Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft 3851655184

Gegen die Philosophie alteuropäischen Typs wird immer wieder der Vorwurf des Logozentrismus erhoben, der das Andere des

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Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft
 3851655184

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(;egen die Philosophie alteuropäischen Typs wird immer wieder der Vorwurf des Logozentrismus erhoben, der das Ander·e des Logos, Sinnlichkeit, Phantasie, Emotionalität, Leiblichkeit, ausschließt und als Logiksystem selbst einseitig ist. Ausgehend von diesem Vorwurf verfolgt das Buch die zentralen Entwicklungslinien der Philosophiegeschichte und den Wandel der metaphysischen, erkenntnistheoretischen, ethischen und ästhetischen Systeme mit Bezug zu Wittgenstein, Goodman, Saussure, Schelling, Hegel, Adorno und Derrida. Gloy entwirft auf der Basis der Annahme einer Systempluralität ein neues, umfassenderes Konzept der Philosophie - das analogische Denken. Sie stellt die provokante These auf, daß Philosophie in der schöpferischen Potenz und Kreativität der Kunst fundiert sei und als logisch disziplinierte Form des Argumentierens eine Form der Kunst sei. Karen Gloy,geboren 1941,ist ordentliche Professorin für Philosophie und Geistesgeschichte an der Universität Luzern. Gastprofessuren u.a. in China, 'Iaiwan, Kolumbien und Griechenland. Zahlreiche Publikationen auf den Gebieten der Systemtheorie, Geschichte der Naturphilosophie, Rationalitätstheorie und Vernunftkritik.

DENKANSTÖSSF.

ZU EINER PIIlLOSOPHIE PASSAGEN PHILOSOPHIE

DER ZUKUNFT

Karen Gloy Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft

Passagen Verlag

Deutsche Erstausgabe

Publiziert mit freundlicher Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Die redaktionelle Betreuung ist Herrn Dr. Alessandro Lazzari zu verdanken.

Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufnahme Gloy, Karen: Denkanstöße zu einer Philosophie der Zukunft / Karen Gloy. - 1. Aufl.. - Wien: Passagen-Ver!., 2002 (Passagen Philosophie) ISBN '.)-8.rfüi.:'i-!Jl8-4

Alle Rechte vorbehalten ISttN 3-85165-518-4 © W02 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien Graphisches Konzept: Ecke ßonk Druck: Manz Crossmedia GmbH & Co KG, 1051 Wien

Inhalt

1. Warum Philosophie - und welche Philosophie? .............. 13 1. 1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6

Die Wende in der Akzeptanz der Philosophie ........ 13 Die Monomythen der Gegenwart.. .......................... 19 Philosophie als Kompensationswissenschaft ........... 28 Philosophie als Aufklärungswissenschaft.. .............. 34 Philosophie als Handlungswissenschaft .................. 39 Die Grundlagenkrise der Philosophie und die • • .. . ... ... ... ... .. .... .. . .. .. . ... ... .. . .. . ... .. . .. 4r-; ;:, N euor1ent1erung.....

2. Philosophisch-ästhetisches Paradigma versus naturwissenschaftich-technologisches .............................. 55 2.1 2. 2 2.3 2.4 2 .5

Der Zwiespalt der Paradigmen ................................ Das Nebeneinander der Paradigmen ...................... Das komplementäre Miteinander der Paradigmen ............................................................. Das Ineinander der Paradigmen ............................. Die Vorgängigkeit des philosophisch-ästhetischen Paradigmas ..............................................................

3. Von der Imitation zur Konstruktion: Der Wandel des Metaphysikbegriff s .......................................................... 3.1 3.2

Allgemeine Konstellation ........................................ Das metaphysische Urbild-Abbildverhältnis bei Platon .......................................................................

55 61 68 74 82

87 87 89

3.3 3.4

Schwierigkeiten ....................................................... Wirkungsgeschichte: die Ideen als theoretische Modelle der Welt ...................................................

4. Von der Sprache als Abbild zur Sprache als Konstruktion .................................................................. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Die epistemologische Urbild-Abbildrelation ......... Sprache: Abbild oder Konstrukt? .......................... Wittgensteins Abbildtheorie .................................. Schwierigkeiten der Abbildtheorie ........................ Saussures Sprachtheorie: das Netzwerk ................

5. Vom ethischen Fundamentalismus zum Dezisionismus ................................................................ 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

Die Alternative zwischen Sein und Sollen ............. Die Genrevolution ................................................. Der fundamentalistische Standpunkt.. .................. Der freiheitlich subjektivistische Standpunkt. ....... Die gegenwärtige Krise .........................................

9fi

100

105 105 107 111 117

121

125 125 128 133 140 143

6. Wandel der Kunst von der Imitation zur Schöpfung .... 147 6.1 6.2 6.3 6.4

Die drei Definitionen der Kunst ........................... Kunst als .Nachahmung der Natur ........................ Kunst als Schöpfung .............................................. Kunst als naturgebundene Freiheit.. .....................

7. Philosophie - ein geschlossenes oder offenes Syste1n?........................................................................... 7 .1

10

Die systematische Auffassung der Philosophie und ihre Kritik ......................................................

147 149 157 162

167

167

7.2 7.3 7.4

Der Wandel in der Verortung des Systems: vom Sein zur radikalen Konstruktion ........................... Systempluralität ..................................................... Apriorität oder Aposteriorität? ..............................

8. Auseinandersetzung mit Nelson Goodmans Theorie Ways ef Worldmaking ....................................................... 8.1 8.2 8.3

9.2 9.3 9.4

193

Goodmans Thesen ................................................. 193 Schwierigkeiten ..................................................... 207 Das Analogiemodell der Philosophie .................... 210

9. Philosophie und Kunst .................................................. 9 .1

173 177 189

Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Kunst .............................................................. Schellings ästhetischer Idealismus ........................ Hegels Intellektualisierung des Ästhetischen ....... Philosophie: die logische Form der Kunst ............

Anmerkungen .................................................................... Literaturverzeichnis ........................................................... Personenverzeichnis ........................................................... Sachverzeichnis ..................................................................

219

219 223 229 235 241 26 7 287 297

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1. Warum Philosophie - und welche Philosophie?

1.1 Die Wende in der Akzeptanz der Philosophie

Stellte man noch vor einigen Jahren die Frage, welche Rolle die Philosophie in der gegenwärtigen Situation spiele, so erhielt man zur Antwort: keine oder kaum eine. Denn wo im privaten oder öffentlichen Leben, wo in der Politik beim Entwurf von Staatsverfassungen, Gesetzesvorlagen und Erlassen, wo in der Gesellschaft bei der Gestaltung sozialer Verhältnisse, wo in der Wirtschaft bei der Entscheidung über freie Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, über Globalisierung oder Regionalisierung, über den ökologischen Umbau der Industrie oder das Verharren beim Bisherigen, wo bei der Festlegung sittlicher Normen und ihrer Codifizierung im geschriebenen Recht wären Philosophen je entscheidend beteiligt gewesen? Während Einzelwissenschaftler aus verschiedenen Sparten: Ärzte, Biologen, Physiker, Chemiker, Architekten, Fachvertreter aus Wirtschaft und Industrie, Handel und Gewerbe wegen ihres Sachverstandes als Experten in Kommissionen berufen, zu Hearings geladen, an Meinungsbildung und Urteilsfindung, an Planung und Durchführung von Projekten beteiligt werden, ist dies bei Philosophen nicht der Fall, was den Schluß nahelegt, daß sie weder inhaltlich noch formal etwas zu sagen haben. Im Vergleich zu empirischen Einzelwissenschaftlern und praxisnahen Fachvertretern sind Philosophen keine Spezialwissenschaftler und haben folglich auch keine gesicherten Spezialerkenntnisse und -methoden anzubieten. Bekanntlich aber hält man

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sich an das, was das Zuverlässigste und Sicherste ist, und das eben ist das empirische Fachwissen. Dieses schlechte Image der Philosophie dokumentierte ein von Hans Lenk 1 berichteter Fernsehsketch. Zum Verständnis desselben ist es notwendig zu wissen, daß in Deutschland beim Zugang zum Universitätsstudium der Numerus Clausus herrscht, ein Auswahlverfahren, das sich nach dem Notendurchschnitt des Abiturs des Bewerbers bemißt. Zu den begehrtesten Studienfächern wie Medizin werden nur die Allerbesten zugelassen mit einer Note bis 1,6 oder 1,8, in der Pharmazie und Lebensmittelchemie die Mittleren bis circa 3, in der Jurisprudenz die weniger Guten und in der Philosophie alle einschließlich des Ausschusses. Im Sketch sucht ein Arzt einen aus seiner Studienzeit befreundeten Dekan der medizinischen Fakultät auf, um für seinen Sohn, der die Zulassungsbedingungen nicht erfü11t, nach alter Burschenschaftsmanier einen Studienplatz in Medizin zu erbitten, was jedoch nicht möglich ist, da die Vergabe der Studienplätze nicht in die Kompetenz des Dekans, sondern in die einer zentralen Vergabestelle fä11t. Der Dekan kommentiert seine Ablehnung mit dem Hinweis, daß er nicht einmal für seinen eigenen Sohn mit einem noch schlechteren Notendurchschnitt etwas tun könne; diesem bleibe nur die Chance, Rechtswissenschaft zu studieren und, wenn dies nicht gelinge, Philosophie. Als das Wort „Philosophie" fä11t, erhebt sich ein allgemeines Gelächter im Publikum. Diese Reaktion beleuchtet schlagartig die Stellung, welche die Philosophie in weiten Kreisen der Bevölkerung einnahm und gelegentlich noch jetzt einnimmt und derzufolge sie für nutzlos, unpraktisch, ungeeignet zur Lösung anstehender Probleme und zur Lebensbewältigung, oft hermetisch, spinnisierend, verschroben und damit überflüssig galt beziehungsweise gilt, wozu nicht wenig die seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu konstatierende Vermassung der Universitäten und insbesondere die Dekadenz der Gei14

steswissenschaften beigetragen hat. Ihr wurde keine entscheidende lebensdienliche Rolle zugesprochen. Abgelöst von konkreten Lebenskonzepten, von ethischen Anweisungen, verpflichtenden Normen, abgetrennt vom realen Dasein, galt sie als reine Theorie. Hinzu kommt, daß die Philosophie zum überwiegenden Teil seit langem nur noch mit sich selbst und ihrer eigenen Geschichte beschäftigt ist und nicht mit relevanten Sachproblemen und aktuellen Themen. Wo sie solche aufgreift, scheint sie dies nicht „wissenschaftlich"· zu tun, nicht so, wie wir es aus den exakten \Vissenschaften mit ihrer Problemlösungskompetenz gewohnt sind. Sie zerfällt in Meinungen und Gegenmeinungen, in endlose Streitigkeiten, ohne einen sicheren Ausweg zu bieten. Dieses Image der Philosophie hat sich schlagartig geändert. Wie es zu allen Trends auch Gegentrends gibt, so läßt sich gegenwärtig auf allen Gebieten die Tendenz zu einem alternativen Denken beobachten. Philosophie - jetzt unter dem Modenamen think tank - ist wieder gefragt. Das Management der v\Tirtschaft fordert Philosophen als Vordenker, Querdenker, Andersdenker für Entwicklung und Fortschritt und gegen Stagnation und Verkrustung. Nicht minder die Politik, die sich in Einzelfragen ebenso wie bei generellen generationsübergreifenden Zukunftsprojekten nicht nur auf die breite Zustimmung einer durch die Medien sensibilisierten Bevölkerung stützt, an der Philosophen in Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen mitwirken, sondern auch auf die detaillierte Zulieferung von Vorschlägen des Wissenschaftsrates, der Enquete-Kommission, der T echnikfolgenabschätzungskommission, der futurologischen Institute, in die der Rat von Philosophen mit eingeht. Die moderne Medizin - Apparatemedizin wie Gentechnologie - mit ihren Möglichkeiten zu fast beliebiger Verlängerung des Lebens, zum Klonen und zur Genmanipulation, zur Erzeugung artüberschreitender „Chimären" fordert Ethiker, Ethik-Kommissionen und ein sensibilisiertes philosophisches Allgerneinbewußtsein; die 15

Naturwissenschaften, die sich mit ihrem rein analytisch- sezierenden Denken in einer Dauerkrise befinden, verlangen Vordenker mit neuen synergetischen Wissenschaftskonzepten und Logiken; die zunehmenden Umweltprobleme rufen ein neues holistisch-ökologisches Bewußtsein und entsprechende Programme auf den Plan. Philosophen, die selbständig, kritisch, unvoreingenommen und gegen den Mainstream auf die Grundlagen unseres Denkens, Handelns und Lebens reflektieren, sind gegenwärtig überall gefragt. Eine Gesellschaft mit ihren zivilisatorischen und kulturellen Problemen besinnt sich wieder auf die Rolle alternativen Denkens, wie es der Philosophie eigentümlich ist; sie kehrt zu den Freiheitswurzeln der Kultur und dem sich daraus speisenden Wissen zurück. Nicht wenig zu dieser Wende hat die wiedererwachte Streitkultur in Sachen „Genmanipulation" beigetragen, die das Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit wachgerüttelt und geschärft hat. Eine Vorreiterrolle nimmt hier der gegenwärtig entbrannte Philosophenstreit zwischen Sloterd~jk und Habermas ein, von denen der erste die Entstehung und Entwicklung der Kultur durch „Zähmung und Züchtung" charakterisiert, ja den Weg des kulturellen Fortschritts als den von „Zähmung zu Züchtung" beschreibt, von Erziehung zu Genmanipulation, und von der Zunft eine Entscheidung über die Richtung der Genmanipulation und über einen Auswahlkatalog wünschenswerter Eigenschaften fordert, der letztere hierin eine Fortsetzung des NS-Regimes und seiner Rassenpolitik sieht. Diese Debatte um das H umanismusparadigma hat die philosophische Diskussion von den Höhen des Olymps auf den Boden der Realität zurückgeholt und zur Diagnose der Gegenwart und der uns alle hautnah angehenden Probleme herausgefordert. Philosophie bleibt nicht länger draußen, sie mischt sich wieder in Lebensfragen ein, sie ist wieder öff entlichkeitswirksam geworden. Eine Gesell-

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schaft ohne Philosophie wäre auch wie der Rumpf oder die Füße eines Menschen ohne den Kopf. Das in zeitlichen Abständen immer wiederkehrende Urteil über die Bedeutungs- und Nutzlosigkeit der Philosophie für die konkreten Belange des Menschen oder der Gegenwart, das bis zur Existenzbestreitung der Philosophie reichen kann und sich in der These niederschlägt, daß ihr Ende gekommen sei und andere Disziplinen ihren Platz genommen hätten, ist kein Novum unserer Tage. In den sechziger Jahren galt als Ersatzdisziplin die politische Praxis, insbesondere die marxistische Ideologie, in den siebziger Jahren die Soziologie, in den achtziger Jahren die Wissenschaftstheorie, in den neunziger Jahren die Ökologie wie auch die Wirtschaft, der Kapitalismus pur mit dem Diktat des Marktes. Dieser Vorwurf wiederholt sich regelmäßig, solange es Philosophie gibt. Hätte er recht, so hätte die Philosophie gar nicht erst beginnen können, da sie schon von ihrem Beginn an durch andere Disziplinen ersetzt worden wäre. Schon in der Antike waren nicht eigentlich Philosophen die Geachteten - Sokrates wurde zum Tode verurteilt, Platon mußte mehrmals fliehen, Diogenes erhielt den Beinamen ,,Kyniker" (= ,,Hund"); die Beispiele ließen sich beliebig vermehren -, geachtet und geschätzt waren vielmehr die Sophisten, die durch ihr Angebot an Sachkenntnissen wie Völkerkunde, Sprachwissenschaft, Geographie ebenso wie an Methodik und Rhetorik, an Überredungs- statt an Überzeugungskunst sowie an Techniken zur Durchsetzung bei den Massen die administrativen und forensischen Bedürfnisse ihrer Zeit befriedigten und entsprechend honoriert wurden. Mag den antiken Philosophen immerhin noch einige Bedeutung zugekommen sein zumal als Pädagogen, Politik- und Rechtsberatern wie Platon und Aristoteles, so mußten sie sich in der Spätantike die Frage nach dem Sinn und Zweck ihrer Philosophie gefallen lassen, welche jetzt einzig und allein in der eudämonistischen Seelentechnik gesehen wurden. Und

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wie in der Frühzeit des Christentums die Kirchenväter von Justinian bis Augustin im christlichen Glauben die einzige rechte Nachfolgeinstanz der antiken Philosophie erblickten, so betrachteten in der beginnenden Neuzeit Bacon und die Physiker die Naturwissenschaft als alleinige rechtmäßige Erbin der scholastischen Philosophie, während Marx, der Hegel wieder vom Kopf auf die Füße stellen wollte, die politische Praxis anstelle der theoretischen Philosophie etablierte. Vor circa 30 Jahren hat Heidegger in seinem Aufsatz Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens (1969) die gleicherweise positivistische wie dialektische geschichtsphilosophische These vom zeitlichen Ende der Philosophie und Anbruch einer neuen Weltzivilisation verkündet. Das Ende der Philosophie zeige sich „als Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung. Ende der Philosophie heißt: Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation" 2 . Seelentechnik, Glaube und Religion, Naturwissenschaft und Technik, Ideologie und politische Praxis, Globalwirtschaft, Weltzivilisation - sie alle sind mit dem Anspruch aufgetreten, Nachfolgedisziplinen und Surrogate der Philosophie zu sein. Weit entfernt, „Königin der Wissenschaften" zu sein, wie Kant dies einst der Metaphysik unterstellte, ist Philosophie nur allzu oft zu einer ancilla - ancilla theologiae, anczlla scientiae, anczlla practicae- degradiert worden. Wenngleich die These vom Ende der Philosophie mit eben derselben Vehemenz, mit der sie verfochten wird, zurückgewiesen wird, läßt sie sich nicht gänzlich verharmlosen und mit dem Hinweis auf ihre Selbstwiderlegung und die Notwendigkeit eines alternativen, schöpferischen Denkens beiseite schieben. Wir haben zu fragen, warum Philosophie immer wieder ins Abseits gedrängt wird und ebenso plötzlich wieder auf ersteht. Eine Antwort darauf läßt sich nur finden, wenn man Wesen und Eigenart der Philosophie, und zwar 18

des europäischen Typs von Philosophie, genauer unter die Lupe nimmt und die Defizite desselben auf deckt und nach Möglichkeiten zur Behebung Ausschau hält. Dies läßt sich nur über eine Analyse der aktuellen geschichtlichen und kulturellen Situation - der wissenschaftlichen, politischen, ethisch-praktischen - erreichen, auf deren Probleme die Philosophie im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Antwort zu geben sucht. Ein etwaiges Scheitern wird dann auf die Frage führen, ob Philosophie in ihrer überkommenen Gestalt vielleicht überholt sei und ein anderer Typ von Philosophie verlangt werde.

1.2 Die Monomythen der Gegenwart

Versucht man, die aktuelle Situation aus globaler Sicht zu beurteilen, so zeigt sich die Dominanz von vier Merkmalen: erstens,in kultureller Hinsicht, die Dominanz der mathematischen Naturwissenschaften und der auf ihnen basierenden Technik und Technologie, neuerdings der Informatik, zweitens, in politischer Hinsicht, die Dominanz des Demokratiebegriffs, drittens, in ethisch-juristischer Hinsicht, die Dominanz des Ideals der Menschenrechte und viertens, in ökonomischer Hinsicht, die Globalisierung der Wirtschaft. Niemand wird bestreiten wollen, daß unser Zeitalter ein wissenschaftlich-technisches beziehungsweise -technologisches ist, das bis in die kleinsten Lebensbereiche hinein von den Errungenschaften der Wissenschaft und Technik geprägt ist. Zur Informationsübermittlung benutzen wir Rundfunk, Fernsehen, Telefon, Telefax, E-Mail, für den Transport Auto, Bahn, Flugzeug, Rolltreppe, für Arbeitsvorgänge ziehen wir Roboter, Automaten, Computer heran. Manuelle Arbeiten lassen wir uns abnehmen durch Rührgeräte, Waschmaschinen, Trockenschleudern, geistige Funktionen durch Rechen-, Schreib- und Sprechmaschinen, körperliche 19

Funktionen durch künstliche Nieren, Herzschrittmacher, Herz-Lungenmaschinen und so weiter. Gerade in den letzten fünfzig Jahren hat das westliche Wissenschafts- und Technikdenken einen globalen Siegeszug angetreten und auch Kulturen okkupiert, die ihm bisher entschieden Widerstand leisteten und ihre Selbständigkeit zu bewahren vermochten wie die ostasiatischen. Der Glaube an die naturwissenschaftlichen Gesetze, das Vertrauen in ihre Geltung und in das Gelingen ihrer praktischen Umsetzbarkeit sind so groß, daß Wissenschaft und Technik zur säkularisierten Religion geworden sind. vVenn von einer kulturellen Prägung durch das mathematisch-naturwissenschaftlich-technologische Paradigma die Rede ist, dann liegt hier ein bestimmter Gebrauch des Kulturbegriffs vor. Der Begriff „Kultur" hat zwei Konnotationen, eine weite und eine enge: Zum einen meint er die Gesamtheit der vom Menschen geschaffenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse, das, was die ältere Kulturphilosophie „Zivilisation" nannte, und zum anderen den spezifisch geistigen, philosophischen-literarischen und künstlerischen Überbau über die materiellen, ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse. Mit der kulturellen Prägung durch das wissenschaftlich-technische Weltbild ist nicht gemeint, daß sich diese ausschließlich auf den materiellen Unterbau bezöge und den geistigen Überbau als eigenständigen untangiert ließe, so daß gleichsam zwei Kulturen nebeneinander bestünden: eine naturwissenschaftlich-technische und eine geistige, sondern, daß die naturwissenschaftlich-technische Prägung durchgehend kultur- und zivilisationsbestimmend ist und auch in den geistigen Sektor hineinragt: Immer mehr wissenschaftlich-technische Inhalte und Methoden gewinnen Einfluß auf den geistigen Bereich, Quantifikationsmethode und Statistik finden immer ausgedehntere Anwendung in ursprünglich geisteswissenschaftlichen Gebieten und führen zu deren Einverleibung in die Domäne der Naturwissen20

schaften wie bei der Psychologie, Soziologie und Ökonomie, die Geisteswissenschaften insgesamt orientieren sich zunehmend am Exaktheits- und Präzisionsideal der Naturwissenschaften, so in kritischer Textinterpretation und -kommentierung, in akribisch philologischen Textbelegen, Texteditionen und ähnlichem. Formalisierte Sprachen verdrängen immer mehr die umgangssprachliche Orientierung in den Geisteswissenschaften und transformieren den traditionellen Wissensbegriff in einen Informationsbegriff. Unser ganzes Leben ist wissenschaftlich-technisch bestimmt, während das Geistige und Geisteswissenschaftliche sukzessiv zurückgedrängt werden. Ebenso wird man konzedieren müssen, daß weltweit der Demokratisierungsprozeß auf dem Vormarsch ist. War zur Zeit der Studentenrevolte in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Amerika und Europa die Alternative „Totalitarismus" oder „freiheitliche Demokratie" noch unentschieden und schien mehr in Richtung auf den Marxismus und den real existierenden Sozialismus zu tendieren als umgekehrt,· so ist durch den weltweiten Zusammenbruch des Marxismus die Alternative zugunsten der Demokratie entschieden worden. Historiker und Politologen wie Fukujama sprechen bereits von der Demokratie als historischer Endgestalt, auf die der Geschichtsprozeß immer schon zugesteuert sei. Mag es auch Rückfälle geben wie in den noch instabilen osteuropäischen Ländern oder retardierte Entwicklungen wegen fehlender wirtschaftlicher Basis wie in China, den Tigerstaaten und Lateinamerika, mag es auch heterogene Demoratiemodelle geben wie die käufliche Demokratie in Indien oder die an wirtschaftliche Prosperität gebundene Wirtschaftsdemokratie in Amerika und Europa, ein allgemeiner Demokratisierungsprozeß scheint unaufhaltsam zu sein und, wenngleich nicht überall und vollständig realisiert, die Idealund Zielvorstellung aller modernen Staaten zu bilden. Daß es sich tatsächlich um ein globales Ideal handelt, belegte schon 21

vor einem halben Jahrhundert (1951) ein UNESCO-Symposium3, auf dem Vertreter aller politischen Couleur, ob demokratischer und undemokratischer Staaten, ob aus marxistischen oder aus Entwicklungsländern, sich als demokratisch bezeichneten. Selbst Diktaturen pflegen ja ihren Herrschaftsanspruch vom angeblichen Volkswillen abzuleiten. Demokratie scheint die Idealumschreibung aller politischen Systeme und gesellschaftlichen Ordnungen zu sein. 4 Das dritte, in ethisch-juristischer Hinsicht leitende Ideal, das die sittliche Grundlage moderner Staaten bildet und verfassungsmäßig verankert ist, sind die sogenannten Menschenrechte, wie sie in der Aufklärung entwickelt, in der „Erklärung der Rechte" (Bill efRights) nordamerikanischen von 1776 und der französischen „Erklärung der Menschenund Bürgerrechte" von 1789 formuliert und von dort in die der Staaten aufgenommen meisten Verfassungsurkunden worden sind. Zu ihnen gehört das Recht auf Leben, Freiheit, Unversehrtheit und Sicherheit der Person, Eigentum, Bildung, freie Berufswahl, gleiche Behandlung vor dem Gesetz, Denk-, Gewissens- und Religionsfreiheit und anderes mehr. Über ihre Einhaltung wachen internationale Organisationen wie Amnesty International oder der Europäische Gerichtshof in Den Haag. Auch wenn dieser Kanon wieder und wieder verletzt wird, selbst gröblich, oder verschieden interpretiert wird, gibt es keinen modernen Staat, der sich ihm, zumindest verbal und deklamatorisch, entziehen will. Der neueste weltweite Trend betrifft die Globalisierung der W"irtschaft, die sich nicht nur ständig neue Märkte erschließt und Zug um Zug ihr weltumspannendes Vertriebsnetz verfeinert, die Produktionsprozesse je nach Profit weltweit streut und verlagert, hier abzieht, dort aufbaut, sondern die auch bestehende Betriebe, Banken, Versicherungen zu Großunternehmen fusioniert, was gleichzeitig mit dem Abbau und der Wegrationalisierung von Arbeitsplätzen einhergeht. Sie hat ein globales Machtsystem mit zentralen Steue-

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rungsapparaten und weltumspannenden Strategien installiert, das selbst von der Politik nicht mehr beherrscht wird. Gegenwärtig diktiert der Markt die Gesetze. Mit diesen die moderne Welt bestimmenden Idealen, genauer Ideologien, die unzweideutig westlicher Denkweise und Aufklärung entstammen, sind Weisen der Weltherrschaft bezeichnet, die auch „Monomythen" 5 genannt ,verden, Mythen deshalb, weil sie die neuen Glaubensdogmen bilden, und Monomythen deswegen, weil sie universell sind und damit auch der Uniformität Vorschub leisten. Der Trend zum globalen Uniformismus läßt sich auf allen Gebieten konstatieren. Ob man in dieser oder jener Metropole der Welt weilt, ob in New York, Buenos Aires, Singapur oder Frankfurt, überall benutzt man die gleichen Transport-, Kommunikationsund Unterhaltungsmittel, überall trifft man auf die gleichen Skylines von Hochhäusern, Wolkenkratzern, Betonbauten, Glaspalästen von Banken, Versicherungen und Firmen, tristen Wohnghettos, überall auf die gleichen uniformen, vollklimatisierten Hotelzimmer, überall auf die gleiche internationale Einheitsküche. Ein Geflecht uniformer internationaler Strukturen überlagert die regionalen, nationalen, historisch gewachsenen kulturellen Eigenarten, drängt die Pluralität, Heterogenität, Spezifizität und bodenständige Partikularität zurück und wirkt mit seiner Uniformierung auch desillusionierend. Nicht nur der globale Expansionserfolg der wissenschaftlich-technischen Zivilisation und die Globalisierung der Wirtschaft, sondern auch der globale Demokratisierungsprozeß und die Durchsetzung westlicher Politikvorstellungen wirken entdiff erenzierend, indem sie andersartige Systeme, Verfassungen und anthropologische Konzepte, die aus anderen Herkunftskulturen resultieren, eliminieren. Demokratie, ursprünglich eingeführt aus Achtung und Respekt vor dem Individuum, läßt durch den Globalisierungseffekt den Einzelnen zu einer nur noch in quantitativer Hinsicht interessie23

renden Stimme des Stimmvolkes degradieren. Die Person verkommt zur Masse „Mensch" - ein Vorwurf, den schon die antiken Kritiker des Demokratiegedankens nicht ganz zu Unrecht erhoben. Lebensfülle und Reichtum an Gestaltungsmöglichkeiten gehen verloren; das Resultat ist die Entpersonalisierung und Entsubjektivierung. In dieselbe Richtung wirkt die Formulierung universeller Rechte, die auf einem einzigen Menschenbild basiert und der Verwirklichung und Entwicklung anderer kulturell und religiös geprägter Menschenbilder im Wege steht. Wie sehr bereits die Menschenrechte als imperialistisch-westliche Doktrin von anderen Kulturen empfunden und angeprangert werden, hat die Vorbereitung der Menschenrechtskonferenz der UNO im Juni 1993 gezeigt. Dieselben Vorbehalte üben islamische Staaten gegenüber den westlichen, christlich-humanistisch geprägten Leitvorstellungen. Die Ausbreitung der abendländischen Werte wird durchaus als fragwürdig angesehen und als Überrollung fremder Kulturen und Normen aufgefaßt. Mit den U niformisierungstendenzen der modernen Monomythen werden deren Einseitigkeiten, Schwächen und Übel sichtbar. Längst sind sie von Kulturkritikern auf Begriffe wie Entfremdung, Vertrauensverlust, Identitätsschwund, Entgeschichtlichung, Anonymisierung, Vermassung und ähnliches gebracht worden. Versucht man, sie zu systematisieren und jeweils mit einem bestimmten Monomythos in Verbindung zu bringen, ohne ihre wechselseitige Verflechtung leugnen zu wollen, so gelangt man zu folgendem Resultat: Die Weltherrschaft des mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Paradigmas mit seinen Rationalitätskriterien, seinen in Beobachtung und Experiment sowie bei der technischen Umsetzung angewandten Abblendungs- und Abstraktionsverfahren, seiner Quantifikationsmethode bringt sowohl für das Objekt wie für das Subjekt nicht nur eine all24

seitige Verwissenschaftlichung und Versachlichung mit sich, sondern auch einen Verlust der Vielfalt von Begegnungsund Zugangsweisen. Dadurch daß das Objekt in der wissenschaftlichen Einstellung experimentell und beobachtungsmäßig manipuliert wird, aus seinem gewöhnlichen Umfeld herausgelöst und nach spezifischen Wissenschaftskriterien wie denen der Quantifikation (Zählung, Messung, Wägung) ausgerichtet wird, degradiert es zu einem artifiziellen Objekt: dem „widernatürlichen" O~jekt der Wissenschaft. Gleiches widerfährt dem Su~jekt, das in der wissenschaftlichen Einstellung seiner natürlichen Bezüge verlustig gehl, entindividuiert und anonymisiert wird. Objekt wie Subjekt sind unter denselben Bedingungen jederzeit reproduzibel und austauschbar. Dies gilt auch von der technischen Produktion von Gegenständen, bei der an die Stelle der Fülle individueller handwerklicher Arbeiten uniforme, serienmäßig hergestellte Massenprodukte treten. Da die wissenschaftlichtechnische Methode auf der Vorherrschaft des Intellekts beruht, bedeutet dies den Ausschluß aller anderen Wissensformen und Erfahrensweisen - bezüglich des O~jekts die Exklusion aller Qualitäten, Habitualitäten und Werte, bezüglich des Subjekts die Exklusion aller sinnlichen, emotionalen, stimmungsmäßigen und leiblichen Erlebnisweisen. Die einseitige Herrschaft der Rationalität - eines bestimmten 'fyps von Rationalität, wie sich zeigen wird - verbindet sich im Selbstverständnis des Menschen mit Entsinnlichung und Entzauberung der Welt, mit Verlust der Lebensfülle und der Entbindung von der Lebenswelt. Da derselbe Rationalitätstyp auch die Wirtschaft beherrscht, ist hier die gleiche Entpersonalisierung, die gleiche Vernichtung des Individuums im Namen eines autonom und anonym gewordenen Überlebenskampf es zu beobachten. Wie Subjekt und Objekt in der wissenschaftlich-technischökonomischen Einstellung aus ihrer normalen Umgebung herausgelöst werden, so werden durch die Weltherrschaft

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gleicher ethischer Normen - und sei es nur in Form eines Minimalkonsenses - und gleicher sozialer und politischer Organisationsformen die Subjekte von ihren Ursprungstraditionen, ihren gewachsenen historischen Bindungen getrennt und sich selbst entfremdet. Eine Entgeschichtlichung, ein Kontinuitäts- und Identitätsverlust sind die Folge, bestimmt sich doch der Mensch als geschichtliches Wesen nach der Frage seines Woher und Wohin. Kann diese Frage durch den Verlust der eigenen Herkunftskultur und der eigenen Geschichtlichkeit nicht mehr befriedigend beantwortet werden, so droht ein Selbstgefühlsverlust. Das Herausreißen des Menschen aus seiner natürlichen Umgebung durch das wissenschaftlich-technisch-ökonomische Paradigma sowie die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen Geschichte durch die U niformisierungstendenzen in Sitte, Moral, Recht und Gesellschaft wirken zusammen, um übermächtige, sich verselbständigende Monomythen auf zubauen, die nicht mehr der Mensch beherrscht und kontrolliert, sondern die ihn beherrschen und kontrollieren. Eine Vertrauens- und Identitätskrise ist unvermeidlich. Verstärkt wird sie durch die sich ständig beschleunigende Zivilisationsdynamik mit ihren immer neuen Innovationsschüben, die einerseits zu einer Komplexitätssteigerung, andererseits zu einem permanenten Wertewandel, einer Relativierung geltender Lebensformen und Normen, führen. Eine allseitige Desorientierung ist unvermeidlich. 6 Das Bewußtsein der Folgeschäden der modernen Welt ruft Gegenreaktionen hervor, die dreifacher Art sein können: Eine der Möglichkeiten besteht in der Akzeptanz des geschichtlich Gegebenen - der Moderne -, die von Affirmation bis zu defätistischer Resignation und dem Sich-Fügen in das Unvermeidliche reicht. 7 Mit ihr verbindet sich das Bemühen, die Defizite der modernen Zivilisation durch eine Kompensationsbereitschaft auszugleichen, um auf diese Weise eine Balance zwischen Ungleichheiten herzustellen und zur Stabi-

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lität beizutragen. Diese Haltung hat ihren Frieden mit der Moderne geschlossen; sie versucht nur, die Unerträglichkeiten zu mildern, das heißt zu kompensieren. Politisch ist diese Einstellung nicht selten mit einem Kulturkonservatismus verbunden und beruht auf einer Nichtkrisentheorie. Eine zweite Möglichkeit besteht in der gedanklichen Aufklärung und Durchdringung der modernen Situation mit einer latenten Bereitschaft zur Systemveränderung. Da der theoretischen Bewußtrnachung die Tendenz zum Bewußtseinswandel und zur praktischen Veränderung innewohnt, weist sie eine kritisch-destruktive wie normativ-konstruktive Seite auf. Politisch könnte man sie als ideologiekritisch bezeichnen mit einem Hang zu Neuem. Eine dritte Möglichkeit besteht in der Gegenreaktion durch Handlung. Sie kann von behutsamer Umgestaltung bis zu revolutionärer Praxis, zu Agitation also, reichen. Ihr Medium ist nicht mehr nur das Denken und Analysieren, sondern das Handeln und Agieren. Politisch ist sie progressiv und zielt auf eine Änderung der bestehenden Verhältnisse, auf eine Überwindung der vorhandenen Mängel. Wird Philosophie wie in der Gegenwart als ein möglicher Kandidat zur Krisenbewältigung und zur Beseitigung der Folgeschäden der Moderne betrachtet, so muß sie, wenn sie den verschiedenen Einstellungen gerecht werden soll, in verschiedener Gestalt und Funktion auftreten: - als Akzeptanz- und Legitimationswissenschaft der wissenschaftlich-technischen ·weltsicht und ihrer uniformistischen ökonomischen, sittlichen und politischen Ausrichtung, quasi als nachträgliche Rechtfertigung der Moderne oder, krasser, um Mittelstraß zu zitieren, in der „N achtwächterrolle" 8 und zugleich als Kompensationswissenschaft, die die Modernisierungsschäden auszugleichen hat, - als Aufklärungs- und Reflexionswissenschaft, die sich in der Rolle einer Grundlagenforschung und Grundlagenrefle-

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xion mit den Prinzipien, Voraussetzungen und Bedingungen der modernen Welt befaßt, - als Handlungswissenschaft, die tatsächlich eingreift und Änderungen herzustellen sucht. Diese Auf gaben teilen sich verschiedene Gestalten der Gegenwartsphilosophie, indem sie dieselben entweder ausschließlich oder vorzugsweise übernehmen: Der ersten Aufgabe kommt vor allem die traditionsorientierte, das heißt die geisteswissenschaftlich ausgerichtete Philosophie nach, der zweiten Aufgabe die problem- und sachorientierte, die systematisch-kritische Philosophie und der dritten Aufgabe die praxisbezogene Philosophie. Im folgenden sollen Leistungen wie Verfehlungen der Philosophie in bezug auf die an sie herangetragenen Ansprüche genauer überprüft werden.

1. 3 Philosophieals Kompensationswissmschqfi Die Kompensationsthese, angewandt auf Philosophie und im weiteren auf Geisteswissenschaften, zu denen die geisteswissenschaftlich orientierte Philosophie gehört, ist gegenwärtig eine der meistdiskutierten und meistumstrittenen Thesen. Sie geht auf eine eher beiläufige, keineswegs im Zentrum des Denkens stehende Bemerkung Joachim Ritters zurück, daß den Geisteswissenschaften kulturpolitisch in bezug auf die moderne, durch Geschichtslosigkeit gekennzeichnete Gesellschaft eine kompensierende Wirkung zukomme. In einem Vortrag von 1961 Die Azigabe der Gefrteswissenschqfienin der modernen Gesellschqfispricht Ritter davon, daß die moderne Gesellschaft „ eines Organs bedarf, das zhre Geschichtslosigkeit kompensiert und für sie die geschichtliche und gefrtige Welt des ll1enschen dfen und gegenwärtig hält, die sie außer sich setzen 9 m1,yl' . Die Ritter-Schüler Odo Marquard und Hermann Lübbe haben diese These essayistisch und feuilletonistisch herausgeputzt und auf diese Weise publik gemacht, Mar-

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quard mit dem Bonmot, das die Grundthese seiner Bamberger Rede vom 5. Mai 1985 anläßlich der Jahresversammlung der Westdeutschen Rektorenkonferenz bildet: ,,Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher werden die Geisteswissenschaften." 10 Ebenso vehement und impulsiv, wie die These vertreten wird, wird sie bestritten, so von Schnädclbach, Meier und N egt. 11 Soll die den Geisteswissenschaften zugeschriebene Kompensationsfunktion in bezug auf die Naturwissenschaften, welche letzteren für bestimmte Defizite der modernen Gese11schaft wie deren Geschichtslosigkeit verantwortlich oder mitverantwortlich gemacht werden, einleuchten, so bedarf es der Herausarbeitung der inhaltlichen und methodischen Unterschiede zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Eine solche haben vor a11em die Hermeneuten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, Dilthey, Heidegger und Gadamer, geleistet in der Absicht, die Geisteswissenschaften aus dem Schatten der Naturwissenschaften zu befreien, in dem sie seit je standen, sie durch Konzedierung eigener Themen und Methoden aufzuwerten und ihre Selbständigkeit gegenüber den anders gearteten Naturwissenschaften zu sichern. Sind die Gegenstände der Naturwissenschaften die künstlich präparierten, von aller Besonderheit und Konkretheit abstrahierten Objekte und die sie bestimmenden allgemein notwendigen und intersubjektiv kommunikablen Gesetze, so sind die Gegenstände der Geisteswissenschaften die Einzeldinge in ihrer Individualität, konkreten Seinsfülle und geschichtlichen Singularität. Thema der Geisteswissenschaften sind Texte, Kunstwerke, historische Situationen, psychische Zustände, kurzum alles, was vollkonkret und einmalig ist. Während die Naturwissenschaften methodisch begründend und erklärend verfahren durch Reduktion der individuellen Fälle auf allgemeine und abstrakte Gesetze bzw. durch Deduktion aus diesen, verfahren die Geisteswissenschaften verstehend und idiographisch. Sie versuchen, den Gegenstand 29

oder Sachverhalt aus seiner einmaligen, unverwechselbaren geschichtlichen Situation mit allen Bezügen zur Gegenwart und Vergangenheit zu begreifen. In letzter Zeit hat man die Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften dadurch zu definieren versucht, daß man bezüglich der ersteren von der „einen Geschichte" spricht, die erzählt wird, bezüglich der letzteren von den „vielen Geschichten". 12 Sofern die Naturwissenschaften auf schlechthin allgemeine, universelle Gesetzmäßigkeiten und Intersubjektivität abzielen, zielen sie auf eine einzige Geschichte ab, während die Geisteswissenschaften aufgrund der Vielheit von Lebens- und Sinnentwürf en auf Pluralität abstellen. 13 Der Kompensationsgedanke besagt nun, daß die Geisteswissenschaften der Uniformierung einerseits, der Geschichtslosigkeit andererseits entgegenwirken, indem sie sich der Fülle von Ausgestaltungen und Lebensentwürfen in Literatur, Kunst und Geschichte annehmen. Sie haben die Aufgabe, einerseits die Entpluralisierung und Desensibilisierung wettzumachen durch „Sensibilisierungsgeschichten" 14 und ,,Dennoch-Verzauberung" 1", andererseits den durch die Enthistorisierung bedingten Vertrauens- und Identitätsverlust aufzufangen durch eine dezidierte Hinwendung zu den eigenen Herkunftskulturen und der eigenen Geschichte. Als ,,Ersatzreligion" kommt den Geisteswissenschaften eine soteriologische Funktion zu, ähnlich wie der Heilsgeschichte im Christentum. Die Geisteswissenschaften sollen das Sinnvakuum füllen. Damit wird verständlich, daß die Kompensationsthese die moderne Fortsetzung des in der Aufklärung etwa von Leibist, niz entwickelten und vertretenen Theodizeegedankens der von der grundsätzlichen Gutheit der Welt ausgeht - Gott hat die beste aller möglichen Welten geschaffen - und die nicht zu leugnenden Mängel durch anderweitige Vorteile aufgewogen sein läßt. Die von der Vorsehung auferlegten Weltübel sollen ausgeglichen werden durch die vorhandenen 30

Güter. ,,Die Geisteswissenschaften historisieren und ästhetisieren das altphilosophische und alttheologische Pensum des menschlichen Selbstverständnisses und retten es so, auf die Modernisierungen antwortend, für die moderne Welt." rn Da die vorfindliche Welt prinzipiell als zustimmungsfähig, wenngleich als kompensationsbedürftig gilt, verbindet sich politisch, genauer kulturpolitisch, mit dem Kompensationsgedanken ein Neokonservativismus, der die kulturelle Moderne, die naturwissenschaftlich-technisch bestimmte \Velt einschließlich ihrer ethischen Normen und politisch-sozialen Organisationsform wie auch ihrer Ökonomie, akzeptiert und die Defizite durch geisteswissenschaftliche Pluralität, Musealisierung und Traditionsbewahrung erträglich zu machen sucht. Harmonie, Balance, Stabilität bilden die Zielvorgaben. Der kulturelle und politische Fortschrittsgedanke einschließlich der Revolutionsideologie werden negiert. Eine kritische Analyse der Kompensationstheorie scheint angebracht sowohl in formaler wie inhaltlicher Hinsicht. Konzediert man einmal das Zutreffen der Kompensationsaufgabe für die Geisteswissenschaften, so ist zunächst und vor allem zu fragen, ob Philosophie überhaupt eine Geisteswissenschaft ist und damit unter das Kompensationsdiktat fällt. Zwar wird Philosophie heute im Wissenschaftskanon zu den Geisteswissenschaften gezählt, aber im eigentlichen Sinne ist sie keine historisch-hermeneutische Disziplin. Sie hat hierin einerlei Schicksal mit anderen zu den Geisteswissenschaften gerechneten nicht-hermeneutisch-historischen Disziplinen wie der Psychologie, Soziologie, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre. Als multidimensional umfaßt Philosophie einen Komplex typisch sachlich-systematischer Bereiche wie Logik, Wissenschaftstheorie, analytische Philosophie, Ethik und einen Komplex historisch-narrativer, traditionsgeschichtlich ausgerichteter Teile wie Ideen- und Problemgeschichte, Textinterpretation, Edition. Aber auch in der letzteren Gestalt geht es im Endeffekt nicht um historische Pro31

bleme als solche, sondern um sachlich-systematische in historischem Kontext. Philosophie geht in den Geisteswissenschaften nicht auf. Die Nichtidentität von Philosophie und Geisteswissenschaften läßt sich anhand dreier Argumente belegen: eines historischen, eines systematischen und eines methodischen. Erstens: Die Geisteswissenschaften sind eine Geburt des 19. Jahrhunderts und allererst im Zuge der Ausgestaltung der Naturwissenschaften entstanden. Sie sind nicht älter, sondern jünger als diese und nehmen insofern Bezug auf sie zumindest unter anderem -, als sie deren exakte und präzise Methoden, die das Ideal der Wissenschaftlichkeit bilden, auf den Umgang mit der Tradition anzuwenden und so zu einer beizuder Traditionsaufarbeitung Verwissenschaftlichung tragen versuchen, sei es in Form exakter Textexegese und -kommentierung, sei es in Form akribisch philologischer Untersuchungen. \iVährend sie eine Reaktion auf die schon vorhandenen Naturwissenschaften darstellen, geht Philosophie denselben voraus, ist also älter als Grundlagenwissenschaft als alle Wissenschaften, und zwar so alt wie das Denken selbst. Die Wissenschaften sind eine Geburt der Philosophie, nicht umgekehrt. Auch wenn wir uns heute Philosophie nicht ohne die kritischen Methoden der Geisteswissenschaften vorstellen können, ist sie an diese nicht gebunden, wie der willkürliche, plagiatorische Umgang mit klassischen Texten seit der Antike bis ins 19. Jahrhundert, besonders in der Renaissance, belegt. Zl.1/eitens:Selbst der Einbezug geisteswissenschaftlicher, das Elemente in die Philosoheißt historisch-hermeneutischer phie hindert nicht, daß es auch bei der Traditionsaufarbeitung letztlich immer um sachlich-systematische Fragen und Antworten geht. Die historischen Ausgestaltungen dienen als und Lösungsangeparadigmatische Problemkonstellationen bote, die nicht wegen ihres historischen Gewandes, sondern wegen ihrer Sachrelevanz interessieren, auch wenn oft eine 32

allzu große Historisierung das Sichtbarwerden philosophischer Probleme hindert, was Adorno zu dem Ausspruch veranlaßte: ,,Als Kinder sind wir alle Philosophen; später wird uns das dann ausgetrieben. " 17 Historisches Wissen ist nicht notwendig für ursprüngliches philosophisches Fragen, wie es vor allem Kindern, Naiven und Geisteskranken zugeschrieben wird, sondern hindert es eher. Drittens: Philosophie und Geisteswissenschaften unterscheiden sich nicht zuletzt darin, daß eine Reflexion auf die eigenen Grundlagen der Disziplin - auf die Prämissen, Methoden und Operationsmittel - nur philosophisch, nicht geisteswissenschaftich möglich ist. Zwar gibt es eine Geschichte der Philosophie ebenso wie eine Geschichte der Geisteswissenschaften, aber sie stellt noch keine Selbstaufklärung dar. Letztere kann nur philosophisch erfolgen, sowohl ipsoreflexiv bei der Philosophie wie reflexiv bei den Geistes- und Naturwissenschaften. Philosophie ist insofern kritisch-argumentative Aufklärung der eigenen Bedingungen wie auch kritisch-argumentative Aufklärung der anderen Wissenschaften. Auch in dieser Hinsicht geht sie allen anderen Wissenschaften voran und liegt ihnen zugrunde. Damit entfallen im Blick auf die Philosophie auch die inhaltlichen Vorwürfe, die man gegen die Kompensationstheorie erhoben hat, wie die Degradierung der Geisteswissenschaften zu einer bloßen Ersatzreligion (Ersatzverzauberung, Ersatzversinnlichung und so weiter) oder die Entsubstantialisierung derselben, das heißt die Herabsetzung zu einer bloß narrativen, Geschichten erzählenden Disziplin, die, gemessen an den verabsolutierten Maßstäben der Naturwissenschaften, sekundär und nachgeordnet ist. Wird Philosophie als Grundwissenschaft aufgefaßt, die allen übrigen vorausgeht, so hat sie auch substantielle Auf gaben zu erfüllen.

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1. 4 Philosophie als Aujklärungswz:uenschafl

Wenn Philosophie keine Geisteswissenschaft ist und damit auch keine Reaktion auf die naturwissenschaftlich-technisch dominierte Welt, was sie zu einer Lückenbüßerrolle und Nachtwächterfunktion degradieren würde mit der Aufgabe, Desiderate auszufüllen, wenn sie vielmehr vorauseilend und begleitend generelle Grundlagenreflexion ist, und zwar Reflexion sowohl auf die eigenen Grundlagen wie auch auf die der übrigen Wissenschaften (Geistes- und N aturwissenschaften), so tritt sie als Reflexionswissenschaft mit Aufklärungsfunktion auf. Ihr fällt die Aufgabe zu, die gegenwärtige kulturelle Situation einschließlich der Gesellschaft, Politik, Ökonomie, Ökologie und Ethik zu analysieren und damit transparent, beurteilungs- und entscheidungsfähig zu machen. Mit dieser Aufklärungsfunktion verbindet sich eine Reihe von Merkmalen bezüglich Objekt, Methode und Status, die zum Zwecke einer Standortbestimmung der Philosophie näher ins Auge zu fassen ist. Erstens: Umfassende Aufklärung setzt einen Überblick über die gesamte gegenwärtige kulturelle Situation sowie einen Vergleich mit anderen historischen Situationen voraus, was nicht zuletzt die starke Geschichts- und Traditionsgebundenheit der Philosophie erklärt, die nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck ist, nämlich zur Beurteilung der geschichtlich bedingten und bestimmten Gegenwart. Thema der Philosophie ist nicht wie in den Einzelwissenschaften ein Spezialgebiet oder Teilbereich, sondern das Ganze. Seit Aristoteles wird Philosophie als prima philosophia bestimmt, die sich mit dem Seienden als solchem und im ganzen befaßt. Auf interdisziplinären Tagungen von Fachwissenschaftlern wird der Philosoph primär als „Generalwissenschaftler" angesprochen und nach seiner „generellen", ,,umfassenden" Meinung befragt. Obwohl die Frage dem Vertreter einer bestimmten Disziplin gilt, wird von ihm eine fächerübergrei34

fende, interdisziplinäre Antwort erwartet; denn wer sonst als der Philosoph sollte ein Wissen vom Ganzen besitzen, das die Scheuklappen des Fachwissenschaftlers abgestreift und das Schubladendenken überwunden hat, welches den Spezialwissenschaftler oft so borniert und engstirnig macht. Die Art des fächerübergreifenden Wissens ist nicht enzyklopädisch im Sinne einer bloßen Aggregation des Sachverstandes der Spezialwissenschaftler - dies würde die Philosophie zu einer Universalwissenschaft machen -, sondern integrativ, dergestalt, daß eine Sinndeutung des Ganzen angeboten wird und Interpretationsmodelle zur Diskussion gestellt werden. Philosophie hat von dort eine integrative Funktion, die um so dringlicher ist, je weiter die Spezifikation und Differenzierung der Einzelwissenschaften voranschreitet. Soll das Fachwissen, sollen die Fachmethoden und -operationsmittel nicht gänzlich auseinanderfallen, so bedarf es eines integrativen Überblickswissens, das zu erbringen Aufgabe der Philosophie ist. Zweitens: Freilich gibt es auch andere integrativ wirkende geistige Disziplinen, die ganzheitliche Lebensentwürfe und Sinngebilde anbieten wie die Kunst, insbesondere die Dichtung, die Mythologie, die Religion, die Weltanschauung. Romane erfüllen oft dieselbe Funktion. Von ihnen unterscheidet sich die philosophische Interpretation durch die Methodenhaltung, die im Gegensatz zur spielerischen Kunst, zur glaubensmäßig gebundenen Religion streng argumentativ und folgerichtig verfährt, wenngleich auf eine Weise sui generis, und damit enger an die Wissenschaften anknüpft als jene und die Philosophie zur Grundlagendisziplin der Wissenschaften qualifiziert. Obwohl die Philosophie nicht auf bestimmte Methoden fixiert ist wie die Einzelwissenschaften, sondern sich offen hält für die Vielfalt von Möglichkeiten, verlangt sie den rationalen Nachvollzug ihrer Argumente, desgleichen eine intersubjektive Kontrolle. Philosophie ist mehr als nur ein subjektives Gedankenspiel. Niemand hat 35

dieses Schwanken zwischen Freiheit und Gebundenheit treffender zum Ausdruck gebracht als Platon, wenn er im sechsten Brief1 8 Philosophie als „ernste Schwester des heiteren Spiels" bezeichnet, als „Verbindung von wissenschaftlichem Eifer und heiterem Geistesspiel" . 19•20 Und nicht zuletzt drückt sich im Namen „Philosophie" als Liebe zur Weisheit, als Suchen und Ringen um Einsicht, der Unterschied ihrer Methodenhaltung zu den absolute Sicherheit beanspruchenden Wissenschaften aus: Sind diese auf bestimmte Methoden eingeschränkt, so ist die Philosophie in der Wahl ihrer Methoden frei, aber sich selbst bindend. Drittens: Da Inhalt und Methode der Philosophie von anderer Art sind als Inhalt und Methode der Wissenschaften das Ganze auf der einen Seite, Teilgebiete auf der anderen, Zetetismus dort, Dogmatismus hier -, folgt daraus, daß Philosophie keine Wissenschaft unter Wissenschaften ist, weder eine Natur- noch eine Geisteswissenschaft, auch nicht eine Synthese der Fachwissenschaften oder eine monarchische Grundwissenschaft oder Wissenschaftstheorie, sondern eine reflexive Klärung und Sichtung aller Wissenschaften und der durch sie bestimmten Weltsichten, kurzum das, was wir „kritische Urteilskraft" nennen, verbunden mit der aus der Kritik erwachsenden Möglichkeit zu Neuentwürfen. Da Forschung stets zwei Seiten aufweist, eine retrospektive, negativ-kritische und eine prospektive, positiv-konstruktive und normative, muß Philosophie beiden Seiten Rechnung tragen. Einerseits soll Philosophie das Vorgegebene, sowohl das aktuell Vorfindliche wie das geschichtlich Tradierte, kritisch, skeptisch untersuchen auf das hin, was haltbar und tragfähig ist jetzt und in Zukunft, und auf das hin, was anmaßend und unberechtigt und daher zu eliminieren ist. Kritik, wie sie zum Beispiel Kant als Titel seines Hauptwerkes Kritik der reinen Vemunfl verwendet, geht auf das griechische kri,nein mit der Bedeutung „sondern", ,,scheiden" zurück und meint, daß so, wie die Spreu vom Weizen geschieden 36

werde, in der denkerischen Aufarbeitung das Unwichtige und Unwesentliche vom Wichtigen und Wesentlichen zu trennen sei. Philosophie als methodische Zweifelsübung an allen Inhalten und Formen, sogar noch am Zweifel selbst, ist radikale Infragestellung, die sich selbst nicht verschont, um möglichst sichere Fundamente zu gewinnen. Als pyrrhonische Skepsis steht sie am Anfang der antiken Philosophie, als cartesianischer Zweifel am Beginn der Neuzeit. Andererseits erschöpft sich Philosophie nicht in den negativen Akten des Zweifels und der Kritik, sondern verfährt durch den Entwurf neuer theoretisch sinngebender und ethisch normativer Modelle konstruktiv. Indem sie alternative Konzepte projektiert und diskutiert, ist sie der Versuch, Neues zu definieren. Im letzteren Sinne stellt sie eine Orientierungswissenschaft dar und ist, mit Lübbe zu sprechen, so 21 etwas wie ein „Orientierungskrisen-Management". Beide Handlungen, die negativ-kritische wie die positivkonstruktive, gehören zusammen, wenngleich sie historisch oft getrennt nach Epochen und Philosophen auftreten. Während die einen sich in Traditionskritik ergehen, liefern die anderen systematische Entwürfe. 22 So lassen sich die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Epoche des NeinSagens unter den Intellektuellen klassifizieren, als Epoche der Ablehnung der wissenschaftlich-technischen Kultur und ihrer Ausformung im mechanistischen Weltbild, der Demokratie-, Parteien- und Politikerverdrossenheit, der Relativierung ethischer Werte. Mit Marquards Worten hatte man es mit einer „Negativierungswirkung von Übererwartungen", einer „Übelstandsnostalgie der Wohlstandswelt", einem 23 „nachträglichen Ungehorsam" zu tun, die zu verstehen waren aus der Resignation nach dem Scheitern der revolutionären Ideen der sechziger Jahre. Dem ist inzwischen eine pragmatische Einstellung gewichen, die an ökonomischmaterialistischen Ideen orientiert ist.

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Faktum ist, daß es seit dem Zusammenbruch des Deutschen Idealismus und seiner großen Systemkonstruktionen im 19. Jahrhundert keine nennenswerten N eukonstruktionen mehr gegeben hat, offensichtlich wegen der enormen Schwierigkeiten, die mit der wachsenden Fülle des zu berücksichtigenden Materials und mit dem Beschleunigungseffekt, in immer kürzerer Zeit immer größere Mengen an Daten bewältigen zu müssen, zusammenhängen; denn verlangt wird ja nicht nur eine Allerweltsstellungnahme wie bei einem versierten Zeitungsleser, sondern eine fundierte, auf Gründe sich stützende Beurteilung. Je größer die Schwierigkeiten des zu bewerkstelligenden Programms sind oder als solche empfunden werden, je deutlicher das Unvermögen und die U nzulänglichkeit des Einzelnen hervortreten, desto anmaßender erscheint der Versuch, etwas wirklich Bedeutungsvolles und Verbindliches zu sagen. Die Funktionsbeschreibung der Philosophie als Aufklärungswissenschaft deckt „Glanz und Elend" 24 derselben auf, Glanz insofern, als die Philosophie die einzige Disziplin ist, die nicht allein zu einer Selbstreflexion, sondern auch zu einer Fremdreflexion, einer Reflexion auf die anderen Wissenschaften, fähig ist, und Elend insofern, als diese Reflexion letztlich nur theoretisch bleibt und niemals praktisch wird. Zwar bildet sie die unerläßliche Voraussetzung für praktische Entscheidungen und Beschlüsse und ist um so dringlicher, je gravierender die Entscheidungen sind, aber sie bietet nur theoretische Alternativen an und überläßt die Entscheidung der Praxis. Darin liegt auch der Grund, warum die Philosophie sich das Image eines „Elfenbeinturms" oder eines „Orchideenfachs" oder einer „bloß akademischen Philosophie" zugezogen hat, die nur in Wortgefechten, Sprachspielen und unverbindlichen Wortklaubereien bestehe, sich jedoch der Verpflichtung und Verantwortung für reale Entscheidungen, das heißt für „reale Politik" entziehe. Bekanntlich verhalten sich Reflexion und Lebenspraxis reziprok, nämlich so, 38

daß, je höher die Reflexion steigt, desto tiefer die Fähigkeit sinkt, praktische Entscheidungen treffen zu können, und umgekehrt je größer die Entscheidungs- und Handlungsfreudigkeit ist, desto geringer der Reflexionsgrad ist. Das hängt damit zusammen, daß große Über- und Einblicke mit einer Fülle von Alternativen konfrontieren, deren Konsequenzen selbst gedanklich nicht ins Unabsehbare verfolgt werden können, sondern nur ein Stück weit, bis sie sich im Dunkel verlieren. Das Bewußtsein dieser Situation, das Nicht-erkennen-Können aller Konsequenzen, lähmt die Entscheidungsfreude, zumal sich der Philosoph der Tragweite seiner Handlungen nicht nur nicht unbewußt, sondern hochgradig bewußt ist. Der Verlust der Ursprünglichkeit, die den Realmenschen kennzeichnet, ist reflektorisch nur über einen unendlichen Weg wiederzugewinnen. Der in der Praxis geforderte Handelnde und Entscheidende ist demgegenüber „naiv"; ob seine Wahl fruchtbar ist oder nicht, zeigt erst der spätere Erfolg oder Mißerfolg.

1. 5 Philosophie alr Handlungswissenschaft

Liegt das Defizit einer rein theoretischen Philosophie in der Dauerthematisierung von Problemen und in dem Mangel an Praxisbezug, so sucht die pragmatisch ausgerichtete Philosophie diesem Mangel abzuhelfen. ,,Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern" - dieser Satz von Marx aus der 11. FeuerbachThese ist zum Leitmotiv aller Handlungswissenschaften und so auch der sich als handlungswissenschaftlich gerierenden Philosophie geworden. Da sich Praxisnähe und Praxisbezogenheit auf ganz unterschiedliche Weise und in ganz unterschiedlichen Graden realisieren, sind sie kurz zu explizieren.

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Erstens: Die schwächste Form eines Praxisbezugs ist die die dem PhilosoKooperations- und Integrationsfunktion, mit fachspeziTeamwork beim und Fachtagungen auf phen fisch ausgerichteten Wissenschaftlern zufällt, sofern er sich in der Rolle eines Universalisten oder Globalisten versteht. Angesichts der ständig steigenden Informationsflut, der zunehmend detaillierteren Erkenntnisse und der immer größeren kulturellen, sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Vernetzung ist der einzelne Experte hoffnungslos überfordert und durch Lückenhaftigkeit charakteund Teamarbeit risiert, die nur durch lnterdisziplinarität ist es Philosophen des Aufgabe kann. wettgemacht werden dann, mittels einer allgemeinverständlichen Sprache Begegnung zu ermöglichen, trotz aller Konfrontation und parzellierten Einstellung Wechselgespräche einschließlich wechselseitiger Korrekturen zustande zu bringen, bei aller Perspektivenvielfalt dennoch Gemeinsamkeiten zu finden. Je größer der Wissendie Fächervielfalt und die Ausdifferenzierung schaften sind, je spezialisierter die Forschung wird, desto mehr ist die sprachlich vermittelte sachbezogene, aber praxisrelevante Kooperations- und Integrationsfunktion vonnöten. Und nicht nur zwischen Experten ist diese Dialogfähigkeit gefordert, sondern auch zwischen Experten und Laien. Zweitens: Eine ebenfalls noch relativ gemäßigte Form ist die sogenannte „Brückenfunktion zwischen Theorie und Praxis", die der Philosoph ausüben muß, wenn er Fachleute zur praktischen Zusammenarbeit vereinen will. Es genügt meist nicht, als Generalist oder Universalist aufzutreten, sondern der Philosoph muß selbst in seiner Person Theorie und Praxis vermitteln. Wer heute auf Fachtagungen wirklich integrieren und ernsthaft zu aktuellen Problemen, zum Beispiel physikalischen, ökologischen oder gentechnischen, Stellung nehmen will, muß selbst zum Teil Fachwissenschaftler sein, Quantenphysik studiert haben, ökologische Arbeit vor Ort geleistet haben oder auf dem neuesten Stand der Gentechnik sein.

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Verlangt wird ein Halbspezialistentum, um eine ,Jachwissenschaftliche Mitführkompetenz" 25 ausüben zu können. So wenig angemessen es wäre, nur Universalist zu sein, so fatal wäre es, sich in der U nermeßlichkeit der Spezialwissenschaften zu verlieren. Auf dem Vveg zum Fachidioten ginge das Allgemeinwissen verloren; nur zwischen den Extremen kann der Philosoph seine Aufgabe erfüllen. Konkret bedeutet dies, daß er sich gegenüber dem Fachwissenschaftler Freiräume zur Projektion und Konstruktion von Ideen, Theorien und Normen einschließlich Utopien bewahren muß, in die seriöse Fachforschung sich nicht zu springen getraut . .Drittens: Ein schon stärkerer Grad praktischer Einwirkung ist die Stellungnahme zu allgemeinmenschlichen, lebensrelevanten Problemen, seien sie gesellschafts-, kultur-, bildungspolitischer, ethischer Art. Die Stellungnahme kann öffentlich erfolgen oder in privaten Zirkeln, über Rundfunk, Fernsehen oder Publikation, in Form von Round-table-Gesprächen oder in essayistischer und feuilletonistischer Weise als Kommentierung in Zeitungen oder Beitragslieferung in Fachzeitschriften, sie kann bis in Planungs- und Entscheidungsgremien von Institutionen hineinreichen. Zur Diskussion stehen a1le aktuellen Themen, angefangen von der Bevölkerungsexplosion und Geburtenkontrolle, über Euthanasie und Eugenik bis hin zur politischen Ost-West-Beziehung, zum wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälle, zur Differenz zwischen hochindustrialisierten Staaten, Entwicklungsländern und Schwellenländern, Umweltverschmutzung, Verkehrsinfarkt, Globalisierung der Wirtschaft und so weiter. Während die Philosophie in Deutschland aufgrund ihrer starken akademischen Verwurzelung sich dieses politischen Instrumentariums stets begeben hat, mit wenigen Ausnahmen wie dem Soziologen Habermas und dem Philosophen Sloterdijk, existiert in Frankreich eine lange Tradition - oft belächelt und geschmäht als Kaffeehaus-Philosophie -, nach der Intellektuelle zu politischen Alltagsfragen Stellung neh41

men und sich aktiv durch Organisation oder Teilnahme an Massendemonstrationen, Kundgebungen und Protesten beteiligen. Die französischen Philosophen sind häufig zugleich Journalisten, Reporter, Feuilletonisten oder auch Dramaturgen und Romanciers. Ein Beispiel hierfür ist Sartre, der mit seinem politischen Bühnenstück Die Fliegen zum Vorbild einer ganzen Generation wurde; aus unseren Tagen ist der Journalist Andre Glucksmann zu nennen, der mit seiner Zustimmung zur französischen Atompolitik als Schutzschild für Europa Furore machte. Der französische Existenzialismus, schon von sich aus prädestiniert für Grenzfragen wie Tod, Schicksal, Schuld, Krieg, übte nach dem zweiten Weltkrieg einen starken politischen Einfluß aus. Die Kombination von Philosophie und essayistischer sowie schöngeistiger Literatur, gemischt mit Tagespolitik, ist auch für Lateinamerika typisch. Philosophen sind oft zugleich Literaten und bekleiden hohe Staatsämter. Auch in den angelsächsischen Ländern gibt es aufgrund der pragmatisch, teilweise utilitaristisch ausgerichteten Philosophie Zusammenhänge mit der Politik: Russell und Popper haben in England politische Wirkung erzielt; in den USA gibt es eine Zeitschrift Phi!o6 sophy and Pub!ic Affair.S" . Viertens:Die massivste Form praktischer Philosophie ist die Ideologisierung philosophischer Theorien. Sie geschieht, wenn philosophische Ideen nicht allein popularisiert, sondern zu Doktrinen politischer Agitation werden bis hin zu Kampfmitteln in Revolutionen. Zwei Ideologisierungen aus den vergangenen Jahrzehnten sind bekannt: der Marxismus und die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. Die Wirksamkeit des Marxismus läßt sich weniger auf die ökonomische Theorie von Marx zurückzuführen als vielmehr auf seine gesellschafts- und geschichtsphilosophischen Thesen, die ihrerseits auf Hegel zurückgehen. Nach Löwith 27 wäre Hegel ein „toter Hund" geblieben, wenn sich nicht der Marxismus

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seiner bemächtigt hätte, ihn, mißverstehend und uminterpretierend, vom Kopf auf die Füße gestellt hätte. Ebenso haben sich die ursprünglich sozialphilosophischen Theorien der Frankfurter Schule, Horkheimers, Adornos, Marcuses, Habermas', nur durchsetzen können, dadurch daß sie zunächst mit einem Mantel der ·wissenschaftlichkeit umgeben und dann politisiert und von politischen Bewegungen wie der Studentenbewegung der sechziger Jahre, der APO (Außerparlamentarische Opposition), der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung usw. usurpiert wurden. Aber auch die Gegenbewegung der Restaurationsphase der achtziger Jahre, die respektive der Kontroverse „Sozialismus - freiheitliche Demokratie" auf die letztere abhob und die Wiederherstellung der alten Verhältnisse intendierte, ist eine verkappte Ideologie. Gegenwärtig gewinnen ursprünglich aus dem Buddhismus stammende philosophische Vorstellungen von der Harmonie des Menschen mit der Natur, der Partnerschaft beider, des Ausgleichs zwischen ihnen, der Vermittlung von Gegensätzen oder die Yin-und-Yang-Prinzipien Macht und Einfluß. Sie fallen vor allem in der ökologischen Bewegung auf fruchtbaren Boden. Der Sache nach bereiten sie eine neue Ethik jenseits der Einseitigkeit der il.f enschenwürde vor. Sie kommen in moderner Verpackung, herausgeputzt durch die Computer- und Technologiesprache, daher 28 und werden von Massenbewegungen wie der New-Age-Bewegung vereinnahmt. Ist dieser Praxisbezug das anzustrebende Ideal der Philosophie? Man wird einem solchen Vorschlag schwerlich beipflichten können, da Handeln und Philosophieren, welches letztere doch immer theoretisch bleibt, zwei verschiedene Paar Stiefel sind. Machtpolitik als Extremform des Handelns und kritisch-theoretische Reflexion sind kaum miteinander kompatibel. Gute Zwecke werden oft auf unedle Weise, rein machtpolitisch, durchgesetzt gemäß der Maxime, daß die 43

Zwecke die Mittel heiligen, während edle Handlungen nicht selten das Gegenteil bewirken. Eine gegenwärtig vieldiskutierte Frage ist die, ob Politik überhaupt mit ethischen Normen verträglich sei oder anderen Regeln folgen müsse. Das Auseinanderklaffen von Philosophie und Praxis zeigt sich auf allen diskutierten Ebenen. So leidet der vom Philosophen koordinierte interdisziplinäre Dialog zwischen Fachwissenschaftlern nicht selten darunter, daß Philosophie und Erfahrungswissenschaften verschiedene Sprachen sprechen, deren Fixierung selbst auf einen Minimalkonsens in interdisziplinären Arbeitsgruppen häufig zu langwierigen und unproduktiven Methodenerörterungen führt, bei denen die Inhalte immer mehr aus dem Blick geraten. Die Brückenfunktion zwischen Theorie und Praxis, die der Philosoph als Halbspezialist erfüllen soll, scheitert nicht selten daran, daß der Halbspezialist von beiden Seiten, sowohl von den Philosophen wie von den Erfahrungswissenschaftlern, schief angesehen und keiner Seite für zugehörig gerechnet wird. Den einen bleibt er zu abstrakt und ungenügend empirisch ausgewiesen, den anderen zu empirisch und zu wenig abstrakt. Was die Diskussionen über Grundwerte wie Menschenrechte, über lebens-, institutions- und kultursichernde N ormen, über allgemeinmenschliche Fragen betrifft, so arten sie sehr bald in Richtungskämpfe aus, die letztlich machtpolitisch von Institutionen und Organisationen wie Kirche, Staat, Medien entschieden werden. Sie setzen weniger auf Vernunft und Überzeugung als vielmehr auf I rrationalismen wie Überredung, Propaganda, Durchsetzungskraft. Beispiele hierfür sind die gegenwärtig in allen wichtigen Fragen zu Ökologie, Wirtschaftsentwicklung, Generationenkonflikt, Abtreibungsproblematik, Tierrechten und ähnlichem geführten Debatten mit ihren Rechthabereien und Besserwissereien. Und Ideologisierungen schließlich, die stets mit politischer Machtausübung, Demagogie und Fanatismus zu tun haben, 44

sind aufgrund ihres Systemzwangs, ihrer Einseitigkeit und des Entfallens rationaler überprüf ungs- und Kontrollkriterien von Intoleranz gekennzeichnet und stellen nicht selten den Ursprung von Gewalt, Unterdrückung, Krieg und Verwüstung dar. Philosophie als Ursprung von Revolutionen, wie es die geschichtsphilosophische Fortschrittsthese des Marxismus und der 68er Generation war - diese Auffassung dürfte kaum dem Selbstverständnis der Philosophie entsprechen.

1. 6 Die Grundlagenkrfre der Philosophie und die Neuorientz'tmmg

Die Tatsache, daß sich alle bisher der Philosophie zugeschriebenen Aufgaben, die Kompensationsfunktion, die Aufklärungsleistung, die Handlungsintention, als unzureichend erwiesen haben und den immer wieder auf tretenden Vertrauensverlust und Imageschwund der Philosophie nicht haben verhindern können, legt den Schluß auf eine Grundlagenkrise der Philosophie nahe. Wie Logik und Mathematik um die Wende des vorletzten Jahrhunderts eine ihrer tiefgreif endsten Krisen durchgemacht haben, so wird man auch vor einer Grundlagenkrise der Philosophie die Augen nicht verschließen können, selbst wenn das immer erneute Aufblühen derselben dieser These auf den ersten Blick zu widersprechen scheint. Ist vom Versagen einer Disziplin die Rede, so sind zwei Aspekte genauer zu überprüfen: zum einen das, was versagt, und zum anderen das, woran es versagt. Das, woran die Philosophie versagt, ist die kulturelle Situation der Moderne, wie sie durch das mathematisch-naturwissenschaftliche, technisch-technologische und ökonomisch-materielle Paradigma mit seiner Einseitigkeit der Verwissenschaftlichung und Technisierung, der Versachlichung und Desillusionierung der Welt, mit seinen rein wirtschaftlichen Interessen 45

und der zunehmenden Abhängigkeit der „gestaltenden" Politik vom autonom gewordenen Markt geprägt ist. Hinzu kommt die Einseitigkeit der politischen Organisationsform und des sittlichen N ormensystems mit der Verabsolutierung von Autonomie, Freiheit und Individualität einschließlich der Selbstexpansion und des materiellen Gewinnstrebens, womit eine Abwertung und Unterdrückung von Gemeinschaftssinn, Solidarität, Aufopf erungsbereitschaft, Altruität, Verantwortung für den anderen verbunden ist, deren Folge die immer wieder beklagte Vereinzelung und Vereinsamung und das Zurückbleiben einer Leere ist. Freilich versagt hieran nicht nur die Philosophie, sondern auch die Religion und die Kunst, indem auch sie dem modernen Menschen nicht den Halt geben können, dessen er bedarf. Und das, was versagt, ist nicht die Philosophie schlechthin im Sinne des ursprünglichen Bedürfnisses des Menschen zu philosophieren, denn andernfalls wären die ständig steigenden Studentenzahlen und die ständig wachsende Nachfrage nach fernöstlicher Weisheit und nach Sinnsurrogaten unverständlich, sondern das, was versagt, ist ein bestimmter Philosophietyp, und zwar der abendländische, der durch Intellektualität und Wissenschaftlichkeit, kurzum durch Kopflastigkeit gekennzeichnet ist und Sinnlichkeit, Leiblichkeit und Befindlichkeit ausschließt. Zudem ist er durch eine bestimmte Art von Rationalität geprägt, nämlich durch ein rein analyDenken. tisch-sezierendes, nicht synthetisch-synergetisches Statt ausgreifender und ausstrahlender Symbolik folgt er der Methode präzisierender Ein- und Ausgrenzung, wie sie in der sogenannten Fachterminologie bei Termini (terminare = „eingrenzen") und Definitionen (jinis= ,,Grenze") vorliegt; er kennt nur eine Art der Folgerichtigkeit, die Widerspruchsfreiheit. Es war dieser Philosophietyp, der das mathematischnaturwissenschaftliche und später technisch-technologische Weltbild aus sich freisetzte, das die konsequente Entwicklung und gesteigerte Form dieses seit der Antike vorherrschenden 46

Logozentrismus ist und lediglich wegen der spezifischen Verhältnisse des mittelalterlichen Kirchen- und Feudalstaates verzögert auftrat. Zwar braucht man nicht so weit zu gehen wie Feyerabend, der die traditionellen metaphysischen Ideen und Systeme als „scientific theories in their most primitive stage" 29 bezeichnet, quasi als „wissenschaftliche Theorien im Embryonalzustand". Aber unübersehbar ist, daß das wissenschaftlich-technische Paradigma ein Erbe des europäischen, nicht des indischen oder ostasiatischen Denktyps ist. Und für das westliche Demokratieverständnis und die in der ·westlichen Aufklärung entwickelten Menschenrechte gilt dies allemal. Der von Anfang an latente und später explizite Logozentrismus der beschriebenen Art hat es nicht vermocht, ein holistisches, an lebensweltliche Bedingungen geknüpftes Weltbild auszubilden und allgemeinmenschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn heute Anleihen bei fernöstlicher Philosophie gemacht werden, die einen anderen Ursprung hat als die westliche, die der Lebenspraxis und den Meditationsübungen entstammt, wenn eine Flut okkultistischer, esoterischer, pansophischer und anthroposophischer Literatur den Markt überschwemmt und sich der Zeitgeist in der N ew-AgeBewegung spiegelt, wenn die lateinamerikanische essayistische Art zu philosophieren immer mehr an Bedeutung gewinnt, dann ist dies ein Indiz für das Defizit des abendländischen Philosophietyps, zumindest in seiner dominanten logizistischen Ausgestaltung, der die an ihn gerichtete Sinnfrage nicht mehr beantworten kann. Das Andere der Vernunfl, wie ein Buchtitel der Brüder Böhme'~0 lautet, oder die „Königin der Nacht" neben Sarastro, wie es unter Bezugnahme auf Opernfiguren aus Mozarts Zaubnfliite heißt, als Ausdruck dessen, was nicht bloß rational ist und sowohl Irrationalit~it wie eine andere Art von Rationalität umfaßt, - das ist gegenwärtig gefordert. Das „Andere der Vernunft" schließt alles ein, was nicht Intellektualität ist: Sinnlichkeit, Visionen, Emotionen, Gestimmtheit, die gesamte Befindlichkeit mit47

samt der Leiblichkeit, aber sie schließt auch ein eine andere Möglichkeit der Auslegung von Rationalität, wie noch zu zeigen sein wird. Zugrunde liegt dieser Art von Philosophie und ein ebensolches ein holistisches Anthropologiekonzept Weltbild. Überblickt man die europäische Geistesgeschichte, so zeigen sich innerhalb ihrer verschiedene Typen von Philosophie und Philosophen. Charakteristisch für die frühe Antike, die Vorsokratik oder ionische Naturphilosophie, ist der ooqi6c;; der Weise. Thales, Anaximandros, Anaximenes (00Lo1~c;;), galten als ooqio1., Thales zählte zu den sogenannten Sieben ·weisen. Auch im biblischen Bericht ist von den Heiligen Drei Königen Kaspar, Melchior, Balthasar als den Weisen aus dem Morgenland die Rede. ~oqi6c;;bezeichnete generell den kundigen, klugen und geschickten wie auch den verständigen, einsichtigen Mann, der sein Metier, sei es sein Handwerk, die Kunst, die Politik, beherrscht. Insbesondere war damit freilich eine Person gemeint, die hervorragende Sachkenntnisse vom Himmel und von der Erde und den Erscheinungen besaß, die in damit zusammenhängenden Astronomie, Mathematik, Meteorologie bewandert war, die Sonnen- und Mondfinsternisse sowie Springfluten vorherberechnen konnte, die aber immer auch sozial engagiert und ethisch und religiös an Normen zurückgebunden blieb: Pythagoras war Gründer und Vorsteher einer religiösen Gemeinschaft, der Pythagoreischen Bünde, mit pythagoreischer Lebensführung; Empedokles machte sich politisch verdient um seine sizilianische Heimatstadt Akragas, vertrat als Mystiker in den „Katharmen", den sogenannten „Reinigungen", eine aus der orphisch-pythagoseine Glaubenshaltung, reischen Seelenlehre gespeiste Anschauung. Diese philosophische Haltung hatte nicht zuletzt mit Lebenserfahrung und Altersweisheit zu tun, die vom Vater auf den Sohn, vom Meister auf den Lehrling, vom Lehrer auf den Schüler weitergegeben wurden. Zugrunde lag ihr ein Wissensbegriff, 48

wie ihn das griechische Präterito-präsens o[öa = ,,ich habe gesehen, nun weiß ich" zum Ausdruck bringt. 31 Die anschließende Entwicklung ging in zwei Richtungen: Die ooqiCo-cE~ (= Sophisten) setzten, wenngleich auf anderen Gebieten, die Tradition des Sach- und Realwissens fort, indem sie neue Gebiete für die Wissenschaft eroberten, wie Linguistik, Grammatik, Rhetorik, Geschichte, Ethnologie. Nicht zufällig gingen ihre Lehrgebiete später in die Artistenfakultät, den Vorläufer unserer heutigen Universität, ein und bildeten dort die Grundlage des Unterrichts, das Quadrivium, das sich aus Grammatik, Rhetorik, Dialektik und Logik zusammensetzte, auf das das Trivium aufbaute. Ihre Kenntnisse waren abstrahiert von ethischer Verpflichtung, was sie zu frühen Vorläufer der heutigen Fach- und Spezialwissenschaften macht, die sich ebenfalls von ethischen Fragen unabhängig wähnen. Obgleich die Sophisten damals noch nicht in dem schlechten Ruf standen, den sie seit Sokrates und Platon erhielten - immerhin waren Sophisten wie Kratylos deren Lehrer -, lag das negative Image bei ihrer ethisch-moralischen Beurteilung nahe, da von ihnen reine Fachkenntnisse, den politischen und administrativen Bedürfnissen jener Zeit entsprechend, verlangt wurden und ihr Angebot an Rede- und Argumentationskunst, auch Scheinfechterei, dem Bedürfnis, sich im forensischen Bereich, bei Volksversammlungen, auf dem Markt, im Rat, bei Gericht durchzusetzen und recht zu behalten, entgegenkommen mußte. Mit den Sophisten begann die Abkoppelung des abstrakten intellektuell-theoretischen vom konkreten moralischethischen Wissen. Die andere Richtung der Philosophie, repräsentiert durch Sokrates, Platon und Aristoteles, die sogenannten q>LAOooqioL, wie der Terminus seit Heraklit lautet, setzte die Tradition des stets auch ethisch gebundenen Sachwissens fort. Philosophie wurde hier als Ethos verstanden, als Bildung des ganzen Menschen mit Rückwirkung auf seine Lebensführung und 49

Verhaltensweise, als Gestaltung und Durchdringung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Philosophie als Suche und Ringen um Wahrheit, Vollkommenheit, Schönheit - im Griechischen Ko:ÄoKcxyo:0[o: (,,Schön-Gutes") genannt - blieb stets in die Verantwortung des einzelnen für sich und für die Gesellschaft gestellt. Der Blick auf das Ganze ging trotz des Spezialistentums niemals verloren. Während im Mittelalter die Philosophie weitgehend in Theologie auf ging, trat nach der Emanzipation der Philosophie von der Theologie in der Neuzeit ein intellektuellliterarischer Philosophentyp auf den Plan, der, durch umfassende Sachkenntnis und ein hohes Methodenbewußtsein ausgezeichnet, aber losgelöst von lebensweltlichen Bindungen und ethischen Verpflichtungen, nur noch theoretisierte, selbst über Ethik. Zwar sind ihm die großen theoretischen Systeme zu verdanken, zugleich aber ist auch deren Abgehobenheit von lebensweltlichen Bedürfnissen zu monieren. Das zunehmende historisch-philologische und hermeneutische Interesse des 19. Jahrhunderts, das nicht mehr der direkten Beschäftigung mit allgemeinen Menschheits- und Lebensfragen galt, sondern nur noch der indirekten, der Beschäf tigung mit der Beschäftigung früherer Philosophen mit diesen Fragen, tat ein übriges, die Philosophie von den mit unmittelbar lebensrelevanten Problemen befaßten Fachwissenschaften zu lösen und sie auf den Olymp der Spekulation und Phantasie zu verbannen. Nicht wenig trug dazu die Erfindung der Buchdruckerkunst und die mit ihr einhergehende Verbreitung und Vermassung von Büchern bei, die an die Stelle des privaten Lehrers das entpersonalisierte, anonyme Buch setzten, das nicht mehr auf spezielle Fragen und Einwände eingehen konnte und die Dialogkultur, wie sie bis dahin an Universitäten und Kathedralschulen gepflegt worden war, unterdrückte. Die Fortsetzung und extremste Ausgestaltung dieser Tendenz ist der moderne, mediengerechte Philosoph, der sich 50

medienwirksam in Szene zu setzen weiß, der durch Esprit und Schlagfertigkeit, durch forensische Begabung, Rhetorik und Argumentationskunst brilliert, dem es weniger um f undiertes Sachwissen als um Unterhaltung und /un-Kultur geht. Tiefe und umfassende Einsichten in das Ganze, persönliche Lebensgestaltung und ethische Verantwortung, die sich auch haftbar machen läßt, sind nicht mehr gefragt. Wie Innovationen stets mit grundlegenden Änderungen verbunden sind, wie die Erfindung der Schrift die breit angelegte, unendlich differenzierbare Dialogkunst auf einen einsinnigen, linearen schriftlichen Argumentationsgang einschränkte 32 , wie die Erfindung der Buchdruckerkunst zur Massenverbreitung und Anonymisierung beitrug, so hat die Erfindung und der Gebrauch von Rundfunk und Fernsehen zur weiteren Verflachung und Verarmung der Diskussionskultur geführt und die Medienphilosophie hervorgebracht. Wer heute Breitenwirkung erzielen will, muß sich des Fernsehens und des Internets bedienen. Die Computertechnologie ihrerseits fordert einen Tribut, indem sie breites und fundiertes Wissen einengt auf Information, die häppchenweise konsumiert wird, bitbei bzt. Angesichts der Substanzlosigkeit und Äußerlichkeit, bei der oft überhaupt nicht mehr der Inhalt interessiert, der bis zur Abgedroschenheit heruntergekommen ist, sondern nur noch die Spannung und Opposition zwischen Kontrahenten zählt, bei der es um das Wortgefecht und den Schlagabtausch als solchen geht, wird die Empfindung des Defizits und die Suche nach Ersatz in noch gelebten Weisheiten wie denen des fernen Ostens, in Meditationsübungen, autogenem Training, selbst Heilslehren von Sekten und Gurus um so verständlicher. Darin dokumentiert sich eine grundsätzliche Sehnsucht nach einem umfassenden Philosophiekonzept, das als Wissensquellen nicht nur den Intellekt, sondern auch die Sinnlichkeit, die Phantasie, die Emotionen, die Gestimmtheit und Befindlichkeit einschließlich gesteigerter Bewußtseins51

zustände, kurzum die Gesamtverfassung des Menschen, einbezieht, deren Korrelate nicht allein Verstandeskategorien, sondern auch Formen der Sinnlichkeit und Existenzialien wie das Atmosphärische, Physiognomische, Gestische, Ekstatische in der Natur sind, welche die Bindung an die Lebenswelt und ihre Begegnungsweisen bewahren. Thematisiert wird bei dieser Suche der Mensch in seiner Beziehung zur Um- und Mitwelt, der Mensch im Gesamtgefüge der Welt. Daß Philosophie mit dieser Ausweitung in die Nähe von Kunst und Religion rückt, ist unschwer erkennbar, da sich auch diese mit Lebensfragen befassen und umfassende, ganzheitliche Lebensentwürfe und Sinndeutungen anbieten. Trotz der Gemeinsamkeiten brauchen die Differenzen nicht zu verwischen. Kunst bleibt eine Gestaltung im sinnlichen Medium der Farben, Töne, Bewegungen und Wörter - im letzteren Fall allerdings auf eine der Philosophie äußerst nahe kommende Weise, jedoch ohne den Zwang zu einer bestimmten logischen Folgerichtigkeit wie in der Philosophie-, Religion eine Formung des Gefühls und Innenlebens und Philosophie eine Formung der Gedanken und Vorstellungen, bei der die disziplinierte Argumentation, gleich welcher Logik und Theoriebildung, eine entscheidende Rolle spielt. Der gegenwärtig zu konstatierende Trend zur N euorientierung der Philosophie, der Trend weg von der Expertenund Spezialistenkultur hochstehender Abstraktionen zur allgemein humanen, Intellekt und Sinnlichkeit umfassenden Kultur 3\ ist nicht gänzlich neu. Er hat Vorläufer in Jacobis Postulat der Aufhebung der einseitigen Reflexionsphilosooder in Schellings und phie in der Offenbarungsphilosophie Hölderlins Programm, Philosophie in Kunst einmünden zu lassen, worauf noch Heidegger aufbaut, generell in der Thezu überse, Verstandesphilosophie in Vernunftphilosophie führen, wobei die Frage auftaucht, was unter Vernunft zu verstehen sei.

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Daß es sich bei der Neubestimmung der Philosophie nicht um eine bloße Wiederaufnahme und Reformulierung älterer humanistischer Ideale handelt, wie das antike Ideal der Lebensweisheit, das an Alterserfahrung und Reife gebunden ist, oder das Humboldtsche Ideal der allseitigen Ausbildung des Menschen, geht schon daraus hervor, daß hier ebensowohl Grunderfahrungen fernöstlicher Philosophie und Praxis wie Meditations- und Yogatechnik mit einbezogen werden, die zur Bewußtseinserweiterung führen, wie auch neue und neueste Resultate der Medizin, ekstatische Erfahrungen ebenso wie solche von Cyberspace, Computersimulationen, Kunsterlebnisse und so weiter. Zumindest sollen diese nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Wie allerdings das neue Konzept der Philosophie aussieht, ob es sich überhaupt noch von Kunst unterscheidet und wie, bedarf weiterer Klärung. Bevor die Frage nach einer Neubestimmung der Philosophie weiterverfolgt werden kann, ist das Verhältnis des philosophisch-ästhetischen Paradigmas, in dem Philosophie neben Kunst, Mythologie und Religion 34 als ganzheitliche Lebensgestaltung einen Platz hat, zum naturwissenschaftlichtechnischen Paradigma noch einmal tiefer im Blick auf Kompatibilität oder Inkompatibilität aufzurollen. Die Disziplinen sind dabei nicht als einander über- oder untergeordnete zu nehmen, sondern als Ganzheitskonzeptioncn, die gleicherweise Anspruch auf eine Gesamterklärung der Welt erheben: Philosophie, Kunst, Religion auf der einen Seite, Naturwissenschaften und Technik auf der anderen. Es geht um die Frage, welche Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen ihnen denkbar sind, angefangen vom wechselseitigen Ausschluß über eine wechselseitige Komplettierung und Vereinigung bis hin zur einseitigen Grundlegung des einen Paradigmas durch das andere, und damit auch um die aktuelle Frage, ob vom geisteswissenschaftlichen Paradigma irgendein Einfluß auf den naturwissenschaftlichen, technischen und jetzt auch wirtschaftlichen Prozeß zu erwarten sei. 53

2. Philosophisch-ästhetisches Paradigma versus naturwissenschaftlich-technologisches

2.1 Der Zwiespalt der Paradigmen

Kulturell befinden wir uns nun schon seit Jahrzehnten in einer Dauerkrise. Der naturwissenschaftlich-technisch-technologische Fortschritts- und Modernisierungsprozeß hat sich aufgrund seiner akzelerierenden Eigendynamik und der sich fast überschlagenden Innovationsschübe mehr und mehr von der Lebenswelt abgelöst und führt ein Eigendasein, das von dieser aus weder beherrschbar noch beeinflußbar erscheint; denn mit ihrem an humanen Verhaltensweisen orientierten, eher konservativen Wertebewußtsein und ihren spezifisch regionalen und nationalen sowie nach den Herkunftskulturen variierenden Kulturgütern ist die Lebenswelt eher beharrlich. Aufgrund seines rasanten Tempos und Ausbreitungserfolges ist der naturwissenschaftlich-technische Prozeß im Begriff, zur alles dominierenden Macht zu werden. Ihm hat sich auch die Wirtschaft auf ihrer Profitsuche verschrieben. Die globale Expansion dieses Prozesses, die räumliche Distanzen zusammenrücken läßt, die Heterogenstes und Widersprüchlichstes durch internationale Kommunikationssysteme vernetzt, die in immer kürzeren Zeitspannen immer mehr Informationsmaterial anhäuft und dem Menschen immer schnellere Entscheidungen abverlangt, ist auf dem Wege, die Lebenswelt und ihre Selbstreflexion in Philosophie und Geisteswissenschaften, in Literatur und Kunst, Ethik und Religion zusehends zurückzudrängen und zu marginalisieren. Oft bleibt nur die staunende und fassungslose Bewunderung für einen dem Menschen fremd 55

gewordenen Vorgang, dem sich dieser blind anvertrauen muß, wenn er nicht von ihm überrollt werden will. Der zwar ursprünglich vom Subjekt freigesetzte Naturwissenschafts- und Technikprozeß, der sich aber seit der Neuzeit zunehmend emanzipiert hat, hat zur Spaltung zweier theoretischer Einstellungen und ethischer Verhaltensweisen geführt: zu einer mathematisch-naturwissenschaftlichen, technisch-technologischen und zu einer philosophisch-geisteswissenschaf tlichen wie ästhetischen mit ihren geistig-seelischen Ambitionen, ihren Ausprägungen in Philosophie und Geisteswissenschaften, in Dichtung, Malerei Bildhauerei, Musik und Theater. Wir sind Bürger zweier Welten. Einerseits wollen und können wir uns der naturwissenschaftlich-technischen Modernisierung nicht entziehen, nicht nur, um nicht als hoffnungslos veraltet zu gelten und hinter der Zeit herzuhinken, sondern um angesichts eines globalen und immer brutaler werdenden Existenzkampfes mitzuhalten und zu überleben, den Arbeitsplatz zu sichern und gewisse Lebensstandards zu sichern, die wir mit einem menschenwürdigen Leben verbinden. Andererseits scheint zum Wohlbefinden und zur inneren Zufriedenheit, zu einem erfüllten, gelingenden Leben, wie es etymologisch schon das Wort „Glück" ausdrückt, mehr zu gehören als ein äußerlich gesichertes, komfortables Leben, eben jene höheren geistigen und seelischen Aktivitäten, die sich auf philosophisch-geisteswissenschaftlichem und ästhetischem Gebiet niederschlagen. Es gilt nach wie vor das Bibelwort: ,,Der Mensch lebt nicht vom Brot allein." 3"' Ein Zwiespalt durchzieht nicht nur unser Leben und führt sachlich zur Trennung der Paradigmen von naturwissenschaftlich-technisch-technologischer und geistig-ästhetischer Welt, ein Zwiespalt durchzieht auch jedes dieser beiden Paradigmen. Auf der einen Seite sind die Vertreter der exakten Naturwissenschaften und Technik erfüllt von Stolz und Selbstbe56

wußtsein angesichts der beachtlichen, nicht zu leugnenden Erfolge der sogenannten harten Wissenschaften und der auf ihnen basierenden Technik: der quantitativ schier unermeßlichen Datenfülle, der qualitativ scheinbar absoluten Gewißheit der Resultate, der universellen Geltung der Gesetze, der Treffsicherheit der Prognosen, der generellen Umsetzbarkeit der Erkenntnisse. Andererseits stellt sich immer mehr gerade bei ihren führenden Köpfen ein Krisen bewußtsein ein, das unterschiedliche Gründe hat. Zum einen haben die formalen Schwierigkeiten in den Strukturwissenschaften der Logik und Mathematik am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das Paradoxien- und Antinomienproblem sowie die Anomalien der Physik, eine Krise heraufbeschworen, die gegenwärtig genährt wird durch das Bewußtsein, daß die analvtische und sezierende Methode, das dissecare naturam, zur Erfassung hochkomplexer und hochkomplizierter anorganischer wie organischer Phänomene nicht zureicht, geschweige denn zur Erklärung ihrer synergetischen Effekte, sondern daß diese dynamischen, nichtlinearen Prozesse und dissipativen Systeme ganz andere Methoden verlangen, wie sie gegenwärtig in der Chaos- und Autopoiesistheorie oder in der Synergetik diskutiert ·werden. Hinzu kommt die wachsende Einsicht in die desaströsen Folgeschäden der Technik, in die zunehmende Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die Deformation und Destruktion der Umwelt, die sich zur globalen ökologischen Krise ausgeweitet hat angesichts eines ungehemmten und ungebremsten Wachstums von Wissenschaft und Technik. Begleitet wird diese Einsicht durch das Bewußtsein zunehmender Enthumanisierung und Bürokratisierung der Arbeitswelt. Friedrich Dürrenmatt läßt in seinem Schauspiel Die Physiker den genialen Wissenschaftler Möbius sagen: I

\Vir sind in unserer Wissenschaft an die Grenzen des Erkennbaren gestoßen (. . .) Wir haben das Ende unseres Weges erreicht (. . .) Unsere Wissenschaft ist schrecklich geworden, unsere Forschung gefährlich, unsere

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Erkenntnisse tödlich. Es gibt für uns Physiker nur noch die Kapitulation vor der Wirklichkeit. Sie ist uns nicht gewachsen. Sie geht an uns zugrunde. Wir müssen unser Wissen zurücknehmen(. .. )36

Auf der Gegenseite begegnet das übliche Lamento der Vertreter der Geistes- und Kulturwissenschaften über die zunehmende Bedeutungslosigkeit ihrer Disziplinen für das öffentliche und private Leben, zumal für die Politik, deren Desinteresse sich in den ständigen Budgetkürzungen spiegelt oder auch in der Zumutung, das New-Public-Management, das heißt den Kommerzialisierungstrend der Naturwissenschaften auf die Geistes- und Kulturwissenschaften anzuwenden. Helmut Schelsky scheint recht zu behalten mit seiner Behauptung, daß die Geistes- und Kulturwissenschaften und mit ihnen die Idee der Humboldtschen Bildung mit den praktischen Bedürfnissen und Interessen der modernen Gesellschaft konfligierten und daher obsolet seien. Die moderne Gesellschaft sei im Begriff, die Idee universeller Bildung aufzugeben und die Universitäten zu Funktionsgruppen der modernen Industriegesellschaft umzufunktionieren und nur die natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten, die Informatik und Computertechnologie noch als Zulieferanten für die Wirtschaft zu akzeptieren. Die Humanwissenschaften trügen nicht mehr zum Selbstverständnis der Gesellschaft bei, sie könnten deren Bedarf an Erkenntnissen und Handlungskompetenz nicht befriedigen. 37 In dieses Lamento stimmt auch die Kunst ein, zerschlagen sich doch regelmäßig ihre immer wieder gehegten Ambitionen auf gesellschaftliche Relevanz, auf sozialkritischen, sozialreformerischen oder sozialrevolutionären Einfluß. Andererseits gibt es das nie versiegende Bewußtsein der Einzigartigkeit, ja der soteriologischen Rolle der Kunst. In einer inhumanen Lebens- und Arbeitswelt scheint sie der einzige Ort humanen Daseins zu sein, der einzige Ort, an dem lebenswertes Leben und Überleben noch möglich ist. Nach Achille Bonito Oliva hat sich die Kunst „in der Ent58

wicklung des Menschen (. . .) immer als ein Alarmsystem dargestellt, als ein anthropologisches Abschreckungsmittel, um die gesellschaftlichen und allgemein geschichtlichen Transformationen in Angriff zu nehmen" 38 . So ermögliche die Kunst „Auswege und Überwindungen jenseits der Blokkierung" 39 . In diesem Sinne sei sie „außerordentliche Praktik der Krise" 40 . Im folgenden sind die grundsätzlich möglichen und denkbaren Verhältnisse zwischen dem naturwissenschaftlich-technisch-technologischen und dem philosophisch- geisteswissenschaftlich-ästhetischen Paradigma aufzuklären: - das verständnis- und sprachlose Nebeneinander sich als autonom verstehender Machtblöcke, - das komplementäre, zum Ganzen sich komplettierende Miteinander heterogener Paradigmen, - das Ineinander, bei dem Wege der Vermittlung und Vereinigung versucht werden, die jedoch, da sie immer den Ausgang von der einen Seite nehmen, auf die Überführung des einen Paradigmas in das andere hinauslaufen, beispielsweise der Technik in Kunst oder der Kunst in Technik, - die Vorgängigkeit des philosophisch-ästhetischen Paradigmas, aus dessen umfassendem Horizont das reduktionistische naturwissenschaftlich-technische Paradigma entspringt. Besondere Aufmerksamkeit soll dabei auf die den Verhältnissen zugrundeliegenden Strukturen gerichtet werden: auf das isolierte Nebeneinander monolithischer Blöcke im Sinne einer Dualitätstheorie, auf das spannungsreiche Miteinander unterschiedlicher Instanzen, die zusammen erst ein Ganzes formieren im Sinne der Komplementaritätstheorie, auf die Verschleif ungen und Einheitsbildungen, bei denen die verschiedenen Ausgangspunkte zwar wirksam bleiben, aber kaum noch ausmachbar sind im Sinne einer Einheitstheorie, auf die visio beatffeca-Struktur und ihr Verhältnis zu den immanenten Teilen im Sinne einer Fundierungstheorie.

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Im skizzierten Programm wird das Bemühen um eine Standortbestimmung sichtbar, die in historischem Rückblick durch gleichzeitige Analyse der Gegenwartssituation Perspektiven für die Zukunft eröffnen will. Nicht zuletzt geht es um die Beurteilung der Chance, ob und wie wir den selbstmächtig gewordenen Prozeß der Wissenschafts- und Technikentwicklung, den wir selbst einst freigesetzt haben, wieder einzufangen vermögen. Oder sind wir ihm vielleicht ohnmächtig ausgeliefert und müssen zusehen, wie er sich gegen uns richtet nicht nur durch die Ausbildung eines neuen Wissenstyps (Information statt 'Nissen und Weisheit), sondern auch durch das Postulat eines neuen Menschentyps, der seinen Konditionen entspricht? 41 Da das Naturwissenschaftsund Technikparadigma für eminent rational gilt und dementsprechend durch das Kriterium der Rationalität charakterisiert wird, scheint die Kontroverse zwischen naturwissenschaftlich-technisch-technologischem und philosophisch-geisteswissenschaftlich-künstlerischem Paradigma auf das von Rationalität und Irrationalität hinauszulaufen. Genauer besehen ist diese These jedoch unhaltbar, da auch die weichen Disziplinen wie Kunst und Literatur einen Rationalitätstyp repräsentieren, ganz zu schweigen von der Philosophie, freilich einen anderen, umfassenderen als den zweckrationalen der Naturwissenschaften und Technik, so daß der Vergleich letztlich auf einen zwischen unterschiedlichen Rationalitätstypen hinausläuft. Wenn im Vorangehenden plakativ von zwei Paradigmen die Rede war, so versteht sich, daß hinter diesen Schlagworten komplexe Gebilde von unterschiedlichen Ebenen und Elementen stehen; denn es macht einen Unterschied, ob wir innerhalb eines Paradigmas von Naturwissenschaften oder von Technik beziehungsweise von Geisteswissenschaften einschließlich Philosophie oder von Kunst sprechen. Innerhalb des Paradigmas lassen sich zumindest zwei Stufen unterscheiden, die substantiell-materielle und die theoretisch60

formale, von denen die erste in der Gegenüberstellung von Technik und Kunst (technischem und ästhetischem Gebiet) besteht, die zweite in der Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften einschließlich Philosophie. Sie verhalten sich zueinander wie Grundlage und Reflexionsdimension oder wie Anwendungs- und Projektebene. Auch innerhalb dieser Ebenen sind Spezifikationen notwendig, die das jeweilige Verhältnis modifizieren, ist es doch nicht gleichgültig, ob innerhalb der Technik von Maschinen und Industrie oder von intelligenter Technik wie Information die Rede ist und innerhalb der Kunst von Malerei, Musik oder Theater. Nicht nur die Abhebung diverser Stufen, sondern auch die Abhebung diverser Momente innerhalb der einzelnen Stufen färbt auf das Verhältnis zum Pendant ab und ist im Falle eines Vergleichs mit zu berücksichtigen.

2. 2 Das Nebeneinander der Paradigmen

Die These von zwei Paradigmen geht auf einen vielbeachteten Vortrag von Charles Percy Snow zurück, den er im Jahre 1959 hielt 42 und in dem er ein Phänomen der modernen westlichen Industriegesellschaften beschrieb, das ihm besonders prägnant in England begegnete, nämlich das Auftreten zweier heterogener, beziehungslos nebeneinander existierender Kulturen - Snow spricht von „Kulturen" statt von „Paradigmen" -, jener der Naturwissenschaftler (physical scientift,) und jener der Literaten (literary intellectuals). Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer verschiedenen Objektbereiche, Methoden und Anwendungen, sondern mehr noch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz und Akzeptanz, wobei Snow eine eindeutige Präferenz des naturwissenschaftlich-industriellen Paradigmas erkennen läßt ganz im Sinne des modernen Fortschrittsglaubens und -optimismus. Zwar sei die Unterentwicklung beider 61

Kulturen von Nachteil, aber nur die Ausbildung und Kultur diene dem Verbreitung der naturwissenschaftlichen Nutzen und Vorteil der Menschheit. Sie allein beseitige elementare Nöte, sie allein garantiere die Versorgung der Erdbevölkerung, sie allein wende unnötiges Leid ab und verlanges Leben, genügend Nahspreche Heilserwartungen: 4 brächten die bedemgegenüber \ nmg, gesunde Kinder schaulichen Reflexionen über Sinnfragen weder für Gesellschaft noch Individuum Nutzen. Der Mythos von den zwei Kulturen, das heißt von den verschiedenen Denkformen, Lebenseinstellungen und Wertorientierungen, ist allerdings nicht neu, sondern hat historisch Vorläufer, die bis in den Beginn der Neuzeit reichen; denn nachdem das von der Antike bis in die Renaissance, ja bis ins Zeitalter des Barock hineinreichende und auch später gelegentlich auftauchende Ideal einer Universalwissenschaft - sei es unter dem Namen einer mathesis universalis oder einer Einheitswissenschaft - und ebenso das eines allseitig gebildeten Menschen, eines homo universalü, zerbrochen war, trat an deren Stelle die Zersplitterung der Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen. So beklagt schon John Donne 1611: ,,Alles ist dahin" 4 4, und ist zertrümmert, jeder Zusammenhang Schiller schreibt 1794 im sechsten Brief Über die tX,thetische Erziehung des Menschen: Diese Zerrüttung, welche Kunst und Gelehrsamkeit in dem innern Menschen anfingen, machte der neue Geist der Regierung vollkommen und allgemein (. .. ) Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß, und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildete. Auseinandergerissen wurden _jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus (. .. )45

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Die These von der neuzeitlichen Entzweiung, sei es von Subjekt und O~jekt, Geist und Natur, Theorie und Praxis, als Konstitutionsform der modernen Gesellschaft wurde von Hegel aufgegriffen und popularisiert, bevor Snow sie speziell auf den Dualismus von naturwissenschaftlicher und ästhetisch-literarischer Kultur anwandte. In der anschließenden Snow-Rezeption und -Debatte wurde der Gegensatz teils eingeschränkt auf den von Natur- und Geisteswissenschaften, teils auf andere Gebiete übertragen. Entscheidend an der Gegenwartsdiagnose ist nicht so sehr die Existenz zweier fundamental verschiedener Kulturen, sondern ihre absolute Verständnislosigkeit füreinander sowie die zwischen ihnen herrschende Sprachlosigkeit, die die Kulturen zu monolithischen, sich selbst genügenden Machtblöcken macht, die aufgrund ihres jeweiligen Selbstverständnisses jede für sich das Ganze, Eigentliche und Wahre zu sein beanspruchen. Snow begründet diese Beobachtung mit der häufig festzustellenden Arroganz und Ablehnung, mit der sowohl Intellektuelle wie Naturwissenschaftler einander begegnen. Wie oft bin ich in größerem Kreise mit Leuten zusammengewesen, die, an Maßstäben der überkommenen Kultur gemessen, als hochgebildet gelten, und die mit beträchtlichem Genuß ihrem ungläubigen Staunen über die Unbildung der Naturwissenschaftler Ausdruck gaben. Ein- oder zweimal habe ich mich provozieren lassen und die Anwesenden gefragt, wie viele von ihnen mir das zweite Gesetz der Thermodynamik angeben könnten. Man reagierte kühl - man reagierte aber auch negativ. Gnd doch bedeutete meine Frage auf naturwissenschaftlichem Gebiet etwa 46 dasselbe wie: ,,Haben Sie etwas von Shakespeare gelesen?"

Snow fügt hinzu, daß der literarisch, philosophisch und historisch Gebildete immer noch in dem Dünkel lebe, die überlieferte Kultur repräsentiere die „ganze Kultur". Ebenso wie der Intellektuelle den Naturwissenschaftler für naiv und ungebildet hält, disqualifiziert dieser jenen als blasiert, stuft 63

dessen Rildung und Kenntnisse für die Gesellschaft wie für den Einzelnen als nutzlos und deshalb als suspendierbar ein. Strukturell läßt sich dieses verständnis- und sprachlose Nebeneinander der beiden Kulturen durch das Modell einer Zwei-Welten-Theorie, eines rigorosen Dualismus fassen, wobei die Annahme zweier kultureller Welten allerdings auf einer Hypothese basiert, da sich weder ein archimedischer Standpunkt außerhalb beider findet, der beide zu überblikken erlaubte, noch die Möglichkeit eines Transzensus von der einen Welt in die andere, da beide gemäß ihrem Selbstverständnis, ihrer Autonomie und Suisuffizienz das Ganze zu sein beanspruchen. Wenngleich im Rahmen einer streng strukturtheoretischen Beschreibung eine absolute Inkompatibilität zwischen beiden Kulturen besteht, tritt diese bei der Rückübersetzung in die Realität als Verzerrung und Verstellung auf. Ihre Ursache ist die hegemonielle Aneignung und Absorbierung der einen Kultur durch die andere. Die jeweils andere Kultur wird zu einem bloßen Epiphänomen der eigenen erklärt, zu einem Überbau über die eigene, wie dies historisch aus dem Diamat bekannt ist, der alles Geistige und höherstufig Kulturelle als Überbau über die grundlegenden Produktionsprozesse deu47 tet. Auch der Soziologe Arnold Gehlen marginalisiert die geistige Kultur, zumindest jene, die sich im postindustriellen, postmodernen Zeitalter herausgebildet hat, spricht den geistig-kulturellen Kräften jede Innovationsfähigkeit ab und degradiert sie im Vergleich mit den institutionalisierten Naturwissenschaften und der Technik zu einer nicht mehr ernst zu nehmenden Hülle. Was läuft und weiterläuft, ist für den Soziologen der sozio-ökonomische Apparat der Versorgung ständig wachsender Menschenmassen; das andere erweist sich als ephemer und epigonal. Die hegemonielle Aneignung eines Paradigmas durch das durch die Kategorien andere und seine Uminterpretation

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des Pendants sei an Beispielen aus dem einen wie anderen Bereich demonstriert. Das eine Beispiel betrifft den gegenwärtig florierenden Kunst- und Antiquitätenhandel. Hier geht es nicht, zumindest nicht primär, um den Sinngehalt und die Aussagekraft von Kunstwerken, auch nicht um die Förderung von Künstlern mit Ausnahme einiger prominenter, auf die sich das Geschmacksurteil und die Mode festgelegt haben und die sowieso nicht der Förderung bedürfen. Hier geht es ausschließlich um die Vermarktung von Kunstobjekten, deren Wert sich allein nach äußeren Kriterien wie dem Namen des Künstlers oder dem Alter des Kunstwerks bemißt. Wie sonst wäre erklärlich, daß die Sonnenblumen van Goghs heute Höchstpreise erzielen, während der Künstler selbst verarmt lebte und starb. Oder wie wäre verständlich, daß ein bislang für eine Kopie gehaltenes und just über Laserstrahlen als Original decouvriertes Bild des jungen Rembrandt im Nürnberger Germanischen Nationalmuseum von einem Tag zum anderen auf drei Millionen stieg, während zur selben Zeit das bislang für das Original gehaltene und jetzt als Kopie entlarvte Gemälde im Amsterdamer Rembrandt-Museum um denselben Betrag sank. Hat sich etwa der Sinneseindruck oder die Aussagekraft des Bildes geändert, wenn die Entscheidung über Original oder Kopie nur über modernste Technologie möglich ist? Hier geht es ausschließlich um Kommerz und wirtschaftliche Interessen. Die Perversion geht sogar soweit, daß der clevere Geschäftsmann, der Galeriebesitzer etwa, jeden neuen Trend in der Kunst ermuntert, wiewohl er möglicherweise persönlich nichts davon versteht und auch nichts davon hält, nur weil sich der neue Trend bald für ihn in klingende Münze umsetzen könnte. Das zweite Beispiel ist noch gravierender, da es hier um die Uminterpretation der der philosophisch-literarischen Sphäre angehörigen Wissensform in die der mathematisch-naturwissenschaftlichen Sphäre zugehörige geht. Ist für die erste65

re ein Wissenstyp charakteristisch, den wir traditionell Verstehen, Deuten, Interpretieren nennen, der holistisch-kontextuell ist, stets das Sinnganze im Blick behält und dieses in Form eines hermeneutischen Zirkels durchläuft, so findet im gegenwärtigen Computerzeitalter zunehmend nur noch ein Wissenstyp Akzeptanz, der sich der modernen Kommunikationstechnologie, der Informatik, bedient, die mit Bits und Informationsquanten operiert und einer Logik der Eindeutigkeit und Widerspruchslosigkeit genügt. Durch ihren Raster fällt alles hindurch, was es an Mit-, Neben- und Hintergrundwissen, an Anspielungen, Wortspielen, indirekter Rede, rhetorischen Figuren, Rätseln und Dunkelheiten gibt und einer anderen Logik angehört, der analogischen, der Entsprechungs- oder Ähnlichkeitslogik, wie sie für Philosophie, Literatur und Kunst bestimmend ist. Wenn das anbrechende Zeitalter und die ihm zugehörige Gesellschaft als „Wissenszeitalter" und „Wissensgesellschaft" klassifiziert werden, so wird hier ein Begriff benutzt, der mit dem klassischen Wissensverständnis nicht das geringste zu tun hat, sondern das Wissen auf den mathematisch bestimmbaren und mechanisch umsetzbaren Kognitionsbegriff reduziert. Die Revolutionierung des Wissensbegriffs kann nicht einschneidend genug eingeschätzt werden und ist mit jener Revolution zu vergleichen, die sich beim Übergang vom gesprochenen zum geschriebenen Wort, vom mündlichen Dialog mit seinen unendlich vielen Möglichkeiten der Gedanken- und Gesprächsverfolgung zur einsinnig fixierten, beschränkten Schriftsprache mit der Kanalisierung von Gedanken abgespielt hat. 48 Die Vorherrschaft der Informatik wirkt zusätzlich uniformierend, da sie nur das akzeptiert, was sich auch gedanklich in Informationsquanten übersetzen läßt. Die Realisation dieses Programms bedeutet die totale Okkupation des von Philosophie, Literatur und Kunst vermittelten Rationalitäts- und Wissenstyps durch den informationstheoretischen. Schon jetzt zeichnet sich der Trend ab, philosophische 66

Reflexionen, Gedichte, Erzählungen, Dramen zugunsten eines lexikalischen Wissens zurückzudrängen, da sich jene nicht der Struktur der modernen Informationstechnologie fügen, bei welcher der Gedanke zur handfesten Ware und die Sprache zum zeitsparenden Geschäft wird. Es ist aber nicht nur das naturwissenschaftlich-technischökonomische Paradigma, das das philosophisch-ästhetische durch Absorbierung in seine Sphäre pervertiert, sondern es findet auch umgekehrt eine Pervertierung des naturwissenschaftlich-technischen durch das philosophisch-ästhetische statt, indem die naturwissenschaftlichen Ergebnisse und technischen Errungenschaften durch die Kunst - sei es in der Literatur, Malerei oder Plastik - verstellt und verzerrt werden. Denn die Kunst, gerade in der Gestalt l'art pour l'art, hat sich derart von der Lebenswelt abgelöst und autonomisiert, daß sie mit deren Errungenschaften nur noch kritisch, ironisch, persiflierend und schockierend spielt, indem sie Zusammengehöriges auseinanderreißt und Nichtzusammengehöriges zusammenstellt, indem sie dekonstruiert und neu kombiniert. Ein Beispiel geben die durch Wasserkraft angetriebenen Mobile ab, die auf dem Zürcher Flughafen oder in Städten wie Basel installiert sind und, aus großen und kleinen Zahnrädern, Ketten, Pumpen, Flaschenaufzügen, Hebeln und so weiter konstruiert, offensichtlich unser technisches Zeitalter repräsentieren und dasselbe als klappernde und ratternde Maschine darstellen sollen. Verwiesen sei auch auf die willkürliche Behandlung technischer O~jekte und Prozesse bei Picasso und Dali, wobei diesen jede Realität, jede Sachlichkeit genommen wird und gänzlich neue Welten und Sichtweisen konstruiert werden, oder auf Duchamps schockierende Präsentation eines Flaschenzugs und Pissoirs, mittels derer auf die Leerheit und Hohlheit der Massenproduktion aufmerksam gemacht werden soll. Allerdings befremdet uns dieser phantastische Umgang weniger, da wir gewohnt sind, der Kunst die Freiheit der Phantasie, die 67

Flucht aus der Realität und die Fähigkeit zu utopischer Neugestaltung· zuzubilligen.

2. .3 Das JwmjJlementäre Miteinander der Paradigmen

Neben der total oder relativ beziehungslosen Koexistenz des naturwissenschaftlich-technisch-technologischen und des philoParadigmas läßt sophisch-geisteswissenschaftlich-ästhetischen sich als zweite prinzipielle Möglichkeit die ihrer komplementären Existenz, ihres wechselseitig sich zum Ganzen ergänzenden, auf Ausgleich bedachten Miteinander denken. Die bedient sich eines Ausdrucks, der Komplementaritätsthese ursprünglich der Quantentheorie entstammt. Er bezeichnet dort die Ansicht, die das alte starre Objektdenken der klassischen Physik, das von einer identisch sich erhaltenden Substanz mit gleichzeitig zukommenden, kanonisch konjugierten Variablen ausging, durch ein dynamisches Modell ersetzt, das durch zwei heterogene, gegenläufige, sich aber notwendig zum Ganzen ergänzende, allerdings nur nacheinander beobachtbare Naturen konstituiert wird. Auch bei Naturund Geisteswissenschaften (einschließlich Philosophie), Technik und Kunst haben wir es mit gegenstrebigen, wenngleich gleichrangigen, wechselseitig sich ausbalancierenden Einstellungen und Verhaltensweisen zu tun. ist die KompenEine Abart der Komplementaritätstheorie sationstheorie 49 , die fast ausschließlich auf die Geisteswissenschaften und ihre Funktion in bezug auf die Naturwissenschaften angewandt wird, nicht umgekehrt in bezug auf die Naturwissenschaften und ihre Funktion für die Geisteswissenschaften. Das hängt damit zusammen, daß die Geisteswissenschaften historisch wie sachlich eine Antwort auf die Naturwissenschaften sind, historisch insofern, als sie mit einer Verzögerung von circa hundert Jahren nach der Etablierung der Naturwissenschaften auftraten: So erschien Vicos Scienza 68

Nuova (1725), die Programmschrift der Geisteswissenschaften, etwa hundert Jahre nach Descartes' Discours de la mr!thode (1637), der Programmschrift der Naturwissenschaften; Diltheys Grundlegung der modernen Geisteswissenschaften in seiner Einleitung in die Geisteswissenschqflen(1883) sowie in weiteren Schriften zur Kritik der historischen Vernurift folgte hundert Jahre nach Kants Grundlegung der Naturwissenschaften in der Kritik der reinen Vermnift(l 781 und 1787); die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaften und der historisch-philologischen Forschung im 19. Jahrhundert geschah mehr als hundert Jahre nach der Etablierung und Institutionalisierung der Naturwissenschaften im 17./ 18. Jahrhundert. Und sachlich antworten die Geisteswissenschaften auf die mit der Einführung und Entwicklung der Naturwissenschaften und der darauf basierenden Technik und Technologie verbundenen Modernisierungsschäden. Für Odo 50 Marquard , der als einer der Hauptvertreter der Kompensationsthese zitiert wurde, fällt die Antwort dreigeteilt aus: zum einen antworten die Geisteswissenschaften auf die Folgeschäden der Naturwissenschaften in Form von Sensibilisierungsgeschichten, zum anderen in Form von Bewahrungsgeschichten und zum dritten in Form von Orientierungsgeschichten. So stellen sie einmal eine Antwort auf die mit der naturwissenschaftlich experimentellen und technischen Einstellung notwendig einhergehende Denaturierung und Desensibilisierung dar. Das Objekt der Naturwissenschaften ist nicht das natürliche, in die Umwelt integrierte, vollkonkrete Ding in der Fülle und Buntheit seiner Eigenschaften, Verhaltensweisen und Beziehungen, sondern der artifizielle, aus seiner Umwelt herauspräparierte, gemäß den Experimental- und Beobachtungsbedingungen manipulierte Gegenstand, das ,,Gestell" im Heideggerischen Sinne. Die Vielfalt seiner Qualitäten ist auf wenige, rein quantitative, mathematisierbare reduziert. Dasselbe begegnet dem Experimentator oder Be69

obachter beim Eintritt in das Experiment. Er macht einen und Entindividualisierung Prozeß der Entpersonalisierung durch, der Ausklammerung aller sinnlichen, emotionalen, triebpsychologischen Regungen und der Beschränkung auf wenige kognitive, intellektuelle Fähigkeiten und Leistungen, deren Resultat das anonyme, austauschbare Suqjekt ist. Das Ideal der Naturwissenschaften ist das für jedermann zu jeder Zeit unter denselben Bedingungen reproduzible Experiment mit immer gleichen Resultaten. Dieser Versachlichung und sensualistisch-emotionalen Verarmung sollen die Geistes- beziehungsweise die historischen Kulturwissenschaften entgegenwirken, indem sie durch Erdie Erlebnisfähigzählung von Sensibilisierungsgeschichten keit und Aufgeschlossenheit des Menschen für die Vielfalt und Farbigkeit der Welt offenhalten. Wie Literatur- und Sprachwissenschaft, Kunst- und Musiktheorie, wie Ethnologie und Politologie, Religionswissenschaft und Geschichte das Verständnis für die Mannigfaltigkeit von Sinn- und Lebensentwürfen wachhalten, so macht auch die Kunst, ob darstellende oder bildende, mit Welt bekannt und wirkt der Erlebnisverkümmerung entgegen. antworten die GeisteswissenAls Bewahrungsgeschichten schaften auf die mit den Naturwissenschaften einhergehende Enthistorisierung und Entfremdung. Mit der Objektivationsmethode der Naturwissenschaften, ihrem Abblendungsund Abstraktionsprozeß im Experiment ist nicht nur die Ausgrenzung des Gegenstands aus seiner räumlichen Umwelt verbunden, sondern auch die Herauslösung aus seinem zeitlichen und geschichtlichen Kontext, die Ablösung von seiner Herkunftsgeschichte, deren Folge eine Enthistorisierung und ein Vertrautheitsschwund sind, desgleichen Uniformität und differenzlose Globalität. Aufgabe der Geisteswissenschaften ist es, dieser Geschichtslosigkeit entgegenzuwirken, wozu insbesondere die historischen Disziplinen, die Geschichtsforschung, die Philosophie70

geschichte, die Sprach-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte, qualifiziert sind, indem sie die historischen Traditionen wachhalten, die zur Identitätsfindung sowohl des Individuums wie eines Volkes unerläßlich sind. Die vergleichenden Wissenschaften wie die vergleichende Ethnologie und Soziologie, die vergleichende Religionswissenschaft, die vergleichende Sprachwissenschaft tun ein übriges, durch die Komparation mit anderen Völkern, Sprachen, Religionen, Denkund Lebensweisen, Sitten und Gebräuchen zur Identitätsstiftung beizutragen. Wie sehr eine solche aus der Geschichtsdimension lebt, zeigen multikulturelle Gesellschaften wie die nordamerikanische, wo die erste Frage bei jeder Begegnung mit einem Fremden die nach der Herkunft des Betreffenden, seiner Eltern oder Großeltern ist. Offen-sichtlich ist die historische Identität und Kontinuität lebensnotwendig zur Orientierung innerhalb einer sonst homogenisierten Massengesellschaft und ihres beschleunigten Entdifferenzierungsprozesses. Auf diese Weise erklären sich auch bestimmte Gegenwartsphänomene wie die Archivierung und Musealisierung, die heute Hochkonjunktur erleben und sich selbst auf die jüngste Vergangenheit erstrecken, zum Beispiel die Einrichtung von Technikmuseen, die Sammlung nicht nur von Dampf- und Dieselloks und Oldtimern, sondern auch von Sputniks, Spaceshuttles und Antriebsraketen, so in der Volkswirtschaftsausstellung der russischen Republik auf dem Schereme9ew-Gut bei Moskau oder auf Kap Canaveral in den USA. Die Konservierung und Restaurierung alter Bausubstanz in der Denkmalpflege, einzelner Gebäude wie ganzer Stadtteile, tut ein übriges, die Vertrautheit und Heimeligkeit durch die Erinnerung an die eigene kulturelle Herkunft zu wahren. So kann es durchaus sein, daß neben der modernen Betongarage oder dem Atommeiler ein mittelalterliches Fachwerkhaus stehen bleibt.

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In Form von Orientierungsgeschichten antworten die Geisteswissenschaften auf die mit der Ausbreitung der Naturwissenschaften einhergehende Desorientierung. Die Herauslösung des naturwissenschaftlich-technisch-technologisch präparierten Objekts betrifft nicht allein seinen räumlichen und zeitlichen Kontext, sondern auch seine ursprüngliche Einbettung in wertbeladene Traditionen, in Weltbilder. Die Konsequenz der sich ausbreitenden Indifferenz in einer homogen und relativ gewordenen Welt ist die Orientierungslosigkeit, der Verlust von Wertebewußtsein, das nur festgefügte, geschlossene Weltbilder zu liefern vermögen wie das Christentum, der Humanismus, die Aufklärung oder was immer. Die Geisteswissenschaften sollen hier Abhilfe schaffen, indem sie die Erinnerung an diese Traditionen wachhalten. Trotz ihrer großen Suggestivkraft ist die Kompensationstheorie von Anfang an der Kritik ausgesetzt gewesen, wobei der gravierendste Einwand der ihres Neokonservativismus ist. Der Vorwurf zielt darauf, daß sie sich mit dem naturwissenschaftlich-technisch-technologischen Trend der Neuzeit und dessen Modernisierungsschäden abgefunden habe (daher auch der Name „Akzeptanzwissenschaft") und die Mängel, Defizite und Nachteile nur zu mildern und abzuschwächen suche durch Pflege der Geisteswissenschaften. In diesem Sinne sei sie ein bloßes „Beschwichtigungsprogramm""'. Ihre Einstellung sei nicht modernitätskritisch, sondern rnodernitätsfreundlich, sprich: naturwissenschaf ts- und technikfreundlich. Indern sie die Bedingungen des Modernitätsprozesses durch Kompensation und Ausbalancierung zu stabilisieren suche, ermögliche sie überhaupt erst den Prozeß in seinem Fortschritt und mit seinen Konsequenzen. Der Einwand erschließt sich in seiner Tragweite erst vor dem Hintergrund des von Marquard auch sonst in seinen Schriften thematisierten Theodizeegedankens. Die Kompensationsthese in ihrer für die Moderne signifikanten Bedeutung stammt aus der „Konkursmasse der Theodizee" 52 . 72

Es ist nicht zu leugnen, daß die Welt voller Übel ist. Da diese Tatsache jedoch mit der christlichen Überzeugung von der Weisheit, Güte und Vollkommenheit Gottes als Weltschöpf er inkompatibel ist, bedarf es eines Ausgleichs durch anderweitige Güter und Annehmlichkeiten, gegebenenfalls in Form eines Verweises auf eine jenseitige Welt. Während das christliche Mittelalter und selbst noch Leibniz eine ausgleichende Gerechtigkeit Gottes unterstellten, tritt im Säkularisationsprozeß an die Stelle der religiösen These von der ausgleichenden Gerechtigkeit Gottes die metaphysische These von der ausgleichenden Gerechtigkeit der Naturgesetze. In der Kritischen Theorie übernimmt der Mensch das Erbe der Natur, indem er zum Schöpfer der Geschichte avanciert und durch Reformen und Revolutionen, mithin durch eine Verlagerung der ausgleichenden Gerechtigkeit in die Geschichtsdimension, die Herstellung des Idealzustands in der Zukunft intendiert. Bezüglich der Idee von der ausgleichenden Gerechtigkeit sind vier Interpretationen möglich: - eine rein kontemplative Betrachtung, die von der Ambivalenz aller Dinge und Verhältnisse ausgeht und unterstellt, daß das, was aus der einen Perspektive als Übel erscheint, aus der anderen ein Gut ist, - die aktive Gegensteuerung durch geschichtliches Handeln in Form von Reformen und Revolutionen, was auf die Beseitigung des Übels und die Realisation des Idealzustands in der Zukunft zielt, - eine passive Hinnahme des Übels, ein Sich-Schicken und Sich-Fügen in das Unvermeidliche, das jedoch durch die Freiheit der Übernahme in den aktiven Selbstvollzug im Sinne des Schillerschen Freiheitsbegriffs verkehrt wird, und - eine passiv-resignative Einstellung, die defätistisch das Übel als gottgewollt oder schicksalsbedingt hinnimmt, sich mit ihm arrangiert und nach Ersatzglück und Ersatzbefriedigung sucht, um so eine Milderung des Übels zu erreichen. 73

Es versteht sich, daß in den Augen einer kritisch-revolutionären Kulturtheorie 53 die Kompensationsthese als resignativ und konservativ erscheinen muß. In der Tat verleitet der Begriff der Kompensation zum Mißverständnis; denn Kompensation bezeichnet eine ausgleichende Verhaltensweise, die sich auf einen schon eingetretenen, bewußt oder unbewußt akzeptierten Zustand bezieht und insofern stets reaktiv ist. Nicht zufällig wird daher auf die Tatsache verwiesen, daß Geistes- beziehungsweise historische Kulturwissenschaften eine Antwort auf die Entstehung der Naturwissenschaften seien. Der Vorwurf bloßer Reaktion schwindet aber, sobald man die der Reflexion und Theoretisierung zugrundeliegenden Tätigkeiten wie Philosophie, Literatur, Dichtung, Malerei und Musik betrachtet; denn diese zumindest sind nicht bloß reaktiv. Zur Betonung ihrer Gleichzeitigkeit mit den Naturwissenschaften, wenn nicht gar ihrer Vorgängigkeit, ist daher der Begriff „Komplementarität" angemessener. Ob er allerdings noch zu rechtfertigen ist, wenn man das Fundierungsverhältnis zwischen Philosophie und Naturwissenschaften bedenkt, erscheint fraglich.-"4

2. 4 Das Ineinander der Paradigmen

Nebeneinander Außer dem kontaktlosen, unverbundenen Miteinander der und dem komplementär-kompensatorischen die eines IneinMöglichkeit beiden Paradigmen ist als dritte ander im Sinne einer Vereinigung zu erwägen, die als Postulat immer wieder erhoben wird. In Anbetracht der Heterogenität von theoretisch-reflexiver Ebene und realer Grundlage beziehungsweise Anwendungsgebiet ist diese Form des Verhältnisses für Natur- und Geisteswissenschaften (einschließlich Philosophie) sowie für Technik und Kunst gesondert zu behandeln.

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Seitdem die Vertreter einer geisteswissenschaftlichen Ausrichtung, Dilthey, Windelband, Rickert, Gadamer und andere, überzeugt von der Selbständigkeit und Eigenart der Geisteswissenschaften, diese aus dem Schatten der Naturwissenschaften zu befreien suchten, welche denselben lediglich die Rolle einer Propädeutik oder eines Appendix zugebilligt hatten, herrscht ein Dualismus vor. Gilt als Merkmal der Naturwissenschaften im Blick auf den Objektbereich die Universalität der Gesetze, so als Merkmal der Geisteswissenschaften die Singularität des Individuums. Wird als Methode der Naturwissenschaften das Erklären und Begründen, die systematische Einordnung in ein hierarchisches System genannt, so als die der Geisteswissenschaften das V erstehen und Deuten mitsamt der hermeneutischen Spirale; und stellt die Zugangsart zum Seienden in den Naturwissenschaften die N omothetik dar, so in den Geisteswissenschaften die Idiographie. Die gegensätzliche Charakteristik ließe sich fortsetzen. Obwohl dieser Dualismus bis in unsere Tage nachwirkt, gilt er inzwischen als obsolet und unhaltbar. Nicht nur, daß es eine Reihe von Wissenschaften gibt, die sich dem dualen Schema nicht fügen und zwischen beiden Wissenschaftsarten stehen, wie die Anthropologie, die Pädagogik, die Jurisprudenz, die Politologie, etliche ·wissenschaften sind auch in sich ambivalent, indem sie einen mathematisch-quantitativen Teil aufweisen und empirisch-statistische Methoden verwenden und einen rein geisteswissenschaftlichen Teil besitzen, wie die Soziologie, die Psychologie, die Ökonomie. Darüber hinaus hat die zunehmende Berücksichtigung von Gebilden hoher Komplexität und starker Kopplung sowie synergetischer Effekte anstelle der relativ einfachen, aus Umwelt und Geschichte herausgeschnittenen Objekte früherer Behandlungsweise zu einer Grenzüberschreitung der traditionellen ·wissenschaf tsauf teilung geführt, was sich einerseits in Interdisziplinarität, andererseits in der Etablierung

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von Mischwissenschaften wie Biophysik, Biochemie widerspiegelt. Entscheidender noch ist die Änderung der Internverfassung der traditionellen Naturwissenschaften, die in Richtung einer Annäherung an die Geisteswissenschaften geht, und dies in zweierlei Hinsicht: einmal durch Hineinnahme der geschichtlichen Dimension. Im Unterschied zur früheren Wissenschaftsauffassung herrscht heute wissenschaftstheoretisch die Überzeugung vor, daß es nicht die eine Wissenschaft und die ein für allemal verbindlichen Wissenschaftskriterien gibt, sondern nur eine Abfolge verschiedener Wissenschaftskonzeptionen mit _je eigenen Kriterien, deren jede nachfolgende prinzipiell nicht besser ist als ihre Vorgängerin, allenfalls umfassender. So läßt sich eine Sequenz von Physiken in der Geschichte konstatieren, angefangen von Platons mathematischer Grundlegung, über Aristoteles' phänomenologisch-empirische Theorie, Newtons quasi widernatürliche Konzeption bis hin zu der empirische Bedingungen Relativitäts- und Quantentheorie. mit berücksichtigenden Thomas S. Kuhn hat diese Einsicht in seinem bahnbrechenden Buch The Structure of Scientfßc Retiolution.f5 auf die These gebracht, wobei er sich zugeeiner Paradigmensubstitution der Geschichtsgebenermaßen am Periodisierungsschema schreibung der Literatur, Musik, bildenden Kunst und Poliund Umtik mit ihren typologischen Epocheneinteilungen 50 An die Stelle der vollendeten Wissenbrüchen orientiert. schaft ist heute die offene Wissenschaftsgeschichte getreten, die mit typogenetischen Vorstellungen wie der Entstehung und Ausformung von Wissenschaften, ihrer Kulmination und ihrem Verfall durch Auftauchen von Anomalien operiert genau wie die Kunstgeschichte, die ihre Epocheneinteilungen ebenfalls nach Aufstieg, Höhepunkt und Verfall von Phasen und Stilen vornimmt. Die Historisierung der Naturwissenschaften hat den Brückenschlag zu den Geistes-

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wissenschaften ermöglicht und zur Angleichung jener an diese geführt. Zum anderen hat sich die Sichtweise auf das Objekt der Naturwissenschaften geändert. Interessierte sich die klassische Physik ausschließlich für das isolierte, aus der Umwelt herauspräparierte und seiner Temporalität entkleidete Objekt, das invariante, starre System, das der binären Logik mit ihren Axiomen der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten unterliegt, so gilt das Interesse nun den fluktuierenden, nichtlinearen, mutativen, evolutionären und dissipativen Systemen sowie ihren synergetischen Zusamenhängen. Ilya Prigogine hat diesen Wandel auf die prägnante Formel von der Ersetzung des Seins durch das Werden gebracht. Da die Naturwissenschaften nicht nur ihr O~jekt als dynamisches, fluktuierendes System präsentieren, sondern auch selbst als Wissenschaft durch die Hineinnahme der historischen Dimension in Prozeßform auftreten, zeigt sich damit eine größere Zusammengehö-rigkeit von Natur- und Geisteswissenschaften, als sie ursprünglich angenommen wurde. 57 Konstante Objekte und Theorien gelten nur noch als oberflächliche, kontingente Kristallisationsformen eines untergründigen Prozesses. Faßt man Technik als Anwendung mathematisch-naturwissenschaf tlicher Erkenntnisse auf oder auch als deren Grundlage und Kunst ebenso als Grundlage geistiger Reflexion wie auch als deren Umsetzung, mithin beide als Realsysteme, so stellt sich auch bezüglich ihrer die Frage nach der Kooperation und Vereinbarkeit, konkret nach der Überführung der Technik in Kunst und der Kunst in Technik. Diese Frage läßt sich von zwei Seiten aus betrachten. Auf jeder derselben gilt es, Mißverständnisse abzuwehren. Mit einer Transformation der Technik in Kunst, einer Asthetisierung des Technischen, wie sie Le Corbusier in seinem Programm einer Maschinen- und Ingenieur-Asthetik propagiert hat, ist nicht der bloße Gebrauch künstlerischer Mittel in der Tech-

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nik gemeint, mithin die Verwendung der Kunst als Mittel der Technik, sondern ist gemeint, daß die Kunst den letzten Bestandteile, Zweck der Technik bildet. Künstlerische Schmuckstücke, Verzierungen, Aufsätze hat es stets gegeben. Die Verwendung solcher Äußerlichkeiten allein definiert noch nicht Kunst. Ausdruck, Schönheit, Harmonie, Erhabenheit, Kraft - alles Merkmale des Ästhetischen - verlangen vielmehr eine durchgehende Formung und Anordung des Stoffes einschließlich der technischen Bestandteile. In der Architektur hat der Deutsche Werkbund, aus dem das Dreigestirn der modernen Architekten, Le Corbusier, Gropius und Mies van der Rohe, hervorging, das Programm formuliert, eine „Architektur für eine technologische Gesellschaft" 58 zu schaffen. Le Corbusier betrachtete die Errungenschaften der modernen Technik 5 '.1, allen voran das Dampfschiff, das Auto, das Flugzeug, als Paradigma des modernen Zeitgeistes und konzedierte ihnen Harmonie und Vollkommenheit. So sagt er: Wir haben im Namen des Dampfschiffes, des Flugzeugs und des Autos unsere Stimme erhoben für Gesundheit, Logik, Kühnheit, Harmonie 60 und Vollkommenheit.

Man mag darüber streiten, ob dies die Verwirklichung dessen ist, was Gropius als Programm einer „neuen Einheit" von „Kunst und Technik" proklamierte 61 , ob eine in einem derart technophilen und technokratischen Sinne vorgenommene Beurteilung ein reiner Formalismus und Funktionalismus bleibt oder ob dieser Technizismus ästhetischen Kriterien genügt. Auf der Gegenseite ist ebenfalls ein Mißverständnis abzuwehren, das sich mit besonderer Eindringlichkeit im Zuge der modernen Technologie, vor allem der Computertechnologie zeigt und in der Erzeugung einer Scheinwelt durch technologische Mittel besteht. Die Computertechnik ermöglicht auf dem Bildschirm die Visualisierung mathematischer 78

Programme, die hinsichtlich ihrer Form- und Farbkombination oft von atemberaubender Schönheit sind und teils Anklänge an natürliche Formationen erkennen lassen und entsprechend für die Simulation iterativer Vorgänge und generativer Prozesse in der Natur eingesetzt werden, zum Beispiel zur Rekonstruktion und Erklärung von Kristallbildungen, Farnblättern, Baumkronen, Luftröhren- und Blutadernsystem, Tierfellmustern, teils aber auch gänzlich irreal, phantastisch und bizarr sind und allenfalls Ähnlichkeit mit Träumen, Visionen, Rauschzuständen aufweisen, wie sie sich gelegentlich in der modernen Kunst finden. Inzwischen sprechen wir von Computerkunst, Computerdesign und ähnlichem. Eine der bekanntesten und schönsten Visualisierungen ist das von David Brooks durchgeführte und von Dan Kalikow kommentierte Programm, das auf der Mandelbrot-Menge beruht. 62 Hier wird eine relativ einfache mathematische Formel z2 + c durch Einsetzung reeller Zahlen und rekursiver Einführung des Resultats in die Ausgangsfunktion auf eine Reise in unauslotbare Tiefen geschickt, auf der die phantastischsten Muster: Filigran-, Seepferdchen-, Perlen-, Pfauenaugen-, Apf elmännchenmuster auftauchen, die an kostbare Stoffdekors erinnern. Aber nicht nur phantastisch anmutende, irreale Bilderfolgen lassen sich auf diese Weise herstellen, sondern die Realität selbst läßt sich simulieren und, was noch perverser ist, sogar die Kunst, dies in mehrfacher Brechung, indem nicht nur ein Kunsto~jekt, etwa ein Gemälde, simuliert werden kann, sondern auch ein solches, das selbst ein Kunstobjekt abbildet, womit ein Schein des Scheins des Scheins erzeugt wird. Neueste Computer ermöglichen darüber hinaus die perspektivische Darstellung nicht nur einzelner Kunstgegenstände im dreidimensionalen Raum, sondern ganzer Ausstellungen, Museumssäle, Pharaonengräber - jüngst ging durch das Fernsehen die computerprogrammierte Visualisie79

rung gewisser Buddhahöhlen in China, die, für den Tourisnms gesperrt, auf diese Weise dem Kunstinteressierten erhalten bleiben -, bei denen man sich im Raum von rechts nach links, von oben nach unten und umgekehrt bewegen und vor jedem Bild verharren kann. Die Illusion ist perfekt. Dieses Phänomen wird heute unter dem Stichwort „virtuelle Realität" diskutiert. Philosophisch hat sich Jean Baudrillard schon Ende der siebziger Jahre diesem Phänomen zugewandt 63 , allerdings in der Spezifikation „Information und Realität". Ob das Simulakrum nun als Computerbild, Wort oder Ton auftritt, zwischen dem Simulakrum und der Realität läßt sich immer weniger differenzieren. Die Grenzen verwischen, beide durchdringen sich und konstellieren eine Situation universeller Simulation. Die Fiktion wird zur Inszenierung der Wirklichkeit. Freilich ist die Imitation durch technische Mittel in der Kunst nichts Neues und Ungewöhnliches, nicht nur was die Reproduktion von Originalen betrifft, die gesamte Kunst, was immer sie darstellt, gilt nach der klassischen Kunsttheorie als imitatio. Waren es früher vor allem Gemälde, die Natur- wie Kunstgegenstände vortäuschten, und zwar so wirklichkeitsgetreu, daß die Anekdote erzählt wird, daß gemalte Pferde auf antiken Gemälden von ihren natürlichen Artgenossen angewiehert wurden oder gemalte Vorhänge selbst Künstler narrten, so treibt heute die Computertechnologie die Imitation auf die Spitze. Die Decouvrierung der Scheinwelt gelingt nur noch durch Rückbeziehung auf den Ausgangspunkt, den Computer als Hardware, und die Distanzierung des Betrachters. . Die Illusion ist deswegen so perfekt, weil dem Computerprogramm mathematische Formeln zugrunde liegen, und zwar dieselben, mittels deren auch Naturgesetze formuliert werden. Auf ihrer Anwendung basiert sowohl die Computertechnik wie die Verfassung der Natur und der Kunst, letztere insofern, als die Kriterien des Natur- und Kunstschönen die80

selben sind. Natur im Sinne von Kosmos besagt schon der Wortbedeutung nach Ordnung und Schönheit. Im Computer erfolgt so eine zweite Weltschöpfung durch den Techniker durch Anwendung jener Gesetze, die auch für die Natur und die Kunst gelten. Der Zusammenfall von Technik und Kunst über den Begriff der Schönheit scheint damit vorprogrammiert zu sein, aber er scheint es nur. Eine wirkliche, wahrhafte Einheit wäre nur möglich im Falle einer täuschungsfreien Vereinigung, wie sie Aristoteles anvisiert hat mit der Annahme einer strukturellen Identität von Natur, Kunst und Technik. Für ihn ist die Kunst bezienicht bloß Nachahhungsweise Technik (griechisch TEXVTJ) mung der Natur, sondern Vollendung der Natur für den Fall, daß dieselbe imperfekt oder defekt sein sollte, so daß beide lediglich Aspekte eines und desselben Vorgangs sind. Im zweiten Buch seiner Physik stellt er die These auf, daß organische Naturprodukte, falls sie künstlich hergestellt würden, auf dieselbe Weise erzeugt werden müßten wie jetzt und Artefakten wie ein Schiff oder ein Haus, wenn sie natürlicherweise entstünden, auf dieselbe Weise entstehen müßten wie jetzt. Wie die hochartifiziellen, gedrehten, gedrechselten, auf Technik und Können beruhenden Bewegungen einer Ballerina auf dem Höhepunkt in Natur umschlagen und wie natürlich erscheinen, so sind umgekehrt natürliche Produkte und Vorgänge wie das kunstvolle Netz einer Spinne oder der kunstvolle Nestbau eines Webervogels potentiellen Kunstkriterien unterworfen. Hier ist das Zweckhafte auch das Schöne. Das Projekt einer Einheit von Natur, Kunst und Technik ist dann erfüllt, wenn sich der Zirkel schließt, Natur zur Kunst und Kunst zur Natur wird. Dies aber bleibt ein Ideal.

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2. 5 Die Vorgängigkeit des philosophisch-ästhetirchen Paradigmas

Trotz der Bemühung um eine Vermittlung und Vereinigung des naturwissenschaftlich-technisch-technologischen und des philosophisch-ästhetischen Paradigmas unterliegt es keinem Zweifel, daß das erste in der Gegenwart absolute Dominanz hat, während das zweite marginalisiert wird; denn von einer gesellschaftlichen Relevanz und prägenden Kraft des letzteren kann nicht die Rede sein. Sind Philosophie, Geisteswissenschaften und Kunst dazu verdammt, immer nur eine N achreiterrolle zu spielen in Abhängigkeit von dem Naturwissenschafts- und Techniksyndrom und als Antwort auf es, wie es die Kompensationstheorie unterstellt? Ein Blick auf die Geschichte belehrt eines anderen. Er zeigt, daß das naturwissenschaftlich-technisch-technologische Paradigma ein Produkt der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte ist, speziell der abendländischen Philosophie, das sich bereits in der Antike aus der pythagoreischplatonischen Tradition heraus zu entwickeln begann und von dort seinen globalen Siegeszug antrat. Sein Grundgedanke ist die Mathematisierbarkeit und Geometrisierbarkeit der Welt. Wurde er zunächst nur als intellektuelles Interpretament der Natur in Anspruch genommen, so avancierte er in der Neuzeit bei Descartes zum Wesen und zur Struktur der Dinge, was Busserl dazu bewog, hier von einer Unterschiebung der mathematisch strukturierten Welt der Idealitäten unter die wahrnehmungsmäßig gegebene Natur zu sprechen. 64 Die Tendenz zur Identifizierung von Mathematik und Natur gipfelt i11-1mechanistischen Denken des 17./18. Jahrhunderts, das die Natur nicht nur nach Analogie einer Maschine erklärt, sondern selbst als eine hochkomplexe und hochkomplizierte Maschine ansieht. Im Zuge der Monopolisierungsideologie wurde das Maschinenmodell auch auf Seele und Staat appliziert. Seither hat sich dieser Maschinenund Technikmythos mit einer Rasanz und Stringenz ausge82

breitet, die immer größere Kreise zieht und immer tiefere Schichten erfaßt. Wurden zunächst nur anorganische Stoffe, aus ihnen verfertigte anorganische Produkte und anorganische Vorgänge künstlich nacherzeugt durch synthetische Stoffe, künstliche Geräte und Bewegungen_, beispielsweise der natürliche Bewegungsablauf des Steigens durch die Rolltreppe ersetzt, der manuelle Waschvorgang durch die Waschmaschine, das Gefrieren durch den Kühl- und Gefrierschrank, so werden zunehmend organische Stoffe, Produkte und Prozesse imitiert, zunächst noch unter Verwendung organisch lebendiger Bestandteile wie in der Genmanipulation, sukzessiv aber in Form ihrer Ersetzung durch rein artifizielle Konstrukte wie in der Künstlichen Intelligenz-Forschung, in der Kybernetik und Informatik, wo nicht nur intelligente Leistungen, sondern auch andere humane und Emotionen Vorgänge wie sinnliche Wahrnehmungen von partialer zu Tendenz die sich zeigt So werden. simuliert totaler Ersetzung der natürlichen Welt durch eine künstliche. Wenngleich sich dieser Prozeß vom ursprünglich philosophischen Paradigma emanzipiert hat und eine Eigendynamik und Tachytelie entwickelt, bleibt er an dieses gebunden, und zwar nicht nur im Sinne eines historischen Anfangs aus diesem, sondern auch in dem eines sachlichen Fundiertseins in diesem. Dies zeigt sich einprägsam in Krisensituationen, wenn der Ruf nach der sonst totgesagten Philosophie als think tank sowie nach ihrer schöpferischen Potenz laut wird, so beispielsweise beim Paradigmemvechsel vom ptolemäisch geozentrischen zum kopernikanisch heliozentrischen Weltbild zu Beginn der Neuzeit oder in der Grundlagenkrise der Logik und Mathematik am Ende des 19., zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder bei den Anomalieeinbrüchen der Physik, die zur Substitution des klassischen Objekts durch das quantentheoretische führten, oder gegenwärtig bei der Ersetzung des hegemoniell vergewaltigenden Umgangs mit der Natur durch einen partnerschaftlich schonenden, einer anthropo83

zentrischen Ethik durch eine biozentrische. Gerade in solerweist sich das philosophischchen Umbruchsituationen ästhetische Paradigma als Quelle von Paradigrnensubstitutionen, als Ort, Stagnation zu überwinden aufgrund einer umfassenderen Sicht- und Denkweise, als es die eingeschliffenen sind. Nicht zufällig waren und sind die meisten genialen Physiker zugleich auch Philosophen, zumindest philosophisch geschult wie Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker. Das Verhältnis des naturwissenschaf tlich-technisch-technoläßt logischen Paradigmas zum philosophisch-ästhetischen sich in den Kategorien von Thomas S. Kuhns Interpretation der Wissenschaftsgeschichte als das von normalem zu revolutionärem Denken beschreiben. Während der Naturwissenschafts- und Technikfortschritt innerhalb seines Paradigmas und seines Rationalitätstyps bleibt, ohne diesen zu verlassen und nur dessen Implikationen expliziert in einem wegen der Unendlichkeit der Raum- und Zeitstruktur unabschließbaren Explikationsprozeß, ermöglicht das philosophisch-ästhetische Paradigma qualitative Sprünge in andere Paradigmen. Hierzu ermächtigt es seine Offenheit für andere Rationalitätstypen und Logiken. Sind das mathematisch-naturwissenschaftliche Paradigma und die darauf basierende Technik und Technologie an den reduktionistischen mathematischkonstruktiven Rationalitätstyp sowie an die Gesetze der binären Logik mit den Prinzipien der Identität, des auszuschließenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten gebunden, so kennt die kreative Potenz von Philosophie und Kunst weit umfassen~ere Rationalitätstypen, wie den dialektischen mit der Akzeptanz von Widerspruch und der Zulassung eines Dritten, also dem Sowohl-als-auch anstelle des Weder-noch, oder den analogischcn, der mit Entsprechungen und Ähnlichkeiten operiert, wie er sich historisch in den hermetischen Kosmogrammen der Renaissance ausgebildet hat und gegenwärtig in der Chaostheorie und fraktalen Geo84

metrie über das Prinzip der Selbstähnlichkeit reaktualisiert wird. Letzterer ermöglicht eine vZ:,iobeatifica. Allerdings sind diese Rationalitätstypen, die nicht selten als lrrationalismen und Ästhetizismen diskreditiert werden, viel zu wenig erforscht. Sonst würde sich zeigen, daß sie völlig transparente rationale Modelle universeller Verbindbarkeit heterogenster Gegenstände darstellen, die für jedermann nachvollziehbar und überprüfbar sind. 65 Weit gefehlt, daß Philosophie und Kunst den Naturwissenschaften unter- und nachgeordnet seien und einen niederern Rang einnähmen als sie, vielmehr bilden sie die Grundlage und Voraussetzung des naturwissenschaftlich-technischtechnologischen Paradigmas und haben Bestand, solange der Naturwissenschafts- und Technikprozeß besteht. Als dessen Bedingung besitzen sie grundsätzlich die Kompetenz zu dessen Steuerung und Korrektur. Wie aber ist dann erklärlich, daß sie diese Kompetenz verloren haben, zumindest verloren zu haben scheinen? Eine Antwort darauf läßt sich nur geben durch Nachzeichnung des Weges des europäischen Geistes in allen Bereichen der Philosophie, der Erkenntnistheorie, der Linguistik, der Ethik und der Ästhetik, weg von einer ursprünglich metaphysischen Position zu einer nachmetaphysischen. Dieser Weg ist der geschichtliche Wandel von Gebundenheit zu absoluter Freiheit und Autonomie, von der O~jektivität zur Subjektivität, von der Imitation der Natur zur Konstruktion der Natur. Sein Ergebnis ist ein scheinbarer Relativismus. Zu klären bleibt, ob die neu gewonnene Freiheit der Konstruktion des Seins wirklich nur eine unverbindliche, relative Setzung ist oder ob sie einem anderen Rationalitätsmodell als dem traditionellen der binären klassifikatorischen Logik folgt, einem, das genauso konsistent und kohärent ist, nur von anderer Art. Bevor diese Frage beantwortet werden kann, ist die Wandlung von der Imitation zur Konstruktion in den diversen Bereichen nachzuzeichnen.

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3.Von der Imitation zur Konstruktion: Der Wandel des Metaphysikbegriffs

3.1 Allgemeine Konstellation

Zu den Themen, die die gesamte abendländische Geistesund Kulturgeschichte durchziehen, die so alt sind wie die europäische Philosophie selbst und in deren Banne alle nachfolgenden Positionen stehen, gehört das Urbild-Abbildoder Vorbild-Nachahmungsverhältnis, das je nach dem Bereich, in dem es auftritt, eine spezifische Funktion erhält. Zwar ist das genannte Verhältnis allgemein menschlicher Art und auch für tierisches Verhalten charakteristisch. Es begegnet in sämtlichen Lebensbereichen, im sozialen zwischen Eltern und Kindern, im pädagogischen zwischen Lehrer und Schüler, Meister und Lehrling beziehungsweise Adept, im politischen zwischen Anführer und Volk, im religiösen zwischen Gott und Mensch; es bestimmt in allen diesen Bereichen das empirische Lernverhalten, wie es aus dem alltäglichen Umgang mit anderen Lebewesen bekannt ist und sich als Nachahmung und Nachmachen, sei es von Handlungen, Verhaltensweisen oder Zuständen, vollzieht. Seine Anwendung im philosophischen Bereich jedoch zur metaphysischen Erklärung der Wirklichkeit ist alles andere als selbstverständlich; denn warum sollte die faktisch vorliegende, uns begegnende Welt als Abbild zu verstehen sein, Abbild wovon, einer anderen Welt, die außerhalb unserer Wirklichkeitserfahrung läge und zu der wir keinen Zugang hätten? Trotz der langen und wirkungsmächtigen Tradition dieser Denkweise ist es prima vista keineswegs einleuchtend, der Wirklichkeit den Status eines Abbildes zu konzedieren. 87

Daß das Urbild-Abbild-Schema in unserem Kulturkreis derart philosophisch relevant werden konnte, dürfte mit der Spezifizität des europäischen Typs von Philosophie zusammenhängen; es gilt keineswegs ebenso für andere Philosophietypen. Die griechische Philosophie, die sich im 6. und 5. Jahrhundert vor Christus in Auseinandersetzung und Absetzung vom Mythos herausbildete und richtungsweisend für die spätere europäische Denktradition wurde, läßt sich in ihrer Grundstruktur als ein vermittelndes Denken beschreiben, und zwar von der Form des Aoyov 6Lö6vcn,wie der terminus technicus in Platons Phaidon 66 lautet, des Rechenschaft Gebens, des Begründens. In dem Maße, in dem die Unmittelbarkeit des magisch-mythischen Weltbildes, in dem der Mensch bis dahin unreflektiert und fraglos gelebt hatte, verlorenging, die ursprüngliche Einheit von Sein, Denken und Handeln zerbrach und nicht länger mehr eine individuelle, soziale und politische Identifikation gestattete, mußte nach einer anderen Vermittlung der auseinandergebrochenen Sphären Ausschau gehalten werden, und diese fand man in der aus dem forensischen Bereich stammenden Praxis der Reduktion der Tatsachen auf Gründe. Indem die faktisch vorliegende Welt auf von ihr unterschiedene Gründe reduziert oder umgekehrt aus diesen deduziert wurde, um sie auf diese Weise erklärlich zu machen, erhielten die Gründe den Status gleicherweise einer ratio esJnzdi wie einer ratio cognoscendz; eines Seins- wie eines Erklärungsgrundes. Da das begründende Denken grundsätzlich auf einer Diskrepanz zwischen Erklärungsgrund und dem daraus Abgeleiteten basiert, hat dieses Denken einen Dualismus beziehungsweise eine Stufung zur Vo.raussetzung. Zur Vermittlung tritt das Urbild-Abbildverhältnis auf den Plan, zwar nicht als das einzige - denn neben ihm lassen sich andere Verhältnisse zur Vermittlung der getrennten Sphären denken wie das UrsacheWirkungs- beziehungsweise Produktionsverhältnis, wie es beispielsweise im Schöpfungsakt Gottes gegenüber der Welt 88

begegnet, oder das Implikations-Explikationsverhältnis, wie es die Beziehung zwischen Grund und Folge kennzeichnet -, wohl aber als ein wichtiges, das in der abendländischen Philosophie in allen Bereichen Karriere gemacht hat. Im folgenden sollen verschiedene Bereiche aufgewiesen werden, in denen das Urbild-Abbildverhältnis eine Rolle spielt und unter je anderer Perspektive eine je eigene Funktion entwickelt. Es sind dies der metaphysische Bereich, in dem es als Verhältnis zwischen ideeller und realer Welt auftritt, der epistemologisch-linguistische Bereich, in dem es das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Erkenntnis, spezieller, Sprache bezeichnet, der ethische Bereich, in dem es unter dem Aspekt des Verhältnisses von Norm und Handlung erscheint, und der ästhetische, in dem es das Verhältnis von Natur und Kunst interpretiert. Da das Urbild-Abbildschema in einem historischen Kontext steht und von der Antike bis zur Neuzeit eine vVancllung durchgemacht hat, dahingehend, daß das Urbild mehr und mehr aus dem objektiven Seinsbereich in den subjektiven Bewußtseinsbereich verlagert wurde, gilt es, diese Wandlung nachzuzeichnen, zumal mit ihr in der Konsequenz eine Auflösung der O~jektivität und Singularität des Ur- beziehungsweise Vorbildes in bezug auf die Welterklärung in eine Pluralität su~jektiver Interpretationsmodelle verbunden ist. Die Geschichte ist den Weg von der seinsgebundenen Imitation zur freien, schöpferischen Konstruktion gegangen.

3. 2 Das metaphysischeUrbi!d-Abbzldverhä!tnisbei Platon Was den metaphysischen Bereich betrifft, so hat Platon paradigmatisch für die gesamte weitere Tradition das UrbildAbbildverhältnis zur Interpretation der Wirklichkeit am Ende des sechsten Buches und am Anfang des siebten Buches seiner Po!zteia67 exponiert. Anhand dreier Gleichnisse, des Son89

nen-, Linien- und Höhlengleichnisses, und besonders des mittleren demonstriert er seine Ontologie und Epistemologie. Man denke sich eine senkrechte, quaternal und proportional eingeteilte Linie mit jeweils einem kleineren, oberen und einem größeren, unteren Abschnitt. Der obere Bereich repräsentiert auf ontologischer Seite die ideelle Welt, der untere die Sinnenwelt. Da jeder dieser Bereiche nochmals zerfällt, ergeben sich, von oben nach unten gelesen, Ideen, Mathematika, Konkreta und Abbilder, denen auf epistemologischer Seite die Erkenntnisarten: Vernunft (voüc;),Verstand (öuxvow:), beziehungsweise Glaube (-rrCanc;)und Erfahrungserkenntis entsprechen. 68 Zum Ideenreich (dKcw(a) Abbilderkenntnis gehören die substantialisiert gedachten Begriffe der verschiedenen Gegenstandsklassen, der Pflanzen, Tiere, Menschen, Tugenden, Eigenschaften und so weiter, zu den Mathematika die ideellen geometrischen Figuren und arithmetischen Zahlen sowie Proportionen, zu den Konkreta die vier Elemente und deren Zusammensetzung zu den Dingen der Welt und zu den Abbildern die Schatten, Echos, die Spiegelbilder im Wasser und auf glänzenden Flächen. Das Entscheidende an dieser Konzeption ist die Tatsache, daß Platon mit dieser Stufung das Urbild-Abbildverhältnis in Verbindung bringt, das eine Abspiegelung und graduelle vorsieht. Von unten Abschattung der Ursprungsdimension wie schon der Name beginnend stellen die Abbilder (ELKcxaCcx), besagt, Ablichtungen konkreter Gegenstände dar. Diese selbst wieder wie der gesamte sinnliche Bereich werden als Abbilder der ideeller) Welt betrachtet. Obgleich Platon dies nicht expressis verbis behauptet, steht zu vermuten, daß auch die Mathematika innerhalb des ideellen Bereichs, da sie auf reiner Raum- und Zeitanschauung beruhen, als Abbilder der reinen Ideen fungieren, die ihrerseits den Maßstab und die Richtschnur für die hierarchischen Verhältnisse abgeben.

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Da ontologischer und epistemologischer Bereich vermittelt werden durch das höchste Prinzip, die Idee des Guten, die als &.vuTT60nov,als Voraussetzungsloses, den Grund von allem bildet, selbst aber nicht mehr in anderem begründet ist, ließe sich in gewisser Weise der gesamte Seins- und Erkenntnisbereich als Abbild dieses Prinzips betrachten. Das Liniengleichnis mit seinem vertikalen und horizontalen Aufbau vereint die beiden anderen Gleichnisse in sich, das Höhlengleichnis, das auf einer Auf- und Abstiegsbewegung basiert, und das Sonnengleichnis, das ein vertikales Prinzip in zwei gleichgebauten Bereichen verfolgt. Wegen seiner Bekanntheit braucht das Höhlengleichnis aus dem Anfang des siebten Buches der Politeza nicht detailliert expliziert zu werden; es genügt eine kurze Skizzierung mit den für diesen Kontext wesentlichen Akzentuierungen. Menschen leben in einer Höhle. An Hals und Schenkeln gefesselt, vermögen sie nur auf eine ihnen gegenüberliegende Wand zu starren und die dort vorbeihuschenden Schatten sowie die von dort reflektierten Echos wahrzunehmen, die von Stimmen und Gerätschaften resultieren, welche letzteren hinter ihrem Rücken vorübergetragen und von einem Höhlenfeuer beschienen werden. Würde nun einer dieser Menschen befreit werden und sich umzusehen imstande sein, so würde er die im Rücken vorbeigetragenen Gegenstände als eigentlicher und wahrer erachten als die Schatten und das Höhlenfeuer als Ursache der Schatten erkennen, und würde es ihm darüber hinaus gelingen, einen steilen, holperigen Weg aus der Höhle heraus in die Oberwelt zu finden, so würde er auch hier zunächst, geblendet vom hellen Sonnenlicht, die Schatten und Spiegelbilder ausmachen und die Gegenstände bei Nacht erblicken und für wahrer halten als die Gegenstände in der Höhle, mit der Zeit aber, gewöhnt ans Licht, die Dinge bei Tag und zuletzt die Sonne als Urheberin von allem erkennen.

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Auch dieses Gleichnis lebt von der Unterscheidung einer hellen Tages- und einer dunklen Höhlenwelt, mit denen der ideelle und der sinnliche Bereich gemeint sind, und ihrem Urbild-Abbildverhältnis. Wie die Ober- und Unterwelt gestuft und abgeschattet auf treten, so gilt Entsprechendes auch innerhalb dieser Bereiche: der obere ist geliedert in Tag und Nacht, der untere in künstliche Gegenstände, Gerätschaften und deren Schatten. Auch das Sonnengleichnis benutzt das Urbild-Abbildschema, nur nicht mehr in einfacher linearer Folge innerhalb des ontologischen und epistemologischen Bereiches, sondern zur Darstellung der Vermittlung beider. Wie die Sonne im sinnlichen Bereich nicht allein Ursache des Werdens, Wachsens und Gedeihens ist, sondern auch Ursache des Sehvorgangs, dafür, daß das Auge zum O~jekt und das Objekt zum Auge dringen kann, ohne selbst gesehen zu werden - denn im Licht sehen wir, das Licht selbst sehen wir nicht -, so fungiert die Idee des Guten im ideellen Bereich einerseits als Prinzip des Seins, andererseits als Prinzip des Erkenntnisvorgangs, dafür, daß das Denken die Ideen erfassen kann und umgekehrt diese sich in ihrem An-sich-Sein, ihrer Unverhülltheit und Wahrheit dem Denken zeigen können. Das Prinzip des Seins und der Erkenntnis selbst ist 6 ETTEKELV