusammengebracht. Die Zerrissenheit der Geister weidet sich an dem Häßlichen, weil es für sie gleichsam das Ideal ihrer negativen Zustände wird.“ (48) Im Hässlichen kommt sich die Zerrissenheit, die Freiheit, die sich aus Freiheit verfehlt, objektiv entgegen. III. Das Naturhässliche

Die Natur – die von der Welt als System von Erscheinungen unter allgemeinen Gesetzen (Kant) wohl zu unterscheiden ist – ist wesentlich prozessuale Größe, nicht bloß gezeigte Natur, sondern ein sich-zeigendes anderes Selbst.16 Das Naturschöne ist daher der anschaulich sich realisierende und realisierte Naturprozess. In diesem vermittelt sich ein Selbst, präsentiert sich in sinnlicher Anschaulichkeit. Die Freiheit, von der Rosenkranz hier spricht, ist als „ontologische“ Freiheit im Sinne der Wesensverwirklichung zu verstehen. Schön ist das Sich-Repräsentieren des Wesens (der infima species) in individuo. Der formelle Grundcharakter des Naturschönen ist das Bewusstsein dieser schließenden Mitte, in der die Extreme des Allgemeinen (Art, Lebenskreis) und des Einzelnen zusammengeschlossen sind. Je konkreter, in sich vermittelter diese Prozessualität ist, desto schöner (vom Anorganischen bis hin zum tierischen Organismus). Dasselbe gilt unter umgekehrtem Vorzeichen vom Naturhässlichen. Das Hässliche in der Natur besteht grundsätzlich in der Beeinträchtigung der Naturprozessualität. Es ist die „Freiheit“ des Naturprozesses, „in jedem Augenblick das Übermaß und das 16 Zu dem damit adressierten integrativen Naturbegriff im Anschluss an Hegel vgl. Hoffmann, Thomas Sören, Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie (Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 14), Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, insbesondere Kap. I „Einleitung“ (11– 72).

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Unmaß […], damit eine Zerstörung der reinen, von der Natur an sich angestrebten Form und damit das Häßliche“ (20) möglich zu machen. Eigentliche Hässlichkeit finden wir aber noch nicht in der Sphäre der anorganischen Natur, sondern erst dort, wo wirkliche, lebendige Individuen präsent sind (22), in der organischen Natur. Warum? Weil sich dort die Zweckrealisierung in individuo zeigt oder eben nicht zeigt. Der Zweck ist die Naturprozessualität, die Repräsentation der Art/Form im und als Individuum, die sich realisierende Einheit des Allgemeinen und Einzelnen, des Subjektiven und Objektiven. Wir können dies mit Blick auf die Hegelsche Logik so fassen: Hässlichkeit entsteht dort, wo die Objektivität (das mechanische und chemische Objekt als vergessene Vermittlungstotalität) nicht das transparente Medium der Subjektivität (der Vermittlung) im Sinne der Artrepräsentation ist, sondern Hemmung erfährt, allgemeiner: dort, wo die Naturprozessualität überhaupt sich in ihrer Endlichkeit zeigt. Diese Endlichkeit zeigt sich in doppelter Hinsicht: a) im Unterworfensein des natürlich Seienden unter eine äußere Gewalt, wodurch sich der Zweck nur partiell realisiert (z. B. Missbildungen); b)  durch das natürlich Seiende selbst, gerade im Vollzug der Zweckrealisierung (Krankheit, Tod). Jedes Lebewesen muss sterben. Im Tod zeigt sich die Endlichkeit der Naturprozessualität als die einzig „reale[…] Singularisierung, die in der Natur selbst auftritt“17: „Das Häßliche ist die als solche [anschaulich] hervortretende Gegenläufigkeit der freien Medialität der Natur, die Reduktion des aus ihm selbst Bewegten auf das nur Bewegliche [das mechanische und chemische Objekt], des in sich Konsistenten auf das Zerbrechende oder Sich-Auflösende, des seine eigene Zeit und seinen eigenen Raum Füllenden auf das bloße Hier und Jetzt.“18 So können wir im Anschluss an Rosenkranz festhalten: Das Naturhässliche ist die anschauliche Präsenz des in der Natur nicht ausgeführten Zwecks, der nicht schließenden Mitte. Ist der Inhalt des Naturschönen die „ontologische“ Freiheit in sinn-

17 Ebd., 547 – 548. 18 Ebd., 548.

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licher Gestalt, so ist der Inhalt des Naturhässlichen die „ontologische“ Unfreiheit, die Endlichkeit der Wesensverwirklichung in sinnlicher Gestalt. Natur wird also hässlich, wenn sie aufhört oder gehindert wird, ihre Zwecke19 zu realisieren (52). Im Anschluss an Rosenkranz wäre daher zu betonen: Damit zeigt das Naturhässliche auf die Endlichkeit des Zwecks in der Natur überhaupt. Auf die besonderen Formen des Naturhässlichen ist hier nicht näher einzugehen. Wesentlich ist, dass sich die Möglichkeit der Hässlichkeit in der Natur potenziert: Je selbstischer, also in sich vermittelter ein natural Seiendes ist, je präsenter und wirkmächtiger die Einheit in der Mannigfaltigkeit ist, desto hässlicher vermag dieses auch zu sein.20 Ein Kristall vermag nicht die Hässlichkeit eines Organismus zu haben, ein vegetabilischer Organismus wiederum nicht jene des Tieres. Denn im Unterschied zur Pflanze21 ist die Gliederung des animalischen Organismus nicht zufällig, sondern im Sinne der Artgesetzlichkeit (abgesehen von der Plastizität des Organischen) an und für sich bestimmt. Sie tritt mit Notwendigkeit hervor, wenn nichts äußeres Hinderndes dazwischentritt. Wird daher ein Glied eines tierischen Organismus weggenommen, dann fehlt es; ist ein Glied zu viel, dann wird es sofort „verhäßlicht“ (26). Die Selbstbeziehung beim tierischen Organismus ist also gegenüber der Pflanze potenziert: jedes Glied ist notwendig, Mittel und Zweck im Ganzen des Organismus.22 IV. Das Geisthässliche

Der Geist ist das sich wissende Allgemeine, die sich wissende Selbstbeziehung. Freiheit bedeutet hier nicht bloß Wesensrealisierung, sondern sich wissende Zweckverwirklichung, d. h.

19 Wir sprechen hier im hegelschen Sinne vom Naturzweck, der im Unterschied zu Kant nicht bloß Setzung der reflektierenden Urteilskraft ist. 20 Dies ist vor dem Hintergrund der Hegelschen Naturphilosophie zu verstehen. 21 Die Pflanze bringt im Individuum nicht eine bestimmte notwendige Gestalt, die den Typus realisiert, hervor. Ihre Gestaltung unterliegt immer auch der bestimmten Zufälligkeit, der äußeren Notwendigkeit. 22 Im Unterschied zu den Pflanzen haben die Tiere eine konkretere Maßbestimmtheit, die sie in ihrer unbeeinträchtigten Gestalt in individueller Weise realisieren: Nicht nur die Anzahl der Glieder ist bestimmt, sondern jedes Glied hat seine bestimmte Größe. Daraus folgt, dass – im Unterschied zur Pflanze – andere Missverhältnisse auftreten können (Übervergrößerung, Überverkleinerung).

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Selbstbestimmung. Als Sich-Wissendes, Freies steht der Mensch in der Differenz zwischen gut und böse in praktischer Hinsicht und zwischen wahr und falsch in theoretischer Hinsicht. Damit vertieft sich die Möglichkeit der Hässlichkeit, ja tut sich erst ihr eigentliches Feld auf. Das eigentlich Hässliche findet sich nach Rosenkranz, wie wir sehen werden, nicht in der Natur, sondern in der Sphäre der Freiheitswirklichkeit. Das Gebiet des Geisthässlichen wird von Rosenkranz so behandelt, dass er zunächst das Hässliche in Bezug auf den Menschen und seine Freiheitsverwirklichung im Allgemeinen betrachtet, um sich dann gleich dem Kunsthässlichen zuzuwenden. Es fehlt dabei, systematisch gesehen, eine Betrachtung des Hässlichen in der Sphäre des Werkhervorbringens im Sinne der Technik überhaupt. Wir wollen nun einige wesentliche Punkte des Geisthässlichen festhalten (ohne auf die Vielfalt der Formen, die Rosenkranz in lehrreicher Weise vorführt, eingehen zu können). Das Wesen des Geisthässlichen besteht im Unterschied zum Naturhässlichen darin, dass ein sinnlich-anschaulicher Gegenstand (zunächst der Leib, sodann alles, was durch Freiheit da ist: die Produkte der técnh) an ihm selbst in bestimmter Weise auf den menschlichen Weltumgang verweist. Der Grundsatz lautet: „alles Gefühl und Bewußtsein der Freiheit verschönt und alle Unfreiheit verhäßlicht.“ (29) Was meint dies? Der absolute Inhalt des Schönen ist die Freiheit – wobei, um Missverständnisse zu vermeiden, sofort dazugesagt werden muss: Rosenkranz meint hier mit Freiheit nicht bloß die negative Freiheit (Willkür), sondern die positive Freiheit im Sinne der Autonomie, genauer: nicht die kantische Autonomie, die letztlich ein Sollen bleibt, sondern die im Zeichen des Wahren und Guten realisierte und sich realisierende Autonomie. Wenn das Geisthässliche als aisthetische Präsenz der Unfreiheit zu denken ist, so geht es wiederum zentral um den Zweckbegriff, allerdings nun in der Bedeutung des anschaulichen Widerspruchs von Sein und Sollen der Freiheit, man kann auch sagen: um die Anschaulichkeit von Heteronomie. Die Hässlichkeit, um die es nun geht, ist ein „Werk der sich selbst vernichtenden Freiheit“ (32). Das Hässliche erreicht damit eine neue Möglichkeit und Tiefe, die über das Naturhässliche hinausgeht: „[D]as häßlichste Häßliche

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[…] ist die Selbstflucht“ (11),23 also der aisthetisch sich manifestierende Widerspruch, Freiheit aus Freiheit zu verfehlen. Für das Geisthässliche ist näherhin mehr das Praktische als das Theoretische relevant. Ein Irrtum ist nicht per se hässlich. Handeln dagegen ist, allgemein gesagt, die Einbildung eines Intelligiblen, des Zwecks, in die äußere Realität. In der Praxis geht es um das immer auch sinnlich-anschauliche Sich-Manifestieren der Freiheit in Raum und Zeit. Dieses Manifestieren steht immer in der Möglichkeit des Scheiterns, des Sich-Verfehlens, d. h. in der Differenz zwischen gut und böse.24 Deshalb ist der Begriff des (Geist-)Hässlichen mit dem Begriff des Bösen, weniger mit dem des Unwahren, der theoretischen Unfreiheit – Dummheit, Borniertheit (56) –, untrennbar verknüpft (30).25 1. Zur Hässlichkeit des Menschen Worin gründet das Neue im Geisthässlichen gegenüber dem Naturhässlichen? Es gründet in der Differenz zwischen Seele im Sinne der forma corporis, die den Leib regiert und bestimmt, und dem Ich, wobei Ich konkret bedeutet: Einheit von Bewusstsein überhaupt (logisches Ich, forma formarum) und tóde ti, dem Individuum (eine Einheit, die als Sprache wirklich ist). Ich muss mich von aller Natur, inklusive meines Leibes, im Sinne der „absoluten Abstraktion“26 als dem ersten Moment der Freiheit zunächst unterschieden haben, um überhaupt handeln und erkennen zu können. Aus diesem unendlichen (nicht quantifizierbaren) Unterschied, der, mit Fichte gesagt, im Ich zu allem Nicht-Ich aufgespannt ist, folgt zunächst, dass es nicht die Bestimmung des Menschen ist, bloß schön im Sinne des Naturschönen zu sein. Der Mensch ist nicht nur Artrepräsentant. Der Mensch ist nicht bloß Leib, sondern hat einen Leib, den er als Mittel und Sphäre

23 Die Selbstflucht – die unmittelbar mit dem Bösen zusammenhängt – besteht im Sinne der hegelschen Phänomenologie des Geistes ihrer Grundstruktur nach gerade im Streben nach unmittelbarer Selbsterhaltung, darin also, dass sich ein partikulares Selbstund Weltverhältnis festhalten will, sich gegen sein Zugrundegehen immunisieren will. Diese Dialektik spricht schon das Neue Testament aus (Joh. 12,25). 24 Setzt nicht der Impetus der sozialkritischen Kunst, welche die Unfreiheitsverhältnisse des Menschen darstellen will, diesen Konnex wesentlich voraus? 25 Vgl. Wiegand, Anke, Die Schönheit und das Böse (Epimeleia 7), München/Salzburg 1967. 26 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss. Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Elisabeth Weisser-Lohmann u. Klaus Grotsch (Gesammelte Werke Bd. 14,1), Hamburg 2009, 32 (§ 5).

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seiner Freiheit gebraucht. Die Bestimmung des Menschen liegt nicht darin, einen schönen Leib zu haben, sondern geht auf das Gute und das Wahre. Der Mensch hat auch nicht, im Unterschied zu den Tierarten, einen schematischen Typus von Naturschönheit, sondern auch dies ist durch das Bewusstsein der Freiheit, die jeweils epochal wirkmächtige Selbst- und Weltinterpretation des Menschen bzw. durch die Sprache vermittelt. Somit zeigt der Mensch in dem, was er als seine leibliche Schönheit ansieht (die „Schönheitsideale“), zugleich auf seinen Weltumgang. So haben wir im Begriff des Menschen ein Auseinandertreten von Schönem (im Sinne der Naturschönheit des Leibes) einerseits und Gutem und Wahrem andererseits. Die Güte oder Reinheit des Willens manifestiert sich nicht schon unmittelbar in der Naturschönheit des Leibes.27 Die gute Verwirklichung dessen, was das Gewissen befiehlt, muss nicht schön erscheinen. Die Realisierung des Guten und Wahren vermag sogar die leibliche Naturhässlichkeit zu transzendieren – oder die leibliche Naturschönheit zum bloß nichtigen Schein herabzusetzen. In diesem Sinne ist die Moralität das Jenseits von schön und hässlich. Das klassische Beispiel dafür ist Sokrates, das auch Rosenkranz heranzieht (30). Seiner Leiblichkeit nach hat er die Gestalt eines Silens, aber sein Inneres, das sich in seinem Sprechen offenbart, ist so (geistig) schön, d. h. gut und wahr, dass es die äußere Hässlichkeit (und Schönheit) zur Gleichgültigkeit herabsetzt (30).28 Umgekehrt gilt aber zugleich, dass auch das Böse bzw. der Verbrecher nicht unmittelbar, dem Augenschein nach als geisthässlich erscheinen muss bzw. als eine geisthässliche Erscheinung erkannt werden muss. Der Grund dessen ist die Möglichkeit der Verstellung (dies bleibt bei Rosenkranz unterbelichtet)29. Nicht selten werden Verbrecher, zumal in der Politik, verehrt. Das Prinzip, dass Unfreiheit verhässlicht, gilt in diesem Zusammenhang nur mit dieser Einschränkung. 27 Adalbert Stifters Erzählung Brigitta schildert dieses Auseinandertreten. 28 Vgl. das Ende der Lobrede des Alkibiades auf Sokrates: Platon, SUMPOSION. Das Gastmahl, in: ders., Phaidon. Das Gastmahl. Kratylos, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Léon Robin u. Louis Méridier, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 3), Darmstadt 1974, 209 – 398, hier 386 – 387; 222a. 29 Rosenkranz weist darauf hin, dass ein böser Charakter, ein verbrecherischer Wille, nicht notwendig als hässlich erscheint, sofern dieser nämlich mit – wie wir heute sagen würden – einer enormen kriminellen Energie auftritt und darin in seiner Freiheitsverfehlung zugleich ein überdurchschnittliches Maß an formaler Freiheit in Klugheit, Vorsicht, Besonnenheit, Selbstbeherrschung usw. zeigt (30).

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In dem erwähnten absoluten Unterschied ist es auch begründet, dass der menschliche Leib immer auch eine symbolische Dimension hat (30). Er verweist in der Unmittelbarkeit der Gestalt an ihm selbst über sich hinaus auf die Freiheit, zu deren Realisierung er als Medium dient (in der aufrechten Haltung, dem Gang usw.). In diesem Medium reflektiert sich die Freiheit actu oder der Wille immer auch in bestimmter Weise. Der menschliche Leib ist daher mehr als ein bloßes Zeichen (das reines Verweisen auf eine ihm äußerliche Bedeutung ist). Er ist Symbol, an ihm selbst bedeutend.30 Daher ist es – im Gegensatz zum Naturhässlichen – möglich, dass der kranke und sterbende menschliche Organismus nicht automatisch eine Verhässlichung bedeutet (33 – 34). Rosenkranz weist darauf hin, dass der Leib gerade in seiner Hinfälligkeit auf den Geist (34) und dessen Erhabenheit über die Natur verweist. So etwas wie den verklärten Anblick eines Sterbenden gibt es nur beim Menschen. Zugleich eröffnen sich gegenüber dem bloß Tierischen neue Dimensionen von Hässlichkeit der Gestalt – indem die leibliche Gestalt nämlich symbolisierend auf den menschlichen Weltumgang deutet. Rosenkranz weist in diesem Zusammenhang auf Lichtenbergs Einsicht hin, dass alle Tugend verschönt und alles Laster verhässlicht (29). Das Habituellwerden der Selbstbestimmung – sei sie autonom oder heteronom – schlägt sich in der Physiognomik, der Haltung, der Mimik und Gestik nieder.31 Dieses Manifestieren des Inneren im Äußeren relativiert wiederum die Verstellung. Die Körperhaltung und Blickweisen eines Diebes etwa sind erarbeitet und gleichfalls zur festen Objektivität der Gewohnheit geworden. So ist es – und das ist das entgegengesetzte Beispiel zu Sokrates – möglich, dass die leibliche Naturschönheit durch einen untugendhaften Charakter (Neid, Hass, Lüge, Geiz usw.) – d. h. durch einen Widerspruch im Willen (31) – von innen heraus verhässlicht wird. Zu der Naturhässlich30 Was bei Rosenkranz ebenfalls unterbelichtet bleibt. Zur Unterscheidung von Zeichen und Symbol vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik I (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 13), Frankfurt a. M. 1986, 393 – 394. 31 Zum literarischen Niederschlag dessen vgl. Schmolke-Hasselmann, Beate, „Camuse chose“. Das Häßliche als ästhetisches und menschliches Problem in der altfranzösischen Literatur, in: Zimmermann, Albert (Hg.), Die Mächte des Guten und Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhundert über ihr Wirken in der Heilsgeschichte (Miscellanea Mediaevalia 11), Berlin/New York 1977, 442 – 452.

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keit durch physische Missbildung, Krankheit und Verkrüppelung kommt also eine spezifische Geisthässlichkeit. Dies schließt nach Rosenkranz auch die Seelenstörungen und -krankheiten in sich, in denen der Mensch die Besonnenheit und damit die adäquate Herrschaft über seinen Leib verliert (34). Besonnenheit bedeutet, sich als Einzelner und zugleich als allgemeines Vernunftwesen zu wissen. Diese Einheit von Einzelnem und Allgemeinem kann der Mensch verlieren, indem er blödsinnig, verrückt oder wahnsinnig wird – ein Widerspruch, der in hässlicher Weise anschaulich wird in Blick, Mimik und Physiognomik. 2. Zum Hässlichen in der Kunst Mit Blick auf die Sphäre dessen, was durch den Menschen, d. h. durch Freiheit da ist, fokussiert Rosenkranz seine Betrachtung sogleich auf das Kunsthässliche im engeren Sinne.32 Wichtig ist, das eingangs Erwähnte im Blick zu behalten: Die normativen Fragestellungen Rosenkranz’ sind von der vormodernen h. christlich-abendlän(näherhin mit Hegel: romantischen, d.  dischen) Kunst her gedacht. Eine nähere Reflexion auf die Differenz von vormoderner und moderner Kunst fehlt. Rosenkranz scheint nicht den Epochenbruch, den Hegel in seiner Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst im Blick hatte, in seiner Bedeutung gefasst zu haben. Kunst wird von Rosenkranz als das bewusste Hervorbringen des Schönen bestimmt, als die Ausbildung von Schönheitswelten. Wodurch kann sie das? Indem die Kunst das Wahre und Gute – den realisierten und sich realisierenden Selbstzweck – in sinnlichen Gestalten darstellt. Die Einheit von Kunst und Schönheit einerseits und Schönem, Wahrem und Gutem andererseits ist also vorausgesetzt. Darin steckt die bei Rosenkranz nicht explizit gemachte Einsicht, dass sich das bewusste Hervorbringen des Kunstschönen durch Kunst (und nicht bloß als Erinnerungskultus) traditions- und gesellschaftsbildend nur durchführen kann, wenn die Bindung an die Kriterien des Wahren und Guten nicht erschüttert ist. Aber: wenn das der Zweck

32 Anschauungsmaterial bietet das Buch von Eco, Umberto (Hg.), Die Geschichte der Häßlichkeit, München 2007.

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der Kunst ist, wie ist es dann begründbar, dass Kunst auch das Hässliche hervorbringt? (35) Rosenkranz stellt die Frage nicht deskriptiv – im Sinne von: Was finden wir da alles, was uns als hässlich erscheint? – und gibt dann äußerliche Reflexionen dazu, sondern er stellt die entscheidende Frage: Worin besteht die Notwendigkeit des Hässlichen im Begriff der Kunst? Eine erste (unzureichende) Antwort wäre: das Hässliche ist Mittel für die Präsenz des Schönen. Dies wäre das schlichte Reflexionsverhältnis: ohne Hässliches kein Schönes. Das Hässliche wäre damit im Sinne der äußeren Notwendigkeit (der Nützlichkeit) begründet. Vor der Folie des Hässlichen hebe sich das Schöne im Kunstwerk umso deutlicher ab. Für das Hässliche in der Kunst gäbe es dann keine innere Notwendigkeit, d. h. keine Notwendigkeit für die Präsenz des Hässlichen als eines Zwecks der Darstellung. Warum greift eine solche Auffassung der Notwendigkeit des Hässlichen nach Rosenkranz zu kurz? Weil übersehen wird, dass das Schöne – im Unterschied zum Hässlichen – einen Selbststand hat. Wir erinnern uns: Rosenkranz spricht vom „absolut Schönen“. „Absolvere“ bedeutet „losgelöst von“, d. h. von seiner Relationalität auf das Hässliche. Es gäbe doch auch, so Rosenkranz, Schönes in der Kunst, das ohne Hässliches schön ist. So bedarf es nicht des Thersites, um den Achilles als schöne Gestalt erfassen zu können. Das realisierte Schöne genügt sich. Insofern wurde es ja auch in der Tradition als Abglanz des Absoluten bestimmt. Die Kunst bedarf freilich des Kontrasts und dieser vollzieht sich in Gegensätzen und ihrer Aufhebung (z. B. in der Musik: Freude – Trauer, Konsonanz – Dissonanz; in der Malerei: hell – dunkel usw.). Kontrast bedeutet aber nicht Hässlichkeit. Der Kontrast ist vielmehr im Begriff der Einheit in der Mannigfaltigkeit (harmonische Totalität) enthalten. Rosenkranz’ Beispiel ist Raffaels Sixtinische Madonna (37). Sie enthalte kontrastierende Momente (Majestät, Huld, Anmut, Würde, Lieblichkeit), aber nichts Hässliches. Hässlichkeit erscheine erst dann, wenn der Gegensatz bzw. Widerspruch sich verselbständigt, sich nicht mehr in eine Einheit hinein reflektiert (etwa die Dissonanz, die nicht vorbereitet/vermittelt wird, nicht in eine Konsonanz zurückgeht). Auch das gibt es im Kunstwerk. Aber wie ist das aus dem Begriff der Kunst heraus zu begründen?

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Der Grund liege im „Wesen der Idee selber“ (37): die Kunst „soll die Erscheinung der Idee nach ihrer Totalität ausdrücken“ (38), wie Rosenkranz im Anschluss an Hegel betont. Gemeint ist: die Erscheinung der Vernunft in der ihr entsprechenden Sinnlichkeit. Die Idee ist aber in ihrer Existenz, d. h. im Individuum zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, der „Möglichkeit des Negativen“ ausgesetzt. So ist in der Natur das lebendige Individuum, der Organismus dem Zufall ausgesetzt, der Mensch in Natur und Geschichte durch die Willkür dem Negativen. „Sollen aber Natur und Geist nach ihrer ganzen dramatischen Tiefe zur Darstellung kommen, so darf [im Kunstwerk] das natürlich Häßliche, so darf das Böse und Teuflische nicht fehlen.“ (38) Wir müssen also in der Begründung des Kunsthässlichen am Schnittpunkt von Kunst und der Totalität der Erscheinung von Mensch und Welt ansetzen. Da muss der Gegensatz zur Freiheit bis ins Äußerste fortgehen. Das finden wir bereits im Mythos der Griechen33: Dort sind hässliche Mischwesen versammelt (Kyklopen, Satyrn, Harpyien, die Medusa usw.), in der Tragödie finden wir tiefe Verbrechen (Ödipus, Orestie), Wahnsinn (Ajax) und ekelhafte Krankheit. In der Komödie schließlich werden allerlei Untugenden zur Anschauung gebracht. Mit dem Christentum aber wird der Kreis des darstellbaren Inhalts der Kunst – auch die Tiefe des darstellbaren Hässlichen – unendlich ausgeweitet (38). Denn nicht der schöne Mensch ist der wahre Mensch (im Sinne der Griechen), sondern der sich hingebende, Leid und Tod auf sich nehmende Mensch ist wahrhaft frei. Von diesem neuen Freiheitsbegriff her gewinnt das Hässliche – das sich nicht durch die Selbstflucht bzw. eine Bornierung auf sich, sondern durch die Selbsthingabe ergibt – in der christlichen Kunst eine neue Bedeutung.34 Augustinus bringt dies in der paradox formulierten Wendung so auf den Punkt: „Deformitas Christi te format. [...] Pendebat ergo in cruce deformis, sed deformitas illius pulchritudo nostra erat.“35 33 Wenngleich der einzig hässliche Gott Hephaistos ist (342). Dies wäre näher in Bezug auf die Technik zu deuten. 34 Zur Relevanz des Hässlichen für die christliche Kunst vgl. Michel, Paul, „Formosa deformitas“. Bewältigungsformen des Häßlichen in der mittelalterlichen Literatur (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 57), Bonn 1976 sowie Rombold, Günter, Bilder – Sprache der Religion (Ästhetik – Theologie – Liturgik 38), Münster 2004, insbesondere 43 – 46. 35 Augustinus, Sermones de Vetere Testamento. Sermones I – L, rec. Cyrillus Lambot (Corpus Christianorum Series Latina 41; Aurelii Augustini Opera XI, 1), Turnhout 1961, 365; Sermo XXVII, 6.

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Gleichwohl ist eine nicht zu übertretende Grenze für den Inhalt der Kunst gesetzt: Die Kunst „hat an der Freiheit des Wahren und Guten ihre Schranke“ (37). Dies gilt in der Tat für die Kunst als schöne Kunst. Daraus leitet sich Normatives ab (wobei zu beachten ist, dass das Betonen dieser Normativität geradezu auf den Vergangenheitscharakter der Kunst im Sinne Hegels verweist, was Rosenkranz nicht bedenkt): Das Hässliche dürfe sich künstlerisch nicht verselbständigen,36 was Rosenkranz an vielen Produkten seiner Zeit kritisiert. „Nur in Kombination mit dem Schönen erlaubt die Kunst dem Häßlichen das Dasein.“ (40) Das Kunstwerk muss also am Hässlichen selbst zur Darstellung bringen, dass es nur als ein Moment, als ein letztlich Unselbständiges ist – wie auch das Kranke oder das Böse letztlich nichts Selbständiges neben dem Gesunden oder dem Guten sind (39). Das Hässliche könne daher auch nicht exklusiver Gegenstand der Kunst sein (39).37 Noch ein weiteres Moment ist zu beachten: Die Behandlung des Hässlichen durch die Kunst darf sich nicht bloß auf eine unmittelbare Mimesis, ein Abbilden hässlicher empirischer Realitäten als solcher beschränken. Kunst ist nicht unmittelbar Nachahmung der „Natur“, d. h. des Wesens einer Sache, eines natürlichen oder geistigen Seienden, sondern die Darstellung und Ausdruck des Wirklichen in seiner Wahrheit. So betont schon Aristoteles, dass Kunst wahrhafter als die Geschichtsschreibung sei, weil sie die Ereignisse, die sie darstellt, vom Empirisch-Zufälligen befreit, das substanziell allgemeine Bedeutsame der Erscheinung hervorhebt und anderes, was zufälliges, unwesentliches Beiwerk ist, weglässt.38 Dies ist die „Idealisierung“, die die künstlerische Freiheit mit dem Stoff vornimmt. Künstlerische Mimesis war – in der Vormoderne – nie bloß Wiedergabe realer Verhältnisse.39 Dasselbe Prinzip gilt

36 Man kann in der Musik an Schönbergs „Befreiung der Dissonanz“ denken. 37 Dass das Hässliche zum Gegenstand der Künste wurde, erfüllte sich. Vormoderne Kunst soll die Erscheinung der Idee in der Wirklichkeit ausdrücken und darstellen. Die moderne Kunst dagegen soll ihre eigene Erscheinung sein, Erscheinung einer Vernunft sui generis. 38 Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2005, 28 – 33 (Kapitel 9); 1451a  –1452a. 39 Auch beim Genie-Theoretiker Kant findet sich der auf Platon und Aristoteles zurückgehende Mimesis-Begriff, wenn er betont, dass die „Vorzüglichkeit“ der Kunst darin bestehe, „daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt.“ Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014, 247; B 189.

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unter umgekehrtem Vorzeichen für die Aufnahme des Hässlichen: „In der gemeinen Wirklichkeit mangelt es niemals an den empörendsten und widerwärtigsten Häßlichkeiten; die Kunst darf dieselben nicht so ohne weiteres aufnehmen. Sie muß uns das Häßliche in der ganzen Schärfe seines Unwesens vorführen, aber sie muß das dennoch mit derjenigen Idealität tun, mit der sie auch das Schöne behandelt.“ (41) Kunst hat auch das Hässliche zuzuspitzen, das Prägnante, Charakteristische hervorzuheben. Was das Kunsthässliche in den besonderen Künsten betrifft, so vollzieht sich jede besondere Kunst (der vormodernen Künste) – Architektur, Plastik, Malerei, Musik, Dichtkunst – in bestimmten Sinnlichkeitsmedien (44 – 45). Im Sinne der Hegelschen Ästhetik stehen diese nicht gleichgültig nebeneinander, sondern diese vollziehen einen Fortschritt in der Rücknahme der Äußerlichkeit des Raumes (Dreidimensionalität) in die Innerlichkeit der Anschauung (Fläche), der Empfindung (Zeit als Medium: Musik) und der sprachlichen Vorstellungs- und Gedankenwelt. Das sind zugleich Stufen der Befreiung. Der ausdrückbare und darstellbare Gehalt wird immer konkreter, reicher, in sich vermittelter. Die „freieste Kunst“ (47), die Dichtung, hat mit ihrem Medium des Worts zugleich die höchste Potenz in der Darstellung des Hässlichen inne. Dabei kommt dem Drama, das zu seiner Realisierung geradezu das Hervortreiben und Sich-Zuspitzen der Gegensätze bedarf, besonderes Gewicht zu. So bildete die Dichtung die Speerspitze in der Freisetzung des Hässlichen, die sich im 19. Jahrhundert40 vorbereitet und im 20. Jahrhundert vollzieht.41 Rosenkranz fasst die Tendenzen, die in der Kunst seiner Zeit in diese Richtung wiesen, als Abweichungen von einer stets aktualisierbaren Norm auf. Diese klassizistische Tendenz (die sich auch bei Friedrich Theodor Vischer findet) gründet darin, dass Rosenkranz die hegelsche Einsicht in den Vergangenheitscharakter der Kunst nicht ernst genug nimmt.

40 Zu deren Geschichte vgl. Jung, Werner, Schöner Schein der Häßlichkeit oder Häßlichkeit des schönen Scheins. Ästhetik und Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert (Monographien zur philosophischen Forschung 244), Frankfurt a. M. 1987. 41 Diese Freisetzung artikuliert sich v. a. in der Lyrik, etwa in Charles Baudelaires Les fleurs du mal (1857) und später im Expressionismus (z. B. in Gottfried Benns MorgueGedichten). Vgl. dazu Friedrich, Hugo, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Reinbek b. Hamburg 1967 (Neuauflage 2006).

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Dies führt uns abschließend zur Nennung der drei wichtigsten Desiderata in Bezug auf Rosenkranz’ Systematik des Hässlichen: Neben der Unterscheidung zwischen dem Hässlichen in der vormodernen (im Sinne Hegels: romantischen) und der modernen Kunst, die auch die relative Notwendigkeit einer Freisetzung des Hässlichen aufzuweisen vermag, wären die durch Technik zerstörte Naturförmigkeit und das Hässliche in der Technik (von Maschinen usw.) zu betrachten.

Literatur Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 7), Frankfurt a. M. 2003 Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2005 Augustinus, Sermones de Vetere Testamento. Sermones I – L, rec. Cyrillus Lambot (Corpus Christianorum Series Latina 41; Aurelii Augustini Opera XI, 1), Turnhout 1961 Dorner, Leo, Traktat über vormoderne und moderne Kunst, Würzburg 2010 Eco, Umberto (Hg.), Die Geschichte der Häßlichkeit, München 2007 Friedrich, Hugo, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Reinbek b. Hamburg 1967 (Neuauflage 2006) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik I (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 13), Frankfurt a. M. 1986 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundriss. Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Elisabeth Weisser-Lohmann u. Klaus Grotsch (Gesammelte Werke Bd. 14,1), Hamburg 2009 Hoffmann, Thomas Sören, Die absolute Form. Modalität, Individualität und das Prinzip der Philosophie nach Kant und Hegel, Berlin/New York 1991 Hoffmann, Thomas Sören, Philosophische Physiologie. Eine Systematik des Begriffs der Natur im Spiegel der Geschichte der Philosophie (Quaestiones. Themen und Gestalten der Philosophie 14), Stuttgart-Bad Cannstatt 2003 Hölderlin, Friedrich, Hyperion II (Sämtliche Werke [Frankfurter Ausgabe], hg. v. Dietrich E. Sattler, Bd. 11), Frankfurt a. M./Basel 1982 Jung, Werner, Schöner Schein der Häßlichkeit oder Häßlichkeit des schönen Scheins. Ästhetik und Geschichtsphilosophie im 19. Jahrhundert (Monographien zur philosophischen Forschung 244), Frankfurt a. M. 1987 Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014 Kliche, Dieter, Häßlich, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2001, 25 – 66 Kovach, Francis J., Die Ästhetik des Thomas von Aquin. Eine genetische und systematische Analyse (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 3), Berlin 1961 Kulpen, Mojca, The Aesthetic of Ugliness – A Kantian Perspective, in: Dorsch, Fabian/ Ratiu, Dan-Eugen (Ed.), Proceedings of the European Society for Aesthetics. Volume 5, 2013, Fribourg 2013, 260 – 279 Michel, Paul, „Formosa deformitas“. Bewältigungsformen des Häßlichen in der mittelalterlichen Literatur (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 57), Bonn 1976 Platon, SUMPOSION. Das Gastmahl, in: ders., Phaidon. Das Gastmahl. Kratylos, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Léon Robin u. Louis Méridier, dt. Übers. v. Fried-

Das Hässliche | Max Gottschlich rich Schleiermacher (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 3), Darmstadt 1974, 209 – 398 Platon, JEITHTOS. Theaitetos, in: ders., Theaitetos. Der Sophist. Der Staatsmann, bearb. v. Peter Staudacher, griech. Text v. Auguste Diès, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 6), Darmstadt 1970, 1– 217 Rombold, Günter, Bilder – Sprache der Religion (Ästhetik – Theologie – Liturgik 38), Münster 2004 Rosenkranz, Karl, Ästhetik des Häßlichen, hg. u. m. Nachw. v. Dieter Kliche, Leipzig 2 1996 Scheer, Brigitte, Zur Theorie des Häßlichen bei Karl Rosenkranz, in: Klemme, Heiner F./ Pauen, Michael/Rater, Marie-Luise (Hg.), Im Schatten des Schönen. Die Ästhetik des Häßlichen in historischen Ansätzen und aktuellen Debatten, Bielefeld 2006, 141–155 Schmolke-Hasselmann, Beate, „Camuse chose“. Das Häßliche als ästhetisches und menschliches Problem in der altfranzösischen Literatur, in: Zimmermann, Albert (Hg.), Die Mächte des Guten und Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhundert über ihr Wirken in der Heilsgeschichte (Miscellanea Mediaevalia 11), Berlin/New York 1977, 442 – 452 Wiegand, Anke, Die Schönheit und das Böse (Epimeleia 7), München/Salzburg 1967 Zelle, Carsten, Das Häßliche, in: Ueding, Gert (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1304 –1326

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I. Einleitung

Während Nachahmung nach Kant kein Prinzip des moralischsittlichen Menschen sein kann,1 steht Nachahmung, oft Mimesis genannt, in den Künsten seit jeher in hohem Kurs, woran auch die Erfindung neuer technologischer Künste nichts änderte, im Gegenteil: Fotografie und Film scheinen den Begriff einer rigoros nachahmenden Kunst erstmals universal und global zu realisieren. Andererseits scheinen künstlerische und ästhetische Nachahmung nur im Kontext menschlicher und natürlicher Weltnachahmung möglich zu sein, weshalb eine einleitende Erörterung des Begriffes von ‚Nachahmung überhaupt‘ zweckdienlich erscheint. Ohne Nachahmung scheinen weder menschliche noch nichtmenschliche Welten möglich zu sein. Oder meinen wir damit eher ‚Wiederholung‘ und nicht Nachahmung? Außerdem: wäre immer und überall nur (wiederholend) nachgeahmt worden – wie hätten Evolution und Entwicklung in die Welt(en) gelangen können? Auch der Begriff Nachahmung scheint nur – wie alle Begriffe – ein selbstverständlicher zu sein. Wir wissen: „native speaker“ sind ohne Nachahmung unmöglich, ebenso jede Sozialisation, jede Art menschlicher Tradition und Traditionsbildung.2 In menschlichen Kulturen gilt unaus1

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„[…] denn Nachahmung ist dem noch ungebildeten Menschen die erste Willensbestimmung zu Annehmung von Maximen, die er sich in der Folge macht.“ Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 8), Frankfurt a. M. 162012, 619 (Tugendlehre. Die ethische Didaktik, § 52). „Da nun Lernen nichts als Nachahmen ist“, sei das Genie der Künste „dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen […].“ Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft

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weichlich, dass Nachahmung in allen Produktions- und Reproduktionsprozessen unvermeidlich ist. Aber nochmals: obwohl in aller Geschichte der Menschheit Nachahmung unausweichlich regiert, muss auch das Gegenteil wenigstens mitunter mitregieren, weil sonst Freiheit und Entwicklung und somit Geschichte selbst unmöglich (gewesen) wären.3 Was ist Nachahmung? Behaupteten geborene Skeptiker, diese Frage sei unbeantwortbar, weil zwischen Himmel und Erde stets nur eine untrennbare Mischung von Nachahmung und Nichtnachahmung geschähe, bliebe uns – als geborenen Philosophen – nicht erspart, die beiden Elemente der mutmaßlichen Weltmischung dennoch zu sondern und zu erkennen. Von Nachahmung sprechen wir entweder eigentlich oder uneigentlich. Eigentlich, wenn wir Vorgänge beschreiben, bei denen Menschen bewusst und gezielt4 etwas Nachahmbares durch geeignete Mittel und Medien – vom Steinhaufen bis zur Wortsprache – nachahmen. Uneigentlich, folglich metaphorisch-übertragend, wenn wir unterstellen, in den natürlichen Welten, aber auch in und unter Werkzeugen und Maschinen, finde gleichfalls ein bewusstes und zielgerichtetes Nachahmen statt. Wer diese uneigentliche Rede mit eigentlicher verwechselt und gleichsetzt, setzt Nachahmung mit Wiederholung gleich. Nachahmung ist aber mehr und anderes als Wiederholung – wie schon angedeutet: bewusste und zielgerichtete Wiederholung, die Nichtwiederholung einschließt. Wäre Nachahmung nichts als Wiederholung, hätte unsere Kausalität aus Freiheit an den Kausalitäten der anderen Welten – von Natur und Technik, die sich wiederum in eine große Zahl von Sonderwelten unterscheiden – entweder ein Vorbild oder ein Spiegelbild oder auch ein Nachbild. Würde die genannte Verwechslung und falsche Gleichsetzung die Realität von Natur und Technik adäquat beschreiben, wäre Nachahmung auch in den Welten der Natur, von der kosmologischen bis zur mikroatomaren, vom ersten Einzeller bis zum

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(Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014, 243 (§ 47 „Erläuterung und Bestätigung obiger Erklärung vom Genie“). Der Satz: „Ich ahme nach, also bin ich“, kam nicht zu philosophischen Ehren. Nur der Mensch ist ein Zwecke setzendes, in einem Tierkörper existierendes Vernunftwesen. Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 522 – 523 (Tugendlehre. VIII. Exposition der Tugendpflichten als weiter Pflichten. 1. Eigene Vollkommenheit als Zweck, der zugleich Pflicht ist).

Nachahmung | Leo Dorner

säugenden Vielzeller, aber auch unter Maschinen jeder Art in gleicher und gleichberechtigter Weise möglich und vorhanden. Nachahmen wäre kein Akt der Freiheit, sondern ein gleichartiger Akt natürlicher oder technischer Kausalität. Dass wir Wiederholung in eigentlicher Rede berechtigterweise auf Natur und Technik anwenden, scheint trivial zu sein. Bei klarem (Welt-)Verstand sind wir uns sicher, der Erde nicht zusprechen zu dürfen, sie ahme andere Planeten nach, wenn sie um ihre und deren Sonne kreist. Denn die Erde wiederholt nur Wiederholbares; doch ist auch sie keineswegs nur wiederholend. Denn noch der scheinbar starrsten Regelmäßigkeit der Natur(en) ist Irregularität beigemischt, auch wenn sich der Mensch nach Kräften bemüht, für seine Ziele und Zwecke einen Ausgleich zwischen Regularität qua Wiederholung und Irregularität qua Nichtwiederholung zu schaffen. Etwa indem er ein Ideal von Regelmaß voraussetzt und heranschafft, um daran die ‚unreine‘ Vollzugswiederholung der Natur ‚rein‘ zu machen. Menschliches Leben wird organisierbar, wenn es unter gemaßregelten Tagen und Stunden lebt. Eine Analogie dieses Phänomens einer Idealvermessung und idealischen Anpassung der trotz allpräsenter Naturgesetze immer auch irregulären Naturkreisläufe und -prozesse wird uns als Idealisierung und idealische Nachahmung im Reich der Künste wiederbegegnen. Ist demnach schon in der mechanisch-dynamischen Natur unsere Rede von einer nur wiederholenden Materie unsicher, äußern wir uns noch viel weniger sicher über Wiederholungen in der Flora, vollends unsicher über Wiederholungen in der Fauna. Da Tiere, augenscheinlich höhere, keine Maschinen, sondern mit Bewusstsein versehene Lebewesen sind, könnte deren Instinktsystem doch ein Vorbild oder Spiegelbild oder Nachbild unserer Kausalität aus Freiheit sein. Eine scheinbare Berechtigung zu dieser Annahme gewährt die relative Offenheit der Instinktsysteme höherer Tiere. Diese können nicht nur domestiziert, sie können sogar dressiert werden, auch dazu, menschliches Verhalten nachzuahmen – ein Papagei etwa, der ‚spricht‘ wie ein Mensch. Doch auch hier gilt, dass wir bei klarem (Welt-)Verstand den Unterschied von wirklicher und andressierter Nachahmung nicht zu verlieren pflegen.

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Dennoch ist der vernünftige Begriff von Nachahmung zweier Ergänzungen bedürftig, um nicht abstrakt zu bleiben. Zwar darf als unbestreitbar angenommen werden, dass nur bewusstes und zielgerichtetes, folglich von Verstand und Vernunft geführtes Nachahmen als wirkliches und nicht bloß scheinendes und täuschendes Nachahmen möglich und wirklich ist. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass innerhalb des unermesslichen Feldes bewussten und zielgerichteten Handelns und Nachahmens stets und überall auch ein unterbewusstes Handeln und Nachahmen existiert, das gleichwohl nicht als instinktgesteuertes Verhalten funktioniert. Das unterbewusste Handeln erscheint als vorbewusstes Nachahmen entweder als gesundes, wenn wir (geradezu mechanisch gewordene) Gewohnheiten, hingegen als krankhaftes Nachahmen, wenn wir neurotische Zwangswiederholungen vollziehen. Und diese beiden Grenz- und Extremfälle von bewusster Wiederholung führen unweigerlich zur moralischen Ergänzungsbedürftigkeit aller formalen Begriffe von Nachahmung. Anders könnten wir normale nicht von anormalen Gewohnheiten unterscheiden. Offensichtlich ist freies menschliches Nachahmen nicht als moralisch und politisch neutrales Handeln möglich. Nur auf der Grundlage eines erworbenen Systems von unzähligen Gewohnheiten können Menschen als zurechnungsfähige handeln und sowohl nachahmen wie nicht nachahmen. Folglich heben die genannten beiden Extremarten von (un)bewusster Nachahmung keineswegs die vernünftige Normativität des Begriffes freier Nachahmung auf. Im Gegenteil, sie führen unweigerlich in das Unheils-Zentrum des bewussten und zielgerichteten Nachahmens durch Menschen. Wir wissen geradezu vorbewusst – durch selbstverständlich gewordene Einsicht –, dass es weder klug noch gar moralisch und vernünftig wäre, stets nur als Nachahmer anderer Nachahmer zu leben und zu handeln. Und dennoch ist dies oft geschehen, geschieht immer noch und wird weiterhin geschehen. Denn nicht nur unzählige Alltagsfertigkeiten, auch moralisch-politische Maximen und Prinzipien, die sich in der Geschichte der Menschheit immer schon tradiert vorfinden, müssen von Menschen nach deren je aktuellen Prüfungskriterien angenommen oder verworfen werden. Wie könnten sonst schändliche und

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menschenverachtende Prinzipien und Maximen Mitläufer und Nachahmungstäter sonder Zahl finden? Weil in der Geschichte oft dunkel und ungewiss ist, auf welcher Seite das Gute und in die Zukunft Führende liegt, können sogar Millionen in die Falle tappen und sich als Mitläufer verdingen. II. Wissenschaft oder Kunst oder beides?

Seit dem 17. Jahrhundert begleiten Zeichnen und Zeichnung die Himmelsbeobachtungen der Astronomen und Wissenschaftler (Tycho Brahe, Galilei, Kepler, Huygens, Newton u. a.) an erstmalig verfügbaren Fernsichtgeräten.5 Was der geübte Beobachter am Fernrohr, also mit eigenen Augen, durch die blickerweiternden Linsen der ‚neuen Augen‘ erblickte, zeichnete er auf und ab, um es sich und anderen, somit einer interessierten Mit- und Nachwelt mitzuteilen. Nicht nur ahmte die Zeichnung nach, was sich durch das Gerät erblicken ließ, schon das Erblicken der neuen Wahrnehmungsbilder entfernter Welten war eine zweckgerichtete Nachahmung von Welt. Technologische Geräte richten nahe und ferne Welten nach ihren Grenzen und Methoden zu neuen Bildern von Welt zu. Nur in Fernrohren erscheinen Galaxien als deren Bilder; aber dieses Erscheinen ist zugleich nur durch und für unser wahrnehmendes Sehen. Folglich bleibt das Sehen unserer Augen – auch unter den ungeheuerlichsten Erweiterungen ihrer biologischen und kulturpragmatischen Grenzen – an die transzendental konstituierenden Grenzen des menschlichen Sehsinnes gebunden: etwa an den Ort und die Zentralperspektive des Sehens, an dessen Entfernung von den Objekten und ‚Beobachtungsorganen‘ und überhaupt an die Kraft des Auges, Bilder von nächsten und entferntesten, von größten und kleinsten Objekten entwerfen und aufbauen zu können.6 5 6

Analog dazu begann die Geschichte der Mikroskope und ihrer Zeichnungsdokumente an der Wende zum 17. Jahrhundert. Nicht Fernrohr oder Kamera sehen, nicht das Hörgerät und der CD-Player hören, nicht das Mikrofon spricht und singt. Teleskope sind (im optischen Bereich) erweiternde Augengläser nicht für sehende Teleskope, sondern für Menschenaugen. Das wahrnehmbare Bild der Sonne, sei es durch unmittelbare oder durch (Geräte) vermittelte Wahrnehmung erblickt, ist weder „dort, wo die Sonne real existiert“, noch auf unserer Netzhaut. Der wirkliche Ort des Bildes ist kein materieller Weltort. Könnten wir in die Okulare und Linsen unserer Kameras und Teleskope ‚hineingehen‘, würden wir keine Bilder vorfinden

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Bilder sind veränderte, durch die welthabende Sinnestätigkeit des Menschen veränderte Abbilder von Welt, ohne dass wir für das „Abbilden“ beweisbare Urbilder der Welt in urbildzeugenden Sinnesorganen voraussetzen können. Offensichtlich sind „Abbild“ und „Abbilden“ problematische Metaphern für Akte, die auch durch das Wort „Nachahmung“ nur andeutungsweise umschrieben werden. „Veränderung durch Abbilden“ bedeutet daher, dass wir zwar Gesamtbilder und Urbilder der (jeder) Realität postulieren müssen, zugleich aber wissen, dass auch jede Groß-Sammlung („Gesamt-Serie“) von Abbildern jedes Dinges immer nur approximativ das Gesamtbild („Urbild“) des Dinges erreicht. „Gesamtbild“ und „Urbild“ sind Metaphern für den (nur denkbaren) Begriff von Ding und Welt. Erscheinung (Bild) von Welt kann uns niemals eine anschaubare Totalität von Welt zeigen.7 Und das Verändern durch Nachahmung, sei es durch reale oder ideale, bleibt vom willkürlich freien Konstruieren und Dekonstruieren von Welt und Weltbildern – etwa durch moderne Kunst – unterscheidbar.8 Das durch Hand und Auge geführte Abbilden durch wissenschaftsdienliches Nachzeichnen geriet im 19. Jahrhundert in Konflikt und Streit mit der neuen fotografischen Abbildungskunst. An der dokumentierten Heftigkeit der damaligen Kontroverse lässt sich ermessen, wie radikal und bedrohlich oder auch überschwänglich und fanatisierend das Neue der fotografischen Technik zunächst erfahren und interpretiert wurde. Obwohl der Zeichenstift den Nachahmungs-Kampf gegen die Kamera nicht gewinnen konnte, verschwand doch das manuelle Nachzeichnen nicht gänzlich aus der astronomischen Praxis.9 Anfangs jedoch, als die Bilder der Fotografien noch unscharf

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(Leibniz’ Mühlengleichnis in erweiterter Anwendung). Und „Spiegelneuronen“ in unserem Gehirn, die angeblich Bilder abbilden oder gar „sichtbar“ machen, gehören zum Märchenrepertoire von nur noch fachspezifiziert denkenden Gehirnforschern. Dennoch erscheint uns Dürers Hase wie ein Urbild des Hasen schlechthin. Es gibt tiefere und weniger tiefe, wesentliche und unwesentliche Blicke – und vor allem: schöne Stile von Kunst, die einen idealischen Kristallblick auf die Erscheinungen der Welt ermöglichen. Vgl. Dorner, Leo, Traktat über vormoderne und moderne Kunst, Würzburg 2010. Auch professionellen Galaxienbeobachtern wird empfohlen, das im Fernauge erblickte Bild fernster Himmelskörper, insbesondere von Galaxien, nachzuzeichnen, um es dadurch gleichsam ins Bildgedächtnis des Beobachters einzuzeichnen. Als hinge unser (immer auch sprachbedingter) Schau-Besitz an Welt und Welten letztlich doch an dem, was wir mit Füßen betreten und mit Händen ergriffen oder nachgebildet haben. Vgl. Oldenburg, Stefan, Deep-Sky-Objekte visuell. Teil 5 – Die Beobachtungsnacht III: Die Dokumentation, in: Sterne und Weltraum 54 (1/2015), 74 – 80.

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waren, schien der Kampf zwischen altem und neuem Medium für noch lange Zeit unentschieden zu bleiben. Nachdem die französischen Physiker Hippolyte Fizeau und Léon Foucault 1845 mit dem Fotografieren von Himmelskörpern, auch der Sonne, begonnen hatten, gelangen dem amerikanischen Astronomen George Phillips Bond mit einer chemisch präparierten Metallplatte erstmals approximative Fernrohr-Bilder des Mondes. Und nach deren bald nachfolgender Verbesserung durch Warren De la Rue und Lewis Morris Rutherfurd wurden ab 1857 „allgemein bewunderte Mondbilder“10 präsentiert. Doch hielt sich das Bewundern der neuen Bilder innerhalb der Astronomen in engen Grenzen. Denn der Vergleich zwischen dem, was die Astronomen in ihren technischen Okularen und Linsen erblickten, und dem, was ihnen die Fotografien davon präsentierten, fiel enttäuschend aus. Offensichtlich übertrafen die Sehwerkzeuge der Fernrohrlinsen noch bei weitem die Abbildungskraft der Seh- und Bildwerkzeuge Kamera und Lichtplatte. Noch 1897 gibt Rudolf Spitaler einen auffällig nostalgischen Rückblick auf die traditionelle Mondkartographie.11 Während Spitaler die Langsamkeit der traditionellen Mondkartographie nicht als Nachteil beurteilte, feierte Camille Flammarion nicht nur den „Zeitvorteil“ des neuen „fotografischen Riesenauges“. Denn das neue Auge des Menschen „hat überdies die kostbare Fähigkeit, alles was es sieht, zu fixieren, zu drucken, zu bewahren.“ – „Man braucht nur die Netzhaut auszuwechseln.“12 Der zweifache Kampf der „Darstellung durch die fotografische Platte“ gegen einerseits die „Zeichnung nach der Gesichtswahrnehmung“ und andererseits gegen das reale Wahrnehmen am Fernrohr durch das menschliche Auge musste zugunsten der fotografischen Darstellung enden, sobald es gelang, lichtemp10 Oeser, Erhard, Die Suche nach der zweiten Erde. Illusion und Wirklichkeit der Weltraumforschung, Darmstadt 2009, 72. 11 Spitaler, Rudolf, Arbeiten und Fortschritte in der Astrophotographie im Jahre 1896, in: Jahrbuch für Photographie und Reproductionstechnik 11 (1897), 130 –134. 12 Zit. n. Oeser, Suche nach der zweiten Erde, 73. Flammarions offensichtlich völlig unmetaphorischer bzw. unbewusst metaphorischer Gebrauch von „Auge“, „Netzhaut“, „sehen“ und „bewahren“ beweist die Naivität seines naturwissenschaftlichen Denkens. Sein Wortgebrauch ist unmetaphorisch gemeint und gewollt, doch in der Realität zu unfreiwilliger Metaphorik führend. Akte des menschlichen Bewusstseins und seiner organisch bedingten Sinnesorgane werden wie Aktionen von Maschinen gedeutet – und Maschinen nicht als Medien (Mittel) und Werkzeuge, sondern als Lebewesen und neue Geisteswesen, ausgestattet mit „Riesenaugen“. Die transzendentale Differenz lässt sich nicht ungestraft hintergehen.

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findlichere Platten herzustellen. Dennoch liegt eine Verwechslung von eigentlicher und uneigentlicher Nachahmung vor, wenn Flammarion behauptet, dass das neue fotografische Riesenauge dem menschlichen Auge schier grenzenlos überlegen sei und schon von daher auch das zeichnende Abbilden durch Handstifte auf Papier weit hinter sich lasse. Das neue Riesenauge ist kein Auge, und das neue Abbilden ist zwar ein Nachahmen, sogar eines mit unüberbietbaren Genauigkeitswerten, und doch eines, das nicht ohne ein reales menschliches Auge und auch nicht ohne begleitendes und interpretierendes Wissen als „Abbildung“ von Welt(en) wahrgenommen werden kann. III. Mythos – Künste, vormoderne/moderne

Die Erfindungen von Fotografie und Film stehen am Ende der Neuzeit und am Beginn der Moderne – jedenfalls in der Geschichte der vormodernen Künste und deren Ästhetiken und Kunstlehren. Wohl schon ins späte 18. Jahrhundert fiel die Epochengrenze in der politischen und ökonomischen Geschichte – in der Politik zur modernen Demokratie führend und durch die „Erfindung“ der Menschenrechte in ein neues Zeitalter vorausweisend. Aber auch die Wissenschaften, Philosophie noch an führender Spitze, waren durch große Revolutionen des Denkens und neue Erforschungsmethoden Begründer und Träger von Moderne und moderner Welt. Später sprach man vom modernen Weltbild der Ersten Welt, von der Avantgarde der Menschheit. Einerseits befinden wir uns daher in der weltgeschichtlich beneidenswerten Lage, einen multiepochalen Rückblick auf die Totale der vormodernen Geschichte der Künste vollziehen zu können, andererseits nicht mehr naiv und von der Vergangenheit unbehelligt in die Zukunft produzieren, reproduzieren und nachahmen zu können. Anhänger einer Moderne, die sich als bruchlose Weiterführung der Vormoderne missverstehen, beklagen daher das „Museale“ und „Historistische“ der aktuellen Totalität von Moderne (und stets begleitender Postmoderne) und deren nicht mehr zu revidierender Janusköpfigkeit. Schon Hegel, nicht erst die Postmoderne aktueller Moderne, sah den modernen Künstler als Dramaturgen der inszenierten

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Nachahmung – nämlich aller Stile und Darstellungsweisen, aller neuen und tradierten Inhalte und Formen, die sich durch die vollendete Geschichte der vormodernen Künste summiert haben. Der alle Stoffe, Formen und Materialien und auch Syntaxen und Stile arrangierende Dramaturg des reflektierten Kunstwerkes der Kunst-Geschichte werde in allen „Einzelkünsten“ – nach dem berüchtigten „Ende der Kunst“ – erscheinen.13 In diesem Zeichen steht auch die Kunst des Gesamtkunstwerks, deren Illusionsidee, Hegel noch unbekannt, von Richard Wagner bekanntlich mit einer ähnlich naiven Obsession vorgebracht wurde wie von Nietzsche eine wenig bedarfte Lehre vom künftigen Menschen als Übermenschen. Den ästhetischen Illusionen der Opernideologie des 19. Jahrhunderts hat der Film des 20. Jahrhunderts Mores gelehrt; den Ideologien von übermenschlichen Herren- und Parteimenschen die politische Geschichte desselben Jahrhunderts. Nach modernen Begriffen sind Kunst und Künste nicht (mehr) Nachahmer vorgegebener Natur und Naturen, sondern „Schöpfer“ von Kunst und deren „Natur“, dieses Wort nun nicht mehr in seiner vormodernen Bedeutung von vorgegebenen Inhalten und Formen oder gar von Praxen und Herstellungsweisen verstanden, die Künstler einer vorbildenden Natur, welcher auch immer, entnehmen könnten. Kunst als Selbstnachahmung von Kunst steht daher am Ende der vormodernen, am Beginn ihrer modernen Entwicklung. Weshalb auch „Entwicklung“ von Kunst und Künsten dem Paradigmen-Unterschied von vormoderner (teleologischer) Entwicklung und moderner (hyperdifferenzieller) Entwicklung folgt. Diese Wende in der Begriffsgeschichte von Nachahmung durch Kunst und Künste ging der technologischen Wende voraus und kündigte sich bereits in Mittelalter und Neuzeit in den Gründen und Abgründen der vormodernen „Naturnachahmung“ durch Kunst und Künste an.14 Ein sich geschichtlich steigerndes ‚Wenden‘ von Begriff und Praxis von Kunstnachahmung (Mimesis), das grundsätzliche Fragen zur Definition aufwirft. Auch die Phi-

13 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik II (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 14), Frankfurt a. M. 1986, 220 – 242. 14 Werden Begriffe zu Anführungszeichenbegriffen, ist eine Gestalt ihrer Geschichte alt und grau geworden, während die neue Gestalt noch keinen neuen Namen gefunden hat.

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losophie der Kunst muss anerkennen, dass die Geschichtlichkeit von Kunst und Künsten unhintergehbar ist. Demnach scheinen auch über „Nachahmung durch Kunst“ lediglich geschichtsphilosophische, keine übergeschichtlichen und metaphysischen Theorien möglich zu sein. Dem Grundproblem jeder Begriffsgeschichte kann sich auch der Begriff von Nachahmung in den Künsten nicht entziehen. Meint Begriffsgeschichte die Geschichte eines sich in aller Geschichte identisch durchhaltenden Begriffes, oder meint Begriffsgeschichte, dass sich der Begriff Nachahmung durch Kunst und Künste gar nicht als allgemein begreifbarer (Vernunft-)Begriff seine Geschichte gibt, sondern durch die Geschichte (auch der Künste) immerfort als anderer gegeben und nominalistisch konstruiert sowie gemacht wird? Eine These, die spätestens dann ihre Fragwürdigkeit offenbart, wenn die Begriffsgeschichte des Begriffes der Vernunft erörtert werden muss. Eine nur historische Vernunft wäre nur Geschichte. Geschichte wäre das Absolute, Erst- und Letztbegriff unseres Erkennens und Handelns und aller Nachahmung von Welt und Mensch. Wogegen steht, dass Geschichte (Evolution, Entwicklung) niemals durch ihre Wenden und Machenschaften gegründet und begreifbar sein kann, weil nur Kontingentes vorauszusetzen wäre, bis hin zum beliebten Absurditätssatz, Geschichte (jeder Kultursparte) könnte auch ausgeblieben sein.15 Nicht nur muss die Frage: Was ist Nachahmung in, durch und für Kunst? in drei Fragen gedrittelt werden: Was ist Nachahmung gewesen? Was ist Nachahmung gegenwärtig? Was wird Nachahmung durch Kunst künftig sein? Auch die Vielzahl der Künste fordert ihren Tribut: Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung, um die Namen der vormodernen Hauptkünste zu nennen, die nun durch die technologisch modernen von Foto-

15 Gegen diese geschichtsphilosophische Systemthese bleibt Schopenhauers Gegenthese abstrakt: Philosophie sei Nachahmung der Welt durch Begriffe. Zwar durch allgemeine und insofern abstrakte Begriffe, dafür aber durch solche, die „stets bereitliegen“. Vgl. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band (Sämtliche Werke, hg. v. Arthur Hübscher, Bd. 2), Wiesbaden 31972, 453 (§ 68). Dieses „stete Bereitliegen“ wollte Hegel bekanntlich für den Logos der Vernunft reservieren, woraus sich die bekannten Probleme des hegelschen Gottes- und Weltbegriffes, wie deren Relation nun „bleibend“ zu deuten sei, ergaben. Siehe dazu etwa Hösle, Vittorio, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, 2 Bde., Hamburg 1988. Schopenhauers Philosophie einer stehenden Welt und Geschichte verweist nicht zufällig auf seinen platonischen Kunstbegriff, in der Musik sogar mit neopythagoreischer Begründung.

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grafie und Film und deren digital nachfolgenden Misch- und Spielkünste zu ergänzen sind. Indes zugleich die genannten vormodernen Einzelkünste ihre neue Geschichte als moderne Künste im Sinne der sogenannten „ästhetischen Moderne und Postmoderne“ als hyperdifferenzial reflektierende Nachahmungskünste begonnen haben.16 Da die vormodernen Künste aus religiösen Inhalten und Praxen hervorgegangen sind – die technologisch modernen aus Wissenschaft und Unterhaltung (Jahrmarkt) –, wäre ein gemeinsamer Nenner von Nachahmung für die vormodernen Einzelkünste allein in deren religiöser Praxis zu finden. Etwa in den kultischen Festen der Mythen aller antiken Kulturen, somit in der „Natur der Götter“ und deren Freuden und Wonnen, deren Macht und Gewalten. Dieser ‚gemeinsame Nenner‘ einer Mimesis für und durch alle Künste würde sich jedoch einer modernen Rückprojektion schuldig machen, wenn er voraussetzte, dass „alle Künste“ schon als eigennamentlich genannte und selbständige am Anfang des Mythos und seiner Entfaltung gestanden hätten – indes sie doch erst aus dessen Zerfall hervorgehen konnten. (Worauf Platon und Aristoteles teils reagieren, teils aktive Anstöße zu weiterer Beförderung der Autonomisierung geben.) Innerhalb der Geschichte des noch intakten Mythos organisiert und leitet dieser die tradierte Zuteilung kultischer Aufgaben an repräsentative „Kunstformen“ – Chor, rezitierende Schauspieler, Dichtung und Musik, aber auch Tempel und Skulpturen nebst Gymnastik und Sport und andere sind fester ritueller Teil der kultischen Funktion des mythischen Gesamtkultes –, (post) modern gesprochen: des „mythischen Gesamtkunstwerkes“.17 16 Die moderne Kunstkultur kann sich nicht mehr vormodern-teleologisch, sondern nur mehr demokratisch und via Märkten über die grenzenlose Ausdifferenzierung ihrer Spezialkulte „entwickeln“ – Selbstdifferenzierung als Selbstnachahmung und umgekehrt, schon für Georg Simmel ein untrügliches Zeichen einer „Tragödie der Kultur“. Siehe Simmel, Georg, Der Begriff und die Tragödie der Kultur [1911/12], in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1909 –1918, Bd. 1, hg. v. Rüdiger Kramme u. Angela Rammstedt (Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 12), Frankfurt a. M. 2001, 194 – 223; ders., Die Krisis der Kultur [1916], in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1909 –1918, Bd. 2, hg. v. Klaus Latzel (Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 13), Frankfurt a. M. 2000, 190 – 201 und ders., Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag [1918], in: ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen [u. a.], hg. v. Gregor Fitzi u. Otthein Rammstedt (Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 16), Frankfurt a. M. 1999, 181– 207. 17 Betrachtet man die gesamte Geschichte der Künste in kultischer Perspektive, fällt die moderne Selbst-Verkultung der Künste ins Auge. Biennalen, Festspiele und Festivals (jeder Kunst) sind der Künste eigener Kult geworden. Unvermeidbar, dass Künstler als menschgewordene Götter, Kunstwerke als kommunizierbares Himmelsbrot der vollstän-

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Nach der Antike und deren florierenden Kunstreligionen dürfte – nach dem Judentum – wohl der Islam die rigoroseste Trennung von Kunst und Religion vollzogen haben. Innerhalb des Christentums war bekanntlich der reformatorische Protestantismus zu gewissen Zeiten kunstfeindlicher als der stets kunstfreudige Katholizismus. An diese Vorgeschichte der säkularen Geschichte der Künste, an die Vorgeschichte ihrer neuzeitlichen Autonomisierung bis hin zur modernen Autarkie aller Künste zu erinnern kann nützlich sein, um nicht zu vergessen, innerhalb welcher epochalen Entwicklungs-Dimensionen die „aristotelische Mimesis“ als tragende Erbschaft einer scheinbar „ewig“ reproduzierbaren Antike oder einer „ewig“ reproduzierbaren – als Vorbild aller Künste nachahmbaren – „Natur“ traktiert und – bis heute – tradiert wurde. IV. Kunstbegriffe – Kunstgeschichte

Die Wort- und Bedeutungsgeschichte von Nachahmung (Mimesis) bei Platon und Aristoteles soll hier nicht wiederholt werden; sie wurde und wird in vielfältigen Varianten dargestellt und interpretiert. Trotz einer kaum übersehbaren Vielfalt an begrifflichen Zuschreibungen ist festzustellen, dass schon die antike philosophische Ästhetik und Kunsttheorie die überhaupt möglichen Bedeutungen von Kunst und deren Nachahmungsarten auf prinzipieller Begriffsebene erfasste. 1. Kunst noch nicht als Kunst, sondern noch als Religion. – 2. Kunst als säkulares Herstellen: Jede Art von Können, nicht nur das durch Kunsthandwerk im engeren Sinn, zeitigt eine von unendlich vielen Arten von Kunst. – Kunst als 3. a) selbstzweckhaftes (schönes und erhebendes) Darstellen und Ausdrücken; also Kunst im späteren und noch heutigen Sinn als höchster Erfüllungssinn von „Nachahmung durch Kunst“. Deren Arten, die sogenannten „Einzelkünste“ (Hegel), gehen aus dem zerfallenden Mythos der antiken Kunstreligion(en) hervor; und am dig befreiten Künste erscheinen – als wäre eine Rückkehr der (zur) antiken Kunstreligion möglich. Die moderne Olympiade versucht(e) seit 1896 sogar die mythische Einheit von Körper- und Geisteskultur wiederherzustellen, indes doch alle Massensport- und Massenunterhaltungsevents der modernen Kultur nur eine moderne Abstraktion der antiken Olympiade „nachahmen“ können, allerdings eine Abstraktion von hybrider Dimension: Ein Popkonzert für Abertausende übertrifft das Fassungsvermögen des antiken Odeons um den Faktor ‚erschreckende Größe‘.

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erfüllten Ende ihrer Erfolgsgeschichte die Moderne der modernen, nicht-mehr-schönen (vortechnologischen) Künste, nämlich: 3. b) Kritische und realistische Kunst als Leiden an der Welt und im Revers dazu: moderne Unterhaltungskunst bis zur äußersten Betäubung. – 4. Kunst als Nachahmung im engsten Sinne – als quasi-wiederholende Imitation – findet sich zwar auch unter 1. und 2., wird jedoch speziell als Sub-Art unter 3. a) zum historisch auffälligen Problem: Wozu selbstzweckhafte Kunst als Darstellung eines (möglichst genauen) Imitierens des Darzustellenden? Wem dienen des Zeuxis Trauben, wen bezaubert der von Parrhasios täuschend ähnlich gemalte Vorhang?18 Die später sich autonomisierenden Kunstarten der vormodernen Epochen – Architektur, Skulptur, Malerei, Musik und Dichtung – sind zunächst innerhalb des Mythos dessen ausführende Organe, stets auf dem Sprung zur Selbständigkeit, weil schon innerhalb des Mythos als je eigenes Können, aber noch in religiöser Absicht und Beauftragung, unterschieden. Jedes System der Künste im höchsten Wortsinn, auch das hier genannte, setzt den Zerfall des Mythos (aller vormonotheistischen Religionen) und deren Übergang in die freien Künste der vormodernen Epochen voraus. Dennoch war ihre erste Autonomisierung nur eine erste und relativ kurze, da der Neubeginn von Kultur und Kunst durch das Christentum zunächst entweder die Künste der Heiden ausschloss oder in anverwandelter Form in Dienst nehmen musste. Doch folgte dieser Rücknahme der Autonomie durch die frühe Kirche und deren weltliche Herrscher-Pendants in Hof und Adel bald eine Neubeauftragung, die von Anfang an das Telos einer zweiten und endgültigen Befreiung der Künste enthielt.19 Eine zweite und endgültige Befreiung, die über die bekannten abendländischen Epochenschritte der Künste zu deren vollendeter Autokratie führen sollte. Sie erfüllte sich im letzten Schritt 18 Eine pädagogische Analogie zur imitierenden Kunst findet sich bei Kant im schon eingangs erwähnten § 47 der Kritik der Urteilskraft: „Da nun Lernen nichts als Nachahmen ist [...].“ Kant, Kritik der Urteilskraft, 243. Kant hat hier offensichtlich Lernen als Auswendiglernen im Sinn. Dagegen wird das eigentlich erlernende Lernen, das nicht ohne Verstehen möglich ist, mehr als nur wiederholendes Nachahmen (‚Einpauken‘) sein müssen. Analog dazu muss auch die imitierende Malerei eine bereits hochqualifizierte Kunst-Synthese von Zeichnung und Farbgebung entwickelt haben, um originäre ZeuxisWeintrauben als ästhetischen Selbstzweck verwirklichen zu können. 19 Hierher gehört die Trennung von Ost- und Westkirche in Bezug auf Kunst und Künste. Malerei und Musik etwa verharren unter dem religiösen Ideal: Ikone und einstimmiger oder protomehrstimmiger Gesang genügen dem orthodoxen Ritus.

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der vormodernen Künste zur Moderne seit dem 19. Jahrhundert – zunächst noch unabhängig von der technologischen Wende durch neue technologische Künste.20 Freiere Kunst und Künste als die der Moderne sind weder denkbar noch möglich. Wer eine „Zweite Moderne“ erfindet, müsste noch viele weitere „Modernen“ der Künste für möglich halten. Eine Moderne und deren Globalisierung genügt, und allenfalls wird man später, wenn noch nötig, nach Dezennien taxonomieren, um für die Historie „zeitlos“ moderner Kunst wenigstens zeitliche Orientierungen zu gewinnen. Die restbeständlichen nationalen Zuschreibungen – jeder Nation ihre Moderne – haben ihre Markenkraft beinahe schon gänzlich eingebüßt. Der befreiten Selbstdifferenzierung aller autarken Künste autonomer Provenienz – Kunst ist Kunst und alles andere ist alles andere – steht nichts mehr im Wege. Was die Künste als moderne an „zeitloser“ Historie gewinnen, verlieren sie allerdings an verbindlicher Teleologie. Die Fortschrittsverbindlichkeit der vormodernen Künste war noch an den volonté générale der vormodernen Eliten gebunden, von diesen beauftragt und erhalten.21 Die nunmehr erlangte und nicht mehr rücknehmbare Autarkie ermöglicht der zu ihrer „ewigen“ (vulgo „zeitlosen“) Moderne befreiten Kunst auch das Kunststück einer autarken Selbstdeutung: Stets wieder werde sie sich aus eigengezeugter Postmoderne als erneuerte nächste Moderne reproduzieren. Wie oft dieses Spiel einer zeitlosen „Renaissance“ gespielt werden kann, ist nicht prognostizierbar, weil auch dieses Spiel von der Volatilität der Märkte (aller Künste) abhängt. Vermutlich erst spät wird die Leitideologie der „Ästhetischen Moderne“ entdecken, als wessen Geistes Kind sie dabei verfuhr. Dann nämlich, wenn sie begreifen wird, worin sich ihre „Entwicklung“ von jener der vormodernen Entwicklung unterschied. Von der allgemeinen Blindheit unserer Kultur gegen diesen Unterschied nährt sich auch der verbreitete Irrtum, die Moderne

20 Vgl. Hegels Ausführungen zur Auflösung der romantischen Kunstform sowie sein berüchtigtes, meistens missverstandenes „Ende der Kunst“ (Hegel, Ästhetik II, 220 – 242). Einige Dezennien davor hatte noch Johann Joachim Winckelmann seine Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755/1756) veröffentlicht. 21 Auf diesen Gemeinsamkeitsgeist geht auch Kants „übersinnliches Substrat“ zurück, ohne das die subjektive Allgemeinheit des Geschmacksurteils über Schönheit – der Natur und der Künste – weder mitgeteilt noch anderen angesonnen werden kann.

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der Künste sei entweder eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Steigerung oder gar Ziel- und Höhepunkt der vormodernen Künste.22 „Klassische Moderne“ ist lediglich ein Epochenbegriff, der die heroischen Abwendungen der ersten modernen Künstler vom Weg der Vormoderne umschreibt. (Die moderne Selbstdeutung leistet sich den Luxus einer „Anfangsklassik“, in ihrer Lesart: einen „modernen Mythos“.) Mit klassischer Vollendung und Klassik im eminenten Wortsinn hat die „moderne Klassik“ nichts zu tun; auf den Märkten fungiert sie als Markenname. Historiker und Kuratoren, Wissenschaftler und Philosophen aller Künste leben längst im modernen Paradigma, ahmen aber immer noch das vormoderne Paradigma nach.23 Ein Grund der verfälschenden Rückprojektion dürfte auch die umstrittene Anfangsfrage von Kunst und Künsten sein. Es muss das moderne Paradigma verstören, dass am geschichtlichen Anfang von Kunst und Künsten nicht diese, sondern Religion und Religionen gestanden haben sollen. Folgen wir der Museumslyrik unserer Tage, haben wir an Picasso einen modernen und zugleich zeitlos archaischen Maler; und die Höhlenmaler von Altamira hätten schon als „erste Picassos“ produziert. Wer den historischen Übergang von Mythos zu Kunst, von Religion zu Künsten verkennt, erntet zeitlos zeitlose Künste.24 V. Natur und Antike, Nominalismus und Moderne

Schon in der frühen Neuzeit, in der Bildenden Kunst bereits in den ersten Anfängen der „Renaissance“ in Italien, erfolgt die zweite, die christliche Entlassung der Künste zu ihrer endgültigen Freiheit und Selbständigkeit. Damit zugleich die entscheidende Wende in der Geschichte der Nachahmung durch Künste, die nun selbstzweckhafte Werke schaffen sollen.

22 Arnold Schönberg verstand sich als Mozart oder Tschaikowsky der Moderne; er verstand nicht, warum außer seinen Freunden und Schülern niemand verstehen wollte. 23 Sie arbeiten der Selbstläufigkeit funktionierender Märkte zu, besonders jener, die bis hin zur totalen Fetischisierung von Kunstwerken deren einstigen „Gebrauchswert“ durch jeweils höchste Marktwerte vernichten. (Picassos und Giacomettis Werke konkurrieren mit Napoleons Haarlocke.) 24 In der (nunmehr „klassischen“) deutschen Philosophie wurde „Mythos“ zumeist noch unter „Naturreligion“ rubriziert. Auch die mythischen Religionen der Antike hatten ihre vorangegangenen Naturreligionen. Der Hügel über Olympia, auf dem vorolympischen Göttern Menschenopfer dargebracht wurden, ist noch heute zu besichtigen.

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Religiöse Inhalte werden teils verweltlicht – die Heilsgeschichte wird durch Figuren der jeweiligen Gegenwart repräsentiert –, teils werden weltliche Inhalte ohne religiösen Bezug – nicht ohne Kampf und Tabubruch – zur Darstellung freigegeben. Im Kern des neuen Nachahmungsprinzips finden wir zwei Prinzipien, die oft bis zur Indifferenz identifiziert werden: 1. „Natur“ als Deckname für die Entwicklung gesuchter Schönheitsideale in Stil, Gattungen und kanonisierbaren Grundtypen; und 2. „Antike Schönheit“ als normatives Vorbild für die Entwicklung aller vormodernen Einzelkünste, mit Ausnahme der Musik, die sich noch aus ihrer Gestalt als genuin christliche Kunst emanzipieren musste.25 Universale Schönheitsvernunft wäre ein erkennender Name für das Kompositum beider Decknamen. Vernünftige Künste mit verbindlicher Rationalität sollten auch einmal die Bühne der Weltgeschichte betreten. Vollkommen kohärente und wahrhaftige Schönheitsideale wurden nicht nur gefunden, sie wurden – unter königlich-höfisch-fürstlichen, konfessionellen und vormodern nationalen Wettbewerbsszenarien – vollständig ausgeschöpft. Ihr historisch gewordener Bestand an Syntaxen und Stilen, Handwerken und Formen wird noch an den heutigen Kunstuniversitäten gelehrt. Ihre Erschöpfung im späten 19. Jahrhundert, ihr Übergang als „klassizistische Klassik“ in die Produktion und Reproduktion von Kitsch-Künsten überraschte sogar die damaligen Kenner der schönen Künste und ihrer Geschichte.26 Was so unübertreffbar natürlich und schön erschien an Werken, deren Arsenale ganze Paläste und Museen, deren Repertoire Konzert- und Opernhäuser füllte – warum sollten diese zwar historisch gewordenen Normen der klassizistischen Kunstlehre nicht fähig sein, die Produktion künftiger Kunst „für immer“ zu leiten? Wie beispielsweise die repräsentative Ästhetik des 19. Jahrhunderts von Friedrich Theodor Vischer unterstellte – in später und letztmöglicher Analogie zu Aristoteles’ Glauben an klassische 25 Musik begab sich auf die Suche nach einer „natürlichen Sprache der Gefühle“, später sogar als wortlose Instrumentalmusik, die bei Platon noch den Tieren und Tierstimmennachahmern vorbehalten war. 26 Kitsch ist universaler und globaler – letzter – Manierismus der vollendeten vormodernen Künste-Geschichte. Deren originäre Epochen kannten noch stil- und epochenspezifische Manierismen, die jeweilige „Nachklassik“ erfüllter Epochen-Klassik, womit die jeweilige (Kunst-)Epoche abgeschlossen und die nächste erzwungen wurde.

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Musterwerke für die künftigen Folgewerke der hellenistischen Theaterproduktion.27 Obwohl sich die (erhaltene) Mimesistheorie des Aristoteles auf die Tragödie beschränkte und das Naturschöne kein Thema der antiken Ästhetik war, blieb seine Lehre doch normsetzend für die vormoderne tragödische Dichtung und deren Theorie – über Lessing hinaus bis ins 19. Jahrhundert. Aber auch die neuen Lehren einer Nachahmung der natura naturata oder natura naturans durch freie Künste konnten an Aristoteles anknüpfen28 – an dessen Axiom, Nachahmung sei eine angeborene Fähigkeit des Menschen.29 Die Entelechien (vulgo natürliche Schönheit) in allen (noch vormodernen) freien Einzelkünsten zu finden, diese Suche und Arbeit machte fortan einen unverzichtbaren Schwerpunkt abendländischer Kultur aus. Noch für Jahrhunderte wird die Herausbildung der Entelechien von den herrschenden Eliten der vormodernen Gesellschaft und den Leidenschaften authentischer Originalgenies getragen; und deren Originalität, anders als die moderne, zeitigte noch verbindlich kanonisierbare Erfolge.30 Es bedürfe gewisser eingeschränkter Mittel, um den Mythos (Erzählung) des – moralisch integren – Helden durch gewisse eingeschränkte Formen dramatisch darzustellen. Werde diese primäre Entelechie erfüllt, könne sich auch die zweite und endgültige, Freude nämlich und Erhebung der teilnehmenden Arena zu bewirken, erfüllen. Dabei stellt Aristoteles (nur mehr) menschliche Helden unter das Normparadigma eines Handelns, das sich als vollendet menschliches unter tragischen Prämissen –

27 Vischer, Friedrich Theodor, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 3 Teile in 10 Bänden, Reutlingen/Leipzig 1846 –1851, Stuttgart 1852 –1858. Siehe dazu Heyfelder, Erich, Klassicismus und Naturalismus bei Fr. Th. Vischer, Berlin 1901; Schneider, Norbert, Theorien moderner Kunst. Vom Klassizismus bis zur Concept Art, Köln/Weimar/Wien 2014. 28 Vgl. Bloch, Ernst, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt a. M. 1972; Recki, Birgit, Mimesis: Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines mißverstandenen Leitbegriffs, in: Kunstforum International 114 (1991), 116 –126. 29 Ob geistige Fähigkeiten wie Organe und Gliedmaßen „angeboren“ sein können, diese Frage an Aristoteles sollten wir nicht unterdrücken. Widrigenfalls teilen wir das moderne Vorurteil, Aristoteles habe schon „anthropologisch“ gedacht. „Angeboren“ und „anthropologisch“ sind nichtssagende Not- und Verlegenheitsbegriffe. 30 Die moderne „Kanonisierung“ geschieht über die Mechanismen der Kunstmärkte und deren Eliten. Diese orientieren sich an den Systemkriterien Namen-Marke (vulgo „Promi“) versus Namenlos, somit an „Durchbruch“ oder (noch) nicht. Ästhetische Voraussetzung dafür: moderne Künstler können und müssen Kunstschönheit je für sich – in Eigenregie – definieren. Eine nominalistische Auflösung von Schönheit und Ästhetik, nur diese vermag die modernen Märkte und deren Prozeduren zu grundieren. „Unverwechselbarer Personalstil“ ist ein Problemname, kein normverbindlicher Erfolgsname.

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blinde Tat, späte Erkenntnis – erfüllt. Ein Paradigma und Leitbild für dramatische Theaterkunst, nicht für die anderen freien Künste der frühen Neuzeit. Diese mussten ihre Entelechien daher in ihren zugeordneten antiken Vorgängerkünsten – über die Grenzen der Religionen hinweg – suchen. Vasari und andere haben diese Scheinsuche, denn die damals modernen Künstler wussten schon, worauf sie hinaus wollten und mussten, erschöpfend beschrieben.31 Raffael, Aufseher über die römischen Antiken, Michelangelo, dessen Skulpturen die antiken an Vollkommenheit übertreffen, Alberti und Palladio, die sich an Vitruv orientieren, und noch da Vinci und Dürer nehmen Maß am homo bene figuratus.32 Und die Musik? Diese musste ihr Gegenstück zur Zentralperspektive, eine vollkommene Harmonie zusammenklingender Töne, wirklich eigenständig und aus eigenen Mitteln suchen. Hier halfen keine antiken Vor- und Musterwerke, und dies nicht nur, weil Dokumente und Quellen fehlten. Es fehlte die Terz, um auch die mittelalterlichen Tonsätze, die über sakrosankte Theorien nochmals an antike Tonsysteme anknüpften, hinter sich zu lassen. Und es fehlte, davon unabtrennbar, die tonale Kadenz, um der neuen (und unüberbietbar vollendeten) Mehrstimmigkeit eine „rationale“ Grundlage zu verschaffen. Diese war mehr als „rational“, sie war die unüberbietbare Vernunftgrundlage einer Syntax unter Tönen, die als universale Tonsprache bis ins 19. Jahrhundert bedeutende vormoderne Musik zu erschaffen ermöglichte.33 Guillaume Dufay wurde fündig und ihr erster Meister – um 1435.

31 Aufschlussreich ist, wie Giorgio Vasari (Le vite de’ più eccellenti pittori scultori ed architettori, 1550/1568) die Einheit von Zeichnung und Farbgebung als Kriterium höchster Bildschönheit, der die Zentralperspektive selbstverständlich geworden war, an den Werken seiner Epoche demonstriert. Tizian wird Raffael nachgereiht. 32 Zum Palladianismus, der sich bis heute besonders im angelsächsischen Raum einer anscheinend immerwährenden Existenz erfreut, ließen sich in allen Künsten parallele klassizistische Klassiken nachweisen. Man spricht dann oft von Neo-Ismen, und naturgemäß zu Recht. Kurz war die spätromantische Existenz der Neo-Gotik, schon in der Morgendämmerung der Moderne angesiedelt: ein erstaunliches Beispiel der Janusköpfigkeit unserer modernen Kultur. Sie ist zugleich Spätkultur und Anfangskultur. 33 Vgl. Eberlein, Roland, Die Entstehung der tonalen Klangsyntax, Frankfurt a. M. u. a. 1994. Die tonale Syntax mutiert im 20. Jahrhundert in allen Gattungen der Unterhaltungsmusik zu mechanisierten Schrumpfsätzen, die sich manchmal, etwa im Jazz, mit entelechialen Weiterentwicklungen der vormodernen Tonsätze – strenger und freier Tonsatz – verwechseln. Ein Missverständnis und Missgeschick, das auch Arnold Schönberg und seiner Schule mit atonalen und dodekaphonen Konzepten unterlief.

Nachahmung | Leo Dorner

VI. Siebzehn zusammenfassende Sätze über Nachahmung

1. Nachahmung steht in grundsätzlicher (transzendentaler) Differenz zu Wiederholung in aller Natur sowie zu Abbildung in jeder menschlichen Wahrnehmung. 2. Dennoch ist bereits Wahrnehmen ein zweckgerichtetes Nachahmen von Welt. 3. Uneigentliche Rede über Nachahmung setzt Nachahmung (a) mit Wiederholung gleich; eigentliche Rede setzt Nachahmung (b) als bewusste und zielgerichtete Nachahmung, die Nichtnachahmung einschließt. 4.  Nachahmung (b) ist freie Nachahmung; Nachahmung (a) ist entweder normale oder krankhafte Gewohnheit. 5.  Dem Abbilden von Gegenständen liegen keine verifizierbaren Urbilder von Gegenständen voraus. Dennoch ist das freie Nachahmen, idealisch oder realistisch, mehr als ein willkürliches Konstruieren und Dekonstruieren von Welt und Mensch. 6. Die Begriffsgeschichte der Künste geht ihrer historischen Entwicklung transzendental voraus; die Begriffsgeschichte der Künste schafft die Bedingungen der historischen Erfüllung und Erschöpfung des Begriffes. 7. In der Geschichte der Künste ist ideale (idealisierende) Nachahmung von realistischer Nachahmung zu unterscheiden. Vormoderne Epochen sind grundsätzlich (transzendental) von modernen Epochen der Künste unterschieden. 8.  Die vortechnologisch modernen Künste haben nur noch individualistische „Ideale“, die vormodernen Künste hatten noch kulturtragende Ideale. Sie idealisierten noch natürlich im Sinne der Entelechie, die vortechnologisch modernen hingegen „idealisieren“ kritisch, „subversiv“ bis surrealistisch. 9.  Foto und Film haben neue, technologische Ideale, die aber nicht nur als Kunst kulturtragend sind. Film ist die moderne Leitkunst als Leitkommunikation. Bühne und Leben zugleich, Agora und Mythos zugleich, doch ohne verbindlichen Mythos als Religion. 10.  Die vortechnologisch moderne Kunst ist als dramatische Inszenierung ihrer vormodernen Weisen von Kunst wie auch und oft zugleich als Selbstnachahmung von Kunst Realität geworden.

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11.  Daraus folgt die Überlegenheit und Leitstellung der technologisch modernen Kunst (Foto und Film) für das Selbstverständnis des modernen Menschen und seiner Kultur. 12. Der aristotelische Gedanke einer Mimesis des teleologischen Logos („Natur“) der Künste trug und umschrieb die Ideale aller vormodernen Kunstepochen nach der und durch die Auflösung des antiken Mythos – in allen vormodernen Einzelkünsten nach deren autonomen Entwicklungen. 13.  Die Autonomisierung der vormodernen Künste, ihre Lösung vom religiösen Ursprung und Dienst, erschöpfte und vollendete deren Schönheitsideale. 14.  Hegels Satz über die antike Kunst: „Schöneres kann nicht werden“, gilt seit Beginn der Moderne für die erfüllte vormoderne Kunst und deren Geschichte. 15. Kunst (ars eminentia) entsteht als Religion (Mythos), um durch deren Zerfall zunächst die autonomen Künste der Vormoderne zu generieren und zu vollenden. Die Befreiung von diesem Prozess führte schließlich zur modernen Kunst und deren Vermittlung durch Kunstmärkte. 16.  Was in den vormodernen Künsten noch vereint, zerfällt in der Moderne in moderne Unterhaltungs- und moderne Reflexionskunst. 17.  Kunst als Können (ars vulgaria) – aller Sinne, aller Fertigkeiten: von der Kochkunst bis zur Lebenskunst, von der Straßenbaukunst bis zur Überredungskunst – begründet und begleitet die Geschichte der Menschheit. Unersetzbar die Geschichte der dienenden Künste Handwerk und Technik.

Literatur Bloch, Ernst, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz, Frankfurt a. M. 1972 Dorner, Leo, Traktat über vormoderne und moderne Kunst, Würzburg 2010 Eberlein, Roland, Die Entstehung der tonalen Klangsyntax, Frankfurt a. M. u. a. 1994 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Vorlesungen über die Ästhetik II (Werke in 20 Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 14), Frankfurt a. M. 1986 Heyfelder, Erich, Klassicismus und Naturalismus bei Fr. Th. Vischer, Berlin 1901 Hösle, Vittorio, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, 2 Bde., Hamburg 1988 Kant, Immanuel, Metaphysik der Sitten (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 8), Frankfurt a. M. 162012

Nachahmung | Leo Dorner

Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 10), Frankfurt a. M. 212014 Oeser, Erhard, Die Suche nach der zweiten Erde. Illusion und Wirklichkeit der Weltraumforschung, Darmstadt 2009 Oldenburg, Stefan, Deep-Sky-Objekte visuell. Teil 5 – Die Beobachtungsnacht III: Die Dokumentation, in: Sterne und Weltraum 54 (1/2015), 74 – 80 Recki, Birgit, Mimesis: Nachahmung der Natur. Kleine Apologie eines mißverstandenen Leitbegriffs, in: Kunstforum International 114 (1991), 116 –126 Schneider, Norbert, Theorien moderner Kunst. Vom Klassizismus bis zur Concept Art, Köln/Weimar/Wien 2014 Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band (Sämtliche Werke, hg. v. Arthur Hübscher, Bd. 2), Wiesbaden 31972 Simmel, Georg, Der Begriff und die Tragödie der Kultur [1911/12], in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1909 –1918, Bd. 1, hg. v. Rüdiger Kramme u. Angela Rammstedt (Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 12), Frankfurt a. M. 2001, 194 – 223 Simmel, Georg, Die Krisis der Kultur [1916], in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1909 –1918, Bd. 2, hg. v. Klaus Latzel (Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 13), Frankfurt a. M. 2000, 190 – 201 Simmel, Georg, Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag [1918], in: ders., Der Krieg und die geistigen Entscheidungen [u. a.], hg. v. Gregor Fitzi u. Otthein Rammstedt (Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 16), Frankfurt a. M. 1999, 181– 207 Spitaler, Rudolf, Arbeiten und Fortschritte in der Astrophotographie im Jahre 1896, in: Jahrbuch für Photographie und Reproductionstechnik 11 (1897), 130 –134 Vasari, Giorgio, Le vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori, Firenze 1550 (Seconda edizione, Firenze 1568) Vischer, Friedrich Theodor, Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 3 Teile in 10 Bänden, Reutlingen/Leipzig 1846 –1851, Stuttgart 1852 –1858 Winckelmann, Johann Joachim, Gedancken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, Friedrichstadt 1755 (2., verm. Aufl., Dresden/Leipzig 1756)

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Das Zeigen des Nicht-Zeigens Christian Spies

Im Vorspann soll ein Bild stehen. Eines, das ebenso exemplarisch wie anekdotisch ist und das – ganz unfreiwillig zwar – mitten in das Thema der folgenden Überlegungen führt: die Negation im Bild, oder anders gesagt, zu zeig­ en, dass nichts gezeigt wird (Abb. 1). Die Fotografie der vier Textzeilen habe ich vor einigen Jahren im Treppenhaus eines Mietshauses aufgenommen. Sie führt auf einen kleinen Nachbarschafts-

Abb. 1: Aushang im Treppenhaus eines Mietshauses, Basel 2008

streit zurück: Dort, wo jetzt der rosafarbige Zettel zu sehen ist, hing vorher ein kleines Bild, ein eher unscheinbarer Kunstdruck, wahrscheinlich ein banales Kalenderblatt. Es war einfach gerahmt und konnte bereits durch seine geringe Größe nur schwerlich dem gewünschten Dekorationszweck im Treppenhaus des Mietshauses entsprechen. Möglicherweise hat es sogar missfallen, denn anscheinend war es von einem der Nachbarn entwendet worden. Der Besitzer des Bildes beschwerte sich nun mit einem öffentlich ausgehängten rosafarbigen Zettel im Treppenhaus. Darauf formuliert er sein Ansinnen: „Bitte Bild unbedingt wieder hinhängen!“ Doch scheinen weder das unterstrichene Bitte noch das Aus-

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rufezeichen am Ende seiner Aufforderung genügend Nachdruck zu verleihen. Der Verweis auf das fehlende Bild wird sogar selbst wieder zum Bild erklärt. An die Stelle, an der vorher ein Bild gehangen hatte, sogar an den gleichen Nagel, wird nun wieder ein Bild gehängt, eines, das auf den Verlust des vorausgegangenen Bildes verweist. Schaut man genau hin, dann wird der freigestellte und fett gedruckte Begriff Bild sogar noch von einem kleinen querrechteckigen Rahmen umgrenzt. Dort, wo das fehlende Bild auf seinen Begriff reduziert scheint, wird ihm seine Fläche wieder hinzugefügt, um der Suche genügend Nachdruck zu verleihen. Kurz gesagt: Gerade das fehlende Bild muss selbst wieder als Bild ausgestellt werden. Sonst müsste es ja auch gar nicht auffallen, dass dort kein Bild ist, wo eigentlich eines sein sollte. Die vollständige Negation des Bildes ist sein Verschwinden. Darüber lässt sich dann allenfalls noch reden, wenn diese Negation nicht auch zugleich wieder als Bild gefasst ist. Dieser besondere Fall wird am verschwundenen Bild im Treppenhaus deutlich. Dort wurden Sprache und Bild bemüht, um das Fehlen eines Bildes unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen. Die Frage ist nun, ob sich daraus eine grundsätzliche Regel ableiten lässt. Das Bild ist ein Medium der Darstellung. Mit ihm kann im Bild etwas anderes sichtbar vor Augen geführt werden. Wie kann aber diese Darstellung auch widerrufen werden, ohne sie einfach wegzulassen? Braucht es dafür womöglich ein anderes Medium, wie die Sprache, die jede positive Benennung auch zugleich ins Negative wenden kann? I. Bild ≠ Negation

„Kann man denn ein Bild verneinen?“1 So fragt Ludwig Wittgenstein 1914 in einem seiner frühen Notizbucheinträge, der in der Debatte um Bild und Negation maßgebliche Spuren hinterlassen hat.2 Wittgenstein gibt auf seine Frage eine eindeutige und 1 Wittgenstein, Ludwig, Notebooks 1914 –1916, ed. by Georg Henrick von Wright and Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, rev. 2nd Ed., Oxford 1979, 33 (26.11.1914). 2 Für die vielfältige Literatur dazu vgl. etwa Richtmeyer, Uli, Logik und Aisthesis – Wittgenstein über Negationen, Variablen und Hypothesen im Bild, in: Heßler, Martina/Mersch, Dieter (Hg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, 139 –162; Mersch, Dieter, Die Zerzeigung. Über die ‚Geste‘ des Bildes und die ‚Gabe‘ des Blicks, in: Richtmeyer, Ulrich/Goppelsröder, Fabian/Hildebrandt, Toni (Hg.), Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Kunst und Philosophie, Bielefeld 2014, 15 – 44 oder Nemeth, Elisabeth/Heinrich, Richard/Pichler, Wolfram (Hg.), Bild und Bildlichkeit in

Das Zeigen des Nicht-Zeigens | Christian Spies

unmissverständliche Antwort: „Nein.“ Darauf folgt eine ebenso knappe Begründung: „Und darin liegt der Unterschied zwischen Bild und Satz. Das Bild kann als Satz dienen. Dann tritt aber etwas zu ihm hinzu, was macht, daß es nun etwas sagt. Kurz: Ich kann nur verneinen, daß das Bild stimmt, aber das Bild kann ich nicht verneinen.“3 Das Bild funktioniert durch die affirmative Geste des Aufzeigens. Etwas wird vor Augen gestellt.4 Das Gegenteil, etwas zu entziehen, bedeutet allerdings keineswegs die Negation des Nicht-Gezeigten. Der wittgensteinschen Logik folgend resultiert es ganz banal aus dem Fehlen des Gezeigten, das somit auch nicht negiert werden kann. Zunächst kann man, von Wittgensteins Notiz ausgehend, einmal mehr über die unterschiedlichen Möglichkeiten von Bild und Sprache spekulieren, wenn man im Sinne des alten Paragone an jeweils einem Medium ein Manko gegenüber dem anderen auszumachen meint: Dabei wird man Wittgensteins kurze Bemerkung eindeutig zugunsten der Sprache lesen, gegenüber deren Möglichkeiten das Bild zurückzubleiben scheint. Die Aussage eines Satzes kann in der Sprache unmittelbar in ihr Gegenteil umgekehrt werden. Etwas ist nicht. Das Bild dagegen kann allenfalls ganz darauf verzichten, etwas zu zeigen. Im Unterschied zur Sprache ist es ihm aber nicht möglich zu zeigen, dass etwas nicht ist. Denn jede Form der Negation des Gezeigten gründet hier in einem Nicht-Zeigen. Insofern ist die Frage, was auf einem Bild nicht gezeigt wird, zunächst so müßig wie unsinnig. Es könnte ein Alles oder auch ein Garnichts sein. Sie ergibt erst dann Sinn, wenn klar ist, was dort gezeigt werden sollte. In einer logischen Folgerung erweist sich das Nicht-Gezeigte dann indirekt als das Gegenteil, als die Verneinung des Gezeigten. Aber auch im naheliegenden Fall derjenigen Verneinung im Bild, die im partiellen Nicht-Zeigen gründet, etwa dem Durchstreichen, Überdecken und Auslöschen des Gezeigten, kann das

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Philosophie, Wissenschaft und Kunst. Beiträge des 33. Internationalen Wittgenstein Symposiums, 08.–14.08.2010 (Beiträge der Österreichischen Ludwig-Wittgenstein-Gesellschaft 18), Kirchberg am Wechsel 2010. Wittgenstein, Notebooks, 33 (26.11.1914). Für das komplexe Verhältnis zwischen einem Vor-Augen-Stellen im Bild bei gleichzeitigem Entzug desselben vgl. Spies, Christian, Vor Augen Stellen. Vitrinen und Schaufenster bei Edgar Degas, Eugène Atget, Damian Hirst und Louise Lawler, in: Boehm, Gottfried/Egenhofer, Sebastian/Spies, Christian (Hg.), Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, Paderborn/ München 2010, 261– 289.

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Nicht-Zeigen von etwas nur auf das Zeigen desselben folgen. Dabei handelt es sich um einen Entzug von Sichtbarkeit im Bild, der nur dann über die Erfahrung eines unbestimmten Mangels hinausführt, wenn ihm die Sichtbarkeit derjenigen Sache vorausgegangen ist, die zugleich wieder ausgelöscht wird. Überhaupt wird das Fehlen von etwas Gezeigtem nur dann als Mangel verstanden, wenn das Bild den Ort markiert, an dem eigentlich etwas zu sehen sein sollte. Umgekehrt scheint das Bild für Wittgenstein aber auch deshalb nicht in der Lage zu verneinen, weil ihm gegenüber dem Satz etwas hinzugetreten ist. Es ist überdeterminiert, wenn die Aussage im Bild zu stark ist, als dass man sie überhaupt in Frage stellen könnte. Im Satz kann die Aussage entweder wahr oder falsch sein. Sie definiert sich über die logische Struktur seiner Prädikation. Die sichtbare Präsenz, die der Verneinung im Bild vorausgehen muss, bleibt dagegen auch in der Absenz noch erhalten. Dafür ist der Bildträger das beste Indiz, wenn er nicht nur die Grundlage des Gezeigten ist, sondern zugleich noch für das Fehlen des Gezeigten steht. Auf ihm sind nicht nur die Spuren zu sehen, die von dem Gezeigten nach seinem Auslöschen übrig blieben, sondern auch der Freiraum, der das Fehlen des Gezeigten anzeigt, das dort eigentlich zu sehen sein sollte. Kurz gesagt: Die Negation steht im Bild also in einem untrennbaren Bedingungsverhältnis zur Affirmation. Erst das Gezeigte kann auch als solches negiert werden, wobei die Negation dann nicht mehr hinter die affirmative Präsenz des Gezeigten zurückgehen kann. So sehr also Wittgensteins frühe Notiz zunächst einen Paragone der Negation zugunsten der Sprache evozieren mag, so wenig entscheidet er sich bei seiner anhaltenden Beschäftigung mit der Frage nach der Bildnegation letztlich, welches der beiden Medien mit seinem je spezifischen Verhältnis zur Affirmation zu bevorzugen ist: Das Bild ist der Sprache unterlegen, weil es nicht negieren kann. Als überdeterminiertes Medium ist es ihr doch zugleich überlegen, weil der Negation immer schon eine dominante Affirmation vorausgeht. Beide Optionen spielt Wittgenstein immer wieder gegeneinander aus.5

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Uli Richtmeyer weist darauf hin, wie Wittgensteins Aussagen zum Problem der Bildnegation von den frühen Notizen bis in die Spätphilosophie der Philosophischen Unter-

Das Zeigen des Nicht-Zeigens | Christian Spies

So ist dann auch das berühmte Bild der beiden Fechter6 (Abb. 2), das Wittgenstein bereits vorher für das Problem der Negation in Satz und Bild angeführt

hatte,

emblema-

tisch für diese Unentschieden-

Abb. 2: Ludwig Wittgenstein, Fechter, Tagebucheintrag vom 29.09.1914

heit des Paragone um die Verneinung. „Der Satz in Bilderschrift kann wahr oder falsch sein. Er hat einen Sinn unabhängig von seiner Wahr- oder Falschheit. [...] Man kann sagen, wir haben zwar nicht die Gewissheit, daß wir alle Sachverhalte in Bildern aufs Papier bringen können, wohl aber die Gewissheit, daß wir alle logischen Eigenschaften der Sachverhalte in einer zweidimensionalen Schrift abbilden können.“7 In den 1930er Jahren kommt er auf dieses Bild im Big Typoscript nochmals erklärend zurück: „Ich kann ein Bild davon zeichnen, wie Zwei miteinander fechten; aber doch nicht davon, wie Zwei miteinander nicht fechten (d. h. nicht ein Bild, das bloss dies darstellt).“8 Denn welche Seite in diesem Kampf schließlich überlegen ist, bleibt offen: Zu zeigen, dass etwas ist, ist die eine Option. Oder zu sagen, dass etwas wahr oder falsch ist, ist die andere. Das Bild, so Wittgenstein im Tractatus, habe seinen Sinn bereits vorgängig vor seiner Wahr- oder Falschheit, indem es die beiden fechtenden Figuren zeigt.9 Wer aber mit wem oder gegen wen ficht und vor allem wer nicht ficht, das könne allerdings erst im Satz konkretisiert werden. Hierbei kommt dem Bild seine negierende Funktion von außen zu, die sich auf seinen Gebrauch in einem reglementierten und konventionalisierten Kontext bezieht. Dann handelt es sich um eine pragmatische Bildnegation, in der nicht das Bild selbst, sondern im Gebrauch mit dem Bild negiert wird. Dort etwa, wo man ein spezifisches Bild erwartet,

suchungen zu finden sind, ohne dass dabei eine bestimmte Richtung favorisiert wird. Vgl. Richtmeyer, Logik und Aisthesis, 140 –141. 6 Das Bild der beiden Fechter kommt erstmals im Eintrag vom 29.09.1914 in den Tagebüchern vor. 7 Wittgenstein, Notebooks, 7 (29.09.1914). 8 Wittgenstein, Ludwig, Big Typoscript [Ts-213], Blatt 110r, online abrufbar im Rahmen der Bergen Nachlass Edition (BNE), Wittgenstein Archives, University of Bergen (WAB) unter http://www.wittgensteinsource.org [Stand: 29.02.2016]. 9 „Das Bild stellt dar, was es darstellt, unabhängig von seiner Wahr- oder Falschheit, durch die Form der Abbildung.“ Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Logischphilosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 1998, Satz 2.22.

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ist jetzt keines zu sehen. So wird aus einer leeren Fläche, die zunächst nichts anderes ist als ein leeres Stück Papier oder eine weiße Wand, das Fehlen eines konkreten Bildes, das man dort erwartet hätte. Aber auch der Satz beruht laut den Überlegungen Wittgensteins im Big Typoscript auf einer ähnlichen Grundbedingung von Affirmation und Negation wie das Bild. „‚Sie fechten nicht miteinander‘ heisst nicht, dass davon nicht die Rede ist, sondern ?

es ist eben davon die Rede und wird (nur) ausgeschlossen.“10 Auch im Satz muss also zunächst die Rede von etwas sein. Es muss eine Affirmation erzeugt werden, die dann im zweiten Schritt negiert werden kann. Eindeutig hatte Wittgenstein dies bereits in der vorausgehenden Notiz formuliert: „Ich brauche im negativen Satz das intakte Bild des positiven Satzes.“ (Abb. 3) Wenn Wittgenstein schließlich beide Notizen, diejenige zu den Fechtern ebenso wie diejenige zum negativen Satz, in seinem maschinengeschriebenen Big Typoscript mit einer handschriftlichen Linie energisch durchstreicht, dann verbindet er die Logik der sprachlichen Affirmation auch bereits im geschriebenen Text unmittelbar mit einer Strategie der bildlichen Negation. Der positiven Formulierung und Niederschrift eines Satzes folgt das negierende Durchstreichen.

Abb. 3: Ludwig Wittgenstein, Big Typoscript, Blatt 110r

Nochmals komplexer wird die Frage nach der Vorrangstellung von Satz oder Bild bei Wittgenstein zudem, wenn man die frühe Notiz von 1914 auch im Kontext der Engführung der beiden Kontrahenten im zeitgleich entstandenen Tractatus liest: Dort fallen Satz und Bild teils bis zur Deckungsgleichheit ineinander, indem 10 Wittgenstein, Big Typoscript, Blatt 110r.

Das Zeigen des Nicht-Zeigens | Christian Spies

der Satz von vornherein auch ein „Bild der Wirklichkeit“11 genannt wird. „Der Satz sagt [sogar] nur insoweit etwas aus, als er ein Bild ist“12, wenn er die Wörter als Zeichen des Bezeichneten in eine logische Verbindung bringt und damit ein Bild der Wirklichkeit zeichnet, die er so auch zugleich verneinen kann. Ein solcher Satz müsste dann die besonderen Möglichkeiten von Bild und Satz miteinander verbinden, die besondere Affirmation bildlicher Sichtbarkeit mit der Möglichkeit einer sprachlichen Negation. Gleichwohl ist sich Wittgenstein auch der Verkürzung in dieser Verschränkung von Satz und Bild bewusst, wenn er sehr wohl darauf hinweist, dass der gedruckte Satz auf dem Papier, gleich wie die Notenschrift oder andere ideogrammatische Schriften, an sich noch kein Bild von der Wirklichkeit sei. Man empfinde ihn nur als ein solches, indem er die verweisenden Zeichen zugunsten einer verstehbaren Sachlage miteinander verbindet. Eine solche Bildhaftigkeit des Satzes beschränkt sich bei Wittgenstein jedoch ganz auf die Logik der Abbildung, ohne dabei die Struktur derselben im Blick zu haben. Sie „beruht auf dem Prinzip der Vertretung von Gegenständen durch Zeichen.“13 Und der Satz baut auf die verweisende Logik einer strukturellen Ähnlichkeit, der ihn erst zum Bild der Wirklichkeit werden lässt. Insofern kann diese Wirklichkeit, auf die der Satz verweist, auch nur auf ein Ja oder Nein fixiert werden. Der Satz kann das Bestehen oder Nicht-Bestehen eines Sachverhalts aufzeigen, ohne dabei an der affirmativen Präsenz seiner Sichtbarkeit teilhaben zu müssen bzw. zu können. Umso deutlicher weist Wittgenstein im Tractatus deshalb auch wenige Absätze später auf die Beschränkung des Satzes in der Sprache hin und führt damit wieder eine deutliche Unterscheidung zwischen Satz und Bild ein: „Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.“14 Im Bild scheint etwas hervor, das der Sprache selbst verborgen ist und sich nur in einem sprachlosen Zeigen erschließt.15 Es erweist sich selbst als ein

11 Wittgenstein, Tractatus, Satz 4.01. 12 Ebd., Satz 4.03. 13 Ebd., Satz 4.0312. 14 Ebd., Satz 4.1212. 15 Vgl. Gebauer, Gunter, Sich-Zeigen und Sehen als. Wittgensteins zwei Bildkonzepte, in: Boehm, Gottfried/Egenhofer, Sebastian/Spies, Christian (Hg.), Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, Paderborn/München 2010, 75 –  89.

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Ort der Aktivität dieses Zeigens, eines Zeigens als Sich-Zeigen, das nicht darstellt und konstatiert, sondern aufweist. Dem Bild muss etwas hinzukommen, wenn es wie der Satz etwas sagen soll, um dabei etwas zu verneinen. Trotzdem bleibe es dann ebenfalls beschränkt. Wie der Satz könne das Bild – so Wittgenstein – dann ebenfalls nur verneinen, dass es stimme. Das Bild selbst könne dagegen nicht verneint werden, weil es nicht zugleich aufzeigen und negieren könne. „Das Bild kann sich aber nicht außerhalb seiner Form der Darstellung stellen.“16 Das, was es darstellt, kann sich nur an ihm zeigen, durch die gemeinsame interne Struktur. Zugrunde liegen die materiale und mediale Struktur, sein Darstellungsträger und die Rahmung zugunsten eines abgeschlossenen Bildfeldes. Insofern, so folgert Wittgenstein auch hier, lasse sich das Bild nicht verneinen, da durch die Negation der internen Entsprechung des Bildes zur Realität das Bild selbst abhanden komme. II. Die Pfeife, die keine ist

Abb. 4: René Magritte, La Trahison des Images (Ceci n’est pas une pipe), 1929

Mit Blick auf ein naheliegendes Bildbeispiel, René Magrittes La Trahison des Images von 1929 (Abb. 4), möchte man Wittgen16 Wittgenstein, Tractatus, Satz 2.174.

Das Zeigen des Nicht-Zeigens | Christian Spies

steins Überlegungen auch sogleich zustimmen: Die Pfeife, die keine ist, präsentiert sich als der Verrat der Bilder. Abermals stellt sich auch hier die Frage, wer dabei wen verrät. Ist es das Bild der Pfeife, das ihre Benennung im Satz verrät? Ist es der Satz, der Verrat am Bild übt? Oder verrät die Repräsentation sich hier sowohl als Bild wie als Text, wenn keines von beiden die echte Pfeife ersetzen kann? Oben wird die Pfeife als wiedererkennbares Bild dargestellt, um dann unten im beigefügten Text verneinen zu können, dass es sich um eine solche handelt. Analog zum Sprachzeichen müssen Signifikat und Signifikant auch im Bild so aufeinander bezogen werden, dass die Darstellung nicht nur aufzeigt, sondern als konventionalisiertes Bildzeichen zugleich auch negiert werden kann. So kann die Pfeife durch den beigefügten Text verneint werden. Ihr Bild muss dennoch vorhanden bleiben. Sonst würde auch die sprachliche Verneinung mit ihrem demonstrativen Verweis Dies ist ins Leere laufen. Dem Bild der Pfeife, das auch für Magritte nicht auf dem simplen Prinzip der Ähnlichkeit beruht,17 kommt der wittgensteinschen Notiz entsprechend ein Satz hinzu. Dieser verneint, dass es sich tatsächlich um die Pfeife handelt, die man auf dem Bild zu sehen meint. Genau betrachtet geht es mit dieser Gegenüberstellung zunächst um eine pragmatische Bildnegation. Im Widerspruch zu der offensichtlichen Erkennbarkeit der Pfeife wird ihr Abbild als unwahr definiert. Paradoxerweise aber, ohne eben dieses Abbild selbst visuell in Frage zu stellen. Die negierende Diskrepanz zwischen dem Abbild und seinem Vorbild entsteht erst über die sprachliche Beifügung. So geht es in Magrittes Gemälde um eine direkte Gegenüberstellung von bildlicher Affirmation und sprachlicher Negation. Das affirmative Bild erfährt im sprachlichen Kommentar seine demonstrative Negation, so wie die Verneinung in der Darstellung der Pfeife außer Kraft gesetzt wird. „Ist das nicht alles recht simpel“, so fragt Michel Foucault recht nachvollziehbar, „da die Darstellung einer Pfeife natürlich nicht

17 Karlheinz Lüdeking zeichnet nach, wie Magritte in seinem Manifest Les mots et les images bereits 1929 die Ähnlichkeit als unzureichendes Kriterium für die Funktion der Darstellung klassifiziert. Im gleichen Zusammenhang weist er auf die große Affinität zu Wittgensteins Tractatus hin. Vgl. Lüdeking, Karlheinz, Was Bilder zeigen und was sie bedeuten, in: ders., Grenzen des Sichtbaren, München 2006, 77– 96.

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selbst eine Pfeife sein kann?“18 Handle es sich bei Magrittes Bild letztlich nicht nur um einen zeichentheoretischen Taschenspielertrick und ist der zwischen Bild und Text provozierte Widerspruch nicht ebenso haarspalterisch wie der schulmeisterliche Charakter der schematischen Darstellung der Pfeife? Jeder macht mit Magrittes Bild die Erfahrung, dass sich der offensichtliche Widerspruch zwischen Bild und Text schnell abnutzt. Einmal darauf gestoßen, bleibt der Widerspruch für jeden Betrachter recht simpel. Trotzdem hebt Foucault den besonderen Status von Magrittes Bild hervor: Nur materialiter gesehen sei das Bild der Pfeife nichts anderes als der Niederschlag des Farbmaterials auf der Oberfläche des Bildträgers und mithin ganz offensichtlich etwas anderes als das dreidimensionale Objekt Pfeife. Genauso wenig erschöpfe sich der Satz in dem gestischen Verweis, dem Fingerzeig oder dem Pfeil, der auf das Objekt zeigt, um es dann im gleichen Handstreich für ungültig zu erklären. Das Farbmaterial auf der Oberfläche des Bildträgers, so Foucault weiter, sei nämlich doch eine Pfeife, das Bild einer Pfeife jedenfalls,19 das sich durch eine strukturelle Entsprechung zum abgebildeten Objekt Pfeife definiert. Nur auf den ersten Blick erscheine deshalb auch das Gegenüber von Bild und Text wie eine lehrbuchartige Schautafel, die mit der schulmeisterlichen Geste eines Dies ist oder Dies ist nicht vorgeführt wird. Viel bedeutsamer ist für Foucault die trennende Zone in der Mitte der Bildtafel, mit der Bild und Text auf Abstand zueinander gehalten sind. Mit diesem weißen Zwischenraum sei ein Hohlraum entstanden, „eine ungewisse und neblige Region, welche nun die in ihrem Bildhimmel schwebende Pfeife vom irdischen Stampfen der auf ihrer sukzessiven Linie dahinmarschierenden Wörter trennt.“20 Hier öffnet sich eine Bildzone, die sich weder in dem affirmativen Gestus der plakativ gemalten Pfeife noch in dem negierenden Ton des geschriebenen Satzes erschöpft. Obwohl es in dieser weißen Zone nichts gibt, das den Blick auf sich zieht, treffen hier doch bildliche Affirmation und sprachliche Negation aufeinander, ohne sich gegenseitig aufzuheben. 18 Foucault, Michel, Dies ist keine Pfeife, übers. v. Walter Seitter, München/Wien 1997, 11. 19 Ebd., 21. 20 Ebd.

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Sie sind der Gefahr ihres Ineinsfallens im Kalligramm ebenso entkommen wie der schulmeisterlichen Belehrung als Schautafel. So wird dem plakativen Gegenüber von Bild und Text mit dem Blick auf diese weiße Zone seine Schärfe genommen: Ob die gezeichnete Pfeife nun noch so exakt wiedergegeben ist und ob der Schriftzug noch so belehrend und schulbuchartig daherkommt, „zwischen ihnen kann nurmehr die Scheidungsformel passieren, die Aussage, die zugleich den Namen der Zeichnung und die Referenz des Textes in Abrede stellt.“21 Genau an dieser Stelle von Magrittes Bild gilt es erneut anzusetzen: Dort, wo die Frage von Bild und Negation in der weißen Fläche einerseits jeder Notwendigkeit beraubt zu sein scheint und sich andererseits doch mit größter Brisanz stellt. Das Fehlen des Gezeigten lässt seine Negation ebenso vergessen, wie es die Erwartungen an ein affirmatives Bild umso mehr herausfordert.

Abb. 5: Marcel Broodthaers, Ceci n’est pas un Magritte, 1967

Diese Erfahrung hat sich auch Marcel Broodthaers zu eigen gemacht, als er diese leere Fläche 1968 zum Bild erklärt hat und in seinem darauf geschriebenen Satz nicht mehr nach der Pfeife fragt, sondern gleich das ganze Bild Magrittes in Frage stellt: „ceci n’est pas un magritte“ (Abb. 5). So sehr die Ver21 Ebd.

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schränkung von Bild und Text über diese weiße Fläche hinausgeht, ist sie darin doch zugleich aufgehoben. Damit kommt das Zeigen des Bildes von einem Zeigen im Sinne des gestischen Verweises in der weißen Fläche zu einem Sich-Zeigen zurück, wo nun weder das affirmative Aufzeigen im prototypischen Abbild noch das demonstrative Verneinen im Text wirksam sind. Der Blick fällt auf die Stelle, wo sich das Sich-Zeigen gegen die demonstrative Struktur des Zeigens-auf-etwas-Anderes behaupten muss. Dort steht das Bild alleine da, nicht nur ohne den sprachlichen Zusatz, der ihm laut Wittgenstein erlaubt, etwas zu verneinen, sondern auch ohne den wiedererkennbaren Gegenstand, der über den Verweis eine Präsenz im Bild markiert. Stattdessen kann der von Broodthaers beabsichtigte neue Bezugsrahmen in den Blick gelangen, ein System der Bilder und der Kunst, das jenseits der Logik von Darstellung liegt. In der Tradition Duchamps und Magrittes geht es um Bilder, die immer zugleich Anti-Bilder sein wollen, und um Kunst, die immer auch Anti-Kunst sein will.22 III. Affirmative Negation

Es ist nun genau diese leere Fläche, vor deren Hintergrund sich die Frage nach der Negation des Bildes einmal mehr und umso grundsätzlicher stellt: Kann sie womöglich an die Stelle des negierenden Satzes treten, wenn in der fehlenden Darstellung bildliche Affirmation und logische

Negation

miteinander

verschränkt werden? Genau diejenigen Bilder treten damit in den Blick, bei denen sich die leeren Flächen offensiv und herausfordernd prä­ sentieren (Abb. 6). Weder die bildliche Darstellung, deren Affirmation in der Wiedererkennbarkeit eines Objekts gründet,

Abb. 6: Robert Rauschenberg, White Painting, 1951

22 Für diese Strategie steht vor allem auch Broodthaers viel berühmteres Musée d’Art Moderne, Département des Aigles ab 1968, in dem jedes Ausstellungsstück vom Hinweis „Dies ist kein Kunstwerk“ begleitet wird.

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noch das demonstrative Fehlen dieser Darstellung, das der prädikativen Logik der Negation folgt, setzt sich als dominantes Prinzip durch. Genauso wenig handelt es sich um diejenigen Verfahren, die sich analog zu der sprachlogischen Verneinung als alternative Formen bildlicher Negation etabliert haben: Weder handelt es sich um ein demonstratives Durchstreichen und Übermalen eines Motivs noch um das Auslöschen oder Radieren. Denn weder ist ein Motiv sichtbar, das durch den finalen Strich oder den offensiven Pinselhieb unter entgegengesetzte, negative Vorzeichen gestellt sein könnte. Noch sieht man Reste und Spuren, die von einem Bild zeugen, das sich dort einmal befunden hat. An die Stelle der Polarität zwischen Ja oder Nein oder zwischen Dies ist oder Dies ist nicht tritt nun die Kontinuität der leeren Bildoberfläche. Dort gilt im wittgensteinschen Sinne nicht mehr das Prinzip des Satzes (Zeigen), sondern dasjenige des Bildes (Sich-Zeigen). Die Bildoberfläche setzt nun die Vorzeichen für das, was sich auf ihr zeigt oder dahinter verborgen bleibt. Sie überbrückt nicht nur die Kluft zwischen dem Dies ist oder Dies ist nicht, indem sie den Bedingungen einer diskreten Zeichenhaftigkeit die Dichte ihrer ansichtigen Oberfläche entgegenstellt. Auf dieser leeren Oberfläche ist das Bild ganz auf sich gestellt, so sehr jedoch, dass seine Bejahung wie seine Verneinung selbst wiederum in Frage steht. Denn so wenig die nicht vorhandene Darstellung im leeren Bild zwangsläufig auch zu einer nicht negierbaren Affirmation führt, so wenig kann dann auch diese Affirmation durch die prädikative Logik des Satzes negiert werden. Kurz gesagt: Das leere Bild sagt weder Ja noch Nein, sondern einfach nur nichts. Diese ernüchternde Schlussfolgerung müsste man zumindest im Sinne der logischen Überlegungen Wittgensteins anstellen, sodass das leere Bild dann für die Debatte um seine Verneinung disqualifiziert wäre. Ist ein leeres Bild nicht nüchtern besehen nur einfach kein Bild? Unter welchen Bedingungen wird daraus das Fehlen eines anderen Bildes? Erweitert man die von Wittgenstein als Sonderfall beschriebene pragmatische Negation im Bild, d. h. die Verneinung in einem konventionalisierten Funktionskontext, jedoch durch eine ästhetische und historische Dimension, dann ist die Frage nach der

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Negation wieder eine ganz offene. Wenn klar ist, was auf einem leeren Bild zu sehen sein sollte und damit die Erwartungen, die in einem spezifischen historischen Kontext an dieses Bild gestellt werden, gezielt unterlaufen werden, so kann sich dieses Fehlen unweigerlich als eine Negation erweisen. Das, was das Bild ist (bzw. sein sollte), also die Darstellung von etwas anderem, das ist es nun ganz offensichtlich nicht. Gerade in der Kunst ist dieses Prinzip der Negation von Bildern vielfältig genutzt und explizit vorgeführt worden. Nicht nur richten sich künstlerische Bilder immer schon an eine Erwartung und stehen in einem engmaschigen historischen Beziehungsgeflecht. Vielmehr noch sind es gerade die unterlaufenen und irritierten Erwartungen und das differenzierte Reagieren auf Bilder durch weitere Bilder, die solche spezifischen Möglichkeiten der Negation erlauben.23 Ein leeres, weißes Bild kann dann nicht mehr einfach nur nichts sagen. Mindestens steht es an der Stelle, wo eigentlich ein anderes Bild stehen sollte. Und gerade die radikalen Formen von Bildverweigerung in der Moderne sind nur in einem direkten Reaktionsverhältnis auf vorausgegangene Bilder zu sehen; so selbstreferenziell, gar tautologisch sie auch immer sein mögen. Auf ihrer opaken Oberfläche verstellen diese leeren Bilder den Blick auf ihre Vorgänger und setzen dem tiefen Raum der bildlichen Affirmation nun die Negation ihrer dumpfen Oberfläche entgegen. So kann aus dem Sonderfall, den Wittgenstein als pragmatische Negation in einem spezifischen Funktionskontext des Bildes beschreibt, eine ästhetische Negation werden. Die leere Fläche stellt das Fehlen derjenigen Bilder aus, die man dort erwartet hätte. IV. Fehlende Bilder

Natürlich kennen wir die vielfältigen Strategien der Avantgarde, mit denen die vorausgegangenen Bilder offensiv ausgelöscht worden sind. Seit Kasimir Malewitschs Schwarzem Quadrat von 1915 reißt die Kette schwarzer und weißer Leinwände bekanntlich nicht mehr ab. Selbst verkohlte schwarze Flächen, zerris-

23 Vgl. Boehm, Gottfried, Ikonoklasmus. Auslöschung – Aufhebung – Negation, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, 54 –71.

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sene Leinwände oder gänzlich leere Keilrahmen gehören seit Jahrzehnten zum Standard einer Moderne, die sich über die Negation des Vorausgegangenen definiert hat. Im

Unterschied

Programm Abb. 7: Leergeräumte Hauptsäle der Gemäldegalerie Dresden, 1939

der

zu

diesem

Avantgarde

genügt teils jedoch bereits der Verweis auf den Kontext

des künstlerischen Bildes, auf seinen Ausstellungsraum etwa, damit das bloße Fehlen des Bildes auch als seine ästhetische Negation verstanden werden kann. Ein gutes Beispiel ist etwa eine historische Fotografie der leergeräumten Hauptsäle der Dresdner Gemäldegalerie von 1939 (Abb. 7). Zunächst müsste man auch hier, der wittgensteinschen Logik entsprechend, wieder von einer pragmatischen Bildnegation sprechen. Zu sehen ist ein typischer Galerieraum des 19. Jahrhunderts mit dunklen, stoffbespannten Wänden und einer Sitzgelegenheit in der Mitte. Dort, wo man eigentlich die Bilder erwartet, sind nur noch dunkle Flecken zu sehen. Überdeutlich wird so nachvollziehbar, dass dort, wo eigentlich Bilder zu sehen sein sollten, keine mehr zu sehen sind. Ihr Abdruck auf der Wand zeugt von diesem Fehlen und stellt es im Galerieraum geradezu aus. Selbst die Sitzgelegenheit hat an ihrem ursprünglichen Ort in der Mitte des Raums einen dunklen Fleck hinterlassen. Im Unterschied zu den Gemälden an der Wand ist diese nur wenig nach rechts gerückt und weiterhin zu sehen. Umso plakativer wird sie dort zur Verneinung ihrer ursprünglichen Position in der Raummitte. Eine ganz andere und wiederum historische Dimension der Verneinung im Bild erfährt die Fotografie, wenn man auch ihren Entstehungszusammenhang genauer betrachtet. Sie ist um 1939 entstanden und damit zu dem Zeitpunkt, an dem in der Galerie die ersten Schutzmaßnahmen des Zweiten Weltkriegs wirksam wurden. Die Gemälde sind bereits aus den Hauptsälen ausgelagert. Nur noch ihre dunklen Spuren sind auf den Wandbespannungen zu sehen. Die Bilder fehlen also aus einem nachvollziehbaren Grund, genauso wie auch das Sofa wohl auf-

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grund des Transports der Bilder verschoben wurde. Trotzdem hinterlassen sie im fotografierten Ausstellungsraum markante Leerstellen. Zu gut kennt man auch andere historische Wiedergaben der übervollen Räume der Dresdner Galerieräume, vor deren Hintergrund die leeren Wände von 1939 umso deutlicher hervorstechen. Damit steht die Fotografie zugleich in der Tradition der Galeriestücke seit dem 17. Jahrhundert oder der gemalten Galerieräume. Dort wurde die Fülle der Bilder im Gemälde einmal mehr ausgestellt. Auf der Fotografie sind alle Bilder abhandengekommen. Oben in der gewölbten Decke ist noch ein Relief vorhanden. Unten blickt man durch die Türöffnung in die Tiefe der nächsten Galerieräume. Dazwischen – über der Tür – befindet sich der dunkle Fleck, der von der Abwesenheit des Gemäldes zeugt, das vorher dort gehangen hat. In seiner Fotografie Les Spectateurs (La Naissance de l’Objet) von 1930 treibt der belgische Surrealist Paul Nougé dieses Ausstellen des abwesenden Bildes einmal mehr auf die Spitze und führt damit die Verschiebung von einer pragmatischen hin zu einer ästhetischen Negation im künstlerischen Bild explizit und emblematisch vor Augen (Abb. 8). In der Ecke eines bürgerlichen Salons steht eine kleine Personengruppe, zwei beugt auf die gegenüberFrauen und drei Männer, die vorge­ liegende Wand schauen. Dort, neben dem Kaminsims, ist jedoch nichts weiteres zu sehen, vor allem nicht das dort erwartete Bild, ein Gemälde oder ein Druck, wie man es an den Wänden eines bürgerlichen Salons erwartet. Noch viel mehr ist man aber von den konzentrierten Blicken der fünf Personen irritiert, stehen sie doch plakativ für einen Bildbetrachter, wie er sich mit der Entwicklung des europäischen Tafelbildes herausgebildet hat: absorbiert durch das Bild als ein in sich abgeschlossenes Feld, das den Betrachter geradezu festsetzt, um so einen kohärenten Ausschnitt von Sichtbarkeit als tiefenräumliche Illusion zu garantieren. Die fünf blickenden Personen stehen emblematisch für den berühmten Augpunkt der Zentralperspektive, wie er zur Entstehungszeit der Fotografie eigentlich bereits lange ad acta gelegt worden war. Sie sind konzentriert und staunen über das, was in diesem konstruierten Blickfeld gezeigt wird.

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Abb. 8: Paul Nougé, Les Spectateurs (La Naissance de l’Objet), 1930

Insofern möchte man zunächst nochmals genau hinschauen, wie die Frau, die am nächsten an der Wand steht und konzentriert eine kleine Stelle fokussiert. Doch auch dann ist dort nichts zu sehen, kein Bild und nicht einmal ein Punkt, der in der zentralperspektivischen Bildkonstruktion den Blick des Betrachters einfangen soll. Die Wand ist leer. Es gibt tatsächlich keinerlei Merkmale, die das konzentrierte und faszinierte Blicken der fünf Personen nachvollziehbar machen könnten. Das, was sie sehen, ist für uns als Bildbetrachter tatsächlich nicht zu sehen. Und man könnte von einer Negation dieses erwarteten Bildes sprechen, die in der Polarität zwischen dem es ist und dem es ist nicht vollzogen wird. Gerade weil das Bild nicht zu sehen ist, blicken die Betrachter umso gespannter darauf. Sofort möchte man einer solchen Analogiesetzung zwischen sprachlicher und bildlicher Negation abermals widersprechen, wenn sich das Verhältnis von Zeigen und Nicht-Zeigen in Nougés Fotografie keineswegs in der prädikativen Logik des Satzes und seiner Verneinung erschöpft. Das faszinierte Betrachten der leeren Wand macht unweigerlich deutlich, dass das fehlende Bild, an

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der Stelle, an der es erwartet wird, keineswegs nur eine Negation darstellt, die in einer logischen Umkehrung begründet ist. Das es ist nicht erweist sich nicht als bloßes Gegenteil eines es ist. Vielmehr wird das Fehlen des Bildes umso augenfälliger, als sein Vorhandensein in den Blicken der gezeigten Personen antizipiert ist. Genau dabei setzt die surrealistische Praktik der Fotografie an, bei einem Begehren, etwas sehen zu wollen, das es doch nicht gibt. Das es ist nicht verweist also in seiner logischen Umkehrung auf ein es sollte sein. Oder anders gesagt: Die Negation des Bildes ist mehr als die ‚bloße‘ Umkehrung seiner Affirmation. Die Affirmation bleibt auch in ihrer Negation vorhanden. Das heißt, die Negation des Bildes, wie sie in Nougés Fotografie durch die Blicke auf das fehlende Bild vollzogen wird, muss explizit als Mangel ausgestellt werden, genau als das Fehlen des Gezeigten, welches man dort erwartet. Nur so kann aus der negierten Affirmation eines Nicht-Zeigens selbst wiederum die Affirmation eines Zeigens werden. Kurz gesagt: Das Nicht-Zeigen des Bildes muss selbst wiederum als Bild gezeigt werden. Bei genau diesem Paradox eines Zeigens des Nicht-Zeigens setzt dann auch Nougés Fotografie im Sinne ihrer surrealistischen Übersteigerung der Bildnegation abermals an: Denn wie der Titel angibt, lässt sich die Irritation, die der konzentrierte Blick auf die leere Wand hervorruft, nicht auf eine finale Geste reduzieren, wie sie in der Avantgarde seit den 1910er und 1920er Jahren durch das zerstörte und leere Bild als letztes Bild provoziert worden war. Man denke etwa an Malewitschs Schwarzes Quadrat, das den Schlussakkord einer abendländischen Bildtradition bilden sollte. Les Spectateurs (La Naissance de l’Objet) ist dagegen viel eher ein Gründungsmanifest, ein ikonoklastisches freilich, in dem das Fehlen des Bildes umso mehr als affektiver Stimulus inszeniert ist. Das nicht gezeigte Bild an der Wand wird gerade dadurch als abwesendes ausgestellt, als sich das Begehren, es zu sehen, in den Blicken der fünf Personen manifestiert. An der Wand gibt es nichts mehr zu sehen, was ein Begehren tatsächlich auslösen könnte. Umso mehr fällt die besondere affizierende Leistung des abwesenden Bildes auf, wenn es die Blicke trotzdem auf sich zieht. Nicht einmal mehr um das Bild als Medium der Repräsentation geht es hier, sondern um das Objekt. Genauer um das surrealis-

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tische Objekt, das nicht bloß sichtbarer Gegenstand ist, sondern das den Blick durch seine affektive Aufladung auf sich zieht. Ein solches Objekt lässt sich noch viel weniger verneinen, selbst dann nicht, wenn es nicht einmal da ist. Insofern entspricht es Magrittes Pfeife, die sich nicht in Sprache übersetzen lässt und sich deren Logik einer negierenden Prädiktion widersetzt. Vielmehr noch gleicht dieses abwesende Objekt aber dem leeren Zwischenraum zwischen gemalter und beschriebener Pfeife: jenem unbestimmten und nebligen Zwischenraum, der selbst nichts zeigt und dabei zwischen der sprachlichen Negation und der bildlichen Affirmation steht. Das Objekt in Nougés Foto lässt sich nicht bestimmen, es ist nicht da und zieht doch die Blicke auf sich. Es tritt gerade deshalb so unausweichlich in den Blick, weil es sich nicht zeigt. Die Negation des Bildes erweist sich so einmal mehr als seine Affirmation.

Literatur Boehm, Gottfried, Ikonoklasmus. Auslöschung – Aufhebung – Negation, in: ders., Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, 54 –71 Foucault, Michel, Dies ist keine Pfeife, übers. v. Walter Seitter, München/Wien 1997 Gebauer, Gunter, Sich-Zeigen und Sehen als. Wittgensteins zwei Bildkonzepte, in: Boehm, Gottfried/Egenhofer, Sebastian/Spies, Christian (Hg.), Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, Paderborn/München 2010, 75 –  89 Lüdeking, Karlheinz, Was Bilder zeigen und was sie bedeuten, in: ders., Grenzen des Sichtbaren, München 2006, 77– 96 Mersch, Dieter, Die Zerzeigung. Über die ‚Geste‘ des Bildes und die ‚Gabe‘ des Blicks, in: Richtmeyer, Ulrich/Goppelsröder, Fabian/Hildebrandt, Toni (Hg.), Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Kunst und Philosophie, Bielefeld 2014, 15 – 44 Nemeth, Elisabeth/Heinrich, Richard/Pichler, Wolfram (Hg.), Bild und Bildlichkeit in Philosophie, Wissenschaft und Kunst. Beiträge des 33. Internationalen Wittgenstein Symposiums, 08.–14.08.2010 (Beiträge der Österreichischen Ludwig-Wittgenstein-Gesellschaft 18), Kirchberg am Wechsel 2010 Richtmeyer, Uli, Logik und Aisthesis – Wittgenstein über Negationen, Variablen und Hypothesen im Bild, in: Heßler, Martina/Mersch, Dieter (Hg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, 139  –162 Spies, Christian, Vor Augen Stellen. Vitrinen und Schaufenster bei Edgar Degas, Eugène Atget, Damian Hirst und Louise Lawler, in: Boehm, Gottfried/Egenhofer, Sebastian/ Spies, Christian (Hg.), Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, Paderborn/München 2010, 261– 289 Wittgenstein, Ludwig, Notebooks 1914  –1916, ed. by Georg Henrick von Wright and Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, rev. 2nd Ed., Oxford 1979 Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 1998 Wittgenstein, Ludwig, Big Typoscript [Ts-213], online abrufbar im Rahmen der Bergen Nachlass Edition (BNE), Wittgenstein Archives, University of Bergen (WAB) unter http://www.wittgensteinsource.org [Stand: 29.02.2016]

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Atmosphäre in der Architektur und in der freien Kunst Susanne Hofmann

Abb. 1: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, Berlin, 2007–  2018, Lageplan

Raumwahrnehmung und Atmosphäre als Mittel der Kommunikation

Denkt man die Architektur vom Raum her, kommt man um eine Auseinandersetzung mit Raumatmosphären und dem Begriff der Atmosphäre nicht herum. Die Atmosphäre bestimmt im direkten meteorologischen sowie im übertragenen Sinne unsere Umgebung. Folgt man dem Philosophen Gernot Böhme, erkennt man, dass es hier eigentlich keinen Unterschied gibt, denn die atmosphärischen Eindrücke unserer natürlichen, vom Wetter beeinflussten Umgebung und die durch räumliche Parameter bestimmten Sinneseindrücke der von Menschen geschaffenen Räume der Architektur haben in der körperlichen, besser: in der leiblichen Erfahrung ihre Parallele. Die Raumatmosphäre ist

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infolgedessen ein wesentliches Element der Architektur. Mehr als mit den Augen erfahren wir den Raum über seine Atmosphäre, die wir mit allen unseren Sinnen synästhetisch wahrnehmen. Diese Wahrnehmung ist subjektiv, also individuell von vielen Einflüssen geprägt. Atmosphäre ist nach Böhme die gespürte Anwesenheit im Raum, sie ist kommunikationsfähig und kommunikationsaktiv.1 Also kann die Kommunikation über Atmosphäre eine Methode sein, die den Nutzer der Architektur mit seiner emotionalen Befindlichkeit in den Entwurf und in die dadurch zu schaffenden Gebäude einbindet, sodass damit in der Folge ein hoher Identifikationsgrad verbunden ist. Architektur und Atmosphäre

Die Integration von Aspekten der Atmosphäre in die Architektur bedeutet, dass nicht mehr nur der menschliche Körper mit seinen Maßen die Grundlage architektonischer Formgebung ist, sondern die leibliche, das heißt die sinnliche Erfahrung als wesentlicher menschlicher Maßstab. Das Prinzip der leiblichen Erfahrung, auch der des Raumes, ist ein Kernpunkt der von Edmund Husserl Anfang des 20. Jahrhunderts begründeten Phänomenologie. Betrachtungen zum Verhältnis vom Raum und dessen leiblicher Erfahrung reichen aber noch weiter zurück. Der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin stellt in seinen Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur bereits 1886 unsere leibliche Erfahrung des Körperhaften und des Räumlichen als das Wesentliche unserer Architekturerfahrung dar und legt damit die Grundlage für Gedanken über die Beziehungen von Leib und Raum.2 August Schmarsow, ebenfalls Kunsthistoriker, ergänzt diese Betrachtungsweise durch seine ebenfalls in der Psychologie verankerte Untersuchung von leiblichen Raumerfahrungen bei der Bewegung im Raum. Er macht in seinem Text Das Wesen der architektonischen Schöpfung (1894) deutlich, wie wesentlich die Raumerfahrung in der Bewegung des Menschen für unser alltägliches Leben ist.3 Böhme sieht in den Betrachtungen 1 Böhme, Gernot, Architektur und Atmosphäre, Paderborn/München 2006, 32–  42. 2 Wölfflin, Heinrich, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, München 1886, passim (es handelt sich dabei um Wölfflins Dissertationsschrift); vgl. dazu Böhme, Architektur und Atmosphäre, 116. 3 Schmarsow, August, Das Wesen der architektonischen Schöpfung (1894), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kultur-

Atmosphäre in der Architektur und in der freien Kunst | Susanne Hofmann

Wölfflins und Schmarsows die Charakterisierung der Architektur befreit von einer „Realisierung gegebener Raumstrukturen“ und ergänzt um eine Beurteilung aus der Bewegung des Erlebens (eben auch aus der Benutzung) heraus. Als Ergebnis einer langjährigen Forschung zum Verhältnis von Körper, Leib, Raum und ihren Beziehungen untereinander hat der Architekt und Architekturtheoretiker Wolfgang Meisenheimer seine Abhandlung Das Denken des Leibes und der architektonische Raum verfasst. Er definiert den menschlichen Körper wie auch den Baukörper als ein Ding, das man betrachten, messen und sezieren und als Ganzes oder in Teilen darstellen kann. Der Leib hingegen ist auch für ihn nicht nur objekthaft und in seinen Maßen zu verstehen, sondern „der Inbegriff meines handelnden Ich.“4 Er geht in seiner Arbeit den Phänomenen der Interaktion zwischen den Gesten des architektonischen Raums einerseits, die er als eine Art Performance architektonischer Attribute beschreibt, und der sinnlichen Leibeswahrnehmung andererseits nach. Atmosphäre als räumliche Erfahrung

Aus diesen im Zuge von Jahrzehnten und Jahrhunderten gewonnenen Erkenntnissen wird deutlich, dass vor allem die Erfahrung des menschlichen Leibes die Basis für eine gehaltvolle Architektur ist. Wenn mit Gernot Böhme „Atmosphäre“ die gespürte leibliche Anwesenheit im Raum ist, dann ist ihre Wahrnehmung eine Schlüsselerfahrung der Architektur. Atmosphäre entwerfen

Praktizierende Künstler und Architekten beschäftigen sich seit vielen Jahrhunderten mit Atmosphären und ihren räumlichen Erscheinungen. Im 18. Jahrhundert, so stellt Böhme fest, kam neben den Naturwissenschaften, die sich um messbare Erkenntnisse in der Natur bemühten (und noch heute bemühen), der Kunst, insbesondere der Landschaftsmalerei, die Aufgabe zu, sinnliche Erkenntnisse zu vermitteln, so zum Beispiel im

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wissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, 470 –  484; vgl. dazu Böhme, Architektur und Atmosphäre, 116. Vgl. Meisenheimer, Wolfgang, Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, Köln 22006, 15–17, hier 16.

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Gefolge von Alexander von Humboldt, der zu diesem Zweck gezielt Landschaftsmaler engagierte. Sie sollten mit ihren Bildern das über die Natur vermitteln, was an Apparaten nicht ablesbar war.5 Aber auch zeitgenössische Künstler wie Olafur Eliasson oder James Turrell machen Raumatmosphären und ihre Wirkung auf den Menschen zum Kernthema ihrer Arbeit. So betont der US-amerikanische Lichtkünstler James Turrell die wesentliche Idee seiner Lichträume: „[…] das Ziel ist die Wahrnehmung, sie ist das eigentliche Objekt. Ich will keine bildliche Darstellung, ich möchte keine symbolischen oder literarischen Bezüge.“6 Auch der Bauhaus-Künstler Josef Albers unterscheidet für die Betrachtung von Kunstwerken zwischen „factual facts“, den rational fassbaren Kriterien, und „actual facts“, also dem sinnlichen Gesamterlebnis der Kunst.7 Von den zeitgenössischen Architekten ist es am ehesten der Schweizer Peter Zumthor, der die Atmosphäre aktiv in seine Entwurfsstrategie einbringt. Für Zumthor besteht die architektonische Qualität darin, dass sie eine bestimmte Atmosphäre bietet, die den Menschen in seiner „emotionalen Wahrnehmung“ berührt.8 Die Arbeiten des französischen Architekten Philippe Rahm zeigen sich im Gegensatz zu den Bauten Zumthors fast ausschließlich als Manifeste eines betont innovativen Architekturansatzes. Atmosphären werden in Rahms Installationen, zu denen auch die Lichtführung, die Klima- und Klanggestaltung eines Raumes zu zählen wären, nicht allein durch tektonische Vorgaben geprägt. Rahm zeigt, dass weitere und umfassende Parameter die Raumatmosphäre bestimmen und als solche auch herstellbar sind.

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Vgl. Böhme, Gernot, Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit [Vortrag am 31. August 2008], in: Haarmann, Anke/Lemke, Harald (Hg.), Kultur – Natur. Kunst und Philosophie im Kontext der Stadtentwicklung (Internationale Bauausstellung [IBA], Hamburg 2008), Bd. 2: Textband, Berlin 2009, 55 –  69 und ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, 14 u. 182 –183. 6 Turrell, James, Es gibt niemals kein Licht … selbst wenn alles Licht erloschen ist, kann man es noch fühlen / There never is no light … even when all the light is gone, you can still sense light (Interview mit/with Alison Sarah Jones, 05.04.1992), in: James Turrell. Perceptual Cells (AK, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 04.04.–14.06.1992), hg. v. Jiri Svestka, Stuttgart 1992, 56 –71, hier 64/66 (Dt.), 65 (Engl.). Vgl. Albers, Josef, One Plus One Equals Three and More: Factual Facts and Actual Facts, 7 in: Search versus Re-Search. Three Lectures by Josef Albers at Trinity College, April 1965, Hartford (Conn.) 1969, 17– 24. 8 Zumthor, Peter, Atmosphären. Architektonische Umgebungen. Die Dinge um mich herum, Basel/Boston/Berlin 2006, 13 u. passim. Das Buch fußt auf einem Vortrag zum Thema „Architektur denken“, gehalten am 1. Juni 2003 im Schloss Wendlinghausen (Dörentrup) im Rahmen von „Wege durch das Land. Literatur- und Musikfest in Ostwestfalen Lippe“ (Mai – Juli 2003).

Atmosphäre in der Architektur und in der freien Kunst | Susanne Hofmann

Atmosphäre in der entwurflichen Arbeit von Peter Zumthor

Zumthors Architektur ist sehr auf den Ort ausgerichtet, an dem sie entsteht, und sie bezieht sich auf die örtliche Tradition im Umgang mit Bauweisen und Materialien. Atmosphären hat er, basierend auf einem Vortrag im Jahr 2003, eine eigene Veröffentlichung gewidmet. Er fragt sich darin, was architektonische Qualität ausmacht, und kommt zu dem Schluss, dass dies einer bestimmten Atmosphäre geschuldet sei, die den Menschen in seiner „emotionalen Wahrnehmung“ berühre. Er führt neun „Werkzeuge und Instrumente“ auf, mit denen er die Atmosphäre seiner Häuser generiert. Er nennt zunächst „die materielle Präsenz der Dinge“9 (1) oder der Architektur selbst, ihre Struktur, ihre Konstruktion und die Zusammenfügung der Elemente, aus der sie besteht: Steine, Holzbalken, Fensterscheiben etc. „Der Zusammenklang der Materialien“10 (2), die Komposition ihrer Eigenschaften, ihrer Oberflächen und Anmutungen sind ein weiteres Instrument zur Schaffung von Raumatmosphären, wie auch „der Klang des Raumes“11 (3). Jeder Raum habe, führt er dazu aus, abhängig von den Materialien, aus denen er gebildet wird, und ihren Oberflächen, dann von den Materialien, die sich in ihm befinden, und natürlich abhängig davon, welche Geräusche in ihm erzeugt werden, einen eigenen Klang. Mit der „Temperatur des Raumes“12 (4) weist Zumthor auf eine simple wie eingängige Erkenntnis hin: Die Temperatur, die ein Raum hat, in dem wir uns befinden, übt einen außerordentlichen Einfluss auf unser Wohlbefinden aus. Unter der Überschrift „Die Dinge um mich herum“13 (5) fasst Zumthor die materielle Aneignung des Raums durch seinen Nutzer zusammen. Er eignet sich einen Raum an, indem er mit persönlichen Gegenständen seine Wohnung, aber auch seinen Arbeitsplatz sozusagen subjektiviert. In die gleiche Kategorie stellt er aber auch die Entscheidung zum Besuch einer Bar oder eines Restaurants, die man wegen der durch ihre Einrichtung geschaffenen Atmosphäre besucht – 9 10 11 12 13

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

21. 23. 29. 33. 35.

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und sich deren Raum bzw. Räume dadurch aneignet. „Zwischen Gelassenheit und Verführung“14 (6) sieht Peter Zumthor eine Qualität der Architektur, die ihren Benutzer verführt, bestimmte Dinge zu tun, zum Beispiel einem besonderen Lichteinfall nachzugehen und den entsprechenden Sonnenstrahl oder die gebotene Aussicht in aller Gelassenheit zu genießen. Weiters benennt er „die Spannung zwischen Innen und Außen“15 (7) als atmosphärische Qualität der Architektur. Architektur stellt diese beiden Zustände her und schafft gleichzeitig Schwellen, Übergänge, Ein- und Ausblicke, trennt Öffentliches und Privates. Die geschaffene Hülle ist eine Haut mit einer inneren und äußeren Projektionsfläche. Weiterhin stellt Zumthor „Stufen der Intimität“16 (8) als atmosphärisch relevant in der Architektur vor. Sie können Nähe und Distanz modellieren und gestalten, Durchblicke schaffen, verhindern oder erahnen lassen. Er beschreibt hier aber auch das maßstäbliche Verhältnis von Gebäude und Mensch, ob es ihn in seiner Größe bedrängt und einschränkt, ihm Platz zur Entfaltung und Bewegung verschafft oder so groß ist, dass der Mensch darin verloren geht. Außerdem bestimmt nach seiner Auffassung „das Licht auf den Dingen“17 (9) unser Befinden. Peter Zumthor bemüht sich, möglichst viele unserer Sinneswahrnehmungen in seine Betrachtungen einzubeziehen. Die Atmosphären, die Zumthor schafft, sind ein Angebot an die Benutzer seiner Räume, die sich selbst und „ihre Dinge“ mitbringen, um sich den Raum anzueignen. Postulate ephemerer Raumqualitäten

Die demonstrativen und experimentellen Arbeiten des Architekten Philippe Rahm stehen gewissermaßen im Gegensatz zu den Bauten Peter Zumthors. Rahm spannt darin eine Vielfalt an räumlichen Gestaltungsmöglichkeiten mit nicht sichtbaren oder greifbaren Elementen wie Wärme, Luftbewegung und Geruch auf. Die von ihm geschaffenen Räume werden auf diese Weise 14 15 16 17

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41. 45. 49. 57.

Atmosphäre in der Architektur und in der freien Kunst | Susanne Hofmann

weniger durch Wände und Decken gebildet als durch Licht, Luftströme und elektromagnetisch definierte Zonen. Seine Räume sind so kaum zu sehen, sondern eher zu spüren. Die Wellenlänge und die Helligkeit des Lichtes, die Temperatur der Luft, ihre Zusammensetzung und ihre Strömungsgeschwindigkeit sind dabei bewusst so berechnet, dass sie gezielt das menschliche Nervensystem und seine Hormonproduktion ansprechen und dadurch Gefühle hervorrufen. Rahm erzeugt damit Atmosphären im direkten wie übertragenen Sinne. So sollte beispielsweise das Hormonorium im Schweizer Pavillon auf der 8. Architekturbiennale 2002 in Venedig mit den oben genannten Parametern ein alpines Klima erzeugen. Die Steuerung des menschlichen Hormonhaushaltes sollte unter anderem auch das sexuelle Verlangen steigern.18 Ein anderes Beispiel ist sein Beitrag Digestible gulf stream zur 11. Architekturbiennale 2008 in Venedig. Nur zwei gegeneinander versetzte Bodenund Deckenelemente ließen den von ihm geschaffenen Raum sichtbar werden. Fühlbar waren hingegen die künstlich erzeugte Wärme der Bodenplatte von 28 Grad Celsius und die Kühle des Deckenelementes von 12 Grad Celsius, die eine mächtige Luftzirkulation entstehen ließen. Die so abgegrenzten Sphären bevölkerten leicht bis kaum bekleidete Menschen, die in entspannter Haltung teilweise musizierten, teilweise lasen oder am Computer arbeiteten und so eine anregende, mitunter auch sexuell stimulierende Atmosphäre erzeugten. Das zuletzt beschriebene Projekt von Philippe Rahm erinnert an die Arbeiten des französischen Künstlers Yves Klein. Für ihn ist der harmonische Einklang der Menschen mit der Natur und ihren Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde die Idee eines paradiesischen Zustands. Seine mit verschiedenen Partnern Ende der 1950er Jahre entwickelte „Luftarchitektur“ ist ein offener Raum ohne übliche architektonische Fassungen. Strömende Luft gibt dem Gelände ein großes ephemeres Dach, und Luftströme dienen auch als Stühle und Betten.19

18 Vgl. Rahm, Philippe, Immediate Architecture, in: Buchert, Margitta/Zillich, Carl (Hg.), Performativ? Architektur und Kunst, Berlin 2007, 105 –113. 19 Vgl. Yves Klein (AK, Museum Ludwig, Köln u. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 08.11.1994 –  08.01.1995, Hayward Gallery, London, 09.02. – 23.04.1995, Museu Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid, 24.05.– 29.08.1995), red. v. Sidra Stich, Stuttgart 1994, 126.

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Rahms plakative Architekturperformances erzeugen nicht nur besondere Räume, sie zeigen auch den Einfluss von ephemeren Elementen auf die Raumbildung. Rahm benutzt – wie auch Klein – unter anderem Phänomene, die wir als Klima- oder Wetterphänomene kennen, um Räume, auch Innenräume zu gestalten. Was wir mit Begriffen wie Erdatmosphäre, Raumatmosphäre, Klima bzw. Raumklima beschreiben, verschwimmt in ihren Bedeutungen. Man erkennt darin, wie fließend diese Grenzen sind. Hier wird der Ansatz von Peter Zumthor einerseits bestätigt: Atmosphären sind in der Architektur konstruierbar. Philippe Rahm zeigt, dass weitere Elemente die Raumatmosphäre bestimmen, die ebenfalls produzierbar sind. Er erweitert sozusagen das Spektrum der Zumthor’schen Atmosphärengestaltung um die Dimension der Klimagestaltung. Auch Rahms Architektur ist in erster Linie ein Angebot, eine Setzung der Raumatmosphäre, der sich der Nutzer hingeben kann. Atmosphärische Raumwirkung und deren Kommunikation bei Olafur Eliasson

Dass Atmosphären auch ein kommunikatives Potenzial haben, zeigen einige Arbeiten des Künstlers Olafur Eliasson. Eliasson hat das Schaffen künstlicher Raumatmosphären zum Thema seiner Kunst gemacht. Dabei hebt auch er insbesondere auf die Phänomene der Natur und des Wetters ab. Gerade im Vergleich der Arbeiten von Philippe Rahm und Olafur Eliasson wird deutlich, dass die Grenzen zwischen der angewandten Kunst der Architektur und der freien Kunst Eliassons fließend sein können. 2001 installierte Eliasson unter dem Titel The Mediated Motion in einem von Peter Zumthor entworfenen Geschoss des Kunsthauses Bregenz eine Hängebrücke, die durch ein Nebelfeld führte. Die ohnehin von Zumthor 1997 beim Bau des Hauses schon sehr fließend gestalteten Übergänge vom Fußboden zu den Wänden und zur Decke verschwammen im Nebel vollends. Der etwas wackelige Weg über die Brücke wurde fast zur einzigen Orientierung im Nebelmeer. Die Nebeltropfen auf der Haut, die Feuchte der Luft und die fehlende Übersicht im Raum erinnerten stark an eine Naturexpedition, obgleich sie im Rauminneren stattfand. Die Zuschauer bildeten, sofern sie nicht

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alleine im Raum waren, eine Gemeinschaft, die das Phänomen und die damit verbundenen Gefühle kollektiv erlebte.20 Ein wahres Fest der Gemeinschaftserfahrung war das Weather Project 2003/04 in der Londoner Tate Modern. Hier inszenierte Eliasson mit einer künstlichen Sonne eine naturähnliche Abendstimmung im Innenraum der ehemaligen Turbinenhalle. Die Präsentation fand im eher ungemütlichen feuchten und kalten Londoner Herbst- und Winterwetter statt, wo Sonnenschein nur selten vorkommt. Die öffentlich zugängliche Turbinenhalle der Tate Modern wurde so zu einem mittäglichen Treffpunkt, den die Besucher zu einem eigenen Happening nutzten. Begleitend zu seiner Schau startete Eliasson eine stadtweite Werbekampagne für die Ausstellung, in der Umfrageergebnisse zum Wetter eine wichtige Rolle spielten. Er fragte beispielsweise danach, wie viele Taxifahrer mit ihren Fahrgästen über das Wetter sprechen, oder er fragte die Betrachter seiner Plakate, ob sie heute bereits über das Wetter gesprochen hätten. Damit wurde nicht nur die Ausstellung selbst zum Stadtgespräch, es wurde auch jeder, der daran teilnahm, daran erinnert, welchen Stellenwert das Wetter für sein eigenes Wohlbefinden hat und wie er darüber kommuniziert. Damit bezog Eliasson in das durchaus übliche Gespräch über das Wetter einen Austausch über sein Kunstprojekt mit ein und machte damit die Vergleichbarkeit des Klimas und des Raumklimas, der Atmosphäre und der Raumatmosphäre deutlich.21 In seinem 2008 präsentierten Projekt der vier Wasserfälle in New York (The New York City Waterfalls) bringt Eliasson der metropolitanen Bevölkerung nicht nur Naturerlebnisse nahe, er thematisiert auch das Wahrnehmen natürlicher Phänomene als eine konkret leibliche Erfahrung. Man sieht das sich brechende Licht im Wasserfall, vielleicht einen Regenbogen, man hört das Rauschen der gewaltigen Wassermassen und spürt die versprühten Wassertropfen auf der Haut. Wie in London wurden auch die spektakulären Wasserfälle in New York von einer

20 Vgl. May, Susan, Meteorologica, in: Olafur Eliasson. The Weather Project (Exhib. cat., Tate Modern, London, 16.10.2003 – 21.03.2004), ed. by Susan May, London 2003, 15 – 28, hier 23. 21 Vgl. Braun, Christoph, Erfundene Naturstimmungen, in: taz.die tageszeitung, 19.02.2004, 19 sowie insgesamt Olafur Eliasson. The Weather Project (Exhib. cat., Tate Modern, London, 16.10.2003 – 21.03.2004), ed. by Susan May, London 2003.

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Retrospektive seiner Arbeit begleitet (hier im Museum of Modern Art) und wie in London versuchte Eliasson auch in New York eine öffentliche Debatte zu initiieren – in diesem Fall über das Wasser. Dafür arbeitete er mit Umweltorganisationen zusammen und entwickelte mit der Schulbehörde eine Unterrichtseinheit zu diesem Thema. In der Stadt wurde seine Kunst damit auch eine kollektive soziale Erfahrung.22 Vor allem das Londoner, aber auch das New Yorker Projekt machen deutlich, dass atmosphärische Wirkungen soziale, weil gemeinschaftliche Erfahrungen sind, über die man sich untereinander austauscht, die also kommunikationsfähig sind, auch wenn diese Wirkungen subjektiv wahrgenommen werden. Architektur und räumlich orientierte Kunst schaffen nicht nur Raumatmosphären, diese sind auch konstruierbar: durch die Tektonik selbst (Peter Zumthor), aber auch durch das bewusste Arrangement klimatischer Bedingungen und anderer ephemerer Elemente (Philippe Rahm). Raumatmosphären sind außerdem Teil unserer alltäglichen Kommunikation, wenn sie als solche bewusst (und dies selbstverständlich subjektiv) wahrgenommen werden. Dadurch ergibt sich eine Verständigung über Raumatmosphären. Atmosphären sind also kommunizierbar und sie sind ein Kommunikationsmittel. Das zeigen die Arbeiten von Olafur Eliasson. Atmosphäre als eine neue Ästhetik

In diesem Sinne kann Atmosphäre als „Grundbegriff einer neuen Ästhetik“23 verstanden werden. Sie erhöht nach Auffassung von Gernot Böhme nicht nur das Wohlbefinden der Menschen in einer natürlichen Umgebung oder in einer menschengerechten Architektur, sondern könnte den Menschen zusätzlich die Sinne für das Erfahren ihrer Umgebung öffnen. Eine sensibilisierende, also die Sinne anregende räumliche Atmosphäre (als Teil eines architektonischen Konzeptes) trägt zum Erkenntnisgewinn bei.24 Böhme sieht Atmosphären als die gegenwärtige Entsprechung 22 Vgl. Eliasson, Olafur, Meine Kunst ist nicht utopisch (Interview mit Ralf Schlüter und Till Briegleb), in: Art – Das Kunstmagazin 5/2008, 16 – 27, hier besonders 24 – 27. 23 Böhme, Atmosphäre, 21–  48 (Kapitel „Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik“). 24 Vgl. ebd. sowie Böhme, Architektur und Atmosphäre, 19 – 31.

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des Spiels oder des Spieltriebs, den Friedrich Schiller im Mittelpunkt der ästhetischen Erziehung sah. In seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen aus dem Jahr 1795 beklagt er die nach seiner Ansicht zu starke Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit. Das Spiel bzw. der im Spiel angeregte Spieltrieb soll zwischen beiden vermitteln und dadurch die Bildung des Menschen vervollständigen. An dieser Stelle sieht Böhme den Begriff der „Atmosphäre“ und den durch ihr Erleben erlangten Erkenntnisgewinn.25 Über Raumatmosphären kommunizieren

Die genannten künstlerischen und architektonischen Werke weisen auf die Potenziale einer bewussten Produktion von Raumatmosphären sowie ihre Reflektion und Kommunikation hin und verdeutlichen die Spielräume, die auch für die nutzungsorientierte angewandte Kunst der Architektur bestehen. Wenn die Atmosphäre ein Wesenselement des Raumes und seiner Erfahrung ist, muss sie auch ein wesentlicher Teil des architektonischen Entwurfes sein. Und die Erfahrung räumlicher Atmosphäre ist ein Erkenntnisprozess, der sich im architektonischen Entwurf niederschlagen muss. Wenn die Atmosphäre eines Raumes und ihre Erfahrung darüber hinaus kommunizierbar sind, kann sie Teil eines Diskurses sein, der sich nicht nur unter den Nutzern dieser Architektur ergibt, sondern auch zwischen Nutzern und Architekten. Architekten können sich mit Hilfe der Kommunikation über Atmosphären die Basis eines robusten Wissens über Wünsche und Ansprüche der Nutzer an die Qualitäten der zu bauenden oder umzubauenden Räume schaffen. Dafür sind Partizipationsformen notwendig, die einen interaktiven Austausch zwischen Architekten als Experten für die Formfindung und Raumgestaltung einerseits und Nutzern als Experten der Raumnutzung andererseits gewährleisten. Diese müssen eine vertrauensvolle Kommunikations- und Interaktionsebene erreichen. So können Nutzer und Architekten verhandeln und sich auf eine Vorstellung räumlich-atmosphärischer Qualitäten verständigen, die 25

Vgl. ebd., 44 –  47.

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zur Grundlage eines architektonischen Konzeptes wird. Dieses Konzept ist wiederum die Grundlage für den architektonischen Entwurf. Der Architekt erhält so eine tragfähige Basis für die Parameter seiner Planung. Der Nutzer kann sich nicht nur in den Entwurf einbringen, sondern auch daran mitwirken und sich gleichzeitig der Kompetenz des Architekten versichern und bedienen. Der architektonische Entwurfsprozess wird so als sozialer, atmosphärischer und technischer Erkenntnisprozess gestaltet und erhält dadurch in der Vielzahl seiner Anwendungen gesellschaftliche Relevanz. Die im wechselseitigen Austausch entworfene Fiktion des zukünftigen Gebäudes eröffnet dem Architekten den notwendigen Spielraum, Baukörper und Bauvolumen, Materialien, Konstruktionsweisen, Oberflächenfarben und dergleichen in Abgleich mit bestehenden Bauauflagen zu entwickeln und einzusetzen, ohne von der mit dem Nutzer vereinbarten Grundlinie des Entwurfes abweichen zu müssen. Enttäuschte Erwartungen und durch die Beteiligung der Nutzer unnötig aufgebaute Zwänge können so vermieden werden. Und nicht zuletzt lassen sich mittels der Atmosphäre kreative und spielerische Elemente einbinden, die nicht nur in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, Erwachsenen oder heterogenen Gruppen hilfreich und wichtig sind für die Verständigung und das Vertrauen untereinander, sondern ebenso die Bereitschaft der Nutzer zur Beteiligung stärken. Atmosphären sind in der Architektur nicht nur ein beiläufiges Abfallprodukt, sie sind nicht nur bewusst im Entwurf einsetz- und herstellbar, sie können vielmehr als ein Kommunikationsmittel eine Übereinstimmung über die zu schaffenden Qualitäten der Architektur zwischen Architekten und Nutzern herstellen. Raumatmosphären konkret

Ein konkretes Beispiel aus der Arbeit meines Architekturbüros die Baupiloten mag das Gesagte illustrieren: Das Studentenwerk Berlin sah sich vor der Notwendigkeit, sein denkmalgeschütztes Wohnheim „Siegmunds Hof“ in Berlin-Tiergarten mit 614 Plätzen nach mehr als fünfzig Jahren Betrieb zu sanieren. Die Anlage wurde 1959/1961 nach Entwürfen von Peter Poelzig und Klaus Ernst fertiggestellt. Gleichzeitig sollten die

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Abb. 2: die Baupiloten, Planspiel „Spiel’ Deinen Wohntraum – Leb’ Deinen Spieltraum“

Bauten im Rahmen des Projekts Studentenwohnen Siegmunds Hof (Abb. 1) den heutigen Anforderungen zur Reduzierung des Energieverbrauchs angepasst und angesichts veränderter Bedürfnisse der Bewohner auch zeitgemäß modernisiert werden. Mit umfangreichen Befragungen und dem partizipativen Planspiel „Spiel’ Deinen Wohntraum – Leb’ Deinen Spieltraum“ (Abb. 2) konnten unterschiedliche Nutzerinteressen und wünschenswerte Wohnatmosphären analysiert und artikuliert werden. Außerdem wurde eine intensive Untersuchung der den Ort bestimmenden Atmosphären durchgeführt und diese kartiert. Daraus entstanden räumlich und atmosphärisch differenzierte Umbauten der bestehenden Wohnhäuser für Gruppen, die sich mit unterschiedlichen Lebensgefühlen identifizierten, die das zuvor durchgeführte Partizipationsverfahren ergeben hatte. So konnten u. a. die „Pavillons Gartenwohnen“, ein Haus für „Ruhiges Wohnen am Wäldchen“, ein „Haus für Musik- und Fitnessfreunde“, ein „Hochhaus für Teamplayer“ sowie ein „Haus für urbane Gartenfreunde“ angeboten werden. Jedes dieser Häuser vermittelt eine entsprechende Wohnatmosphäre: So liegt das „Haus für urbane Gartenfreunde“ (Abb. 3 – 4) einerseits direkt am zentralen Stadtplatz an der Haupterschließungsstraße und hat andererseits vom Erdgeschoss direkten Zugang zum Park, in den das ganze Wohnheim eingebettet ist. Hier sind der Stadtplatz, Küchengärten und ein „Freiluftwohnzimmer“ mit Lampen und Riesensitzsteinen eingerichtet worden, in dem sich der Park in lauen Sommernächten genießen lässt. Außerdem

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Abb. 3: Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 13 „Haus für urbane Gartenfreunde“, 2009 – 2012, Blick auf den Kräutergarten und die Terrasse der Gemeinschaftsküche

Abb. 4: Studentenwohnen Siegmunds Hof, 2007–2018, „Freiluftwohnzimmer“, im Hintergrund die Nordfassade des „Hauses für urbane Gartenfreunde“

Abb. 5: Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 12 „Hochhaus der Teamplayer“, 2014–2017, Längsschnitt

bieten die großen Terrassen Platz zum Sonnenbaden und darin eingelassene Beete (Abb. 4) weitere Gelegenheiten zum Gärtnern und Selbstversorgen.

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Abb. 6: Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 11 „Haus für Musik- und Fitnessfreunde“, 2013–2015, Gemeinschaftsküche

Abb. 7: Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 10 „Ruhiges Wohnen am Wäldchen“, 2012–2014, Laubenterrassen im Grünen

Das „Hochhaus der Teamplayer“ (Abb. 5) betont die Gemeinschaftseinrichtungen für das studentische Wohnen. Es beherbergt eine Fahrradwerkstatt, ein Atelier und ein Waschcafé. Diese Einrichtungen können auf die „Werkterrassen“ ausgedehnt werden und stehen dann auch zum „Freiluftwohnzimmer“ in räumlicher Nähe. Außerdem hat die Vertretung der Studierenden hier ihr Büro. So kann im Erdgeschossbereich ein neuer Interaktionsraum zwischen Alltag und Freizeit entstehen. Als städtebauliche Dominante steht das Hochhaus im Zentrum der Anlage und kann auf diese Weise als direkter Anlaufpunkt funktionieren. Auch in den oberen Etagen wird in den geräumigen Küchen der Gemeinschaftsgeist im Haus betont und einer eventuellen Vereinzelung der Bewohner entgegengewirkt. Das „Haus für Musik- und Fitnessfreunde“ (Abb. 6) betont den sportlichen und musikalischen Lebensstil. Es liegt in unmittelbarer Nähe der Sporteinrichtungen der Anlage und nächst der Spree, auf der Kajak-, Kanu- und Ruderbootfahren möglich ist. Das Souterraingeschoss nimmt Fitness- und Musikstudios auf; die durchdachte Beleuchtung der Zugangskorridore und ihr nach Außen wirkendes Licht verleihen dem Haus einen besonders lebendigen Charakter.

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Abb. 8: Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 4 „Pavillons Gartenwohnen“, 2014 – 2015, Gemeinschaftsküche mit Blick in den Garten

Abb. 9: Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 7 „Pavillons Gartenwohnen“, 2014 – 2015, Gemeinschaftsküche

Eine ganz andere Atmosphäre bietet dagegen das Haus für „Ruhiges Wohnen am Wäldchen“ (Abb. 7), das eingebettet in eine große Rhododendron-Hecke und ein kleines Wäldchen am Rande der Anlage mit einem schönen Blick auf die Spree liegt. Verstärkt wird dieses „Wohnen im Grünen“ noch durch spezielle Lauben, die an den Terrassen im Erdgeschoss sowie auf dem Dachgeschoss gepflanzt werden. Die dreigeschossigen „Pavillons Gartenwohnen“ (Abb. 8  –10) bieten mit ihren großen Terrassenbereichen und den Gemeinschaftsräumen in den Erdgeschossen gute Gelegenheiten, den umliegenden Garten in den Wohnbereich zu integrieren. Großzügige Glasfronten stellten schon im ursprünglichen Konzept einen direkten Bezug zur Umgebung her. Spiegelelemente und eine abgestimmte Farbgebung in der Innenraumgestaltung verstärken diese Wirkung im ausgeführten Bau. Abseits von der Straße haben die Pavillons ideale Möglichkeiten, ein „grünes Wohnen“ im oder mit dem Garten zu realisieren. Die mit der Architektur der Umbauten in der Wohnanlage „Siegmunds Hof“ geschaffenen Atmosphären sind in erster Linie ein

Atmosphäre in der Architektur und in der freien Kunst | Susanne Hofmann

Abb. 10: Studentenwohnen Siegmunds Hof, Häuser 4–7 „Pavillons Gartenwohnen“, 2014–2015, Querschnitt

Angebot an die Bewohner. Sie können diese individuell erleben, sie durch ihr Zutun verändern – und dadurch eine Identifikation mit der Architektur und mit dem Ort aufbauen. Da die Bewohner nur temporär in den Häusern leben und diese nach wenigen Jahren von wieder neuen und anderen jungen Menschen genutzt werden, konnte der Partizipationsansatz nicht spezifisch individuell ausgerichtet sein, sondern musste zu einem universellen, auf mehrere Bewohnergenerationen übergreifend anwendbaren architektonischen Konzept führen. Die Häuser sind aktuell zu achtzig Prozent in Betrieb, die restlichen noch in Bau oder in Planung. Die Erfahrungen mit den bisher bezogenen Häusern zeigen, dass die geplanten Atmosphären entstehen und wie im Konzept vorgesehen von den Bewohnern weiterentwickelt werden – auch wenn (oder vielleicht gerade indem) der eine oder andere Raum anders be- und genutzt wird als geplant.

Literatur Albers, Josef, One Plus One Equals Three and More: Factual Facts and Actual Facts, in: Search versus Re-Search. Three Lectures by Josef Albers at Trinity College, April 1965, Hartford (Conn.) 1969, 17– 24 Böhme, Gernot, Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995 Böhme, Gernot, Architektur und Atmosphäre, Paderborn/München 2006 Böhme, Gernot, Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit [Vortrag am 31. August 2008], in: Haarmann, Anke/Lemke, Harald (Hg.), Kultur – Natur. Kunst und Philosophie im Kontext der Stadtentwicklung (Internationale Bauausstellung [IBA], Hamburg 2008), Bd. 2: Textband, Berlin 2009, 55 –  69

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252 Braun, Christoph, Erfundene Naturstimmungen, in: taz.die tageszeitung, 19.02.2004, 19 Olafur Eliasson. The Weather Project (Exhib. cat., Tate Modern, London, 16.10.2003 – 21.03.2004), ed. by Susan May, London 2003 Eliasson, Olafur, Meine Kunst ist nicht utopisch (Interview mit Ralf Schlüter und Till Briegleb), in: Art – Das Kunstmagazin 5/2008, 16 – 27 Yves Klein (AK, Museum Ludwig, Köln u. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 08.11.1994 –  08.01.1995, Hayward Gallery, London, 09.02. – 23.04.1995, Museu Nacional Centro de Arte Reina Sofia, Madrid, 24.05.– 29.08.1995), red. v. Sidra Stich, Stuttgart 1994 May, Susan, Meteorologica, in: Olafur Eliasson. The Weather Project (Exhib. cat., Tate Modern, London, 16.10.2003 – 21.03.2004), ed. by Susan May, London 2003, 15 – 28 Meisenheimer, Wolfgang, Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, Köln 2 2006 Rahm, Philippe, Immediate Architecture, in: Buchert, Margitta/Zillich, Carl (Hg.), Performativ? Architektur und Kunst, Berlin 2007, 105 –113 Schmarsow, August, Das Wesen der architektonischen Schöpfung (1894), in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2006, 470 –  484 Turrell, James, Es gibt niemals kein Licht … selbst wenn alles Licht erloschen ist, kann man es noch fühlen / There never is no light … even when all the light is gone, you can still sense light (Interview mit/with Alison Sarah Jones, 05.04.1992), in: James Turrell. Perceptual Cells (AK, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, 04.04.–14.06.1992), hg. v. Jiri Svestka, Stuttgart 1992, 56  –71 Wölfflin, Heinrich, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, München 1886 Zumthor, Peter, Atmosphären. Architektonische Umgebungen. Die Dinge um mich herum, Basel/Boston/Berlin 2006

Atmosphäre als ästhetische Kategorie. Versuch einer philosophischen Annäherung an ein schwer zu fassendes Phänomen Florian Uhl | Antonia Krainer

I. Vorbemerkung: Atmosphäre oder der Versuch, einen Pudding an die Wand zu nageln

„Einen Pudding an die Wand zu nageln, erfordert gewiss nicht mehr Geschick, als das zu beschreiben und begrifflich zu durchdringen, was […] ‚Atmosphäre‘ genannt wird.“1 Diese recht plastische Formulierung aus einem Feuilleton weist darauf hin, dass es sich bei „Atmosphäre“ – einem Grundbegriff der von Gernot Böhme in den letzten zwanzig Jahren entwickelten ‚Neuen Ästhetik‘ – um einen sozusagen ‚amorphen‘, einen vielschichtigen und changierenden Begriff handelt, der ein breites Spektrum von Bedeutungen abdeckt und sich einer eindeutigen Definition zunächst zu entziehen scheint. Wittgenstein fasst seine Position im Tractatus logico-philosophicus in den wohlbekannten Sätzen zusammen: „Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen.“2 Und: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“3 Wenn wir uns streng daran halten wollten, dann wäre von Atmosphären unbedingt zu schweigen! Denn sie sind ein Phänomen, das mit mathematisch-exakten oder naturwissenschaftlich-experimentellen Methoden nicht in den Griff zu bekommen ist. 1

Wenzel, Uwe Justus, Im Dunstkreis. Hinweise auf Bücher, in: Neue Zürcher Zeitung, 9.12.1995, 48, zit. n. Rauh, Andreas, Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen, Bielefeld 2012, 12. 2 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 1994, Satz 4.116. 3 Ebd., Satz 7.

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Dies gilt aber nach Aristoteles ebenso für das menschliche Handeln als Gegenstandsbereich der Ethik.4 Es gilt natürlich auch für den Gegenstandsbereich der Theologie und jeder Ästhetik, ganz gleich, ob man die Ästhetik als Theorie der Kunst, als Theorie des Schönen oder mit Alexander Gottlieb Baumgarten (und erneut wieder mit Gernot Böhme) als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung versteht. Ihr Gegenstandsbereich ist in jedem Fall von einer Art, die keine absolute Genauigkeit zulässt. Die Antwort auf diese Schwierigkeit kann nun nicht sein, dass die Philosophie sich mit solchen Gegenständen gar nicht beschäftigen sollte. Die Bedeutung ästhetischer und religiöser Phänomene ist für das menschliche Leben so wesentlich, dass eine Philosophie, die sie ausblendet, damit auch den Menschen selbst aus dem Blick verliert und nicht mehr im umfassenden Sinne Philosophie sein kann. In diesem Sinne gilt das Wittgenstein-Zitat auch in seiner Umkehrung: „Wovon man nicht sinnvoll schweigen kann, darüber sollte man reden.“5 Auf der Suche nach einer Sprache, die der Eigenart ästhetischer Phänomene gerecht wird, stellt Gernot Böhme fest, dass der Vorteil der künstlerischen Sprache gegenüber der wissenschaftlichen darin besteht, dass sie „nicht an analytische Differenzierungen gebunden“ ist. Genau deswegen kann sie das leisten, was beim Sprechen über Atmosphären „entscheidend ist, nämlich die […] Nachzeichnung von Unbestimmtheiten […] die Auflösung der Gegenständlichkeit, das Changieren von Bedeutungen und das Verschieben von Grenzen.“6 Das ist freilich kein Plädoyer für irgendeine Art von Irrationalismus, sondern ein durchaus realistischer Blick auf Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlichen Sprechens. Die Arbeit an der Atmosphäre als einem wissenschaftlichen Begriff wird möglicherweise nicht zu einer eindeutigen und endgültigen Erklärung führen und in diesem Sinne immer Versuch bleiben. Das ist aber auch gar nicht schlimm. Sie hat ihr Ziel erreicht, wenn sie – ganz im Sinne einer Wittgenstein’schen Gebrauchsseman-

4 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch I, 1094 b. 5 Rauh, Feldforschungen, 14. 6 Böhme, Gernot, Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern vor Stuttgart 1998, 33 – 34.

Atmosphäre als ästhetische Kategorie | Florian Uhl ∙ Antonia Krainer

tik – ein besseres Verständnis dessen schaffen kann, wofür der Begriff gebraucht wird und wie er sich zu anderen Begriffen verhält. Böhme vergleicht den Atmosphärenbegriff mit dem von Walter Benjamin geprägten Begriff der ‚Aura‘ (welchen er den „Platzhalter“7 der Atmosphäre in der ästhetischen Theorie nennt) und dem ‚Mehr‘ bei Adorno: Sie alle bezeichnen etwas, das schwer in Worte zu fassen ist; sie deuten auf „ein Jenseits dessen, wovon man rational Rechenschaft geben kann […] und zwar mit Emphase, als finge erst dort das Eigentliche, das ästhetisch Relevante an.“8 Eine gewisse Unbestimmtheit oder Vagheit gehört also zum Wesen der Atmosphäre, zu dem, was sie ausmacht. Das braucht freilich – so Böhme – „nicht zu bedeuten, daß die Bedeutung dieses Ausdrucks selbst vage sein muß.“9 Ausgehend von der alltagssprachlichen Verwendung zeigt er auf, dass wir uns über Atmosphären durchaus in einer allgemein verständlichen Sprache austauschen können, wenn wir sie etwa als angespannt, melancholisch, bedrückend oder friedlich bezeichnen. Hinsichtlich ihres Charakters sind Atmosphären keineswegs unbestimmbar. Die Schwierigkeiten ergeben sich vielmehr „in bezug auf ihren ontologischen Status“10: Sie sind weder Substanz noch Akzidens, weder rein objektiv noch rein subjektiv, sondern haben „den Charakter eines Mediums.“ Die Atmosphäre „vermittelt unsere Beziehung zur Welt und läßt sie uns in besonderer Weise erscheinen.“11 Atmosphären entstehen im Zusammenspiel von Subjekt und Objekt – noch ehe diese beiden Pole der traditionellen Erkenntnistheorie getrennt sind. Darauf wird später noch zurückzukommen sein. II. ‚Neue‘ Phänomenologie und ‚neue‘ Ästhetik

Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts lässt sich eine neue Entwicklung in der philosophischen Ästhetik beobachten, die in der 7 Böhme, Gernot, Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik, in: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 7., erw. u. überarb. Aufl., Berlin 2013, 21–  48, hier 26. 8 Ebd., 21. 9 Ebd., 28. 10 Ebd., 22. 11 Böhme, Anmutungen, 32.

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Phänomenologie wurzelt, von Umbrüchen im Bereich der Kunst angetrieben wurde und wesentlich von einer Aufwertung der Leiblichkeit und der Sinnlichkeit bestimmt ist. Als Wegbereiter dieses neuen Denkens spielen vor allem Ludwig Klages, Hermann Schmitz12 und Maurice Merleau-Ponty eine bedeutende Rolle. Ihre Besonderheit besteht nach Gernot Böhme in einer Rückbesinnung auf Ästhetik als aisthesis, als ‚Lehre von der sinnlichen Erkenntnis‘ und damit auf den Entwurf von Alexander Gottlieb Baumgarten. Im Folgenden möchten wir vorstellen, wie Böhme diese neue Ästhetik, die noch im Werden ist und sich erst in Konturen zeigt, in ein System zu bringen versucht.13 1. Geschichtliche Entwicklung Das Ziel der Ästhetik war nach Baumgarten die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Im Gegensatz zur rationalistischen Philosophie geht es gerade nicht darum, die Unschärfe, die zum Wesen der sinnlichen Erkenntnis gehört, dadurch zu überwinden, dass sinnliche Erkenntnis in Verstandeserkenntnis umgewandelt wird. Für die Qualität der sinnlichen Erkenntnis gelten andere Kriterien. Ihre Vollkommenheit besteht nicht in der Klarheit, sondern in der Schönheit. Bemerkenswert ist, dass die Schönheit für Baumgarten ebenso wie für Kant keine Eigenschaft des Gegenstandes ist, sondern vielmehr eine Eigenschaft der Erkenntnis!14 Für Baumgarten und seinen Nachfolger Georg Friedrich Meier gibt es eine Art von Wissen, die affektiv vermittelt wird, deshalb aber nicht weniger Wissen ist. Die ‚schönen‘ Künste werden als Formen solchen Wissens aufgefasst und anerkannt. Dieser Gedanke mag uns heute fremd scheinen, lässt sich aber in der Philosophiegeschichte bis zu Aristoteles zurückverfolgen: Die Künste werden in der Nikomachischen Ethik als Formen des Wahrmachens bezeichnet. Sie sind ein reflektierendes Verhalten, das auf das Hervorbringen von etwas abzielt. Ihr Ergebnis

12 Schmitz, Hermann, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg i. Br./ München 2009. 13 Vgl. Böhme, Gernot, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, 7. 14 Vgl. ebd., 13  –15.

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ist ein bestimmter Gegenstand (z. B. im Falle der Baukunst ein Gebäude).15 Die Ästhetik wurde bei Meier zur Theorie der Kunst – in der Kunst sah er die Vollkommenheit sinnlicher Erkenntnis; in der folgenden Entwicklung wurde nicht nur der Gegenstand ästhetischer Erkenntnis „eingeschränkt […] auf das Schöne und Erhabene“, sondern „auch die Erkenntnisweise als solche“ auf die „Beurteilung. So am deutlichsten bei Kant: Die Ästhetik ist dort Kritik der Urteilskraft.“16 Was damit seither aus dem Blick geriet, war die Natur und der Bereich, der heute mit den Schlagworten ‚Design‘ oder ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ umschrieben wird. Für Böhme sind aber genau das die entscheidenden Fragen, denen sich die Ästhetik in der Gegenwart stellen muss. 2. Gegenwärtige Probleme Die ‚Neue Ästhetik‘ baut auf der traditionellen Ästhetik auf, setzt sich aber auch von ihr ab, und zwar vor allem durch ihre Weise des Zugangs zu ästhetischen Phänomenen. Dieser führt nicht primär über die Kunst, sondern über die Natur und gibt darum der Erfahrung den Vorrang vor dem Urteil. Ein zweiter wesentlicher Unterschied ist die Verlagerung des Schwerpunkts von der Rezeptionsästhetik auf die Produktionsästhetik und das weite, bislang vernachlässigte Feld ästhetischer Arbeit.17 Darunter wird grundsätzlich jede Tätigkeit verstanden, die auf das Erzeugen einer bestimmten Atmosphäre abzielt; als Beispiele nennt Böhme verschiedene Bereiche des Designs, Kosmetik, Architektur, Stadtplanung u.a.18 Was die Produktionsästhetik betrifft, kritisiert Böhme auch Schmitz, von dem er sonst sehr vieles übernimmt; Schmitz’ Begriff der Atmosphäre leide unter einer gewissen Einseitigkeit, insofern er den Atmosphären eine „zu große Selbständigkeit gegenüber den Dingen zubilligt“, sodass es kaum noch denkbar scheint, dass sie überhaupt durch Dinge erzeugt werden 15 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VI, 1139 b. 16 Böhme, Aisthetik, 17. 17 Vgl. Böhme, Atmosphäre, 22 – 25. 18 Vgl. Böhme, Aisthetik, 22 u. passim.

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können. „Damit fällt der ganze Bereich ästhetischer Arbeit aus der Perspektive dieses Ansatzes heraus.“19 Die besondere Beachtung der Natur gewinnt ihre Aktualität vor allem aus den immer drängenderen ökologischen Problemen, mit denen wir heute konfrontiert sind. Das Anliegen, dass die Ästhetik sich damit zu befassen habe, teilt Böhme mit Martin Seel. Interessant ist, dass Seel seine Ästhetik auf der genau gegenteiligen These aufbaut – er will Ästhetik gerade nicht als Lehre von der Wahrnehmung verstanden wissen –, dabei aber am Ende zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Insofern könnte man sagen, dass die beiden Ansätze quasi ‚spiegelbildlich‘ zueinander stehen – oder, mit Böhme gesprochen, „sich in der Mitte in vielem treffen.“20 Doch auch im Bereich des ‚Designs‘, also der ästhetischen Gestaltung des Alltagslebens, hat die Ästhetik eine äußerst wichtige Aufgabe, denn hier soll sie es ermöglichen, „mit der Ästhetisierung des Realen fertigzuwerden.“21 Dieser Begriff umfasst eine Reihe von Entwicklungen, die Böhme als höchst beunruhigend einstuft. Sie werden unter Schlagwörtern wie „Erlebnisgesellschaft“ verhandelt oder „der Ersetzung der Realität durch Simulakren [...]. Es handelt sich darum, daß an der Erscheinung von etwas in einem Maße gearbeitet wird, daß sie zu einem Selbstwert wird und tendenziell das Erscheinende auch fehlen kann.“22 Das Erscheinende selbst ist also abwesend. Wie gefährlich die inhaltsleere, aber mächtige Erscheinung sein kann, zeigt Böhme daran, dass die Ästhetisierung des Realen auch als Ästhetisierung des politischen Lebens auftritt – ein Ausdruck, mit dem Walter Benjamin den Faschismus kritisiert, der „die Masse zu ihrem Ausdruck (beileibe nicht zu ihrem Recht) kommen“ lässt.23 Diese Gefahr ist aber nicht nur in totalitären Regimen präsent, sondern auch in demokratischen Staaten. Hier hängt sie noch enger mit der Entwicklung der Massenmedien zusammen; die Politik ist nicht mehr wie bei Benjamin

19 Böhme, Atmosphäre, 30 – 31. 20 Böhme, Aisthetik, 9. 21 Ebd., 19. 22 Ebd. 23 Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 1963, 7–  63, hier 48 (Nachwort).

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eine „Politik auf dem Theater“, sondern „vor Lautsprechern und Fernsehkameras […]. Was hier geschieht, also die theatralische Geste, ist entweder das politische Handeln oder soll dafür gelten.“24 Die Kunst, so Böhme, stand schon lange im Dienst einer Politik, die mehr über Atmosphären als über kognitive Inhalte funktioniert. Herrschende nutzten über viele Jahrhunderte die Architektur, um eine Atmosphäre der Macht zu vermitteln. Die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts setzten gezielt die emotionale Wirkung von aufwändigen Großveranstaltungen, Musik und Ritualen ein. In der gegenwärtigen Zeit ist es vor allem die Ökonomie, die Methoden der künstlerischen Gestaltung und der Psychologie benutzt, um das Verhalten der KonsumentInnen zu steuern. Dabei ist es längst zur Selbstverständlichkeit geworden, dass für die Verkaufszahlen nicht die Qualität des Produktes, sondern die Qualität der Werbung entscheidend ist. In jedem Fall geht es um große Inszenierungen, bei denen das Eigentliche abwesend ist. An der bisherigen Ästhetik ist in diesem Kontext zu kritisieren, dass sie diesen problematischen Tendenzen nichts entgegenzusetzen hat, weil sie „nicht eine Theorie sinnlicher Erfahrung, sondern der intellektuellen Beurteilung“ ist, die die Leiblichkeit und Sinnlichkeit des Menschen vernachlässigt und sowohl den Menschen, dem etwas erscheint, als auch das Erscheinende „nicht in seiner leiblichen Anwesenheit“ behandelt. „Positiv gewendet hätte eine neue Ästhetik dagegen Wahrnehmung als Weise leiblicher Anwesenheit zu entwickeln und die affektive Betroffenheit durch den Gegenstand der Wahrnehmung zu berücksichtigen.“25 Dies sind Faktoren, die ernst genommen werden müssen, um verstehen zu können, was in den Menschen vorgeht, die heute in einem nie gekannten Ausmaß verschiedenen Wahrnehmungsreizen ausgesetzt sind.

24 Böhme, Aisthetik, 20. 25 Ebd., 31.

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260 III. Ästhetik als Theorie der sinnlichen Wahrnehmung. Das atmosphärische Spüren von Anwesenheit

1. Wahrnehmung, Leib und Natur: Ein Blick auf die Zusammenhänge Ästhetik als Wahrnehmungslehre hat eine unmittelbare ethische Relevanz. Wie Menschen Dinge wahrnehmen, ist ausschlaggebend dafür, wie sie mit ihnen umgehen. Darum ist Böhmes Naturästhetik eng verflochten mit seiner Ethik der leiblichen Existenz.26 Seine These ist, dass unsere Einstellung und das davon motivierte Handeln in Bezug auf die uns umgebende Natur stets gleich sind wie unsere Einstellung zu und unser Umgang mit dem eigenen Leib – der „Natur, die wir selbst sind“27. Der Ausdruck ‚Leib‘ bezeichnet im Gegensatz zu ‚Körper‘ nicht ein objektivierbares, vom Menschen unterschiedenes Etwas. Die Leib-Philosophie begreift den Menschen als eine Ganzheit, die nicht in ‚Körper‘ und ‚Geist‘ oder ‚Seele‘ aufgeteilt werden kann. Diese Grundentscheidung für einen holistischen Ansatz hat tiefgreifende Konsequenzen für alle Disziplinen der Philosophie. Uns interessieren hier besonders die erkenntnistheoretischen Implikationen: Was bedeutet es, dass nicht ein isoliertes Bewusstsein, sondern immer der ganze, geistig und leiblich verfasste Mensch Subjekt der Wahrnehmung ist? Hier ist kurz auf Merleau-Ponty als Vordenker der ‚Neuen Ästhetik‘ einzugehen. In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung28 macht er deutlich, dass der Leib niemals Objekt der Untersuchung ist, sondern der Ausgangspunkt aller Wahrnehmung, von dem aus versucht wird, die Welt zu verstehen und zu interpretieren. Wir stehen zur Welt nie anders in Verbindung als durch unseren Leib. Der Leib ist das Medium menschlicher Existenz, das „Vehikel des Zur-Welt-Seins“29. Durch ihn nehmen wir unsere Umgebung und auch uns selbst wahr, und die Wahrheit erschließt sich uns durch die Wahrnehmung, nicht durch das Denken. Diese Feststellung könnte auf den ersten Blick wie ein Rückfall in einen naiven Empirismus erscheinen. Das ist deswegen nicht der 26 Vgl. Böhme, Gernot, Ethik leiblicher Existenz. Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur, Frankfurt a. M. 2008. 27 Ebd., 119. 28 Merleau-Ponty, Maurice, Die Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin 1966 (Originalausgabe Paris 1945). 29 Ebd., 168.

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Fall, weil Wahrnehmung mehr bedeutet als den bloß physischen Vorgang der Aufnahme von Sinnesreizen durch Sinnesorgane. Wahrnehmung impliziert in jedem Fall eine Bewusstseinsleistung, die aber nicht isoliert von den körperlichen Vorgängen in den Sinnesorganen stattfindet. Zwischen der sinnlichen Empfindung und dem Verstehen des Sinneseindrucks kann keine klare und scharfe Grenze gezogen werden. Der Leib hat eine eigene Weise des Verstehens, die vom Verstehen im Sinne einer kognitiven Operation unterschieden ist. Böhme, und vor ihm Schmitz, nennen diese Art von Verstehen das Spüren. Im zweiten Kapitel seiner Einführung in die Philosophie legt Böhme dar, dass die Distanzierung zum Leib, welche die philosophische Tradition von den Anfängen weg geprägt hat, unter heutigen Bedingungen nicht mehr sinnvoll ist.30 Was eine philosophische Lebensführung ausmacht, ist zum Teil auch dadurch bestimmt, mit welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Entwicklungen oder Fehlentwicklungen sie sich auseinanderzusetzen hat. In einer Zeit, in der die Entfremdung von und ein objektivierender, instrumentalisierender und manipulativer Umgang mit dem eigenen Leib vorherrschen, ist es Aufgabe der Philosophie, die darin liegenden Gefahren aufzudecken und nach Alternativen zu suchen. Sie wird nur dann wirksam gegen die Verdinglichung des Menschen auftreten können, wenn PhilosophInnen erkennen, dass der menschliche Leib kein Ding ist, sondern dass es ein Leibbewusstsein gibt, welches weder Selbstbewusstsein noch Gegenstandsbewusstsein ist. Böhme beschreibt dies näher als eine Form von Bewusstsein, die „nicht reflexiv und nicht intentional“ ist, sondern „eher als eine innere Helle oder Wachheit […] oder auch als Spüren zu bezeichnen.“31 2. Beispiele Der Satz „Ich sehe einen Baum“ mag auf den ersten Blick als ein sehr allgemeines Beispiel für Wahrnehmung erscheinen, spricht aber tatsächlich von einer ganz speziellen und eingeschränkten 30 Vgl. Böhme, Gernot, Einführung in die Philosophie. Weltweisheit – Lebensform – Wissenschaft, Frankfurt a. M. 21997, 165 –178 (Abschnitt 3 „Leibsein“). Aufschlussreich dazu insbesondere auch Gahlings, Ute, Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen, Freiburg i. Br./München 2006. 31 Böhme, Einführung in die Philosophie, 178.

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Weise der Wahrnehmung: Erstens wird ausschließlich der Gesichtssinn angesprochen. Zweitens wird der Baum aus der Ferne und einseitig als Gegenstand, als Objekt wahrgenommen. Die Wahrnehmung meiner selbst kommt in diesem Beispiel nicht vor. Wenn ich nun die Distanz verringere und mich unter den Baum stelle, dann sehe ich ihn nicht mehr als Ganzen, aber: „Ich spüre seine Mächtigkeit und seine Höhe“32. Diese Wahrnehmung kann keinem bestimmten Sinnesorgan mehr zugeordnet werden. Hier ist das für die atmosphärische Wahrnehmung wesentliche Element der Synästhesie angesprochen, das Böhme in einem eigenen Aufsatz ausführlich behandelt.33 Wahrnehmung geschieht normalerweise nicht nur durch einen einzelnen Sinn, sondern immer im Zusammenspiel von mehreren; und die verschiedenen Sinne, vermittels derer Menschen wahrnehmen, sind keineswegs so scharf voneinander abgrenzbar, wie wir gemeinhin annehmen. Das betrifft nicht nur sogenannte SynästhetInnen im Sinne von Personen, bei denen z. B. optische und akustische Wahrnehmung gar nicht getrennt sind, sodass ein Klang immer auch Farbempfindungen erzeugt und umgekehrt;34 ein gewisses, wenn auch nicht so ausgeprägtes Ineinander unterschiedlicher Sinnesempfindungen kommt bei allen Menschen vor. (Wieso würden wir sonst ganz selbstverständlich von einer ‚dunklen Stimme‘ oder ‚kalten Farben‘ sprechen?) Wahrnehmung ist also im Allgemeinen nicht auf das Sehen beschränkt, sondern ein sinnenübergreifendes Spüren. Dieses ist zudem auch keine rein gegenständliche Wahrnehmung: Wenn ich den Baum spüre, werde ich dabei ebenso meiner eigenen Anwesenheit gewahr. In der Erfahrung der Anwesenheit von etwas erfahre ich immer auch mich selbst. Dieses zutiefst menschliche Spüren leiblicher Anwesenheit gewinnt gerade im Kontrast zu einer Gesellschaft, in der elektronische Kommunikationsmittel eine immer größere Rolle spielen, eine neue Bedeutung. Es ist die Dimension, die immer mehr verlorengeht, 32 Böhme, Aisthetik, 37. 33 Böhme, Gernot, Synästhesien, in: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 7., erw. u. überarb. Aufl., Berlin 2013, 85 – 99. 34 Synästhesie in diesem Sinn wird von der heutigen Psychologie übrigens nicht mehr als Störung angesehen und ist auch relativ häufig. Neuere Studien kommen auf Zahlen zwischen 1 % und 4 %. Vgl. Simner, Julia et al., Synaesthesia: The Prevalence of Atypical Cross-Modal Experiences, in: Perception 35 (2006), 1024  –1033, hier 1028.

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je mehr Handy und Internet an die Stelle persönlicher Begegnungen treten. Ein weiteres Beispiel für eine Wahrnehmungsweise, die das eigene Dasein thematisiert, wäre der Satz „Mir ist kalt.“ Diese Erfahrung kann „einen Ichpol und korrelativ dazu einen Gegenstandspol entfalten“35, sie kann ausdifferenziert werden in „Ich spüre die Kälte“ oder „Es ist kalt.“ Das sind zwar zwei unterschiedliche Weisen der Wahrnehmung, aber keine kann unabhängig von der ursprünglichen, undifferenzierten Wahrnehmung sein. Hier wird deutlich, in welchem Sinn die Atmosphäre ein ‚Zwischen‘ von Subjekt und Objekt darstellt: Sie ist „ihre gemeinsame Wirklichkeit.“36 Dies soll später in Zusammenhang mit der Produktionsästhetik noch näher erläutert werden. Das Objekt der Wahrnehmung muss nicht im klassischen Sinne ein ‚Gegenstand‘ sein, kein Ding und auch keine Eigenschaft eines Dinges. Die Kälte, die ich spüre, ist nicht die Eigenschaft von etwas, sondern „eine Art freischwebender Qualität“37, unbestimmt „in die Weite ergossen“38. Diesen Typ von Gegenständen nennt Böhme „etwas Atmosphärisches. Es ist als solches nach Sinnesqualitäten nicht ausdifferenziert […]. Dagegen hat es immer […] eine affektive Tönung, d.h. es ist bedrohlich, erheiternd, bedrückend, verlockend usw.“39 Böhme erläutert das atmosphärische Spüren von Anwesenheit als die ursprüngliche und fundamentale Weise der Wahrnehmung noch an einem weiteren Beispiel: „In der Bedrohlichkeit des Sirrens spüre ich die Anwesenheit einer Mücke.“ Das erste, was ich wahrnehme, wenn mich dieses Sirren nachts aus dem Schlaf aufschreckt, ist nicht ein konkret-fassbares Etwas (eine Mücke mit sechs Beinen), sondern ich spüre Anwesenheit, ich merke ganz unbestimmt, dass irgendetwas da ist, das mich geweckt hat, und zwar etwas Ungutes. Ich spüre die Atmosphäre der Bedrohlichkeit. Ich höre nicht nur ein unangenehmes Geräusch, sondern spüre die Beunruhigung und Abwehrbereitschaft am ganzen Körper. Bevor ich noch das 35 Böhme, Aisthetik, 38. 36 Böhme, Anmutungen, 8. 37 Böhme, Aisthetik, 39. 38 Ebd. Böhme nimmt hier eine Formulierung auf von Schmitz, Hermann, System der Philosophie, Bd. III/2: Der Gefühlsraum, Bonn 1969, 203. 39 Böhme, Aisthetik, 42.

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Wort ‚Mücke‘ denke und mich dadurch schon davon distanziere, bin ich in dem Gefühl, dass etwas Bedrohliches im Zimmer ist. Wenn ich nun rational das Geräusch als Sirren und die wahrscheinlichste Ursache als Mücke identifiziere, Licht mache und sehe, wo die Mücke sitzt, habe ich mich aus dem Gefühl sozusagen ausgewickelt (wie aus der Bettdecke) und mich so weit davon distanziert, dass die Atmosphäre der Bedrohung „zusammenbricht und sich der Gegenstand der Wahrnehmung auf das Mückending zusammenzieht.“40 Im Spüren von Anwesenheit spüre ich zugleich mich selbst als Subjekt der Wahrnehmung in meiner Befindlichkeit und die Anwesenheit von etwas. „Der erste Gegenstand der Wahrnehmung ist Atmosphäre oder das Atmosphärische. [...] Dabei sei das Atmosphärische [im Gegensatz zur Atmosphäre] etwas, das schon deutlicher vom Ich abgesetzt ist, also mehr auf die Seite der Dinge gehört.“41 Beispiele dafür wären die Nacht, das Wetter, der Wind, der Herbst, die Beleuchtung und die Dämmerung.42 Von einer Atmosphäre hingegen kann ich mich nicht vollständig absetzen, ohne dass sie (wie im Beispiel mit der Mücke) zusammenbricht oder sich zusammenzieht. Atmosphären „sind in dem, was sie sind, immer auch durch den Ich-Pol mitbestimmt.“ Sie werden in affektiver Betroffenheit43 wahrgenommen, aber: „Die eigene Stimmung kann […] lediglich als der subjektive Pol der Atmosphäre erfahren werden. Die Atmosphäre dagegen als ein Etwas, das auch von mir zu unterscheiden ist, wird erst in anderen Erfahrungen entdeckt.“44 IV. Atmosphären

1. Die Erfahrung der Atmosphäre: Ingression und Diskrepanz Ingressionserfahrungen sind Erfahrungen des Hineingeratens in eine Atmosphäre. Das klassische Beispiel ist das Eintreten in

40 Ebd. 41 Ebd., 45 – 46. 42 Vgl. ebd., 46 u. 59; zur Dämmerung siehe besonders Böhme, Anmutungen, 19 – 21. Hermann Schmitz spricht in diesem Zusammenhang auch öfter von „Halbdingen“, vgl. Schmitz, Hermann, System der Philosophie, Bd. III/5: Die Wahrnehmung, Bonn 1978, 116  –138 (§ 245 „Halbdinge in der Wahrnehmung“). 43 Beispiele: bedrückt, irritiert, fröhlich gestimmt. 44 Böhme, Aisthetik, 46.

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einen Raum, in dem mir eine ganz bestimmte Atmosphäre begegnet, z.B. eine Spannung, von der wir oft sagen, man könne sie ‚mit Händen greifen‘. „Das Raumartige ist […] für die Atmosphärenwahrnehmung charakteristisch“, die „Erfahrung qua Befindlichkeit […] selbst eine Ortserfahrung: Ich bin hier und fühle mich so und so gestimmt.“45 In diesem Zusammenhang wird auch oft von gestimmten Räumen gesprochen; dieser Ausdruck geht auf Elisabeth Ströker zurück, die sich als erste unabhängig vom Atmosphärenbegriff ausführlich damit beschäftigt hat.46 Beim Betreten des Raumes erlebe ich Atmosphäre als etwas, das zwar (noch) nicht zu mir gehört, aber jedenfalls einen Einfluss auf mich ausübt, es ‚macht etwas mit mir‘ – vor allem dann, wenn ich mit einer ganz anderen Stimmung gekommen bin. Dies ist die zweite Art von Atmosphärenerfahrung, die Erfahrung der Diskrepanz, bei der ich „von einer Atmosphäre her eine Anmutung erfahre, die von meiner – mitgebrachten – Stimmung abweicht. So kann ich etwa, wegen eines Trauerfalls bedrückt, einen heiteren Frühlingstag in deutlicher Diskrepanz zu meinem eigenen Befinden erfahren.“47 Atmosphären sind also eindeutig etwas nicht rein Subjektives. Deshalb hält Böhme es auch für problematisch, sie einfach als Gefühle zu bezeichnen (eine Gleichsetzung, die bei Schmitz48 häufig vorkommt). „Wenn man aber von quasi objektiven Gefühlen spricht, so ist deutlich, dass sie von dem unterschieden sind, was man empfindet.“49 Es kann so etwas geben wie eine quasi objektive Melancholie, die in der Luft liegt, die verschiedene Menschen spüren und sich darüber verständigen können, der ich mich aber auch verschließen kann, der ich entfliehen kann. Diese Erfahrungen sind nun im Folgenden begrifflich zu schärfen.

45 Ebd., 47. 46 Ströker, Elisabeth, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a. M. 1965, 22 – 54. 47 Böhme, Aisthetik, 47. 48 Vgl. Schmitz, Hermann, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2015; ders., Atmosphären, Freiburg i. Br./München 2014, 30 –  49 (Kap. „Gefühle als Atmosphären“). Eine philosophische Auseinandersetzung mit dieser Problematik auf breiter Ebene findet sich neuerdings in Andermann, Kerstin/Eberlin, Christine, Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 29), Berlin 2011. 49 Böhme, Aisthetik, 49.

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2. Ein philosophischer Begriff von Atmosphäre – Zugang über die Produktionsästhetik Einen Begriff der Atmosphäre zu bilden, ist wegen ihres teilweise subjektiven Charakters schwierig, wegen ihres teilweise objektiven Charakters aber dennoch möglich. Der objektive Charakter der Atmosphäre erschließt sich nach Böhme vor allem in der Praxis ihrer Erzeugung in „ästhetischer Arbeit“. Damit ist – wie oben schon angesprochen – jede Tätigkeit gemeint, „die Dinge, Räume, Arrangements gestaltet in Hinblick auf die affektive Betroffenheit, die ein Betrachter, Empfänger, Konsument usw. dadurch erfahren soll“50, z.B. Design, Werbung, Rhetorik und (Innen-)Architektur. Vor allem die Bühnenbildnerei kann einen rationalen Zugang zu Atmosphären ermöglichen. Wenn Atmosphären bloß subjektiv wären, könnte es die Bühnenbildnerei gar nicht geben: Sie funktioniert nur, wenn und weil es möglich ist, gezielt eine Atmosphäre zu schaffen, die von einer größeren Anzahl von Personen auf annähernd gleiche Weise empfunden wird. „Das Bühnenbild soll […] die Zuschauer in das Theaterstück einstimmen und den Schauspielern den Resonanzboden für ihre Darstellungen geben. Die Kunst des Bühnenbildes zeigt uns also von der Praxis her: Atmosphären sind etwas Quasi-Objektives.“51 Diese Quasi-Objektivität wird auch dadurch erkennbar, „dass Atmosphären überraschend und ggf. im Kontrast zur eigenen Stimmung erfahren werden können.“52 Hier geht es um die oben schon angesprochene Erfahrung von Diskrepanz! Gefühle sind, wie Hermann Schmitz sagt, nicht nur in der Seele „als deren Zustände von Lust und Unlust, eventuell mit meinender oder auch aktivierender Ausrichtung auf einen Gegenstand“, sondern wir werden von Gefühlen ergriffen, die ihren Ursprung nicht in uns selbst haben. Wenn wir „bang werden in […] Gewitterstimmung, bedrückt in drückender Stille […], feierlich ernst in einer weiten, öden aber mächtigen Landschaft [...]. Dann begegnen uns Gefühle als Atmosphären, die leiblich spürbar 50 Ebd., 52 –  53. 51 Böhme, Gernot, Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphären, in: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 7., erw. u. überarb. Aufl., Berlin 2013, 101–111, hier 104. 52 Ebd.

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ergreifen“, und zwar nicht nur „den Einzelnen, sondern ebenso gemeinsam in kollektiver Ergriffenheit.“53 Böhme bringt als weiteres Beispiel, „dass ich mit heiterer Stimmung in eine Trauergemeinschaft gerate: deren Atmosphäre kann mich bis zu Tränen umstimmen. Auch dafür ist das Bühnenbild ein praktischer Beweis.“54 Der Wechsel von der Perspektive der Wahrnehmenden zu jener der Produzierenden macht es also möglich, das Wesen der Atmosphäre von der Komplementarität beider Perspektiven her zu verstehen: Sie sind „weder Zustände des Subjektes noch Eigenschaften des Objektes“, werden aber durch die Wahrnehmung des Subjektes und das Zusammenspiel der Eigenschaften des Objektes konstituiert und können weder ohne das eine noch ohne das andere existieren. „Das heißt also, Atmosphären sind etwas zwischen Subjekt und Objekt. Sie sind nicht etwas Relationales, sondern die Relation selbst.“55 Die klassische Substanzmetaphysik hat Probleme, die Relation selbst als „ein selbständig Seiendes“ zu begreifen, das „zumindest eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Relaten hat.“ Am Beispiel des Unterrichts, den Aristoteles „als gemeinsame Wirklichkeit […] von Lehrer und Schülern“ verstand, lässt sich diese Unabhängigkeit der Relation von den Relaten erläutern: „man kann als Individuum in eine Unterrichtssituation eintreten und sie verlassen […], während der Unterricht weiterbesteht.“ Von dieser Betrachtung her kann dem Zwischenphänomen eine selbständige Seinsweise zugeschrieben werden. Bei Aristoteles gibt es noch ein Trägermedium für die gemeinsame Wirklichkeit von Subjekt und Objekt oder Wahrnehmenden und Wahrgenommenem, z.B. die Luft. Die gemeinsame Wirklichkeit selbst ist dann „ein Anregungszustand des Mediums, dessen energeia. Für den Fall des Sehens ist es die Helle: In der Helle sehen wir die Dinge.“56

53 Schmitz, Hermann, Vorwort, in: Institut für immersive Medien (Hg.), Jahrbuch immersiver Medien 2013. Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung, Marburg 2013, 7–  8, hier 7. 54 Böhme, Bühnenbild, 104. 55 Böhme, Aisthetik, 54. 56 Ebd, 55.

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Die Atmosphäre ist also „ein Analogon zu dem, was bei Aristoteles das Medium bzw. dessen Anregungszustand ist.“ 57 Sie ist „die erste Wahrnehmungswirklichkeit, aus der […] Subjekt und Objekt dann erst ausdifferenziert werden. […] Subjekt und Objekt […] sind […] gar nicht wirklich im Sinne der Wahrnehmungswirklichkeit, sondern nur denkbar. […] Das Wirkliche ist für die Ästhetik primär das Gegenwärtige, die spürbare Anwesenheit. Es empfiehlt sich deshalb, Wirklichkeit und Realität als zwei verschiedene Seinsweisen zu unterscheiden.“58

Mit der Rede von Seinsweisen bezieht sich Böhme auf Brentano und Heidegger im Gegensatz zur klassischen Substanzmetaphysik, die davon ausging, „dass typische Unterscheidungen von Seiendem sich nur bezüglich der Essenz ausmachen lassen und das Existieren für alles Seiende dasselbe sei.“ Inzwischen hat sich „die Ansicht durchgesetzt, dass das Wie des Existierens für verschiedene Arten des Seienden charakteristisch unterschieden sein kann.“59 So kann im Deutschen das Wort „Bild“ einerseits einen konkreten, fassbaren Gegenstand (bemalte Leinwand mit oder ohne Rahmen) bezeichnen. Dies ist ein Ding (res) und seine Seinsweise die Realität. Andererseits kann „Bild“ aber auch das meinen, was auf die Leinwand gemalt ist (z.B. in Mozarts Zauberflöte das Antlitz der Pamina, in das sich Tamino sofort verliebt). Das Bild in diesem Sinne hat nach Böhmes Terminologie die Seinsweise der Wirklichkeit, weil es auf die wahrnehmenden Personen eine Wirkung ausüben kann.60 „Wirklich ist in diesem Sinne nur das in aktueller Wahrnehmung gegebene, real, was dinglich dahinterstehen mag. Die Atmosphären sind deshalb für die Ästhetik die erste 57 Ebd. 58 Ebd., 56. 59 Böhme, Gernot, Wirklichkeiten. Über die Hybridisierung von Räumen und die Erfahrung von Immersion, in: Institut für immersive Medien (Hg.), Jahrbuch immersiver Medien 2013. Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung, Marburg 2013, 17– 22, hier 18. 60 Vgl. ebd. Die französische Sprache unterscheidet zwischen tableau und image. Böhme weist darauf hin, dass das Bild im Sinne von image eine gewisse Unabhängigkeit von seinem materiellen Träger hat, vor allem im „Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“. Für die Wirkung der images ist der materielle Träger jedoch sehr wohl von Bedeutung!

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und die entscheidende Wirklichkeit. Sie sind die spürbare Ko-Präsenz von Subjekt und Objekt, ihre aktuelle Einheit, aus der sich ihr unterschiedenes Sein erst durch Analyse gewinnen läßt.“61

V. φανταστικὴ τέχνη: Kann man Atmosphären tatsächlich erzeugen?

Hermann Schmitz weist darauf hin, dass Atmosphären „im Gestalten über Jahrtausende hinweg lebendig wirksam geblieben“ sind: „Die christliche Kirche baut mit ihrer Architektonik, der Ausschmückung ihres Innenraums und der Lichtführung mächtige Atmosphären erhabener Feierlichkeit auf, die im Ritus leiblich ausagiert werden. […] Die Gartengestaltung spätestens seit dem 18. Jahrhundert (englischer Garten) verlegt sich auf die Kultur der Gefühle als Atmosphären im umfriedeten Raum. Ganz neue Möglichkeiten eröffnen […] die modernen technischen Medien mit Hilfe des Computers.“62

Da Atmosphären aber keine Dinge sind, sondern vielmehr „ein schwebendes Zwischen, zwischen den Dingen und den wahrnehmenden Subjekten“, können sie auch nicht in gleicher Weise erzeugt werden wie Dinge aus anderen Dingen (z. B. ein Tisch aus Holz). Was die Kunst der Erzeugung von Atmosphären kann (sei es nun die Bühnenbildnerei, die Architektur oder die Gestaltung von Feiern und Events) ist „das Setzen der Bedingungen, unter denen die Atmosphäre erscheint.“63 Dies erläutert Böhme anhand von Platon und seiner Theorie der Mimesis.64 Platon fasst jede Art von Kunstschaffen als Nachahmung bzw. Nachbildung der realen Gegenstände auf, die ihrerseits wiederum Abbilder der Urbilder/Ideen sind. In einer 61 Böhme, Aisthetik, 57. 62 Schmitz, Vorwort, 8. 63 Böhme, Bühnenbild, 105. Vgl. insgesamt auch ders., Architektur und Atmosphäre, Paderborn/München 2006. 64 Siehe dazu auch Böhme, Gernot, Das Bild und sein Medium, in: Lischka, Gerhard Johann/Weibel, Peter, Die Medien der Kunst – die Kunst der Medien, Wabern b. Bern 2004, 40 – 65, hier besonders Abschnitt 3 „Was sagt Platons Theorie des Bildes zu diesen Fragen?“ (46 – 54).

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Art Stufenmodell der Wirklichkeit wird dabei nur den Ideen im eigentlichen Sinne Sein zugesprochen. Die erscheinenden Gegenstände haben demgegenüber schon an Vollkommenheit verloren, und die vom Künstler geschaffenen Abbilder der Abbilder sind nur noch Trug und Täuschung. Um die trügerische Kunst der Sophisten zu entlarven, führt Platon im Dialog Sophistes eine Zweiteilung der darstellenden Künste ein in e∆¬kastikæ técnh (eikastike techne) und fantastikæ técnh (phantastike techne). Die erstere ahmt das Vorbild getreulich nach, die letztere weicht davon ab und orientiert sich bei ihrer Darstellung an den BetrachterInnen. Dies wird von Platon negativ bewertet, auch wenn die Darstellungen „beim Betrachter einen adäquaten Eindruck vom Original vermitteln sollen […]. Platon bezieht sich hier auf die Praxis griechischer Bildhauer […], bei der beispielsweise die Köpfe von sehr grossen Statuen zu gross gemacht wurden, um sie für einen Betrachter richtig erscheinen zu lassen.“65 Entscheidend ist hier, dass die Kunstschaffenden gar kein Interesse daran haben, ein gegebenes Seiendes möglichst exakt abzubilden. Ihre Kunst „bezieht sich auf das Vorstellungsvermögen des Subjektes, bzw. auf seine Einbildungskraft, seine imaginatio.“66 Noch deutlicher wird das Herstellen von Atmosphären in der Kunst des Bühnenbildes (skhnografía) die sich „bereits im 4. Jahrhundert vor Christus bei den Griechen entwickelte. […] Aristoteles schreibt sie in seiner Poetik dem Tragödiendichter Sophokles zu.“ Schon in dieser Zeit gab es eine Kunst, die „explizit in ihrem konkreten Tun auf die Erzeugung von Vorstellungen bei den Subjekten, hier bei den Zuschauern gerichtet [war].“67 Es geht nicht darum, Dingen eine bestimmte Form zu geben, sondern die Bedingungen zu schaffen, unter denen eine bestimmte Atmosphäre entstehen kann. Dies gelingt freilich nicht ohne den Subjekt-Pol, die Teilnahme bzw. Mitwirkung des Publikums ist für die Atmosphäre unverzichtbar. Das Theater kann in besonderer Weise als ein atmosphärisches ‚Gesamtkunstwerk‘ verstanden werden, denn es lebt ganz wesentlich vom Zusammenwirken unterschiedlicher Richtungen 65 Ebd., 49. 66 Böhme, Bühnenbild, 105 –106. 67 Ebd., 106.

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von Kunst und Kunsthandwerk. In einer Aufführung steckt nicht nur die Arbeit von AutorIn, Regie, SchauspielerInnen, MusikerInnen und TänzerInnen, sondern auch die Arbeit an Kulissen, Masken und Kostümen, Beleuchtungs- und Geräuscheffekten. Die ZuschauerInnen werden mit allen Sinnen angesprochen – und alle LiebhaberInnen des Theaters werden bestätigen, dass es einen wesentlichen Unterschied macht, ob man ein Stück ‚leiblich anwesend‘ in einem Theatersaal erlebt oder nur eine Verfilmung davon gesehen hat. VI. Schluss

Wenn es Gernot Böhme darum geht – und dieser Intention schließen wir uns an – die Ästhetik unter Berufung auf den aisthesis-Begriff auf neue alte Füße zu stellen: als „Theorie der Wahrnehmung im unverkürzten Sinne“, als Reflexionsbasis auf Seiten der RezipientInnen und als „allgemeine Theorie ästhetischer Arbeit“68 auf Seiten der ProduzentInnen, in welcher affektive und imaginative Momente eingeschlossen sind – dann spielt darin „Kunst“ (wie sie uns in den Kunstmuseen der Welt, in Städten, Parks, in der Architektur, der Werbung und dem Design usw. dargeboten wird), eine prominente Rolle aufgrund ihres wesentlichen Bezugs zur Wahrnehmung. Kunst als ein besonderes Wahrnehmungsfeld kann – wie es Wolfgang Welsch einmal formulierte – „geradezu als Modell ästhetischen Denkens fungieren.“69 Sie ist auf sinnliche Wahrnehmung angewiesen und eröffnet einen Raum, in dem auf unterschiedliche Weisen der Wahrnehmung reflektiert werden kann. „Die Kunst bietet sich somit als besonderer Prüfstein der Wahrnehmung an, […] oder als paradigmatisches Beispiel und Lehrstück im Zusammenspiel von Wahrnehmung und Erkenntnis.“70 Überlegungen zu ästhetischen Atmosphären haben im geschilderten Kontext zum Ziel, „‚die Bindung an die ästhetische und künstlerische Erfahrung [zu wahren], so daß man in den ästhetischen Argumen-

68 Böhme, Atmosphäre, 25. 69 Welsch, Wolfgang, Ästhetisches Denken, Stuttgart 72010, 68 – 69. 70 Rauh, Feldforschungen, 103.

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tationen die Sachverhalte wiederzuerkennen vermag, auf die sich ihre Argumentation bezieht.‘ Die aisthetische Auseinandersetzung mit dem Ergriffensein durch Gegenstände der Wahrnehmung und insbesondere solchen der Kunst versucht ein Bewusstsein für Erzeugung und Erfahrung von Atmosphären zu bilden. Dies kann und wird auch in anderen Wahrnehmungsfeldern gelingen. Wenn jedoch die Kunst das Kunststück der Vermittlung von Nicht-Aussprechbarem zu leisten vermag, so wäre das eine begrüßenswerte Eigenschaft, die sich positiv auf die Explikation des Begriffs der Atmosphäre auswirken mag, und eine wichtige Hilfestellung im Unterfangen, ein reflektiertes Vokabular zur Verfügung zu stellen, um den Anforderungen begrifflich zu begegnen, die der Umgang mit Atmosphären stellt […].“71

Dabei geht es vor allem um die ökologische Krise und die Probleme, die durch die fortschreitende Ästhetisierung der Lebenswelt entstehen. Diese haben ihre Wurzel in der Entfremdung des Menschen vom eigenen Leib, vor der Böhme so eindringlich warnt. Gerade die Kunst kann einen unschätzbaren Beitrag zur Überwindung dieser Selbstentfremdung leisten, weil sie in vielfältiger Weise ein Bindeglied zwischen Sinn und Sinnlichkeit darstellt.

Literatur Andermann, Kerstin/Eberlin, Christine, Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 29), Berlin 2011 Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. u. komm. v. Franz Dirlmeier (Werke in deutscher Übersetzung, begr. v. Ernst Grumach, hg. v. Hellmut Flashar, Bd. 6), Berlin 101999 Benjamin, Walter, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 1963, 7–  63 Böhme, Gernot, Einführung in die Philosophie. Weltweisheit – Lebensform – Wissenschaft, Frankfurt a. M. ²1997 Böhme, Gernot, Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern vor Stuttgart 1998 Böhme, Gernot, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001 Böhme, Gernot, Das Bild und sein Medium, in: Lischka, Gerhard Johann/Weibel, Peter, Die Medien der Kunst – die Kunst der Medien, Wabern b. Bern 2004, 40– 65

71 Ebd., 104 (Die Passage beginnt mit einem Zitat Wolfhart Henckmanns).

Atmosphäre als ästhetische Kategorie | Florian Uhl ∙ Antonia Krainer Böhme, Gernot, Architektur und Atmosphäre, Paderborn/München 2006 Böhme, Gernot, Ethik leiblicher Existenz. Über unseren moralischen Umgang mit der eigenen Natur, Frankfurt a. M. 2008 Böhme, Gernot, Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik, in: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 7., erw. u. überarb. Aufl., Berlin 2013, 21–  48 Böhme, Gernot, Synästhesien, in: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 7., erw. u. überarb. Aufl., Berlin 2013, 85 – 99 Böhme, Gernot, Die Kunst des Bühnenbildes als Paradigma einer Ästhetik der Atmosphären, in: ders., Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, 7., erw. u. überarb. Aufl., Berlin 2013, 101–111 Böhme, Gernot, Wirklichkeiten. Über die Hybridisierung von Räumen und die Erfahrung von Immersion, in: Institut für immersive Medien (Hg.), Jahrbuch immersiver Medien 2013. Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung, Marburg 2013, 17– 22 Gahlings, Ute, Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen, Freiburg i. Br./München 2006 Merleau-Ponty, Maurice, Die Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Boehm, Berlin 1966 (Originalausgabe Paris 1945) Rauh, Andreas, Die besondere Atmosphäre. Ästhetische Feldforschungen, Bielefeld 2012 Schmitz, Hermann, System der Philosophie, Bd. III/2: Der Gefühlsraum, Bonn 1969 Schmitz, Hermann, System der Philosophie, Bd. III/5: Die Wahrnehmung, Bonn 1978 Schmitz, Hermann, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Freiburg i. Br./München 2009 Schmitz, Hermann, Vorwort, in: Institut für immersive Medien (Hg.), Jahrbuch immersiver Medien 2013. Atmosphären: Gestimmte Räume und sinnliche Wahrnehmung, Marburg 2013, 7–  8 Schmitz, Hermann, Atmosphären, Freiburg i. Br./München 2014 Schmitz, Hermann, Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld 2015 Simner, Julia et al., Synaesthesia: The Prevalence of Atypical Cross-Modal Experiences, in: Perception 35 (2006), 1024  –1033 Ströker, Elisabeth, Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a. M. 1965 Welsch, Wolfgang, Ästhetisches Denken, Stuttgart 72010 Wittgenstein, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung, Frankfurt a. M. 1994

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I. Vorbemerkungen

Musik, so lautet eine geläufige, wenngleich keineswegs problemlose Bestimmung, ist eine Zeitkunst. Dennoch ist „der Begriff der Zeitkunst im Falle der Musik unabweisbar. […] Was immer auch Musik daher sonst noch ist, sie hat es mit der künstlerischen Gestaltung von Zeit zu tun.“1 Sie ist die Kunst, „das Nacheinander ihrer Momente zu ordnen, ist die Kunst, ein Regelsystem für dieses Nacheinander zu erschaffen […].“2 Musik erklingt in der Zeit, hat aber als Gestaltung der Zeit die Zeit auch in sich. „Wenn aber Musik Zeit in sich hat, dann entzieht sie sich der Herrschaft der Zeit. Zeit hat nicht sie, vielmehr hat sie Zeit. Zugleich freilich bricht sie nicht aus der Zeit aus. Sie ist ja selber durch und durch Zeit. […] Zeit wendet sich in ihr selbst um, indem ihr Zugriff auf das Seiende durch die Zeitkunst Musik gelöst wird. Musik ist Freiheit von Zeitherrschaft.“3 „Musik stellt Zeit dar und nicht das Zeitliche bzw. das Zeitliche nur, sofern es im Licht der Zeit erscheint.“4 Insofern Musik imstande ist, die „Beziehung von Zeit und Zeitlichem“ darzustellen, befreit sie von der Herrschaft der Zeit: „Ein Werk stellt Zeit dar, unterliegt ihr nicht einfach. Zeit darzustellen heißt, Freiheit von ihr, von ihrer Herrschaft zu gewinnen, zumindest versuchsweise.“5

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Hindrichs, Gunnar, Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2014, 109. Ebd., 115. Ebd., 146. Klein, Richard, Musikphilosophie zur Einführung, Hamburg 2014, 141. Ebd., 116.

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Es liegt auf der Hand, dass solche Bestimmungen nicht der erklingenden Musik, sondern einer Erfahrung mit ihr, genauer: einer Reflexion auf diese Erfahrung entstammen. Die erklingende Musik selbst liefert uns ja weder einen Begriff von Kunst noch einen von Zeit und stiftet auch nicht unser Verhältnis zur Zeit. Wenn uns, wie es heißt, die Musik von der Herrschaft der Zeit befreit und den Zugriff der Zeit auf das Seiende löst, dann fragt es sich zuallererst, woher dieses Zeitverständnis stammt und mit welchem Recht es diesen Bestimmungen zugrunde gelegt wird. Niemand will von etwas Positivem, sondern nur von etwas als negativ Erfahrenem (z. B. Krankheit, Gewalt, Zwang) befreit werden. Die genannten Bestimmungen setzen demnach voraus, dass unser ‚außermusikalisches‘ Dasein einer unfrei machenden Zeitherrschaft unterworfen ist. Sind wir bereits als zeitliche Wesen unfrei? Heißt ‚zu sein‘ so viel wie ‚von der Zeit unterdrückt sein‘ (‚Zugriff auf das Seiende‘)? Diese Fragen müssen geklärt sein, bevor das Verhältnis von musikalisch künstlerischer Zeitgestaltung und Zeit, in der die Musik erklingt, bestimmt wird.6 Diese Fragen lassen sich ersichtlicherweise nicht einfach mit Berufung auf die musikalische Erfahrung beantworten. Denn bei ihnen geht es um die Herkunft der operativen Begriffe, das heißt um die Herkunft der Interpretamente dieser Erfahrung. Aus demselben Grund genügt auch nicht der Rückgriff auf musikwissenschaftliche Expertise, so unverzichtbar diese in anderer Hinsicht ist. Nicht die Expertise steht zur Debatte, sondern die Voraussetzungen, auf denen sie basiert. Denn auch der Musikwissenschaftler, der z. B. ein Werk im Hinblick auf seine Zeitgestaltung analysiert, operiert mit einem Zeitbegriff, der nicht der Analyse selbst entstammt, weil er diese bereits leitet. Ähnliches gilt auch für den Hinweis auf den geschichtlichen Wandel des Musikverständnisses. Denn dessen begriffliche Aufarbeitung steht ebenfalls vor der Rückfrage nach den bereits mitgebrachten operativen Begriffen. Ebensowenig muss betont werden, dass die Frage nach der Herkunft des leitenden Zeitvorverständnisses nicht mit der musikästhetischen Frage zu

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In den folgenden Überlegungen geht es bloß um die Exposition dieser – von der Musik aus gesehen – Vorfrage und nicht schon um die Entfaltung musikästhetischer Zeitkategorien.

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verwechseln ist, in welcher Epoche der abendländischen Musik für die Komponisten das Zeitproblem virulent geworden ist. Und schließlich hilft auch der Verweis auf die sogenannte Künstlerästhetik nicht weiter. Denn auch ein Komponist, der sich über die Zeitgestaltung seiner Kompositionen äußert, steht nolens volens vor der unabweisbaren Frage, wie sich seine Aussagen über die Zeit zu seinem eigenen Zeitbezug verhalten, in dem er als leibhaftiger Mensch unweigerlich steht. Freilich: eines ist es, als Mensch immer schon im Zeitbezug zu stehen, ein anderes, über ihn nachzudenken. Aber das ist eine Situation, die den Laien und Experten in Sachen Musik gemeinsam ist. Die Frage nach der Herkunft und sachlichen Angemessenheit des die musikwissenschaftliche Arbeit leitenden Zeitbegriffs ist keine musikwissenschaftliche Frage, sondern eine philosophische Frage, also eine solche, die den Musikwissenschaftler als Mensch angeht. Philosophische Fragen entspringen charakteristischen Erfahrungen. Dazu zwei Beispiele. Das eine stammt von Hofmannsthal, das andere von Augustinus. Im Rosenkavalier macht die Feldmarschallin Fürstin Werdenberg eine außergewöhnliche Erfahrung mit der Zeit: „Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen mir und dir da fließt sie wieder. Lautlos, wie eine Sanduhr.“7 Die Zeit – ein sonderbar Ding: zunächst rein gar nichts, und dann nichts als sie. Und von Augustinus stammt die klassische Formulierung des Zeitproblems. „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“ („Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.“)8 Die Zeit ist uns zwar uranfänglich bekannt, aber deshalb nicht schon von uns erkannt. Gegen das erste Beispiel lässt sich sofort der (für das Zeitalter der Wissenschaft typische) Einwand erheben, dergleichen sei ein poetischer Ausdruck eines bloß subjektiven Zeitgefühls, das 7 8

Hugo von Hofmannsthal (Libretto)/Richard Strauss (Musik), Der Rosenkavalier, Erster Akt. Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch, eingel., übers. u. erl. v. Joseph Bernhart, München 31966, 626 – 629; XI, 14.

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bei jedem anders ausfällt, gewissermaßen die subjektive Reaktion auf ein objektives Faktum. Die wirkliche Zeit sei nicht die subjektiv erlebte, sondern die subjektunabhängige, objektive, die physikalisch messbare Zeit. Analoges gelte von anderen Redeweisen: So z. B. wenn wir klagen, dass die Zeit wie im Flug vergeht, zuweilen aber nicht und nicht vergehen will. – Besteht der Einwand nicht zu Recht? Dass die Zeit nicht und nicht vergehen will, scheint doch bloß der Ausdruck eines subjektiven Gefühls zu sein, das den Zeitlauf überhaupt nicht tangiert. Was an der Zeit lang oder kurz ist, das sagt uns doch nicht ein vages Gefühl, sondern die Uhr. Was dem einen ‚elend lang‘ vorgekommen ist, ist für jemand anderen ‚wie im Flug‘ vergangen – aber objektiv gesehen, also ‚in Wahrheit‘ handelte es sich in beiden Fällen um eine Zeitspanne von 5 Minuten. Das zweite Beispiel hingegen ist solch einem Einwand gegenüber resistent. Es schildert nämlich genau jene Situation, in der auch derjenige steht, der den Einwand erhebt. Damit ich nämlich Zeit in subjektive und objektive unterscheiden kann, muss mir Zeit bereits erschlossen sein. Nicht die Unterscheidung ist das Erste, sondern das uranfängliche Vertrautsein mit der Zeit, das vor-fragliche Wissen um sie („si nemo ex me quaerat, scio“). Dieses ermöglicht jene – nicht umgekehrt. Ob aber die Zeit, um die wir vor allem Erklärenwollen auf eine seltsame Weise schon wissen, und die in allem Erklären als dessen Ermöglichung mitgewusst wird, die subjektive oder die objektive Zeit oder keine von beiden ist – das ist die Frage. Wer nimmt die Unterscheidung, die ja selbst ein zeitlicher Vollzug ist, vor? Welcher Zeit gehört die Unterscheidung an? In einer solchen Situation empfiehlt es sich, dem Rat Wittgensteins zu folgen, der mit Bezug auf die von Augustinus formulierte Schwierigkeit gemeint hat: „Das, was man weiß, wenn uns niemand fragt, aber nicht mehr weiß, wenn wir es erklären sollen, ist etwas, worauf man sich besinnen muß. (Und offenbar etwas, worauf man sich aus irgendeinem Grunde schwer besinnt.)“9 Einer Besinnung auf die Zeit muss es in erster Linie um den rechten Zugang gehen. ‚Zugang‘ meint nicht das Bahnen eines 9

Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914 –1916. Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe Bd. 1), Frankfurt a. M. 1984, 225 – 580, hier 291 (n. 89).

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Weges zu etwas weit Abliegendem – im Gegenteil: Die Zeit ist uns so nahe, dass sie für gewöhnlich ständig zugunsten von etwas anderem – dem, was in ihr ist, dem Innerzeitlichen – übergangen wird. Demnach kommt es darauf an, sich auf die ursprüngliche Zeiterfahrung einzulassen, d. h. denjenigen Zeitbezug begrifflich auszulegen, in welchem sich die Zeit als Zeit bemerkbar macht. Solch eine Hermeneutik ursprünglicher Zeiterfahrung steht freilich vor der Schwierigkeit, von etwas reden zu müssen, was nie direkt gegeben ist. Wir verhalten uns zwar ständig zur Zeit – wir nehmen uns für den nächsten Tag dieses und jenes vor, erinnern uns nur ungern an peinliche Situationen der Vergangenheit, sind jetzt mit einem wichtigen Anliegen beschäftigt –, aber in all unseren Vollzügen wird Zeit immer nur mit-erfahren. Für gewöhnlich verbleibt die mit-erfahrene Zeit im unthematischen Hintergrund, weil das Innerzeitliche im thematischen Vordergrund steht. Die Chance einer ursprünglichen Zeiterfahrung wäre demnach dort gegeben, wo die Zeit ausdrücklich mit-erfahren wird, oder umgekehrt, wo infolge der ausdrücklichen Mit-Erschlossenheit von Zeit etwas Innerzeitliches auf außergewöhnliche Weise erfahrbar wird. Aus den oben genannten Gründen wird eine Besinnung auf die Zeit nicht mit gängigen Unterscheidungen anfangen können. Die gängigen Unterscheidungen, vor allem diejenige von ‚objektiver Zeit‘ und ‚subjektiven Zeiterlebnissen‘, sind vorerst zu suspendieren. Und das nicht deshalb, weil sie grundlos wären, sondern weil sie fragwürdig bleiben. Dazu nur ein kleiner Hinweis. Als objektive Zeit gilt die physikalisch messbare Zeit, die gleichförmige Jetzt-Folge. Nun ist ‚objektiv‘ der Gegenbegriff zu ‚subjektiv‘. Ein Objekt gibt es nur dort, wo der Mensch sich als Subjekt (subiectum, das Zugrundeliegende) versteht. Begreift sich der Mensch als Subjekt (was keineswegs selbstverständlich ist), dann entscheidet ein von ihm aufgestelltes Wissensideal darüber, wie und als was die Dinge sich zeigen können, und was als ihr wahres Sein anzusprechen ist. Was im Sinne des zugrundegelegten Wissensbegriffs wissbar ist, gilt als das Objektive, als das im eigentlichen Sinn Seiende. Alles andere gibt es zwar auch, aber es gilt nur als das Subjektive, als das im uneigentlichen Sinn Seiende. Nicht die lebensweltliche Gegebenheit der Dinge bildet den maßgeblichen Anfang des Fragens,

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sondern eine im Zeichen eines Herrschaftsanspruchs stehende Abstraktion von ihr.10 Es herrscht der Vorrang der Methode: Das sachlich Erste, die menschliche Lebenswelt, wird zum Nachrangigen, und das sachlich Zweite, die bewusste Abstraktion von ihr, zur maßgeblichen Sicht. Nietzsches Wort gilt nach wie vor: „Nicht der Sieg der Wissenschaft ist das, was unser 19. Jahrhundert auszeichnet, sondern der Sieg der wissenschaftlichen Methode über die Wissenschaft.“11 Wie vor allem Heidegger gezeigt hat, ist die ‚objektive‘ Zeit keineswegs die ‚wahre‘ Zeit, sondern die unter der Perspektive des Methodenvorrangs erscheinende Zeit, d. h. eine abgeleitete Zeit. Die Zeitmessung, d. h. die rechnerische Zeitangabe, gründet in der vorkalendarischen Zeitangabe und diese in der Zeithabe. Der chronometrische Zeitbegriff entstammt keineswegs der ursprünglichen Zeiterfahrung. Man muss Zeit haben und sich Zeit nehmen, um eine Zeitangabe vornehmen und Zeitmessgeräte konstruieren zu können. Demnach führt der Weg zur ursprünglichen Zeiterfahrung über die Frage, was es heißt, Zeit zu haben. Zeit aber haben wir, weil uns Zeit zu eigen gegeben ist. II. Der chronometrische Zeitbegriff

1. Die rechnerische Zeitangabe und das sie leitende Vorverständnis von Zeit Die Uhr gebrauchend fragen wir, wie spät es ist. Im Falle die Uhr Zeiger besitzt, stellen wir fest, über welcher Markierung des Ziffernblattes sich die Zeiger befinden. Wir blicken auf eine bestimmte Raumstelle, an der sich etwas Bewegtes gerade befindet. Eine Ortsangabe ist aber noch keine Zeitangabe. Ähnliches gilt von einer Digitaluhr: Ein durch einen Doppelpunkt voneinander getrenntes Ziffernpaar ist für sich genommen noch

10 Descartes hat das in der zweiten seiner Regulae ad directionem ingenii klar zum Ausdruck gebracht, deren Titel lautet: „Circa illa tantum objecta oportet versari, ad quorum certam et indubitatam cognitionem nostra ingenia videntur sufficere.“ („Nur mit solchen Gegenständen darf man umgehen, zu deren zuverlässiger und unzweifelhafter Erkenntnis unsere Erkenntniskraft offenbar ausreicht.“) Descartes, René, Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Lateinisch – Deutsch, krit. rev., übers. u. hg. v. Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe u. Hans Günter Zekl (Philosophische Bibliothek 262a), Hamburg 1973, 6 –13. 11 Nietzsche, Friedrich, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 3, hg. v. Karl Schlechta, 5., durchges. Aufl., Darmstadt/München 1966, 417 – 925, hier 814.

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keine Zeitangabe. Damit eine Ziffernangabe zu einer Zeitangabe werden kann, ist ein Zeitverständnis schon vorausgesetzt. Anderenfalls kommt das Gebrauchsding namens ‚Uhr‘, das ja selbst ein in der Zeit verharrendes Raumding ist, gar nicht als Zeitmessungsgerät, d. h. nicht als Uhr in den Blick. Wir besitzen nicht deshalb ein Zeitverständnis, weil wir Uhren gebrauchen und die Zeit messen können, sondern umgekehrt. Wir können nur deshalb Zeitmessgeräte erfinden und gebrauchen, weil wir vor aller Zeitmessung bereits in einem verstehenden Bezug zur Zeit stehen. Auf die Frage, wie spät es ist, lautet z. B. die Antwort: ‚15 (Minuten) vor 7‘ oder ‚8 (Minuten) nach 11‘. Mit solchen Antworten wird angegeben, wieviel Zeit seit einem bestimmten Zeitpunkt (in diesem Beispiel: Mitternacht, 0 Uhr) vergangen ist. Weil in den meisten Fällen diesbezügliche Klarheit besteht, werden Tag, Monat und Jahr nicht eigens angegeben (heute, am soundsovielten Tag des Monats AB, des soundsovielten Jahres seit XY – ist es so und so spät). Die Zählung der Jahre rekurriert auf einen Referenzpunkt, an dem ein geschichtlich bedeutsames Ereignis stattgefunden hat – z. B. die Gründung Roms, Christi Geburt, die Hedschra. Wie unschwer zu sehen ist, kommt bei der rechnerischen Zeitangabe nicht schon die Zeit als Zeit zur Sprache, vielmehr wird eine Anzahl von Einheiten, das Wievielmal einer Zeiteinheit angegeben. Die zugrundegelegte Zeiteinheit ist die Dauer einer periodisch wiederkehrenden Bewegung im Sinne der Ortsveränderung eines Körpers. Gezählt wird die Anzahl dieser in der Zeit erfolgten Bewegungen, d. h. der durchlaufenen Raumabschnitte. Im Falle der kalendarischen Zeitangabe werden Gestirnbewegungen gezählt (Jahreskreis der Sonne, Aufgang und Untergang der Sonne oder des Mondes). Im Grunde ist die Festlegung der Zeiteinheit eine Sache der Konvention, sie variiert je nach der intendierten Exaktheit der Zeitmessung. (Bei der Atomuhr ist das Zeitmaß die Zahl der Schwingungen in der Elektronenhülle des Cäsiumatoms.) Wie kommt die Zeit in den Blick, wenn sie gemessen wird? Wir sagen: ‚Es ist 5 (Minuten) vor 7‘; ‚Es ist (jetzt) 7‘; ‚Es ist 9 nach 7‘. Als Referenzpunkt fungiert ein Jetzt. Vor ihm liegt ein Nochnicht-Jetzt, nach ihm liegt ein Nicht-mehr-Jetzt. Das chronome-

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trische Zeitverständnis orientiert sich an einem punktuellen, ausdehnungslosen Jetzt und stellt die Zeit als Jetzt-Folge, als Nacheinander von Jetzt-Punkten vor. Die Gegenwart ist das Jetzt, die Zukunft ist das Noch-nicht-Jetzt, die Vergangenheit das Nicht-mehr-Jetzt. Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit sind nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. Die Zeit im Sinne des Nacheinander einer Jetzt-Folge ist die eindimensionale, als endlose gerade Linie vorgestellte Zeit, auf der zwecks Koordinierung von Vorhaben oder Ereignissen Markierungen eingetragen werden.12 Die chronometrische Zeit fungiert als formaler Rahmen, in den unterschiedslos alles gleicherweise eingeordnet werden kann – gleicherweise, weil von der Seinsweise und dem Zeitbezug sowohl des eingeordneten Seienden als auch des die Einordnung vornehmenden Menschen abstrahiert worden ist. Diese Abstraktion bildet die Voraussetzung für die zahlenmäßige Einordnung. Das Zählen von Zeiteinheiten ist nur so möglich: Zehn bleibt Zehn – ob es sich um Personen, Gebrauchsgegenstände, Steine oder Gedankenentwürfe handelt. Die chronometrische Zeit wird deshalb auch als die leere Zeit bezeichnet.13 Einem messenden Verhalten zeigt sich die Zeit nicht nur als leere Jetzt-Folge, sondern auch als eine nicht zu haltende Größe. Im Versuch, das Jetzt zu fixieren und abzugrenzen, ist das anvisierte Jetzt schon in ein Nicht-mehr-Jetzt übergegangen und an seine Stelle ein anderes getreten. Kaum ist aus einem Nochnicht ein Jetzt geworden, ist dieses schon nicht mehr. Das Jetzt geht ständig in ein Nicht-mehr-Jetzt über. Je stärker der Wille zur Exaktheit, desto schneller der Übergang, je packender der messende Zugriff auf die Zeit, desto ungreifbarer wird sie. Es ist zwar immer jetzt, aber jedesmal ein anderes Jetzt. Von daher stammt die Rede vom Zeitfluss und vom Vergehen der Zeit. Die Zeit ist, indem sie vergeht. Diesem Vergehen entspricht jedoch kein Entstehen. Was entsteht, entsteht in der Zeit und vergeht 12 Von der so vorgestellten Zeit sagt Kant: „Sie hat nur eine Dimension […].“ Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1 (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 3), Frankfurt a. M. 1975, 78 – 79; A 31, B 47. 13 „Die zu messende Zeit ist immer schon, gegenüber allem, was ‚in ihr‘ ist, als ‚leere‘ Zeit gedacht und die Erfahrung der leeren Zeit ist jedenfalls nicht eine ursprüngliche Erfahrung, sondern motiviert ihrerseits die Frage, welche Erfahrungsbedingungen es sind, die uns die Zeit als leere Zeit, die wir ausfüllen, sichtbar werden läßt.“ Gadamer, Hans-Georg, Über leere und erfüllte Zeit, in: ders., Neuere Philosophie, Bd. 2: Probleme, Gestalten (Gesammelte Werke Bd. 4), Tübingen 1987, 137 –153, hier 139.

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in ihr. Der Unterschied von Entstehen und Vergehen betrifft das Innerzeitliche, nicht die Zeit selbst, in der etwas entsteht und wieder vergeht. Die vom punktuellen Jetzt her vorgestellte Zeit ist die schwindende Zeit, die zu verschwinden nicht aufhört. Und weil sie nicht aufhört zu verschwinden, aber auch keinen Beginn aufweist, so schließt sie sich zum Kreis zusammen. Die lineare Zeit ist nicht geradlinig, sondern kreisförmig: ewige Wiederkehr des Gleichen. Abgesehen von der mit der Zeitmessung verbundenen linearen Vorstellung von Zeit: nicht sie, sondern ein Vorgang in ihr, etwas Innerzeitliches, wird gemessen. Bei der Zeitmessung beschäftigen wir uns zwar mit der Zeit, aber jedesmal im Hinblick auf ein Wieviel an Zeit. Es ist die so verstandene Zeit, die Aristoteles im Auge hat, wenn er sagt: „Dies ist die Zeit: das Gezählte an einer Bewegung im Hinblick auf das Vorher und Nachher.“14 Nach Heidegger ist „[d]iese Zeitbestimmung von einem bewegten Ding her […] für das ganze Abendland maßgebend geworden, wie die Bestimmung des Raumes vom Körper aus. Auch die Zeit also wird immer nur bestimmt von dem sich in ihr Bewegenden her, nicht aber als die Zeit als solche.“15 2. Die Fundierung der rechnerischen in der vorkalendarischen Zeitangabe Heidegger hat auch daran erinnert, dass die rechnerische Zeitangabe in einer nicht-rechnerischen, vorkalendarischen Zeitangabe gründet, und das vorkalendarische Verhalten zur Zeit demnach das ursprünglichere gegenüber dem Feststellen eines Wieviel an Zeiteinheiten mit Hilfe der Uhr ist. Die Frage, wann etwas stattfindet, stattfinden wird oder stattgefunden hat, kann ja auch auf nicht-rechnerische Weise mit ‚heute‘, ‚morgen‘, ‚gestern‘ oder mit ‚damals, als‘, ‚dann, wenn‘, ‚eben gleich‘ beantwortet werden. Was ‚jetzt‘, ‚sogleich‘, ‚soeben‘, was ‚heute‘, ‚gestern‘, ‚morgen‘ besagt, das ist uns auch ohne rechnerische Zeitangabe erschlossen, nicht aber umgekehrt. Die Möglichkeit

14 Aristoteles, Physik IV, 11, 219b 1, hier in Heideggers Übersetzung: Heidegger, Martin, Zollikoner Seminare. Protokolle, Gespräche, Briefe, hg. v. Medard Boss, Frankfurt a. M. 1987, 43. 15 Ebd.

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einer Zeitmessung gründet in der vorkalendarischen Bezugnahme auf das Heute, Gestern, Morgen. Dieses Fundierungsverhältnis ist daran erkennbar, dass ja die Frage, wie spät es ist, streng gedacht lautet: Wie spät ist es jetzt? Mit diesem Jetzt wird zwar auch eine Zeit angegeben, aber eine solche, die sich einer rechnerischen Zeitangabe entzieht, weil sie diese ermöglicht. Das vorkalendarische Jetzt lässt sich nicht mehr chronometrisch bestimmen, wie die Unsinnigkeit eines diesbezüglichen Versuchs zeigt. ‚Jetzt ist es 9 Uhr‘ – würden wir rechnerisch darauf Bezug nehmen, müssten wir sagen: ‚Um 9 Uhr ist es 9 Uhr‘. Wir können zwar angeben, wie spät es ist (z. B. 9 Uhr), aber weder sinnvollerweise fragen, wie spät es um 9 Uhr ist, noch wie lange es 9 Uhr ist. Der Unsinn ist allerdings nicht die Folge mangelnder physikalischer Exaktheit. Er lässt sich auch nicht mit dem Einsatz einer Atomuhr beheben, weil die chronometrische Bestimmung von unhaltbaren Prämissen ausgeht. Sie verwechselt Kontinuität mit Synthese und setzt heimlich voraus, die Zeit setze sich aus diskreten, kleinsten Einheiten (‚Zeitatomen‘) zusammen. Aber auch eine unsinnige Zeitbestimmung entkommt nicht dem Jetzt. ‚Jetzt – um 9 Uhr, da es 9 Uhr ist.‘ ‚Jetzt‘ besagt ‚gegenwärtig‘. Auf dieses Jetzt (= gegenwärtig) wird notwendigerweise – ob thematisch oder unthematisch – Bezug genommen. Es gibt keinen Uhrgebrauch ohne diesen (ausgesprochenen oder unausgesprochenen) Jetzt-Bezug. Wohl aber gibt es diesen Jetzt-Bezug ohne Uhrgebrauch.16 Bei der vorkalendarischen Zeitangabe greifen wir keineswegs aus einer Jetzt-Folge einen Jetzt-Punkt heraus, auf den wir uns identifizierend beziehen, sondern wir beziehen uns auf das gegenwärtige, in sich gespannte und geweitete Jetzt, in dem die Zeitmessung, die ja selbst ein zeitlicher Vollzug ist, vorgenommen wird.17 Das gegenwärtige Jetzt bildet ein Strukturmoment der gelebten Zeit. Ich lebe aber nicht in der Weise, 16 „Bei Heute, Gestern und Morgen meine ich die Abfolge von Tagen, deren Tageszeiten zwar durch Angabe von Stundenzahlen mit Hilfe der Uhr genauer bestimmt werden können, aber nicht müssen. Also ist das Heute-, Gestern-, Morgen-Sagen ein ursprünglicheres Verhältnis zur Zeit im Vergleich zum Feststellen eines Wieviel der Zeit mit der Uhr.“ Ebd., 52. 17 Die Gespanntheit des ‚Jetzt‘ im Sinne von ‚gegenwärtig‘ ist von der psychologischen Präsenzzeit zu unterscheiden. Bei der Präsenzzeit handelt es sich um die Behaltensdauer von Wahrgenommenem. Gefragt wird nach der Länge oder Kürze von Gedächtnisleistungen, wie lange etwas direkt bewusst ist. Es geht um ein Wieviel an Zeiteinheiten. Das Auftauchen, Gegenwärtighaben und Wegsinken von Wahrnehmungsinhalten setzt die Gespanntheit des gegenwärtigen Jetzt voraus.

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dass mein Leben aus einem Noch-nicht-Leben in ein Nicht-mehrLeben übergeht. Das Jetzt des gelebten Lebens ist ein ‚jetzt soeben‘ und ‚jetzt sogleich‘, wobei die Spanne variieren kann: das ‚Sogleich‘ kann sich zum ‚Dann‘, das ‚Soeben‘ zum ‚Damals‘ weiten. ‚Jetzt‘ kann bedeuten ‚jetzt, während dieses Vortrags‘, ‚jetzt, da wir einen gemeinsamen Abend verbringen‘, ‚jetzt, in diesem Herbst‘, ‚jetzt, in unserem Zeitalter‘.18 Das in sich geweitete Jetzt ist ein Strukturmoment der Zeit, die wir haben und die wir uns für dieses und jenes nehmen. Heidegger nennt sie die „Weltzeit“.19 Die Weltzeit ist dasjenige Antlitz der Zeit, das sie im lebenspraktischen Umgang mit dem uns Begegnenden bietet. Auf diese Zeit nehmen wir auch Bezug, wenn wir sagen: ‚Er ist soeben angekommen‘, oder ‚Die Vorstellung wird sogleich beginnen‘. Mit dem ‚Soeben‘ wird in die Dimension des Vergangenen zurück, mit dem ‚Sogleich‘ in die des Künftigen vor geschaut. III. Die Fundierung der Zeitangabe in der gelebten Zeit (‚Zeit-Habe‘)

1. Strukturmomente der gelebten Zeit Heidegger nennt als Strukturmomente der gelebten Zeit (der ‚Weltzeit‘) die „Bedeutsamkeit“20, die „Datierbarkeit“21, die „Gespanntheit“22 und die „Öffentlichkeit“23. Bedeutsamkeit: Die Zeit, die wir haben, ist wesenhaft Zeit für etwas – für dieses oder jenes, für alltägliche Besorgungen, für wissenschaftliches Arbeiten, für fröhliches Beisammensein, fürs Nichtstun, Zeit für Arbeit oder für Muße.24 Manchmal haben

18 „Jedes Jetzt, das wir sagen, ist zugleich auch ein Soeben und ein Sogleich, das heißt die Zeit, die wir unter dem Namen ‚Jetzt‘ angesprochen haben, hat in sich eine Spanne. Jedes Jetzt ist in sich auch noch ein Soeben und Sogleich.“ Ebd., 43. 19 Heidegger, Martin, Die Grundprobleme der Phänomenologie. Marburger Vorlesung Sommersemester 1927, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Martin Heidegger Gesamtausgabe [HGA] Bd. 24), Frankfurt a. M. 31997, 370. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd., 372. 23 Ebd., 373. 24 Wir haben z. B. Zeit für Musik – sei es als Ausführende oder als Zuhörende. Die Zeit, in der Musik erklingt, die ‚außermusikalische‘ Zeit, ist keineswegs die chronometrische Zeit, sondern die gelebte Zeit, die Zeit, die wir haben. Nur für den Aufnahmetechniker, der die Spieldauer misst, ist die außermusikalische Zeit die chronometrische Zeit. Freilich: das Aufnehmen eines Konzertes ist wiederum eine Weise des Sich-Zeit-Nehmens, das sich einer chronometrischen Bestimmung entzieht.

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wir für etwas zuviel, manchmal zu wenig Zeit. Je nach den Umständen ist es jeweils eine geeignete, günstige oder ungeeignete, ungünstige, eine gute oder schlechte Zeit. Das Wofür qualifiziert die Zeit, die wir haben. Es ist der gelebten Zeit nichts Äußerliches, sondern ein wesenhaftes Strukturmoment. Keine Zeit ohne Wofür. Das Wofür qualifiziert die Zeit, die wir haben. Und da diese nie ohne Wofür ist, ist sie wesenhaft qualitativ bestimmte Zeit.25 Datierbarkeit: Die gelebte Zeit ist allemal datierte Zeit. Jetzt, da wir dies oder jenes tun, damals, als das und das geschehen ist, dann, wenn wir einander treffen werden. Aufgrund der jeweiligen Ereignisse ist die Zeit datierbar. In dieser alltäglichen Datierung gründet die kalendarische. Diese ist eine Modifikation von jener. Und was von der Bedeutsamkeit gilt, gilt auch von der Datierbarkeit. Das Datum kann unbestimmt sein, niemals aber fehlt es. Es gehört der Zeit wesentlich an. Gespanntheit: Von ihr war schon die Rede. Jedes Jetzt ist in sich ein Soeben und Sogleich, wobei die Erstreckung des gegenwärtigen Jetzt variabel ist. Wenn wir sagen ‚dann‘, so heißt das: ‚von jetzt bis dann‘. Weil das Jetzt in sich erstreckt ist, kann es ein ‚bis dann‘ geben. Öffentlichkeit: Wenngleich ich es bin, der jeweils jetzt sagt, ist dieses bedeutsame, datierte und in sich erstreckte Jetzt keineswegs nur mir selbst zugänglich, sondern ein von allen geteiltes, im Miteinandersein von allen verstandenes, allen erschlossenes und in diesem Sinne öffentliches Jetzt. (‚Jetzt, da uns das Problem der Zeit beschäftigt.‘) 2. Die Nivellierung der gelebten Zeit zur ‚objektiven‘ Zeit Die als homogene Jetzt-Folge vorgestellte chronometrische Zeit ist keineswegs die ‚objektive‘ Zeit, wenn damit gesagt sein will die ‚eigentliche‘, ‚wahre‘ Zeit, sondern das Produkt einer Abs-

25 Man kann diesen Verweis zwar methodisch ausklammern, und so eine ‚leere‘ Zeit konstruieren, nicht aber wegschaffen. Denn im Akt der Abstraktion ist das Wofür wiederum da: Ich habe Zeit für die Ausblendung der Bedeutsamkeit. „Dieser Charakter der Deutsamkeit eignet der Zeit selbst. Deshalb hat dieses ‚für‘ der Zeit nichts mit einer ‚Intentionalität‘ zu tun im Sinne eines Aktes eines Ich-Subjektes; also eines menschlichen Verhaltens zu etwas, eines menschlichen Gerichtetseins auf…, der zu der Zeit erst etwas hinzubringt, wodurch sie auf anderes nachträglich bezogen wird.“ Heidegger, Zollikoner Seminare, 54.

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traktion. Die Weise, wie sich die Zeit präsentiert, korreliert dem Verhalten zu ihr. Nur einem rechnerischen Verhalten präsentiert sich die Zeit als leere Jetzt-Folge. Die Struktur der gelebten, uns gegebenen Zeit – also der Zeit, die wir uns nehmen müssen, um dann die Zeit einer physikalischen Messung unterwerfen zu können – muss methodisch ausgeblendet werden. Nur so kommt die Zeit als eine messbare Größe in den Blick.26 In der Physik kommt keineswegs die Zeit als Zeit zur Sprache.27 Die Abstraktion klammert zweierlei aus: Erstens ein Fundierungsverhältnis und damit zweitens den Vorrang der Zeithabe vor der Zeitmessung. Die Zeit ist in erster Linie nicht etwas, was gemessen werden kann, sondern etwas, was wir haben. Die Zeit-Messung gründet in der Zeit-Habe – nicht umgekehrt. Was die Zeit als Zeit ist, erschließt sich nicht, wenn wir sie (und sei es noch so exakt) messen, sondern darüber nachdenken, was es heißt, Zeit zu haben, d. h. diejenige Erfahrung bedenken, in der das Haben der Zeit ausdrücklich mit-erfahren wird. IV. Das Zeit-Haben

Zu bedenken sind einmal (1) das Zeithaben für etwas, (2) die Struktur der Zeit, die wir für etwas haben, und schließlich (3) das Haben selbst. 1. Zeit-Haben als Sein-Können Zeithaben für … heißt, sich in Anspruch nehmen lassen. SichZeitnehmen ist ein Antwortphänomen: Ich nehme mir Zeit, weil 26 Die Strukturmomente der gelebten Zeit sind keineswegs Bestimmungen eines bloß subjektiven Zeiterlebnisses, sondern der Zeit selbst. Hinter diesem (vor allem bei Naturwissenschaftlern sich findenden) Missverständnis steht die Vorstellung, die ‚wahre‘ Zeit der homogenen Jetzt-Folge werde erst durch das subjektive Zeitwahrnehmen in eine qualifizierte Zeit transformiert (so ähnlich wie man bewusstseinsnackte Reize durch die Gehirntätigkeit in Bewusstseinserlebnisse verwandeln lässt). Dieses Missverständnis lebt von einer permanenten Abstraktionsvergessenheit. Auf Basis der fraglos vorausgesetzten Unterscheidung muss diese selbst zu etwas bloß Subjektivem werden: Schließlich ist es ein im Zeitbezug stehendes Subjekt, welches die Zeit in objektive und subjektive Anteile zerlegt. 27 Das kann nicht oft genug unterstrichen werden, „zumal sich seit dem Aufkommen der Relativitätstheorie Einsteins die Meinung festgesetzt hat, durch die physikalische Theorie sei die bislang geltende Lehre der Philosophie von der Zeit erschüttert worden. Indes ist diese weitverbreitete Meinung ein fundamentaler Irrtum. In der Relativitätstheorie als einer solchen der Physik handelt es sich nicht um die Erörterung dessen, was die Zeit ist, sondern einzig darum, wie die Zeit im Sinne des Nacheinanders der Jetztfolge gemessen werden kann. […] Die relativitätstheoretische Frage könnte überhaupt nicht erörtert werden, wenn nicht im vorhinein die Zeit als das Nacheinander der Jetztfolge vorausgesetzt wäre.“ Heidegger, Zollikoner Seminare, 73 – 74.

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mich etwas in Anspruch nimmt und es mir deshalb darum zu tun ist. Wofür ich Zeit habe und mir Zeit nehme, darum geht es mir. Zeit nehmend entspreche ich einem Anspruch. Im genuinen Sinn heißt Zeit haben für …, sich für jemanden Zeit nehmen, sie ihm schenken, die Zeit mit ihm teilen, präsent und so für ihn offen sein, bei ihm verweilen. Wenn wir klagen, jemand habe trotz seiner leiblichen Anwesenheit keine Zeit für uns gehabt, dann meinen wir, er sei mit anderem befasst, deshalb nicht gesammelt und nicht präsent gewesen, er habe für uns ‚kein offenes Ohr‘ gehabt.28 Das Wofür der Zeit ist jeweils eine offenstehende Möglichkeit. Wer sich für etwas Zeit nimmt, ergreift gewisse Möglichkeiten, die sich ihm zuspielen. Und wer sich keine Zeit für dieses nimmt, weil jenes vordringlicher ist, lässt entsprechende Möglichkeiten ungenützt. Wer mit seiner Zeit nichts anzufangen weiß, kann mit sich selbst, d. h. mit seinem Dasein nichts anfangen: Er ist nicht fähig, sich ihm eröffnende Möglichkeiten des Mitseins mit Anderen in einer gemeinsam geteilten Welt wahrzunehmen und zu ergreifen. Wofür wir Zeit haben und uns Zeit nehmen können, ist eine von der Zeit eröffnete Möglichkeit. 2. Dreidimensionale Zeit Die uns gegebene Zeit ist die dreidimensionale, in die Dimensionen von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit sich erstreckende Zeit. Die Weise, wie wir die gelebte, dreidimensionale Zeit haben, hat Augustinus als Erwarten (expectatio), Aufmerken (attentio, intentio) und Bewahren (memini) bestimmt.29 Im Erwarten wird die Dimension der Zukunft, im Aufmerken die Dimension der Gegenwart, im Bewahren die Dimension der Vergangenheit offengehalten – und zwar so, dass unser sich zeitigendes Dasein uns zum Vollbringen aufgegeben ist. Heidegger spricht von Gewärtigen, Gegenwärtigen und Behalten.30 Ich bin 28 Es erübrigt sich wohl die Bemerkung, dass das Zeithaben und Zeitnehmen einer chronometrischen Bestimmung unzugänglich ist. 29 Vgl. Augustinus, Confessiones, 626 – 665; XI, 14 – 28. 30 „Im Zeit-haben für etwas bin ich auf das Wofür gerichtet, auf das, was zu tun ist, was bevorsteht. Ich bin dessen gewärtig, bin dies jedoch so, daß ich in einem dabei noch bei dem verweile, was mir gerade gegenwärtig ist, was ich gegenwärtige, wobei überdies, ob eigens gemeint oder nicht, ich zugleich behalte, was soeben und vorher mich beschäftigte. Die Zeit, die ich in diesem Fall habe, habe ich in der Weise, daß ich gewärtigend, gegenwärtigend, behaltend bin.“ Heidegger, Zollikoner Seminare, 84.

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eines Kommenden immer so gewärtig, dass ich mich darin bei Gegenwärtigem in der Weise aufhalte, dass ich im Behalten des Vergangenen von diesem mitbestimmt bin. Offengehalten wird die Zeit, weil wir sie zwar vollbringen, aber nicht stiften. Die Zeit, die ich habe, ereignet sich als dreifache, in sich erstreckte Anwesenheit: als Anwesenheit des gegenwärtig Anwesenden sowie als Anwesenheit des Abwesenden in Gestalt des Kommenden und des Gewesenen. Zukunft erfahren wir als offenen Spielraum von Möglichkeiten über das gegenwärtig Vollzogene hinaus. Es eröffnen sich aber nicht unbestimmte und wahllose Möglichkeiten, sondern solche, die von Vorgegebenem mitbestimmt sind, und in dieser Vorgegebenheit uns unverfügbar sind. Die Vergangenheit erfahren wir als die sich uns entziehende Notwendigkeit des Gewesenen, als Einschränkung des Möglichen. Das Ineinanderspiel von entschränkender Zukunft und einschränkender Vergangenheit ergibt den Vollzugsraum des gegenwärtig Möglichen. Die drei Zeitdimensionen stehen nicht im Verhältnis eines Nacheinander und gehen auch nicht ineinander über. Die Zukunft ist nicht früher als die Gegenwart und die Vergangenheit nicht später als die Gegenwart. Die Zeitdimensionen folgen nicht aufeinander. Die Dimensionen sind in ihrer Unterschiedenheit zugleich – nicht zu verwechseln mit der Gleichzeitigkeit von Ereignissen. Es ist hier auf den Unterschied von Zeit und Zeitlichem zu achten. Die Zukunft ist kein zukünftiges Ereignis, das noch nicht eingetreten ist, und im Falle seines Eintritts aufgehört hat, zukünftig zu sein. Ein Ereignis oder die Ausführung eines Vorhabens kann uns bevorstehen. Die Zukunft steht uns jedoch nicht bevor, weil wir immer schon unter ihrem Anspruch in der Weise stehen, dass wir uns zu ihm nicht nicht verhalten können: In Form unserer Vorhaben und Lebensentwürfe versuchen wir, ihm so oder so zu entsprechen. Die Zeitdimensionen bilden keine Reihe, sondern sind gleichursprünglich und gehören so zusammen, dass jede nur durch ihren Gegensatz zu den anderen ist, was sie ist. Keine ist ohne die andere. Deshalb bleibt das Gewesene auf seine Art eine Möglichkeit: Die Bedeutung des Gewesenen liegt nicht ein für alle Mal fest, sondern wandelt sich, und so ist das Gewesene immer auch etwas Zukünftiges, indem es das Gegenwärtige

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relativiert und unergriffene Möglichkeiten aufdeckt. Wie das Gewesene für das Gegenwärtige bedeutsam wird, hängt ab von den zukünftigen Möglichkeiten, sich zum Gewesenen zu verhalten. Und beides zusammen ergibt die Gegenwart, in der ich meine Möglichkeiten vollbringe oder versäume.31 Weil wir für die Zeit als Zeit offen und deshalb von ihr ansprechbar sind, können wir etwas erwarten, behalten (erinnern), gegenwärtigen. Vergegenwärtigung gründet in der Präsenz des Abwesenden, sie ist möglich, weil uns Abwesenheit erschlossen ist, wir in die Dimensionen des Kommenden und Gewesenen hineinreichen. Erschlossen ist die Zeit als Zeit, indem wir sie offenhalten. Zeiterschlossenheit geschieht in unserem Verhalten zur Zeit. Eines geschieht als das andere. Die drei Zeitdimensionen sind zwar gleichursprünglich, aber deshalb nicht gleichmäßig erschlossen. Das zeigt die bekannte Tatsache, dass jemand, statt offen für die Gegenwart zu sein, in der Vergangenheit, umgekehrt aber jemand auch ganz in der Zukunft leben kann. In beiden Fällen wird das gegenwärtig Mögliche versäumt. 3. Das Haben der Zeit Wir haben immer Zeit, auch und gerade dann, wenn wir versichern, keine zu haben. Wir haben eben dann Zeit für etwas anderes. Es ist demnach zu unterscheiden zwischen einem Zeithaben, dem ein Nichthaben gegenübersteht, und dem fundamentalen Zeithaben, d. i. demjenigen Zeithaben, das diesem Gegensatz zugrundeliegt und in ihm waltet. Was aber hat es mit diesem fundamentalen, gegensatzlosen Haben der Zeit auf sich? Was heißt hier ‚haben‘?

31 „Doch die Zeit, die wir miteinander (solidarisch mit dem Gewesenen und Kommenden) zu sein haben, ist insofern gar nicht vergänglich, als sie in ihrer Ursprünglichkeit nichts ist, das nur im Jetzt und danach nicht mehr vorhanden wäre. Die ursprünglich uns zu sein gegebene Zeit ist gar kein Nacheinander der Jetzte, vielmehr sind uns gleich ursprünglich wie die Gegenwart auch die Dimensionen des Kommenden und Gewesenen zugänglich, ja wir bestehen gleichzeitig in diesen drei Erstreckungen; und daher besteht jederzeit die Aufgabe, Gewesenes in das Kommende einzuverwandeln. Daher sind auch einzelne Ereignisse unseres Lebens nie ohne das Ganze der uns in weltgeschichtlicher Weite füreinander gegebenen Zeit zu verstehen (und umgekehrt).“ Wucherer-Huldenfeld, Karl Augustinus, Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2: Atheismusforschung, Ontologie und philosophische Theologie, Religionsphilosophie, Wien/Köln/ Weimar 1997, 340.

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Die Zeit ist kein Gegenstand eines Besitzens. Wir haben die Zeit auch nicht so, wie wir z. B. Angst haben, von der wir auch wieder befreit werden können. Die Zeit ist keine Gestimmtheit, wenngleich die Zeit nie stimmungslos ist (Zeit der Freude, der Trauer, des Festes). Wir haben sie auch nicht so, wie wir Schmerzen haben, die wieder verschwinden. Die Zeit, die wir haben, verschwindet nicht. Ebensowenig haben wir sie so, wie wir eine Krankheit haben, die über uns gekommen ist. Krankheit ist eine Mangelerscheinung. Wer krank ist, dem mangelt es an seiner Gesundheit. Zeit zu haben bedeutet aber keinen Mangelzustand. Woran soll es uns mangeln, wenn wir je und je Zeit haben für ...? Ein Mangel wird als etwas Nicht-sein-Sollendes erfahren. Sollen wir etwa keine Zeit für etwas haben? Zeit zu haben ist weder ein Mangelzustand noch ein Entfremdungszustand. Die Zeit, die ich habe, ist mir zu eigen gegeben. Zeit haben im fundamentalen Sinn heißt dasein können, sein Dasein vollbringen können, Daseinsmöglichkeiten haben. Die mir zu eigen gegebene Zeit ist mein sich zeitigendes Dasein, das mir zum Vollbringen aufgegeben ist. Nicht ich zeitige mein Dasein, sondern mein Dasein zeitigt sich: Denn ich werde älter, ob ich will oder nicht. V. Zeit-Gabe

Dasein kann ich, weil mir Zeit gegeben ist und sie mir gegeben ist, um sein zu können. In der Betriebsamkeit des alltäglichen Zeithabens bleibt dies, dass wir Zeit haben, weil sie uns gegeben ist, im unauffälligen Hintergrund. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht für gewöhnlich etwas anderes. Zuweilen wird jedoch das Unauffällige ausdrücklich mit-erfahren. Die Zeit ist als Zeit auffällig geworden. Wir reden dann von einer schönen Zeit. Wenn wir so reden, meinen wir gewiss auch, dass sich in ihr Beglückendes zuträgt, uns Grund zur Freude gegeben ist usw. Wir beziehen uns auf die Sinnhaftigkeit dessen, wofür wir Zeit haben oder gehabt haben. Allein wir nennen (geführt von der Weisheit der Sprache) die Zeit selbst schön. Und das mit Recht. Denn nun geht es in erster Linie nicht um das, wofür wir Zeit haben, sondern um das Zeithaben selbst. Dieses ist auffällig

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geworden. Denn es war ja eine von der Zeit selbst eröffnete Möglichkeit, die wir haben ergreifen können: Es war uns vergönnt zu verweilen.32 Zum Verweilen kommt es nicht schon dadurch, dass man vom belastenden Ausgriff in die Zukunft ablässt, weil man sich auf die Gegenwart zurücknehmen will. Verweilen zu können ist nicht eine der Zeit abgetrotzte, sondern eine von ihr eröffnete Möglichkeit. Am Anfang des Verweilens steht nicht ein Willensakt, sondern eine an mich gerichtete Einladung. Verweilen können wir, weil und insofern uns eine ‚Sache‘ (was immer diese auch sein mag) zum Verweilen einlädt, indem sie für uns ein Sinnangebot bereithält, für das es sich zu öffnen gilt. Sie verweist nicht von sich weg, weist weder auf etwas Kommendes vor, noch auf etwas Gewesenes zurück. Dementsprechend verweilen wir nur dann, wenn wir uns weder bei etwas Kommendem, noch bei etwas Gewesenem aufhalten, sondern gesammelt gegenwärtig sind, offen und empfänglich für das, was sich uns zu erfahren gibt. Wer verweilen kann, weiß zu empfangen. Jedes Verweilen verdankt sich einem Geben. Wir nennen die Zeit selbst schön, weil sie als sich ereignende Gabe erfahren werden konnte. Wir sind dann dankbar für die uns gewährte Zeit, die unsere Daseinszeit ist. Dieser Dank ist etwas Singuläres. Er unterscheidet sich von allen uns sonst bekannten zwischenmenschlichen Dankesbekundigungen. Es ist ein Dank, überhaupt dasein zu können, ein Dank, der in das Anfangsgeheimnis unseres Daseins hinein gesprochen wird. Freilich: wo wir einander in Lieblosigkeit oder in Feindseligkeit begegnen, dort hört zwar die Zeit nicht auf, uns gegeben zu sein. Aber mit unserem Verhalten unterdrücken wir ihren Gabecharakter. Wir missbrauchen die uns geschenkte Zeit. Die Frage erhebt sich: Was hat es mit dem Geben selbst auf sich? Hier gilt es vor allem, sich vor voreiligen Schlüssen zu hüten. Die Besinnung verlangt, sich an das Geben selbst und

32 Der Einwand, hier werde etwas, was höchstens dem Leben zukomme, illegitimerweise der Zeit zugesprochen, verfehlt die Sache. „Die Fülle gehört jedoch nicht der Zeit, […] sie gehört dem Leben und Erleben.“ „[…] ihre Erfülltheit ist in Wahrheit die Sinnerfülltheit des Lebens.“ Theunissen, Michael, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991, 43 u. 45. Der Einwand trennt die Zeit von ihrem Wofür, macht ein wesenhaftes Strukturmoment zu etwas der Zeit Äußerlichem und versetzt beide in ein antithetisches Verhältnis: Wo Zeit, dort Sinnleere. „Je auffälliger Zeit wird, desto sinnleerer wird unser Leben.“ Ebd., 45.

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an das, was es von ihm selbst her zeigt, zu halten. Was es mit dem Geben auf sich hat, lässt sich einzig der Zeitgabe selbst entnehmen, in der es sich manifestiert. Diese Gabe beruht im Dasein in weltweiter Offenheit, im Freisein-Können. Freisein heißt Aufgerufensein zum Vollbringen des Guten. Geben besagt Freigeben zur Selbständigkeit des Seins und Vollziehens, Ermächtigung zum Wirken aus eigener Initiativkraft. Freiheit ist freigegebene, zum Vollbringen des sinnspendenden Guten gewürdigte Freiheit. Zeit haben heißt, zum Vollbringen des Guten aufgerufen sein. Wir haben Zeit, weil sie uns zu eigen gegeben ist. Das Wörtchen ‚ist‘ ist zeitwörtlich zu verstehen: Sie ist, d. h. sie wird uns gegeben – nicht ist gesagt: sie ist uns gegeben worden. Die Zeitgabe ist kein in der Vergangenheit liegendes, gewesenes Ereignis. Ich bin zwar einmal nicht dagewesen und habe also einen Anfang meines Daseins. Aber dieser mein Anfang ist nichts, was ich einmal gehabt habe, jetzt aber nicht mehr. Ich habe Zeit – die Zeit meines Lebens, meine Zeit –, indem sie mir ständig gegeben wird. An dem Geben hängt mein Dasein. Ich bin, indem ich ständig anfange zu sein. Im Haben meines Anfangs beruht mein Dasein. Die Zeithabe gründet in der Zeitgabe. Der Anfang meines Daseins ist nichts, was ich hinter mir lassen könnte. Er umfängt mein Dasein in der Weise, dass ich von ihm herkomme und älter werdend auf ihn zukomme. Im Tod kommt auf mich zu, woher ich zu mir selbst freigegeben bin. Woher mir meine Daseinszeit gegeben wird, entzieht sich mir. Ich verdanke mein Dasein einem Geben, dessen Woher sich verbirgt und sich phänomenal als Nichts zeigt.33 Nicht nur das Ende, sondern der Anfang meiner Daseinszeit weist in ein Geheimnis. Ein Geheimnis ist nicht mit einem Rätsel zu verwechseln. Für ein Rätsel gibt es prinzipiell eine Lösung. Wer die Lösung kennt, für den hat das Rätsel aufgehört eines zu sein. Ein

33 „Aber indem ich mir in meinem Dasein gegeben bin wie durch einen Sprung, den Ur-sprung meines Anfangs und Anfangenkönnens, erfahre ich dieses Nichts durchaus nicht absolut ohnmächtig-leer, sondern als das Entspringenlassende, als den Daseinsursprung, als das zum Anfang freigebende Geheimnis meines Daseins. Es umgreift das Ganze des Daseins ohne von ihm umgriffen oder begriffen zu werden. Ich erfahre es positiv im Geschehen des Gebens als Sichzurückhalten, Sichentziehen und als Enthüllen des absolut Verborgenbleibenden. Aus dem zum Anfang Freigegebensein kehren wir am Ende zurück, wenn der Anfang sich zum Ganzen des Daseins sammelt und voll-endet, wenn das Dasein mit dem Tod hinweggenommen wird und der Kreis sich schließt.“ Wucherer-Huldenfeld, Erfahrung und personales Sein 2, 344.

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Geheimnis hingegen zeigt sich, indem es sich verbirgt. Mit ihm kommt man an kein Ende. Deshalb muss immer wieder gefragt werden, was es mit der Zeit auf sich hat. VI. Freiheit von der Zeitherrschaft?

1. Entfremdende Zeitherrschaft Wie steht es nun um die eingangs zitierte These? Musik, so hat es geheißen, befreie uns von der Herrschaft der Zeit. Nach Michael Theunissen, der offensichtlich für diese These als Pate fungiert, gilt das für jede Kunst: Ästhetische Erfahrung (sie vollendet sich in der Kunsterfahrung) besage Freiheit von Zeit, das Kunstwerk stelle die Freiheit von der Zeit dar.34 Die ästhetische Erfahrung beglückt, weil wir in ihr von der Negativität der Zeit befreit sind bzw. uns von ihr befreien. Die Zeit übt eine negative Herrschaft aus: „Die Zeit herrscht über uns, über uns Menschen ebenso wie über die Dinge. Und zwar richtet sie eine entfremdende, keine befreiende Herrschaft über uns auf. […] Sie überantwortet die Dinge dem Nichtsein.“35 Für gewöhnlich merken wir allerdings nichts von unserem grundsätzlichen Entfremdungszustand, weil die Zeit im unmerklichen Hintergrund unserer Aktivitäten verbleibt. Freilich ist solch ein leidensfreier Zustand ein bloßer Schein. In dem Maße nämlich, wie die Zeit auffällig wird, wird unser Leben sinnleer. Zeit erleben heißt, an ihr leiden – und zwar notwendig, nicht bloß akzidentell: „[…] Leiden [ist] das Erleben der Zeit selbst, nichts, was bloß beiherspielte. Daß es sich anders verhalte, ist Schein. Gemeinhin leiden wir tatsächlich nicht an der Zeit, aber nur deshalb, weil wir sie gemeinhin nicht zum eigenen Erlebnisinhalt machen. Durch ihre Medialität schützt sie uns vor sich selbst, ohne daß wir sagen dürften, sie sei kein Grund zum Leiden. Denn Leiden erspart uns allein die Unauffälligkeit des Mediums. […] Je auffälliger Zeit wird, desto sinnleerer wird unser Leben.“36 Zu 34 „Das sogenannte Kunstschöne hingegen, das so schön gar nicht zu sein braucht, stellt die Freiheit von der Zeit dar. Gleichgültig, ob ein Kunstwerk Dinge nachahmt oder in ihre Konstitutionselemente auflöst – sofern es ein Kunstwerk ist, verleiht es ihnen die Freiheit von der Zeit, deren sie von sich aus nicht fähig sind.“ Theunissen, Theologie der Zeit, 287 – 288. Im Kunstwerk materialisiert sich das Streben des Künstlers nach Freiheit von der Zeitherrschaft. 35 Ebd., 41. 36 Ebd., 44 – 45.

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den leidensfreien Zuständen gehören die ästhetische Anschauung und ihre Vollendung in Form der Kunstanschauung. In der ästhetischen Anschauung haben wir uns von der entfremdenden Zeitherrschaft befreit und uns auf diese Weise Glück verschafft: Wir gehen in der Sache auf und verweilen.37 Das Verweilen selbst besteht – so Theunissen – in der „Spannung zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit“.38 Das Gewaltsame betrifft den Widerstand gegen den alles mit sich fortreißenden Strom der Zeit, das Nein-Sagen zur Zeit. „Das Nicht-Mitgehen mit der Zeit ist, näher betrachtet ein Sich-Losreißen von ihr“, welches „SichLosreißen das Aufgehen in der Sache begründet.“39 Das Gewaltlose betrifft das Aufgehen in der Sache, das „immer und notwendig einen positiven Wert darstellt“ – deshalb verweilen wir „gern oder gar nicht.“40 Freilich kommt der Freiheit von der Zeit „nur eine gebrochene Realität zu“, denn das „Nicht-Mitgehen mit ihr fällt selbst in die Zeit.“41 Die These, zeitliches Sein sei im Grunde negatives Sein, wirft zunächst einmal die Frage nach dem vorausgesetzten Herrschaftsbegriff auf. Herrschaft ist ja per se keineswegs unterdrückend, unfrei machend. Herrschen, walten hat auch eine positive Bedeutung. Wir sagen: ‚Hier herrscht ein guter Geist‘, ‚Hier herrscht eine Vertrauen erweckende Atmosphäre‘, ‚Hier herrscht eine gute Stimmung‘. ‚Herrschen‘ besagt dann ‚befreien‘, ‚ermutigen‘, ‚ermächtigen‘. ‚Befreien‘ meint nicht ‚aus Unfreiheit herausführen‘, sondern ‚den Freiheitsgebrauch ermöglichen‘. Die so verstandene Befreiung setzt nicht Unfreiheit, sondern schon waltende Freiheit voraus, ist sie doch selbst ein Freiheitsvollzug. Wenn Herrschaft aber von vornherein keineswegs negativ besetzt ist, dann gilt das auch für die Rede von Zeitherrschaft. Die Zeit waltet, aber sie lässt uns deshalb nicht schon leiden. Das Programm einer Freiheit von der Zeitherrschaft fußt auf einem im Grunde nihilistischen Zeitverständnis – nihilistisch, weil ein Abstraktionsprodukt, d. i. der chronometrische Zeitbegriff, totalisiert und zum Auslegungshorizont für die Zeitlich37 „Glück tritt zum Verweilen nicht bloß akzidentell hinzu, es wohnt ihm selbst inne.“ Ebd., 293. 38 Ebd., 287. 39 Ebd. 40 Ebd., 293. 41 Ebd., 292.

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keit unseres Daseins gemacht wird. Auf diese Weise gerät der Gabecharakter der Zeit aus dem Blick. Der chronometrische Zeitbegriff hat seine partielle Berechtigung dort, wo es um Koordinierung und Beherrschung von Vorgängen geht. Wird der chronometrische Zeitbegriff jedoch totalisiert, hat das notgedrungen ein negatives Verständnis zeitlichen Seins zur Folge. Als das einzig Wirkliche gilt dann die Gegenwart, das Jetzt. Von ihr aus gesehen ist das Kommende, Zukünftige noch nicht jetzt, noch nicht wirklich und daher nichtig, und das Vergangene, Gewesene nicht mehr wirklich und daher ebenfalls nichtig. Schließlich ist auch die Gegenwart nichtig, denn das Jetzt verschwindet, geht ständig in das Nicht-mehr-Jetzt über. Aber was viel schlimmer ist: dieses haltlose Verschwinden bleibt. Denn ständig erneuert sich ein verschwindendes Jetzt. Die Zeit wird zur Furie des Verschwindens. Mit dem zeitlich verfassten Sein ist es nichts, weil es der Vergänglichkeit unterworfen ist. Es ist hinfällig, kontingent, und fordert zur Kontingenzbewältigung und zum Widerstand gegen die Zeit heraus, die alles dem Nichtsein überantwortet. Dass die Zeit vergeht und in ihrem Vergehen bleibt, wird zum Verhängnis, dem nicht zu entrinnen ist. Was bleibt, ist das (letztlich ohnmächtige) Ankämpfen gegen die negative, das Sein durchnichtende Macht der Zeit: der „Widerstand gegen die Herrschaft der Zeit“, das „Neinsagen zur Zeit“.42 Der Widerstand kann entweder darin bestehen, sich von der Zeit loszureißen, um verweilen zu können, oder die Zeit an sich zu reißen, um sie sich zwecks Lebensbewältigung zu nehmen.43 Zwar herrscht die Zeit über uns, aber in gewisser Weise umgekehrt auch wir über sie: Denn wir verfügen über sie, indem wir uns für dieses oder jenes Zeit nehmen können. Zeitnahme bedeutet (zeitweilige) Herrschaft über die Zeit.44 Die Freiheit von dem Beherrschenden schlägt um in Herrschaft über das Beherrschende. Widerstand leistend versuchen wir zwar, den Widerpart mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, 42 Ebd., 54 u. 58. 43 Vgl. ebd., 58. 44 Wir beherrschen die Zeit oder verfügen über sie, indem wir sie für dieses oder jenes ‚verwenden‘, für das eine ‚haben‘ und für das andere ‚nicht haben‘, sie uns ‚nehmen‘ oder ‚nicht nehmen‘.“ Ebd., 56. Solch eine Beherrschung der Zeit vermittelt Glück: Das praktische Glück, das darin liegt, etwas mit der Zeit anfangen zu können. Da aber diese Beherrschung etwas ist, was wir der Zeit „abringen müssen, ist sie immer labil und immer nur in gewissem Maße möglich […].“ Ebd., 57.

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bleiben ihm aber verhaftet, indem wir nun unsererseits uns als die Herrschenden zu behaupten suchen.45 2. Fraglichkeit des negativen Zeitverständnisses Die zentrale Frage, die dieses Zeitverständnis aufwirft, betrifft wohl das Zeithaben. Schließlich muss man ja auch Zeit haben und sich Zeit nehmen, um eine negative Zeittheorie aufstellen zu können. Wie das Haben gedacht wird, lassen charakteristische Wortprägungen – die sich etwa bei Theunissen finden – erkennen: Da ist von Widerstand und Sich-Losreißen die Rede. Die Zeit, die wir uns nehmen, wird ihrer Herrschaft abgerungen, abgetrotzt, der Zeitstrom soll angehalten, stillgestellt werden.46 Das Verhalten zur Zeit hat die Form der Selbstbehauptung, der Negation des Negativen. Es sind offensichtlich negative Erfahrungen, die zur These führen, die Zeit übe als Zeit eine entfremdende Herrschaft aus. Ist die Schlussfolgerung berechtigt? Zunächst einmal wäre darauf hinzuweisen, dass zwar die schönen und beglückenden Stunden vergehen, dass aber deshalb das Sinnvolle nicht zunichte wird. Was sinnvoll gewesen ist, bleibt es. Deshalb wäre die sachgerechte Antwort auf das Gewesensein die Dankbarkeit und nicht der Kampf gegen das Vergehen, der als Negation des Negativen unfruchtbar bleibt. Wichtiger jedoch erscheint, dass die These die menschliche Grundsituation verfehlt. Nach ihr übt ja die Zeit als Zeit eine entfremdende Herrschaft aus. Demnach befinden wir uns in einem prinzipiellen, nicht bloß vorübergehenden Entfremdungszustand. Die Entfremdung ist nicht ein Zustand, in den wir geraten oder auch nicht geraten können, sondern bildet die Grundsituation unseres Daseins überhaupt – die uns freilich nicht immer bewusst ist. Dasein heißt bereits entfremdet sein. Denn wenn die Zeit als Zeit eine entfremdende Herrschaft über uns ausübt und unser Dasein durch Zeitlichkeit gekennzeichnet ist, befindet es sich von Anfang an in einem Entfremdungszustand. Dasein ist mit Entfremdetsein identisch.

45 „Daß auch Herrschaft über Zeit eine Form von Freiheit ist, dürfte ohne weiteres einleuchten: Auch sie befreit sich von der Zeit, indem sie sozusagen den Spieß umdreht.“ Ebd., 56. 46 Vgl. ebd., 54, 57, 66 u. 289.

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Doch da fragt es sich: Entfremdung wovon?47 Die These von der negativen Zeitherrschaft setzt voraus, dass das, wovon der Mensch entfremdet ist, sein Wesen ausmacht, er von seinem Wesen entfremdet ist und er so, wie er ist, nicht sein soll. Abgesehen von der Folgenlast solch einer metaphysischen Voraussetzung – einer Folgenlast, die man vermutlich gar nicht haben möchte – lässt sich die These mit der Erfahrung nicht in Einklang bringen. Ist Dasein mit Entfremdung identisch, dann bestimmt diese Grundsituation alle Verhaltensweisen zur Zeit. Dann muss das Glück der ästhetischen Erfahrung zum bloßen Schein, zur temporären Befriedigung eines metaphysischen Bedürfnisses – im schlimmsten Fall zum Narkotikum – herabsinken. Wird die Zeitherrschaft negativ und nicht positiv als freigebendes, Möglichkeiten eröffnendes Walten verstanden, kommt man nicht darum herum, das Glück des Verweilens als Realitätsflucht anzusetzen. Und ebensowenig kann es als Vorschein einer, wenn auch als Äon gedachten, Ewigkeit genommen werden. Überdies müsste das Freisein-Können, die Befähigung zum Vollbringen des sinnspendenden Guten ebenfalls als Entfremdung interpretiert werden. Dann stürzt uns aber nicht die Zeit, sondern erst diese Zeitinterpretation in die Entfremdung. Ist nun die These vom grundsätzlich entfremdenden Charakter der Zeit fragwürdig, dann auch die darauf aufbauende, Musik (bzw. Kunst) befreie uns (wenn auch nur temporär) von der Zeitherrschaft und löse den Zugriff der Zeit auf das Seiende. Die Frage, was Musik als Zeitkunst ist, könnte sich an der Gleichursprünglichkeit von An- und Abwesenheit orientieren. Sie hätte damit statt eines negativen einen positiven Leitbegriff.

47 Haeffner fragt mit Recht: „Welchem Wesen sind wir denn entfremdet? Ist etwa die Ewigkeit unser ‚Wesen‘? Ist das zeitliche Dasein also uns im Grunde fremd?“ Haeffner, Gerd, Leiden unter der Herrschaft der Zeit. Zu Michael Theunissens ‚Negativer Theologie der Zeit‘, in: Theologie und Philosophie 67 (1992), 570 – 577, hier 576.

Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding | Günther Pöltner Literatur Augustinus, Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch, eingel., übers. u. erl. v. Joseph Bernhart, München 31966 Descartes, René, Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Lateinisch – Deutsch, krit. rev., übers. u. hg. v. Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe u. Hans Günter Zekl (Philosophische Bibliothek 262a), Hamburg 1973 Gadamer, Hans-Georg, Über leere und erfüllte Zeit, in: ders., Neuere Philosophie, Bd. 2: Probleme, Gestalten (Gesammelte Werke Bd. 4), Tübingen 1987, 137 –153 Haeffner, Gerd, Leiden unter der Herrschaft der Zeit. Zu Michael Theunissens ‚Negativer Theologie der Zeit‘, in: Theologie und Philosophie 67 (1992), 570 – 577 Haeffner, Gerd, In der Gegenwart leben. Auf der Spur eines Urphänomens, Stuttgart/ Berlin/Köln 1996 Heidegger, Martin, Sein und Zeit, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Martin Heidegger Gesamtausgabe [HGA] Bd. 2), Frankfurt a. M. 1977 Heidegger, Martin, Die Grundprobleme der Phänomenologie. Marburger Vorlesung Sommersemester 1927, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Martin Heidegger Gesamtausgabe [HGA] Bd. 24), Frankfurt a. M. 31997 Heidegger, Martin, Zeit und Sein [1962], in: ders., Zur Sache des Denkens, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Martin Heidegger Gesamtausgabe [HGA] Bd. 14), Frankfurt a. M. 2007, 3 – 30 Heidegger, Martin, Zollikoner Seminare. Protokolle, Gespräche, Briefe, hg. v. Medard Boss, Frankfurt a. M. 1987 Hindrichs, Gunnar, Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2014 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, 2 Bde. (Werkausgabe in 12 Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 3 u. Bd. 4), Frankfurt a. M. 1975 Klein, Richard, Musikphilosophie zur Einführung, Hamburg 2014 Klein, Richard/Kiem, Eckehard/Ette, Wolfram (Hg.), Musik in der Zeit – Zeit in der Musik, Weilerswist 2000 Nietzsche, Friedrich, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: ders., Werke in drei Bänden, Bd. 3, hg. v. Karl Schlechta, 5., durchges. Aufl., Darmstadt/München 1966, 417 – 925 Theunissen, Michael, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991 Wellmer, Albrecht, Die Zeit, die Sprache und die Kunst. Mit einem Exkurs über Musik und Zeit, in: Klein, Richard/Kiem, Eckehard/Ette, Wolfram (Hg.), Musik in der Zeit – Zeit in der Musik, Weilerswist 2000, 21– 56 Welte, Bernhard, Meditation über Zeit, in: ders., Zeit und Geheimnis. Zeit und Geheimnis. Philosophische Abhandlungen zur Sache Gottes in der Zeit der Welt, Freiburg i. Br. 1975, 15 – 27 Wittgenstein, Ludwig, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914 –1916. Philosophische Untersuchungen (Werkausgabe Bd. 1), Frankfurt a. M. 1984, 225 – 580 Wucherer-Huldenfeld, Karl Augustinus, Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Bd. 2: Atheismusforschung, Ontologie und philosophische Theologie, Religionsphilosophie, Wien/Köln/Weimar 1997

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Zeitlichkeit Martin Hochleiter

Der Vortrag zum Thema „Zeitlichkeit“ aus kunstwissenschaftlicher Perspektive beleuchtete konkrete künstlerische und kuratorische Projekte der 1990er und 2000er Jahre und stellte diese in Bezug zu ausgewählten Diskursansätzen einer jüngeren Kunsttheorie.1 Der aus einer langjährigen Ausstellungspraxis und mit einer Schwerpunktsetzung auf das Medium Fotografie entwickelte Vortrag bewegte sich zwischen nuancierten Aufmerksamkeiten und Fragestellungen. Schwerpunktmäßig präsentierte Martin Hochleitner Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, die sich seit den 1970er Jahren explizit mit dem Thema Zeit auseinandergesetzt haben. Die Auswahl umfasste ein breites Spektrum von medialen, konzeptuellen und ikonografischen Ansätzen und vermittelte eine Vielfalt künstlerischer Herangehensweisen an das komplexe Begriffsfeld Zeit. So behandelte die getroffene Auswahl etwa das Sujet der Uhr in der Geschichte des Films (Christian Marclay, The Clock, 2010), die konzeptuelle Integration von Zeit in die Entstehung eines Kunstwerks (Hans-Christian Schink, 1h, 2003–2010) oder Zeit als inhaltliche Qualität von künstlerischen Arbeiten (Wolfgang Laib, Milchsteine, seit 1975) und thematisierte hierbei zudem die enge Verflechtung von Zeit und Performativität (Erwin Wurm, one minute sculptures, seit 1988). Dabei konnte gezeigt werden, dass die mit der Zeit gekoppelten Wahrnehmungsweisen auch den Kunstbegriff tangieren. Zum anderen gab der Vortrag einen Einblick in kuratorische Ansätze von Ausstellungsprojekten seit den 1990er Jahren, die sich einerseits thematisch mit der Zeit auseinandergesetzt und die andererseits das Format der Ausstellung selbst als ein zeitlich befristetes Ereignis reflektiert haben. Zu nennen sind exemplarisch zwei Projekte – „40 Tage 20 Ausstellungen“ (Kunstverein Salzburg, 1998) und „One-Night Stand: 21 Abende – 21 Eröffnungen“ (Landesgalerie Linz, 2009) –, mit denen sich überdies Grundfragen an das Betriebssystem Kunst der 1990er und der 2000er Jahre verbinden. Aus dem Vergleich zweier nahezu zehn Jahre auseinanderliegender Ausstellungen – „Zeitskulptur. Volumen als Ereignis“ (Landesgalerie Linz, 1997) und „Time Zones: Recent Film and Video“ (Tate Modern, 2004) – versuchte Martin Hochleitner allgemeine Aussagen über die Entwicklung von Begrifflichkeiten bei der Konzeption, Rezeption und Wirkung von künstlerischen Projekten zu 1

Der Vortrag fand am 12. Mai 2014 statt und wurde von Florian Uhl moderiert.

302 treffen. So vertrat er die These, dass Künstlerinnen und Künstler das Phänomen Zeit in den 1990er Jahren eher im sozialen, in den 2000er Jahren dagegen stärker im medialen Raum verhandelt hätten. Die bei der Ausstellung „Time Zones“ in London mit der Videoinstallation Saint Sebastian (2001) präsentierte Künstlerin Fiona Tan bildet in diesem Zusammenhang ein besonders signifikantes Beispiel. Hochleitner thematisierte Arbeiten wie Tans 2002 auf der documenta 11 gezeigtes Werk Countenance, die sich schlüssig zu medien- sowie kunsttheoretischen Debatten (David Claerbout, Rineke Dijkstra u.a.) in Beziehung setzen lassen. Daran lässt sich die enge Verflechtung von künstlerisch aufgeworfenen Wahrnehmungsfragen von Raum und Zeit mit den zeitgleichen – besonders auf Fotografie und Film ausgerichteten – Diskursen über die Sichtbarmachung von Zeit im transitorischen Zustand von Bewegung und Stillstand erkennen. Eigenes Augenmerk war schließlich einer aktuellen kuratorischen Arbeit („AGES. Porträts vom Älterwerden“, 2013) gewidmet. Die Ausstellung in der Landesgalerie Linz präsentierte eine Auswahl von Künstlerinnen und Künstlern, die sich in fotografischen Serien bzw. Langzeitprojekten und in der ausschließlichen Konzentration auf das Genre des Porträts mit dem Thema des Alterns auseinandersetzen. Am Beispiel der Arbeiten von Roman Opałka beschrieb Hochleitner die Sichtbarmachung eines konkreten Veränderungsprozesses als ein zentrales kuratorisches Anliegen. Im Nebeneinander von Aufnahmen aus unterschiedlichen Jahren werden die Spuren des Alterns lesbar. Zwischen die Bilder, die stets genau einen konkreten Augenblick festhalten, schreibt sich die Geschichte des Lebens ein, wodurch die Fotografie einmal mehr als ein besonderes Medium der Zeit vorgeführt wird. Der Mensch habe, so Hochleitner, durch die Fotografie gelernt, nicht nur mit dem Sterben völlig anders zu leben. Mehr noch habe das fotografische Bild das Verhältnis zu Zeit, Alter und Körper grundlegend verändert, indem der Mensch nun zur eigenen Zeit, zum eigenen Alter und zum eigenen Körper auch das eigene Bild hinzustellen kann. Die Aufbereitung des Vortrags für die Publikation erfolgte durch Lisa-Marie Huber. (Redaktion)

Ich empfinde es als ein Privileg, im Zusammenhang der Frage nach ästhetischen Kategorien meine kuratorische Praxis einfließen zu lassen, sodass auch das Kuratieren von Ausstellungen und die Ausstellung selbst als Reflexionshorizonte integriert werden können. In meinem heutigen Vortrag zum Thema Zeitlichkeit werde ich mich auf drei Aspekte konzentrieren. Erstens soll der Schwerpunkt auf „Zeitlichkeit“ in konkreten künstlerischen Arbeiten liegen, die ich betreut habe. Der zweite Aspekt ist das Thema „Zeit und Zeitlichkeit“ in kuratorischen Konzepten, die ich selbst verfolge. Schließlich werde ich anhand von Beispielen aus dem film- und fotohistorischen Kontext versuchen, einige theoretische Ansätze zu vermitteln. Die Arbeit von Christian Marclay trägt den programmatischen Titel The Clock (2010). 2011 wurde sie auf der 54. Bienna-

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le in Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet. Es handelt sich dabei um ein rechercheintensives Filmprojekt, das eine Laufzeit von 24 Stunden aufweist und aus Clips mit verschiedensten Szenen aus der Geschichte des Films des 20. Jahrhunderts besteht. Das Großartige an diesem Filmprojekt ist, dass alle Uhren, die man im Laufe des Films sehen kann, Echtzeit wiedergeben. Nicht zuletzt durch diese vieldiskutierte Arbeit wurde das Thema Zeit aktuell. Im Zuge meiner Tätigkeit in der Landesgalerie habe ich mich in den 2000er Jahren sehr stark auf das Thema Zeit und die Sichtbarmachung von Zeit im Spannungsfeld von Fotografie und Film konzentriert, unter anderem auch in Form von Publikationen. Ein konkretes Beispiel für eine kuratierte Ausstellung war das Projekt von Hans-Christian Schink mit dem programmatischen Titel 1h, also: „eine Stunde“.2 Ich zeige die Ausstellungsansicht (Abb. 1). Die Schwarz-Weiß-Fotografien sind sehr klassisch gerahmt. Wie jetzt schon ersichtlich werden dürfte, zeichnet sich jedes Bild durch einen markanten schwarzen Balken aus. Er ist die Bildkonstante dieser Serie 1h. Der Künstler erzeugte mit der analogen Fotografie eine absolute Überbelichtung für die Dauer

Abb. 1: Ausstellungsansicht: „Hans-Christian Schink – 1h“, Landesgalerie Linz am Oberöster­ reichischen Landesmuseum, 2010/11

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Hans-Christian Schink. 1h (AK, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 11.11.2010 –11.01.2011), hg. v. Oberösterreichischen Landesmuseum, Ostfildern 2011.

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von genau einer Stunde. Durch dieses Überbelichten und auch durch die Nutzung eines speziellen Negativmaterials entsteht ein chemisches Phänomen, eine sogenannte Solarisation. Das Resultat dieses Prozesses ist, dass eigentlich dasjenige, das am hellsten ist, am dunkelsten erscheint. So brennt sich etwas ein, das wir bei der Ausarbeitung des Bildes als einen schwarzen Balken wahrnehmen können. Der Grund, weshalb diese Ausstellung in der Landesgalerie realisiert wurde, war die zu dieser Zeit aktuelle Diskussion über das Analoge und das Digitale. Es wurde oft gefragt, ob diese Bilder konstruiert und mit digitalen Mitteln generiert sind. Als ich 2012 an die Muthesius-Kunsthochschule in Kiel eingeladen wurde, nahm ich zunächst an, man wollte auf Ausstellungsprojekte, an denen ich in den 2000er Jahren mitgewirkt hatte, reagieren. Man war jedoch an einem Ausstellungsformat mit dem Titel „One-Night Stand“ interessiert, das wir im September 2009 in der Landesgalerie gezeigt hatten.3 Dabei wurde jeden Abend um 19 Uhr eine Ausstellung von einem/einer KünstlerIn, der/die in Linz lebt und arbeitet, eröffnet. Der Ablauf gestaltete sich folgendermaßen: Im Zeitfenster von 9 bis 19 Uhr entwickelte der/die KünstlerIn sein oder ihr jeweiliges Projekt. Die Ausstellung selbst dauerte bis maximal 22 Uhr, dann wurde das Museum geschlossen. Ab 6 Uhr früh des nächsten Tages wurde alles vom Vortag abgebaut und ab 9 Uhr war es dann an dem/ der nächsten KünstlerIn, das eigene Projekt auszuführen. Es gab einen klar definierten Etat von 300 – 400 Euro; also hat neben der Infrastruktur des Museums auch der finanzielle Rahmen

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„One-Night Stand: 21 Abende – 21 Eröffnungen“, Landesgalerie Linz, 01.09.– 21.09.2009.

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Abb. 2: Ausstellungsansicht: „Katharina Gruzei – Sander remixed“ im Rahmen von „One-Night Stand: 21 Abende – 21 Eröffnungen“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 2009

eine Rolle gespielt. Mit diesem Ansatz von „Zeitlichkeit“ wurden verschiedene kunstrelevante Aspekte aufgegriffen: Wer ist zu diesem Zeitpunkt künstlerisch oder kuratorisch in Linz tätig? Wie funktionieren Ausstellungen und wie lange dürfen oder müssen sie dauern? War zu Beginn das Besucherinteresse sehr groß, so ließ es mit zunehmender Ausstellungsdauer deutlich nach. Ein konkretes Projekt, das für unser Thema relevant ist, ist „IN SITU“, an das sich einige von Ihnen – es fand anlässlich von „Linz09 – Kulturhauptstadt Europas“ statt – sicherlich erinnern.4 Im Stadtraum gab es an unterschiedlichen Stellen ephemere Hinweise auf Menschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus deportiert und ermordet wurden. Ein Aspekt war z.B., dass die Namen mit Staubzucker auf den Boden aufgetragen wurden. Ein Projekt von Katharina Gruzei5 führt nun zu einer ganz zentralen Fragestellung. Gruzei, eine in Linz lebende Fotografin, hat sich bei Sander remixed mit einem Fotografen auseinandergesetzt, der ebenfalls in Linz gelebt und gearbeitet hat: August Sander hat hier von 1901 bis 1909 im Medium der Fotografie eine Typologie entwickelt, die unter dem Titel Menschen des 20. Jahrhunderts berühmt wurde. Gruzei hat eine Spurensuche zu Sander in Linz unternommen, zudem auf Flohmärkten Fotografien des frühen 20. Jahrhunderts gekauft und auch sich selbst fotografisch festgehalten. Sie reflektierte in ihrer Arbeit die Frage von Parallelen und fotografischen Typologien (Abb. 2). 4

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Höss, Dagmar/Sommer, Monika/Uhl, Heidemarie (Hg.), IN SITU. Zeitgeschichte findet Stadt: Nationalsozialismus in Linz / Relocating Contemporary History: National Socialism in Linz. Ein Projekt für Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas, Weitra 2009. Katharina Gruzei, Sander remixed, im Rahmen von „One-Night Stand: 21 Abende – 21 Eröffnungen“, Landesgalerie Linz, 15.09.2009.

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Ich erachte August Sander als eine Schlüsselfigur, wenn es darum geht, über das Thema „Zeit und Zeitlichkeit“ zu sprechen. Sehr bekannt ist beispielsweise der berühmte Handlanger (1928) mit den schwer auf seinen Schultern lastenden Ziegeln. Sander hat nicht in einem anonymen Studio gearbeitet, er ist hinausgegangen in die Welt und hat die Menschen in ihrem natürlichen Umfeld fotografiert, dort, wo sie leben und arbeiten. Er hat damit Ikonen der Kunstgeschichte bzw. des visuellen Gedächtnisses geschaffen, wie z.B. die Jungbauern von 1914, die sich anschicken, in ihren besten Kleidern zum Kirchtag zu marschieren, oder auch den Konditor (1928). Es sind Typen, die ihn interessiert haben, und sein Versuch war, über Berufsbilder das Portrait einer Gesellschaft zu zeichnen: Menschen des 20. Jahrhunderts – ein Projekt, das Sander bis zu seinem Tod 1964 verfolgt und das ihm einen besonderen Platz in der Kunstgeschichte gesichert hat.6 Bereits 2005 konnten wir in der Landesgalerie seine Arbeiten aus den Linzer Jahren präsentieren.7 Es ist damals zu einem unserer Schwerpunkte geworden, KünstlerInnen zu zeigen, die sich in ihrer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte entweder ausdrücklich auf Sander beziehen oder mit ihm in Verbindung gebracht werden können. Die Bilder, die ich im Folgenden zeigen möchte, würden Sie sofort mit Sander in Verbindung bringen. Doch sie sind von Fiona Tan, die bei der documenta 2002 mit dem Projekt Countenance großes Aufsehen erregt hat.8 Die in Australien und Indonesien aufgewachsene Künstlerin, die für Studienzwecke nach Europa kam, realisierte es als Projekt des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin. Tan war eingeladen, als Künstlerin von außen einen Blick auf die deutsche Identität zu werfen. Das, was für die Künstlerin am meisten mit deutscher Identität verknüpft war, sind die Menschenbilder von Sander. Dabei versuchte sie auch Berufsgruppen mithineinzunehmen, die bei Sander noch nicht vorge-

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August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein Kulturwerk in Lichtbildern eingeteilt in sieben Gruppen, Konzeption d. bearb. Neuausg. Gabriele Conrath-Scholl, hg. v. Die Photographische Sammlung/SK-Stiftung Kultur, München 2010. August Sander. Linzer Jahre. 1901–1909 (AK, Landesgalerie Linz, 01.12.2005 –  08.01.2006, Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, 10.02.–  07.05.2006), hg. v. Landesgalerie Linz u. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, München 2005 Fiona Tan. Countenance (Exhib. cat., Museum Modern Art Oxford, 05.04.– 29.05.2005), ed. by Suzanne Cotter, Oxford 2005.

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Abb. 3: Ausstellungsansicht: „Fiona Tan – Mirror Maker“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 2006, im Bild: Countenance, 2002, Videoinstallation, Ausschnitt

kommen waren bzw. vorkommen konnten. Der geniale Kunstgriff war – wie Sie es hier in der Ausstellungsansicht der Landesgalerie erfassen können (Abb. 3)9 –, dass Tan diese Bilder nicht wie Sander fotografisch präsentiert hat, sondern als Filme. Bei dieser Installation, die aus drei im Raum hängenden Screens besteht, wurde das Bild des Menschen durch einen verborgenen Beamer auf die Leinwände projiziert. Tan filmte die Menschen so, als ob sie für eine Fotografie posieren würden. Das, was in Folge die Rezeption und den theoretischen Diskurs geprägt hat, war der Gedanke, dass es bei dieser Arbeit um eine Rückgabe der Zeit an das fotografische Bild gehe, die dadurch erreicht wird, dass Menschen zwar wie für Fotos posieren, dabei aber gefilmt werden. Es war für mich der Anstoß zu einer Beschäftigung mit dem Zeitbegriff in der Fotografie an der Schnittstelle zum Film – eine Fragestellung, die damals an unterschiedlichen Orten virulent wurde. Beispielsweise hat sich die Tate Modern 2005 unter Einbindung von Tan mit Zeitphänomenen in der zeitgenössischen Kunst beschäftigt.10 Es ließe sich eine Reihe Fiona Tan. Mirror Maker (AK, Kunsthallen Brandts, Odense, 25.02.– 21.05.2006, Landesgalerie Linz, 01.06.–13.08.2006, Bergen Kunstmuseum, 01.09.– 03.12.2006, Porin Taidemuseio, 26.01.– 20.05.2007), hg. v. Dag Erik Elgin, Martin Hochleitner u. Thorsten Sadowsky, Heidelberg 2006. 10 „Time Zones: Recent film and video“, Tate Modern, London, 06.10.2004 – 02.01.2005. 9

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weiterer Arbeiten von Tan anführen, die Fragen von Film, Fotografie und Zeit vor Augen führen. In einer filmischen Arbeit, die auch in der Landesgalerie Linz gezeigt wurde, sieht man die Künstlerin während einer stundenlangen Aufnahme regungslos auf einer stark befahrenen Straße stehen. Beim Abspielen entsteht der Eindruck, als würde die Künstlerin, die ja unbewegt in diesem permanenten Strom der Bewegungen verharrt, sich in einem ganz eigenen Raum-Zeit-Kontinuum befinden. Ein weiteres Schlüsselphänomen, das in den letzten Jahren oft diskutiert wurde, besteht in der Etablierung eines solch eigenen Raum-Zeit-Kontinuums. Auf Einladung des Museum of Contemporary Art in Chicago hat Tan 2004 ein Projekt realisiert, in dem sie auf den starken Ausbau von Gefängnissen unter George Bush sowie auf die Beschränkung von Bürgerrechten Bezug genommen hat. Für eine Arbeit mit dem Titel Correction hat Tan verschiedene Personen und deren Rolle in Gefängnissen gefilmt und sie in einer konfrontierenden Präsenz im Ausstellungskontext vorgestellt. Eine andere Arbeit heißt Tomorrow, für die sie 2005 mit Jugendlichen in Schulen zusammengearbeitet hat und bei der es ihr gelang, die SchülerInnen für den fotografischen Blick zu sensibilisieren. Ein weiteres Projekt, Tuareg (1999), beruht auf einer kurzen Filmsequenz aus dem niederländischen Filmarchiv, die Fiona Tan bearbeitet hat. Diese Sequenz zeigt eine Gruppe von Kindern aus einem Tuareg-Stamm, die sich auf eine fotografische Aufnahme vorbereiten; auch ein Kameramann und ein Fotograf sind zu sehen. Das Kuriose dabei ist, dass es eine Szene gibt, in der eines der Kinder die anderen an den Haaren zieht und die ganze Situation in ein Spiel verwandelt. Die Kinder lachen und konterkarieren damit die Momente, in denen sie dem fotografischen Dispositiv entsprechen, indem sie ruhig stehen. Die Fotografie, die zunächst dem kolonialen Blick zu genügen sucht, entlarvt ihre eigenen Voraussetzungen. Ich möchte einen zweiten Künstler vorstellen, der bei einer Ausstellung zur Frage der Visualisierung von Zeit im Medium der Fotografie (Lehnbachhaus in München, 2004/05)11 vielfache 11 David Claerbout (AK, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, 16.10.2004 –16.01.2005, Dundee Contemporary Arts, 08.10.– 04.12.2005), hg. v. Susanne Gaensheimer u.a., Köln 2004.

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Aufmerksamkeit auf sich zog: den belgischen Künstler David Claerbout. Ich zeige eines seiner bekanntesten Werke, in dem ein amerikanisches Kriegsflugzeug im Moment seiner Zerstörung zu sehen ist. Es handelt sich um ein Flugzeug, das im Vietnamkrieg durch sogenanntes friendly fire, also durch die eigenen Truppen, abgeschossen wurde. Claerbout hat sich auf eine jahrzehntelange Spurensuche begeben und ist letztlich an genau den Ort zurückgekehrt, an dem diese Aufnahme entstanden ist. Für Vietnam, 1967, near Duc Pho (2011) hat er die Landschaft, das Licht und die Wolkenstimmung gefilmt und sie dann mit dem stillgestellten Moment der Zerstörung gekoppelt. In der Ausstellung sind beide Elemente miteinander verbunden. Menschen, die in Eile sind, werden nicht registrieren, dass behutsame Lichtveränderungen im Spiel sind oder dass die Wolken vorbeiziehen. Auch hier sind filmisches Medium, fotografisches Bild und Zeit ineinander verwoben. Das Schlüsselwort hier ist „visibility of time“ – und bei Claerbout auch noch „out of space“. Das sind zentrale Begriffe, welche die 2000er Jahre geprägt haben. Für mich wurde das kuratorisch ein wichtiges Thema: Gibt es weitere KünstlerInnen, die so gearbeitet haben? Und wie kann ich den Raum des Museums integrieren? Ein Projekt, das ich dazu zeigen möchte, ist vom jungen Künstler Sebastian Stumpf.12 Er hat Filme stets an dem Ort gedreht, an dem er sie später präsentiert hat. Das erkennen Sie etwa bei einer Stiegenhaussituation in der Landesgalerie, wo Stumpf verbotenerweise auf dem Stiegengeländer hinuntergerutscht ist.13 Über die Zusammenführung von Realraum und filmischem Raum gelingt es, die Zeit des Kunstwerks und die Zeit der Rezeption aufeinander zu beziehen. In den 2000er Jahren, in denen die digitale Bildmanipulation eine große Rolle spielte, kam es zu starken Verunsicherungen bei den RezipientInnen: Ist es real oder konstruiert? Stumpf, der den BetrachterInnen in diesem Film regelrecht entgegenspringt, hat eine spezielle Hüpftechnik entwickelt, sodass es wirkt, als wäre er in die Aufnahme

12 Sebastian Stumpf. Never Really There (AK, Landesgalerie Linz, 19.11.2009 – 31.01.2010), hg. v. Stefanie Hoch, Martin Hochleitner u. Sebastian Stumpf, Linz 2009. 13 Sebastian Stumpf, Performance #20, Landesgalerie Linz, 2009, 54 Sekunden (Loop), aus der Werkgruppe Weiße Räume verlassen. Vgl. ebd., 68 –71.

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hineinmontiert. Doch es handelt sich um ein reales Bewegungsmoment und ein eigenes Raum-Zeit-Kontinuum. Ich zeige dazu noch ein letztes Beispiel von einem sehr bekannten Künstler, Beat Streuli, der vor allem in Großstädten gearbeitet hat. Er hat mit hochwertigen Teleobjektiven in Menschenmengen hineinfotografiert und darin einzelne Menschen in ihrer je eigenen Zeitlichkeit zu erfassen gesucht. Wenn etwa eine große Menschenmenge auf die U-Bahn wartet, entsteht ein eigenes Raum-Zeit-Kontinuum, das Streuli in signifikanter Weise vorzuführen vermag.14 Eine künstlerische Arbeit von Inge Dick führt mich zu meinem nächsten Thema. Sie ist eine Künstlerin, die in der Gemeinde Innerschwand am Mondsee (Oberösterreich) lebt und arbeitet und die auch im sakralen Bereich eine Reihe architekturbezogener Kunstprojekte realisiert hat. Ich habe von dieser Künstlerin viel über das Thema Zeit gelernt. Bei der Benennung ihrer Arbeiten und Ausstellungen spielt sie ganz explizit mit dem Begriff der Zeit, so z.B. in der Ausstellung „Lichtzeiten“15, in der auch die Serie Tageslicht gezeigt wurde. Inge Dick stellt die Frage nach Zeit im Medium der Malerei. Sie schafft großformatige weiße Malereien, in welche sie verschiedene Farbstimmungen, Licht- oder Schattenwirkungen in höchst subtiler und sehr zurückhaltender Weise einzuarbeiten versucht. Wenn man eine Leinwand von Inge Dick betrachtet, ist unklar, ob man einen realen Schatten betrachtet bzw. ob ein gewisser leichter RotTon eine Reflexion der neben dem Bild befindlichen Holzwand ist oder dieser gemalt worden ist. Ich beschreibe hier eine sinnliche Qualität der Arbeiten, die nur sehr schwierig festgehalten werden kann. Ein Beamer vermag die feine Textur der Malerei kaum zu vermitteln. Inge Dick beschäftigt sich seit den 1980er Jahren mit dem Problem, dass eine Reproduktion die Qualität des Originals niemals wiederzugeben vermag. Für ihre Experimente hat sie das damals am leichtesten verfügbare und zu dieser Zeit schnellste Medium verwendet: Polaroid. Wenn Sie mit einer Polaroid-Ka-

14 Vgl. die Website des Künstlers mit Bildergalerie („Images“): http://www.beatstreuli.com/ home.html [Stand: 23.02.2016]. 15 Inge Dick. Lichtzeiten (AK, Landesgalerie Linz, 06.03.–18.05.2008), red. v. Inge Dick u. Gabriele Hofer, Salzburg 2008.

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mera eine weiße Fläche fotografieren, ergibt sich je nach realem Lichteinfall eine besondere Farbigkeit. Wenn es ganz hell ist, ist die Fotografie weiß, aber wenn es dämmrig ist, entsteht ein blaues Polaroid, das mit Rücknahme des Sonnenlichtes immer dunkler und in der Nacht völlig schwarz wird. 2011 erhielt Inge Dick für ihre Arbeiten den Großen Kulturpreis des Landes Oberösterreich (Alfred-Kubin-Preis). Für das Jahreszeitenprojekt fotografierte die Künstlerin genau an jenen Tagen eines Jahres,

Abb. 4: Ausstellungsansicht: „Inge Dick – Lichtzeiten“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 2008, im Bild: Jahreszeitenprojekt, 1989

an denen spezielle Lichtverhältnisse gegeben sind, nämlich zur Sommersonnenwende und Wintersonnenwende. Dick fotografierte 24 Stunden lang nach einem bestimmten Zeitraster, beginnend um Mitternacht, eine weiße Fläche in ihrem Atelier. Je nach (Jahres-)Zeit, ist diese Fläche z.B. im Sommer heller als im Winter, wenn die Tage kürzer sind (Abb. 4). Als ich diese Bilder in den frühen 1990er Jahren zum ersten Mal gesehen habe, war es für mich spannend zu beobachten, wie eine Künstlerin an der Schnittstelle von Malerei und PolaroidFotografie das Thema Zeit sehr konzise in ihre Arbeit integriert. Obwohl Polaroid-Fotografie ein neues Medium war, konnte Dick, die seit den 1970er Jahren als konstruktivistische Malerin rezipiert wurde, es für ihre Zwecke optimal nutzen. Sie foto-

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grafierte mit System und hielt so die Veränderung des Lichtes während eines Tages in einem bestimmten zeitlichen Abstand fest. Dazu nutzte sie sowohl die kleine Polaroidkamera, das Mittelformat (50 x 70 cm) als auch die große Polaroidkamera. Letztere wurde in Boston, wo das Museum of Fine Arts die weltweit größte Polaroidkamera entwickelt hat, genutzt, um 1:1-Reproduktionen von historischen Gemälden aus der Museumssammlung ohne Körnung anzufertigen. Für Dick ging mit der Einstellung von Polaroid diese Arbeitsphase zu Ende. Im Zuge der Ausstellung „Lichtzeiten“ (2008) ist Inge Dick in medialer Hinsicht den nächsten Schritt gegangen. Seitdem arbeitet sie mit dem Medium Film, und zwar mit dem gleichen Prinzip: Sie filmt die Veränderung des Lichtes. Bei einer Installation in der Landesgalerie haben wir damals das Filmprojekt zinnober – gedreht am 4. August 2007 zwischen 7 Uhr morgens und 20.30 Uhr abends in Dicks Atelier am Mondsee – in Echtzeit, im Sinne der konkreten Tageszeit der Aufnahme, gezeigt. Es ist ein schöner Rückgriff auf die eingangs erwähnte Arbeit The Clock von Christian Marclay. Für Menschen, die nur wenig Zeit hatten, war diese Arbeit kaum erschließbar. Sie verfolgt den Verlauf der Lichtveränderung und der Farbintensität während eines Tages vom Dunklen zum Hellen. Letztlich sind es nicht einzelne fotografische Aufnahmen, wie man annehmen könnte, sondern Stills aus einem Film, was die Zeitstruktur der künstlerischen Arbeit von Dick noch einmal hervorhebt. Auch für Wolfgang Laib bildet das Phänomen Zeit ein zentrales Thema seiner künstlerischen Aufmerksamkeit.16 Dabei bildet der Zeitaspekt in der Natur den Ausgangspunkt der Arbeiten. Für seine berühmte Serie Milchsteine (seit 1975) erzeugt er auf der Oberfläche eines Steins eine millimeterdünne Vertiefung, die auf solche Weise mit Milch benetzt wird, dass für eine bestimmte Dauer das Weiß und die Materialität der Milch als reine Fläche erscheinen – als wäre die Milch mit dem Stein verschmolzen. Erst durch die Luftverschmutzung wird die Fläche allmählich getrübt und wird man sich der Tatsache bewusst, dass die Oberfläche der Skulptur von anderer Materialität als die des Steines ist.

16 Wolfgang Laib. Das Vergängliche ist das Ewige (AK, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 27.11.2005 – 26.02.2006), red. v. Delia Ciuha, Ostfildern-Ruit 2005.

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Ich möchte an dieser Stelle auch auf ein Ausstellungsprojekt meines Vorgängers an der Landesgalerie, Peter Assmann, hinweisen: „Zeitskulptur. Volumen als Ereignis“ (1997).17 Es ist insofern von besonderem Interesse, als hier der Aspekt der Skulptur in die Zeitlichkeit eindringt. Mein primärer Ausgangspunkt waren Medien wie die Fotografie und der Film, in denen Zeit eine immanente Struktur bildet, doch auch der Ereignischarakter gehört hervorgehoben: Zeit kann im 20. Jahrhundert nicht nur mit performativen Ansätzen, sondern überhaupt mit der Erweiterung und Veränderung des Kunstbegriffs gekoppelt werden. Ein österreichischer Künstler, der Zeit explizit in all seine Werkprozesse integriert, ist Erwin Wurm, der die berühmten one minute sculptures (seit 1988) geschaffen und die Bezeichnung als solche geprägt hat. Eine dieser Arbeiten, die den Titel Getting Fat/Konfektionsgröße 50 zu 54 (1993) trägt, bildet gewissermaßen das Gegenmodell zu einer Diät. Wurm zeigte damals in der Landesgalerie einen Tisch mit Hockern; auf einem lag ein schwarzes Buch, dem Handlungsanweisungen zu entnehmen waren, wie man innerhalb von acht Tagen von Konfektionsgröße 50 auf 54 gelangen könne. Jeder Tag war mit Frühstück, Mittagessen, Abendessen und mehreren Zwischenjausen in extremer Kaloriendichte versehen. Dabei wurde die Anweisung in Form einer Zeichnung formuliert. Als performativer Akt wird diese erfüllt, wenn – wie es im Kunsthaus Bregenz zu sehen war18 – die entsprechenden Handlungen durch Menschen ausgeführt werden. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist, in welchem Medium die Skulptur von Wurm funktioniert. Ist es die Handlungsanweisung, über die wir uns austauschen können? Ist es die Zeichnung? Ist es der performative Akt? Oder der in der Fotografie festgehaltene Zustand? Erwin Wurm hat sich auch intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie ein Kunstwerk heute wirkt und auf welche Weise dieses Kunstwerk in der Zukunft wahrgenommen werden wird. Er erprobte etwa, ob das Muster eines bestimmten Kleidungsstückes aus den 1990er Jahren,

17 Zeitskulptur. Volumen als Ereignis (AK, Landesgalerie Linz, 25.04.– 25.05.1997), red. v. Peter Assmann, Weitra 1997. 18 Erwin Wurm. one minute sculptures. Werkverzeichnis (AK, Kunsthaus Bregenz, 30.01.– 05.04.1999, Fonds Régional d’Art Contemporain de Bourgogne, Dijon, 17.04.– 29.05.1999, Centre d’Art Neuchâtel, 02.05.– 20.06.1999), hg. v. Kunsthaus Bregenz/Edelbert Köb, Ostfildern-Ruit 1999.

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das man in eine Skulptur integriert, in der Rezeption aufgrund seiner Farbigkeit, der Materialität und des Musters mit einem bestimmten Zeithorizont und einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppierung verbunden wird. Er fragte sich: Wie kann ich das, was ich heute zeige, so artikulieren, dass es auch in 30 Jahren noch erfasst wird? Wirkung und Rezeption eines Kunstwerks werden dabei in Bezug auf die je eigene Zeitlichkeit – die der Produktion und die der Rezeptionen – konzipiert. Anhand der vorgestellten Beispiele habe ich versucht, das Thema „Zeit und Zeitlichkeit“ von der jeweiligen künstlerischen Produktion ausgehend und geknüpft an die entsprechenden medialen Zuordnungen zu vermitteln. Im Folgenden möchte ich auf die Fragestellung nochmals gezielt im Rahmen meiner eigenen kuratorischen Tätigkeit zu sprechen kommen. Es ist grundsätzlich so, dass sich über Sprache und bestimmte Begriffe zahlreiche Verbindungen zu Zeit finden lassen. Welche Worte und Begriffe hat man in der Vergangenheit für die Konzeption und Rezeption von Kunst gebraucht? In welchen Begrifflichkeiten reden wir heute? Das Thema „Kunst über Kunst“, mit dem ich mich unter anderem in meinen Vorlesungen zur Kunstgeschichte an der Kunstuniversität Linz beschäftigt habe, führte mich dazu, KünstlerInnen zu recherchieren, die auf einer Metaebene Aspekte der Zeit thematisieren. Mir erschien es praktikabler, Kunstwerke zu zeigen, die jetzt entstehen, als auf die immer gleichen Schwarz-Weiß-Dias zurückzugreifen. Eine Fotografie von Thomas Struth etwa zeigt den Pergamonaltar, einen hellenistischen Altar, der am Ende des 19. Jahrhunderts nach Deutschland gebracht und für den in Berlin ein eigenes Museum errichtet worden ist. Struth ließ sich aus der Besucherstatistik eine repräsentative Besuchergruppe zusammenstellen, wie sie an einem durchschnittlichen Dienstag um 11 Uhr im Pergamonmuseum anzutreffen wäre, und inszenierte an einem Schließtag diese Betrachtungssituation. Die ProtagonistInnen erhielten Handlungsanweisungen, für eine Rezeptionssituation typische B. ein Fachgespräch zwischen Aktionen auszuführen, wie z.  Besucher und Restaurator zu imitieren. Auf diese Weise wird eine Dialogsituation zwischen den verschiedenen Zeitebenen hergestellt, in diesem Fall zwischen der historischen Zeitebene des Pergamonaltars und der Zeitebene seiner Rezeption.

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Vertiefen wir die Analyse dieses zweiteiligen Moments, indem ich eine Arbeit aus dem Jahr 2003 vorstelle, die sich in den Kontext der Vanitas-Darstellung einschreiben lässt: Still Life (Candle) von Louise Lawler, einer amerikanischen Konzeptkünstlerin. Zu sehen sind eine erloschene Kerze und leere Gläser sowie an der Wand darüber eines der Datumsbilder des japanischen Konzeptkünstlers On Kawara. On Kawara fertigte viele Jahre lang Bilder an, auf deren Vorderseite ein Datum geschrieben steht und auf deren Rückseite eine reale Tageszeitung dieses Datums geklebt ist. Lawler setzt sich auf diese Weise mit dem Betriebssystem Kunst auseinander, indem sie nach dem Verbleib der Bilder fragt. Eine Künstlerin, die sich in ähnlicher Weise mit dieser Problematik beschäftigt, ist Candida Höfer. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle Zeitbilder in ihrer jeweiligen räumlichen Situation zu fotografieren, auch jene, die sich nicht in Sammlungen, sondern in privaten Interieurs befinden. Neben diesen beiden Überlegungen hinsichtlich Struth bzw. Lawler und Höfer interessiert mich das Thema des Reenactments. Eine wichtige Fragestellung der letzten Jahre war, sich mit performativen Arbeiten aus der Kunstgeschichte zu beschäftigen und eine Form der Wiedervergegenwärtigung zu finden. Francis Alÿs kauft im Zuge seiner Performance Reenactment (2000) eine Pistole in einem Waffenladen und spaziert mit dieser – öffentlich zur Schau gestellt – durch die Straßen Mexiko Citys. Zwischen dem Waffenkauf und der gewaltsamen Festnahme durch die Polizei liegen 11 Minuten und 54 Sekunden. Am nächsten Tag wiederholt er diesen Spaziergang, wobei er dieses Mal statt der Pistole ein Replikat verwendet. Auch dieses Mal eilen Polizisten herbei, um den Bewaffneten festzunehmen, doch sie sind in die Aktion eingeweiht und handeln als Akteure und Mitspieler in einem performativen Prozess. Das Reenactment seines eigenen Tuns führt zu einer spezifischen Beobachtungssituation dieses dramatischen Moments. Das Verstreichen der Zeit, das Altern und die eigene Sterblichkeit sind Themen, die uns unter anderem in Form einer Midlife Crisis bewusst werden können. Dazu gibt es eine ganze Reihe von künstlerischen Arbeiten, so etwa von der japanischen Fotografin Miwa Yanagi. Für die Serie My Grandmothers (ab 2000) hat sie junge Frauen eingeladen, sich in einer Situation zu beschreiben,

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Abb. 5: Ausstellungsansicht: „Hans-Peter Feldmann“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 2008, im Bild: 100 Jahre, 2001, Ausschnitt

wie sie in 50 bis 60 Jahren das eigene Alter erleben werden. Entsprechend den Vorstellungen der Befragten wurden diese geschminkt und kostümiert und in der jeweiligen Situation fotografiert. Es sind sehnsüchtige, melancholische Bilder, die eine in die Zukunft gerichtete Konstruktion des Alters darstellen. Eine weitere packende Arbeit stammt von Hans-Peter Feldmann: Das Projekt 100 Jahre.19 Feldmann hat 100 Bilder aneinandergereiht, die Menschen vom 1. bis zum 100. Lebensjahr zeigen (Abb. 5). Es war eine Arbeit, die von BesucherInnen in der Landesgalerie intensiv betrachtet wurde. Eine der Grundfragen, die während des Betrachtens oft diskutiert wurde, war: „Zeichnet es sich ab, wenn ein Mensch von einem Lebensalter in ein anderes übertritt?“ Es wurde versucht, dem Einfluss der Zeit auf den menschlichen Körper auf die Spur zu kommen. Ein zweites großes Interesse der BetrachterInnen galt den Bildern, die dem jeweils eigenen Lebensalter entsprachen. Die letzte Ausstellung, die ich für die Landesgalerie Linz kuratiert habe, war die Ausstellung „AGES. Porträts vom Älterwer-

19 Hans-Peter Feldmann. 100 Jahre (AK, Museum Folkwang Essen, 16.03.– 06.05.2001), München 2001.

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Abb. 6: Ausstellungsansicht: „AGES. Porträts vom Älterwerden“, Landesgalerie Linz am Oberöster­ reichischen Landesmuseum, 2013/14, im Bild: Nicholas Nixon, Brown Sisters, 1975–2012

den“20 – ein Thema, das mich persönlich berührt und fasziniert hat. Für die Serie Brown Sisters fotografierte der Amerikaner Nicholas Nixon seit den 1970er Jahren vier Schwestern. Jedes Jahr entstand ein Bild, auf dem die Schwestern in immer gleicher Reihenfolge nebeneinander zu sehen sind (Abb. 6). Man spürt auf sehr eindringliche Weise den Zeitaspekt in Form des Älterwerdens und der Veränderung. Geradezu dramatisch wird es, wenn man die Bilder rasch an sich vorbeiziehen lässt. Die Ausstellung „AGES. Porträts vom Älterwerden“ hat viele Menschen nicht zuletzt deshalb berührt, weil sie sich auf persönliche Weise dem Thema der Vergänglichkeit nähern und die eigene Vergänglichkeit im Spiegel der Kunst wahrnehmen konnten. Ein weiterer Künstler, den ich in dem Zusammenhang erwähnen möchte, ist der 2011 verstorbene Roman Opałka. In einem fortlaufenden Projekt hat sich Opałka jeden Tag selbst fotografiert und so den schleichenden Veränderungsprozess festgehalten, den man an sich selbst normalerweise nicht wahrnimmt. In ähnlicher Weise hat Rineke Dijkstra gearbeitet, 20 AGES. Porträts vom Älterwerden (AK, Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, 22.03.–28.07.2013, Landesgalerie Linz, 07.11.2013–16.02.2014), hg. v. Landesgalerie Linz u. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Salzburg 2013.

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die für das Langzeitprojekt Almerisa (1994 – 2008) das Heranwachsen eines Mädchens vom siebenten Lebensjahr an über 14 Jahre hinweg begleitet hat. Das letzte Beispiel, das ich in diesem Zusammenhang zeige, hat nochmals mit August Sander zu tun. Es ist eine Aufnahme von seinen beiden Kindern Erich und Gunther, die in Linz zur Welt gekommen sind. Diese Aufnahme führt mich zu Ernest, einer Fotografie von André Kertész, die 1931 entstanden ist. Mit diesem Bild hat sich Roland Barthes in seinem Buch Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, in dem er u.a. das Verhältnis von Zeit und Fotografie thematisiert, intensiv beschäftigt. Beim Betrachten des Fotos schreibt Barthes: „Es ist möglich, daß Ernest, den Kertész 1931 fotografiert hat, heute noch lebt (doch wo? wie? welch ein Roman!).“21 Weiters fragt Barthes nach der „Gewißheit“ der Fotografie: Denn sie „sagt (zwangsläufig) nichts über das, was nicht mehr ist, sondern nur und mit Sicherheit etwas über das, was gewesen ist. […] [D]as Wesen der PHOTOGRAPHIE besteht in der Bestätigung dessen, was sie wiedergibt.“22 Damit spricht er der Fotografie eine beglaubigende oder bestätigende Kraft zu. Diese Aussage muss im Diskurshorizont der 1970er Jahre gesehen werden, wo viel über das Authentische und das Dokumentarische gesprochen wurde. Ich halte es für gut, den Bogen von einem gewissen melancholischen Aspekt der Zeitlichkeit, der auch die Vanitas-Darstellung mit seinem belehrenden „Memento mori“ einholt, bis hin zur Beleuchtung des Themas Zeit im medialen Diskursfeld zu spannen, wenn man sich mit dieser umfassenden Kategorie von „Zeit und Zeitlichkeit“ befasst. Anhand dieser letzten Beispiele wollte ich die Sichtbarmachung eines konkreten Veränderungsprozesses als den Kern meines kuratorischen Anliegens verdeutlichen. Diese Sichtbarmachung resultiert aus der Vergleichsmöglichkeit von Aufnahmen, die in ihrem Nebeneinander die jeweiligen Spuren des Alterns erkennbar werden lassen. So schreibt sich genau zwischen die Bilder, die einen konkreten Augenblick festhalten, die eigentliche Ge-

21 Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1986, 93 – 95 (Hervorhebung im Original), als Bildunterschrift in etwas verkürzter Form ebd., 94. 22 Ebd., 95 (Hervorhebungen im Original).

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schichte des Lebens ein und lässt dadurch die Fotografie einmal mehr als ein Medium mit besonderer Relevanz für den Faktor Zeit und ihre spezifische Ablesbarkeit in Erscheinung treten. Aus der Diskussion Frage: Würden Sie „Zeit und Zeitlichkeit“ bloß im Medium Fotografie sehen oder auch bezogen auf die Malerei? Martin Hochleitner: Ja, absolut, denn das Prozesshafte insgesamt ist ja seit den 1960er Jahren zu einem Schlüsselbegriff der Kunst geworden. Deshalb habe ich diesen kleinen Hinweis auf das Projekt „Zeitskulptur“ von Peter Assmann gegeben, damit deutlich wird, dass sich dieses Thema auch im performativen oder auch skulpturalen Bereich verorten ließe. Wenn ich über ein Thema spreche, so ist es für mich am besten, aus meiner eigenen Erfahrung zu schöpfen. Der Fotografie gilt schon seit vielen Jahren meine kunstwissenschaftliche und kuratorische Aufmerksamkeit – und ich finde dieses Medium sehr ergiebig für eine Erörterung der Frage nach „Zeit und Zeitlichkeit“. Frage: Sehen Sie beim Thema Zeit einen Bezug von Kunst zur Philosophie? M. H.: Ich bin ganz im Bereich der Kunst und der Medientheorie zu Hause – das gestehe ich gerne ein. Aber natürlich ist es interessant, den philosophischen Spiegel zu suchen – wie es etwa bei dieser Ringvorlesung unternommen wird –, weil ich überzeugt bin, dass es hier parallele Denkmuster und -strukturen gibt. Frage: Ist der Zeitaspekt erst mit den „neuen Medien“ wichtig geworden? M. H.: Als der Film aufkam, wurde diskutiert, ob der Film erstmals den Zeithorizont eröffnet. Aber letztlich macht bereits die Fotografie die Zeitlichkeit prägnant sichtbar – sowohl im Schnellen wie im Langsamen, also von den Bewegungsstudien auf der einen Seite bis zu den langsamen Veränderungen der Menschenbilder auf der anderen Seite.

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Frage: Mich würde das Thema „Fotografie und Illusion“ näher interessieren. Könnten Sie etwas genauer darauf eingehen? M. H.: In den letzten Jahren hat es viele Diskurse über die Konstruktion von Wirklichkeiten gegeben. Das sehe ich auch Hand in Hand mit den neuen Möglichkeiten, welche die digitalen Welten eröffnet haben. Andererseits lässt sich leicht feststellen, dass Fragen des Originals und der Authentizität bzw. des Dokumentarischen genauso alt sind wie die Geschichte der Fotografie selbst. Man bemerkt, dass die Inszenierung und die Fiktion bzw. Konstruktion von Anfang an in das Medium Fotografie mit eingeflossen sind, und zwar selbst dann, wenn es dokumentarisch gelesen wurde. Frage: Ich versuche gerade den Begriff des Atmosphärischen mit den Bildern aus Ihrem Vortrag in Beziehung zu setzen. Bei der Wahrnehmung von Film und Fotografie ist es, als würde ein Moment noch einmal stattfinden. Könnte man dann von „konservierter Zeit“ sprechen? M. H.: Das ist ein Phänomen, über das erst kürzlich bei einem Symposion über das Dokumentarische gesprochen wurde. Für mich war dabei von besonderem Interesse, dass wir die Kategorien „dokumentarisch“ in dieser Form gar nicht mehr aufrechterhalten können. Wenn ich mir zum Beispiel einen Peter-Alexander-Film aus den 1950er Jahren ansehe, würde ich ihn nicht als Dokumentarfilm bezeichnen wollen, aber natürlich kann ich ihn mir unter einem dokumentarischen Gesichtspunkt vergegenwärtigen, wenn ich ein Interesse an der Alltagskultur der 1950er Jahre habe.

Literatur AGES. Porträts vom Älterwerden (AK, Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, 22.03.–28.07.2013, Landesgalerie Linz, 07.11.2013–16.02.2014), hg. v. Landesgalerie Linz u. Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Salzburg 2013 Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M. 1986 David Claerbout (AK, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München, 16.10.2004 –16.01.2005, Dundee Contemporary Arts, 08.10.– 04.12.2005), hg. v. Susanne Gaensheimer u.a., Köln 2004

Zeitlichkeit | Martin Hochleitner Inge Dick. Lichtzeiten (AK, Landesgalerie Linz, 06.03.–18.05.2008), red. v. Inge Dick u. Gabriele Hofer, Salzburg 2008 Hans-Peter Feldmann. 100 Jahre (AK, Museum Folkwang Essen, 16.03.– 06.05.2001), München 2001 Höss, Dagmar/Sommer, Monika/Uhl, Heidemarie (Hg.), IN SITU. Zeitgeschichte findet Stadt: Nationalsozialismus in Linz / Relocating Contemporary History: National Socialism in Linz. Ein Projekt für Linz 2009 Kulturhauptstadt Europas, Weitra 2009 Wolfgang Laib. Das Vergängliche ist das Ewige (AK, Fondation Beyeler, Riehen/Basel, 27.11.2005 – 26.02.2006), red. v. Delia Ciuha, Ostfildern-Ruit 2005 August Sander. Linzer Jahre. 1901–1909 (AK, Landesgalerie Linz, 01.12.2005– 08.01.2006, Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln, 10.02.– 07.05.2006), hg. v. Landesgalerie Linz u. Die Photographische Sammlung/ SK Stiftung Kultur, München 2005 August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts. Ein Kulturwerk in Lichtbildern eingeteilt in sieben Gruppen, Konzeption d. bearb. Neuausg. Gabriele Conrath-Scholl, hg. v. Die Photographische Sammlung/SK-Stiftung Kultur, München 2010 Hans-Christian Schink. 1h (AK, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 11.11.2010 –11.01.2011), hg. v. Oberösterreichischen Landesmuseum, Ostfildern 2011 Sebastian Stumpf. Never Really There (AK, Landesgalerie Linz, 19.11.2009– 31.01.2010), hg. v. Stefanie Hoch, Martin Hochleitner u. Sebastian Stumpf, Linz 2009 Fiona Tan. Countenance (Exhib. cat., Museum Modern Art Oxford, 05.04.– 29.05.2005), ed. by Suzanne Cotter, Oxford 2005 Fiona Tan. Mirror Maker (AK, Kunsthallen Brandts, Odense, 25.02.– 21.05.2006, Landesgalerie Linz, 01.06.–13.08.2006, Bergen Kunstmuseum, 01.09.– 03.12.2006, Porin Taidemuseio, 26.01.– 20.05.2007), hg. v. Dag Erik Elgin, Martin Hochleitner u. Thorsten Sadowsky, Heidelberg 2006 Erwin Wurm. one minute sculptures. Werkverzeichnis (AK, Kunsthaus Bregenz, 30.01.–  05.04.1999, Fonds Régional d’Art Contemporain de Bourgogne, Dijon, 17.04.– 29.05.1999, Centre d’Art Neuchâtel, 02.05.– 20.06.1999), hg. v. Kunsthaus Bregenz/Edelbert Köb, Ostfildern-Ruit 1999 Zeitskulptur. Volumen als Ereignis (AK, Landesgalerie Linz, 25.04.– 25.05.1997), red. v. Peter Assmann, Weitra 1997

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Der „endlose“ Herrenanzug. Zum Mäandern des Sinns zwischen dem „modernen Künstler“ und der Uniform des bürgerlichen Mannes im Deutschland der Nachkriegszeit Barbara Schrödl

In die Theoriebildungen der Kunstwissenschaft spielt der traditionsreiche Glaube an die unmittelbare Verständlichkeit von Bildern noch immer hinein. Bilder werden dabei als natürliche Zeichen angesehen, die man nicht weiter erklären müsse, da sie aus sich selbst heraus verständlich seien. Die Vorstellung, die BetrachterInnen wüssten im Falle von Bildern bereits ‚von Natur aus‘, was diese bedeuten, erweist sich aber, wie Sigrid Schade und Silke Wenk herausarbeiten, als eine Konstruktion, deren Fragwürdigkeit bereits Erwin Panofsky aufgezeigt habe. Panofsky habe in seinem Aufsatz Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in dem er ein dreistufiges Modell von „vor-ikonographischer Analyse“, „ikonographischer Analyse“ und „ikonologischer Interpretation“ der Beschreibung und Interpretation aufstellt, letztlich verdeutlicht, dass es keine ‚reine‘ Beschreibung sichtbarer Formen gibt, sondern darin immer bereits Deutungen bzw. Umdeutungen eingelassen seien.1 Im Prozess des kunsthistorischen Arbeitens, so Panofsky, würden „die Zugangsmethoden […] miteinander zu einem einzigen organischen und unteilbaren Prozess verschmelzen.“2

Kunstwissenschaftliche

Beschreibungen

sind

demnach immer bereits von Deutungen durchzogen, die sich in die Geschichte der Bilder einschreiben. Die Verwobenheit

1

2

Vgl. Schade, Sigrid/Wenk, Silke, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld (Studien zur visuellen Kultur 8), Bielefeld 2011, 13 u. 71– 76. Sie beziehen sich dabei auf Panofsky, Erwin, Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance [1939], in: ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, 207– 225. Zit. n. Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, 74.

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von Beschreibung und Interpretation in Panofskys Modell erinnert Schade und Wenk an die moderne Semiotik.3 Als deren wichtigster Begründer gilt Ferdinand de Saussure. Der Sprachwissenschaftler entwarf eine Zeichentheorie, die auf einem triadischen Modell beruht. Sprachliche Zeichen interpretierte er als Vereinigung von Vorstellungs- und Lautbild. Nur durch ihre Doppelstruktur könnten Zeichen etwas Drittes, die abwesenden Dinge, bedeuten. Saussures Zeichenmodell umfasst also gerade kein reales Objekt, sondern verwirft die Vorstellung, dass sich ein Zeichen auf konkrete Dinge bezieht. In der Nachfolge von Saussure wurde mit der Semiologie eine moderne Zeichentheorie entwickelt, die auch nichtsprachliche Systeme erfasst. Richtungsweisend war dabei Roland Barthes. Dieser weitete den zeichentheoretischen Blick auch hinsichtlich des Materialbereichs aus. Mit Filmen, Fotografien, Werbung und Mode untersuchte er auch der Kunstwissenschaft zugeordnetes Material. In seiner 1957 erstmals erschienenen Studie Mythen des Alltags beschreibt er ein „semiologisches System“ als eine Beziehung zwischen Bedeutendem und Bedeutetem, aus der das Zeichen, „das die assoziative Gesamtheit der ersten beiden Termini ist“, hervorgehe.4 Er erläutert dies am Beispiel der Rose: „Man denke an einen Rosenstrauß: ich lasse ihn meine Leidenschaft bedeuten. Gibt es hier nicht doch nur ein Bedeutendes und ein Bedeutetes, die Rose und meine Leidenschaft? Nicht einmal das, in Wahrheit gibt es hier nur die ‚verleidenschaftlichten‘ Rosen. Aber im Bereich der Analyse gibt es sehr wohl drei Begriffe, denn diese mit Leidenschaft besetzten Rosen lassen sich durchaus und zu Recht in Rosen und Leidenschaft zerlegen. Die einen ebenso wie die andere existierten, bevor sie sich verbanden und dieses dritte Objekt, das Zeichen, bildeten.“5

Der Mythos besteht für Barthes aus einer Verkettung von semiologischen Systemen. Er baut als ein „sekundäres semiolo-

3 Ebd., 83. 4 Barthes, Roland, Mythen des Alltags, übers. v. Helmut Scheffel, Frankfurt a. M. 1964, 90. 5 Ebd., 90 – 91.

Der „endlose“ Herrenanzug | Barbara Schrödl

gisches System“ auf einem ersten semiologischen System auf. Verbinden sich im ersten semiologischen System Bedeutendes und Bedeutetes zum Zeichen, so beinhaltet der Mythos bereits das Zeichen eines semiologischen Systems, das nun im zweiten System als Bedeutendes fungiert. Damit werden, um das Beispiel der Rosen fortzuführen, die „‚verleidenschaftlichten‘ Rosen“ zum Ausgangspunkt eines zweiten semiologischen Systems.6 Für den Mythos ist es nicht relevant, ob seine Aussage schriftlich, fotografisch oder in der materiellen Form eines Gebäudes erfolgt. Das Material wird transformiert. Dabei wird historisch Gewordenes naturalisiert: „Wir sind hier beim eigentlichen Prinzip des Mythos: er verwandelt Geschichte in Natur. Man versteht nun, wie in den Augen des Verbrauchers von Mythen die Intention des Begriffes so offenkundig bleiben kann, ohne deshalb als interessengebunden zu erscheinen. Die Sache, die bewirkt, daß die mythische Aussage gemacht wird, ist vollkommen explizit, aber sie gerinnt sogleich zur Natur. Sie wird nicht als Motiv, sondern als Begründung gelesen.“7

Es klingt etwas dabei an, das auch Schade und Wenk beschäftigt: Bilder sind Zeichen und als Zeichen sind sie von gesellschaftlicher Wirksamkeit. Erst darüber wird die Angst vor Bildern wie auch deren Faszination verständlich: „Die ‚Macht der Bilder‘ ist die Macht der Zeichen allgemein. Da Bilder aber häufiger als Worte nicht als konventionelle Zeichen wahrgenommen werden, sondern als Zeichen, deren Ähnlichkeitsbeziehungen zum Abgebildeten substanzieller Natur zu sein scheint, erscheint die gegenwärtig wieder viel beschworene ‚Macht‘ der Bilder noch magischer, zauberhafter und unerklärbarer.“8

6 Vgl. ebd., 88 – 96 (Kap. „Der Mythos als semiologisches System“). 7 Ebd., 113 (Hervorhebung im Original). 8 Schade/Wenk, Studien zur visuellen Kultur, 97.

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326 Die Sprache der Mode

Mit Die Sprache der Mode schließt Barthes an Mythen des Alltags an: Ausgehend von der Entdeckung, dass sich auch andere Zeichensysteme als die Sprache der semiologischen Analyse unterziehen lassen, nimmt Barthes mit der Mode eines dieser Systeme in den Blick. Gegenstand von Die Sprache der Mode ist nicht die reale Kleidung, sondern die in Modezeitschriften dargestellte Kleidung. Im Zentrum stehen die Übersetzung realer Kleidung in geschriebene Sprache und die Frage, wie mit Hilfe der beschriebenen Kleidung ein Sinnsystem geschaffen wird. Barthes ist überzeugt: „nicht das Objekt, sondern der Name weckt das Begehren; nicht der Traum, sondern der Sinn ist verkäuflich.“9 Die Sprache der Modezeitschrift geht jedoch nicht in der beschriebenen Kleidung auf, sondern umfasst auch die abgebildete Kleidung. Das Verhältnis von bildlicher und sprachlicher Äußerung zueinander definiert der Autor wie folgt: „Wenigstens auf der Ebene der realen Kleidung – könnte man meinen – finden diese beiden Kleidungen wieder zu einer Identität, und auf dem Umweg über das wirkliche Kleid, auf das beide verweisen und das sie vermeintlich beide darstellen, sind das beschriebene und das photographierte Kleid identisch. – Äquivalent zweifellos, aber nicht identisch; denn ebenso wie zwischen abgebildeter und beschriebener Kleidung ein Unterschied besteht, ist auch der Übergang von diesen beiden Kleidungen zur realen Kleidung ein Übergang zu anderen Materialien und anderen Beziehungen. Die reale Kleidung bildet demnach eine dritte, von den beiden bisherigen verschiedene Struktur […].“10

Das reale Kleidungsstück sei weder durch seine bildliche noch durch seine sprachliche Darstellung erfassbar, sondern man müsse zu Ausdrücken zurückgehen, „die formal genug sind, um von allen gleichartigen Kleidungsstücken Rechenschaft geben zu können […].“11 Dies seien die Handlungen, die für

9 Barthes, Roland, Die Sprache der Mode, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 1985, 10. 10 Ebd., 14. 11 Ebd., 15.

Der „endlose“ Herrenanzug | Barbara Schrödl

ihre Herstellung wichtig waren. Das tatsächlich getragene Kleidungsstück wird nach Barthes also in drei Sprachen übersetzt: die technologische, die ikonische und die verbale Struktur. Um Kleidung mit Bedeutung aufzuladen, müssen Übersetzungen zwischen diesen Strukturen stattfinden. Das, was in den Modezeitschriften mit Hilfe der Strukturen und der Übersetzungsprozesse zwischen ihnen geschieht, fasst Barthes mit dem poetischen Begriff „das endlose Kleid“: „Man stelle sich vor (falls das überhaupt möglich ist): eine Frau gehüllt in das endlose Kleid aller Äußerungen der Zeitschrift, in Textur ohne Ende aus endlosem Text.“12 Und an anderer Stelle schreibt er: „[D]as System der realen Kleidung ist immer nur der natürliche Horizont, den sich die Mode vorgibt, um ihre Bedeutungen zu bilden; außerhalb des Sprechens gibt es mitnichten so etwas wie eine Totalität oder ein Wesen der Mode. Es scheint also nicht vernünftig, das Reale der Kleidung vor das Sprechen der Mode zu stellen; der richtige Weg führt vielmehr vom instituierenden Sprechen zu dem dadurch instituierenden Realen.“13

Den Autor interessiert das in die Mode eingelassene, sich stetig wandelnde Geschichtenrepertoire. Damit steht er im Gegensatz zu der die Modetheorie seit ihren Anfängen an der Wende zum 20. Jahrhundert dominierenden Strömung, wie sie exemplarisch Georg Simmel vertritt. Simmel beschäftigen nicht die Formelemente der Mode oder das Geschichtenrepertoire der modischen Kleidung, sondern er zielt auf eine Theoretisierung des Modewandels.14 Barthes strebt dagegen nach der Kenntnis der an die Mode gebundenen, stetem Wandel unterworfenen kollektiven Vorstellungen. Dazu agiert er mit Texten und Bildern. Von Barthes ausgehend kann man die Prozesse der Bedeutungsproduktion im Feld der Mode über das Feld der Modezeitschrift hinaus ausdehnen. An der Konstruktion des „endlosen Kleides“ haben auch andere Medien teil: spezielle Medien, wie Modeschauen oder Modefilme, und primär auf andere Kontexte zielende Medien, wie Spielfilme oder Porträtaufnahmen. 12 Ebd., 52. 13 Ebd., 9 –10 (Hervorhebung im Original). 14 Vgl. Simmel, Georg, Die Mode [1905/1911], in: Bovenschen, Silvia (Hg.), Die Listen der Mode, Frankfurt a. M. 1986, 179 – 207.

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328 Die Mode: Eine von allen gesprochene und zugleich allen unbekannte Sprache

Barthes begründet sein Interesse an der Mode damit, dass sie „eine von allen gesprochene und zugleich allen unbekannte Sprache“ sei.15 Dies beschäftigt auch Manfred Kern. In einem Aufsatz reflektiert der Philologe über einen seiner Vorträge, den er mit der Benennung seiner eigenen Kleidung begonnen hatte.16 Er interpretiert diesen Akt als eine zweite Einkleidung – als „verbale Investitur“. Die „verbale Investitur“ in der Öffentlichkeit sollte die Investitur unterstreichen, die er beim Ankleiden zu Hause vorgenommen hatte. Zugleich sollte verdeutlicht werden, dass „Sprache als Mittel der Herstellung von Evidenz dient […].“17 Mode und Sprache interpretiert Kern als untrennbar miteinander verwoben: Auf der einen Seite sei Mode Phänomenalität und Präsenz, auf der anderen Seite aber Name und Wort.18 Deutlich markiert er jedoch nicht nur die Verwobenheit von Sprache und Bild, sondern auch unsere eigene Involviertheit in den unablässigen Prozess der modischen Bedeutungsproduktion. Das Spiel der Mode lässt keinen entkommen. Wir alle tragen unablässig dazu bei, dass die modische Zeichenproduktion und -zirkulation im Fluss bleibt. Barthes Formulierung „das endlose Kleid“ verweist darauf. Der Sinn mäandert zwischen verschiedenen Kontexten, Medien und Medienverbünden. Die Mode ist ein Feld, in dem der saisonale Wandel offenkundig werden lässt, dass Bedeutung niemals etwas Feststehendes ist. Sie ist das „gleichsam wuchernde Gebilde eines nicht zu arretierenden Sinns, der nie dingfest zu machen, nie einfach zu haben ist, aber dennoch in seiner je momentanen, historisch kontingenten Form existiert.“19 Mode lässt sich folglich als eine endlose Erzählung beschreiben, an der alle teilhaben.

15 Barthes, Sprache der Mode, 2 (Klappentext). 16 Vgl. Kern, Manfred, Exzellente Kleidsamkeit. Vestimentäre Ästhetiken in Dichtung und Kunst des Mittelalters, in: Gürtler, Christa/Hausbacher, Eva (Hg.), Kleiderfragen. Mode und Kulturwissenschaft, Bielefeld 2015, 59 –79, hier 59 – 60. 17 Ebd., 59. 18 Vgl. ebd., 60. 19 Adorf, Sigrid/Heinz, Kathrin, Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse. Für Sigrid Schade, Flyer zum Symposium, 31.01.– 01.02.2014, Zürcher Hochschule der Künste, Blatt 1 (Hervorhebung B. S.).

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Probe aufs Exempel

Methodisch durch Barthes’ Mythen des Alltags und Die Sprache der Mode angeregt, befrage ich ein spezifisches Phänomen eines bestimmten historischen Kontexts im Feld der Mode: die Bedeutungsproduktion und -zirkulation rund um den Herrenanzug als Kleidung des „modernen Künstlers“ im Westdeutschland der 1950er Jahre. Betrachtet werden eine Kunstausstellung samt zugehörigem Katalog, ein Dokumentarfilm über Pablo Picasso sowie einige populäre Spielfilme. Der Herrenanzug als Uniform des bürgerlichen Mannes

Der Herrenanzug ist durch Röhrenhose, lose Jacke, fakultative Weste, einheitliches Material für Jacke und Hose, Wollstoff, dezente dunkle Farbgebung, Verzicht auf jegliches Dekor und überlappenden, körperumspielenden Schnitt charakterisiert. Gezielt wird auf Beweglichkeit: Mäßige Weite und Zweibeinigkeit erlauben ebenso reale Körperbewegungen, wie sie die Beweglichkeit des menschlichen Körpers ins Bild setzen. Beweglichkeit wird aber auch im Sinne einer sozialen Beweglichkeit gefördert: Die Vereinheitlichung und allgemeine Verbreitung des Herrenanzugs, die in Richtung einer Uniform des Mannes im bürgerlichen Zeitalter weist, lässt Männer unterschiedlicher Herkunft sich als Gleiche gegenübertreten.20 Ein genauerer Blick auf die Geschichte des Herrenanzugs offenbart sein Variieren im Detail. Beispielsweise entwickelten sich Bekleidungsregeln, die zu verschiedenen Gelegenheiten unterschiedliche Varianten des Anzugs vorsahen. So ging man zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Frack in die Oper, während man bei informelleren Gelegenheiten am Tage einen Sakkoanzug trug. Die Zuordnung von Gelegenheit und Anzugvariante unterlag ebenso dem modischen Wechsel wie Schnitte, Farben, zugehörige Accessoires und Bedeutungen. Von besonderem Interesse sind in diesem Kontext Einschnitte durch Kriege. Im

20 Vgl. Ellwanger, Karen, Mobilität in der Bekleidung I. Mobilität und Geschwindigkeit in der Modetheorie der Moderne, in: Heinrich, Bettina u. a. (Hg.), Gestaltungsspielräume. Frauen in Museum und Kulturforschung. 4. Tagung der Kommission Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (Studien & Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 10), Marburg 1992, 161–176.

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Zweiten Weltkrieg waren Uniformen in Europa, den USA und darüber hinaus im öffentlichen Leben sehr präsent. Nach 1945 führte der Wiederaufstieg des Herrenanzugs den Menschen deutlich vor Augen, dass der Krieg vorbei war. Zudem kam es in der Herrenmode, die sich in der Kriegszeit kaum weiterentwickelt hatte, zu deutlichen Veränderungen. Hatte der Sakkoanzug zu Beginn des Jahrhunderts noch als salopp gegolten, entwickelte er sich in den 1950er Jahren zur klassischen Garderobe, die ihren Träger von morgens bis abends perfekt kleidet und sogar Frack oder Smoking ersetzen kann. Der modische Sakkoanzug der 1950er Jahre hatte einen legeren Schnitt: Die Hose war in Karottenform und das Sakko zunächst gerade, bald jedoch V-förmig geschnitten. Die V-Silhouette wurde durch breite, wattierte, abfallende Schultern und eine leichte Taillierung erreicht. Ergänzend wurden weiße Hemden, schmale Krawatten oder Fliegen, Einstecktücher und Hüte getragen. Die Farben waren dezent. Die Materialwahl zeigte Innovationen: Für den Anzug wurden neben Wolle auch Baumwolle und Synthetik verwendet und das Hemd bestand meist aus Nylon oder Perlon. Der legere Sakkoanzug umspielte in seiner gedeckten Farbigkeit die männlichen Körper in einer Art und Weise, die diese kaum in Erscheinung treten ließ und dennoch deutlich für Männlichkeit stehen konnte. Geformt wurde eine abstrahierte Silhouette körperlicher Stärke. Marisa Buovolo zieht den Film heran, um die Bedeutung des Sakkoanzugs herauszuarbeiten. Am Beispiel von Mann im grauen Flanell (The Man in the Gray Flannel Suit)21 entziffert sie den Sakkoanzug der 1950er Jahre als Uniform des weißen, erfolgreichen und gesunden Familienvaters. Der Film aus dem Jahr 1956 erzählt von einem Kriegsveteranen, der ins zivile Leben zurückfindet. Der modische Anzug, so die Autorin, mache unsichtbar, dass in ihm ein verunsicherter und psychisch labiler Kriegsveteran stecke, der die Rolle des starken Familienernährers erst wieder lernen müsse. Nicht nur im Kino hätte der Sakkoanzug den „traumatisierten Helden den Anschein von Unverletzlichkeit geben, Virilität und (wiedergewonnene) männliche Überlegenheit vermitteln“ können, sondern

21 Regie/Drehbuch: Nunnally Johnson, USA 1956.

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auch in der Realität.22 Zwar untersucht Buovolo das HollywoodKino, doch schränkt sie ihre Überlegungen zu Recht nicht auf den US-amerikanischen Kontext ein: In westlichen Ländern, wie der jungen Bundesrepublik, genoss das Hollywood-Kino große Popularität und beeinflusste den Alltag der Menschen. Die Männer mussten jedoch nicht nur wieder in Beruf und Familie Verantwortung übernehmen, sondern auch lernen, ihre Freizeit zu genießen. Dazu durften sie den Anzug ablegen und in bequeme Kleidung schlüpfen. Die Freizeitkleidung war ein neues Phänomen. Sie umfasste Jacken, Hosen und Hemden in unkonventionellen Formen, Farben und Materialien, die durch die Sport- und Arbeitskleidung inspiriert waren: Pullover, die man unter dem Jackett oder als Jackett-Ersatz trug, bunte, gemusterte Hemden, die weder Jackett noch Krawatte erforderten, sowie Cordhosen und Jeans. Gegen Ende der 1950er Jahre wurde der Sakkoanzug in der sich etablierenden Freizeitund Konsumkultur erneut umcodiert. Er verlor seine allgemeine Gültigkeit und wurde dem Beruf sowie dem Offiziellen und Feierlichen zugeordnet. An diesem Bedeutungswandel hatten viele Faktoren Anteil: Einer – so meine These – war der Kunstdiskurs. Der hochkulturelle Kunstdiskurs im Westdeutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit

Im Westdeutschland der Nachkriegszeit kam der bildenden Kunst große Bedeutung zu. Zwar grenzte man sich von der expliziten politischen Indienstnahme der Kunst im Nationalsozialismus ab, doch wurde die Tradition fortgeführt, die Kunst auch über den künstlerischen Bereich hinaus auszudeuten: Die Moderne stand für den Neuanfang. In diesem Prozess wurden bestimmte Spielarten moderner Kunst gefördert, andere dagegen zu randständigen Erscheinungen erklärt. Positive Beachtung fanden vor allem solche Richtungen der Moderne, die eine Befragung der künstlerischen Mittel ins Zentrum stellen. Die Konzentration auf formale Fragen wurde als eine Befreiung 22 Buovolo, Marisa, So wurden Männer im Kino richtig sexy, in: welt.de, 08.07.2007, http://www.welt.de/kultur/kino/article927153/So-werden-Maenner-im-Kino-richtig-sexy. html [Stand: 28.07.2015].

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der Kunst von außerkünstlerischen Zielen interpretiert und abstrakte sowie abstrahierende Kunst zur „freien Moderne“ erklärt. Stilisiert zum Sinnbild der im Nationalsozialismus als „entartet“ diskreditierten Moderne, fungierte sie als Ausweis einer generellen Unverträglichkeit moderner Ästhetiken mit dem totalitären Denken. Ein Kristallisationspunkt in diesem Prozess war die erste documenta 1955 in Kassel.23 Gezeigt wurde ein Rückblick auf abstrahierende Tendenzen der europäischen Kunst. Damit wurden die „Liaisons dangereuses“ der modernen Kunst gezielt vernachlässigt, um einer entschärften Moderne zum Durchbruch zu verhelfen.24 Die erste documenta und der „moderne Künstler“ als Teil der bürgerlichen Gesellschaft

Im Nachkriegsdiskurs um die Moderne stießen nicht nur die Kunstwerke, sondern auch ihre meist männlichen Produzenten auf großes Interesse. Der „moderne Künstler“ beschäftigte über den Kreis der Kunstinteressierten hinaus weite Teile der Gesellschaft. Anknüpfend an die „freie Moderne“ galt er als moralische Autorität.25 Erst gegen Ende der 1950er Jahre begann das Wirtschaftswunder den Deutschen neue Orientierung und neues Selbstbewusstsein zu geben. Der Diskurs verschob sich. Die Vorbildfunktion des „modernen Künstlers“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit ging mit seiner Eingliederung in die bürgerliche Gemeinschaft einher: Er wurde zum Vorreiter einer neuen demokratischen Bürgerlichkeit. In diesem Prozess schlüpfte er in die Uniform des bürgerlichen Mannes. Der Sakkoanzug in der modischen V-Silhouette kleidete nicht nur den Künstler ein, sondern alle männlichen Mitspieler des Kunstdiskurses – das Kunstpublikum, die Ausstellungsmacher, die Kunstkritiker, die

23 Vgl. Buergel, Roger M., Der Ursprung, in: Glasmeier, Michael/Stengel, Karin (Hg.), Archive in motion. documenta-Handbuch. 50 Jahre documenta 1955 – 2005 (AK, Kunsthalle Fridericianum Kassel, 01.09.– 20.11.2005), Göttingen 2005, 173 –180, hier 179. 24 Vgl. Grasskamp, Walter, ‚Entartete Kunst‘ und documenta I. Verfremdung und Entschärfung der Moderne, in: ders., Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München 1989, 76 –119, hier 77– 82. 25 Der Kunstdiskurs der 1950er Jahre wurde bereits ausführlich befragt. Ich nenne daher nur eine exemplarische Publikationen: Fastert, Sabine, Im Kampf gegen die abstrakte Kunst. Vergebene Chancen zwischen 1945 und 1959, in: Ruppert, Wolfgang/Fuhrmeister, Christian (Hg.), Zwischen Deutscher Kunst und internationaler Modernität. Formungen in der Künstlerausbildung 1918 bis 1968, Weimar 2007, 59 –79.

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Kunstwissenschaftler und die Politiker – und darüber hinaus auch alle Männer im öffentlichen Leben. Als Kleidung des Künstlers zeigte der Herrenanzug jedoch charakteristische Abweichungen: Er wurde in unkonventioneller Weise getragen und mit Elementen der neuen Freizeitkleidung verbunden. Von Bedeutung ist in diesem Kontext wiederum die erste documenta. Die Ausstellung verlieh nicht nur dem Blick auf die moderne Kunst eine neue Struktur, sondern ebenso dem auf den „modernen Künstler“. Im Eingangsbereich waren großformatige Schwarz-Weiß-Fotografien platziert, die neben archaischer, frühchristlicher und außereuropäischer Kunst auch Künstlerporträts zeigten (Abb. 1).26 Die auf fotografischen oder gemalten Vorlagen beruhenden hochrechteckigen Porträts waren zu einer zweiteiligen, symmetrisch angelegten Fotowand zusammengefasst. Die teilweise bereits aus den 1910er Jahren stammenden Vorlagen setzen die Künstler als Büsten, Halbfiguren oder Ganzfiguren ins Bild.27 Alle tragen Kurzhaarfrisuren, einige einen Bart. Die Garderobe wird durch dunkle Anzugjacken dominiert, zu denen weiße Hemden und Krawatten oder Fliegen getragen werden. Auch in Fällen, in denen der Bild-

Abb. 1: Ausstellungsansicht: Fotowand mit Künstlerporträts, documenta 1955

26 Harald Kimpel und Karin Stengel erinnern an diese Fotowände. Vgl. Kimpel, Harald/Stengel, Karin, Documenta 1955. Erste internationale Kunstausstellung. Eine fotografische Rekonstruktion, Bremen 1995, 16 – 21. Walter Grasskamp setzt sich speziell mit den Porträts sowie deren Effekten für das mit der Ausstellung entworfene Bild der Moderne auseinander und geht dabei auch auf die Bekleidung der Künstler ein. Vgl. Grasskamp, ‚Entartete Kunst‘ und documenta I, 83 – 94. Deutlich betont er das bürgerliche Element der Inszenierungen. Grundsätzlich stimme ich seiner Argumentation zu, doch berücksichtigt er meines Erachtens nicht genug, dass die Outfits durchaus Abweichungen von der in den 1950er Jahren als korrekt erachteten Bekleidung aufweisen. 27 Eine genaue Identifizierung aller Künstler sowie eine Recherche zu Herkunft, Sammlungsgeschichte und Auswahl der Fotografien stehen noch aus.

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ausschnitt nur eine Halbfigur oder Büste zeigt, ist man geneigt einen Herrenanzug zu assoziieren. Nur einige wenige Bilder agieren nicht mit der Uniform des bürgerlichen Mannes, wenn etwa ein Künstlerkittel auf die Profession, ein Hausmantel auf das Private oder ein Pullover auf die Freizeit verweisen. Walter Grasskamp analysiert die bürgerliche Inszenierung der Künstler als Antwort auf die unmittelbare Vergangenheit: „Das plakative Portraitfoto als Ausdruck der ausgezeichneten Individualität wird der nationalsozialistischen Behauptung der Invalidität entgegengesetzt, das heroische Portrait der großen Einzelgänger der nationalsozialistischen Diskreditierung ihrer Werke […].“28 Entscheidenden Anteil an dieser Ausdeutung des „modernen Künstlers“ habe die Bekleidung – der „Anzug der Zeit“.29 Interessant wird diese Beobachtung, wenn man bedenkt, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Bilder des Künstlers kursierten, die diesen unter anderem mittels seiner Garderobe – in positiver oder negativer Absicht – von der Gemeinschaft abhoben.30 Man erinnere sich beispielsweise an die Reformkleidung von Künstlern wie Gustav Klimt, die mit mönchischen Assoziationen spielende Kluft von Johannes Itten, den Monteuranzug der Künstleringenieure wie Laszlo Moholy-Nagy oder den weißen Künstlerkittel, der in den 1930er Jahren bestimmend wurde. Der „nationalsozialistische Künstler“ zeichnet sich durch seinen flecken- und knitterfreien Kittel aus. Der weiße Künstlerkittel hat jedoch eine längere und breitere Tradition. Auch „moderne Künstler“ trugen ihn. Dass er im Kontext der documenta kaum in Erscheinung trat, kann daher als ein Statement gewertet werden.31

28 Grasskamp, ‚Entartete Kunst‘ und documenta I, 90. 29 Ebd., 89. 30 Zwar lässt sich keine spezifische Kleidung des Berufsstandes ausmachen, die dem Zweireiher der Geschäftsmänner oder der Uniform der Militärangehörigen vergleichbar wäre, doch lassen sich nicht nur individuelle Künstleruniformen finden, wie Sven Drühl argumentiert, sondern bezogen auf bestimmte Gruppen bildender KünstlerInnen in spezifischen historischen und gesellschaftspolitischen Kontexten auch kollektive Bekleidungsphänomene beobachten. Vgl. Drühl, Sven, Die individuelle Künstleruniform, in: Mentges, Gabriele/Richard, Birgit (Hg.), Schönheit der Uniformität. Körper, Kleidung, Medien, Frankfurt a. M./New York 2005, 115 –136, hier 115. 31 Eine Ausnahme bildet Künstlerbildnis 11: Wassily Kandinsky (Archiv Otto Stangl, München) [anonym, nicht datiert], in: documenta. kunst des XX. Jahrhunderts. internationale ausstellung im museum fridericianum in kassel 1955 (AK, Museum Fridericianum, Kassel, 15.07.–18.09.1955), Reprint der Originalausgabe (1955), München 1995 (die Seiten der Künstlerbildnisse sind nicht paginiert).

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Ich folge Grasskamps These, dass die documenta den „modernen Künstler“ als bürgerlichen Mann vorstellt, doch schlage ich vor, die kleinen Abweichungen seiner Garderobe von deren klassischen Merkmalen stärker zu beachten. Die Porträtierten tragen den Herrenanzug wiederholt in unkonventioneller Weise und verzichten auf Krawatte bzw. Fliege und/oder Sakko. Nimmt man den dazugehörigen Ausstellungskatalog hinzu, verstärkt sich das unkonventionelle Moment noch weiter.32 In SchwarzWeiß werden in diesem sechzehn Porträtfotografien abgebildet. Außer historischen Bildvorlagen, wie sie für die zweiteilige Wandtafel herangezogen wurden, finden auch zeitgenössische Aufnahmen Verwendung. Die Garderobe der Künstler dominiert wiederum der klassische Herrenanzug, doch kommt das Unkonventionelle nicht länger nur durch unvollständige Outfits ins Spiel, sondern es werden vermehrt informelle Kleidungsstücke getragen. Besonders offensichtlich ist dies im Falle von Ernst Ludwig Kirchner. Auf der Fotowand im Ausstellungsraum wird er durch sein Gemälde Eine Künstlergemeinschaft (Die Maler der Brücke) (1925/26) repräsentiert (Abb. 2). Die Maler tragen korrekte dunkle, durch weiße Hemden und Krawatten ergänzte Anzüge. Im Katalog ist dagegen eine Fotografie abgebildet, die

Abb. 2: Ernst Ludwig Kirchner, Eine Künstlergemeinschaft (Die Maler der Brücke), 1925/26

Kirchner in einer abgetragenen, für körperliche Arbeit gedachten Kleidung zeigt: einer doppelreihig geknöpften, in der Brustpartie verstärkten Jacke aus grobem Stoff und einer weiten, formlosen Hose (Abb. 3).33 Auch Georges Braque tritt in Arbeitskleidung

32 Vgl. insgesamt documenta. kunst des XX. Jahrhunderts. Dies beobachtet bereits Grasskamp, ‚Entartete Kunst‘ und documenta I, 91–  92. 33 Künstlerbildnis 9: Atelierfest bei Ernst Ludwig Kirchner (Archiv Otto Stangel, München) [anonym, 1919/20], in: documenta. kunst des XX. Jahrhunderts. Die Fotografie ist auch unter dem Titel Bauerntanz im Obergeschoss des Hauses „In den Lärchen“ mit Selbstporträt links bekannt.

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Abb. 3: Atelierfest bei Ernst Ludwig Kirchner/Bauerntanz im Obergeschoss des Hauses „In den Lärchen“ mit Selbstporträt links, 1919/20

in Erscheinung. Er trägt zur zerknitterten Arbeitsjacke Cordhose, Herrenhemd und fellbesetzte Hausschuhe.34 Kirchner und Braque sind Beispiele für eine proletarisch-bäuerlich anmutende Künstlerkleidung. Oskar Schlemmers Porträt kann dagegen exemplarisch für eine auf die Profession verweisende Garderobe stehen. Er und zwei Helfer sind bei der Arbeit an einem Wandgemälde in Kitteln dargestellt, wovon einer sogar dem weißen Künstlerkittel entspricht.35 Andere Abbildungen präsentieren die Künstler dagegen in Ensembles, die Teile des Herrenanzugs mit Elementen der Freizeitkleidung kombinieren, und plädieren damit für eine neue Wertschätzung des Privaten. Ein Beispiel ist das Porträt von Pablo Picasso, dem „modernen Künstler“ der Nachkriegszeit schlechthin (Abb. 4). Als Halbfigur steht er in Strickjacke, Pullover und Tuchhose vor einem kleinen Bauernhaus.36 Seine Garderobe entspricht der in den 1950er Jahren aktuellen Freizeitkleidung, erhält jedoch durch die ländliche Umgebung, die monochrome, dunkle Farbgebung und den tadellosen Zustand einen formellen Touch. Entschiedener noch ist die Kleidung von Alexander Calder. Bekleidet mit buntkariertem Freizeithemd und Tuchhose steht er als Ganzfigur in betont aufgerichteter Pose in einem Ausstellungsraum – und damit in der 34 Künstlerbildnis 2: Georges Braque (Foto Buchheim) [anonym (Denise Colomb?), 1949], in: ebd. 35 Künstlerbildnis 14: Oskar Schlemmer bei Arbeiten am Bauhaus (Foto Bauhaus) [anonym, um 1923], in: ebd. 36 Künstlerbildnis 1: Pablo Picasso (Foto [Willy] Maywald, Paris) [1948], in: ebd. Da sich hierfür die Bildrechte nicht klären ließen, ist als Abb. 4 in diesem Beitrag eine vergleichbare Porträtfotografie Picassos von Willy Maywald zu sehen.

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Abb. 4: Willy Maywald, Pablo Picasso, undatiert, Ausschnitt

Abb. 5: Helga Fietz, Max Beckmann im Amsterdamer Atelier, 1938

Öffentlichkeit.37 Zwar treten im Katalog Arbeitskleidung, Künstlerkittel und Freizeitgarderobe in Erscheinung, doch steht der formelle Herrenanzug im Zentrum. Ganz klassisch erscheinen beispielsweise Giorgio Morandi, Franz Marc oder Max Beckmann (Abb. 5) als mit Jackett, Hemd und Krawatte bekleidete Brust- oder Halbfiguren.38 Der Katalog präsentiert zudem drei ganzfigurige Gruppenbilder. In einer 1912 aufgenommenen Fotografie formieren sich fünf italienische Futuristen (Abb. 6)

Abb. 6: Italienische Futuristen in Paris, 1912

37 Künstlerbildnis 16: Alexander Calder (Foto [Agnès] Varda Paris) [1954], in: ebd. 38 Vgl. Künstlerbildnis 7: Giorgio Morandi (Foto [Herbert] List, München) [1953], in: ebd.; Künstlerbildnis 10: Franc Marc (Archiv Otto Stangl, München) [anonym, 1927], in: ebd.; Künstlerbildnis 12: Max Beckmann (Foto: Helga Fietz) [1938], in: ebd.

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im städtischen Außenraum zu einer auf die BetrachterInnen ausgerichteten Gruppe.39 Das Bild weist starke Hell-Dunkel-Kontraste auf. Das dunkle Tuch der Mäntel und Hosen wird durch das Weiß der Hemden und Schals akzentuiert und beides hebt sich deutlich vom hellgrauen Hintergrund ab. Unsichtbar bleibt gerade das Spezifische der Kleidung der Futuristen: ihre farbenfrohe Weste.40 Die Gruppe erscheint so als Inbegriff bürgerlicher Korrektheit. Die beiden anderen, deutlich jüngeren Gruppenbilder spielen dagegen mit der Bürgerlichkeit. Eine der Darstellungen zeigt die „Gruppo degli Otto“ und den Sammler Guglielmo Achille Cavellini in einem Ausstellungsraum.41 Ihre Ein- und Zweireiher in der modischen V-Silhouette sind in gedeckten Farben gehalten, die weißen Hemden strahlen und die Krawatten setzen effektvolle Akzente. Dezente Abweichungen vom Korrekten kreieren eine lässige Eleganz. Der bärtige Emilio Vedova trägt unter dem Sakko einen Pullover, Renato Birolli verzichtete auf die Krawatte und die Körperhaltung der Männer ist locker. Sie machen es sich auf Faltsesseln bequem, verbergen die Hände in den Hosentaschen oder rauchen demonstrativ. Die andere Darstellung präsentiert die Jury der Kölner Künstlerbund-Ausstellung des Jahres 1952 (Abb. 7).42 Die

Abb. 7: Johanna SchmitzFabri, Jurysitzung der Künstlerbund-Ausstellung Köln 1952

39 Künstlerbildnis 6: Futuristen in Paris 1912, von links: Russolo, Carrà, Marinetti, Boccioni, Severini [anonym, 1912], in: ebd. 40 Vgl. Drühl, Individuelle Künstleruniform, 123. 41 Künstlerbildnis 8: Jüngere italienische Künstler, stehend: Birolli, Moreni, Corpora, Vedova, Morlotti, sitzend: der Sammler Cavellini, Afro, Santomaso [anonym, 1952/1954], in: documenta. kunst des XX. Jahrhunderts. 42 Künstlerbildnis 13: Jurysitzung der Künstlerbund-Ausstellung Köln 1952, von links: Faßbaender, Schmidt-Rottluff, Ewald Mataré, Hartmann, Meistermann, Karl Hartung, stehend: Schumacher, Heckel [Johanna Schmitz-Fabri, 1952], in: ebd.

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Herren stehen oder sitzen betont lässig beisammen. Von der anwesenden Fotografin scheinbar kaum Notiz nehmend blicken sie in unterschiedliche Richtungen. Der aktuellen Mode entsprechend umspielt die Kleidung ihre Körper locker und faltenreich. Herrenanzüge dominieren das Bild. Darüber tragen einige noch einen Mantel. Zarte Grautöne und geringe Kontraste charakterisieren die Fotografie. Nur Ewald Mataré sticht hervor: durch seinen dunklen Pullover zur fast weißen Hose und durch seinen Verzicht auf ein Jackett oder einen Mantel. Der Katalog variiert damit gegenüber der Fotowand das Bild des Künstlers im Herrenanzug, indem er den Herrenanzug mit Elementen der Freizeitkleidung verbindet. Damit wird der „moderne Künstler“ nicht allein auf das Bild des Mannes im klassischen Herrenanzug festgelegt, sondern zudem die Vorstellung eines Privatmannes evoziert, der an der modernen Freizeitkultur teilhat. Betrachtet man Fotowand und Katalog in der Zusammenschau, so zeigt sich, dass die erste documenta zwar den Herrenanzug des bürgerlichen Mannes als Anzug des Künstlers einsetzt, doch diesen mit einem inoffiziellen, bequemen und privaten Touch versieht. Dies hat einen bemerkenswerten Effekt: Die Ausstellung bringt ein Bild des „modernen Künstlers“ hervor, das sich (nur) durch eine informelle Anmutung von den männlichen Ausstellungsbesuchern in ihren korrekten zwei- oder dreiteiligen Sakkoanzügen, den weißen Hemden und den dunkleren Krawatten sowie den zuweilen darüber getragenen Mänteln unterscheidet.43 Über

Abb. 8: Ausstellungsansicht: Fotowand mit Künstlerporträts, documenta 1955

43 Zwar tragen auch einzelne männliche Besucher auf den überlieferten Ausstellungsfotografien keinen Herrenanzug, doch können diese Abweichungen funktional gedeutet werden: Beispielsweise trägt ein junger Mann eine Motorradjacke, was der Anreise mit dem Motorrad geschuldet sein könnte und daher nicht als modisches Statement wahrgenommen werden muss.

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die Bekleidung werden also weniger Unterschiede als vielmehr Gemeinsamkeiten zwischen dem „modernen Künstler“ und den männlichen Ausstellungsbesuchern formuliert. Der Herrenanzug verbindet Künstler und männliche Besucher zu einer bürgerlichen Gemeinschaft. Diese zeigt jedoch eine hierarchische Struktur: Durch die Größe und die Platzierung der Künstlerporträts scheinen die Künstler übergroß über dem Publikum zu schweben. Die Ausstellungsarchitektur, die die Fotowand als Torsituationen inszeniert, unterstreicht diesen Eindruck (Abb. 8). Der Gedanke eines verräumlichten Triumphbogens liegt nahe. Ins Bild gesetzt wird die Verherrlichung des „modernen Künstlers“ als eines zeitgemäßen modernen Bürgers. Der „moderne Künstler“ als Antibürger im internationalen Kontext: Le Mystère Picasso

Im hochkulturellen westlichen Kunstdiskurs außerhalb der jungen Bundesrepublik war zeitgleich zur ersten documenta weniger das Bild des „modernen Künstlers“ als eines Bürgers, sondern vielmehr als eines Anitbürgers präsent. Exemplarisch steht dafür Pablo Picasso. Charakteristisch für dessen (Selbst-) Inszenierung ist der Film Le Mystère Picasso (1956).44 Die Tradition des filmischen Atelierbesuchs aufgreifend und variierend stellt sich der arbeitende Künstler im Filmstudio zur Schau.45 Der Vorspann beginnt mit Dunkelheit. Langsam wird die Szenerie erhellt und der Künstler erscheint (Abb. 9). Er trägt lediglich ein Achselhemd, dessen er sich im Laufe des Films sogar noch entledigt, Shorts und Schuhe. Die Situation – ein bildender Künstler im Rampenlicht auf einer Bühne – kontrastiert mit Picassos weitgehender Nacktheit. Die Nacktheit des Künstlers wird durch die Kunst kommentiert. Picasso entwirft eine Atelierszene, in der ein weibliches Aktmodell einem unbekleideten Maler Modell steht. Die kunsthistorische Tradition legitimiert nur die weibliche, nicht aber die männliche Nacktheit. Der Film verleiht der männlichen Nacktheit zusätzlich Brisanz, indem er 44 Regie: Henri-Georges Clouzot, Frankreich 1956. 45 Vgl. Schrödl, Barbara, Ein filmischer Atelierbesuch und ein Maler im Filmstudio. Zeitlichkeit zwischen Produktions- und Rezeptionsprozessen, in: Gludovatz, Karin/Peschken, Martin (Hg.), Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin 2004, 91–100.

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Abb. 9: „Le Mystère Picasso“ (1956), un film de HenriGeorges Clouzot, Filmstill

den Prozess des Filmemachens und den Blick des Publikums thematisiert und damit Aspekte des „Direct Cinema“ und „Cinéma Vérité“ vorwegnimmt. Die Nacktheit des Künstlers wird damit als eine öffentliche Nacktheit ausgewiesen. Das Spiel mit den Grenzen des Legitimen dient jedoch keineswegs dazu, Picasso zu diskreditieren, sondern stärkt seinen Status als Genie, das jenseits bürgerlicher Zwänge steht. Diese Deutung baut auf seiner hohen Wertschätzung im zeitgenössischen Kunstdiskurs auf. Auf der Handlungsebene wird sie in Erinnerung gerufen. Der Filmemacher Henri-Georges Clouzot fordert den Künstler unter Verweis auf die Kürze der verbleibenden Drehzeit auf, schneller zu arbeiten, und Picasso kann parieren: Auch das letzte Werk wird rechtzeitig beendet. Vergleicht man Le Mystère Picasso mit dem Bild des „modernen Künstlers“ im Rahmen der ersten documenta, stützt dies die These, dass die Kasseler Deutung des „modernen Künstlers“ als eines bürgerlichen Mannes im mit Attributen des Privaten versehenen Herrenanzug auf die (kultur) politische Situation im „Dritten Reich“ reagiert. Vom bürgerlichen Helden über den ‚Bürgerschreck‘ zum Vertreter der Konsum- und Freizeitkultur: Entwürfe des „modernen Künstlers“ im westdeutschen Nachkriegskino

Im westdeutschen Nachkriegskino finden sich zahlreiche Entwürfe des „modernen Künstlers“. Betrachtet man diese in der Zusammenschau, so offenbart sich eine Tendenz, die vom bürgerlichen Helden über den ‚Bürgerschreck‘ zum Vertreter

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der neuen Freizeit- und Konsumkultur führt. Gemeinsam ist den Figuren jedoch, dass sie den „modernen Künstler“ als Vorreiter neuer Privatheit inszenieren. Darin zeigen sie eine Analogie zum hochkulturellen Kunstdiskurs.46 Abgesehen davon jedoch lassen sich die Künstlerbilder des Kinos und des hochkulturellen Kunstdiskurses als konträr beschreiben. Im westdeutschen Nachkriegskino findet sich von Beginn an die Figur des „modernen Künstlers“ als eines Bürgers. Ein exemplarisches Beispiel ist Irgendwo in Berlin (1946)47, ein „Trümmerfilm“, der den Künstler bereits tendenziell mit dem Herrenanzug verbindet (Abb. 10). Stets trägt er eine anspruchslose, abge-

Abb. 10: „Irgendwo in Berlin“ (1946), Filmstill

tragene, doch zeitgemäß körperfern geschnittene Kombination aus hellem, zweireihigem Jackett und hell-dunkel gestreifter Hose, die er durch Hemd und Krawatte ergänzt.48 Seine Garderobe hebt ihn deutlich von den anderen Filmfiguren ab. Die Mehrzahl der Männer hält, obwohl der Krieg zu Ende ist, weiterhin an der Uniform fest. Die Uniform verbindet sie mit der Vergangenheit des Krieges. Demgegenüber verortet die Kombination den „modernen Künstler“ in der zivilen Gegenwart. 46 Vgl. Schrödl, Barbara, Das Bild des Künstlers und seiner Frauen. Beziehungen zwischen Kunstgeschichte und Populärkultur in Spielfilmen des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit (Studien zur visuellen Kultur 3), Marburg 2004. Anzumerken ist, dass sich in der Nachkriegszeit kaum eine Unterscheidung zwischen dem österreichischen und dem westdeutschen Kino vornehmen lässt. Die österreichischen Filme zielten ebenso auf das eigene wie das westdeutsche Publikum. 47 Regie/Drehbuch: Gerhard Lamprecht, Deutschland 1946. 48 Aus heutiger Perspektive ruft die Hose die gestreifte Kleidung der KZ-Häftlinge in Erinnerung, doch ist zu bezweifeln, dass diese Assoziation bereits für das zeitgenössische Publikum naheliegend war, da sich – wie Bärbel Schmidt zeigt – das Bild des KZ-Häftlings in gestreifter Kleidung erst im Laufe des Erinnerungsprozesses etablierte. Vgl. Schmidt, Bärbel, Geschichte und Symbolik der gestreiften KZ-Häftlingskleidung, Dissertation am Fachbereich 2 Communication/Aesthetics der Universität Oldenburg, Oldenburg 2000 (online abrufbar unter http://oops.uni-oldenburg.de/407 [Stand: 20.10.2016]).

Der „endlose“ Herrenanzug | Barbara Schrödl

Auf der Ebene der Narration wird dieses Moment zur Vision einer neuen Gesellschaft ausgebaut. Inmitten der ‚Trümmer‘ der einstigen Hauptstadt Berlin malt der Künstler ein stilistisch zwischen Impressionismus und Expressionismus stehendes Bild eines blühenden Baumes. Der Baum steht für den Neuanfang der Gemeinschaft und der „moderne Künstler“ für ein neues ziviles Männlichkeitsideal.49 Als sich Mitte der 1950er Jahre im hochkulturellen Kunstdiskurs Westdeutschlands die spezifische Deutung der Moderne als der „freien Moderne“ etablierte, wurde im Kino ein neues Bild des „modernen Künstlers“ wichtig: der ‚Bürgerschreck‘. Demonstrativ verstößt diese Figur gegen Moral und Etikette. Ein exemplarisches und höchst erfolgreiches Beispiel ist Der Förster vom Silberwald (1954).50 Der Heimatfilm handelt von einem „abstrakten Künstler“, der seine Freundin an einen Förster verliert. Die Handlung spielt überwiegend in den Bergen. Regionale Kleidung dominiert das Filmkostüm. Der Sakkoanzug – in der modischen V-Silhouette – findet sich nur in der Garderobe des „abstrakten Künstlers“ und seiner städtischen Freunde. Als Kleidung der Städter steht er für das Besondere. Unkonventionelle Momente in den Outfits und zwischen den Outfits sowie im Zusammenspiel von Kleidung und Innenarchitektur arbeiten seine Besonderheit weiter aus. Besonders eindrucksvoll ist die Szene eines Atelierfestes (Abb. 11). Mitunter sehen wir den blonden

Abb. 11: „Der Förster vom Silberwald“ (1954), Filmstill

Bildhauer und seine schwarzhaarige Freundin, ebenfalls Künstlerin, zusammen im Bild. Er trägt zur schwarzen Tuchhose ein schwarzes Herrenhemd und eine weiße Krawatte. Dies überrascht, denn die bürgerlichen Konventionen erfordern bei gesellschaftlichen Anlässen stets ein Jackett – außer vielleicht am 49 Vgl. Brauerhoch, Annette, Trauer in Trümmern. Zum Motiv des traurigen kleinen Jungen in zwei Nachkriegsfilmen, in: Ecker, Gisela (Hg.), Trauer tragen – Trauer zeigen. Inszenierungen der Geschlechter, München 1999, 209 – 222, hier 216. 50 Regie: Alfons Stummer, Drehbuch: Alfred Solm und Alfons Stummer, Österreich 1954. Der ursprüngliche österreichische Verleihtitel lautete Echo der Berge.

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späteren Abend oder bei großer Hitze. Die schwarzhaarige Frau kombiniert ein langes, grau-schwarz-weißgemustertes Abendkleid mit weißem Modeschmuck. Im Hintergrund hängen zwei in Schwarz-Weiß gehaltene abstrakte Zeichnungen. Die Kunst wie auch das Künstlerpaar erhalten darüber einen dekorativen Charakter. Dekoratives war in den 1950er Jahren aus dem Bereich der Kunst ausgeschlossen. Es galt als oberflächlich. Dekorativ sind auch die ausschließlich schwarz-weiß-graue Kleidung tragenden Gäste des Paares. Farben, Formen und Bewegungen sind streng kalkuliert und Kunst, Kleidung und Interieur akkurat aufeinander abgestimmt. Die Harmonie wird jedoch durch das Zusammentreffen von Abendkleidern, Cocktailkleidern und Sakkoanzügen sowie durch mit Blusen, Herrenhemden oder Pullovern ergänzte schmale Hosen durchkreuzt. Denn große Robe, Cocktailkleidung, Freizeitmode und unvollständige Garderobe waren in den 1950er Jahre verschiedenartigen Anlässen zugeordnet. Nur im Kreise der Pariser Intellektuellen und KünstlerInnen der Rive Gauche – also in einem explizit antibürgerlichen Milieu – wurden sie munter miteinander kombiniert. Der Förster vom Silberwald entwirft den „modernen Künstler“ somit als einen „abstrakten Künstler“, dessen Kleidung in einer Weise mit Elementen des Herrenanzugs spielt, die ihn zum ‚Bürgerschreck‘ erklärt. Vergleicht man jedoch die Künstlerbilder internationaler Filme wie Le Mystère Picasso, wird deutlich, dass der westdeutsche Spielfilm selbst noch in der Abwehr sehr vorsichtig agiert. In den 1950er Jahren finden sich im Spielfilm aber auch zahlreiche positiv konnotierte Entwürfe bildender Künstler. Im Unterschied zum hochkulturellen Kunstdiskurs wird in diesen Filmen meist ein „gegenständlicher Künstler“ gefeiert. Beispielsweise erzählt Die Heilige und ihr Narr (1957)51 von einem erfolgreichen Maler adeliger Herkunft, der sein städtisches Leben als Bohemien aufgibt, um am Stammsitz seines Geschlechts eine Familie zu gründen. Seine Gemälde, meist weibliche Porträts, orientieren sich am Naturvorbild. Nur der lockere Pinselstrich bringt eine abstrahierende Note ins Spiel. Die Garderobe des 51 Regie: Gustav Ucicky, Drehbuch: Erna Fentsch, Österreich 1957. Die Verfilmung ist eine Adaptierung des 1913 erschienen und für Jahrzehnte am Buchmarkt erfolgreichen gleichnamigen Romans von Agnes Günther.

Der „endlose“ Herrenanzug | Barbara Schrödl

Abb. 12: „Die Heilige und ihr Narr“ (1957), Filmstill

Malers umfasst Trachtenmode, Kombinationen von Tuchhose mit weißem oder schwarzem Herrenhemd, Sakkoanzüge in der modischen V-Silhouette, Badekleidung sowie ein Ensemble aus loser Baumwolljacke, weiter Hose und weißem Herrenhemd (Abb. 12). Letzteres Outfit erinnert an die zeitgenössische Freizeitkleidung, doch trägt es der Künstler beim Malen. Die im Atelier getragene Freizeitkleidung erweist sich als interessant. Mit dem Wirtschaftswunder der 1950er Jahre ging der Umbau von der Industriegesellschaft zur auf Freizeit und Konsum fokussierten Dienstleistungsgesellschaft einher. Eine wichtige Figur, die diese Verschiebung ins Bild setzte, ist der „gegenständliche Künstler“ des populären Kinos.52 Im populären Kino der zweiten Hälfte der 1950er Jahre finden sich dann auch Künstlerfiguren, die nicht mehr in Opposition zum hochkulturellen Kunstdiskurs stehen, sondern den „modernen Künstler“ in eine vom Wirtschaftswunder geprägte Gemeinschaft integrieren. Wiederholt changiert dabei das Werk des „modernen Künstlers“ zwischen „freier Kunst“ und „angewandter Kunst“. So entwirft Ferien auf Immenhof (1957)53 einen Grafiker, der in seiner Freizeit als „freier Künstler“ durch die schöne Linie geprägte Zeichnungen anfertigt, welche letztlich seinen beruflichen Aufstieg als Gebrauchsgrafiker begründen. Interessant ist, dass dem Grafiker keine Ausnahmestellung zukommt – weder ist seine Arbeit dem Wirtschaftlichen enthoben, noch sein Charakter besonders oder sein Filmkostüm auffällig (Abb. 13).

52 Vgl. Schrödl, Bild des Künstlers und seiner Frauen, 230 – 247. 53 Regie: Hermann Leitner, Drehbuch: Per Schwenzen und Hermann Leitner, BRD 1957.

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Wie die Mehrzahl der männlichen Figuren trägt er im Alltag die neue Freizeitkleidung – kurzärmlige

Hemden,

mit-

unter sogar in der neuen quergeknöpfte

Variante,

Hosen

aus Baumwolle und lose Jacken – und bei den wenigen Abb. 13: „Ferien auf Immenhof“ (1957), Filmstill

offiziellen Anlässen mit dem Herrenanzug die Maske des

bürgerlichen Mannes. Spannender als der kaum in Erscheinung tretende Herrenanzug ist daher die stetig präsente Freizeitkleidung. Ihr kommt eine wichtige Funktion zu: Wie einst der Herrenanzug wirkt sie gemeinschaftsbildend. Die Freizeitkleidung schließt alle jüngeren Männer – einschließlich der traditionellen Ausnahmefigur des Künstlers – zusammen und charakterisiert diese Gruppe als eine neue, junge, moderne und annähernd geschichtslose Gemeinschaft, in der sich der Mann nicht länger einzig über seine Arbeit definiert, sondern auch dazu aufgerufen ist, Anteil an der neuen Konsum- und Freizeitkultur zu nehmen.54 Die im Film vorgestellte Freizeitkleidung entsprach – zumindest im städtischen Kontext – der Kleidung der männlichen Zuschauer und konnte so die vor der Leinwand ihre Freizeit genießenden Männer zur Integration in die Gemeinschaft auf der Leinwand animieren.55 Der „moderne Künstler“ im Anzug der Zeit, das Private und die Politik

Die Bilder des „modernen Künstlers“ im populären Spielfilm und im Kontext der ersten documenta zeigen deutliche Analogien. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre bildete der bürgerliche Herrenanzug als Sakkoanzug in der V-Silhouette im hochkulturellen wie im populären Kunstdiskurs das Grund-

54 Man könnte einwenden, dass eine von den Ferienhofbetreibern wie auch vom Künstler bei der Arbeit getragene Freizeitkleidung diese in die Nähe der Arbeitskleidung rücken würde, doch werden solche Assoziationen dadurch entkräftet, dass es bei der Arbeit um den Aufbau eines Ferienhotels – also eines Raumes der und für Freizeit – geht. 55 Im Wirtschaftswunder begann die Freizeitkleidung das Kleidungsverhalten der Männer erkennbar zu beeinflussen: Sie wurde immer öfter getragen.

Der „endlose“ Herrenanzug | Barbara Schrödl

modell der Künstlerkleidung, doch wurden in beiden Bereichen in anderer Weise und mit unterschiedlichen Effekten informelle Züge ins Spiel gebracht. Im Bereich der Hochkultur erhielt der Herrenanzug durch Momente der Unvollständigkeit oder die Kombination mit Elementen der Freizeitkleidung einen unkonventionellen, legeren und privaten Touch. Im populären Kino wurden diese Praktiken zunächst dazu herangezogen, um den „modernen Künstler“ als einen antibürgerlichen Intellektuellen zu inszenieren. Im Kontext der sich etablierenden Konsum- und Freizeitkultur zeigt sich jedoch gegen Ende der 1950er Jahre eine allgemeine, auch den Künstler einschließende Abkehr von der universellen Verbindlichkeit des Herrenanzugs. Es ist nun jedoch der „gegenständliche Künstler“ und nicht länger der „moderne Künstler“, der dem Trend zur Freizeitmode folgt. Der „endlose“ Herrenanzug

Der Sakkoanzug ist heute noch immer aktuell. Abweichend von der Tradition tragen ihn aber seit den 1970er Jahren nicht mehr nur Männer, sondern auch Frauen. Er ist schichtweg das Gewand für den öffentlichen Auftritt von Menschen, deren Stimme Gehör finden soll. Dies gilt auch für die Kunstöffentlichkeit: KünstlerInnen, MuseumsmitarbeiterInnen, GaleristInnen, PolitikerInnen, KunstwissenschaftlerInnen und Kunstpublikum tragen überwiegend Anzüge oder zumindest Teile des Anzugs. Anzüge sind auch Gegenstand kunst-, kultur- oder modetheoretischer Analysen. Das Erscheinen des Anzugs auf dem Parkett von Kunst und Kunstwissenschaft trägt dabei unablässig dazu bei, ihn mit neuer Bedeutung aufzuladen und die neuen Bedeutungen wiederum in andere Felder der Gesellschaft einzuspielen. Die Mode ist nicht nur durch ständig fluktuierende Sinnkonstruktionen charakterisiert, sondern verweist uns auch deutlich auf unsere eigene Involviertheit in den unabschließbaren Prozess der Bedeutungsproduktion. Kann oder muss man daraus jedoch folgern, dass wir beim nächsten Griff in den Kleiderschrank, der das Ziel hat, eine Anzughose, -jacke oder auch beides hervorzuholen, mit der Vorbereitung unserer „cultural

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performance“56 den Bedeutungswandel des Anzugs fortsetzen? Oder dass kunstwissenschaftliches Arbeiten zum und über den Anzug dessen Bedeutung verändert? Ja, aber wir können dennoch – gehüllt in den Schutz des Uniformen und der Tradition – ganz entspannt bleiben, denn das „gleichsam wuchernde Gebilde eines nicht zu arretierenden Sinns, der nie dingfest zu machen, nie einfach zu haben ist, aber dennoch in seiner je momentanen, historisch kontingenten Form existiert“57, verfügt über ein so beachtliches Beharrungsvermögen, dass revolutionäre Prozesse kaum zu befürchten sind. Die kulturelle Zeichenproduktion und -zirkulation befindet sich zwar im steten Fluss, aber die Fließgeschwindigkeit ist äußerst langsam.

Literatur Adorf, Sigrid/Heinz, Kathrin, Zeichen/Momente. Vergegenwärtigungen in Kunst und Kulturanalyse. Für Sigrid Schade, Flyer zum Symposium, 31.01.– 01.02.2014, Zürcher Hochschule der Künste Barthes, Roland, Mythen des Alltags, übers. v. Helmut Scheffel, Frankfurt a. M. 1964 Barthes, Roland, Die Sprache der Mode, übers. v. Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 1985 Brauerhoch, Annette, Trauer in Trümmern. Zum Motiv des traurigen kleinen Jungen in zwei Nachkriegsfilmen, in: Ecker, Gisela (Hg.), Trauer tragen – Trauer zeigen. Inszenierungen der Geschlechter, München 1999, 209 – 222 Buergel, Roger M., Der Ursprung, in: Glasmeier, Michael/Stengel, Karin (Hg.), Archive in motion. documenta-Handbuch. 50 Jahre documenta 1955 – 2005 (AK, Kunsthalle Fridericianum Kassel, 01.09.– 20.11.2005), Göttingen 2005, 173 –180 Buovolo, Marisa, So wurden Männer im Kino richtig sexy, in: welt.de, 08.07.2007, http:// www.welt.de/kultur/kino/article927153/So-werden-Maenner-im-Kino-richtig-sexy.html [Stand: 28.07.2015] documenta. kunst des XX. Jahrhunderts. internationale ausstellung im museum fridericianum in kassel 1955 (AK, Museum Fridericianum, Kassel, 15.07.–18.09.1955), Reprint der Originalausgabe (1955), München 1995 Drühl, Sven, Die individuelle Künstleruniform, in: Mentges, Gabriele/Richard, Birgit (Hg.), Schönheit der Uniformität. Körper, Kleidung, Medien, Frankfurt a. M./New York 2005, 115 –136 Ellwanger, Karen, Mobilität in der Bekleidung I. Mobilität und Geschwindigkeit in der Modetheorie der Moderne, in: Heinrich, Bettina u. a. (Hg.), Gestaltungsspielräume. Frauen in Museum und Kulturforschung. 4. Tagung der Kommission Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde (Studien & Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 10), Marburg 1992, 161–176 Fastert, Sabine, Im Kampf gegen die abstrakte Kunst. Vergebene Chancen zwischen 1945 und 1959, in: Ruppert, Wolfgang/Fuhrmeister, Christian (Hg.), Zwischen Deutscher Kunst und internationaler Modernität. Formungen in der Künstlerausbildung 1918 bis 1968, Weimar 2007, 59 – 79

56 Vgl. Lehnert, Gertrud, Das vergängliche Kleid, in: Kunstforum International 197 (2009), Titel-Thema: DRESSED! Art en Vogue, hg. v. Claudia Banz, Barbara Til u. Heinz-Norbert Jocks, 265 – 283. 57 Adorf/Heinz, Zeichen/Momente, Blatt 1 (Hervorhebung B. S.).

Der „endlose“ Herrenanzug | Barbara Schrödl Grasskamp, Walter, ‚Entartete Kunst‘ und documenta I. Verfremdung und Entschärfung der Moderne, in: ders., Die unbewältigte Moderne. Kunst und Öffentlichkeit, München 1989, 76 –119 Kern, Manfred, Exzellente Kleidsamkeit. Vestimentäre Ästhetiken in Dichtung und Kunst des Mittelalters, in: Gürtler, Christa/Hausbacher, Eva (Hg.), Kleiderfragen. Mode und Kulturwissenschaft, Bielefeld 2015, 59 – 79 Kimpel, Harald/Stengel, Karin, Documenta 1955. Erste internationale Kunstausstellung. Eine fotografische Rekonstruktion, Bremen 1995 Lehnert, Gertrud, Das vergängliche Kleid, in: Kunstforum International 197 (2009), TitelThema: DRESSED! Art en Vogue, hg. v. Claudia Banz, Barbara Til u. Heinz-Norbert Jocks, 265 – 283 Panofsky, Erwin, Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance [1939], in: ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, 207– 225 Schade, Sigrid/Wenk, Silke, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld (Studien zur visuellen Kultur 8), Bielefeld 2011 Schmidt, Bärbel, Geschichte und Symbolik der gestreiften KZ-Häftlingskleidung, Dissertation am Fachbereich 2 Communication/Aesthetics der Universität Oldenburg, Oldenburg 2000, online abrufbar unter http://oops.uni-oldenburg.de/407 [Stand: 20.10.2016] Schrödl, Barbara, Das Bild des Künstlers und seiner Frauen. Beziehungen zwischen Kunstgeschichte und Populärkultur in Spielfilmen des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit (Studien zur visuellen Kultur 3), Marburg 2004 Schrödl, Barbara, Ein filmischer Atelierbesuch und ein Maler im Filmstudio. Zeitlichkeit zwischen Produktions- und Rezeptionsprozessen, in: Gludovatz, Karin/Peschken, Martin (Hg.), Momente im Prozess. Zeitlichkeit künstlerischer Produktion, Berlin 2004, 91–100 Simmel, Georg, Die Mode [1905/1911], in: Bovenschen, Silvia (Hg.), Die Listen der Mode, Frankfurt a. M. 1986, 179 – 207

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Umrahmung des Realen. Motive einer Kunst der Zeichen im Ausgang von Proust, Morandi und Burri Isabella Guanzini

Die erste Annäherung zum Thema kommt mir als ein unwiderstehlicher Sirenengesang von Friedrich Hölderlin entgegen, der in der ersten Version von Mnemosyne (1803) schreibt: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren.“1

In der ersten Version von Mnemosyne kommt dieser Vers vor, in der letzten Version hingegen nicht mehr. Zu selben Zeit hat Hölderlin das Gedicht Der Ister verfasst, wo er schreibt: „Ein Zeichen braucht es / Nichts anderes.“2 Es scheint, als würden diese beiden Stellen miteinander korrespondieren, aber es geht um ein Zeichen, das deutungslos geworden ist.3 Was ist ein deutungsloses Zeichen? Es ist ein vollkommenes Paradox, weil es wie ein Zeichen ist, das nichts mehr zeigt, und deshalb kein Zeichen mehr ist. Es geht nicht um irgendein Zeichen, sondern um uns, die wir kein Zeichen haben, sondern Zeichen sind: gefühllos (schmerzlos) und an der Schwelle zur Sprachlosigkeit. Hölderlin spricht davon, dass wir fast die Sprache verloren haben. Fast ist wichtig, Hölderlin verwendet dieses Wort in vielen Gedichten. Fast und noch sind 1 Hölderlin, Friedrich, Mnemosyne [Entwurf], in: ders., Sämtliche Gedichte. Text und Kommentar, hg. v. Jochen Schmidt (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 4), Frankfurt a. M. 2005, 1033 (Verse 1– 3). 2 Ebd., 363 (Verse 50 – 51). Ister ist der griechische Name der Donau. 3 Vgl. Deibl, Jakob, Hölderlin-Gesamtausgabe 1914: ein Beitrag zur Autobiographie Europas?, in: Appel, Kurt/Guanzini, Isabella (Hg.), Europa mit oder ohne Religion? Teil 2: Der Beitrag der Religion zum gegenwärtigen und künftigen Europa (Religion and Transformation in Contemporary European Society 10), Göttingen 2016, 29 – 50.

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Wörter, welche die minimale Differenz zwischen „noch sein“ und „nicht mehr sein“ zum Ausdruck bringen. Wir haben hier eine kleine sprachliche Differenzierung, die noch eine geringere Distanz zwischen „nicht sein“ und „noch sein“ zum Ausdruck bringt. Fast und noch sind diese Ausdrücke, und diesen Bereich, der mit diesem fast geöffnet wird, zwischen „sein“ und „nicht sein“, möchte Hölderlin in den Dichtungen eröffnen. Ausgehend von diesen Versen möchte ich einige Überlegungen skizzieren, die sich nicht auf eine Hermeneutik des Denkens Hölderlins richten, sondern vielmehr auf eine Reflexion über die Zeichen im Ausgang von Gilles Deleuze und Jacques Lacan. Mit der Wahl dieser beiden Autoren möchte ich zweifellos nicht die klassische semiotische Zeichentheorie untersuchen, in welcher ein Zeichen in einer Verweisbeziehung steht und eine vermittelnde (intermediäre) Funktion hat. Das Zeichen ist dann etwas, das für etwas anderes steht (so Aristoteles oder die mittelalterliche Scholastik, aliquid stat pro aliquo). Mit diesen Überlegungen möchte ich in eine andere Richtung gehen, um die Kraft oder das Wunder des Zeichens aufs Spiel zu setzen. Im ersten Teil versuche ich diesem Ausdruck Hölderlins „Ein Zeichen braucht es“ nachzugehen. Im zweiten Teil möchte ich über den anderen Vers Hölderlins nachdenken, der uns Menschen als ein deutungslos gewordenes Zeichen versteht. I. Lehrgang der Hieroglyphie

In seinem Kommentar zu Marcel Prousts Roman À la recherche du temps perdu4 zeigt Deleuze, dass die Wahrheit nur durch eine Entzifferung und Auslegung der Zeichen gesucht und gefunden werden kann.5 Dies bedeutet, dass das Feld der Welt – mit Roland Barthes gesprochen6 – ein unendliches und differenziertes Reich der Zeichen ist, das ständig auf eine Entzifferung wartet. Es geht um eine wesentliche Lesbarkeit der Welt, in welcher sich ein Leben von Formen entwickelt und jeder Organismus, wie Jakob von Uexküll behauptet, „eine singende

4 Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, in sieben Teilen erschienen 1913 bis 1927. 5 Deleuze, Gilles, Proust und die Zeichen, übers. v. Henriette Beese (Internationaler MerveDiskurs 170), Berlin 1993. 6 Barthes, Roland, Das Reich der Zeichen, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1981.

Umrahmung des Realen | Isabella Guanzini

Melodie“7 ist. Dieses Leben der Formen ist jenes Zeichen als eine sprachlose Rede, eine Hieroglyphe, d. h. eine Form, die unmittelbar sie selbst ist, die ihre eigene Bedeutung in sich trägt. Deshalb sind die Zeichen „deutungslos“: Sie verweisen nicht einfach auf etwas anderes, sondern sie verwahren in sich selbst ein immanentes Geheimnis, eine Essenz, wie Deleuze schreibt, die enthüllt zu werden vermag. Wir können an die Philosophie Plotins denken, wo die Formen sich als sich selbst zeichnende Hieroglyphen erscheinen. Es handelt sich um eine Welt von Zeichen, die keine weitere Vermittlung oder transzendente Verweise braucht. Dieses Weltbild konstituiert sich weder nur aus rohem Stoff noch nur aus willigem Geist: das heißt, dass es weder die Physik betrifft, die eine objektive Beobachtung der Natur und eine eindeutig positivierbare Materie unterstellt, noch die Philosophie, die direkte Aussagen, vorgedachte Entscheidungen und explizite Bedeutungen als Ergebnisse einer rationalen Forschung setzt. Dieses Weltbild berührt vielmehr ein Wissen um Zeichen. Deleuze schreibt: „Wir haben Unrecht, wenn wir an Fakten glauben, es gibt nur Zeichen. Wir haben Unrecht, wenn wir an die Wahrheit glauben, es gibt nur Interpretationen. […] Wenn der Duft einer Blume ein Zeichen gibt, geht er über die Gesetze der Materie und gleichzeitig über die Kategorien des Geistes hinaus. Wir sind weder Physiker noch Metaphysiker: wir müssen Ägyptologen werden.“8

Deleuze zeigt, dass es keine mechanischen und positiven Gesetze zwischen den Dingen und keine bloß intentionale Kommunikation zwischen den Seelen gibt, sondern Beziehungen und Entsprechungen zwischen Subjekten und Erfahrungen, die ÄgyptologInnen benötigen. In diesem Sinne ist die Suche

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„Der Organismus, die wachsende Pflanze, der sich entwickelnde Keim, die sich teilende Zelle, ist aber nicht nur eine Gestalt, sondern eine Gestalten produzierende Gestalt, eine ‚singende Melodie‘ (v. Uexküll), aber er lebt für sich, in sich, und das Milieu ist nur Bedingung für sein ‚exstatisch‘ (Scheler) sich entfaltendes Sein.“ Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes, Mensch und Tier. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie (Rowohlts deutsche Enzyklopädie 74), Hamburg 1958, 18. Vgl. Uexküll, Jakob von, Der Organismus und die Umwelt [1931], in: ders., Kompositionslehre der Natur. Biologie als undogmatische Naturwissenschaft. Ausgewählte Schriften, hg. u. eingel. v. Thure von Uexküll, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980, 305 – 342. 8 Deleuze, Proust und die Zeichen, 76.

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nach der Wahrheit eine besondere Initiation durch die Zeichen, wo die Körper sprechen und die Sprache wie ein Körper wirkt. Proust beschreibt diese körperhafte Wirkung der Wörter und diese sprachliche Verfasstheit der Körper: „Die Worte selbst gaben mir Auskunft nur unter der Bedingung, daß sie etwa durch das Einströmen des Blutes in das Gesicht einer Person, die in Verwirrung geriet, oder ein plötzliches Schweigen eine Deutung erfuhren.“9

Diese Qualität des Zeichens, die uns berührt, hängt nicht von einer Eigenschaft des Gegenstandes, dem wir begegnen, ab – das Zeichen ist tiefer als das Objekt, das es aussendet, obwohl dieses Zeichen sich noch an diesen Gegenstand heftet, d. h. es nicht ohne Objekt existieren kann. Solche Qualität des Zeichens ist aber auch zweifellos tiefer als das Subjekt, das ihm begegnet und es interpretiert. Das Zeichen verkörpert sich auch in den subjektiven Assoziationen und in dem subjektiven Gedächtnisprozess. So erscheint die Deutung des Zeichens als eine Bewegung vom Objekt zum Subjekt, ein Sprung von einem zum anderen, ein Übergang und ein Changieren, insofern wir die Enttäuschung des Objekts durch einen subjektiven Ausgleich zu kompensieren vermögen. Die Madeleine, ein französisches Kleingebäck, dessen Geschmack den Erzähler der Recherche an seine Kindheit erinnert und damit das gesamte Werk Prousts, d. h. die gesamte Suche nach der verlorenen Zeit katalysiert, ist zweifellos mehr als ein Gebäck. Jedoch kann ihre magnetisierende Erinnerungskraft nicht ohne ihren Teig und ihre Konsistenz wirksam sein. Gleichzeitig kann ihr Geschmack nicht nur auf einfache Ideenassoziation reduziert werden. Diese subjektive Kompensation macht aus der Madeleine oder aus dem Kunstwerk selbst schließlich „ein kleines Kettenglied in unseren Ideenassoziationen“10. Jedes Zeichen hat zwei Teile, ein Teil ist im Gegenstand versteckt und ein anderer Teil ist in uns selbst verlängert, sodass

9 Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in 13 Bänden, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Bd. 9: Die Gefangene 1, Frankfurt a. M. 1964, 116. 10 Deleuze, Proust und die Zeichen, 33.

Umrahmung des Realen | Isabella Guanzini

wir das Zeichen erkennen können. Es geht um „eine Welt, ein von spirituellen Essenzen bevölkertes Milieu.“11 Die Welt des Romans bei Proust ist eigentlich aus Systemen von Zeichen konstituiert, die aus Menschen, Objekten und Materie gebaut werden, gegenüber denen man sensibel werden soll. Vor allem die Liebe ist durch die Zeichen gekennzeichnet. Verliebt zu sein bedeutet, dass man besonders empfindlich für die Zeichen wird, die der Andere zum Ausdruck bringt, gleichsam wie in einer Initiation, wo das Leben, die Gesten, die Wörter, die minimalen Regungen des Geliebten als Zeichen verstanden werden. Der Geliebte schließt eine Welt von Zeichen ein, die man entziffern soll. Es ist notwendig, die Zeichen auszubreiten, aufzulösen, ihre sinnlichen Qualitäten zu entwickeln, die uns eine besondere Freude und gleichzeitig eine Art von Imperativ vermitteln. Dieser Imperativ gilt auch für das Lernen, d. h. für die menschliche Art und Weise, die Welt und das Leben zu entziffern. Die gesamte Philosophie Gilles Deleuzes, besonders Differenz und Wiederholung, könnte als eine ständige Frage nach dem Lernen verstanden werden. Er schreibt, dass Lernen wesentlich in einer Verbindung zu Zeichen steht: „Es gibt keinen Lehrling, der nicht ‚Ägyptologe‘ irgendeiner Sache wäre.“12 Das Lernen ist eine Begegnung mit einem Zeichen – der Liebe, der Sinnlichkeit, des Gesellschaftlichen (der Mondanität) –, die uns zwingt, etwas zu suchen und zu verstehen, d. h. zu lernen. Das Zeichen spricht, drängt und bedrängt, zwingt uns zu suchen. Dies zeigt die Kraft des Zeichens als hieroglyphische und bildhafte Sprache mit ihrem Initiationsalphabet. Die Recherche betrifft Deleuze zufolge nicht Gedächtnis und Zeit, sondern vielmehr Zeichen und Wahrheit. „Das Wesentliche ist nicht, sich zu erinnern, sondern zu lernen.“13 Und das Lernen geschieht erst durch die Präsenz und die Interpretation der Welt der Zeichen. Die Recherche von Proust stellt einen sich vertiefenden Lehrgang dar, der sich als eine kontinuierliche Enthüllung und Eröffnung von Bedeutungen, Erkenntnissen und Wahrheiten manifestiert und eine fortschreitende Reifung des Interpreten bewirkt.

11 Ebd., 34. 12 Ebd., 8. 13 Ebd., 75.

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„Nie weiß man, wie jemand lernt; doch wie er auch immer lernen mag, es geschieht immer durch die Vermittlung von Zeichen, durch das Verlieren von Zeit, nicht durch die Aneignung objektiver Inhalte. Wer kann wissen, warum ein Schüler urplötzlich ‚gut in Latein‘ wird, welche Zeichen (unter Umständen solche der Liebe oder selbst uneingestehbare) ihm zur Lehre gedient haben? Wir lernen nie aus den Wörterbüchern, die unsere Lehrer oder unsere Eltern uns angeboten haben. Das Zeichen schließt die Heterogeneität als Verhältnis in sich ein.“14

Es gibt kein Lernen ohne diese besondere Heterogenität der Zeichen, ohne diese unnatürliche Fremdheit der Zeichen, die die Sinnlichkeit anstößt, die Imagination bewegt und den Verstand zwingt, die Wahrheit der Zeichen zu suchen. Daher handelt es sich um keinen automatischen und freiwilligen Prozess des Beobachtens und des Verstehens, sondern um Tyche, d. h. eine zufällige und zugleich notwendige Erfahrung einer rätselhaften Weltbegegnung. Es geht um die Begegnung mit einer fraglichen und unheimlichen Kontingenz, die von der anonymen und homöostatischen Dimension des Automatismus abweicht. „Wo aber begegnen wir diesem Realen? Um eine Begegnung, eine wesentliche Begegnung geht es bei dem, was die Psychoanalyse entdeckt, in der Tat – es geht um ein Rendez-vous mit dem Realen, zu dem wir stets gerufen sind, das sich jedoch entzieht. […] Schon die erste Form, in der die Funktion der Tyche, des Realen als Begegnung, in der Geschichte der Psychoanalyse auftrat – ich meine die Begegnung, die verfehlt, mankiert werden kann, die wesentlich eine verfehlte Begegnung ist – reicht aus, unsere Aufmerksamkeit zu wecken – ich meine das Trauma.“15

Das Zeichen stellt eine befremdliche Begegnung mit einer unassimilierbaren Essenz des Dings dar, die in Verbindung mit der 14 Ebd., 21. Und Proust bemerkt: „Ich war nicht weniger frappiert bei dem Gedanken, daß die vielleicht außergewöhnlichsten Kunstwerke unserer Epoche nicht dem Concours général, einer akademischen Mustererziehung à la Broglie, sondern dem Besuch des Turfs und fashionabler Bars zu verdanken sind.“ Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in 13 Bänden, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Bd. 11: Die Entflohene, Frankfurt a. M. 1964, 269. 15 Lacan, Jacques, Das Seminar, Buch XI (1964): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übers. v. Norbert Haas, Berlin 31987, 59 u. 61.

Umrahmung des Realen | Isabella Guanzini

Gewalt des Traumas gebracht werden kann. Lacan würde sagen, dass Tyche als das Glück eines traumatischen Einschlags, als Begegnung mit dem Realen verstanden werden soll, d. h. als eine unheimliche Dimension des Lebens, die sich jeder Symbolisierung oder jedem Begriff entzieht oder entflieht, die den Automatismus der Wiederholung stört und jenseits jeder Sprachlichkeit oder Vorstellbarkeit steht. II. Die willkürliche Philosophie und das unfreiwillige Zeichen

Platon bietet uns ein Modell des Denkens an, das sich unter der Perspektive der Begegnungen und der Gewalt bewegt. In der Politeia, genau in Verbindung mit seiner Reflexion über die paideía, die Bildung der Philosophen, zeigt er zwei Arten von weltlichen Gegenständen: solche, die das Denken passiv lassen und als die Objekte des Wiedererkennens bezeichnet werden; und solche, denen wir begegnen, die uns Gewalt antun und das Denken erwecken.16 „Wir suchen die Wahrheit einzig in der Zeit, gedrängt und gezwungen. Der nach Wahrheit Suchende ist der eifersüchtige Liebhaber, der im Gesicht der Geliebten ein trügerisches Zeichen entdeckt. Es ist der empfindungsfähige Mensch, wenn er der Gewalt eines Zeichens begegnet. Es ist der Leser, der Hörer, wenn das Kunstwerk Zeichen aussendet, die ihn vielleicht zu schaffen zwingen werden, wie der Appell des Genies an andere Genies.“17

Die Zeichen der Liebe brauchen – ebenso wie die sinnlichen Zeichen – nach Deleuze einen besonderen Verstand, der nicht seiner freiwilligen und eigentümlichen Ordnung folgt, sondern der unwillkürlich den Zwängen der Zeichen unterliegt und nur davon beseelt wird. Daher kann er die Leere und das Leiden, die ihn ersticken, abwenden. In die Wahrheit kann man nicht mittels Affinität oder dank der Kraft eines guten Willens eintreten. In der Philosophie, so Deleuze, erreicht man nur abstrakte

16 Platon, Politeia, Buch VII, 523 b – 525 b. 17 Deleuze, Proust und die Zeichen, 80.

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und logische Wahrheiten, die vom Willen der Vernunft zur Welt gekommen sind und die nichts zu erschüttern vermag, die sich mit niemandem einlassen. „Immer ist es die Gewalt eines Zeichens, die uns zu suchen zwingt, die uns den Frieden raubt. Die Wahrheit läßt sich nicht durch Affinität finden oder durch guten Willen, sondern verrät sich durch unbewußte Zeichen.“18

Diese Gewalt kommt von der Wirkung des Zeichens als Hieroglyphe, wobei der Zufall der Begegnung und die Unvermeidlichkeit des Denkens zusammentreffen und die Wahrheit ein Objekt einer Begegnung ist. Das Zeichen ist gleichzeitig zufällig als auch notwendig, sodass die Wahrheit nie das Ergebnis eines vorgängigen guten Willens oder einer natürlichen Liebe zum Wahren ist. Genau die Kontingenz der Begegnung steht für die Notwendigkeit dessen ein, was man denken soll. Das Denken entspricht nicht einer einfachen natürlichen Möglichkeit, sondern es betrifft eine wahrhafte Schöpfung, die das Denken selbst von seiner Standardeinstellung und seinen familiären Wegen abwendet. Im Ausgang von Proust richtet Deleuze die gleiche Kritik gegen die Philosophie und gegen die Freundschaft, insofern sie beide „unter der Wirkung eines gemeinsamen guten Willens“19 kommunizieren. Aber solange sie diese Voraussetzung haben, bleiben ihre Wahrheiten nur willentlich bestimmt und abstrakt und ignorieren die wirksamen Kräfte, die Notwendigkeiten, die Bestimmungen, die Ahnungen und die Signaturen der Zeichen, die uns zu denken zwingen. Deleuze setzt deshalb der philosophischen Methode den „Zwang“ entgegen, sodass die Wahrheit von einer Begegnung abhängt, die uns zwingt, zu denken und das Wahre zu suchen. Der Verstand ist die Fähigkeit, Zeichen zu deuten – Zeichen der Liebe, der Sinnlichkeit und des Gesellschaftlichen. Es geht allerdings nicht um abstrakte Wahrheiten, die ein Denker durch eine spekulative Methode oder eine Deduktion erklären kann. „Es ist notwendig, daß der Verstand gezwungen wird, daß er einem Druck unterliegt, der ihm keine

18 Ebd., 16. 19 Ebd., 78.

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Wahl läßt.“20 Insbesondere in den Zeichen der Liebe ist es die leidende Empfindlichkeit, die unseren Verstand zwingt, den Sinn des Zeichens und die Essenz, die dabei verkörpert wird, zu suchen. In der Liebe soll eine Geste, eine Intonation, ein Gruß interpretiert werden, und der Schmerz zwingt den Verstand zu denken, „wie manche ungewöhnte Freuden das Gedächtnis in Bewegung setzen.“21 Dies erscheint zugleich unvermeidbar und zufällig. Die Wahrheit zwingt uns, den Sinn der Zeichen zu entziffern, zu übersetzen, zu deuten. „Am Anfang muß die Erfahrung der gewaltsamen Wirkung des Zeichens stehen, und das Denken muß gleichsam gezwungen werden, die Bedeutung des Zeichens zu suchen.“22 In dieser Perspektive erscheint die Philosophie mit ihrem guten Willen und ihren Methoden starrsinniger und kraftloser als der enigmatische Druck des Kunstwerks. Ihre objektivistische Tendenz verkennt das Reich der Zeichen, auch wenn sie die natürlichste Tendenz und den spontanen Mechanismus unseres Wahrnehmens darstellt. „Der Verstand hat Geschmack an der Objektivität wie die Wahrnehmung Geschmack am Objekt hat.“23 Die Wahrnehmung vermag die Realität zu beobachten, so wie die Intelligenz die Realität zu formulieren und zu sagen vermag. Aber wichtiger als der Gedanke ist nach Proust ce qui donne à penser. „In all seinen Formen kann der Verstand selbst nur zu jenen Wahrheiten gelangen und uns zu ihnen führen, die abstrakt und konventionell sind und nur einen möglichen Wert haben.“24 Die Wahrheiten, die der Verstand eindeutig begreift, sind deshalb weniger tief, weniger notwendig als diejenigen, an die wir unabsichtlich stoßen, und die wir als Zeichen interpretieren müssen. Darum soll das Denken sowohl die natürliche Starre als auch seine bloßen abstrakten Möglichkeiten überwinden können. Es erscheint schwierig, objektivistische Illusionen vermeiden zu können, und sie beharren auch in der Kunst, dort wo man noch glaubt, dass es notwendig wäre, ein Objekt zu beobachten, zu

20 Ebd., 21 Ebd., 22 Ebd. 23 Ebd., 24 Ebd.,

61. 22. 27. 28.

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beschreiben, zu zerlegen, um seine Wahrheit zu äußern. Die Hauptfigur der Recherche fühlt sich immer fremd gegenüber dieser Art und Weise, sich Zeichen anzunähern, wo das Objekt sich in Zeichen einmischt und sie verdunkelt. „In Wissenschaft und Philosophie kommt der Verstand immer zuerst; das Eigentümliche der Zeichen aber besteht darin, daß sie sich an den Verstand wenden, insofern er nachher kommt, insofern er nachher kommen muß.“25 Im Gegensatz dazu ist „Denken […] immer interpretieren, das heißt ein Zeichen explizieren, entwickeln, entziffern, übersetzen. Übersetzen, entziffern, entwickeln sind die Formen der reinen Schöpfung.“26 Es gibt keine explizierte Bedeutung, so wie es keine Ideen gibt, die klar und deutlich sind. „Es gibt nur in den Zeichen implizierte Bedeutungen“, die das Denken von Implikation (complicatio) zur Explikation (explicatio) leiten sollen, so wie es mit einem japanischen Papierchen passiert, „das sich im Wasser öffnen und die gefangene Form befreien würde.“27 In der philosophischen, theologischen und mathematischen Perspektive von Nikolaus von Kues ist Gott Einfaltung, Komplikation (complicatio) der Welt, die das Mehrfaltige in seiner Einheit einschließt, und die Welt ist Ausfaltung (explicatio) Gottes, die seine Einheit entfaltet und entziffert. Im gleichen Sinne sind bei Proust und Deleuze die Zeichen eine complicatio mundi, die der Dichter, der Verliebte oder der Künstler – mehr als der Philosoph oder der Physiker – verdeutlichen soll. Diese in Zeichen eingehüllte und geborgene Idee zwingt das Denken zu einer Enthüllung und Entzifferung, die Zeit braucht und in der Zeit geschieht. Es gibt Zeichen, die uns zwingen, über die verlorene Zeit nachzudenken, um uns zu zeigen, dass auch die verlorene Zeit ihre eigenen Wahrheiten hat. In Anbetracht der Möglichkeit der Tyche, d. h. der traumatischen Begegnung mit dem Realen,28 mit einer Fremdheit, die die normale Welt des Subjekts erschüttert, können wir uns in einem obskuren Lernprozess oder in einer Praxis befinden, der bzw. die immer nur durch Zeichen verwirk25 Ebd., 81. 26 Ebd., 80. 27 Ebd., 13. 28 Lacan, Seminar XI, 60 –  61.

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licht werden kann. Auf jeden Fall impliziert das Zeichen nach Deleuze eine wesentliche Heterogenität, durch die wir lediglich etwas von Welt lernen können. Daher können nicht die Zeichen die Projektionsfläche unserer Begriffe oder Vorstellungen sein, sondern vielmehr der Ort einer enigmatischen Alterität und tückischen Fremdheit als Appell und Aufruf an unsere Fähigkeit, Zeichen zu deuten. „Das Zeichen ist Objekt einer Begegnung; aber gerade die Kontingenz der Begegnung steht für die Notwendigkeit dessen ein, was sie zu denken gibt.“29 Das Wesentliche liegt außerhalb des Denkens und zwingt das Denken: „Das Leitmotiv der wiedergefundenen Zeit ist das Wort zwingen: Eindrücke, die uns zu schauen zwingen, Begegnungen, die uns zu interpretieren zwingen, Ausdrücke, die uns zu denken zwingen.“30 Wir sind dabei nicht wesentlich frei gegenüber diesen Zeichen: Sie rufen uns an, um eine Deutung zu bekommen, wie Deleuze schreibt: „Nur der wählt richtig und in Wirklichkeit, der gewählt wird.“ („Ne choisit bien, ne choisit effectivement que celui qui est choisi.“31) Žižek kommentiert: „Eine wahrhafte Entscheidung/Wahl (nicht eine Wahl aus einer Reihe von Gegenständen, die meine Subjektposition intakt lassen, sondern die grundsätzliche Wahl, durch die ich ‚mich selbst wähle‘) setzt voraus, dass ich eine passive Haltung des ‚Mich-selbst-wählen-Lassens‘ einnehme […].“32 Proust schreibt: „Ob es sich um Reminiszenzen wie bei dem Geräusch der Gabel oder dem Geschmack der Madeleine oder um Wahrheiten handelte, die in Gestalt von Figuren niedergeschrieben sind, deren Sinn ich in meinem Kopf suchte, wo sie, Kirchtürme, wildwachsendes Gras, eine komplizierte und rankenreiche Zauberschrift ergaben, ihr erstes Charakteristikum bestand darin, daß ich nicht frei war zu wählen, daß sie mir als solche gegeben waren.“33

29 Deleuze, Proust und die Zeichen, 79. 30 Ebd. 31 Deleuze, Gilles, Cinéma, Tome 2: L’Image-temps, Paris 1985, 232. 32 Žižek, Slavoj, Die Tücke des Subjekts, übers. v. Eva Gilmer u. a., Frankfurt a. M. 2010, 28. 33 Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in 13 Bänden, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Bd. 13: Die wiedergefundene Zeit 2, Frankfurt a. M. 1964, 285 (Hervorhebung I.G.).

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In diese Richtung kann Deleuze in der Tyche einer Zeichen-Begegnung die natürliche Dichotomie von Kontingenz und Notwendigkeit aufheben, um die wahrhafte Kreativität des Denkens zu ermöglichen. Deswegen gibt es eine Notwendigkeit in Zeichen: „Das große Thema der wiedergefundenen Zeit ist dies: die Suche nach der Wahrheit ist das eigentümliche Abenteuer des Unwillkürlichen.“34 Willkürlich (willentlich, bewusst) und unwillkürlich sind deshalb nach Deleuze verschiedene Weltumgänge gleicher Vermögen, d. h. die Ausübung von Verstand, Gedächtnis oder Imagination. Solange sie willentlich ausgeübt werden, bleibt das Denken lediglich harmonisch und möglich: Weder ein willkürliches Gedächtnis noch eine willkürliche Imagination oder ein willkürlicher Verstand können uns eine tiefere Wahrheit vermitteln, weil hier keine Heterogenität, keine Alterität, keine Transzendenz uns zwingt, das Wesen eines Zeichen zu entziffern, „nichts zwingt uns zum Tun des ‚Tauchers, der in die Tiefe steigt‘.“35 Zu betonen ist, dass jedes Mal, wenn ein Vermögen (der Verstand, das Gedächtnis oder die Imagination) seine unwillkürliche Form annimmt, es seine eigene Grenze entdeckt und berührt und „sich zu einer transzendenten Ausübung [erhebt], […] seine eigene Notwendigkeit als seine unersetzliche Kraft [versteht].“36 Nur in einer Empfindungsfähigkeit, welche Zeichen empfängt, gibt es die Möglichkeit, dieser Unwillkürlichkeit zu begegnen, die als transzendente Grenze und als die Berufung des Verstandes, des Gedächtnisses und der Imagination verstanden werden kann. So schreibt Deleuze etwa: „Man muß für Zeichen begabt sein, sich ihrer Begegnung öffnen, sich ihrer Gewalt öffnen.“37 Die wirklich wahren Lern-Erfahrungen entfalten sich deshalb durch eine besondere Empfindlichkeit für Zeichen, die die Welt als etwas zu Entzifferndes betrachtet. Deleuze behauptet, dass diese Empfindlichkeits-Fähigkeit für Zeichen zweifellos eine Gabe ist. In Anbindung an Proust denkt er allerdings, dass diese Gabe in uns begraben bleiben würde, wenn wir die notwendigen Begegnungen nicht machen und vorgefertigte Annahmen und 34 Deleuze, Proust und die Zeichen, 79. 35 Ebd., 82. 36 Ebd. 37 Ebd., 83.

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starre Vorurteile bewahren. Wenn wir die Welt als Objekt betrachten, die uns etwas zeigt, haben wir schon einen Teil der Zeichen geopfert. Wir denken, dass das Objekt das Geheimnis des Zeichens trägt. Wir verwechseln das, was das Zeichen bedeutet, mit seinem objektiven Teil, auf den sich die Wahrnehmung oder die Intelligenz richten. „Wir gehen an den schönsten Begegnungen vorbei, wir entziehen uns den Imperativen, die von ihnen ausgehen: Der Vertiefung der Begegnungen haben wir die Leichtigkeit des Wiedererkennens vorgezogen.“38

Deleuze, im Ausgang von Proust, ist jedoch davon überzeugt, dass wir in den Liebeszeichen, in den empfindlichen und weltlichen Zeichen immer in die Falle des Objekts gehen: Nur in der Kunst offenbart sich das Wesen des Zeichens. Nur in der Kunst gibt es diese Einheit von Zeichen und Sinn und deswegen ist ihre Zeit eine wiedergefundene. Das Kunstwerk ist „das einzige Mittel […], die verlorene Zeit wiederzufinden“39 („le seul moyen de retrouver le temps perdu“), weil die Kunst die Materie spiritualisiert und die Mittel dematerialisiert werden. Deshalb ist sie eine Welt von immateriellen Zeichen, die keine Objektivität mehr tragen und die eine Essenz offenbaren. Diese Offenbarung der Essenz – schreibt Deleuze – gehört nur der Kunst, wobei Zeichen und Sinn, Essenz und Materie keine Entgegensetzung mehr erfahren. III. Die Leere in Zeichen

Um zum Anfang zurückzukommen, möchte ich betonen, dass Hölderlin eine Stimme ist, die die Krisen und Brüche Europas seit Beginn des 20. Jahrhunderts begleitet. Seine Werke erscheinen als Bedeutungsträger und dessen Rezeption erscheint geeignet, um die Problematik der Frage nach Zerfall historischer und geistiger Kontinuitäten und jeglichen Fundaments (symbolische Erzählungen, geistige Sprachlichkeit, Gefühl eines Zusammenlebens) sowie der Suche nach einem Neuanfang und einem 38 Ebd., 26. 39 Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in 13 Bänden, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Bd. 7: Sodom und Gomorra 1, Frankfurt a. M. 1964, 302.

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möglichen Wieder-Finden der Sprache in Europa nochmals ins Denken zu holen. Hölderlins Dichtung versucht diesem Zerfall, diesem Verlust der Sprache, eine Sprache zu geben und ihn so davor zu bewahren, in ein bloßes Verstummen zu münden.40 In den späten Gedichten Hölderlins (nach 1800) kehrt diese Thematik des Sprachverlustes und der Suche nach einer neuen Sprache wieder: Gefährdet erscheint ihm nun die Möglichkeit von Dichtung und Gesang überhaupt. In den eingangs zitierten Worten der Vorstufe zum Gedicht Mnemosyne heißt es: „Ein Zeichen sind wir, deutungslos Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren.“

Es braucht Zeichen – aber in einer Epoche der Krise, des Untergangs und der Verdunstung des Sinnes tragen Zeichen den Abgrund der Deutungslosigkeit in sich: Nichts, auch wir selbst nicht, bedeutet mehr etwas. Alles droht in einer Deutungslosigkeit zu versinken. Wir haben (oder wir sind) Zeichen, die nur die Leere und die Fremde anzeigen. Dies betrifft zumindest die Benennung der Auflösung und der Verdampfung der Ideale, die vielen Menschen Orientierung geboten haben. Die symbolische Ordnung – d. h. der Hintergrund einer gemeinsamen Lebenswelt, das virtuelle Netzwerk, das sich durch geschriebene und ungeschriebene soziale Regeln, Handlungen und Narrative strukturiert und wie eine „zweite Haut“ jeden sprechenden Wesens ist – erscheint gegenwärtig aufgelöst. Die traditionellen Wahrheiten und Erzählungen sind ebenso wie die traditionellen ästhetischen Ideale der Schönheit extrem schwach und unglaubhaft geworden. Man könnte vom Anfang des Zeitgenössischen reden, erst wenn die künstlerische Präsentierbarkeit und Vorstellbarkeit der Welt außer Kraft gesetzt werden. Wir haben allerdings die Sprachlichkeit/Vorstellbarkeit in der Fremde fast verloren: dies bedeutet, dass wir noch eine Sprache haben, die diesen Sprachverlust zeigen kann. Das Zeichen zeigt, dass die Zeichen selbst fast verloren werden. Hölderlin zeigt schon im Herz des neuen Idealismus, wie die Dimension 40 Vgl. dazu Deibl, Hölderlin-Gesamtausgabe 1914.

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der künstlerischen Kreation immer ein Entlangfahren an der Leere einschließt. Es handelt sich um die notwendige Nähe zu einer Rand-Zone, einer Grenze, die die traditionelle bildende und darstellende Dimension der Kunst überschreitet. In seinem Seminar über die Ethik der Psychoanalyse hat Jacques Lacan behauptet, dass die Essenz des Kunstwerks nicht nur in seiner Nähe zu der unbenennbaren und obszönen Leere des Dings, des Realen besteht. Die Essenz der Kunst besteht nach Lacan auch in ihrer Fähigkeit, dem Trauma des Realen eine Gestalt, eine Begrenzung, eine Form anzubieten. Das heißt, dass die Kunst noch eine Funktion einer Symbolisierung oder, besser gesagt, einer Sublimierung hat. Obwohl die Kunst den Glauben an die traditionellen Modelle der Schönheit und ihrer naturalistischen Darstellbarkeit verloren hat, hat nach Lacan (und nach Hölderlin) die zeitgenössische Kunst noch nicht den ganzen Glauben an die symbolische Kraft der Form verloren. Wird das Schicksal der zeitgenössischen Kunst sich in einem Kultus des Formlosen oder der Verworfenheit vollziehen? Kann eine perverse und psychotische Ideologie der körperlichen Organe und ihrer Öffnungen, der entropischen Horizontalität und des niedrigen Materialismus – so wie es in der Body Art passiert – die einzige Reaktion gegenüber dem System der Form darstellen? Können die Werke von Pollock, Burri, Kline, Fontana, Morandi oder Tàpies41 in dieser Ideologie des Formlosen und der Zerstörung der Schönheit aufgesaugt werden? Die Kunst hat den Mut, in die Fremde zu gehen, sich der Dimension des Realen, d. h. etwas, das jeder Entzifferung widersteht, anzunähern. Das Problem der Ästhetik betrifft nach Lacan die Möglichkeit, diesem etwas, das widersteht, ein Gesicht zu geben. Deswegen widersetzt sich diese Ästhetik dem realistischen und psychotischen Kultus des Dings, den die zeitgenössische Kunst oft zum Ausdruck bringt. Der post-avantgardistische Experimentalismus, besonders die Body Art (Gina Pane, ORLAN, Franko B, Stelarc, Vito Acconci, Wiener Aktionismus etc.), inszeniert das Reale des Dings ohne Verhüllung, und der Körper des Künstlers selbst wird der Ort eines acting out des

41 Vgl. Recalcati, Massimo, Il miracolo della forma. Per un’estetica psicoanalitica, Milano 2011, 68  –111.

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Horrors, in welchem zerfetzte, geschnittene, deformierte oder mit technologischen Ergänzungen versetzte Körper inszeniert werden, die das Reale jenseits jeder symbolischen Vermittlung preisen. In Der Dichter und das Phantasieren erkennt auch Freud, dass die wahre ars poetica die Aufgabe hat, das Widerliche und das Abscheuliche erträglich zu machen.42 Die unmittelbare Exposition des Unbewussten des Künstlers als Ideal der künstlerischen Kreation riskiert nach Lacan, das Ereignis einfach zu zerstören und das Subjekt der Unheimlichkeit des Realen hilflos zu überlassen. Demgegenüber ist er davon überzeugt, dass die Kunst sich aus einem Verhüllen des Unbewussten und nicht aus seinem unmittelbaren Aussetzen konstituieren kann. Dies bringt die Spannung, die Dialektik zwischen der Form und dem Formlosen zum Ausdruck, insofern weder die Form eine bloße Idealisierung oder eine reine Verdrängung des Formlosen ist, noch das Formlose eine bloße Inszenierung des zerstörerischen Realen darstellt. In diesem Sinn kann die Kunst noch die Aufgabe haben, das Trauma und die Gewalt des kopflosen und exzessiven Realen zu umrahmen, seine entsetzliche und tückische Kraft zu domestizieren, seiner radikalen und unzähmbaren Fremdheit eine Verortung oder eine Milderung anzubieten. Es geht um eine Art der Sublimation, die die Deutungslosigkeit oder die triebhafteren Organe nicht einfach zu verdrängen oder zu verbannen vermag, indem sie die Realität idealisiert. Es geht vielmehr um eine Art der Anti-Idealisierung, welche die tödlichen Wirkungen des unvorstellbaren Realen erkennt und sie in eine neue Richtung zu führen vermag, um eine andere Art der Befriedigung und der Sublimierung durch die symbolische Ordnung, d. h. durch die künstlerische Sprache zu erreichen. Es ist in der Tat unmöglich, in der künstlerischen Erfahrung die symbolische Dimension zu umgehen. Es gibt im Gegenteil eine Umgrenzung des Realen durch das Symbolische, d. h. durch eine Darstellung der Unmöglichkeit jeder Darstellung. Es ist eine Art und Weise, das Ding vorzuführen, ohne von diesem Ding zerstört zu werden. Die Kunst ist, Lacan zufolge, eine sym42 Vgl. ebd., 73.

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bolisch-imaginäre Behandlung des Realen – „sofern in bestimmter Weise es bei einem Kunstwerk stets um die Einkreisung des Dings geht.“43 Die Kunst entschärft die entsetzliche Zerstörbarkeit des Dings und ermöglicht eine künstlerische Schöpfung als Mangel an Darstellung. Kunst, Religion und Wissenschaft sind drei verschiedene Arten und Weisen, sich mit dem Ding in Verbindung zu setzen oder die Leere zu behandeln. Nach Lacan wird diese Leere in der Religion gemieden, in der Wissenschaft gelöst und in der Kunst organisiert. Deswegen denkt Lacan, zusammen mit Deleuze, dass nur in der Kunst die Essenz der Zeichen erscheinen kann. Sie ermöglicht eine Tyche, also eine unheimliche Begegnung mit dem Realen, das das Subjekt befremdet und es wie ein Pfeil „sticht“, wie Roland Barthes in Die helle Kammer schreibt.44 Wie es in der Gewalt eines Zeichens geschieht, kommt hier ein Zeichen (ein Kunstwerk ebenso wie ein Foto, ein Bild, eine Musik, eine Geste) aus dem Feld des Anderen heraus und zwingt das Subjekt selbst, seinen Blick abzulegen. Die Kunst zwingt uns das zu sehen, was nicht gesehen werden kann. Ihre Funktion ist, dem Unsichtbaren ein Gesicht zu geben – Lacan würde sagen: ein Gesicht dem Objekt klein a, das das Begehren verursacht. Es geht um die Frage, wie man das Unfigurierbare durch die Figuren entstehen lassen kann. Es betrifft eine Ästhetik des Stoßes, wo ein Zeichen das Familiäre des Subjekts unterbricht und aus dem Schlaf des Bekannten erweckt und eine Welt eröffnet. Dies entspricht der Schönheit bei Lacan, als unheimliche Erfahrung einer Begegnung mit dem Realen, in welcher sich die apollinische Form und die dionysische Kraft – mit Nietzsche gesprochen45 – in einem Zeichen, das das Subjekt berührt, treffen. Im Gegensatz zur Ästhetik der informellen und der abstrakten/ gegenstandslosen Kunst der europäischen Nachkriegsjahre geht es auch nicht um einen Zusammenbruch des Objekts, sondern um eine Erscheinung des Objekts, das in neuen BilderZeichen verändert wird. Man kann an die Flasche von Giorgio

43 Lacan, Jacques, Das Seminar, Buch VII (1959/1960): Die Ethik der Psychoanalyse, übers. v. Norbert Haas, Berlin 1996, 173. 44 Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a. M. 1989, 35. 45 Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie [1872/1886], in: ders., Philosophische Werke in sechs Bänden, Bd. 1, hg. v. Claus-Artur Scheier, Hamburg 2013, 233 – 388.

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Morandi denken, die er lebenslang in unendlichen Versionen gemalt hat. Die „Wiederholung des Gleichen“ oder der Wiederholungszwang ist in der Psychoanalyse die Erscheinung des Todestriebes, des Realen des Triebes, und dadurch ein Symptom des Subjekts. In seinen Bilder-Zeichen vermag Morandi kleine positive Transformationen, clinamen mit Epikur gesprochen,46 d. h. geringfügige Abweichungen in diesen Zwang einzuführen: Die symptomatische künstlerische Rückkehr des Zeichens ist keine bloße Stereotypie, sondern vielmehr ein Duktus, in welchem die Undarstellbarkeit des Realen, eine Rand-Zone der Sprache zum Ausdruck gebracht wird. Morandi möchte die Stille der Dinge – Flaschen, Blumen, alltägliche Objekte – darstellen, die allerdings keine bloßen Objekte sind, sondern Zeichen, die die Würde des Dings annehmen und sich aus der gewöhnlichen Signifikantenkette ausklinken – deutlich erscheint dies auch in Vincent van Goghs Ein Paar Schuhe (1886), wo die radikale Kontingenz eines armen und abgenützten Objekts in ein Stoß-Zeichen verwandelt wird, das von der gewöhnlichen Ordnung der Welt losgelöst ist. Morandi stellt seine eigene Art der Stille dar, sich dem Realen anzunähern, in welcher diese Stille der Objekte auch die Grenze der Sprachlichkeit und der Symbolisierung zum Ausdruck bringt. Es geht um eine grundlegende Unvereinbarkeit und Inkompatibilität zwischen Wort und Realem, die genau das Zeichen anzeigt. Es handelt sich auch um den Eintritt einer Verschiebung oder einer Desorientierung, die das Wunder des Zeichens in familiären Gewohnheiten verursacht. Man könnte an die Poetik der Materie von Alberto Burri denken, in welcher das traumatische Reale in Jutesäcken, in Teer, in vermoderten Materialien, in Plastik, in Zellophan, in Eisen oder Holz etc. verkörpert wird. Aber Burri zielt keinesfalls auf eine Poetik des Erbärmlichen oder des Formlosen, sondern vielmehr auf ein anti-ideales Objekt, in welchem die Geste des Zerreißens, des Brennens und des Lochens nie von der Geste des Nähens und des Wiederzusammensetzens gesondert wird. Im Zyklus der 46 Es handelt sich um die Lehre von der spontanen Atomabweichung in der epikureischen Naturphilosophie (Brief an Herodotus), die Lukrez in De rerum natura später rezepiert und für die er den Begriff clinamen geprägt hat: Kleine Bewegungsabweichungen stellen das Prinzip sowohl der Entstehung der Welten und aller Körper als auch der Willensfreiheit dar.

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Jutesäcke (Sacchi) kommt es deutlich zum Ausdruck: Die Naht strukturiert das Werk in Bezug auf den Riss. Dies bedeutet, dass das Werk Burris sowohl wie ein Appell an das Reale ist, als auch dieses Reale zu umrahmen vermag, indem es wenig verwüstend erscheinen kann. Die Werke von Burri sperren sich gegen eine sprachliche Beschreibung oder Bestimmung ihres Sinns: Sie stellen eine irreduzible Präsenz als eine „reale“ Erscheinung dar, die sich jedem hermeneutischen Spiel entzieht und keine weitere Symbolisierung erträgt. Es geht um eine künstlerische Darstellung, die keine weitere symbolische Erklärung zu finden vermag. Deswegen sind die Werke von Burri wie deutungslose Zeichen, die die Darstellbarkeit selbst außer Kraft setzen, auch wenn sie selbst eine Darstellung dieser Undarstellbarkeit zeigen können. Es handelt sich um eine minimale Differenz, die Widerstand gegenüber einer bloßen unmittelbaren Ausgesetztheit des Realen ohne Symbolisierung leistet und eine mögliche Darstellung des Undarstellbaren darzustellen vermag. Was bleibt, sind Zeichen, die deutungslos sind, insofern keine Sprachlichkeit diesen Riss und Stoß benennen kann. Es bleibt aber fast die Möglichkeit, diese Deutungslosigkeit in der Kunst zum Ausdruck zu bringen. Um diese Möglichkeit, die an der Schwelle von Deutung und Deutungslosigkeit, von Objekt und Subjekt, von fast und noch steht, schließlich zu zeigen, möchte ich mich auf einen letzten Künstler beziehen, Emilio Isgrò, der die Theorie des Ausradierens/Löschens erfand.47 Er hat in Mailand und Venedig seine Poetik entwickelt, die jede Redundanz aufhebt, aber die fast ein Fragment des Wunders des Zeichens zu schützen vermag. In seinen Bildern produziert er nicht Schnitte im Leinwandgemälde (so wie Lucio Fontana), sondern ein Ausradieren der Wörter. Dies bedeutet nicht nur, dass die Sprache in ihrer alles sagenden Signifikation nicht mehr passiv bleiben kann, um die Zeichen-Bilder zu erklären und zu deuten; mit seinem Ausradieren möchte Isgrò auch zeigen, dass das Zeichen-Wort fast in die Fremde gegangen ist, aber das noch etwas bleibt. In der Müdigkeitsgesellschaft (Byung-Chul Han) oder der Gesellschaft des Spektakels (Guy Debord), wo sich eine Pest

47 Vgl. Isgrò, Emilio, La Cancellatura e altre soluzioni, Milano 2007; Isgrò, Emilio, Come difendersi dall’arte e dalla pioggia, Falciano (San Marino) 2013.

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der Phantasmen (Slavoj Žižek) ausgebreitet hat, sind wir fast sprachlos geworden. Wir haben allerdings noch die Möglichkeit, diese Sprachlosigkeit in Frage zu stellen und ihr eine Art der Sublimation anzubieten. Zwischen diesem fast und noch leben auch wir in der Welt, wenn wir der Gewalt eines Zeichens begegnen und demnach gezwungen sind, sein zufälliges und notwendiges Wunder noch zu suchen und fast zu denken.

Literatur Barthes, Roland, Das Reich der Zeichen, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1981 Barthes, Roland, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a. M. 1989 Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes, Mensch und Tier. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie (Rowohlts deutsche Enzyklopädie 74), Hamburg 1958 Deibl, Jakob, Hölderlin-Gesamtausgabe 1914: ein Beitrag zur Autobiographie Europas?, in: Appel, Kurt/Guanzini, Isabella (Hg.), Europa mit oder ohne Religion? Teil 2: Der Beitrag der Religion zum gegenwärtigen und künftigen Europa (Religion and Transformation in Contemporary European Society 10), Göttingen 2016, 29 – 50 Deleuze, Gilles, Cinéma, Tome 2: L’Image-temps, Paris 1985 Deleuze, Gilles, Proust und die Zeichen, übers. v. Henriette Beese (Internationaler MerveDiskurs 170), Berlin 1993 Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Gedichte. Text und Kommentar, hg. v. Jochen Schmidt (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 4), Frankfurt a. M. 2005 Isgrò, Emilio, La Cancellatura e altre soluzioni, Milano 2007 Isgrò, Emilio, Come difendersi dall’arte e dalla pioggia, Falciano (San Marino) 2013 Lacan, Jacques, Das Seminar, Buch VII (1959/1960): Die Ethik der Psychoanalyse, übers. v. Norbert Haas, Berlin 1996 Lacan, Jacques, Das Seminar, Buch XI (1964): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übers. v. Norbert Haas, Berlin 31987 Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie [1872/1886], in: ders., Philosophische Werke in sechs Bänden, Bd. 1, hg. v. Claus-Artur Scheier, Hamburg 2013, 233 – 388 Platon, POLITEIA. Der Staat, bearb. v. Dietrich Kurz, griech. Text v. Émile Chambry, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher (Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, hg. v. Gunther Eigler, Bd. 4), Darmstadt 1971 Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in 13 Bänden, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Bd. 7: Sodom und Gomorra 1, Frankfurt a. M. 1964 Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in 13 Bänden, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Bd. 9: Die Gefangene 1, Frankfurt a. M. 1964 Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in 13 Bänden, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Bd. 11: Die Entflohene, Frankfurt a. M. 1964 Proust, Marcel, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Ausgabe in 13 Bänden, übers. v. Eva Rechel-Mertens, Bd. 13: Die wiedergefundene Zeit 2, Frankfurt a. M. 1964 Recalcati, Massimo, Il miracolo della forma. Per un’estetica psicoanalitica, Milano 2011 Uexküll, Jakob von, Der Organismus und die Umwelt [1931], in: ders., Kompositionslehre der Natur. Biologie als undogmatische Naturwissenschaft. Ausgewählte Schriften, hg. u. eingel. v. Thure von Uexküll, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980, 305 – 342 Žižek, Slavoj, Die Tücke des Subjekts, übers. v. Eva Gilmer u.a., Frankfurt a. M. 2010

Handlung – Performance – Transformation Dieter Mersch

Bewegung/Handlung

Gewöhnlich unterscheidet der philosophische Diskurs zwischen Bewegung und Handlung. Die Differenz bildet vor allem den Ausgangspunkt analytischer Praxistheorien.1 Danach sind Bewegungen wie Armheben, Gehen, Zurückschrecken oder Stolpern verursacht; wir mögen uns zwar dazu entschlossen haben, zu gehen, aber wir überlegen dabei nicht jeden Schritt. Wir heben den Arm, um den Lichtschalter zu betätigen, doch dient hier die Bewegung dem Vollzug einer anderen Handlung. Ferner schrecken wir bei einem unvorhergesehenen Ereignis unwillkürlich zurück oder es passiert uns ein Lapsus, sodass wir stolpern. Kurz, Bewegungen werden in der Regel nicht willentlich ausgeführt und ihre Erklärung erfolgt kausalistisch. (Es ist bezeichnend, dass analytische Philosophien nicht grundsätzlich zwischen physikalischen und körperlichen Bewegungen unterscheiden: Das Rollen eines Balles ist ebenso verursacht wie die heftige Reaktion auf einen Schreck.) Demgegenüber beruhen Handlungen wie Spielen, Entscheidungen-Treffen, Sprechen, Beobachten oder Innehalten und Warten auf bestimmten Absichten oder Motiven; sie unterliegen unserem Willen und unserer Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen – und diese lassen sich kaum als ‚Ursachen‘ beschreiben. Handlungen sind, mit anderen Worten, intentional terminiert; sie zielen auf etwas, während Bewegungen keine In-

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Etwa Danto, Arthur C., Analytische Philosophie der Geschichte, übers. v. Jürgen Behrens, Frankfurt a. M. 1980 und Davidson, Donald, Handlung und Ereignis, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 1990.

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tentionen oder Entschlüsse benötigen, vielmehr gehorchen sie der Motorik unseres Bewegungsapparates und entziehen sich üblicherweise jeder rationalen Kontrolle. Die plausible Unterscheidung erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als hochgradig instabil. Denn Handlungen, soweit sie nicht in die Stille einer Versenkung aufgehoben sind, basieren auf Bewegungen, auf Gesten oder Gebärden, die jederzeit selbst in Handlungen übergehen können. So gehört es zu den klassischen Übungen beim Erlernen des Tanzes, uns einfache Bewegungsmuster wie eine Beuge bewusst zu machen und sie wie ein Bild, eine geschwungene Linie aufzufassen und so genau wie möglich auszuführen. Auch hatten Eadweard Muybridge und Étienne-Jules Marey durch die Chronophotographie uns deren unterschiedliche Phasen allererst zu Bewusstsein gebracht, sodass die Bewegung zum Objekt nicht nur verschiedener Mathematisierungen wurde, sondern auch sportlicher und künstlerischer Optimierungen. Umgekehrt können nicht alle Handlungen auf Intentionen zurückgeführt werden, sowenig wie sie notwendig zielgerichtet sind: Es gibt Passivitäten, wie die Meditation, die die intentio gerade auszulöschen trachten. Darüber hinaus gibt es an bewusst vollzogenen Praktiken etwas, was nichtintentional verläuft und auf das ausführende Subjekt und sein Vermögen zurückweist, etwa charakteristische Vollzugsweisen, die in spezifische körperliche Dispositionen eingeschrieben und an deren Möglichkeiten und Unfähigkeiten gebunden sind. Solche Bedingungen sind nicht durch Handlungen beabsichtigt, vielmehr zeichnen sie sich in ihnen ab, als ihre Medialität, über die sie nicht verfügen, auf die sie auch nicht abzielen können, sowenig wie sie zur ‚Sache‘ einer Freiheit gemacht werden können. Bewegungen und Handlungen erweisen sich also ebenso sehr aneinander gekettet wie voneinander getrennt. Sie teilen sich gleichermaßen in actio und passio auf, wie sie, so der berühmte Kommentar von Georg Henrik von Wright, nach Kausalität und Teleologie differenziert werden müssen,2 deren letzte Differenz zwischen Notwendigkeit und Freiheit verläuft. Dabei erlaubt

2

Vgl. insgesamt Wright, Georg Henrik von, Erklären und Verstehen, übers. v. Günther Grewendorf u. Georg Meggle, Frankfurt a. M. 1974.

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der Kausalismus deren Erklärung aus Ursachen, während die Freiheit die unabdingbare Voraussetzung für den stets symbolischen Charakter von Handlungen darstellt und sie interpretierbar macht. Anders gewendet: Handlungen und Bewegungen bilden ein komplexes Ensemble von Überschneidungen zwischen kausalen und teleologischen, intentionalen und nichtintentionalen sowie medialen und symbolischen Elementen, deren Regime unterschiedliche Begründungen, Lektüren und Beschreibungen erlaubt, die aber sämtlich dazu tendieren, einander zu durchkreuzen. Die Theorie des Aktes ist daran gebunden. Denn die gleiche Komplexität gilt für die Geste, die Exposition einer Konvention oder für die Exhibition eines ‚Dramas‘ auf der Bühne und ähnliches mehr. Diese lassen sich als Handlungen 2. Ordnung kennzeichnen, die eine Handlung im gleichen Maße ausführen wie aufführen. Und diese Komplexität gilt nicht weniger für Spielzüge oder sportliche Aktivitäten, die sämtlich an der gleichen multiplen Konstitution des Praktischen partizipieren. Eine weitere prominente Einteilung der Handlungstheorie geht auf Aristoteles zurück: die Unterscheidung zwischen poiesis (poíhsiß) und praxis (prâxiß).3 Sie betrifft nicht die Differenz zwischen Handlung und Nichthandlung, sondern die Differenzierung zwischen Handlungstypen. Poíhsiß meint das Herstellen-von, das Machen oder Erzeugen; es hat, wie Aristoteles formuliert, sein Ziel außerhalb seiner selbst, wohingegen die prâxiß ihr Ziel in sich trägt, d. h. Selbstzweck ist. Als Beispiel für letztere nennt Aristoteles die prâxiß der theoria (jewría), das ‚Glück‘ des Wissens, das ausschließlich um seiner selbst willen geschieht. Beide sind teleologisch, aktiv und intentional, doch erweist sich als das ‚höchste Glück‘ zuletzt die philosophische ‚Schau‘, die die lateinischen Übersetzer mit der meditatio in Verbindung gebracht haben. Eine moderne Variante der aristotelischen Unterscheidung zieht die Trennungslinie zwischen Arbeit bzw. Produktion einerseits und Kommunikation andererseits4 –

3

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Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Übers. u. Nachw. v. Franz Dirlmeier, Anm. v. Ernst A. Schmidt, Stuttgart 1985, 157 –160; VI, 4 – 5. Siehe dazu auch den ausführlichen Kommentar von Hans-Georg Gadamer in der von ihm besorgten Ausgabe: Aristoteles, Nikomachische Ethik VI, hg., übers. u. komm. v. Hans-Georg Gadamer (KlostermannTexte Philosophie), Frankfurt a. M. 1998. Vgl. dazu Apel, Karl-Otto, Transformation der Philosophie, 2 Bde., Frankfurt a. M. 21981; Habermas, Jürgen, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1988.

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erstere verweist in den Bereich der Ökonomie, letztere auf das eigentlich Soziale. Tatsächlich hat vor allem die Philosophie der Aufklärung seit Hegel und Marx die Arbeit zum Fundament aller gesellschaftlichen Aktivitäten erklärt und damit den Menschen überhaupt als Produzenten seiner Welt eingesetzt, was die Sphäre der Ökonomie rigoros totalisiert. Dagegen hat das 20. Jahrhundert nach dem linguistic turn die Basis aller kulturellen Formation in der Sprache, dem Symbolischen und folglich der Praxis der Kommunikation erblickte. Doch wie das Soziale, nach Jean-Luc Nancy, nicht eigentlich herstellbar ist, d. h. nicht als ‚Werk‘ verstanden werden kann (désœuvrement), vielmehr auf einer beständig uneingelösten ‚Mit-Teilung‘ beruht,5 so sind auch Kommunikation und Bedeutung nicht zur Gänze das Resultat intentionaler Sprechakte, sondern ‚wir sprechen‘ als Prozess einer kollektiven Verständigung, der sich immer schon wechselseitig in Gemeinschaft vollzieht und Gemeinschaft allererst bildet. Letzteres macht insbesondere deutlich, dass die Totalität des Sozialen die Summe der gesellschaftlichen Handlungen übersteigt, dass wir ‚das Ganze‘ also nicht ausschließlich praxeologisch definieren können, dass wir es vielmehr mit einem Überschuss zu tun haben, der zugleich jeden handlungstheoretischen Rahmen sprengt. Einer dieser sprengenden Momente liegt darin, dass sowohl die Arbeit als auch der Prozess der Verständigung ‚Realitäten‘ schaffen, die sich wie ‚Verhängnisse‘ auf den Menschen zurückbeugen und sein willentliches Tun, seine Intentionalität vereiteln. Dem Gesichtspunkt ist in jüngster Zeit besonders durch Einzug einer weiteren Ebene Rechnung getragen worden, die sowohl Aspekte des Politischen und der Handlungsmacht als auch der Materialität und des Entzugs mit einbezieht: den Aspekt der ‚Performanz‘ oder des Performativen. Dem linguistic turn wird so ein zweiter turn hinzugefügt: Übergang vom Primat der Bedeutung und ihrer Referenz zum Ereignis, das keine Feststellung duldet.6

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6

Vgl. Nancy, Jean-Luc, Singulär plural sein, übers. v. Ulrich Müller-Schöll (Transpositionen 16), Zürich/Berlin 2004 sowie ders., Die undarstellbare Gemeinschaft, übers. v. Gisela Febel u. Jutta Legueil, Stuttgart 1988. Vgl. Fischer-Lichte, Erika, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004; Mersch, Dieter, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002; Wirth, Uwe (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2002.

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Performanz/Performativität

Allerdings werden die Begriffe der ‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ philosophisch äquivok verwendet. Vor allem in der Sprachphilosophie adressieren die Konzepte den Vollzug eines Sprechaktes7 und seine realitätssetzende Macht, während in Kunst und Ästhetik unter ‚Performance‘ die einmalige Vor- oder Aufführung einer Kunstaktion,8 in der Ritualtheorie der ‚liminale‘ Prozess einer Transition9 und in der Theaterwissenschaft die Inszenierung eines ‚Dramas‘ verstanden wird.10 Judith Butler hat zudem auf den transformatorischen Sinn der Politiken des Performativen insbesondere in Bezug auf ‚queere‘ Praktiken der Geschlechtertravestie hingewiesen: Jeder ironische Eingriff in die Konstruktionen gesellschaftlicher Ordnungen, hier am Beispiel von ‚Geschlecht‘, dekonstruiert diese und impliziert eine Umwertung, eine Verschiebung im Gewebe ihrer scheinbaren Selbstverständnisse.11 Die Konjunktur dieser verschiedenen Verständnisse des ‚Performativen‘ geht allerdings zuletzt einerseits auf die bahnbrechenden Erörterungen John Langshaw Austins in seiner 1955 gehaltenen Vorlesungsreihe How to Do Things with Words zurück, der den Ausdruck nicht nur erstmals in die Sprachtheorie einführte, um mit deren jahrhundertelangem Präjudiz für Assertionen und Tatsachenbehauptungen zu brechen, die die Sprache ausschließlich als ein Beschreibungsmittel von Wirklichkeit betrachten, sondern der gleichzeitig eine Reihe von Differenzierungen im Begriff des Performativen selbst vornahm, die im Folgenden Schule machten. Andererseits entstammt die anhaltende Konjunktur der PerformanceArt den künstlerischen Wenden seit den 1960er Jahren und des Neoavantgardismus mit der Auflösung des klassischen

7

Vgl. Austin, John L., Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), dt. Bearb. v. Eike v. Savigny, bibliogr. erg. Ausg., Stuttgart 22002 sowie Searle, John R., Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, übers. v. Rolf u. Renate Wiggershaus, Frankfurt a. M. 1973. 8 Vgl. Dreher, Thomas, Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia (Das Problempotential der Nachkriegsavantgarden 3), München 2001; Charles, Daniel, Zeitspielräume. Performance, Musik, Ästhetik, übers. v. Peter Geble u. Michaela Ott (Internationaler Merve-Diskurs 147), Berlin 1989. 9 Vgl. Turner, Victor, The Anthropology of Performance, New York 1986. 10 Vgl. Fischer-Lichte, Erika, Vom „Text“ zur „Performance“. Der „performative Turn“ in den Kulturwissenschaften, in: Kunstforum International 152 (2000), Titel-Thema: Kunst ohne Werk. Ästhetik ohne Absicht, hg. v. Paolo Bianchi, 61– 63. 11 Butler, Judith, Das Unbehagen der Geschlechter, übers. v. Kathrina Menke, Frankfurt a. M. 1991.

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Werkbegriffs, der Genieästhetik und der Präferenz für Form, Entwurf, Gestaltung und Originalität. An ihre Stelle tritt das ‚ästhetischen Ereignis‘ und seine Nichtreproduzierbarkeit.12 Nimmt man nun den Performativitätsbegriff Austins als Maßstab und Ausgangspunkt, werden zwei Aspekte auffällig. Zunächst wird Sprechen nicht als Austausch von Bedeutungen verstanden, die über die Welt ausgesagt werden, sondern selbst als eine Praxis, die Realitäten schafft. Danach bedeutet ‚etwas sagen‘ etwas tun, indem der gemeinte Sinn gleichsam ‚im Realen‘ instantiiert wird – als klassisches Beispiel dafür fungiert bei Austin die Taufe, die durch den Satz ‚Ich taufe dich‘ die gesellschaftliche Institution der Taufe mit vollbringt (der Akt ist notwendiger Teil eines Dispositivs, das erfüllt sein muss, um die Institution zu erfüllen), bei John Searle das Versprechen, das, indem es gegeben wird, faktisch bindet, sodass seine Nichteinhaltung soziale Folgen zeitigt (das Versprechen birgt gleichsam das Versprechen seiner Erfüllung; andernfalls wird das soziale Band des Vertrauens nachhaltig gestört).13 Jürgen Habermas hat daraus eine komplette Sozialphilosophie der kommunikativen Vernunft abgeleitet, die die Universalität der in Verständigungen eingelassenen normativen Verbindlichkeiten durch die einfache Formel herausarbeitet, dass in der Struktur der Rede, dem ‚Ich-sage-etwas-einem-Anderen‘ die Dimensionen der Subjektivität, Objektivität, Normativität und Intersubjektivität stets schon eingeschrieben sind, die gleichzeitig an die rational einklagbaren Geltungsansprüche der Wahrhaftigkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Verständlichkeit appellieren.14 Doch ergeben sich in diesem einfachen und allzu glatten Schema eine Reihe von Schwierigkeiten und Ungereimtheiten, auf die vor allem aus psychoanalytischer und dekonstruktiver Sicht aufmerksam gemacht worden ist. So hat Shoshana Felman anhand der inflationären Heiratsversprechen Don Juans den Akt selbst untersucht, um eine systematische Instabilität im ‚Ver12 Vgl. dazu Mersch, Dieter, Vom Werk zum Ereignis. Ausbruch der Kunst aus dem Ghetto der Avantgarde, in: Elm, Ralf (Hg.), Kunst im Abseits? Ein interdisziplinärer Erkundungsgang zur Stellung der Kunst heute (Studium Generale 14), Bochum 2004, 11– 32; ders., Zur Struktur des ästhetischen Ereignisses, in: Blume, Anna (Hg.), Zur Phänomenologie der ästhetischen Erfahrung (Neue Phänomenologie 2), Freiburg i. Br./München 2005, 44 – 64. 13 Austin, Theorie der Sprechakte, 35 – 45 (u. a. zu ‚taufen‘), 88 –101 (u. a. zu ‚versprechen‘). 14 Habermas, Jürgen, Was heißt Universalpragmatik?, in: Apel, Karl-Otto (Hg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt a. M. 1976, 174 – 272.

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sprechen‘ zu dekuvrieren, das zugleich das ‚Versprechen des Versprechens‘ und damit ein ‚Versprechen der Sprache‘ birgt, nämlich die chronische Möglichkeit seiner Brechung, insofern die Sprache gerade nicht tut, was sie sagt.15 Darüber hinaus hat Judith Butler die ambivalente Politizität des Performativen betont und deutlich gemacht, dass die performative Handlung ebenso eine soziale Tatsache erzeugt, wie sie im gleichen Maße in der Lage ist, eine gegebene Norm zu unterlaufen und dabei die Ordnung des Sozialen nachhaltig zu stören. Gleichzeitig hat Butler auf die prinzipielle Irreversibilität des Performativen abgehoben: Eine ‚Hass-Rede‘ kann nur um den Preis ihrer Wiederholung geahndet werden, sodass die Demütigung in ihrer öffentlichen Verhandlung notwendig redupliziert wird.16 Und in seiner dezidiert dekonstruktiven Lektüre von Austin hat wiederum Jacques Derrida den Finger auf die Wunde gelegt, dass die Konventionalität von Sprechakten kein probater Ausgangspunkt für die Bestimmung eines Performativs sein kann, weil kein Akt seiner Wiederholbarkeit und keine Wiederholung ihrer Alteration und damit auch Transformation entgeht.17 Die sprachliche Praxis erscheint somit der Arbeit einer ununterbrochenen Plastizität ausgesetzt, die es wiederum unmöglich macht, ihren genauen Ort und Status zu rekonstruieren. Der Kontext des Performativen verweist in diesem Sinne auf eine Singularität, die ihre allgemeine Analyse verweigert, weil das Performativ in den kommunikativen Akt die Signatur einer unverrückbaren Ereignishaftigkeit einträgt.18 Performativität und Medialität

Die verschiedenen Zugänge, denen eine Reihe weiterer hinzugefügt werden könnte, enthüllen trotz ihrer Disparität einige charakteristische Züge, die für eine Philosophie des Performativen

15 Felman, Shoshana, The Scandal of the Speaking Body. Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages, transl. by Catherine Porter, Stanford 2003. 16 Butler, Judith, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, übers. v. Kathrina Menke u. Markus Krist, Berlin 1998, insbesondere 30 ff. 17 Derrida, Jacques, Limited Inc., übers. v. Werner Rappl u. Mitarb. v. Dagmar Travner, hg. v. Peter Engelmann (Passagen Philosophie), Wien 2001, insbesondere 78 ff. 18 Vgl. Derrida, Jacques, Signatur Ereignis Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, übers. v. Gerhard Ahrens, hg. v. Peter Engelmann (Passagen Philosophie), 2., überarb. Aufl., Wien 1999, 325 – 351, insbesondere 333 ff.

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fruchtbar gemacht werden können. Geht man nämlich von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes aus, das im Englischen durchaus üblich ist, im Deutschen aber einen Neologismus darstellt, haben wir es zunächst mit etwas zu tun, das unmittelbar zur Dimension des Praktischen selbst gehört. Denn Handlungen müssen durch Bewegungen und ihre Körper ausgeführt und vollzogen werden: Sie fungieren dabei einerseits als Mittel oder Medien, etwa indem eine alltägliche Verrichtung der leiblichen Anstrengung bedarf, durch die sie allererst zustande kommt, durch die sie gleichzeitig aber auch eine unverwechselbare Note erhält. Anderseits verweisen sie auf einen Akteur und sein Vermögen oder Unvermögen, die stets schon Grenzen beinhalten. Beide Seiten bedingen das, was wir die Setzung einer Handlung nennen können: als Manifestation oder Eingriff in eine Welt oder als Tatsache, die nicht verneint werden kann.19 Performativität und Praxis gehören damit untrennbar wie zwei Seiten einer Medaille zusammen,20 wobei das Performativ nicht etwas zu der Praxis Hinzukommendes oder Vorgelagertes bezeichnet, keine zweite Dimension, sodass wir es gleichsam mit zwei Handlungen zu tun hätten, vielmehr vollführen sich Praktiken im Performativen. Das bedeutet zugleich, dass zu jedem Akt unterschiedliche Vollzugsweisen gehören können: Ich kann mit einem Handschlag die Geste einer Zuwendung oder einer Abweisung meinen, ich kann eine Lüge begehen, indem ich mich gerade nicht äußere, oder ich kann eine Bewegung lässig, im Bewusstsein ihrer vollkommenen Rätselhaftigkeit oder als Tic, als Fremdkörper in meinem Körper vollziehen – stets haben wir es mit verschiedenen Handlungen zu tun. Das Performative nennt darum den Modus des Praktischen: Es bezeichnet das ‚Wie‘ seiner Aufführung oder seiner Inszenierung, die Art und Weise seines Tuns. Schließlich, als ein drittes Merkmal, wird eine Handlung durch seine Performativität auf eine bestimmte Weise erst ‚formiert‘. Wir haben es dann mit einem Begriff zu tun, der über die spezifische Realisation einer Praxis oder eines Prozesses Auskunft gibt, gewissermaßen über ihr ‚Weltwerden‘, 19 Vgl. Mersch, Dieter, Das Ereignis der Setzung, in: Fischer-Lichte, Erika u. a. (Hg.), Performativität und Ereignis (Theatralität 4), Tübingen/Basel 2003, 41– 56. 20 Vgl. Mersch, Dieter, Ereignis und Respons. Elemente einer Theorie des Performativen, in: Kertscher, Jens/Mersch, Dieter (Hg.), Performativität und Praxis, München 2003, 69 – 94.

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ihre materielle Einschreibung wie im selben Maße über die Zeitigung ihrer Wirkung, die stets dazu tendiert, sich wie eine neue Tatsache zu verhalten. Anders gewendet: Der Begriff des Performativen versammelt als grundlegende Eigenschaft einer Handlung die Momente erstens ihrer Medialität, wobei besonders das Spiel von Intentionalität und Nichtintentionalität interessiert, zweitens ihrer Modalität, wobei es auf die jeweiligen Bedingungen und Rahmungen ankommt, sowie drittens der Materialität und Temporalität, die ihr ‚Wirklichkeit-Werden‘ und dessen Kontextuierung beschreiben. Letztere tragen ins Praktische das Merkmal einer Okkasionalität ein: Praktiken sind stets situativ gebunden und hängen wesentlich von der Kontingenz ihrer Kontexte ab. Transitorik/Ethik

Ein weiteres kommt hinzu: Zwar scheinen Handlungen oder Praktiken an Konditionen geknüpft, die sie als solche erst wirksam werden lassen und ihre Performativität ebenso ermöglichen wie einschränken – man denke an das Faktum eines rituellen Settings oder an die Anwesenheit eines Begehrens, das einer Begegnung ‚dazwischen kommt‘ und sie ambivalent macht –, dennoch bedeutet das nicht, entgegen den Auslegungen bei Austin und Searle, dass sie auf diese Weise bereits den Normen oder Regeln einer symbolischen Ordnung gehorchen. In gewissem Sinne gibt es sogar keine ‚Methode‘ des Performativen, weder eine Anleitung noch Gesetze oder Statute ihrer Ausführung, die sie vorderhand reglementierten, sondern jeder Vollzug ist ebenso einzig wie einmalig und vom Saum einer nicht zu entkommenden Hinfälligkeit umgeben. Mehr noch, die Möglichkeit zum ‚Fehlgang‘, zur Versagung erfordert die gleichzeitige Einbettung jedes Aktes in Strukturen der Tradition und ihrer Codierung, die ihnen im selben Maße Halt zu geben versprechen wie sie die performative Handlung einschnüren und ihrer Freiheit berauben. Anders formuliert: Dass sich das Praktische allererst im Performativen realisiert, macht es von vornherein auf mehrfache Weise fragil. Weil sich zudem das Singuläre keiner Wiederholung fügt – darin ist sowohl Jacques Derrida als auch Judith Butler Recht zu geben –, bleibt jede Handlung im selben

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Maße angreifbar und verletzbar, wie sie selbst intrinsisch eine Beziehung zu ihrer Nichtrevidierbarkeit oder Gewalt unterhält. Handlungen neigen zur Serialität, zur Wiederholung: So pflanzt sich der Akt eines Vertrauensbruchs mit jeder nachfolgenden Handlung fort, auch wenn diese ihn umzukehren trachtet und Maßnahmen einer erneuten Vertrauensbildung einsetzt – wie ebenfalls der Akt einer Beleidigung zum Konditional einer ganzen Kette von neurotischen Kommunikationen werden kann, auch seiner Entschuldigung. Das philosophisch Brisante dieses Umstandes liegt in genau diesen Eigenschaften des seit nunmehr zwei Jahrzehnten virulenten Themas: Nämlich in der Möglichkeit, auf der Basis einer Theorie des Performativen einerseits grundlegende Bestimmungen des Praktischen zu entschälen – wie in der Frage des Modus, der Medialität oder Rahmung –, andererseits die nicht auszuräumende Nähe zwischen dem Sozialen und dem Prekären zu enthüllen und damit die latente Gewaltsamkeit als conditio jeglicher menschlichen Situation zu offenbaren. Denn jede Setzung, jeder Eingriff kann nicht umhin, durch den Vollzug eine Veränderung, einen ‚Ein-Schnitt‘ vorzunehmen, der im Prinzip unabsehbare Folgen zeitigt.21 Die Kategorie des Performativen weist somit von sich her auf die Dimension eines Ethischen, die weder in Begriffen der Norm oder Abweichung beschrieben werden kann noch in einem wesentlichen Sinne auf die menschliche Freiheit bezogen ist. Nicht nur deutet diese Dimension an, dass das Performative einen genuinen Zug ins Tragische nimmt, wie ihn vor allem die griechische Tragödie als den immerwährenden Konflikt zwischen dem menschlichen Tun und dem ‚Schicksal‘, das nur ein anderer ‚Name‘ für die schier unübersehbare Komplexität des Zusammenspiels sozialer Handlungen ist, reflektiert hat, sondern sie deutet auch an, dass die Frage des Ethischen im Sinne einer Grenzziehung oder Beschneidung der Wirkungskraft von Handlungen unausweichlich ist. Wie Walter Benjamin in der „Schuld“ überhaupt die „höchste Kategorie der Weltgeschichte“ sah,22 21 Vgl. Mersch, Dieter, Performativität und Gewalt. Überlegungen zur Tragödie im Ethischen, in: Gamm, Gerhard/Hetzel, Andreas (Hg.), Ethik – wozu und wie weiter?, Bielefeld 2015, 185 – 204. 22 Benjamin, Walter, Zur Geschichtsphilosophie, Historik und Politik, in: ders., Fragmente vermischten Inhalts. Autobiographische Schriften (Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf

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so vernebelt sich das Handeln selbst und produziert sich als dichtes, undurchdringliches Knäuel widersprechender Inter­ essen, das kaum je eine Chance zur Lösung offen lässt. Ronald D. Laing hat solche und ähnliche Muster als „Verknotungen“ aufgedeckt,23 denn bei allem, was getan wird oder gemacht werden kann, übt der Mensch ebenso sehr Gewalt aus, wie er sich in deren Fäden verheddert und sich selbst gefangen nimmt. Deshalb gibt es auch keine revolutionäre Tat oder milde Hilfeleistung, keine Gabe der Barmherzigkeit wie auch keinen Liebesakt, der nicht schon den Keim seines Gegenteils in sich trüge. Weder lässt sich etwas erwirken noch etwas verändern, ohne zu überschreiten, sodass es gleichzeitig keine Transformation ohne Deformation, keine Verwandlung ohne Entstellung gibt. Diese zeugt von der Unheimlichkeit des Performativen, die sich der Absicht und der Arbeit seiner Reflexion beharrlich entgegenstellt. Jedes Projekt, jeder ‚Vor-Wurf‘ einer actio – und sei es eine radikale Passivität, die Präferenz fürs Nichthandeln – schließt bereits eine Ungerechtigkeit ein, welcher sämtliche Konzepte der Gerechtigkeit erst nachfolgen müssen. Wie das Humane tief verschränkt ist mit dem Inhumanen, so findet diese Verschränkung ihren Ort im Performativen und seinem transitorischen Vermögen, das die Gewalt und den Bruch unhintergehbar macht. Die andere Seite und Entsprechung dieser Unhintergehbarkeit ist indessen die Produktivität der Übergänglichkeit und des Wandels, mit denen die Handlungsmacht sozialer Vollzüge von Anfang an assoziiert ist. Der Ausdruck ‚Performativität‘ steht für diese Dynamik permanenter Transitorität. Keine Handlung oder Wirkung ohne ethische Rückfrage, wie umgekehrt das Ethische auf die beabsichtigten und unabsichtlichen Konsequenzen und Kollateralschäden des Praktischen reagiert – doch gibt es gleichzeitig ohne den impliziten Grenzgang, die ‚Liminalität‘ des Performativen weder Neues noch einen Fortschritt, worauf besonders die ethnographischen, ästhetischen und politischen Ansätze des Performativen abgezielt haben. Es ist dieses unbestreitbare Potenzial zur Transformation, die ‚Kraft‘ zur VerwandTiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. 6), Frankfurt a. M. 1991, 90 –108, hier 92 (fr 65). 23 Laing, Ronald D., Knoten, übers. v. Herbert Elbrecht, Reinbek b. Hamburg 1976.

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lung, zum Anders-sein-Können, das die spezifische Emphase des Begriffs in den letzten Jahrzehnten ausgemacht und ihn vor allem in den kulturwissenschaftlichen Analysen mit einer besonderen Gloriole des Umsturzes versehen hat. Das lässt sich auch so ausdrücken: Am Performativen haftet eine genuine Bewegung, ein ‚Passageres‘, das den Begriff ebenso politisch wie historisch interessant macht, und zwar gerade dort, wo es um die Umschrift sozialer Strukturen durch Praktiken des Protests, der Parodie oder Verkehrung symbolischer Zuschreibungen bis hin zum inszenierten Riss, zu Figuren der Spaltung und des Ungehorsams geht, um nur einige zu nennen.24 Man kann daher sagen, dass die Reflexionen, die der Begriff eröffnet, sich am Kreuzungspunkt unterschiedlicher, von jeher getrennter Phänomene treffen – und es ist dieser Schnittpunkt, der wiederum die besondere Relevanz von Performativitätstheorien im Kontext von Befreiungsbewegungen und ihrer Sensibilität für die Ordnungen und Unordnungen der Gegenwart, ihrer Konflikte, ‚Katastrophen‘25 oder Entfremdungen ausmacht. Ausweitung der ‚Zone‘

Sucht man auf dieser Basis den Begriff des Performativen mit seinen Ambivalenzen präziser zu fassen, stößt man auf eine Reihe epistemologischer Konsequenzen. Tatsächlich vermittelt das Performative, weder dem einen noch dem anderen angehörend, zwischen dem Symbolischen und dem Realen. Das ‚Dazwischen‘ aber nennt ein Mediales, das zugleich die Macht besitzt, im buchstäblichen Sinne eine ‚Wirk-lichkeit‘ zu ‚erschaffen‘.26 ‚Erschaffen‘ ist hier wörtlich zu verstehen: als Hervorbringung oder Etablierung eines Faktums, das sich dem Materiellen inskribiert und dabei ‚fort-wirkt‘. Deshalb der Bezug zur ‚Wirk-lichkeit‘: weniger meint das Wort ‚Wirklichkeit‘ die naive Präsenz der Dinge, insbesondere dann nicht, wenn man es auseinanderreißt, als vielmehr dasjenige, was Effekte auslöst und Wirkungen erzielt. Deshalb spricht Searle auch mit Blick auf

24 Die Literatur hierzu ist inzwischen uferlos. 25 Erinnert sei an den Wortsinn von katastrofä: Um-Wendung, Krise (krísiß). 26 Vgl. Tholen, Georg Christoph, Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. M. 2002.

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Sprechakte von einer „illocutionary force“: Sie beinhaltet das Vermögen, über den Sinn des Gesagten und seine vielfältigen Interpretationen hinaus diesen in die Welt einzutragen, zu instaurieren und damit etwas zu machen, das seine eigene Wirkmächtigkeit entfaltet. Das bedeutet auch: die Sprache spricht nicht nur über die Welt, indem sie auf etwas Anderes verweist und es ‚be-deutet‘, vielmehr erzeugt sie diese, ohne dass das Erzeugnis im Sinne einer Produktion poietisch zu verstehen wäre. Es gibt keinen ‚Macher‘, kein Subjekt der Konstruktion – vielmehr geschieht sie. Es (Neutrum) konstruiert sich (Intransitivität) durch die Sprache vermöge ihrer performativen Medialität. Damit ist die Performativität der Rede aktiv an der Weise unseres ‚In-der-Welt-Seins‘ beteiligt: Das Soziale wäre nicht, wenn wir nicht durch unsere Sprachhandlungen und deren kommunikative Effekte Beziehungen stifteten, die wir nur schwer ignorieren können und die uns auf unterschiedliche Weise aneinander binden und versklaven.27 Und dasselbe gilt über die Sprache hinaus von allen kulturellen Akten. Demnach beruht die spezifische Kraft des Performativen auf der Konstitution einer gesellschaftlichen Bindung oder religio: Es ist nicht das Heilige, das die Gemeinschaft zusammenhält, sei diese mit Nancy als eine nie zu Ende kommende Aufgabe aufgefasst oder mit Derrida stets noch im Kommen begriffen,28 sondern es sind die konkreten Interaktionen, die uns aneinanderketten und auf eine gemeinsam geteilte Welt verpflichten, die gleichermaßen dazu tendiert, sich zu besiegeln und zu einem Gefängnis zu werden. Und es liegt auf der Hand, dass das Gleiche für das Ritual und das Theatrale gilt, wenn es mit Erving Goffman auf das Gesellschaftliche überhaupt übertragen wird.29 Um die so behauptete Beziehung zwischen dem Performativen und dem Medialen genauer auszumachen, sei wiederum ein Umweg gewählt, der die Theorie der Sprechakte, die hier stets als Paradigma fungiert, auf den Bereich der medialen Praktiken ausgeweitet. Die anvisierte Extension verdankt sich

27 Searle, John R., Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen, übers. v. Martin Suhr, Berlin 2011. 28 Derrida, Jacques, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1992. 29 Goffman, Erving, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, übers. v. Peter Weber-Schäfer, München 41983.

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dabei einer Unterscheidung, die bereits Austin getroffen hat und deren weitere Ausdifferenzierung in der Theoriegeschichte der Sprachpragmatik jedoch wieder verloren gegangen ist: die Distinktion zwischen ‚Illokutionarität‘ und ‚Perlokutionarität‘.30 Ihre Adaption aufs Mediale führt zu überraschenden Ergebnissen, die schließlich die Ausdehnung der Begriffslandschaft auf sämtliche kulturellen Phänomene gestattet, auch auf die Kunst, sodass sich eine ‚natürliche‘ Brücke zwischen der Ästhetik des Performativen und der Sprachtheorie ergibt. Dass, so der erste Schritt, das Performative mit dem Medialen verquickt ist, ist bereits angeklungen: Performativa vermitteln zwischen Bedeutung und Wirklichkeit. Doch bilden die Sprachhandlungen lediglich einen Spezialfall performativer Akte, soweit damit sämtliche praktischen Vollzugsmomente gemeint sind, auch die nichtsprachlichen. Denn wie Sprechakte intervenieren auch Bilder oder die ubiquitären Praktiken der Sichtbarmachung in die Welt und instantiieren Tatsachen, die nicht wieder revidiert werden können – die Kartografie macht die Welt und ihre Sperrigkeit gefügig, genauso wie Kriegsfotografie Propagandafeldzüge darstellen oder ein einfacher Schnappschuss kompromittieren und mit der Erfahrung von Distanzlosigkeit und Traumatisierung in der Öffentlichkeit konfrontieren kann. Dasselbe gilt von Denkmälern, die nicht nur memoriale Praktiken bedienen, sondern ganze Nationalismen und deren Gegenbewegungen aufrufen. Einer ähnlichen Logik gehorchen zudem irreversible Veränderungen im Stadtbild durch die Zerschneidung ganzer Viertel mittels neuer Verkehrslinien oder der Implementierung von ‚Unorten‘, die das städtische Leben fast zum Erliegen bringen. Jede performative ‚Setzung‘ setzt etwas in Bewegung, zäsuriert und konditioniert dabei grundlegend die Bedingungen des Nachfolgenden. Nicht nur ist der Begriff des Performativen deshalb für die Analyse von Kommunikationen relevant, sondern auch für die Untersuchung von künstlerischen Prozessen, Lebensformen, politischen Demonstrationen oder institutionellen Organisationsformen. In Wahrheit bezeichnet er sogar eine universelle Dimension des Kulturellen, die nirgend

30 Vgl. die Entwicklung der Begriffe ‚lokutionär‘, ‚illokutionär‘ und ‚perlokutionär‘ bei Austin, Theorie der Sprechakte, 112 –125.

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von ihren Analysen abgezogen werden darf. Insonderheit haben Darstellungen oder Repräsentationen solchen Charakter: Was sie vor Augen stellen oder verkörpern, bildet ‚Statements‘ oder Positionierungen, die Künftiges ebenso determinieren, wie sie jede Reaktion, jede Antwort, und sei es auch deren Ausbleiben, mitbestimmen. Was daher für die Sprache reklamiert werden muss, wäre gleichfalls für andere Medien anzunehmen: Kulturellen Praktiken eignet der generelle Charakter einer wirklichkeitserzeugenden Macht, die die ‚Bahnung‘ (Freud) jedes weiteren Handelns vorzeichnet. Identität/Differenz

Kehrt man darüber hinaus – als zweiter Schritt der Überlegungen – zur Sprechakttheorie als, im engeren Sinne, methodischem Paradigma zurück, kommt in Ansehung der Betonung einer allgemeinen realitätssetzenden Macht von Sprachhandlungen die Distinktion zwischen ‚Illokutionen‘ und ‚Perlokutionen‘ zum Tragen. Nach Austin markieren beide disparate Modalitäten performativer Kräfte. Sie lassen sich grammatisch mit Präpositionen in Verbindung bringen, die gewöhnlich Relationen im Raum oder in der Zeit kennzeichnen, die aber gleichwohl auch modal verwendet werden können. Denn nach Austin kann ich etwas tun, indem ich etwas sage (in saying), oder dadurch, dass ich einen Sprechakt vollziehe (by saying), wobei letzteres die unausmessbaren Effekte im Außersprachlichen adressiert. Sie sind deswegen ‚unausmessbar‘, weil wir sie weder in unserer Hand haben noch antizipieren können, was eine Handlung bewirkt oder ‚anrichtet‘. Im Falle der Illokution ist das Sagen die Realität, die es bedeutet: Sinn und Wirklichkeit gehören unmittelbar zusammen, denn das Versprechen meint sich selbst als Inhalt nur in dem Maße, wie es gleichzeitig eine Verbindlichkeit setzt. Das Praktische und das Hermeneutische fallen so in eins: Wir haben es mit einer Identitätsfigur zu tun, während Perlokutionen für jene extralingualen Effekte stehen, die Worte auch unbeabsichtigt auslösen können, indem sie zum Gemeinten auf Abstand gehen und dessen vermeintliche Intention jäh unterbrechen oder untergraben. Dann kann aus einem Versprechen eine Anzüglichkeit oder eine Geringschätzung werden, etwa

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wenn klar ist, dass es nicht gehalten werden wird, wie ebenso eine Bitte zu einer Anmaßung oder Beleidigung gerät, sofern ihr in keinem Falle entsprochen werden kann. Perlokutionen induzieren folglich Differenzsetzungen, und es ist bezeichnend, dass Searle im Anschluss an Austin glaubte, aus den Identitätsfiguren der Illokution allgemeine Verständigungsbedingungen herleiten zu können, die Habermas schließlich zu generellen Rationalitätsparametern verdichtete,31 während die Perlokutionen, soweit sie den sprachlichen Bedeutungsvollzug entfremden und in ein Anderes umschlagen lassen, im selben Maße vernachlässigt wurden, um fortan ein subkutanes Schattendasein zu führen. Illokutionarität und Perlokutionarität spiegeln mithin divergente Formate des Performativen, doch wird mit der Auszeichnung des Illokutionären weiterhin am Primat sprachlicher Semantik und damit am Vorrang des Symbolischen festgehalten, sodass die Produktivität der Kategorie erneut verdunkelt und neutralisiert wird. Die Sprechakttheorie liefert deshalb nicht im eigentlichen Sinne des Wortes eine Theorie des Performativen, vielmehr nimmt sie die Radikalität des Ansatzes gerade wieder zurück. Hingegen kann die Relevanz des Perlokutionären für eine Beschreibung sprachlicher und mutatis mutandis auch für ‚mediale‘ Praktiken nicht hoch genug eingeschätzt werden: Wir behaupten, dass sich mit ihr die Frage nach der Medialität von Sprache und Kommunikation bzw. nach dem Medialen kultureller Praxis eigentlich erst stellt. Es handelt sich, wie man sagen könnte, um den zentralen medialen ‚Operator‘, wenn damit das ‚Werk‘ und nicht die technische Operativität angesprochen ist,32 denn das Mediale hat stets mit dem zu tun, was es selbst nicht ist, aber bewirkt: Es vermittelt weder zwischen Sprache, Denken oder Bewusstsein auf der einen und der Wirklichkeit auf der anderen Seite im Sinne ihrer wechselseitigen Korrespondenz oder Aufzeichnung, es macht ihre Beziehung auch nicht in der wörtlichen Bedeutung von metapherein (metaférein) – anderswohin tragen, verlegen – übertragbar oder übersetzbar, 31 Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M. 82011. 32 Der Begriff der Operativität ist von Praxis zu trennen. Einerseits verweist die Operation im Wortsinne auf opera, Werk, was die Differenz zwischen poíhsiß und prâxiv aufruft, andererseits lassen sich Operationen – mathematisch – als Funktionen oder Funktionsabläufe rekonstruieren, die immer schon technisch vorentschieden sind.

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vielmehr verleiht es dem Sinn als Sinn allererst seinen ‚Platz‘, ‚ver-wirklicht‘ ihn qua seiner ‚Ver-Weltlichung‘. Dem entspricht in den theoretischen Diskursen die maßgebliche Rolle der Präposition ‚durch‘ – griechisch ‚diá‘, lateinisch ‚per‘ –, wie sie in der Austin’schen Einführung des Performativen geradezu inflationär Anwendung findet. Erst durch die Praktiken der Produktion, der Darstellung oder Archivierung, erst durch die Aufrichtung einer bestimmten Sichtweise, der Verwendung technischer Apparate oder durch die Vermessung und Mathematisierung der ‚Welt‘ wird etwas verfügbar gemacht und im Realen situiert.33 Daher kulminiert die Praxis des Medialen in den unscheinbaren Relationen des ‚durch‘, ‚per‘ oder ‚diá‘, wie sie ebenfalls als Präfixe in jenen sprachlichen Komposita vorkommen, mit denen mediale Prozessen überhaupt beschrieben werden: dem ‚Diaphanen‘, der ‚Perspektive‘ oder ‚Persona‘ wie ebenso in Verfahren der ‚Durchsetzung‘ (perferre) oder ‚Durchtrennung‘ (diaíresiv) zum Zwecke einer diskursiven Klassifikation der Wirklichkeit.34 Die verschiedenen Ausdrücke machen deutlich, auf welche Weise sich Performativität und Medialität wechselseitig durchdringen: Beide nennen unterschiedliche Facetten ein und derselben Sache. Das Mediale erweist sich als wirkungsmächtig allein durch (per/diá) diejenigen Praktiken, mit denen es sich in die ‚Welt‘ einträgt, wie umgekehrt das Performative im übertragenen Sinne seiner ‚Perlokutionarität‘ Strukturen oder Effekte erschafft, worin sich das Mediale allererst formiert. Materialität, Medialität und Performativität bilden somit einen festen Zirkel. Er umschließt jenen Komplex von Begriffen, der das Symbolische ebenso übersteigt, wie er die klassischen Register der Bedeutung, der Form oder Repräsentation sprengt. Kulturphilosophisch handelt es sich so um eine hermeneutik- wie semiotikkritische Intervention, eine ‚posthermeneutische‘ Figur avant la lettre.35 Gleichzeitig enthüllt sich mit ihrer Juxtaposition noch etwas anderes. Denn insofern Praktiken medial wirken und sich im Wirklichen manifestieren, wie umgekehrt Medien sich durch 33 Vgl. Mersch, Dieter, Meta / Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), Nr. 2, Heftthema: Medienphilosophie, 185 – 208. 34 Vgl. Mersch, Dieter, Wozu Medienphilosophie? Eine programmatische Einleitung, in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie 1 (2015), 13 – 48. 35 Vgl. Mersch, Dieter, Posthermeneutik (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 26), Berlin 2010.

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ihre Praktiken realisieren, erscheinen beide in ihren Resultaten nicht zur Gänze kontrollierbar. Wir haben es vielmehr mit einem chronischen Überschuss zu tun, einer Indeterminiertheit, die jeweils nur negativ ausdrückbar ist, sofern jeder Praxis ein Moment von Fragilität innewohnt, die sie in Bezug auf sich selbst und ihre Folgen unsicher macht. Jederzeit ergibt sich die Möglichkeit eines ‚Unfalls‘ oder Versagens: Keine Handlung ist vor Gegenfinalitäten gefeit, und die begriffliche Verschiebung vom Illokutionären zum Perlokutionären macht dies auf besondere Weise deutlich. Denn scheint mit der Illokution eine rationale Dimension auf, sofern für sie die Prinzipien der Intentionalität und Regelhaftigkeit konstitutiv sind, die sie ‚halten‘, tritt mit der Perlokution ein unkalkulierbares oder ‚tragisches‘ Element ‚dazwischen‘, insofern sich die Folgen, die unsere Handlungen und deren transformatorische Kraft induzieren, weder zur Gänze überschauen noch einholen lassen. Keine Praxis kann dessen gewiss sein, was sie impliziert. Das bedeutet auch: Ihrer prinzipiellen ‚Irrationalität‘ ist im menschlichen Register nicht zu entkommen. Sie bleibt, kraft des Performativen, unversöhnlich. Performativität und Unregierbarkeit

Der Gedanke lässt sich erneut im Rückblick auf jene begrifflichen Klärungen erläutern, wie sie Austin in Ansehung des sprachlichen Performativs vorgenommen hat. Denn die methodologische Richtung, die seine Theorie der Sprechakte einschlägt, zielt darauf, sprachliche Handlungen auf die spezifischen Konditionen ihres Gelingens oder Misslingens hin zu untersuchen. Gewöhnlich wird zwischen dem ersten und dem zweiten Teil seiner Vorlesungsreihe How to Do Things with Words eine Kluft postuliert, insofern der zweite Teil angeblich die Prämissen des ersten revidiere. In der Tat scheint es so, als orientierte sich der erste Teil stärker an Ritualen und sozialen Institutionen, worin Sprechakte eingewoben sind, während sich der zweite Teil mehr mit den Kriterien des Glückens oder Scheiterns beschäftigt. Da jedoch Austin die Vorlesung zu verschiedenen Zeiten und Orten mehrfach wiederholt hat, kann nicht von einer internen Revision oder Selbstkritik ausgegangen werden, sondern bestenfalls von einem strategischen Vorgehen, das zunächst

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von sozialen Kontexten ausgeht, um überhaupt den Konnex zwischen Sprache und Handeln zu schließen und dann im weiteren Fortgang die näheren Merkmale zu analysieren, unter denen ihr Nexus produktiv wird. Interessanterweise erfolgt bei Austin die Untersuchung dieser Produktivität – des Übergangs von klassischen Wahrheitskriterien für Propositionen zu ‚Kriterien des Gelingens‘ performativer Akte – via negationis, d. h. über die Untersuchung von ‚Fällen des Misslingens‘, wobei deren Behandlung nicht in eine Theorie, sondern in eine Kasuistik, ein Ensemble von Beispielen mündet, deren loses Band sich keiner Generalisierung fügt. Der systematische Grund dieses schon erwähnten Okkasionalismus liegt darin, dass sich Praktiken nicht wie Aussagen traktieren lassen, weil sie einer unausweichlichen Kontingenz unterliegen: Sie neigen gleichsam dazu, aus dem Rahmen zu fallen oder die Situation zu modifizieren, der sie entstammen und auf die sie bezogen sind. In jedem Augenblick sind sie daher schon ein Anderes, bereits am Ort ihres Eingriffs entwendet, ebenso befangen wie ‚außer-sich‘ – und das gilt für Perlokutionen noch in weit stärkerem Maße als für Illokutionen, insofern allein letztere normativ gebunden erscheinen, während erstere den Charakter einer Überschreitung besitzen.36 Deswegen differenziert zwar Austin zwischen Illokutionarität und Perlokutionarität, aber nur, um die Perlokutionen ausdrücklich zugunsten der besser handhabbaren Illokutionen wieder auszuschließen. Anders gewendet: Austin ist kein Denker der Anomie, der Transgression oder Störung, vielmehr des sozialen Ausgleichs und der Anerkenntnis ‚notwendigen Glücks‘. Und dennoch enthüllt sein spezifischer Zugang etwas von dem doppelten Paradox, das jeder ‚Theorie des Performativen‘ innewohnt, weil sie einerseits etwas zu verallgemeinern sucht, was allein im Singular vorkommt, wie sie andererseits den Primat des Diskurses und dessen Vorentscheidung für Propositionalität zwar zu unterlaufen trachtet, dennoch aber nicht umhin kann, weiterhin in ihrem Modus zu sprechen und damit ihren 36 Systematisch entwickelt ist dieser Gedanke aus der Triplizität von Einsetzung, Aussetzung und Entsetzung bei Mersch, Dieter, Performativität und Ereignis. Überlegungen zur Revision des Performanz-Konzeptes der Sprache, in: Fohrmann, Jürgen (Hg.), Rhetorik. Figuration und Performanz (Germanistische Symposien-Berichtsbände 25), Stuttgart/ Weimar 2004, 502 – 535.

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Gewinn wieder zurückzunehmen. Der Begriff des Performativen tendiert folglich dazu, unausdrückbar zu bleiben, weil er in dem Maße, wie er das ‚Per‘ des Performativen exponiert, es im Format seiner Verhandlung erneut exkludieren muss. Wir berühren damit das grundlegende Problem einer Spaltung im Medialen wie ebenfalls im Diskursiven und Symbolischen, insoweit zum einen zwischen dem Medium und seiner Exekution unterschieden werden muss, wie zum anderen das Mediale nur im Praktischen, gleichsam als sein beständiges ‚Werden‘ existiert. Das hat zur Konsequenz, dass sich das Mediale ebenso wie Performativität und Praxis jeder angemessenen theoretischen Modellierung verweigert. Austin und die späteren Theoretiker des Performativen waren sich dieses Entzugs nicht bewusst. Sie verfehlten darum die Diskussion des Performativen genau in dem Maße, wie sie sie anzustoßen trachteten. Die Verfehlung korrespondiert aber mit der Singularität von Performanz als der einen Seite des Paradoxons. Denn Performativa sperren sich nicht nur deswegen ihrer Theoretisierung, weil unklar bleibt, wie über sie zu sprechen ist, sondern auch, weil sie nur einmal vorkommen und im Realen solche Setzungen vornehmen, die es ein für alle Mal verändern. Ausgestattet mit dieser ‚transformatorischen Kraft‘ verfügt das Performative deshalb gleichzeitig über die Eigenart, sich für sich selbst opak zu bleiben. Ihm eignet eine prinzipielle Intransparenz – nicht nur in Bezug auf seine Folgen, sondern auch hinsichtlich seines Ursprungs und seiner inhärenten Macht. Man kann dies erneut anhand von Sprechakten exemplifizieren: Was wir sagen, so Austin, beschränkt sich nicht allein auf die Aussage, die wir treffen, oder auf die Bedeutung, der wir Ausdruck zu verleihen suchen, vielmehr greifen wir mit unseren Äußerungen in die Welt ein, verwandeln sie, indem wir sie, als einen Teil von ihr, mit der ‚Gravitation‘ unseres ‚Gewichtes‘ ausstatten – und doch wissen wir nie, woher diese kommt, wie stark sie ‚wirkt‘ oder wo sie zu lokalisieren ist, noch was ihre Wirkung mit dem Sinn unserer Aussagen ‚macht‘. Sprechen heißt damit stets ‚Sichaussetzen‘ und ‚Sichentzogensein‘, was voraussetzt, sich in etwas ‚loszulassen‘, für das wir gleichzeitig Verantwortung tragen, ohne es im eigentlichen Sinne ‚ver-antworten‘ zu können. Das Gesagte scheint nur ein ‚Gemeintes‘

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zu sein, das jedoch im nächsten Moment, ohne unser Wissen und Zutun, sich von uns entfernt hat, sich verselbständigt und unsere Absichten wie Motive karikiert. Sprechen, wie Handeln, unterliegt fortdauernd dieser beängstigenden Dispersion und Dekontrollierung, sodass das Performative in jedem Augenblick die Möglichkeit einer Ruptur oder Dislokation birgt. Einen Satz ‚verwenden‘ bedeutet, ihn bereits ‚gewendet‘ und seiner ‚EntFremdung‘ ausgesetzt zu haben. Mit anderen Worten, im Performativen agieren wir im Ungedeckten, das uns mit einer chronischen Unvollständigkeit, einer durch nichts zu behebenden Unverfügbarkeit konfrontiert.37 Die eigentliche Brisanz des Performativitätsbegriffs liegt hier – weniger in seiner Sprengung des Symbolischen, seiner transitorischen Kraft, als vielmehr in seiner Ungesetzlichkeit, seiner Unregierbarkeit oder Nichtantizipierbarkeit. Einmal gesetzt, verweist Performativität nicht nur auf eine Irreversibilität, sondern auch darauf, uns zu etwas zu zwingen, was außerhalb unserer Intentionen liegt und mit unserer Souveränität und Freiheit bricht. Ja, wir sind durch den Druck, die Forcierung performativer Setzungen ununterbrochen zu Reaktionen gezwungen, die wir nicht gewollt haben, und damit in Prozesse eingewickelt, die wir weder ‚gemacht‘ haben, noch deren Dynamik wir zu bestimmen vermögen – die uns, obzwar verantwortlich im Handeln, dennoch zu einer ebenso untragbaren wie unerträglichen Unverantwortbarkeit nötigen. Tatsächlich kann dies mit Bezug auf alles Handeln behaupten werden. Was Ereignis, was Unaufhebbarkeit, was die realitätssetzende Kraft des Performativen bedeutet, was dessen ‚Ent-Wendungen‘, seine Nichtvorhersehbarkeit wie seine gleichzeitige Unverfügbarkeit oder ‚Unfüglichkeit‘ anrichten, vermag dabei nur im Einzelfall ausgelotet zu werden. Stets geschieht ein Gegenzug, eine Unberechenbarkeit, die, überraschend und anarchisch, ‚von der Seite‘ kommt, um unsere einstigen Projektierungen auszuhöhlen und ad absurdum zu führen. Kein Entwurf erweist sich als offen genug, um alle möglichen und unahnbaren Zukünfte miteinzubeziehen,

37 Verwandte Gedanken klingen an bei Mersch, Dieter, Chiasmen. Über den unbestimmten Zwischenraum, in: Dalferth, Ingolf/Stoellger, Philipp/Hunziker, Andreas (Hg.), Unmöglichkeiten. Zur Phänomenologie und Hermeneutik eines modalen Grenzbegriffs (Religion in Philosophy and Theology 38), Tübingen 2009, 21– 37.

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denn kein Raum bleibt frei von Missbrauch wie umgekehrt von der Fähigkeit zu seiner Umschrift oder dem Eintrag des Unwahrscheinlichen und seiner – im Wortsinne – ‚ver-wegensten Sprünge‘.

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Performing Mimikry. Künstlerische Strategien der Transformation von Identität Julia Allerstorfer

Abb. 1– 2: Nezaket Ekici, Gravity, 2007, Videostills

Mein Beitrag konzentriert sich auf performative Strategien in körperlichen Inszenierungen von Kunstschaffenden, die sich in und/oder zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten bewegen.1 Hierbei gilt mein Interesse Fotografien, Installationen, Performances und Videoarbeiten folgender Künstler/innen: Kader Attia (geb. 1970 in Dugny/Frankreich), Nezaket Ekici (geb. 1970 in Kırs. ehir/Türkei, lebt in Berlin und Stuttgart), Shahram Entekhabi (geb. 1963 in Borujerd/Iran, lebt in Berlin), Nilbar Güres. (geb. 1977 in Istanbul/Türkei, lebt in Wien), Sohrab Kashani (geb. 1989 in Teheran/Iran), Simin Keramati (geb. 1970 in Tehe. ran/Iran, lebt in Toronto), S. ener Özmen (geb. 1971 in S. ırnak-Idil/ Türkei), Mouna Jemal Siala (geb. 1973 in Paris/Frankreich, lebt in Tunis) und Esin Turan (geb. 1970 in Konya/Türkei, lebt in Wien). Das verbindende Moment der künstlerischen Positionen 1

Zum Thema Transmigration und künstlerische Praxen vgl. auch Allerstorfer, Julia, Transmigration, „Traveling Cultures“ und kulturelle Hybridisierung: Künstlerische Praxen „in-between“, in: Sauer, Hanjo/Allerstorfer, Julia (Hg.), Migration. Eine transkulturelle Annäherung, Frankfurt a. M. u. a. 2017 (in Vorbereitung).

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ist der strategische Einsatz von Körper und Performativität, mit denen Um- und/oder Neucodierungen stereotyper gesellschaftlicher, soziopolitischer und religiöser Normen und Machtverhältnisse vorgenommen werden. Im Zuge meiner Untersuchungen wird das Konzept der Geschlechterperformativität Judith Butlers mit dem postkolonialen Theorem der Mimikry von Homi K. Bhabha verknüpft. Die emanzipatorischen und widerständigen Potenziale von Performativität und Mimikry lassen sich auf die visuellen Strategien beziehen, die von den Künstler/inne/n bei körperlichen Inszenierungen in den unterschiedlichen Medien angewandt werden. Handlung fungiert als Basis für performative Strategien. Anstelle des Begriffs der Handlung schlage ich den englischen Terminus „agency“ vor, der in postkolonialen Theorien Handlungsmacht bedeutet und das aktiv-intervenierende Spektrum menschlichen Handelns in postkolonial bedingten Konstellationen meint. In den Werken der genannten Künstler/ innen zählen insbesondere Performativität und Mimikry zum strategischen Repertoire der Dekonstruktion, Subversion und Transformation von stereotypen Identitätspolitiken. Performative Inszenierungen in transkulturellen Kontexten

In den ausgewählten Installationen, Fotografien und Videoarbeiten thematisieren die Künstler/innen den Stellenwert von Religion und Implikationen des Religiösen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Allen Arbeiten gemein ist die Analyse der Bedeutungshorizonte von muslimischen Glaubenstraditionen und rituellen Praxen. Eng damit verknüpft ist die Frage nach der Konstruktion und Positionierung der eigenen Identität2 in den Spannungsfeldern von Gesellschaft, Re2

Als kulturtheoretisch prominenter Terminus nimmt „Identität“ eine Schlüsselrolle in Fragehorizonten von Rasse, Klasse, Geschlecht, Nation, Kultur etc. ein. Die essenzialistische Semantik des Identitätsbegriffs stürzte spätestens mit Derridas poststrukturalistischer Konzeption von Differenz als „différance“ in eine Krise, da die scheinbar fixierten Merkmale von Identität wie Stabilität, Kohärenz und Geschlossenheit aufgebrochen, einer kritischen Analyse unterzogen und als prozessual verstanden wurden. Identitätskonstruktionen erfolgen durch Ab- und Ausgrenzung, das konstitutive Außen bedingt nicht nur die Möglichkeit von Identität, sondern ist stets Teil derselben. Alterität als integraler Bestandteil von Identität eröffnet den Blick auf das „Andere“ im Eigenen bzw. im Selbst und legt zugleich den konstruktiven und machtdurchzogenen Herrschaftscharakter des Identitätsdiskurses offen. Die postkoloniale Theorie geht davon aus, dass die Selbstidentität des kolonisierenden Subjekts und jene der imperialen Kultur untrennbar mit der Alterität der kolonisierten „Anderen“ verwoben sind. Diese Alterität wird durch Prozesse determiniert und gefestigt, die mit dem englischen Terminus „othering“ bezeichnet werden. Vgl. Babka, Anna, Alterität (Dekonstruktion), produktive differenzen. forum für differenz- und

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ligion und Staat. Ein weiteres gemeinsames Merkmal ist der strategische Einsatz von Körper – und dieser Einsatz hat handlungsorientierte und performative Qualitäten. In

der

über

zwanzigminütigen

Videoperformance

Gravity

(Abb. 1– 2) sieht man die Künstlerin Nezaket Ekici im Ausschnitt eines Schulterstücks vor einem hellen Hintergrund. Mit einer lilafarbenen Bluse bekleidet, ist sie direkt vor der Kamera und somit auch vor den Augen der Beobachter/innen positioniert. Aufgrund ihres prüfenden Blicks in die Kamera hat Marikke Heinz-Hoek zu Recht darauf hingewiesen, dass die Künstlerin die Kamera wie einen Kontroll-Spiegel benutzt.3 Zu Beginn der Performance streicht sich Ekici übers Haar und nimmt ein schwarzes Kopftuch, das sie wie eine Haube aufsetzt und im Nackenbereich zubindet. Es folgen ein weißes, schlauchartiges Tuch, dann ein blaues sowie zahlreiche weitere Tücher mit bunten Dekoren und Musterungen. Die tonale Ebene ist auf wenige Geräusche reduziert: das scheppernde Geräusch der aufeinanderschlagenden Armreifen, die Ekici an ihrem rechten Handgelenk trägt, der Luftzug der Tücher, die von ihr vor dem Anlegen aus- und zurechtgeschüttelt werden, und ein hörbares Ausatmen oder Seufzen. Insgesamt sind es 25 Schleier, die sich Ekici im Verlauf des Videos nacheinander über und um ihr Haupt legt, penibel faltet, glatt streicht und auf divergierende Arten fixiert. Auffällig ist, dass sich nicht nur die Formen und Farben der Stoffe, sondern auch die Anlegetechniken und Bindeweisen unterscheiden. Diese werden immer wieder in kleinen Bildausschnitten in Form von Nah- und Detailaufnahmen eingeblendet, die unsere Aufmerksamkeit steuern und ein hohes Maß an Intimität vermitteln. Nach etwa zehn Minuten ist Ekici mit zahlreichen Tüchern bedeckt, das Anlegen und Zubinden der nachfolgenden Schleier scheint aufgrund der Schichtungen am Haupt immer komplizierter zu werden. Kurze Zeit später ist nur mehr ihre Augenpartie sichtbar, gegen Ende der Performance wirft die Künstlerin einen letzten, dunklen Schleier über ihren Kopf und ihre Bewegungen

3

genderforschung. Glossar, http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=7 [Stand: 20.08.2015] sowie Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen, Post-Colonial Studies. The Key Concepts, London/New York 22007, 9 –10 (Lemma Alterity). Vgl. Heinz-Hoek, Marikke, Nezaket Ekici. GRAVITY (Städtische Galerie Bremen, Videokunstreihe im Foyer: screen spirit_continued #14, 20.11.2011– 08.01.2012), http:// www.staedtischegalerie-bremen.de/archiv/archiv-2011/nezaket-ekici-gravity.html [Stand: 20.08.2015].

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erstarren. In einem Statement zur Arbeit äußert sich Ekici über die politischen Instrumentalisierungen und religiösen Implikationen des Kopftuches in türkischen und „westlichen“ Gesellschaften: Primär konzentriere sich Gravity jedoch nicht auf religiöse Aspekte des Schleiers, sondern auf die ästhetischen Momente der unterschiedlichen Anlegearten.4 Sowohl der Titel als auch die Performance evozieren ein Gefühl von Last und Schwere. Nezaket Ekici skizziert – in bemerkenswerter Distanz zu ihrem eigenen performativen Akt – die Arbeit so: „Sie schlägt dabei ein Tuch über das andere, bis auf ihrem Kopf ein monströser Turm aus Tüchern entstanden ist, der der Schwerkraft folgend den Kopf der Trägerin beschwert und eine Art symbolisches Leiden unter dem Gewicht der Tücher zeigt.“5 Vergleichbar mit Gravity ist eine Arbeit der Künstlerin Nilbar Güres. . In den ersten Sequenzen der Videoperformance Soyunma/ Undressing (Abb. 3 – 6) ist eine vermummte Gestalt hinter einem Tisch und vor einem blaugrauen Hintergrund zu sehen. Unmittelbar ist die Assoziation zu körperbedeckenden muslimischen Verschleierungsformen wie etwa der Burka.6 Im Laufe des Vi-

Abb. 3 – 6: Nilbar Güres., Soyunma/Undressing, 2006, Videostills 4 5 6

Statement von Nezaket Ekici zu Gravity aus dem Jahr 2007, als Text-Datei von der Künstlerin zur Verfügung gestellt (Archiv der Verfasserin). Ebd. Bemerkung zur Transkription: Der Beitrag orientiert sich größtenteils am englisch-amerikanischen Umschriftsystem. Zu den Standards der Transliteration vgl. International

Performing Mimikry | Julia Allerstorfer

deos nimmt die Person die zahlreichen bunten Stoffe langsam von ihrem Kopf und legt diese sorgsam auf die Holzfläche vor sich. Währenddessen werden unterschiedliche Frauennamen genannt. Je mehr Hüllen fallen und Schichten freigelegt werden, desto deutlicher wird die darunter verborgene Frauengestalt, deren Antlitz und Kontur vorerst nur vage zu erahnen sind. Nach dem Ablegen der letzten Tücher ist die Künstlerin Nilbar Güres. zu erkennen. In mehreren Kurzbeschreibungen der Arbeit wird angeführt, dass Güres. mit den ausgesprochenen weiblichen Namen jene Frauen adressiert, die sie persönlich kennengelernt hat,7 und die Künstlerin mit Soyunma/Undressing so insbesondere auf die spezifische Situation von Kopftuchträgerinnen in Österreich Bezug nimmt.8 Entgegen der häufig postulierten

Entpersonalisierung

und

Entindividualisierung

durch muslimische Bekleidungskonventionen verknüpft Güres. in ihrem Video das Kopftuch mit konkreten Biografien und unterschiedlichen Motiven der Kopftuchträgerinnen. Die vielen Schleierformen, Stoffmuster und Verschleierungstechniken verweisen zudem auf individuelle Entscheidungsprozesse und die Ausformulierung einer selbstbestimmten personalen Identität. Wie Nilbar Güres. wurde auch die Künstlerin Esin Turan in der Türkei geboren, beide leben und arbeiten derzeit in Wien. Im Bild Undercover aus Turans Fotoserie This is not a Burka (Abb. 7) sieht man ein schwarzes Tuch, das kreisförmig auf einem gefliesten Boden im öffentlichen Raum ausgebreitet ist. Unter dem Stoffstück zeichnen sich die Konturen zweier Körper ab, deren Beine ab Kniehöhe hervorragen. Hinsichtlich der Materialität formieren die nackten Beinpartien und der monotone Fliesenboden einen eigentümlichen Kontrast zum schwarzen Kreis des faltenwerfenden Textils. Mit dieser Inszenierung geht der Eindruck einer massiven Deplatziertheit einher: Irgendetwas,

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Journal of Middle East Studies (IJMES), Translation & Transliteration Guide, http://ijmes. chass.ncsu.edu/IJMES_Translation_and_Transliteration_Guide.htm [Stand: 29.08.2016] sowie Association for Iranian Studies (AIS), Transliteration Scheme, http://associationforiranianstudies.org/journal/transliteration [Stand: 29.08.2016]. Vgl. Durmus.og ˘ lu, Övül Ö., Zu den unbekannten Feldern der Imagination: Nilbar Güres., in: Nafas Kunstmagazin, Mai 2011, http://u-in-u.com/de/nafas/articles/2011/nilbar-gures [Stand: 20.10.2016] sowie Istanbul Modern, A Selection from the Collection: Nilbar Güres. (1977). Undressing (2006), http://www.istanbulmodern.org/en/collection/photography-collection/5?t=3&id=1204 [Stand: 20.07.2015]. Vgl. Nilbar Güres.. Undressing (EIKON SchAUfenster, Electric Avenue / quartier21, MuseumsQuartier Wien, 15.09.–12.11.2011), http://www.mqw.at/de/programm// programmdetail/nilbar-gueres-undressing [Stand: 20.07.2015].

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irgendjemand ist ‚fehl am Platz‘. Der Stoff allein ist eigentlich bloß wertneutraler Stoff. In der Fotografie ist dieser jedoch mit hoher Symbolkraft aufgeladen, da er die Körper quasi abdeckt und somit unterschiedliche Abb. 7: Esin Turan, Undercover, 2015, Fotoserie This is not a Burka

Assoziationen

evoziert. Zu denken wäre etwa an ein Leichentuch, das den

leblosen Körper aus Gründen der Pietät vor öffentlichen Blicken abschirmen soll. Aufgrund der Betitelung der Fotoserie ist die Verbindung zur islamischen Verschleierungsvariante der Burka gegeben, wird aber zugleich verneint: This is not a Burka. Burka oder nicht, wiederum steht hier die performative Inszenierung eines – umstandslos als weiblich rezipierten – Körpers im Vordergrund, der bestimmten Akten der Verhüllung, Verschleierung und des Unsichtbar-Machens ausgesetzt ist. Es sind zwei für das Projekt engagierte Protagonistinnen, die sich mit/unter dem schwarzen Tuch für die Fotografie in Szene setzen; Esin Turan selbst ist nicht im Bild. Die skulpturale Wirkung basiert hier auf dem Zusammenspiel einer betont plastischen Qualität von Stoff, Körper und räumlichem Setting. Turan geht es um die unterschwelligen Bedeutungsschichten religiöser Symbolik im islamischen Kontext: „Religious symbols, and especially Islamic images or symbols in the mass media, convey many layers of meaning. Most of them are subliminal. They are not only associated with Islam as a religion, but also with Islam as a militant movement, often accompanied by the refusal to adopt the value system of the respective host country.“9 Von Interesse sind zwei weitere Künstlerinnen, die das Phänomen Verschleierung mit einem performativ inszenierten Selbstporträt im Medium Video sowie schwarzen Übermalungen kombinieren. Die Farbe Schwarz ist in den Arbeiten als klare Anspielung auf

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Meisel, Karin, Breaking Through Cultural and Political Boundaries. Karin Meisel in Conversation with Artist Esin Turan, in: Simma, Maria/Stadler, Andreas (Ed.), The Seen and the Hidden: [Dis]Covering the Veil (Exhib. cat, Austrian Cultural Forum New York, 22.05.– 29.08.2009), New York 2009, 14 (online abrufbar unter http://www.acfny. org/fileadmin/useruploads/fdfx_image/Press_Texts/Online-Catalogues/TheSeeanAndTheHidden_catalog_final.pdf [Stand: 14.09.2015]).

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die Verhüllung und Negation des weiblichen Körpers zu betrachten. Zugleich kann man darin eine Thematisierung der in mehreren islamischen Staaten gängigen (massenmedialen) Zensurmaßnahmen sehen, die häufig auf bestimmte Partien des weiblichen Körpers sowie das Haar fixiert sind. In der Videoarbeit Self Portrait der iranischen Künstlerin –10) Simin Keramati (Abb. 8  sind weiße Schriftzüge in handschriftlichem Duktus zu sehen, die sich zugleich in persischer und englischer Sprache gemäß der jeweiligen Schreibrichtungen in einen schwarzen Grund einschreiben: „I do walk a lot these days, I just want to get rid of my thoughts.“ Man vernimmt knisternde Geräusche, ausgelöst von Schritten, ein Atmen und Seufzen. Etwas später erscheint Keramatis Schulter-

Abb. 8–10: Simin Keramati, Self Portrait, 2007– 2008, Videostills

stück in Frontalansicht vor dem schwarzen Hintergrund. Sie ist mit dem traditionellen persischen Hijab bekleidet, ihr Antlitz ist regungslos, ernst, melancholisch. Nach wenigen Augenblicken beginnt sich eine schwarze Flüssigkeit über ihrem linken Auge auszubreiten und nimmt rasch eine Gesichtshälfte zur Gänze ein. Parallel dazu werden handschriftliche Worte, Sätze oder Satzfragmente um die Künstlerin eingeblendet. Die Handschrift ist jene der Künstlerin, auch die Geräusche wie Schritte, Atmen und Seufzen rühren von Keramati her. Je mehr die schwarze Substanz ihr Gesicht verschlingt, desto hektischer und schneller erscheinen die Schriftzüge, einzelne Passagen werden auch wieder durchgestrichen. Bevor das Schwarz Keramatis Gesicht gänzlich ausgelöscht hat und nur mehr ihr Kopftuch sichtbar

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ist, erscheinen letzte Notizen: „There is always this portrait of myself, melting, while walking I feel drops of my face, running over each other and fall into nowhere, and at last, I find myself walking on the streets of this city while I am faceless.“ Die französisch-tunesische Künstlerin Mouna Jemal Siala spielt in ihrem Video Le Sort/The Fate (Abb. 11–13) auf die postrevolutionäre Situation und das Erstarken der islamischen Parteien nach den Wahlen im Jahr 2011 in Tunesien an. Die dreiminütige Video- und Toninstallation zeigt Siala in einem Bruststück und in Frontalansicht, die Bilder sind mit dem Stück Lent et douloureux (Gymnopédie Nr. 1) von Erik Satie unterlegt. Vergleichbar mit Keramatis Video ist neben der körperlichen Pose der ernste Blick Sialas, mit dem sie den/die Betrachter/in fixiert. Im Verlauf des Videos schreiben sich feine dunkle Linien in Richtung der Augenpartie in das Antlitz der Künstlerin ein, an den so markierten Stellen wird die Haut schwarz eingefärbt und überzeichnet. Eine deutliche Referenz zu Verschleierungsformen

Abb. 11–13: Mouna Jemal Siala, Le Sort/The Fate, 2012, Videostills

wie etwa der Niqab ist in jener Sequenz offensichtlich, in der das gesamte Gesicht bis auf die Augen übermalt ist. Nach kurzer Zeit ist Sialas Antlitz vollständig schwarzgrau eingefärbt. Im Gegensatz zu Keramatis Selbstporträt werden Sialas Gesichtszüge durch den Farbauftrag nicht bis zur Unkenntlichkeit überdeckt, sondern bleiben in ihrer Individualität erkennbar. In gleicher Weise wie zunächst durch markante Linien aufgetragen, werden die Farbpartien in der Folge wieder abgetragen, sodass Sialas Antlitz am Ende des Videos wieder sichtbar ist. In ihrer Arbeit verweist die Künstlerin auf die für sie paradox anmutenden Identifikationen tunesischer Frauen mit dem islamischen Schleier und einer „arabisch-islamischen Identität“: Die Verschleierung, die vor der Revolution im Jahr 2010 strikt ver-

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boten war, werde – so Siala – als eine Art „Befreiung“ erlebt.10 Die Veränderungen bis hin zum Verlust von Identität greift Siala in ihrer Selbstinszenierung mit der changierenden Ver- und Enthüllung auf: „Da ich mit meinem Selbstporträt experimentiere, sollte es auf gar keinen Fall verhüllt sein. Vielmehr möchte ich dem Betrachter anhand meines Porträts künstlerische ‚Erscheinungsbilder‘ anbieten, die auf ein befremdliches Phänomen im heutigen Tunesien anspielen sollen.“11 Die verbindenden Momente der vorgestellten künstlerischen Positionen sind (Selbst-)Inszenierung und körperliche Performanz im Bereich der Videokunst und Fotografie sowie der inhaltliche Fokus auf islamische Bekleidungsvorschriften und die Thematisierung von Ver- und Enthüllung. Hierbei kommen unterschiedliche performative Bildstrategien zum Einsatz, die kulturelle Konventionen zugunsten pluralistischer Sichtweisen subversiv dekonstruieren und neucodieren. Der Einsatz des Körpers sowie die Auseinandersetzung mit religiösen Praxen in muslimischen Kontexten sind auch in Werken der Künstler Kader Attia, S. ener Özmen, Sohrab Kashani und Shahram Entekhabi zentrale Themen. Hauptanliegen des französisch-algerischen Künstlers Kader Attia ist das Aufdecken der Konsequenzen des Kolonialismus und Kulturimperialismus in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Bei Ghost handelt es sich um eine raumgreifende Installation, die aus einer Gruppe muslimischer Frauen im rituellen Gebet besteht. Eine Ausstellungsansicht der Antwerpener Dependance der Galerie Christian Nagel aus dem Jahr 2011 zeigt, wie die gesamte Fläche eines Raumes von kniend Betenden mit meditativ nach vorne gebeugten Oberkörpern eingenommen wird (Abb. 14). Die traditionellen Schleier, die aus Alufolie – einem kostengünstigen Verpackungs- und Wegwerfmaterial als Symbol der Konsumgesellschaft – gestaltet sind, fungieren als leere Schalen weiblicher Körper. Aufgrund der Ausführung und der kollektiven Anordnung wirken sie wie Geister, sie sind gesichtslos, scheinbar ohne Identität. Attia beschreibt den Entstehungs-

10 Vgl. Mouna Jemal Siala, in: Institut für Auslandsbeziehungen e.V. (Hg.), connect: Rosige Zukunft. Aktuelle Kunst aus Tunesien (AK, ifa-Galerie Berlin, 12.10.– 21.12.2012, ifaGalerie Stuttgart, 25.01.–16.03.2013), Bielefeld/Berlin 2012, 84 – 89, hier 84. 11 Ebd.

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Abb. 14: Kader Attia, Ghost, 2007, Ausstellungsansicht: „Kader Attia – Ghost“, Dependance der Galerie Christian Nagel, Antwerpen, 2011

prozess der Arbeit: „Then slowly, the more I casted other figures to complete the installation, I felt it was a Sisyphean task. I was filling the space with emptiness. The more I created, the more I felt a void, in both its physical and temporal dimensions.“12 Hier sind mehrere Aspekte der Installation angesprochen: Die Fragilität des eingesetzten Materials (Alufolie) unterstützt die Wahrnehmung des menschlichen Körpers als leere und ausgehöhlte Form. Der Leere als konstitutivem Moment in der bildhauerischen Praxis kommt demnach eine wesentliche Bedeutung zu. Ein weiteres Moment ist Attias Verwendung von religiösen Ikonografien und deren Vergleich in christlichen und muslimischen Kontexten: Die verschleierte Frau als panreligiöse Ikone mit unauflösbaren Widersprüchen nimmt auf die Gottesmutter Maria und auf Fatima, die vierte Tochter Mohammads, Bezug. Verehrt und beschützt, sind beide jeglicher Freiheit beraubt.13 Die axiale und serielle Gruppierung der Betenden folgt bestimmten Raumstrategien, die das Individuum in kollektive Machtstrukturen einbetten. Somit wird wiederum die Frage nach der Identität des/ der Einzelnen innerhalb kultureller und religiöser Gruppierungen ins Zentrum gerückt. Die performative Inszenierung der Körperhüllen mit der Andeutung von unterschiedlichen Bewegungsabläufen, Haltungen und Posen weist zudem auf ein individuelles Moment in der kollektiven körperlichen Konstellation hin.

12 Zit. n. Altman, Anna, Never Quite filling the Void: Kader Attia, in: Art in America 9/2009, http://www.artinamericamagazine.com/news-features/previews/kader-attia [Stand: 17.08.2015]. 13 Vgl. dazu auch Galerie Christian Nagel, Pressetext zur Ausstellung „Kader Attia. Ghost“, temporäre Dependance Antwerpen (17.02.–12.03.2011), http://nagel-draxler.de/ exhibitions/ghost [Stand: 17.08.2015].

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Vergleichbar mit Kader Attias Installation Ghost ist ein Zyklus von 12 Farbfotografien des kurdisch-türkischen Künstlers S. ener Özmen. Anders als Attia inszeniert er in seiner Arbeit Supermuslim (Abb. 15 – 26) den eigenen Körper im Zusammenhang mit dem traditionellen islamischen Gebet und rekurriert zugleich auf globale visuelle Bildsprachen. Bekleidet mit dem Kostüm des Comic-Helden Superman performt Özmen frontal vor einem Betrachter/einer Betrachterin die verschiedenen körperlichen Haltungen der Sala ˉt, des täglich fünfmal zu praktizierenden Ritualgebetes des Islams. Das Spiel mit den kulturellen Differenzen und Kodierungen ist mehr als offensichtlich: Während die körperlichen Posen auf traditionelle muslimische Glaubenspraxen verweisen, ist die Kostümierung von einem US-amerikanischen Superhelden mit übernatürlichen Kräften geliehen. Elizabeth Wolfson beschreibt die ironisch artikulierten Dichotomien zwischen „westlichen“ und „islamischen“ Kulturen auf folgende Weise: „The hilarity of this act, of the recasting of an American pop culture icon, the ultimate symbol of heroic, mas-

Abb. 15 – 26: S.ener Özmen, Supermuslim, 2003

culine strength, as a devote Muslim draws attention to just how much distance currently exists between what we understand as ‚American‘ and anything associated with Islam.“14 Sowohl die Sala ˉt als auch Superman besitzen weltweit Wiedererkennungswert. Von Interesse ist zudem, dass die Superman-Figur während des Zweiten Weltkrieges und im Kalten Krieg von ame14 Wolfson, Elizabeth, Turkish and other Delights. S.ener Özmen, in: art21 magazine 6/2011, http://blog.art21.org/2011/06/14/turkish-and-other-delights-sener-ozmen/#. VdHuR3jxhd0 [Stand: 17.08.2015].

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rikanischer Seite für politische Propagandamaßnahmen instrumentalisiert und als Verkörperung ideologischer Überlegenheit gefeiert wurde. Diese Implikationen des Superhelden gewinnen in Bezug auf die globale Situation nach den Anschlägen des 11. September und aktuelle Krisen in der sogenannten islamischen Welt erneut an Bedeutung. In Özmens Fotografien ließe sich in diesem Sinne von einer bipolaren Ironisierung kultureller und religiöser Codes im visuellen Bereich sprechen. Die Paradoxa werden nicht nur nicht aufgelöst und bleiben nebeneinander (be)stehen, sie greifen vielmehr ineinander. Die Reihung der einzelnen Fotografien deutet auf eine Leserichtung der Bilder in einer zeitlichen Abfolge hin: Özmen nimmt das lange rote Cape von seinen Schultern, breitet dieses vor sich am Boden aus und vollzieht darauf die charakteristischen Gebetshaltungen. Aufgrund der provokativen Mixtur von muslimischen Glaubenspraxen und Superman-Kostüm strotzen die Fotografien vor beißender Ironie und sind zugleich als humorvoller Kommentar eines Individuums im Spannungsfeld zwischen religiösen Glaubensvorschriften und Maskerade, fiktiven Charakteren und dem Übernatürlichen zu betrachten. Das Motiv des Superhelden wird in muslimischen Kontexten oder im Bereich der Migration auch von iranischen Künstlern aufgegriffen. Die Serie The Adventures of Super Sohrab von Sohrab Kashani umfasst performative Interventionen in den Medien Fotografie, Video und Comic, bei denen er sich als Hauptprotagonist in Szene setzt. Sein vom Comic-Helden Superman inspiriertes Kostüm besteht aus einem weißen Overall, schwarzen Überhosen sowie aus Cape, Gürtel und Stiefeln in Grün. Auf der Brust ist eine kreisrunde Insignie mit den persischen Initialen „SS“ als Abkürzung für Super Sohrab angebracht (Abb. 27). Im Video geht der Protagonist eher unspektakulären alltäglichen Aktivitäten nach: Er trainiert mit Hanteln, kocht Spaghetti, sitzt vor seinem Facebook-Account am Computer, wäscht Geschirr ab, kümmert sich um die Wäsche, liest und schläft. In der ausgewählten Fotografie posiert Super Sohrab in Frontalansicht vor dem Azadi-Denkmal (Freiheitsturm)15 am gleichnamigen Platz im 15 Das Denkmal wurde als „Shahyad-Turm“ zum 2500 - jährigen Jubiläum der iranischen Monarchie von 1969 bis 1971 errichtet und nach der Islamischen Revolution in Freiheitsturm umbenannt.

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Abb. 27: Sohrab Kashani, Super Sohrab, 2011, Serie The Adventures of Super Sohrab

Teheraner Stadtteil Tarascht. Dieser Ort war ein prominenter Schauplatz für politisch motiviertes Aufbegehren und Proteste der Vergangenheit wie etwa während der Islamischen Revolution 1979 und bei den Demonstrationen nach den Präsidentschaftswahlen 2009. Kashanis Gesicht vermittelt einen entschlossenen, motivierten Eindruck, der durch die Armhaltung mit den geballten Fäusten unterstrichen wird. Jedoch wirkt seine heroische Performance im öffentlichen Raum nicht gänzlich ernst gemeint. Die ursprüngliche Idee des Superhelden mit paranormalen und übermenschlichen Fähigkeiten wird hier als parodische Imitation vorgeführt: Der Künstler mit seiner schmächtig-zarten Statur, der auffälligen Kostümierung und der Brille vermittelt ein anderes Bild als jenes vom unbezwingbaren Heroen und Kämpfer. Durch die körperliche Inszenierung als ‚gescheiterter Held‘ in einer „iranisierten“ Version Supermans vor dem geschichtsträchtigen Freiheitsdenkmal wird von Kashani zugleich auch die darin symbolisierte Freiheit kritisch reflektiert. In der iranischen Diaspora nimmt auch Shahram Entekhabi, der in Berlin lebt und arbeitet, die Thematik des Superhelden auf. Bei der Arbeit Islamic Star handelt es sich um eine Videoperformance sowie um eine Fotografie, wobei letztere Teil des zwischen 2005 und 2010 entstandenen Zyklus’ My Super Heroes ist. Dieser fungiert als Werkzusammenstellung von Entekhabis performativen Rollenspielen und illustriert sein chamäleonartiges Wechseln zwischen stereotypen Bildern von ‚Repräsentanten‘ gesellschaftlicher Randgruppen aus migrantischen Milieus. Das Foto (Abb. 28) zeigt eine männliche Person mit schwarzem Vollbart, grauer

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Bundfaltenhose, weitem weißen Hemd, Kopfbedeckung und einer Gebetskette in Händen. Im Brustbereich ist ein grüner Stern mit dem eingestickten Buchstaben „M“ für „Muslim“ angeheftet, der sowohl auf die Farbe des Islams als auch auf das Identifizierungsmerkmal „Judenstern“ zur Zeit des Nationalsozialismus anspielt. Demnach ist der orthodoxe Muslim, der von Entekhabi verkörpert wird, als Außenseiter stigmatisiert. Der Eindruck der Isoliertheit vom gesellschaftlichen Umfeld wird durch die Positionierung in einem nicht näher definierten grauen Innenraum noch verstärkt. Dieses Setting fungiert gewissermaßen als nüchterne

Abb. 28: Shahram Entekhabi, Islamic Star, 2005 – 2010

Kulisse für die ikonische Zurschaustellung von ethnisch-kultureller und religiöser Alterität. Ebenso wie Özmen und Kashani rekurriert Entekhabi als Islamic Star hier ironisierend auf den Mythos des Superhelden. Ein gemeinsamer Faktor der vorgestellten Werke ist die körperliche Performance in der Auseinandersetzung mit religiös konnotierten Symbolen, visuellen Codes und Glaubenspraxen in muslimischen Kulturkreisen. In der Folge ist es von Interesse, diese Aspekte mit Theorien der Performativität und der Mimikry zu verknüpfen.

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Performativität und Mimikry

Konzepte der Performativität sind sowohl für Ansätze der Gender Studies und Postcolonial Studies als auch der Kunstwissenschaft zentral. Hinsichtlich der künstlerischen Arbeiten stellt sich die Frage, wie sich performative Praktiken in visuellen Repräsentationen manifestieren. Performativität bezieht sich hier auf die von Kunstschaffenden eingesetzten Strategien, mit denen Geschlechtsidentitäten und deren Implikationen in den soziopolitischen Kontexten ihrer Herkunftsländer oder transmigrantischen Lebenssituationen artikuliert werden. Da Identität ihren Ausdruck im menschlichen Körper findet, wird dieser in den vorgestellten Werken als Medium verstanden, durch das Identität performativ produziert wird. Die Ursprünge des „performative turn“ in den Kulturwissenschaften, der die Aufmerksamkeit auf Ausdrucksdimensionen von Handlungen bis hin zur sozialen Inszenierungskultur lenkt, liegen in den 1960er und 1970er Jahren. Der Begriff „performativ“ birgt mehrfache Bedeutungen: das ernsthafte Aufführen von Sprechakten, das materiale Verkörpern von Botschaften im Akt des Schreibens oder die Konstitution von Imaginationen im Akt des Lesens, das inszenierende Aufführen von theatralen und/oder rituellen Handlungen sowie körperliche Inszenierungen im künstlerischen Feld der Performance bis hin zu Performativität oder performativ angelegten Strategien in einem Kunstwerk selbst. Hinsichtlich der künstlerischen Positionen ist eine Verbindung von Judith Butlers Konzept der Geschlechterperformativität mit Homi K. Bhabhas Konzeption der Mimikry fruchtbar. In Gender Trouble (1990) charakterisiert Judith Butler Geschlechtsidentität als Effekt wiederholter performativer Akte und Prozesse diskursiver Produktionen. Diese etablieren die illusionäre Kategorie eines statischen, konventionellen und wahren Geschlechts sowie die damit verknüpfte binäre Matrix der Heterosexualität.16 Die Konstitution der Kategorien Geschlecht und Identität erfolgt durch deren Wiederholung mit und in diskursiven Praktiken.17 Der performative Akt der Verkörperlichung stellt eine Bedin-

16 Vgl. Butler, Judith, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity [1990] (Routledge Classics), New York/London 22007. 17 Vgl. ebd., 34.

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gung für die Konstitution von Geschlechtsidentität dar.18 In Bodies That Matter (1993) unterscheidet Butler zwischen den Begriffen Performativität und Performanz. Performanz wird als eine bewusst inszenierte Aufführung verstanden und setzt die Existenz eines handelnden Subjekts voraus. Nach Butlers Performativitätskonzept wird das agierende Subjekt erst durch den oder im Vollzug von Sprechhandlungen hergestellt. Der Erfolg dieser Akte hängt von deren Zitathaftigkeit, Wiederholbarkeit und Erkennbarkeit innerhalb eines Systems sozialer Normen und Konventionen ab.19 Performativität ist die permanente, ritualisierende Wiederholung sozial forcierter Konventionen innerhalb der Norm der Heterosexualität. Zugleich weisen diese jedoch auch Subversionen und parodische Züge auf, die Butler für die Dekonstruktion von normativen Kategorien wie Körper, Geschlecht und Sexualität vorschlägt. Das subversive Potenzial liegt in den Abweichungen, die in die Akte der Iteration von Geschlecht stets miteingebaut sind. In Gender Trouble beschreibt sie diese wie folgt: „the parodic repetition of ‚the original‘ […] reveals the original to be nothing other than a parody of the idea of the natural and the original.“20 Parodie ist eine Strategie der subversiven Wiederholung, die Geschlechterkategorien denaturalisieren und resignifizieren kann. Als Beispiel für Parodie und Travestie nennt Butler die drag performance als strategische Mimesis, die sie als streitbare Praxis politischer Agitation beschreibt. Hier vollzieht sich durch Crossdressing, Make-up, Gestik und Mimik ein geschlechtlicher Rollenwechsel. Durch diese Imitation wird die artifizielle und konstruierte Textur von Geschlecht in ihrer Kontingenz sichtbar und somit auch dessen scheinbare Authentizität und Originalität entlarvt.21 Imitation und Parodie von Geschlecht lassen sich mit einem zentralen Konzept der postkolonialen Theorie verknüpfen: Mimikry wurde von Homi K. Bhabha in der Aufsatzsammlung The Location of Culture (1994) im Zusammenhang mit seiner post18 Vgl. Butler, Judith, Performative Acts and Gender Constitution. An Essay in Phenomenology and Feminist Theory [1988], in: Conboy, Katie/Medina, Nadia/Stanbury, Sarah (Ed.), Writing on the Body. Female Embodiment and Feminist Theory, New York 1997, 401– 417, hier 402. 19 Vgl. Butler, Judith, Bodies That Matter. On the Discursive Limits of „Sex“, London/New York 1993, 234. 20 Butler, Gender Trouble, 43. 21 Vgl. ebd., 187.

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kolonialen Kulturtheorie entwickelt.22 Hier analysiert er das Verhältnis zwischen den Kolonisierenden und den Kolonisierten, die Unterschiede innerhalb kultureller Identitäten und prägt Begriffe wie Hybridity, Third Space und Mimikry. Letztere ist die Nachahmung und die Spiegelung des Anderen und beschreibt, wie kolonisierte Subjekte bewusst oder unbewusst Symbole und Zeichen der kolonisierenden Macht übernehmen und diese in ihr eigenes Zeichenrepertoire integrieren. Mimikry gilt als ambivalenter Vorgang der Kopie, Wiederholung und Nachahmung, der stets Abweichungen vom Original beinhaltet.23 Auch Migrantinnen und Migranten unterschiedlicher Generationen passen sich in unserer heutigen postkolonialen Welt nur scheinbar den Kulturen majoritärer Gesellschaften an. Das Potenzial der Mimikry liegt nicht in der Etablierung einer Identität, sondern in der performativen Zurschaustellung der Ambivalenz kultureller Differenzen sowie in der Unterwanderung der kolonialen Autorität.24 Durch die Mimikry entsteht ein „Dritter Raum“, eine Zone der kulturellen Überlappung und Hybridisierung, wo alternative Aushandlungen von Identität, Bedeutung und Repräsentation möglich sind. Hybridität bezeichnet den Kontakt zwischen Kulturen als endlose und wechselseitige Durchdringungen, die in einem Zwischenraum, dem „Dritten Raum“, verortet werden.25 Durch die Mimikry als ambivalenter Vorgang der Kopie können Handlungsspielräume für Widerstandsstrategien entstehen, in denen kulturelle Hybridisierung möglich ist: „The process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecognisable, a new arena of negotiation of meaning and representation.“26 Das Widerstandspotenzial der Mimikry lässt sich auch auf künstlerische Praxen beziehen: „Die Potenziale postkolonialer Literatur und Kunst liegen also in der Möglichkeit der Formulierung verschiebender, störender, transnationaler,

22 Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London/New York 1994. 23 Vgl. Moser, Anita, Die Kunst der Grenzüberschreitung. Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik (Image 17), Bielefeld 2011, 44. 24 Vgl. Bonz, Jochen/Struve, Karen, Homi K. Bhabha. Auf der Innenseite kultureller Differenz: „in the middle of differences“, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, 140 –153, hier 149 –150. 25 Vgl. Moser, Kunst der Grenzüberschreitung, 43. 26 Rutherford, Jonathan, Interview with Homi Bhabha. The Third Space, in: Rutherford, Jonathan (Ed.), Identity. Community, Culture, Difference, London 1990, 207– 221, hier 211.

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translationaler und, nicht zuletzt, neuer Weltartikulationen.“27 In engem Konnex zu performativen Konzepten steht auch der Begriff Agency/Handlungsmacht. Innerhalb der postkolonialen Theorie bezieht sich Agency auf Handlungsfähigkeiten postkolonialer Subjekte in Bezug auf die imperiale Macht, die sich sowohl in Form von Kritik als auch Resistenz äußern können.28 Abschließend stellt sich die Frage, wie in den künstlerischen Positionen das Konzept der Mimikry performativ inszeniert wird und ob Transformationsprozesse von Identität(en) ablesbar sind. Performing Mimikry und die Transformation von Identität(en)

In den künstlerischen Positionen lassen sich Performativität und Mimikry als subversive Strategien betrachten. In allen Arbeiten fungiert der Körper als medialer Austragungsort und Einschreibungsfläche von Selbst- und Fremdbild sowie konventionellen Rollenbildern im Kontext von soziokulturellen, religiösen und staatlichen Repräsentationspolitiken. Identitäten werden hier performativ durch körperliche Inszenierungen hergestellt. Zugleich konstituieren und konkretisieren performative Strategien Handlungsabläufe, die in Form von (Körper-)Bildern als Äußerungen oder Aussagen von Künstler/inne/n ‚verkörpert‘ sind. Der Einsatz der Mimikry als bewusster Akt der Nachahmung von kulturell-religiösen Codes, Symbolen und Praxen kann als Handlungsmacht gedeutet werden, die Transformationsprozesse von Identitäten einleitet. Stereotype Vorstellungen einer „ethnisch-muslimischen Identität“ basieren auf dem kolonialen Gedankengut einer grundlegenden kulturellen Rückständigkeit im Vergleich zu westlichen Gesellschaften. Alteritätsdiskurse beschreiben die bipolare und machtgeleitete Konstruktion der/des „muslimischen Anderen“ als Gegenpol zur überlegenen „westlichen Identität“. Diese Diskurse sind bis heute charakteristisch für neokoloniale Ideologien. In den künstlerischen Arbeiten wird durch den Einsatz von widerständigen visuellen Strategien mit dichotomen Vorstellungen wie diesen gebrochen.

27 Bonz/Struve, Homi K. Bhabha, 146. 28 Vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin, Post-Colonial Studies, 6 –7 (Lemma Agency).

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Zentrales Motiv der Videoarbeiten Gravity von Nezaket Ekici und Soyunma/Undressing von Nilbar Güres. ist das islamische Kopftuch in migrativen Kontexten, das von den Künstlerinnen am eigenen Körper eingesetzt wird. Während Ekici die unterschiedlichen Anlegeweisen und Bindetechniken bei insgesamt 25 Schleiern vorführt (Abb. 1– 2), vollzieht Güres. quasi das Gegenteil, indem sie diese schrittweise abnimmt (Abb. 3 – 6). Esin Turan inszeniert in ihrer Fotografie ein schwarzes Stoffstück mit zwei darunter befindlichen Körpern im öffentlichen Raum und spielt mit der Betitelung der konkreten Fotografie Undercover wie der Serie This is not a Burka auf unsere Wahrnehmungsmuster an (Abb. 7). Die Mimikry, die in den Arbeiten körperlich-performativ hergestellt wird, besteht aus der Nachahmung und Wiederholung der religiös fundierten Norm der Verschleierung, die für gläubige Muslimas obligatorisch ist. Da die Handlungsmacht bei den Protagonistinnen liegt, erfolgt der Umgang mit dem Schleier in den Videos selbstbestimmt. Zugleich wird auf die Vielfalt und Komplexität des religiös aufgeladenen Stoffstückes hingewiesen und das ästhetische Moment des Tragens betont. Bei Turan ist der Akt der Verschleierung teilweise vollzogen, die unter einem schwarzen Stoff hervorragenden nackten Beine rufen Irritationen hervor. Bei den in diesen Vorgang der künstlerischen Mimikry miteingeplanten Störfaktoren handelt es sich um Handlungsmacht, Selbstbestimmtheit bis hin zur Überzeichnung und Ironisierung. Auch in den Videos Self Portrait von Simin Keramati (Abb. 8 –10) und Le Sort/The Fate von Mouna Jemal Siala (Abb. 11–13) sind Anspielungen auf die Verschleierung erkennbar. Motivisch wird hier jedoch nicht das Kopftuch, sondern die schwarze Farbe in Szene gesetzt, die sich in Form von Übermalungen und Überzeichnungen über die Gesichter der Künstlerinnen legt. Während das Antlitz Keramatis gänzlich ausgelöscht und in den letzten Sequenzen mit der handschriftlichen Notiz „faceless“ überschrieben wird, bleiben Sialas Gesichtszüge trotz der dunklen Liniennetzwerke und Übermalungen erkennbar: Die Künstlerin erscheint am Ende – nach einem Prozess der Verdeckung und Bedeckung – wieder ‚entdeckt‘, ‚unverschleiert‘ und ohne Übermalungen. Dieser strategische Einsatz der Mimikry lässt sich einerseits auf die Nachahmung der Gesichtsverschleierung beziehen, etwa auf

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den im Iran üblichen Tschador oder auf den u.a. in nordafrikanischen Staaten und auf der arabischen Halbinsel verbreiteten Niqab. Ein weiteres Moment der Mimikry ist hier andererseits die Verwendung der schwarzen Farbe, die als Metapher für staatliche Zensurmaßnahmen gedeutet werden kann – und darin auch imitiert wird. Die Zensur äußert sich beispielsweise in der Schwärzung unerwünschter Inhalte in Büchern und Zeitschriften oder in der Verhüllung weiblicher Körperpartien und des Haares im öffentlichen Raum. In der Imitation von Zensur und Verschleierung sind jedoch wiederum Abweichungen vom „Original“ in Form von visuellen oder tonalen Elementen feststellbar: In beiden Arbeiten können die körperliche Präsenz sowie der fixierende Blick der Künstlerinnen als Handlungspotenzial gewertet werden. Neben ihrem Atem setzt Keramati zudem ihre eigene Handschrift ein, die sich als konkreter und ganz individueller Akt – die Handschrift als Ausweis des Individuums – in die Videobilder einschreibt. Bei Siala spielen neben der musikalischen Untermalung die subtilen Positionsveränderungen im Zuge der Ver- und Enthüllung eine Rolle. Allen Künstlerinnen gemein ist der konsequente Bruch mit dem stereotypen Bild der verschleierten, unterdrückten und scheinbar zum Schweigen verurteilten Frau. Durch den performativen Einsatz der Mimikry wird eine Neucodierung und eine Transformation der tradierten, weiblichen „muslimischen Identität“ eingeleitet. Im Mittelpunkt von Kader Attias Installation Ghost (Abb. 14) und

S. ener

Özmens

fotografischem

Zyklus

Supermuslim

(Abb. 15 – 26) steht die traditionelle islamische Gebetspraxis. Attia zeigt ein uniformes Kollektiv betender Frauen mit ausgehöhlten, leeren Körpern aus fragilen Materialien. Özmen, der als Superman bekleidet/verkleidet ist, inszeniert sich in den charakteristischen Gebetshaltungen. Die Mimikry äußert sich hier in der Nachahmung sowie der künstlerischen Neuinszenierung des rituellen islamischen Gebetes. Eingebaut sind markante Abweichungen: Attia zeigt uns hohle, substanzlose und scheinbar ihrer Identität beraubte Körperhüllen aus Alufolie, die quasi in ihrer Nicht-Existenz Gott huldigen. Entgegen der zunächst augenscheinlichen kollektiven Uniformiertheit nehmen sie unterschiedliche Haltungen ein und sind demnach als individuelle Gestalten – die sich mit je eigenen Posen auch kör-

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perlich gegen die Kollektivierung sperren – konzipiert. In Form einer Kostümierung des eigenen Körpers transferiert Özmen die Ikone des US-amerikanischen Superhelden in den Kontext des traditionellen muslimischen Gebetsablaufes. Diese Maskerade fungiert insofern als ‚Störfaktor‘, als sie binäre Oppositionspaare wie „Okzident“ und „Orient“, „Fortschritt“ und „Rückständigkeit“ etc. visualisiert und zugleich subversiv unterläuft. Die parodische Zusammenführung von scheinbar unauflösbaren kulturellen Gegensätzen in den Bildern ist humorvoll und zugleich sarkastisch. Der spielerische Umgang mit visuellen Stereotypen und deren Neukontextualisierung zeichnet auch die Arbeiten von Sohrab Kashani und Shahram Entekhabi aus. In einer Fotografie der mehrteiligen Serie The Adventures of Super Sohrab (Abb. 27) posiert Kashani entschlossen in einer abgewandelten Form des Superman-Kostüms vor dem AzadiTurm in Teheran. Entekhabi reinszeniert im fotografischen Zyklus My Super Heroes diverse Prototypen ethnischer Alterität aus migrantischen Milieus und inszeniert sich in Islamic Star (Abb. 28) als orthodoxer Muslim. In beiden Arbeiten wird der iranisch-islamische Superheld von den Künstlern selbst verkörpert und performativ in Szene gesetzt. In Kashanis Foto vollzieht sich die Mimikry in der Nachahmung des Kostüms des Superhelden. Die markante Abweichung vom „Original“ äußert sich in der „iranisierten“ Version der Maskerade und der Bezeichnung „SS“ (Super Sohrab) am Logo im Brustbereich. Super Sohrab scheint jedoch keine übernatürlichen Kräfte wie Superman zu besitzen und seine Abenteuer beschränken sich auf unspektakuläre alltägliche Aktivitäten. Diesen Eindruck vermittelt auch die Fotografie, in der zwischen dem ‚gescheiterten Helden‘ und der mächtigen Architektur des Freiheitsturmes (als vielfach aufgeladenes Symbol) polarisiert wird. Bei Entekhabi lässt sich von einer doppelten Mimikry sprechen, die an ein „strategisches Othering“ gekoppelt ist. Mit Othering werden jene Prozesse beschrieben, durch die im kolonialen Diskurs die Identität der „Anderen“ in Abgrenzung zur eigenen produziert wird.29 Indem der Künstler stereotype Bilder eines orthodoxen 29 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty, The Rani of Sirmur. An Essay in Reading the Archives, in: Barker, Francis et al. (Ed.), Europe and Its Others. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature, July 1984, Vol. 1, Colchester 1985, 128 –151.

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Muslims nachstellt, visualisiert er ethnische Alterität im Kontrast zur „europäischen Identität“ in Deutschland. Er wiederholt und imitiert Fremd- und Feindbilder des muslimischen Migranten. Diese Nachahmung ist eine doppelte, da er auch ohne Maskerade bereits ein iranischer Migrant in Deutschland ist. Körperliche Zeichen der Alterität erfahren also eine Doppelung, die sich als Störfaktor und Abweichung entpuppt: Die Figur, die Entekhabi als Islamic Star tituliert, ist stark überzeichnet. Bei den körperlichen Repräsentationen in den vorgestellten Werken handelt es sich um die Person des Künstlers/der Künstlerin selbst (Ekici, Güres. , Keramati, Siala, Özmen, Kashani und Entekhabi), um engagierte Protagonistinnen (Turan) oder um hergestellte Substitute (Attia). Die leibliche Performanz im Sinne einer Aufführung oder eines Handlungsvollzugs durch ein Subjekt ist in den Videoarbeiten Gravity, Soyunma/Undressing, Self Portrait, Le Sort/The Fate und im Fotozyklus Supermuslim konkret nachvollziehbar, manifestiert sich jedoch auch in den anderen Arbeiten. Geht man davon aus, dass jedes Kunstwerk zu einem Rezipienten/einer Rezipientin spricht und dass diese Aussage in einer handlungspraktischen Dimension durch den Einsatz visueller Gestaltungsmittel vollzogen oder konkretisiert wird, ist die Performativität ein weiteres Charakteristikum der künstlerischen Positionen. Performative Strategien basieren auf der Wiederholbarkeit und Zitathaftigkeit von bildlichen Codes in einem System kultureller Normen und Konventionen. Der Vorgang der Mimikry macht sich diese Iterabilität zunutze: Bestimmte Zeichen, Symbole und konstruierte Fremdbilder der Mehrheitskultur oder der staatlichreligiösen Autorität werden nur scheinbar durch Kopie oder Wiederholung übernommen, da in diese Vorgänge der Nachahmung stets bewusst Abweichungen und Störfaktoren miteingebaut werden. Islamisch kodierte Objekte und Praxen wie Kopftuch/ Schleier, orthodoxe männliche Bekleidung oder traditionelle Gebetshaltungen werden imitiert, reinszeniert, mit spezifischen Elementen wie etwa der schwarzen Farbe oder dem SupermanKostüm kombiniert, in andere Kontexte transferiert und mit neuen Bedeutungen aufgeladen. Die ambivalenten Re-Präsentationen der/des ethnisch „Anderen“ brechen mit stereotypen Fremdbildern und evozieren Irritationen. Das An- und Ablegen des Kopf-

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tuches wird vervielfacht, Körper verschwinden unter einem am Pflaster ausgebreiteten schwarzen Stoff (der so unmittelbar als Burka wahrgenommen oder mit Verschleierung assoziiert wird), Gesichter werden durch schwarze Farben überzeichnet und wieder freigelegt und ein Kollektiv betender Schleierträgerinnen ist ‚substanzlos‘ aus Alufolie gestaltet. Islamische Gebetspraxen werden von Superman vollzogen, eine „iranisierte“ Version desselben posiert paradoxerweise vor dem Teheraner Freiheitsturm und ein orthodox bekleideter Muslim repräsentiert Stereotype des Fremden. Allen Figuren gemein ist Handlungsmacht/Agency, die es möglich macht, durch selbstbestimmte Aktionen religiös bedingte Vorschriften und kulturelle Grenzen auszuloten und zu überschreiten. Die Identitäten der Muslima/des Muslims sind multipel, prozessual und variabel strukturiert. Performative Strategien wie die Mimikry machen die Ambivalenzen kultureller Repräsentationsmuster und Identitätspolitiken deutlich und unterlaufen ironisch-subversiv die Autorität herrschender Systeme. Die Konzeption des „Dritten Raumes“ als Zone der Handlungsmöglichkeit, der Aushandlung von Differenzen und des Aufzeigens von Ambiguitäten kann auf die Sphäre künstlerischer Praktiken in transmigrantischen Kontexten übertragen werden. Dieser Zwischenraum markiert zugleich die Möglichkeit für Hybridität und die damit verknüpfte Neukonstruktion von Identität(en). Die Grenzen von Selbst- und Fremdbild sowie Identität und Alterität verschwimmen, simplifizierende Zuschreibungen und Rollenzuweisungen werden als solche entlarvt und aufgebrochen. Ethnische Alterität und visuelle Stereotypen werden dekonstruiert und in ihrer Konstruiertheit entlarvt. Performativität und Mimikry sind kritische Re-Lektüren von machtgeleiteten Bedeutungs- und Identitätsproduktionen, die auf Exklusion der „Anderen“ zielen – diese Exklusion kann erfolgen durch Unsichtbar-Machen, aber oft genug auch umgekehrt durch ein ganz bestimmtes Sichtbar-Machen, durch dezidierte visuelle Stigmatisierung. Diese „Anderen“ erlangen in den künstlerischen Arbeiten eine neue und andere Sichtbarkeit. Die körperliche Performanz der Mimikry eröffnet einen hybriden „Dritten Raum“ oder „alternativen Kunstraum“ für Handlung und Widerstand. Exakt hier ist der Ort, an dem Transformationsprozesse von Identitäten stattfinden.

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418 Literatur Allerstorfer, Julia, Transmigration, „Traveling Cultures“ und kulturelle Hybridisierung: Künstlerische Praxen „in-between“, in: Sauer, Hanjo/Allerstorfer, Julia (Hg.), Migration. Eine transkulturelle Annäherung, Frankfurt a. M. u. a. 2017 (in Vorbereitung) Altman, Anna, Never Quite filling the Void: Kader Attia, in: Art in America 9/2009, http://www.artinamericamagazine.com/news-features/previews/kader-attia [Stand: 17.08.2015] Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen, Post-Colonial Studies. The Key Concepts, London/New York 22007 Association for Iranian Studies (AIS), Transliteration Scheme, http://associationforiranianstudies.org/journal/transliteration [Stand: 29.08.2016] Babka, Anna, Alterität (Dekonstruktion), produktive differenzen. forum für differenz- und genderforschung. Glossar, http://differenzen.univie.ac.at/glossar.php?sp=7 [Stand: 20.08.2015] Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London/New York 1994 Bonz, Jochen/Struve, Karen, Homi K. Bhabha. Auf der Innenseite kultureller Differenz: „in the middle of differences“, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2006, 140 –153 Butler, Judith, Performative Acts and Gender Constitution. An Essay in Phenomenology and Feminist Theory [1988], in: Conboy, Katie/Medina, Nadia/Stanbury, Sarah (Ed.), Writing on the Body. Female Embodiment and Feminist Theory, New York 1997, 401– 417 Butler, Judith, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity [1990] (Routledge Classics), New York/London 22007 Butler, Judith, Bodies That Matter. On the Discursive Limits of „Sex“, London/New York 1993 ˘ lu, Övül Ö., Zu den unbekannten Feldern der Imagination: Nilbar Güres., in: Durmus.og Nafas Kunstmagazin, Mai 2011, http://u-in-u.com/de/nafas/articles/2011/nilbargures [Stand: 20.10.2016] Galerie Christian Nagel, Pressetext zur Ausstellung „Kader Attia. Ghost“, temporäre Dependance Antwerpen (17.02.–12.03.2011), http://nagel-draxler.de/exhibitions/ghost [Stand: 17.08.2015] Nilbar Güres.. Undressing (EIKON SchAUfenster, Electric Avenue / quartier21, MuseumsQuartier Wien, 15.09.–12.11.2011), http://www.mqw.at/de/programm//programmdetail/nilbar-gueres-undressing [Stand: 20.07.2015] Heinz-Hoek, Marikke, Nezaket Ekici. GRAVITY (Städtische Galerie Bremen, Videokunstreihe im Foyer: screen spirit_continued #14, 20.11.2011– 08.01.2012), http://www. staedtischegalerie-bremen.de/archiv/archiv-2011/nezaket-ekici-gravity.html [Stand: 20.08.2015] International Journal of Middle East Studies (IJMES), Translation & Transliteration Guide, http://ijmes.chass.ncsu.edu/IJMES_Translation_and_Transliteration_Guide.htm [Stand: 29.08.2016] Istanbul Modern, A Selection from the Collection: Nilbar Güres. (1977). Undressing (2006), http://www.istanbulmodern.org/en/collection/photography-collection/5?t=3&id=1204 [Stand: 20.07.2015] Meisel, Karin, Breaking Through Cultural and Political Boundaries. Karin Meisel in Conversation with Artist Esin Turan, in: Simma, Maria/Stadler, Andreas (Ed.), The Seen and the Hidden: [Dis]Covering the Veil (Exhib. cat, Austrian Cultural Forum New York, 22.05.–29.08.2009), New York 2009, online abrufbar unter http://www.acfny.org/ fileadmin/useruploads/fdfx_image/Press_Texts/Online-Catalogues/TheSeeanAndTheHidden_catalog_final.pdf [Stand: 14.09.2015] Moser, Anita, Die Kunst der Grenzüberschreitung. Postkoloniale Kritik im Spannungsfeld von Ästhetik und Politik (Image 17), Bielefeld 2011 Rutherford, Jonathan, Interview with Homi Bhabha. The Third Space, in: Rutherford, Jonathan (Ed.), Identity. Community, Culture, Difference, London 1990, 207– 221

Performing Mimikry | Julia Allerstorfer Mouna Jemal Siala, in: Institut für Auslandsbeziehungen e.V. (Hg.), connect: Rosige Zukunft. Aktuelle Kunst aus Tunesien (AK, ifa-Galerie Berlin, 12.10.–21.12.2012, ifaGalerie Stuttgart, 25.01.–16.03.2013), Bielefeld/Berlin 2012, 84 – 89 Spivak, Gayatri Chakravorty, The Rani of Sirmur. An Essay in Reading the Archives, in: Barker, Francis et al. (Ed.), Europe and Its Others. Proceedings of the Essex Conference on the Sociology of Literature, July 1984, Vol. 1, Colchester 1985, 128 –151 Wolfson, Elizabeth, Turkish and other Delights. S.ener Özmen, in: art21 magazine 6/2011, http://blog.art21.org/2011/06/14/turkish-and-other-delights-sener-ozmen/#. VdHuR3jxhd0 [Stand: 17.08.2015]

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Anhang

Abbildungsverzeichnis Beitrag Monika Leisch-Kiesl 53: Abb. 1: Ai Weiwei, Bang, 2010 – 2013, 886 Holzhocker aus der QingDynastie (1644 –1911), 670 x 1200 x 1100 cm, Ausstellungsansicht: Biennale von Venedig, Französischer Pavillon, 2013, Courtesy of the artist and neugerriemschneider, Berlin Beitrag Andrei Pop 125: Abb. 1: Pieter Bruegel der Ältere, Bekehrung Pauli, 1567, Eichenholz, 108 x 156 cm, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, © KHM-Museumsverband 136: Abb. 2: Lucas van Leyden, Die Bekehrung Pauli, 1509, Radierung, 1. Version, 268 x 398 mm, British Museum, © Trustees of the British Museum 139: Abb. 3: Pieter Bruegel der Ältere, Bekehrung Pauli, 1567, Eichenholz, 108 x 156 cm, Detail, Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, Foto: Andrei Pop 145: Abb. 4: Christian Philipp Lindemann nach Heinrich Christoph Fehling, Radierung, Frontispiz zu Dionysius Longin, Vom Erhabenen, Griechisch und Teutsch, Nebst dessen Leben, einer Nachricht von seinen Schrifften, und einer Untersuchung, was Longin durch das Erhabene verstehe, von Carl Heinrich Heineken, Leipzig/Hamburg 1738, © Bayerische Staatsbibliothek Beitrag Wilfried Lipp 149: Abb. 1: Windpark, Foto aus dem Internet, nicht datiert, Archiv Wilfried Lipp Beitrag Christian Spies 215: Abb. 1: Aushang im Treppenhaus eines Mietshauses, Basel 2008, Foto: Christian Spies 219: Abb. 2: Ludwig Wittgenstein, Fechter, Tagebucheintrag vom 29.09.1914, entnommen aus: Wittgenstein, Ludwig, Notebooks 1914 –1916, ed. by Georg Henrick von Wright and Gertrude Elizabeth Margaret Anscombe, rev. 2nd Ed., Oxford 1979, 7 220: Abb. 3: Ludwig Wittgenstein, Big Typoscript, Blatt 110r, entnommen aus: Wittgenstein, Ludwig, Big Typoscript [Ts-213], online abrufbar im Rahmen der Bergen Nachlass Edition (BNE), Wittgenstein

422 Archives, University of Bergen (WAB) unter http://www.wittgensteinsource.org [Stand: 29.02.2016] 222: Abb. 4: René Magritte, La Trahison des Images (Ceci n’est pas une pipe), 1929, Öl/Leinwand, 60 x 81 cm, Los Angeles Country Museum of Art, erworben aus dem Fond der Mr and Mrs William Preston Harrison Collection, © Bildrecht, Wien, 2016 225: Abb. 5: Marcel Broodthaers, Ceci n’est pas un Magritte, 1967, Tinte/Papier, 21,5 x 32 cm, Foto: courtesy Brachot Gallery, Brussels, © The Estate of Marcel Broodthaers / Bildrecht, Wien, 2016 226: Abb. 6: Robert Rauschenberg, White Painting [eine Tafel], 1951, Öl/Leinwand, 121,9 x 121,9 cm, © Untitled Press inc. / Bildrecht, Wien, 2016 229: Abb. 7: Leergeräumte Hauptsäle der Gemäldegalerie Dresden, 1939, entnommen aus: Gemäldegalerie Dresden. Die Sammlung Alte Meister. Der Bau Gottfried Sempers, hg. v. Harald Marx und Heinrich Magirius, Leipzig 1992, 23 231: Abb. 8: Paul Nougé, Les Spectateurs (La Naissance de l’Objet), 1930, aus der Serie Subversion des Images, 1929 –1930, GelatineSilber-Abzug von Marc Trivier vom Originalnegativ, 20 x 20 cm, Archives et Musée de la Littérature, Bruxelles, © Bildrecht, Wien, 2016 Beitrag Susanne Hofmann 235: Abb. 1: die Baupiloten, Lageplan Studentenwohnen Siegmunds Hof, 2007– 2018, Berlin, © die Baupiloten 247: Abb. 2: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, Planspiel „Spiel’ Deinen Wohntraum – Leb’ Deinen Spieltraum“, © die Baupiloten 248: Abb. 3: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 13 „Haus für urbane Gartenfreunde“, 2009 – 2012, Berlin, Blick auf den Kräutergarten und die Terrasse der Gemeinschaftsküche, Foto: © NOSHE 248: Abb. 4: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, 2007– 2018, Berlin, „Freiluftwohnzimmer“, im Hintergrund die Nordfassade des „Hauses für urbane Gartenfreunde“, Foto: © NOSHE 248: Abb. 5: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 12 „Hochhaus der Teamplayer“, 2014 – 2017, Berlin, Längsschnitt, Maßstab 1:300, © die Baupiloten 249: Abb. 6: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 11 „Haus für Musik- und Fitnessfreunde“, 2013 – 2015, Berlin, Gemeinschaftsküche, Foto: © Jan Bitter 249: Abb. 7: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 10 „Ruhiges Wohnen am Wäldchen“, 2012 – 2014, Berlin, Lauben­ terrassen im Grünen, Foto: © Jan Bitter 250: Abb. 8: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 4 „Pavillons Gartenwohnen“, 2014 – 2015, Berlin, Gemeinschaftsküche mit Blick in den Garten, Foto: © Jan Bitter 250: Abb. 9: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, Haus 7 „Pavillons Gartenwohnen“, 2014 – 2015, Berlin, Gemeinschaftsküche, Foto: © Jan Bitter 251: Abb. 10: die Baupiloten, Studentenwohnen Siegmunds Hof, Häuser 4 –7 „Pavillons Gartenwohnen“, 2014 – 2015, Berlin, Querschnitt, Maßstab 1:200, © die Baupiloten

Anhang

Beitrag Martin Hochleitner 303: Abb. 1: Ausstellungsansicht: „Hans-Christian Schink – 1h“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 11.11.2010 –11.01.2011, im Bild: Fotografien aus dem Projekt 1h, 2003 – 2010, Gelatinesilberabzüge auf Barytpapier, kaschiert und gerahmt, verschiedene Größen, Foto: Ernst Grilnberger, Courtesy: Landesgalerie Linz 304: Abb. 2: Ausstellungsansicht: „Katharina Gruzei – Sander remixed“ im Rahmen des Projektes „One-Night Stand: 21 Abende – 21 Eröffnungen“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 15.09.2009, im Bild: Sander Remixed, 2009, Fotografische Wandinstallation, verschiedene Techniken und Maße, Foto: Ernst Grilnberger, Courtesy: Landesgalerie Linz, © Bildrecht, Wien, 2016 307: Abb. 3: Ausstellungsansicht: „Fiona Tan – Mirror Maker“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 01.06.– 13.08.2006, im Bild: Countenance, 2002, Videoinstallation, Ausschnitt, Foto: Ernst Grilnberger, Courtesy: Landesgalerie Linz 311: Abb. 4: Ausstellungsansicht: „Inge Dick – Lichtzeiten“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 06.03.–18.05.2008, im Bild: Jahreszeitenprojekt, 1989, vierteilig, je 195 x 188 cm mit je 289 Polaroids, Foto: Christian Schepe, Courtesy: Landesgalerie Linz, © Bildrecht, Wien, 2016 316: Abb. 5: Ausstellungsansicht: „Hans-Peter Feldmann“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 19.06.–10.08.2008, im Bild: 100 Jahre, 2001, 101 Fotografien, Ausschnitt, Foto: Ernst Grilnberger, Courtesy: Landesgalerie Linz, © Bildrecht, Wien, 2016 317: Abb. 6: Ausstellungsansicht: „AGES. Porträts vom Älterwerden“, Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen Landesmuseum, 07.11.2013 –16.02.2014, im Bild: Nicholas Nixon, Brown Sisters, 1975 – 2012, Gelatinesilberabzüge, 50,5 x 60,5 cm, Foto: Rainer Iglar, Courtesy Landesgalerie Linz Beitrag Barbara Schrödl 333: Abb. 1: Ausstellungsansicht: Fotowand mit Künstlerporträts, documenta 1955, Foto: Günther Becker, © Günther Becker / © documenta Archiv 335: Abb. 2: Ernst Ludwig Kirchner, Eine Künstlergemeinschaft (Die Maler der Brücke), 1925/26, Öl/Leinwand, 168 x 126 cm, Museum Ludwig, ML 76/2863, Köln, Foto: © Rheinisches Bildarchiv, rba_099777 336: Abb. 3: Atelierfest bei Ernst Ludwig Kirchner/Bauerntanz im Obergeschoss des Hauses „In den Lärchen“ mit Selbstporträt links, 1919/20, Foto: Anonym, entnommen aus: Jenderko-Sichelschmidt, Ingrid/Museum der Stadt Aschaffenburg (Hg.), E. L. Kirchner, Teil: Dokumente. Fotos, Schriften, Briefe, ges. u. ausgew. v. Karlheinz Gabler (AK, Museum der Stadt Aschaffenburg, 19.04.–26.05.1980, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 13.06.–03.08.1980, Museum Folkwang Essen, 17.08.–05.10.1980, Staatliche Kunstsammlungen Kassel, 25.10.1980 – 04.01.1981), Aschaffenburg 1980, 221 337: Abb. 4: Pablo Picasso, undatiert, Ausschnitt, Foto: Willy Maywald, © documenta Archiv 337: Abb. 5: Max Beckmann im Amsterdamer Atelier 1938, Foto: Helga Fietz, © Max Beckmann Archiv 337: Abb. 6: Italienische Futuristen in Paris (Luigi Russolo, Carlo Carrà, Filippo Marinetti, Umberto Boccioni, Gino Severini), 1912, Foto:

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424 Anonym, entnommen aus: documenta. kunst des XX. Jahrhunderts. internationale ausstellung im museum fridericianum in kassel 1955 (AK, Museum Fridericianum, Kassel, 15.07.–18.09.1955), Reprint der Originalausgabe (1955), München 1995, Künstlerbildnis 6 338: Abb. 7: Jurysitzung der Künstlerbund-Ausstellung Köln 1952, Foto: Johanna Schmitz-Fabri, entnommen aus: documenta. kunst des XX. Jahrhunderts. internationale ausstellung im museum fridericianum in kassel 1955 (AK, Museum Fridericianum, Kassel, 15.07.– 18.09.1955), Reprint der Originalausgabe (1955), München 1995, Künstlerbildnis 13 339: Abb. 8: Ausstellungsansicht: Fotowand mit Künstlerporträts, documenta 1955, Foto: Carl Eberth, © Carl Eberth / © documenta Archiv 341: Abb. 9: Le Mystère Picasso, Regie: Henri-Georges Clouzot, Frankreich 1956, S/W, 78 min / Le Mystère Picasso, un film de HenriGeorges Clouzot, © 1956 GAUMONT. Collection Musée Gaumont, © Succession Picasso / Bildrecht, Wien, 2016 342: Abb. 10: Irgendwo in Berlin, Regie und Drehbuch: Gerhard Lamprecht, Deutschland (Ost) 1946, S/W, 85 min, Filmstill, © DEFAStiftung/Kurt Wunsch, © Bildrecht, Wien, 2016 343: Abb. 11: Der Förster vom Silberwald, Regie: Alfons Stummer, Drehbuch: Alfred Solm und Alfons Stummer, Österreich 1954, Farbe, 99 min, Filmstill, © Kineos GmbH 345: Abb. 12: Die Heilige und ihr Narr, Regie: Gustav Ucicky, Drehbuch: Erna Fentsch, Österreich 1957, Farbe, 102 min, Filmstill, © Kineos GmbH 346: Abb. 13: Ferien auf Immenhof, Regie: Hermann Leitner, Drehbuch: Per Schwenzen und Hermann Leitner, Deutschland 1957, Farbe, 93 min, Filmstill, © Kineos GmbH Beitrag Julia Allerstorfer 395: Abb. 1– 2: Nezaket Ekici, Gravity, 2007, Videoperformance, DV/mov 4:3, 21:10 min, Farbe, Ton, Kamera/Schnitt: Branka Pavlovic, Videostills, Courtesy: Nezaket Ekici 398: Abb. 3 – 6: Nilbar Güres., Soyunma/Undressing, 2006, HD-Ein-KanalVideo, 06:19 min, Farbe, Ton, Edition 5, Videostills, Courtesy: Nilbar Güres., Galerie Martin Janda Wien, Rampa Istanbul 400: Abb. 7: Esin Turan, Undercover, 2015, Farbfotografie, aus der Serie This is not a Burka, variable Größe, Courtesy: Esin Turan 401: Abb. 8 –10: Simin Keramati, Self Portrait, 2007– 2008, Video, 07:19 min, 6 Editionen, Videostills, Courtesy: Simin Keramati 402: Abb. 11–13: Mouna Jemal Siala, Le Sort/The Fate, 2012, Video, 03:30 min, Videostills, Courtesy: Mouna Jemal Siala 404: Abb. 14: Kader Attia, Ghost, 2007, Installation, Ausstellungsansicht: „Kader Attia – Ghost“, Dependance der Galerie Christian Nagel, Antwerpen, 17.02.–12.03.2011, Courtesy: Kader Attia, Galerie Nagel Draxler Berlin/Köln, © Bildrecht, Wien, 2016 405: Abb. 15 – 26: S.ener Özmen, Supermuslim, 2003, 12 C-Print Foto­grafien, je 70 x 50 cm, Courtesy: S.ener Özmen, Pilot Gallery Istanbul 407: Abb. 27: Sohrab Kashani, Fotografie, aus der Serie The Adventures of Super Sohrab, 2011, variable Größe, Courtesy: Sohrab Kashani 408: Abb. 28: Shahram Entekhabi, Islamic Star, 2005 – 2010, C-PrintFotografie, 90 x 70 cm, Courtesy: Shahram Entekhabi

Anhang

Personenregister

A Acconci, Vito 365 Adorno, Theodor W. 28, 30, 70 f., 122, 169, 255 Aertsen, Jan A. 89 f. Ai Weiwei 53, 56 f., 65 f., 68 f. Aischylos 163 Albers, Josef 238 Alberti, Leon Battista 210 Albertus Magnus 84 Alexander von Hales 62, 84 Alkibiades 79 f. Allerstorfer, Julia 48, 50 Alÿs, Francis 315 Apel, Karl-Otto 373 Aristoteles 54, 82, 89, 103, 105, 142 f., 171, 174, 188, 203 f., 208 f., 254, 256 f., 267 f., 270, 283, 352, 373 Assmann, Peter 313, 319 Attia, Kader 395, 403 – 405, 414, 416 Augustinus 79, 87, 187, 277 f., 288 Aulus Gellius 163 Austin, John L. 375 –377, 379, 384 –390 Avelli, Francesco Xanto 135 B Bach, Johann Sebastian 24 Bacon, Francis 163 Barck, Karlheinz 11, 49 f. Barthes, Roland 31, 318, 324, 326 –329, 352, 367 Bass, Marisa 139 Baudelaire, Charles 172, 189 Baumgarten, Alexander Gottlieb 12, 19 –21, 26, 49, 77, 254, 256 Beckmann, Max 337 Belting, Hans 121 Benjamin, Walter 156, 255, 258 Benn, Gottfried 189 Bhabha, Homi K. 396, 409 – 411 Birolli, Renato 338 Blumenberg, Hans 22 Boccioni, Umberto 337 f. Böhme, Gernot 28 –30, 50, 92, 235 – 238, 244 f., 253 – 272 Boileau-Despréaux, Nicolas 103 Bonaventura 85 Bond, George Phillips 199

Bonebakker, Odilia 139 Bosch, Hieronymus 137 Brahe, Tycho 197 Braque, Georges 335 f. Brentano, Franz 268 Bröcker, Walter 79 Broodthaers, Marcel 225 f. Bruegel, Pieter (der Ältere) 125, 132 –139, 140 f., 143 f. Bubner, Rüdiger 117 Bühler, Winfried 107 Buergel, Roger M. 66 Buovolo, Marisa 330 f. Burke, Edmund 77, 91, 95, 111, 128 Burri, Alberto 351, 365, 368 f. Butler, Judith 375, 377, 379, 396, 409 f. Buyzere, Jacob de 133 C Calder, Alexander 336 Carrà, Carlo 337 f. Cassirer, Ernst 113 Cavellini, Guglielmo Achille 338 Charles, Daniel 375 Cicero 54 Claerbout, David 302, 308 f. Clouzot, Henri-Georges 340 f. Cock, Hieronymus 133 Colomb, Denise 336 Coornhert, Dirck Volkertszoon 133 Crawford, Donald W. 27 Curtius, Ernst Robert 78, 103 D Danto, Arthur C. 18, 371 Davidson, Donald 371 Debord, Guy 370 De la Rue, Warren 199 Deleuze, Gilles 28, 352 –363, 367 Demus, Klaus 137 Derrida, Jacques 70, 377, 379, 383, 396 Descartes, René 88, 280 Dick, Inge 310 –312 Diderot, Denis 60 Dijkstra, Rineke 302, 317 Dionysius Areopagita 84 Dorner, Leo 12, 26, 169 Dreher, Thomas 375

425

426 Drühl, Sven 334 Duchamp, Marcel 65, 160 f., 226 Dufay, Guillaume 210 Dürer, Albrecht 198 E Eagleton, Terry 127 Ekici, Nezaket 395, 397 f., 413, 416 Eliasson, Olafur 238, 242 – 244 Elkins, James 127 Entekhabi, Shahram 395, 403, 407 f., 415 f. Epikur 368 Erasmus von Rotterdam 134 f. Erler, Michael 79 Ernst, Erzherzog von Österreich 132 Ernst, Klaus 246 F Faßbaender, Joseph 338 Fazazi, Mohammed (Imam) 68 Fehling, Heinrich Christoph 145 Feldmann, Hans-Peter 316 Felman, Shoshana 376 Fentsch, Erna 344 Ferber, Stanley 137 Feuerbach, Ludwig 31 Fichte, Johann Gottlieb 182 Fiedler, Konrad 28 Fietz, Helga 337 Fischer, Kuno 130 Fischer-Lichte, Erika 374 f. Fizeau, Hippolyte 199 Flammarion, Camille 199 f. Flasch, Kurt 105 Fœssel, Michaël 114 Fontana, Lucio 365, 369 Fontius, Martin 50 Foucault, Léon 199 Foucault, Michel 223 f. Franko B 365 Freedberg, David 134 Freud, Sigmund 385 Fuhrmann, Manfred 103 G Gadamer, Hans-Georg 13, 282 Gaensheimer, Susanne 67 Galilei, Galileo 197 Geiger, Moritz 97 Gentileschi, Artemisia 64 Giacometti, Alberto 207

Gilson, Etienne 89 Glück, Gustav 137 Goethe, Johann Wolfgang von 95 Goffman, Erving 383 Goodman, Nelson 28 Gorgias von Leontinoi 54 Goya, Francisco 64 Granados-Salinas, Rosario Inés 139 Grasskamp, Walter 333 –335 Grimm, Jakob 126 Grimm, Wilhelm 126 Gruzei, Katharina 304 f. Günther, Agnes 344 Güres., Nilbar 398 f., 413, 416 H Habermas, Jürgen 373, 376, 386 Haeffner, Gerd 298 Hammer-Tugendhat, Daniela 136, 138 Han, Byung-Chul 369 Hartmann, Adolf 338 Hartung, Karl 338 Heckel, Erich 338 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13 f., 16, 24 – 26, 29, 31, 33 f., 44, 102, 116 –122, 169 –171, 173 –175, 177 –180, 182, 184 f., 187 – 190, 200 – 202, 204, 206, 374 Heidegger, Martin 268, 280, 283, 285 – 288 Heineken, Carl Heinrich 138, 144 Heinz-Hoek, Marikke 397 Herri met de Bles 135, 138 Herzog, Werner 132 Hindrichs, Gunnar 275 Hirst, Damien 65 Hochleitner, Martin 48, 50 Höfer, Candida 315 Höffe, Otfried 22 Hoffmann, Thomas Sören 169 Hofmann, Susanne 48, 50 Hofmannsthal, Hugo von 277 Hölderlin, Friedrich 176, 351 f., 363 – 365 Homer 107 – 109, 127, 137 Horaz 103 Humboldt, Alexander von 238 Humboldt, Wilhelm von 18, 30 Hume, David 151 Husserl, Edmund 236 Hutcheson, Francis 77, 91 Huygens, Christiaan 197

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I

Johnson, Nunnally 330 Jonghelinck, Niclaes 133, 138

List, Herbert 337 Locke, John 155 Longinus 102 – 111, 121 f., 127, 131, 137 f., 142, 144 f. Lorenz, Konrad 40 Lüdeking, Karlheinz 223 Lukrez 368 Luther, Martin 126, 134 f. Lyotard, Jean-François 122

K

M

Kahane, Catharina 144 Kandinsky, Wassily 334 Kant, Immanuel 13 – 16, 20 – 25, 27, 29, 33, 37 –  46, 58, 60 f., 69 f., 75, 77, 84, 88, 91 –  99, 102, 111 – 116, 119 – 122, 126 – 129, 131, 143, 154 f., 170, 174 f., 178, 180 f., 188, 193 f., 205 f., 256 f., 282 Karmakar, Romuald 67 f. Kashani, Sohrab 395, 403, 406 –  408, 415 f. Kawara, On 315 Kepler, Johannes 197 Keramati, Simin 395, 401 f., 413 f., 416 Kern, Manfred 328 Kertész, André 318 Kimpel, Harald 333 Kirchner, Ernst Ludwig 335 f. Klages, Ludwig 256 Klein, Richard 275 Klein, Yves 241 f. Klimt, Gustav 334 Kline, Franz 365 Krohn, Wolfgang 163 Kunzle, David 144

Magritte, René 222 – 226, 233 Malewitsch, Kasimir 228, 232 Mann, Thomas 78, 80 f., 96 Manutius, Paulus 137 Marc, Franz 337 Marclay, Christian 301 f., 312 Marey, Étienne-Jules 372 Margarethe von Parma 133 Marinetti, Filippo Tommaso 337 f. Marx, Karl 374 Mataré, Ewald 338 f. Maywald, Willy 336 Meier, Georg Friedrich 256 f. Meisenheimer, Wolfgang 237 Meistermann, Georg 338 Melanchthon, Philipp 135 Menke, Christoph 70 f. Merleau-Ponty, Maurice 256, 260 Michelangelo 135, 210 Miedema, Hessel 134 Mofokeng, Santu 67 f. Moholy-Nagy, Laszlo 334 Montanus, Benedictus Arias 134 Moore, George Edward 128 f. Morandi, Giorgio 337, 351, 365, 368 Mörike, Eduard 152 Mozart, Wolfgang Amadeus 207, 268 Muybridge, Eadweard 372

Isgrò, Emilio 369 Itten, Johannes 334 J

L Lacan, Jacques 352, 356 f., 360, 365 – 367 Laib, Wolfgang 301, 312 Laing, Ronald D. 381 Lamprecht, Gerhard 342 Lawler, Louise 315 Leibniz, Gottfried Wilhelm 15 Leisch-Kiesl, Monika 48, 122 Leitner, Hermann 345 f. Lessing, Gotthold Ephraim 209 Lichtenberg, Georg Christoph 184 Liebrucks, Bruno 16 f., 30 Lindemann, Christian Philipp 145 Lipp, Wilfried 48 Lipsius, Justus 134

N Nancy, Jean-Luc 374, 383 Napoleon, Bonaparte 207 Newton, Isaac 197 Nietzsche, Friedrich 49, 201, 280, 367 Nixon, Nicholas 317 Noack, Ruth 66 Norden, Eduard 109 Nougé, Paul 230 – 233 O Opałka, Roman 302, 317 ORLAN 365

427

428 Ortelius, Abraham 133 f., 137 f. Özmen, S.ener 395, 403, 405 f., 408, 414 –  416 P Palladio, Andrea 210 Pane, Gina 365 Panofsky, Erwin 323 f. Parmenides 79 Parrhasios von Ephesos 205 Perrault, Charles 63, 151 Perrault, Claude 151 Petrarca, Francesco 79 Picasso, Pablo 64, 207, 329, 336 f., 340 f. Platon 13, 18, 20, 22, 75, 77 –  83, 90, 98, 106 f., 173, 183, 188, 203 f., 208, 269 f., 357 Plotin 55, 78, 87, 353 Poelzig, Peter 246 Pollock, Jackson 365 Pöltner, Günther 75, 90 Polyklet 54, 72 Pop, Andrei 48 Pries, Christine 102 Proust, Marcel 351 – 363 Pythagoras 54, 56 R Raap, Jürgen 59 – 61, 65 Raffael 135, 186, 210 Rahm, Philippe 238, 240 – 242, 244 Rauh, Andreas 253, 271 Rauschenberg, Robert 226 Recki, Birgit 78 Rentsch, Thomas 76 Reschke, Renate 77 Richter, Gerhard 37, 42, 45 Richtmeyer, Uli 218 Robortellus, Franciscus 137 Rochefoucauld, Duc de La 125 Rosenkranz, Karl 26, 129 f., 131, 141, 169 f., 174 f., 177 – 181, 183 –190 Rubens, Peter Paul 137 Ruge, Arnold 130 Russolo, Luigi 337 f. Rutherfurd, Lewis Morris 199 S Sander, August 305 – 307, 318 Sappho 128 Saravia, Adrianus 134

Satie, Erik 402 Saussure, Ferdinand de 324 Schade, Sigrid 323 – 325 Scheler, Max 353 Schelling, Friedrich Wilhelm 26, 44 Schiele, Egon 64 Schiller, Friedrich 130, 142, 245 Schink, Hans-Christian 301, 303 Schlegel, August Wilhelm 96 Schlemmer, Oskar 336 Schlenstedt, Dieter 50 Schmarsow, August 236 f. Schmidt, Bärbel 342 Schmidt, Julian 130 f., 141 f. Schmidt-Rottluff, Karl 338 Schmitt, Werner 11 Schmitz, Hermann 256 f., 261, 263 – 267, 269 Schmitz-Fabri, Johanna 338 Schönberg, Arnold 188, 207, 210 Schönberger, Otto 103 Schopenhauer, Arthur 202 Schrödl, Barbara 48 Schumacher, Ernst 338 Schwenzen, Per 345 f. Scott, Jennifer 144 Searle, John R. 375 f., 379, 382 f., 386 Sedlmayr, Hans 160 f. Seel, Martin 28 f., 75 f., 159, 258 Seidel, Martin 59 –  61, 65 Severini, Gino 337 f. Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, Third Earl of 155 Shawe-Taylor, Desmond 144 Siala, Mouna Jemal 395, 402 f., 413 f., 416 Simmel, Georg 203, 327 Simon, Josef 18 Singh, Dayanita 67 f. Snow, Edward 138 Sokrates 78 – 80, 183 f. Solm, Alfred 343 Sophokles 125, 270 Sorg, Anton 135 Spaemann, Robert 105 Spies, Christian 48 Spitaler, Rudolf 199 Steinwachs, Burkhart 50 Stelarc 365 Stendahl 161 Stengel, Karin 333 Stifter, Adalbert 183 Strauss, Richard 277 Streuli, Beat 310 Stridbeck, Carl Gustaf 133 Ströker, Elisabeth 265

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Struth, Thomas 314 f. Stummer, Alfons 343 Stumpf, Sebastian 309 Szondi, Peter 117 T Tan, Fiona 302, 306 – 308 Tàpies, Antoni 365 Tegtmeyer, Henning 84, 101 Theokrit 151 Theunissen, Michael 292, 294 – 297 Thomas von Aquin 62, 75, 83 – 90, 95, 98, 171 Tizian 210 Tschaikowsky, Pjotr Iljitsch 207 Turan, Esin 395, 399 f., 413, 416 Turner, Victor 375 Turrell, James 238 U Ucicky, Gustav 344 Uexküll, Jakob von 352 f. Uhl, Florian 301 V Valie EXORT 65 Van der Velden, Hugo 139 Van Gogh, Vincent 368 Van Leyden, Lucas 135 f., 138 Van Mander, Karel 132, 134, 137, 143 Varda, Agnès 337 Vasari, Giorgio 210 Vedova, Emilio 338 Vico, Giambattista 21 Virilio, Paul 162 Vischer, Friedrich Theodor 26, 189, 208 f. Vitruv 55, 210

W Wagner, Richard 201 Warhol, Andy 65 Wehrli, Fritz 108 Welsch, Wolfgang 11, 49 f., 271 Wenk, Silke 323 – 325 Whitehead, Alfred North 84 Wiesing, Lambert 92 Wilde, Oscar 154 Winckelmann, Johann Joachim 206 Wittgenstein, Ludwig 129, 216 – 223, 226 – 229, 253 f., 278 Wolff, Christian 19 Wölfflin, Heinrich 236 f. Wolfson, Elizabeth 405 Wolfzettel, Friedrich 50 Wouk, Edward 139 Wright, Georg Henrik von 372 Wucherer-Huldenfeld, Karl Augustinus 290, 293 Wurm, Erwin 301, 313 X Xenophon 54 f. Y Yanagi, Miwa 315 Z Zeuxis von Herakleia 205 Žižek, Slavoj 361, 370 Zumthor, Peter 238 – 240, 242, 244

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430 Autorinnen und Autoren Julia Allerstorfer Geb. 1979 in Linz a. d. Donau. Studium der Kunstgeschichte in Wien, 2004 Studienaufenthalt in Iran, 2005 Mag. phil., 2014 Promotion in Kunstwissenschaft an der Katholischen Privat-Universität Linz (KU Linz), Juli 2014 Forschungs- und Vortragstätigkeit in Teheran. Assistenz-Professorin am Institut für Geschichte und Theorie der Kunst an der KU Linz, Kuratorin verschiedener Ausstellungen, u.a. „Iran: Preview of the Past“ (Universität für Angewandte Kunst Wien, 2010), Vertreterin der Kurie Universitäten im Verband österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker. Forschungsschwerpunkte: Moderne und zeitgenössische Kunst des Nahen und Mittleren Ostens bzw. islamisch geprägter Kulturkreise und der „islamischen Diaspora“ in Europa, Kunst und Migration, Kunstgeschichte und Postkolonialismus. Publikationen (Auswahl): Visuelle Identitäten. Künstlerische Selbstinszenierungen in der zeitgenössischen iranischen Videokunst, Bielefeld 2017; Sauer, Hanjo/Allerstorfer, Julia (Hg.), Migration in Theologie und Kunst. Transdisziplinäre Annäherungen, Frankfurt a. M. u. a. 2017; Performing Visual Strategies: Representational Concepts of Female Iranian Identity in Contemporary Photography and Video Art, in: Scheiwiller, Staci Gem (Ed.), Performing the Iranian State. Cultural Representations of Identity and Nation, London 2012, 173 –192. Leo Dorner Geb. 1947 in Sopron. Studien in Philosophie, Musikwissenschaft, Pädagogik und Komposition an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien, 1975 Dr. phil. Unterrichtstätigkeit, wissenschaftlicher Dienst und Bibliotheksleitung an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz, Lehraufträge zu philosophischen und musikwissenschaftlichen Themen, Vorträge im Inund Ausland, Unterrichtstätigkeit an der Europäischen Journalismus Akademie (EJA) in Wien und an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz, Pensionierung 2009. Weitere Informationen unter www.leodorner.net. Forschungsschwerpunkte: Fundamentalphilosophie, Ästhetik, Musikwissenschaft, Geschichte und Politikwissenschaft. Publikationen (Auswahl): Traktat über vormoderne und moderne Kunst, Würzburg 2010; Mimetikon I+II, Düsseldorf 1999; Studien zu den formalen Grundlagen des tonalen Systems im 19. Jahrhundert (Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 7), Tutzing 1977 (Dissertation). Max Gottschlich Geb. 1979 in Eisenstadt. Studium der Philosophie (2009 Promotion) und Musikwissenschaft (2005 Promotion) an der Universität Wien. Seit 2007 Universitätsassistent für Philosophie an der Katholischen Privat-Universität Linz, seit 2016 Assistenz-Professor am Institut für Praktische Philosophie/Ethik ebenda. Lehraufträge an der Universität Wien und der Johannes Kepler Universität Linz, Gastdozent am Centro de Filosofía Clásica Alemana an der Universidad Nacional de Cuyo (Mendoza, Argentinien), 2014/15 Visiting Associate Professor

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am Department of Philosophy, University of Warwick, ermöglicht durch ein Erwin-Schrödinger-Auslandsstipendium des Fonds für Wissenschaft und Forschung. Forschungsschwerpunkte: Kant und der Deutsche Idealismus, klassische antike Philosophie, Bruno Liebrucks. Habilitationsprojekt: „Logik und der Begriff des Menschen“. Publikationen (Auswahl): Zur Systematik des mímhsiv-Begriffs in Platons Kunstbegründung, in: Archiv für Begriffsgeschichte 57 (2016), 7– 56; The Necessity and the Limits of Kant’s Transcendental Logic, with Reference to Nietzsche and Hegel, in: The Review of Metaphysics 69 (December 2015), 287– 315; Logik und Selbsterkenntnis, in: Perspektiven der Philosophie 41 (2015), 3 – 23. Stephan Grotz Geb. 1966. Studium der Kunstgeschichte, der Theaterwissenschaft, der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft (Komparatistik), der Griechischen Philologie und der Philosophie in München und Berlin, 1994 Magister Artium, 1997 Promotion in Komparatistik, 2007 Habilitation in Philosophie. 2001– 2011 Assistent und Oberassistent an der Universität Regensburg, 2011– 2013 Lehrstuhlvertretung an der Universität Mainz. Seit 2015 Universitätsprofessor der Geschichte der Philosophie an der Katholischen Privat-Universität Linz. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Antike und des Mittelalters, Metaphysik, Sprachphilosophie, Kunsttheorie, der Begriff der Relation. Publikationen (Auswahl): Überleben in der Tradition. Henry Deku schreibt an Karl Löwith [Kommentierte, mit einem Nachwort versehene Edition von sechs von Deku zwischen 1936 und 1940 an Löwith gerichteten Briefen] (in Vorbereitung); Thomas von Aquin, Über Gottes Vermögen (De potentia Dei). Teilband 1: De potentia Dei I, q. 1- 3, Teilband 2: De potentia Dei II, q. 4 - 6, übers. u. m. e. Nachwort hg. v. Stephan Grotz (Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae. Vollständige Ausgabe in deutscher Übersetzung, hg. v. Rolf Schönberger, Bd. VII u. Bd. VIII), Hamburg 2009; Negationen des Absoluten: Meister Eckhart – Cusanus – Hegel (Paradeigmata 30), Hamburg 2009. Isabella Guanzini Geb. in Cremona. Studium der Philosophie und Theologie in Mailand, 2012 Promotion im Fach Fundamentaltheologie an der Universität Wien, 2013 Promotion im Fach Philosophie (Humanistische Studien) in Mailand. 2009 – 2016 Dozentin für Geschichte der Philosophie an der Facoltà Teologica dell’Italia Settentrionale und Lektorin für Ästhetik an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand, 2013 – 2016 Universitätsassistentin an der interdisziplinären Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary Society“ (RaT) der Universität Wien. Hauptherausgeberin der Open-Access-Zeitschrift „Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society“ (J-RaT), seit 2016 Universitätsprofessorin am Institut für Fundamentaltheologie der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Religion, Politische Theologie, Deutscher Idealismus, Ästhetik, Psychoanalyse.

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432 Publikationen (Auswahl): Anfang und Ursprung. Massimo Cacciari und Hans Urs von Balthasar (ratio fidei 58), Regensburg 2016; Il giovane Hegel e Paolo: L’amore fra politica e messianismo, Milano 2013; Gegenwart ohne Schwerkraft. Ästhetisierung der Lebenswelt und Wirrsal des Fühlens im Kontext der italienischen Ästhetik, in: Aemaet 2 (2013), 48 – 69. Martin Hochleitner Geb. 1970 in Salzburg. Studium der Klassischen Archäologie (1992 Diplom) und Kunstgeschichte (2002 Promotion) an der Universität Salzburg. 2000 – 2012 Leiter der Landesgalerie Linz am Oberösterreichischen –  2017 Universitätsprofessor für KunstLandesmuseum, 2008  geschichte und Kunsttheorie (mit Schwerpunkt kuratorische Praxis) und 2010 – 2015 Leiter des Instituts für Bildende Kunst und Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz. Seit 2010 Honorarprofessor für Kunstwissenschaft an der Katholischen Privat-Universität Linz, seit 2012 Direktor des Salzburg Museums. 2013 Österreichischer Staatspreis für exzellente universitäre Lehre, Kurator zahlreicher Ausstellungen in internationalen Kooperationen. Forschungsschwerpunkte: Kunst der Gegenwart unter besonderer Berücksichtigung ihrer Rezeptionsgeschichte, Fototheorie, Curatorial Studies – Untersuchungen zur Verschränkung von künstlerischen und kuratorischen Praktiken, Referenzkunst. Publikationen (Auswahl): (Hg.), Archäologie in Salzburg (Begleitband zu den Ausstellungen „Archäologie?! – Spurensuche in der Gegenwart“, Salzburg Museum, Neue Residenz, 19.10.2013 – 08.06.2014 u. „Wirklich wichtig – archäologische Highlights erzählen ihre Geschichte“, Keltenmuseum Hallein, 19.10.2013  –  27.07.2014), Salzburg 2013; Ausstellungen/Exhibitions 1990 – 2011, in: Sharp, 2013, Jasper (Hg.), Österreich und die Biennale Venedig 1895 –  Nürnberg 2013, 434 – 517; M as in Medium, M as in (not the only) Message … Examples of the Conception and Function of the Mediums Film and Photography in the Work of Andrea van der Straeten [Engl./Dt.], in: Andrea van der Straeten. as if (AK, Landesgalerie Linz, 19.09.–04.11.2012, Casino Luxembourg – Forum d’Art Contemporain, 19.01.–28.04.2013, Wien 2013, 10 –17. Michael Hofer Geb. 1966 in Steyr. Studium der Philosophie, Germanistik und Theologie in Wien, Frankfurt a. M. und an der Georgetown University (Washington, D.C.), 1990 Mag. theol., 1996 Promotion im Fach Philosophie. Universitätsprofessor der Theoretischen Philosophie und Vorstand des Instituts für Theoretische Philosophie an der Katholischen Privat-Universität Linz. Konsulent beim ORF-Fernsehen/Religion, 2008 – 2016 Mitherausgeber der „Linzer Beiträge zur Kunstwissenschaft und Philosophie“, seit 2008 Mitherausgeber des „Wiener Jahrbuchs für Philosophie“. Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik, Erkenntnistheorie, Metaphysik, Kant und deutscher Idealismus. Publikationen (Auswahl): Erwarten, Wünschen und das Schöne der Hoffnung, in: Lederhilger, Severin J./Volgger, Ewald (Hg.), Contra spem sperare. Aspekte der Hoffnung. FS Bischof Ludwig Schwarz

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SDB, Regensburg 2015, 147–162; Religiöse Erfahrung als Paradigma der hermeneutischen Erfahrung? Anmerkungen zu einer Spannung in Gadamers Hermeneutik, in: Gruber, Franz/Kreutzer, Ansgar/ Telser, Andreas (Hg.), Verstehen und Verdacht. Hermeneutische und kritische Theologie im Gespräch, Ostfildern 2015, 121–142; Hofer, Michael/Meiller, Christopher/Schelkshorn, Hans/Appel, Kurt (Hg.), Der Endzweck der Schöpfung. Zu den Schlussparagraphen (§§ 84 – 91) in Kants Kritik der Urteilskraft, Freiburg i. Br. u. a. 2013. Susanne Hofmann Dr.-Ing., Architektin BDA, lebt in Berlin. Architekturstudium in München und London (Architectural Association School of Architecture), 2012 Promotion. Seit 1996 internationale Lehrtätigkeit (London, Melbourne, Auckland, Kairo), 2003 – 2014 Leitung des Studienprojekts „die Baupiloten“ an der Technischen Universität Berlin, 2009 – 2015 Vertretungsprofessur für partizipatives Entwerfen und Konstruieren, Wohnungsbau und Kulturbauten ebenda, 2013 Stipendium der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo mit Studienaufenthalt in der Casa Baldi (Olevano Romano, Italien), 2015/16 Graham Willis Visiting Professor an der University of Sheffield, 2016 Gastprofessur an der Technischen Universität Wien. 2001 Gründung eines eigenen Architekturbüros, seit 2014 firmiert das unabhängige Büro unter „die Baupiloten BDA“ mit Fokus auf partizipativ entwickelte Bildungs- und Wohnbauten. Aktuell planen „die Baupiloten“ eine Studentenwohnanlage für 620 Personen und zwei Kindertagesstätten in Berlin und Hannover-Langenhagen. Forschungsschwerpunkte: Partizipationsprozesse in der Architektur. Publikationen (Auswahl): Partizipation macht Architektur. die Baupiloten – Methode und Projekte, Berlin 2014; Neighbourhood Management – Participation Processes and their Impact on the Neighbourhood, in: Geipel, Kaye et al. (Ed.), Adaptable City (Europan 12), Berlin 2014, 46 – 47; Entdeckendes Lernen – pädagogische Architektur, in: Kahlert, Joachim u.a. (Hg.), Räume zum Lernen und Lehren. Perspektiven einer zeitgemäßen Schulraumgestaltung, Bad Heilbrunn 2013, 279 – 284. Antonia Krainer Geb. 1977 in Wien. 1995 – 2000 Studium der Internationalen Wirtschaftswissenschaften in Innsbruck, Mag. rer. soc. oec., Diplomarbeit über Einflussfaktoren des Energiesparverhaltens im Rahmen des ökonomischen Menschenbildes, seit 2009/10 Studium der Katholischen Theologie an der Katholischen Privat-Universität Linz. Ebenda 2011 Wissenschaftliche Mitarbeit am Institut für Bibelwissenschaft (Altes Testament), 2012  –  2014 Wissenschaftliche Mitarbeit am Institut für Philosophie, seit März 2014 studentische Mitarbeiterin beim FWF-Projekt „Rezeptionen Salomos“, seit Oktober 2014 Tutorin für Hebräisch. Forschungsschwerpunkte: Philosophie der Antike und des Mittelalters (insbesondere Aristoteles und Thomas von Aquin), Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen biblisch-jüdischem und griechisch-philosophischem Denken (insbesondere in Ontologie und Anthropologie). Publikationen (Auswahl): Rez. Mitterstieler, Elmar, Das wunderbare Licht, in dem wir leben. Gleichheit, Würde und Priestertum aller in der

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434 Kirche (Würzburg 2015), in: Theologisch-praktische Quartalschrift 163 (2015), 411; Uhl, Florian/Krainer, Antonia, Vom Menschen und seinem Glück. Philosophische Konzepte gelingenden Lebens in der Antike und heute, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 161 (2013), 339 – 347. Monika Leisch-Kiesl Geb. 1960 in Linz a. d. Donau. Studium der Theologie in Linz und Salzburg (1990 Promotion an der Universität Salzburg) und der Kunstgeschichte und Philosophie in Salzburg, Wien, München und Basel (1996 Promotion in Kunstgeschichte an der Universität Basel). Universitätsprofessorin für Kunstwissenschaft und Ästhetik am Institut für Geschichte und Theorie der Kunst an der Katholischen Privat-Universität Linz (KU Linz), 2005 – 2014 Praeses des Instituts für Kunstwissenschaft und Philosophie ad instar facultatis (IKP) ebenda, 2007– 2011 stellvertretende Vorsitzende und Vertreterin der Kurie Universitäten im Verband österreichischer Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker, 2014/15 Forschungsaufenthalt bei eikones, Basel. Mitherausgeberin der „Linzer Beiträge zur Kunstwissenschaft und Philosophie“ sowie von „kunst und kirche. Ökumenische Zeitschrift für zeitgenössische Kunst und Architektur“. Forschungsschwerpunkte: Künstlerische Positionen der Moderne und insbesondere der Gegenwart, Kunsttheorie und Ästhetik, Ansatzpunkte für einen Diskurs zwischen der Kunst (des 20./21. Jahrhunderts) und philosophischen bzw. theologischen Positionen, (Mittelalterliche) Buchmalerei unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Text und Bild, Zeichnung, Gender Studies, Kunst in inter- und transkulturellen Kontexten. Publikationen (Auswahl): ZeichenSetzung – BildWahrnehmung. Toba Khedoori: Gezeichnete Malerei, Wien 2016; Sauer, Hanjo/LeischKiesl, Monika, Religion und Ästhetik bei Ingmar Bergman und Luis Buñuel (Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge 12), Frankfurt a. M. 2005; Leisch-Kiesl, Monika/Schwanberg, Johanna (Hg.), nexus. Künstlerische Interventionen im Stadtraum, Wien/New York 1999. Wilfried Lipp Geb. 1945 in Bad Ischl. Studium der Architektur und Kunstgeschichte in Graz und Salzburg, u.a. bei Hans Sedlmayr, 1970 Promotion in Kunstgeschichte, 1986 Habilitation mit der Arbeit „Natur – Geschichte – Denkmal. Zur Entstehung des Denkmalbewusstseins der –  2010 Landeskonservator für bürgerlichen Gesellschaft“. 1992  Oberösterreich am Bundesdenkmalamt, 1987–1993 Vertreter der Kurie Denkmalpflege im Vorstand des Österreichischen Kunsthistorikerverbandes. Langjährige, kontinuierliche Lehrtätigkeit an der Universität Salzburg und an der Kunstuniversität Linz. Präsident des Österreichischen Nationalkomitees des Internationalen Rats für Denkmalpflege (ICOMOS), Mitglied des Exekutivkomitees von ICOMOS International Paris sowie President of the International Scientific Committee on Theory and Philosophy of Conservation and Preservation mit Sitz in Florenz, seit 2005 Honorarprofessor für Kunstwissenschaft an der Katholischen Privat-Universität Linz. Forschungsschwerpunkte: Wert und Wertewandel der Kulturidee Denkmalpflege und Denkmalschutz in Geschichte und Gesellschaft, Mentalitätsgeschichte des Denkmalbewusstseins, Pluralität des Denkmalbegriffs, Kulturlandschaft und historische Gärten, Anthro-

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pologische Konstante von Schutz und Schutzbedürftigkeit und damit verbundene kulturelle Felder, Kunst und Architektur in Moderne und Postmoderne. Publikationen (Auswahl): Falser, Michael/Lipp, Wilfried (Hg.), Eine Zukunft für unsere Vergangenheit. Zum 40. Jubiläum des Europäischen Denkmalschutzjahres (1975 – 2015), Berlin 2015; Imago – Image – Imagine: Sketches for a Mind Map, in: Tomaszewski, Andrzej/Giometti, Simone (Ed.), The Image of Heritage. Changing Perception, Permanent Responsibilities, Firenze 2011, 25  –  32; Kultur des Bewahrens. Schrägansichten zur Denkmalpflege, Wien/ Köln/Weimar 2008. Wilhelm Lütterfelds Geb. 1943 in Glehn. Studium der Philosophie, Katholischen Theologie und Pädagogik in Bonn, München und Tübingen, 1974 Promotion in Philosophie an der Universität Tübingen, 1980 Habilitation an der Universität Wien mit der Arbeit „Private Sprache und Bewußtsein. Untersuchungen zur ‚Logik meiner Sprache‘ bei Wittgenstein und Fichte“. Von 1985 bis zur Emeritierung 2009 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Passau. Mitbegründer und -herausgeber der „Wittgenstein-Studien. Internationales Jahrbuch für WittgensteinForschung“, seit 2012 Honorarprofessor für Philosophie an der Katholischen Privat-Universität Linz. Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus (Kant, Fichte, Schelling, Hegel) und seine rationalistischen Vorläufer, Transzendentale Erkenntnistheorie, Ethik und Metaphysik, der Wiener Kreis, die Sprachphilosophie Wittgensteins und die analytische Philosophie. Aktuelles Buchprojekt: „Das postanalytische Sprachspiel der Dialektik“. Publikationen (Auswahl): (Hg.), Das Sprachspiel der Freiheit (Wittgenstein Studien 16), Frankfurt a. M. u. a. 2008; Das Erklärungsparadigma der Dialektik. Zur Struktur und Aktualität der Denkform Hegels, Würzburg 2006; Lütterfelds, Wilhelm/Roser, Andreas (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt a. M. 1999. Dieter Mersch Geb. 1951 in Köln. Studium der Mathematik und Philosophie an der Universität zu Köln und der Ruhr-Universität Bochum, 1993 Promotion in Philosophie über die Semiotik, Rationalität und Rationalitätskritik bei Umberto Eco an der Technischen Universität Darmstadt, 2000 Habilitation in Philosophie mit der Arbeit „Materialität, Präsenz, Ereignis. Untersuchungen zu den Grenzen des Symbolischen“. Professor für Ästhetik und Theorie sowie Leiter des Instituts für Theorie (ith) der Zürcher Hochschule der Künste, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland sowie der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Forschungsschwerpunkte: Philosophische Ästhetik, Medienphilosophie, Sprachphilosophie, Philosophien des 20. und 21. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl): Epistemologien des Ästhetischen, Zürich/ Berlin 2015; Dombois, Florian/Fliescher, Mira/Mersch, Dieter/Rintz, Julia (Hg.), Ästhetisches Denken. Nichtpropositionalität, Episteme, Kunst, Zürich 2014; Posthermeneutik (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 26), Berlin 2010.

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436 Günther Pöltner Geb. 1942 in Wien. Klavierstudium an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien, Studium der Philosophie, Pädagogik und Geschichte an der Universität Wien. Emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Ethik und Anthropologie, Phänomenologie, Ästhetik. Publikationen (Auswahl): Wagners Idee des Gesamtkunstwerks, in: Waibel, Violetta L./Liessmann, Konrad Paul (Hg.), Es gibt Kunstwerke – Wie sind sie möglich?, Paderborn 2014, 241– 255; Philosophische Ästhetik (Grundkurs Philosophie 16), Stuttgart 2008; Grundkurs Medizin-Ethik, Wien 22006. Andrei Pop Geb. 1981 in Bukarest. Studium der Kunstgeschichte und Computer Science an der Stanford University (2003 Bachelor of Arts) und der Kunstgeschichte an der Harvard University (2007 Master), 2010 Promotion mit einer Arbeit über Heinrich Füssli/Henry Fuseli. Associate Professor am John U. Nef Committee on Social Thought und am Department of Art History der University of Chicago. Internationale Lehr- und Vortragstätigkeit, u.a. an der Harvard University (2007 Certificate of Distinction for Excellence in Teaching), an der Kunstuniversität Linz, an der Universität Wien (2010/11) und an der Universität Basel (2011– 2014). Redakteur für der Bereich Kunsttheorie und Historiographie und Mitglied der Redaktionsleitung bei „caa.reviews“, Manuscript Referee bei „The Art Bulletin“ und „Art History“. Forschungsschwerpunkte: Klassizismus in Kunst und Literatur, Platonische Philosophie und Kunsttheorie in der Moderne, Symbolismus, Bildtheorie. Publikationen (Auswahl): Goya and the Paradox of Tolerance, in: Critical Inquiry (im Erscheinen); Antiquity, Theatre, and the Painting of Henry Fuseli, Oxford/New York 2015; Rosenkranz, Karl, Aesthetics of Ugliness. A critical Edition, ed. and transl. by Andrei Pop and Mechthild Widrich, London/New York 2015. Barbara Schrödl Geb. 1965 in Darmstadt. Studium der Kunstgeschichte, Soziologie und Geschichte der Naturwissenschaft und Technik in Stuttgart und Berlin, 2001 Promotion an der Universität Bremen, 2015 Habilitation an der Katholischen Privat-Universität Linz (KU Linz). Privatdozentin am Fachbereich Kunstwissenschaft an der KU Linz, seit 2009 Lehrbeauftragte am Institut für das künstlerische Lehramt der Akademie der bildenden Künste Wien. Forschungsschwerpunkte: Mediengeschichte der Architekturgeschich­ te, Architektur der Moderne, Fashion Studies, Gender Studies, Künstlermythen, visuelle und materielle Kultur des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit. Aktuelles Forschungsprojekt zum Verhältnis von Mode und Zeitlichkeit in Moderne und Gegenwart. Publikationen (Auswahl): Die Caprihose unter der Kuckucksuhr. Kleidung und Interieur im Heimatfilm der 1950er-Jahre, in: Kegler, Karl R./Minta, Anna/Naehring, Niklas(Hg.), RaumKleider. Verbindungen zwischen Architekturraum, Körper und Kleid, Bielefeld 2017 (in Vorbereitung); „MY BEST FRIEND“. Von der neuen Sehnsucht nach

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Authentizität in der Mode, in: Kreutzer, Ansgar/Niemand, Christoph (Hg.), Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept. Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie, Regensburg 2016, 43 – 64; Erfassung des Lichts im barocken Innenraum. Carl Lamb, der Film und die Forschung, in: Keim, Christiane/Schrödl, Barbara (Hg.), Architektur im Film. Korrespondenzen zwischen Film, Architekturgeschichte und Architekturtheorie, Bielefeld 2015, 175 –194. Christian Spies Geb. 1974. Studium der Kunstgeschichte, Kunst und Germanistik in Siegen, Gainesville (Florida), Frankfurt a. M. und Basel, 2005 Promotion zum Dr. phil. an der Universität Basel. 2009 – 2014 Leitung der Forschergruppe „Bild und Ornament“ und Direktoriumsmitglied im Nationalen Forschungsschwerpunkt eikones an der Universität Basel. Seit 2015 Professor für Kunstgeschichte mit Schwerpunkt zeitgenössische Kunst an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und eikones Senior Research Fellow an der Universität Basel. Kurator der „Sammlung Lambrecht-Schadeberg – Rubenspreisträger der Stadt Siegen“ im Museum für Gegenwartskunst Siegen, Mitglied des internationalen DFG-Netzwerks „Theorie der Skulptur“ an der Universität der Künste Berlin. Forschungsschwerpunkte: Bildtheorie und Bildgeschichte der Moderne und Gegenwart, Konzeptuelle Malerei, Theorie der Skulptur, Geschichte der Videokunst. Publikationen (Auswahl): Das Ornament als Matrix. Zwischen Oberfläche und Bild, in: Beyer, Vera/Spies, Christian (Hg.), Ornament. Motiv – Modus – Bild, München 2012, 377– 407; Boehm, Gottfried/ Egenhofer, Sebastian/Spies, Christian (Hg.), Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München 2010; Die Trägheit des Bildes. Bildlichkeit und Zeit zwischen Malerei und Video, München 2007. Florian Uhl Geb. 1948 in Stainz. Studium der Philosophie und Theologie in Graz und Innsbruck, Mag. et Dr. phil. fac. theol., 1989 Habilitation an der Universität Innsbruck im Fachbereich Christliche Philosophie. Emeritierter Universitätsprofessor für Philosophie an der Katholischen Privat-Universität Linz. 1996 – 2007 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie. Mitglied der Gesellschaft für Philosophie sowie der Gesellschaft für Soziologie der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Philosophie des lateinischen Mittelalters: Roger Bacon, Bonaventura und die „Oxforder Franziskaner-Schule“, Religionsphilosophie, Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften, Kritische Theorie der Gesellschaft, Philosophische Gegenwartsdiagnostik: Michel Foucault, Jürgen Habermas u. a. Publikationen (Auswahl): Uhl, Florian/Krainer, Antonia, Vom Menschen und seinem Glück. Philosophische Konzepte gelingenden Lebens in der Antike und heute, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 161 (2013), 339 – 347; (Hg.), Die Tradition einer Zukunft. Perspektiven der Religionsphilosophie (Schriften der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie 10), Graal-Müritz 2011; Gott, Glück und Solidarität. Philosophische Spurensuche zwischen Religion und Gesellschaft (Schriften der Österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie 8), Graal-Müritz 2010.

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438 Susanne Winder Geb. 1976 in Freistadt. Studium der Kunstwissenschaft und Philosophie an der Katholischen Privat-Universität Linz (KU Linz), 2011 Mag. phil. Universitätsassistentin am Institut für Geschichte und Theorie der Kunst an der KU Linz. Forschungsschwerpunkte: Künstlerische Positionen des 20. und 21. Jahrhunderts, Kunsttheoretische Auseinandersetzung mit Positionen der Gegenwartskunst. Dissertationsprojekt: „Parastou Forouhar: Digitale Zeichnungen und Installationen. Ornament und Methode“. Publikationen: Kunst und Religion gegenwartsbezogen, in: kunst und kirche 79 (1/2016), 55 – 56; Robert Jelinek, in: Allgemeines Künstlerlexikon (AKL). Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker 77 (2013), 493 – 494; Rez. Schade, Sigrid/Wenk, Silke, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld (Bielefeld 2011), in: kunst und kirche 74 (4/2012), 70 – 71.

Kunst- und Bildwissenschaft Marius Rimmele, Klaus Sachs-Hombach, Bernd Stiegler (Hg.) Bildwissenschaft und Visual Culture 2014, 352 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2274-4

Horst Bredekamp, Wolfgang Schäffner (Hg.) Haare hören – Strukturen wissen – Räume agieren Berichte aus dem Interdisziplinären Labor Bild Wissen Gestaltung 2015, 216 S., kart., zahlr. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3272-9 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-3272-3

Michael Bockemühl Bildrezeption als Bildproduktion Ausgewählte Schriften zu Bildtheorie, Kunstwahrnehmung und Wirtschaftskultur (hg. von Karen van den Berg und Claus Volkenandt) Oktober 2016, 352 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3656-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3656-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kunst- und Bildwissenschaft Leonhard Emmerling, Ines Kleesattel (Hg.) Politik der Kunst Über Möglichkeiten, das Ästhetische politisch zu denken Oktober 2016, 218 S., kart., 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3452-5 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3452-9

Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen September 2016, 260 S., kart., zahlr. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3598-0 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3598-4

Goda Plaum Bildnerisches Denken Eine Theorie der Bilderfahrung Juli 2016, 328 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3331-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3331-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de