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German Pages 178 Year 2005
Jürgen Habermas
Die Zukunft der
menschlichen NETT, Aufdem : zu einer | libera en | | Suhrkampa
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1744
Nach wie vor wird die Debatte über die Gentechnik und ihre Folgen lebhaft geführt. In seinem vieldiskutierten und nun als Taschenbuch vorliegenden Buch Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? bezieht Jürgen Habermas dezidiert Stellung. Er führt die philosophische Auseinandersetzung über den Umgang mit Genforschung und Gentechnik vom weltanschaulichen Streit über den moralischen Status des vorpersonalen menschlichen Lebens weg und nimmt die Perspektive einer künftigen Gegenwart ein - einer Gegenwart, aus der wir vielleicht auf die heute umstrittenen Praktiken als Schrittmacher einer liberalen, über Angebot und Nachfrage geregelten Eugenik zurückblicken. Jürgen Habermas,
geboren
1929,
ist Professor emer.
für Philo-
sophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sein Werk liegt im Suhrkamp Verlag vor. »Habermas hebt die gentechnische Debatte auf ein Reflexionsniveau, das unser ethisches Selbstverständnis als Gattung betrifft.« Berliner Zeitung
:
Jürgen Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Erweiterte Ausgabe
Suhrkamp
Diese Ausgabe ist textidentisch mit der vierten, erweiterten Auflage, die 2002 im Suhrkamp Verlag erschien.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie http://dnb.ddb.de suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1744 Erste Auflage 2005 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001, 2002 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
ISBN 3-518-29344-3 E23. 4 516°
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07.06.05
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Die Zukunft der menschlichen Natur
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Inhalt
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Begründete Enthaltsamkeit. Gibt es postmetaphysische Antworten auf die Frage nach dem Boentigen Leben art. Men ea
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Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Der Streit um das ethische Selbstverständnis Fe Atene oe MEN N
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I Was heifstt Moralisierung der menschlchemiNatunäskiers. mn Mar al ee II Menschenwürde vs. Würde des menschlichenskebenstt ul. Er Pau oral ee EE IV Das Gewachsene und das Gemachte ....
46 56
70 80
V Instrumentalisierungsverbot, Natalität undsSelbstseinkönnen m 3.2, HE VI Moralische Grenzen der Eugenik ...... VII Schrittmacher einer SelbstinstrumentaliSierunglen Gattiimg EINEM IE
93 105
Postscriptum (Jahreswende 2001/2002)
127
II4
Vorwort
Aus Anlass der Verleihung des Dr. Margrit EgnerPreises 2000 habe ich am 9. September vergangenen Jahres an der Universität Zürich einen Vortrag gehalten, dem der Text Begründete Enthaltsamkeit zugrunde lag.' Darin gehe ich von der Unterscheidung zwischen Kantischer Gerechtigkeitstheorie und Kierkegaardscher Ethik des Selbstseins aus und verteidige die Enthaltsamkeit, die sich das postmetaphysische Denken im Hinblick auf verbindliche Stellungsnahmen zu substantiellen Fragen des guten oder nicht-verfehlten Lebens auferlegt. Das ist der kontrastierende Hintergrund für eine Gegenfrage, die sich angesichts des durch die Gentechnik ausgelösten Streites stellt: Darf sich die Philosophie dieselbe Enthaltsamkeit auch noch in Fragen der Gattungsethik leisten ? Der Haupttext mischt sich, ohne die Prämissen nachmetaphysischen Denkens preiszugeben, in diesen Streit ein. Er verdankt sich der Ausarbeitung der am 28. Juni an der Universität Marburg gehaltenen Christian Wolff-Vorlesung. Bisher kreist die Auseinandersetzung über den Umgang mit Genforschung und Gentechnik ergebnislos um die Frage des moralischen Status des vorpersonalen menschlichen Lebens. Deshalb nehme ich die Perspektive einer künfı In einer gekürzten Fassung erschienen in: Neue Rundschau, 112. Jahrgang, 2001, Heft 23, $.93-103.
tigen Gegenwart ein, aus der wir möglicherweise einmal auf die heute umstrittenen Praktiken als
Schrittmacher einer liberalen, über Angebot und Nachfrage geregelten Eugenik zurückblicken werden. Embryonenforschung und PID erregen nämlich die Gemüter vor allem deshalb, weil sie eine Gefahr
exemplifizieren, die sich mit der Metapher der »Menschenzüchtung« verbindet. Wir fürchten nicht ohne Grund, dass ein dichter intergenerationeller
Handlungsstrang entsteht, für den niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann, weiler einseitig in vertikaler Richtung durch die zeitgenössischen Interaktionsnetze hindurchgreift. Demgegenüber ziehen die therapeutischen Ziele, auf die auch alle gentechnischen Eingriffe festgelegt werden sollten, jeder Intervention enge Grenzen. Ein Therapeut muss sich auf zweite Personen
einstellen, mit deren Einver-
ständnis gerechnet werden darf.
Das zur Jahreswende abgefasste Postskriptum zum Haupttext, das auf erste Einwände antwortet, dient
weniger der Revision als der Verdeutlichung meiner ursprünglichen Intention. Starnberg, 31. Dezember 2001
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Jürgen Habermas
Begründete Enthaltsamkeit. Gibt es postmetaphysische Antworten auf die Frage nach dem »richtigen Leben« ? Im Anblick von »Stiller« lässt Max Frisch den Staatsanwalt fragen: »Was macht der Mensch mit der Zeit seines Lebens? Die Frage war mir kaum bewusst, sie irritierte mich bloß. « Frisch stellt die Frage im Indikativ. Der nachdenkliche Leser gibt ihr, in der Sorge um sich selbst, eine ethische Wendung: »Was soll ich mit der Zeit meines Lebens machen ?« Lange genug meinten Philosophen, dafür geeignete Ratschläge parat zu haben. Aber heute, nach der Metaphysik, traut sich die Philosophie verbindliche Antworten auf Fragen der persönlichen oder gar der kollektiven Lebensführung nicht mehr zu. Die Minima Moralia beginnen mit einem melancholischen
Refrain auf Nietzsches fröhliche Wissenschaft — mit dem Eingeständnis eines Unvermögens:
»Die trau-
rige Wissenschaft, aus der ich meinen Freunden einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt [. ..] die Lehre vom richtigen Leben.«* Inzwischen ist die Ethik, wie Adorno meint, zur traurigen Wissenschaft regrediert, weil sie bestenfalls zer-
streute, in aphoristischer Form festgehaltene »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« erlaubt.
2 T.W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt am Main 1951, 8.7. IT
Solange die Philosophie noch glaubte, sich des Ganzen der Natur und der Geschichte versichern zu können, verfügte sie über den vermeintlich feststehenden Rahmen, in den sich das menschliche Leben der Individuen und der Gemeinschaften einzufügen habe. Der Aufbau des Kosmos und die Menschenna-
tur, die Stadien der Welt- und der Heilsgeschichte lieferten normativ imprägnierte Tatsachen, die, so schien es, auch über das richtige Leben Aufschluss gaben. »Richtig« hatte hier den exemplarischen Sinn eines nachahmenswerten Modells für das Leben, sei
es des Einzelnen oder der politischen Gemeinschaft. Wie die großen Religionen den Lebensweg ihrer Stifter als Heilsweg präsentieren, so bot auch die Metaphysik ihre Lebensmodelle an - für die wenigen freilich ein anderes als für die vielen. Die Lehren vom guten Leben und der gerechten Gesellschaft, Ethik und Politik, waren noch aus einem Guss. Aber mit
der Beschleunigung des sozialen Wandels sind auch die Verfallszeiten dieser Modelle des sittlichen Le-
bens immer kürzer geworden - ob sie sich nun an der griechischen Polis ausrichteten, an den Ständen der mittelalterlichen societas civilis, am allseitigen Individuum der städtischen Renaissance oder, wie bei
Hegel, am Gefüge von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und konstitutioneller Monarchie. Der politische Liberalismus eines John Rawls markiert den Endpunkt dieser Entwicklung. Er reagiert auf den Pluralismus der Weltanschauungen und auf 12,
die fortschreitende Individualisierung der Lebensstile. Er zieht aus dem Scheitern der philosophischen Versuche, bestimmte Lebensweisen als vorbildlich oder allgemein verbindlich auszuzeichnen, die Konsequenz. Die »gerechte Gesellschaft« stellt allen Personen anheim, was sie »mit der Zeit ihres Lebens anfangen« wollen. Sie garantiert jedem die gleiche Freiheit, ein ethisches Selbstverständnis zu entwikkeln, um eine persönliche Konzeption vom »guten Leben« nach eigenem Können und Gutdünken zu verwirklichen. Natürlich bilden sich individuelle Lebensentwürfe nicht unabhängig von intersubjektiv geteilten Lebenszusammenhängen. Aber innerhalb einer komplexen Gesellschaft kann sich eine Kultur gegen andere Kulturen nur dadurch behaupten, dass sie ihre nachwachsenden Generationen, die auch Nein sa-
gen dürfen, von den Vorzügen ihrer welterschließenden Semantik und ihrer handlungsorientierenden Kraft überzeugt. Einen kulturellen Artenschutz kann und darf es nicht geben. In einem demokratischen Verfassungsstaat darf auch die Mehrheit den Minderheiten die eigene kulturelle Lebensform - soweit diese von der gemeinsamen politischen Kultur des Landes abweicht - nicht als sogenannte Leitkultur vorschreiben. Wie das Beispiel zeigt, verzichtet die praktische Philosophie auch heute nicht auf normative Überlegungen überhaupt. Aber sie beschränkt sich im Großen und Ganzen auf Fragen der Gerechtigkeit. Sie bemüht sich insbesondere um die Klärung des morali13
schen Gesichtspunktes, unter dem wir Normen und Handlungen immer dann beurteilen, wenn es darum geht, festzustellen, was im gleichmäßigen Interesse eines jeden liegt und gleichermaßen gut für alle ist. Auf den ersten Blick scheinen sich Moraltheorie und Ethik von derselben Frage leiten zu lassen: »Was soll ich, was sollen wir tun ?« Allein, das »Sollen« erhält einen anderen Sinn, wenn wir nicht mehr aus einer
inklusiven Wir-Perspektive nach den Rechten und Pflichten fragen, die alle einander gegenseitig zuschreiben, sondern wenn wir aus der Perspektive der ersten Person um unser eigenes Leben besorgt sind und fragen, was zu tun »für mich« oder »für uns« auf lange Sicht - und alles in allem betrachtet — das Beste ist. Denn solche ethischen Fragen nach dem eigenen Wohl und Wehe stellen sich im Kontext einer bestimmten Lebensgeschichte oder einer besonderen Lebensform. Sie sind mit Fragen der Identität verschwistert: Wie wir uns verstehen ‘sollen, wer wir
sind und sein wollen. Darauf gibt es offensichtlich keine vom jeweiligen Kontext unabhängige, also all-
gemeine, für alle Personen gleichermaßen verbindliche Antwort. Deshalb gehen heute Theorien der Gerechtigkeit und der Moral eigene Wege, andere jedenfalls als die »Ethik«, wenn wir diese im klassischen Sinne als eine Lehre vom richtigen Leben verstehen. Unter
dem moralischen Gesichtspunkt sind wir gehalten, von jenen exemplarischen Bildern eines gelingenden oder nicht verfehlten Lebens zu abstrahieren, die in den großen metaphysischen und religiösen Erzäh-
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lungen überliefert sind. Von der Substanz dieser Überlieferungen mag unser existentielles Selbstverständnis nach wie vor zehren, aber in den Streit die-
ser Glaubensmächte selber kann die Philosophie nicht mehr aus eigenem Recht eingreifen. Gerade in den Fragen, die für uns die größte Relevanz haben, begibt sie sich auf eine Metaebene und untersucht nur mehr die Formeigenschaften von Selbstverständigungsprozessen, ohne zu den Inhalten selbst Stellung zu nehmen. Das mag unbefriedigend sein, aber was lässt sich gegen eine gut begründete Enthaltsamkeit ins Feld führen? Freilich zahlt die Moraltheorie für ihre Arbeitsteilung mit einer Ethik, die auf die Formen der existentiellen Selbstverständigung spezialisiert ist, einen hohen Preis. Damit löst sie nämlich den Zusammenhang auf, der moralischen Urteilen erst die Motivation zum richtigen Handeln sichert. Moralische Einsichten binden den Willen erst dann effektiv, wenn sie in ein ethisches Selbstverständnis eingebettet sind, welches die Sorge ums eigene Wohl für das Interesse an Gerechtigkeit einspannt. Deontologische Theorien in der Nachfolge Kants mögen noch so gut erklären können, wie moralische Normen zu begründen und anzuwenden sind; aber auf die Frage, warum wir überhaupt moralisch sein sollen, bleiben sie die Antwort schuldig. Ebenso wenig können politische Theorien die Frage beantworten, warum sich die Bürger eines demokratischen Gemeinwesens im Streit um Prinzipien des Zusammenlebens am Gemeinwohl orientieren sollen, statt sich mit einem 25
zweckrational ausgehandelten Modus Vivendi zufrieden zu geben. Die von Ethik entkoppelten Theorien der Gerechtigkeit können nur auf das »Entgegenkommen« von Sozialisationsvorgängen und politischen Lebensformen hoffen. Noch beunruhigender ist die andere Frage, warum die philosophische Ethik das Feld für jene Psychotherapien räumen sollte, die sich bei der Beseitigung psychischer Störungen der klassischen Aufgabe der Lebensorientierung ohne große Skrupel annehmen.
Der philosophische Kern der Psychoanalyse tritt beispielsweise deutlich bei Alexander Mitscherlich hervor, der die psychische Krankheit als Beeinträchtigung einer spezifisch menschlichen Existenzweise versteht. Sie bedeute einen selbstverschuldeten Verlust an Freiheit, weil der Kranke mit seinen Symptomen ein unbewusst gemachtes Leiden nur kompensiert — ein Leiden, dem er durch Selbstverbergung entgeht. Das Ziel der Therapie sei eine Selbsterkenntnis, die »oft nicht mehr ist als die Verwandlung von Krankheit in Leid, aber in ein Leid, das den
Rang des Homo sapiens erhöht, weil es seine Frei-
heit nicht vernichtet«.” Der Begriff der psychischen »Krankheit« verdankt sich einer Analogiebildung zur somatischen Krankheit. Aber wie weit trägt die Analogie, wenn auf psychischem Gebiet beobachtbare und eindeutig beur3 A. Mitscherlich, Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit, Studien
zur psychosomatischen SARZ8.
Medizin 3, Frankfurt am Main
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1977,
teilbare Parameter für den gesunden Zustand weitgehend fehlen? Offenbar muss ein normatives Verständnis des »ungestörten Selbstseins« die fehlenden somatischen Indikatoren ersetzen. Das wird besonders in Fällen deutlich, wenn der Leidensdruck, der den Patienten zum Analytiker treibt, selbst verdrängt wird, sodass sich die Störung unauffällig ins normale Leben einfügt. Warum sollte die Philosophie vor dem zurückschrecken, was sich beispielsweise die Psychoanalyse zutraut? Es geht um die Klärung unseres intuitiven Verständnisses der klinischen Züge eines verfehlten oder nicht verfehlten Le-
bens. Die erwähnte Äußerung von Alexander Mitscherlich verrät ohnehin die Spuren von Kierkegaard und dessen existenzphilosophischen Nachfolgern. Das ist kein Zufall.
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Kierkegaard war der Erste, der die ethische Grundfrage nach dem Gelingen und Misslingen des eigenen Lebens mit einem nachmetaphysischen Begriff des »Selbstseinkönnens« beantwortet hat. Für Kierkegaards philosophische Nachfolger - für Heidegger, Jaspers und Sartre - ist dieser von der lutherischen Frage nach dem gnädigen Gott umgetriebene Protestant freilich ein harter Brocken. Kierkegaard hat in der Auseinandersetzung mit dem spekulativen Denken Hegels auf die Frage nach dem richtigen Leben zwar eine postmetaphysische, aber eine zutiefst reliI7
giöse, zugleich eine theologische Antwort gegeben. Jedoch haben die auf methodischen Atheismus verpflichteten Existenzphilosophen in Kierkegaard den Denker erkannt, der die ethische Frage auf überraschend innovative Weise erneuert und auf eine sowohl substantielle wie auch hinreichend formale Weise beantwortet - hinreichend formal im Hinblick auf einen legitimen weltanschaulichen Pluralismus, der jede Bevormundung in genuin ethischen Fragen verbietet.* Den philosophischen Anknüpfungspunkt bietet natürlich der Kierkegaard von Entweder/Oder mit seiner Gegenüberstellung von »ethischer« und »ästhetischer« Lebensanschauung. Nicht ohne Sympathie zeichnet Kierkegaard in den attraktiven Farben der Frühromantik das Bild einer lässig-ironisch dahintreibenden, dem reflektierten Genuss und dem Augenblick verhafteten, egozentrisch spielerischen Existenz. Zu diesem Hedonismus bildet eine entschlossen ethische Lebensführung, die vom Einzelnen verlangt, sich zu sammeln und aus den Abhängigkeiten einer überwältigenden Umwelt zu lösen, den gewünschten Kontrast. Der Einzelne muss sich zum Bewusstsein seiner Individualität und Freiheit aufraffen. Mit der Emanzipation aus selbstverschuldeter Verdinglichung gewinnt er zugleich Distanz zu sich selbst. Er holt sich aus der anonymen Zerstreuung eines atemlos in Fragmente zerfallenen Lebens zurück und verleiht dem eigenen Leben Kontinuität und Durchsichtigkeit. In der so4 J. Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main 1998. 18
zialen Dimension kann eine solche Person Verantwortung fürs eigene Handeln übernehmen und Verbindlichkeiten gegenüber anderen eingehen. In der zeitlichen Dimension stiftet die Sorge um sich selbst ein Bewusstsein von der Geschichtlichkeit einer Existenz, die sich in den simultan verschränkten Horizonten von Zukunft und Vergangenheit vollzieht. Die derart ihrer selbst bewusst gewordene Person »hat sich selbst als eine Aufgabe, die (ihr) gesetzt ist, mag sie die auch dadurch geworden sein, dass (sie)
sie gewählt hat«.° Kierkegaard geht stillschweigend davon aus, dass der selbstbewusst existierende Einzelne im Lichte der Bergpredigt kontinuierlich Rechenschaft über sein Leben ablegt. Über die moralischen Maßstäbe selbst, die eine säkulare Gestalt in Kants egalitärem Universalismus gefunden haben, verliert er nicht viele Worte. Alle Aufmerksamkeit gilt vielmehr der Struktur des Selbstseinkönnens, d.h. der Form einer ethischen Selbstreflexion und Selbstwahl, die vom
unendlichen Interesse am Gelingen des eigenen Lebensentwurfs bestimmt ist. Der Einzelne eignet sich die Vergangenheit seiner faktisch vorgefundenen und konkret vergegenwärtigten Lebensgeschichte im Hinblick auf künftige Handlungsmöglichkeiten selbstkritisch an. Dadurch erst macht er sich zur unvertretbaren Person und zum unverwechselbaren Individuum. 5 S. Kierkegaard, Entweder/Oder, hrsg. von H. Diem und W. Rest, Köln und Olten, 1960, S. 830.
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Der Einzelne bereut die verwerflichen Aspekte seines vergangenen Lebens und entschließt sich zur Kontinuierung jener Handlungsweisen, in denen er sich ohne Scham wiedererkennen kann. Auf diese Weise artikuliert er das Selbstverständnis der Person, als die er von anderen erkannt und anerkannt werden möchte. Durch eine moralisch skrupulöse Bewertung und kritisch sondierende Aneignung der faktisch vorgefundenen Lebensgeschichte konstituiert er sich als die Person, die er zugleich ist und sein möchte: » Alles, was durch seine Freiheit gesetzt ist, gehört ihm wesentlich zu, wie zufällig es auch scheine. . .« Kierkegaard ist freilich weit von Sartres Existentialismus entfernt, wenn er hinzufügt: »Diese Distinktion ist für das ethische Individuum nicht etwa eine Frucht seiner Willkür. [....] Wohl darf (es) den Ausdruck gebrauchen, es sei sein eigener Redakteur; aber es ist der verantwortliche Redakteur [.. .] verantwortlich gegenüber der Ordnung der Dinge, in der es lebt, verantwortlich gegenüber Gott.«® Kierkegaard ist davon überzeugt, dass die ethische, aus eigener Kraft hervorgebrachte Existenzform nur im Verhältnis des Gläubigen zu Gott stabilisiert werden kann. Er lässt zwar die spekulative Philosophie hinter sich und denkt insofern postmetaphysisch, aber keineswegs postreligiös. Allerdings bedient er sich in diesem Zusammenhang ironischerweise eines schon von Hegel gegen Kant verwendeten Argumentes. Solange wir die Moral, die den Maßstab zur 6 Ebd., $. 827. 20
Selbsterforschung liefert, im sokratischen oder kantischen Sinne allein auf menschliche Erkenntnis grün-
den, fehle die Motivation zur Umsetzung moralischer Urteile in die Praxis. Kierkegaard bekämpft nicht so sehr den kognitiven Sinn als vielmehr das intellektualistische Missverständnis der Moral. Könnte die Moral den Willen des erkennenden Subjekts allein durch gute Gründe in Bewegung setzen, wäre jener desolate Zustand, den der Zeitkritiker Kierkegaard immer
wieder aufspieftt, nicht zu erklären - der Zustand einer christlich aufgeklärten und moralisch selbstgerechten, aber zutiefst korrupten Gesellschaft: »Man kann darüber sowohl lachen wie weinen, wenn man sieht, dass all dieses Wissen und Verstehen überhaupt keine Macht über das Leben der Menschen ausübt.«’
Die zur Normalität geronnene Verdrängung oder zynische Anerkennung eines ungerechten Weltzustandes sprechen nicht für ein Defizit an Wissen, sondern für eine Korruption des Willens. Die Menschen, die es besser wissen könnten, wollen nicht verstehen. Deshalb spricht Kierkegaard nicht von Schuld, sondern von Sünde. Sobald wir jedoch Schuld als Sünde interpretieren, wissen wir, dass wir auf Vergebung angewiesen sind und unsere Hoffnung auf eine absolute Macht setzen müssen, die in den Lauf der Geschichte retroaktiv eingreifen und die verletzte Ordnung sowie die Integrität der Opfer wiederherstellen 7 5. Kierkegaard, Die Krankheit zum
Frankfurt am Main 1984, S.85. ZT
Tode, hrsg. v. L. Richter,
kann. Erst dieses Heilsversprechen bildet die motivierende Verbindung zwischen einer unbedingt fordernden Moral und der Sorge um sich selbst. Eine postkonventionelle Gewissensmoral kann nur dann, wenn sie in ein religiöses Selbstverständnis eingebettet ist, zum Kristallisationskern einer bewussten Le-
bensführung werden. Kierkegaard spielt das Motivationsproblem gegen Sokrates und Kant aus, um über beide hinaus zu Christus zu gelangen. Allerdings ist sich Climacus - Kierkegaards pseudonymer Autor der Philosophischen Brocken - keineswegs sicher, dass die christliche Erlösungsbotschaft, die er hypothetisch als ein »Denkprojekt« betrachtet, »wahrer« ist als das immanente Denken, das sich in den postmetaphysischen Grenzen weltanschaulicher Neutralität bewegt.° Deshalb lässt Kierkegaard einen Anticlimacus auftreten, der seinen säkularen Gegenspieler zwar nicht mit Argumenten zwingen,
aber mithilfe einer psychologischen Phänomenologie veranlassen möchte, »über Sokrates hinauszugehen«. Kierkegaard beschreibt anhand symptomatischer Lebensformen die Erscheinungsformen einer heilsamen »Krankheit zum Tode« - die Gestalten einer zunächst verdrängten, dann über die Bewausstseinsschwelle tretenden und schließlich zur Umkehrung des ichzentrierten Bewusstseins nötigenden Verzweiflung. Diese Gestalten der Verzweiflung sind 85. Kierkegaard, Philosophische Brocken, hrsg. v. L. Richter, Frankfurt am Main 1984, vgl. den Schluss »Die Moral«, S. ıor. 22
ebenso viele Manifestationen der Verfehlung eines existentiellen Grundverhältnisses, das allein ein authentisches Selbstsein möglich machen könnte. Kierkegaard schildert den beunruhigenden Zustand einer Person, die sich ihrer Bestimmung, ein Selbst sein zu müssen, zwar bewusst wird, aber daraufhin in die Alternativen flüchtet, »verzweifelt nicht man selbst sein (zu) wollen, oder noch niedriger: verzweifelt nicht ein Selbst sein (zu) wollen, oder am allerniedrigsten:
ein anderer
sein
(zu) wollen
als man
selbst«.” Wer schließlich erkennt, dass die Quelle der Verzweiflung nicht in den Umständen, sondern in den eigenen Fluchtbewegungen liegt, wird den trotzigen, aber ebenso erfolglosen Versuch unternehmen, »man selbst sein zu wollen«. Das verzweifelte
Scheitern dieses letzten Kraftaktes — des sich ganz auf sich selbst versteifenden Selbstseinwollens — bewegt den endlichen Geist zur Transzendierung seiner selbst und zur Anerkennung der Abhängigkeit von einem Anderen, worin die eigene Freiheit gründet. Diese Umkehr soll den Wendepunkt des Exerzitiums, die Überwindung des säkularisierten Selbstverständnisses der modernen Vernunft markieren. Denn Kierkegaard beschreibt diese Wiedergeburt mit einer Formel, die an die ersten Paragraphen von Fichtes Wissenschaftslehren erinnert, während sie zugleich den autonomen Sinn der Tathandlung in ihr Gegenteil verkehrt: »Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das 9 5. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 5. 51.
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Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.«'” Damit wird das Grundverhältnis sichtbar, welches
Selbstsein als die Form des richtigen Lebens möglich macht. Obwohl die wörtliche Bezugnahme auf eine »Macht«, in der das Selbstseinkönnen gründet, nicht in einem religiösen Sinne verstanden werden muss, beharrt Kierkegaard darauf, dass der menschliche Geist nur durch das Sündenbewusstsein zum richtigen Verständnis seiner endlichen Existenz gelangen kann: Das Selbst existiert wahrhaftig allein im Angesichte Gottes. Es überlebt die Stadien höffnungsloser Verzweiflung nur in der Gestalt eines Gläubigen, der, indem er sich zu sich selbst verhält, zu einem absolut Anderen verhält, dem er alles verdankt.'!
Kierkegaard betont, dass wir von Gott keinen konsistenten Begriff bilden können — weder via eminentiae noch via negationis. Jede Idealisierung bleibt den endlichen Grundprädikaten verhaftet, von denen die Operation der Steigerung äusgeht; und aus demselben Grunde scheitert auch der Versuch des Verstandes, das absolut Andere durch die Negation aller endlichen Bestimmungen zu bestimmen: »Die absolute Verschiedenheit kann der Verstand nicht denken. Absolut kann er sich selbst nicht negieren, denn er benutzt sich selbst dazu und denkt den Un-
terschied in sich selbst.«!* Die Kluft zwischen Wisıo Ebd., S. 14. rı M. Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung, Meisenheim/Frankfurt am Main 1991. 12 $. Kierkegaard, Philosophische Brocken, S.43.
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sen und Glauben kann denkend nicht überbrückt werden. Das ist für die philosophischen Schüler natürlich ein Ärgernis. Gewiss, auch ein sokratischer Denker, der sich nicht auf offenbarte Wahrheiten stützen kann, wird der suggestiven Phänomenologie der »Krankheit zum Tode« folgen und akzeptieren können, dass der endliche Geist von Ermöglichungsbedingungen abhängt, die sich seiner Kontrolle entziehen. Die ethisch bewusste Lebensführung darf nicht als bornierte Selbstermächtigung verstanden werden. Der sokratische Denker wird Kierkegaard auch darin zustimmen, dass die Abhängigkeit von einer unverfügbaren Macht nicht naturalistisch zu verstehen ist,
sondern zunächst ein interpersonales Verhältnis betrifft. Denn der Trotz einer sich aufbäumenden Person, die am Ende verzweifelt sie selbst sein will, richtet sich - als Trotz - gegen eine zweite Person. Aber das Unverfügbare, von dem wir sprach- und handlungsfähigen Subjekte in der Sorge, unser Leben zu verfehlen, abhängig sind, können wir unter Prämissen eines nachmetaphysischen Denkens nicht mit dem »Gott in der Zeit« identifizieren. Die linguistische Wende erlaubt eine deflationistische Deutung des »ganz Anderen«. Als geschichtliche und soziale Wesen finden wir uns immer schon in einer sprachlich strukturierten Lebenswelt vor. Schon in den Kommunikationsformen, worin wir uns miteinander über etwas in der Welt und über uns selbst verständigen, begegnet uns eine transzendierende Macht. Die Sprache ist kein privates Eigen25
tum. Niemand besitzt eine exklusive Verfügung über das gemeinsame Medium der Verständigung, das wir uns intersubjektiv teilen müssen. Kein einzelner
Teilnehmer kann die Struktur oder gar den Verlauf von Prozessen der Verständigung und der Selbstverständigung kontrollieren. Wie Sprecher und Hörer von ihrer kommunikativen Freiheit zu Ja- oder Nein-Stellungnahmen Gebrauch machen, ist keine Sache subjektiver Willkür. Denn frei sind sie nur
dank der bindenden Kraft der begründungsbedürftigen Ansprüche, die sie gegeneinander geltend machen. Im Logos der Sprache verkörpert sich eine Macht des Intersubjektiven, die der Subjektivität der Sprecher voraus- und zugrunde liegt. Diese schwache prozeduralistische Lesart des »Anderen« wahrt den fallibilistischen und zugleich antiskeptischen Sinn von »Unbedingtheit«. Der Logos der Sprache entzieht sich unserer Kontrolle, und doch sind wir es, die sprach- und handlungsfähigen Subjekte, die sich in diesem Medium miteinander
verständigen. Es bleibt »unsere« Sprache. Die Unbedingtheit von Wahrheit und Freiheit ist eine notwendige Voraussetzung unserer Praktiken, aber jenseits der Konstituentien »unserer« Lebensform entbehren
sie jeder ontologischen Gewähr. So ist auch das »richtige« ethische Selbstverständnis weder offenbart noch in anderer Weise »gegeben«. Es kann nur in gemeinsamer Anstrengung gewonnen werden. Aus dieser Perspektive erscheint das, was unser Selbstsein möglich macht, eher als transsubjektive denn als absolute Macht. 26
II
Die postmetaphysische Ethik Kierkegaards erlaubt auch aus dieser postreligiösen Sicht die Charakterisierung eines nicht verfehlten Lebens. Die allgemeinen Aussagen über Weisen des Selbstseinkönnens sind keine dichten Beschreibungen, aber sie haben normativen Gehalt und Orientierungskraft.
Indem sich diese Ethik der Beurteilung zwar nicht des existentiellen Modus, aber der bestimmten Ausrichtung individueller Lebensentwürfe und partikularer Lebensformen enthält, genügt sie den Bedingungen des weltanschaulichen Pluralismus. Die postmetaphysische Enthaltsamkeit stößt jedoch interessanterweise an ihre Grenze, sobald es um Fragen einer »Gattungsethik« geht. Sobald das ethische Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte im Ganzen auf dem Spiel steht, kann sich die Philosophie inhaltlichen Stellungnahmen nicht mehr entziehen. In dieser Situation befinden wir uns heute. Der Fortschritt der Biowissenschaften und die Entwicklung der Biotechnologien erweitern nicht nur bekannte Handlungsmöglichkeiten, sondern ermöglichen einen neuen Typus von Eingriffen. Was bisher als organische Natur »gegeben« war und allenfalls »gezüchtet« werden konnte, rückt nun in den Bereich der zielgerichteten Intervention. In dem Maße, wie auch der menschliche Organismus in diesen Ein-
griffsbereich einbezogen wird, erhält Helmuth Plessners phänomenologische Unterscheidung zwischen 27
»Leib sein« und »Körper haben« eine überraschende Aktualität: Die Grenze zwischen der Natur, die wir »sind«, und der organischen Ausstattung, die wir
uns selber »geben«, verschwimmt. Für die herstellenden Subjekte entsteht damit eine neue, in die Tiefe des organischen Substrats hineinreichende Art des Selbstbezuges. Nun hängt es nämlich vom Selbstverständnis dieser Subjekte ab, wie sie die Reichweite der neuen Entscheidungsspielräume nutzen wollen autonom nach Maßgabe normativer Erwägungen, die in die demokratische Willensbildüng eingehen, oder willkürlich gemäß subjektiven Vorlieben, die über den Markt befriedigt werden. Dabei geht es nicht um eine kulturkritische Attitüde gegenüber begrüßenswerten Fortschritten der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern allein darum, ob und gegebenenfalls wie die Implementierung dieser Errungenschaften unser Selbstverständnis als verantwortlich handelnde Wesen affiziert. ’ Wollen wir die kategorial neue Möglichkeit, in das menschliche Genom einzugreifen, als einen normativ regelungsbedürftigen Zuwachs an Freiheit betrachten — oder als die Selbstermächtigung zu präferenzabhängigen Transformationen, die keiner Selbstbegrenzung bedürfen ? Erst wenn diese grundsätzliche Frage zugunsten der ersten Alternative entschieden wird, lässt sich über Grenzen einer negativen, unmissverständlich auf die Beseitigung von Übeln abzielenden Eugenik streiten. Das zugrunde liegende Problem möchte ich hier nur unter einem Aspekt andeuten - dem der Herausforderung des 28
modernen Freiheitsverständnisses. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms stellt Eingriffe in Aussicht, die ein merkwürdiges Licht auf eine naturwüchsige und bis jetzt unthematisch hingenommene, wie sich nun jedoch herausstellt: wesentliche Bedingung unseres normativen Selbstverständnisses werfen. Bisher konnte das säkulare Denken der europäischen Moderne ebenso wie der religiöse Glaube davon ausgehen, dass die genetischen Anlagen des Neugeborenen und damit die organischen Ausgangsbedingungen für dessen künftige Lebensgeschichte der Programmierung und absichtlichen Manipulation durch andere Personen entzogen sind. Gewiss kann die heranwachsende Person die eigene Lebensgeschichte einer kritischen Bewertung und rückblickenden Revision unterziehen. Unsere Lebensgeschichte ist aus einem Stoff gemacht, den wir uns »zu Eigen machen« und im Sinne Kierkegaards »verantwortlich übernehmen« können. Was heute zur Disposition gestellt wird, ist etwas anderes - die Unverfügbarkeit eines kontingenten Befruchtungsvorgangs mit der Folge einer unvorhersehbaren Kombination von zwei verschiedenen Chromosomensätzen. Diese unscheinbare Kontingenz scheint sich aber - im Augenblick ihrer Beherrschbarkeit als eine notwendige Voraussetzung für das Selbstseinkönnen und die grundsätzlich egalitäre Natur unserer interpersonalen Beziehungen herauszustel-
len. Denn sobald Erwachsene eines Tages die wünschenswerte genetische Ausstattung von Nachkom29
men als formbares Produkt betrachten und dafür nach eigenem Gutdünken ein passendes Design entwerfen würden, übten sie über ihre genetisch manipulierten Erzeugnisse eine Art der Verfügung aus, die in die somatischen Grundlagen des spontanen Selbstverhältnisses und der ethischen Freiheit einer anderen Person eingreift und die, wie es bisher schien, nur über Sachen, nicht über Personen aus-
geübt werden dürfte. Dann könnten die Nachgeborenen die Hersteller ihres Genoms zur Rechenschaft ziehen und für die aus ihrer Sicht unerwünschten Folgen der organischen Ausgangslage ihrer Lebensgeschichte verantwortlich machen. Diese neue Struktur der Zurechnung ergibt sich aus der Verwischung der Grenze zwischen Personen und Sachen wie heute schon im Falle jener Eltern eines behinderten Kindes, die auf dem Wege der Zivilklage ihre Ärzte für die materiellen Folgen einer pränatalen Fehldiagnose verantwortlich machen und »Scha-
densersatz« verlangen, so als erfülle die wider medizinische Erwartung aufgetretene Behinderung den Tatbestand einer Sachbeschädigung. Mit der irreversiblen Entscheidung, die eine Person
über die »natürliche«
Ausstattung einer anderen
Person trifft, entsteht eine bisher unbekannte interpersonale Beziehung. Diese Beziehung neuen Typs verletzt unser moralisches Empfinden, weil sie in den
rechtlich institutionalisierten Anerkennungsverhältnissen moderner Gesellschaften einen Fremdkörper bildet. Indem einer für einen anderen eine irreversible, tief in dessen organische Anlagen eingreifende 30
Entscheidung trifft, wird die unter freien und gleichen Personen grundsätzlich bestehende Symmetrie der Verantwortung eingeschränkt. Gegenüber unserem Sozialisationsschicksal behalten wir grundsätz-
lich eine andere Freiheit als die, die wir gegenüber der pränatalen Herstellung unseres Genoms haben würden. Der heranwachsende Jugendliche wird eines Tages selbst die Verantwortung für seine Lebensgeschichte und für das, was er ist, übernehmen können. Er kann sich nämlich reflexiv zu seinem Bildungsprozess verhalten, ein revisionäres Selbstverständnis ausbilden und auf sondierende Weise die asymmetrische Verantwortung, die Eltern für die Erziehung ihrer
Kinder tragen, retrospektiv ausgleichen. Diese Möglichkeit einer selbstkritischen Aneignung der eigenen Bildungsgeschichte ist gegenüber genetisch manipu-
lierten Anlagen nicht in derselben Weise gegeben. Vielmehr würde die erwachsene Person blind von der nicht revidierbaren Entscheidung einer anderen Person abhängig bleiben und keine Chance haben, die für einen Umgang unter peers notwendige Symmetrie
der Verantwortung auf dem retroaktiven Wege einer ethischen Selbstreflexion herzustellen. Dem Hadernden bliebe nur die Alternative zwischen Fatalismus und Ressentiment. Würde sich an dieser Situation viel ändern, wenn wir das Szenario der Verdinglichung des Embryos zugunsten selbstverdinglichender Korrekturen des Erwachsenen am eigenen Genom erweiterten? Im eı-
nen wie im anderen Fall zeigen die Konsequenzen, dass die Reichweite biotechnischer Eingriffe nicht 31
nur wie bisher schwierige moralische Fragen aufwirft, sondern Fragen einer anderen Art stellt. Die Antworten berühren das ethische Selbstverständnis der Menschheit im Ganzen. Die in Nizza proklamierte EU-Grundrechtscharta berücksichtigt schon den Umstand, dass Zeugung und Geburt jenes für unser normatives Selbstverständnis wesentliche Element der naturwüchsigen Unverfügbarkeit verlieren. Artikel 3, der das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit garantiert, enthält »das Verbot eugenischer Praktiken, insbesondere derjenigen, welche die Selektion von Personen zum Ziel haben«, wie
auch »das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen«. Aber gelten diese alteuropäischen Wertorientierungen nicht schon heute - in den USA und anderswo - als vielleicht liebenswerte, jedoch unzeitgemäße Marotten? Wollen wir uns überhaupt noch als normative Wesen verstehen, gar als solche, die voneinander solidarische Verantwortung und für einander gleichen Respekt erwarten? Welchen Stellenwert sollen Moral und Recht für einen sozialen Umgang behalten, der auch auf normfrei-funktionalistische Begriffe umgestellt werden könnte? Vor allem naturalistische Alternativen sind im Gespräch. Dazu gehören nicht nur die reduktionistischen Vorschläge von Naturwissenschaftlern, sondern auch die adoleszenten Spekulationen zur überlegenen künstlichen Intelligenz künftiger Robotergenerationen. Damit wird die Ethik des Selbstseinkönnens zu einer unter mehreren Alternativen. Die Substanz dieses 32
Selbstverständnisses kann sich gegenüber konkurrierenden Antworten nicht länger mit formalen Argumenten behaupten. Vielmehr scheint sich heute die philosophische Ursprungsfrage nach dem »richtigen Leben« in anthropologischer Allgemeinheit zu erneuern. Die neuen Technologien drängen uns einen öffentlichen Diskurs über das richtige Verständnis der kulturellen Lebensform als solcher auf. Und die Philosophen haben keine guten Gründe mehr, diesen Streitgegenstand Biowissenschaftlern und Science-Fiction-begeisterten Ingenieuren zu überlassen.
33
Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Der Streit um das ethische Selbstverständnis der Gattung »Wenn die künftigen Eltern ein extensives Maß an Selbstbestimmung einklagen, dann wäre es doch nur recht und billig, auch dem künftigen Kind die Chance zu garantieren, ein autonomes Leben zu führen.« (Andreas Kuhlmann)
Im Jahre 1973 ist es gelungen, elementare Bestandteile eines Genoms zu trennen und neu zusammenzusetzen. Seit dieser künstlichen Rekombination von Genen hat die Gentechnik insbesondere in der Fortpflanzungsmedizin Entwicklungen beschleunigt, die dort mit Verfahren der pränatalen Diagnostik und, seit 1978, mit der künstlichen Befruchtung eingesetzt hatten. Das Verfahren der Verschmelzung von Eiund Samenzelle »in vitro« macht menschliche Stammzellen aufserhalb des Mutterleibes humangenetischen Untersuchungen und Experimenten zugänglich. Schon die »medizinisch assistierte Fortpflanzung« hatte zu Praktiken geführt, die auf spektakuläre Weise in den Generationenzusammenhang und in das herkömmliche Verhältnis von sozialer Elternschaft und biologischer Abstammung eingreifen. Ich denke an Leihmutterschaft und anonyme Samenspende, an die Eispende, die eine Schwangerschaft nach der Menopause ermöglicht, oder an den pervers-zeitverschobenen Gebrauch ein34
gefrorener Eizellen. Aber erst das Zusammentreffen von
Reproduktionsmedizin
und
Gentechnik
hat
zum Verfahren der Präimplantationsdiagnostik (PID) geführt sowie Aussichten auf Organzüchtung und genverändernde Eingriffe zu therapeutischen Zwecken eröffnet. Heute sieht sich auch das allgemeine Publikum der Staatsbürger mit Fragen konfrontiert, deren moralisches Gewicht weit über die
Substanz der üblichen politischen Streitgegenstände hinausreicht. Worum geht es? Die Präimplantationsdiagnostik macht es möglich, Embryos im Achtzellenstadium einer vorsorglichen genetischen Prüfung zu unterziehen. Das Verfahren bietet sich zunächst Eltern an, die das Risiko der Übertragung von Erbkrankheiten vermeiden möchten. Gegebenenfalls wird der Mutter der im Reagenzglas untersuchte Embryo nicht wieder eingepflanzt; ihr bleibt dann ein Schwangerschaftsabbruch, der sonst nach pränataler Diagnostik vorgenommen wird, erspart. Auch die Forschung an totipotenten Stammzellen rückt in die medizinische Perspektive der Gesundheitsvorsorge. Forschung, Pharmaindustrie und standortsichernde Politik beschwören die Aussichten, alsbald Versorgungsengpässe der Transplantationschirurgie durch die Züchtung organspezifischer Gewebe aus embryonalen Stammzellen zu überwinden und, in weiterer Zukunft, schwere monogenetisch bedingte Krankheiten durch einen korrigierenden Eingriff ins Genom zu beheben. Der Druck auf eine Novellierung des in Deutschland zur Zeit noch geltenden Embryonenschutzgesetzes wächst. 95
Bei ihrer Forderung, der Forschungsfreiheit gegenüber dem Lebensschutz des Embryos Vorrang einzuräumen und »frühes menschliches Leben zu Forschungszwecken zwar nicht explizit herzustellen, aber doch zu verwenden«, beruft sich die Deutsche
Forschungsgemeinschaft auf das hochrangige Ziel und die »realistische Chance«, neue Heilverfahren zu
entwickeln. Freilich trauen die Autoren der Tragfähigkeit der Begründung, die sie aus der »Logik des Heilens« ableiten, selbst nicht ganz. Sonst würden sie nicht aus der Perspektive des Teilnehmers am normativen Diskurs in die Beobachterperspektive flüchten. Mit Hinweis auf die dauerhafte Aufbewahrung künstlich befruchteter
Eizellen,
den erlaubten
Gebrauch
von
Nidationshemmern (Spiralen, die nicht die Empfängnis, aber die Einnistung verhindern) und die bestehende Regelung des Schwangerschaftsabbruchs fügen sie nämlich hinzu, »dass der Rubikon in dieser Frage mit der Einführung der künstlichen Befruchtung überschritten wurde und dass es unrealistisch wäre zu glauben, unsere Gesellschaft könne in einem Umfeld bereits bestehender Entscheidungen zum Lebensrecht des Embryos zum Status quo ante zurückkehren«. Als sozialwissenschaftliche Prognose mag sich das als richtig erweisen. Im Rahmen einer moralisch begründeten rechtspolitischen Überlegung stützt aber der Hinweis auf die normative Kraft
des Faktischen nur die Befürchtung der skeptischen Öffentlichkeit, dass die systemische Dynamik von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft faits accom36
plis schafft, die normativ nicht mehr einzuholen sind. Das halbherzige Manöver der DFG entwertet die abwiegelnden Stellungnahmen aus dem Bereich einer Forschung, die sich schon weitgehend über den
Kapitalmarkt finanziert. Weil die biogenetische Forschung mit dem Verwertungsinteresse der Anleger und dem Erfolgsdruck nationaler Regierungen ein Bündnis eingegangen ist, entfaltet die biotechnische Entwicklung eine Dynamik, die die langatmigen normativen Klärungsprozesse in der Öffentlichkeit zu überrollen droht.'> Für politische Selbstverständigungsprozesse, die zu Recht Zeit beanspruchen, ist Perspektivlosigkeit die
gröfste Gefahr. Sie dürfen sich nicht am jeweils aktuellen Stand von Technik und Regelungsbedarf festbeißen, sondern müssen auf das Ganze der Entwick-
lung zielen. Ein nicht unwahrscheinliches Szenario der mittelfristigen Entwicklung könnte wie folgt aussehen. In Bevölkerung, politischer Öffentlichkeit und Parlament setzt sich zunächst die Auffassung durch, dass der Einsatz der Präimplantationsdiag-
nostik für sich betrachtet moralisch zulässig oder rechtlich hinzunehmen sei, wenn man deren Anwen-
dung auf wenige wohl definierte Fälle von schwerer, auch den potentiell Betroffenen selbst nicht zumutbarer Erbkrankheit beschränkt. Im Zuge biotechni13 R. Kollek, I. Schneider, Verschwiegene Interessen, in: Süddeutsche Zeitung vom 5. Juli 2001. Zu den Hintergründen der politischen Durchsetzung der Embryonenforschung vgl. Chr. Schwägerl, Die Geister, die sie riefen, in: FAZ vom 16. Juni 2001.
37
scher Fortschritte und gentherapeutischer Erfolge wird die Erlaubnis später auf genetische Interventionen in Körperzellen (oder gar Keimbahnen)!* zum Zwecke der Prävention dieser (und ähnlicher) Erb-
krankheiten ausgedehnt. Mit diesem zweiten, unter den Prämissen der ersten Entscheidung nicht nur unbedenklichen, sondern konsequenten Schritt ergibt sich die Notwendigkeit, diese (wie angenommen gerechtfertigte) »negative« Eugenik von der (zunächst als ungerechtfertigt betrachteten) »positiven« Eugenik abzugrenzen. Weil diese Grenze aus’begrifflichen und praktischen Gründen fließend ist, konfrontiert uns jedoch der Vorsatz, die genetischen Eingriffe an der Grenze zur verbessernden genetischen Merkmalsveränderung anzuhalten, mit einer paradoxen Herausforderung: Wir sollen genau in den Dimensionen, wo die Grenzen fließend sind, besonders präzise Grenzen ziehen und durchsetzen. Dieses Argument dient heute schon zur Verteidigung einer liberalen Eugenik, die eine Grenze zwischen therapeutischen und verbessernden Eingriffen nicht aner-
14 Ich möchte auf die speziellen Fragen der moralischen Verantwortung für die weitreichenden intergenerationellen Konsequenzen, die wir mit einer (bisher verbotenen) Keimbahntherapie oder auch nur mit den sekundären Folgen der Körperzellentherapie für mögliche Veränderungen der Keimbahn übernehmen würden, nicht eingehen. Vgl. dazu M. Lappe&, Ethical Issues in Manipulating the Human Germ Line, in: H. Kuhse und P. Singer (Hrsg.) Bioethics, London (Blackwell), 2000, S. 155-164 . Im Fol-
genden ist unspezifisch von »genetischen Eingriffen« die Rede, die vor der Geburt vorgenommen werden. 38
kennt, aber die Auswahl der Ziele merkmalsverän-
dernder Eingriffe den individuellen Präferenzen von Marktteilnehmern überlässt.'!° Ein solches Szenario mag dem Bundespräsidenten in seiner Rede am 18. Mai 2001 vor Augen gestanden haben, als er warnte: »Wer einmal anfängt, menschliches Leben zu instrumentalisieren, wer anfängt, zwischen lebenswert und lebensunwert zu unterscheiden, der ist auf einer Bahn ohne Halt.«!® Das »Dammbruch-Argument« klingt weniger alarmistisch, wenn man an den retrospektiven Gebrauch denkt, den die Lobbyisten der Gentechnik von unbe-
dachten Präzedenzfällen und unauffällig eingewöhnten Praktiken (wie heute etwa der pränatalen Diagnostik) machen, um moralische Bedenken mit einem achselzuckenden »Zu spät« beiseite zu schieben. Der methodisch richtige Gebrauch des Argumentes besagt, dass wir gut daran tun, die normative Beurteilung der aktuellen Entwicklungen an Fragen
zu kontrollieren, mit denen uns theoretisch mögliche gentechnische Entwicklungen eines Tages doch konfrontieren könnten (auch wenn uns Experten versichern, dass sie heute ganz außer Reichweite liegen).'7” Diese Maxime dient keineswegs der Drama15 N. Agar, Liberal Eugenics, in: H. Kuhse, P. Singer (2000), $. 173: »Liberals doubt that the notion of disease is up for the moral theoretic task the therapeutic/eugenic distinction requires of it.« 16 Johannes Rau, Der Mensch ist jetzt Mitspieler der Evolution geworden, in: FAZ vom 19. Mai 2001. 17 Ich teile die Ansicht von Kollegen, die den Biowissenschaften schnelle, auch biotechnisch verwertbare Erfolge zutrauen:
Ge
tisierung. Solange wir dramatischere Grenzen, die vielleicht übermorgen überschritten werden könnten, rechtzeitig erwägen, können wir mit den Problemen der Gegenwart gelassener umgehen - und uns umso eher eingestehen, dass alarmistische Reaktionen manchmal gar nicht so leicht durch zwingende moralische Gründe einzulösen sind. Darunter verstehe ich säkulare Gründe, die in einer weltanschau-
lich pluralistischen Gesellschaft vernünftigerweise auf Akzeptanz rechnen dürfen. Mit der Anwendung der Präimplantätionstechnik verbindet sich die normative Frage, »ob es mit der Würde
menschlichen
Lebens
vereinbar
ist, unter
Vorbehalt erzeugt und erst nach einer genetischen Untersuchung für existenz- und entwicklungswürdig befunden zu werden«.!® Dürfen wir über menschliches Lebens zu Zwecken der Selektion frei verfügen? Eine ähnliche Frage stellt sich unter dem Aspekt des »Verbrauchs« von Enibryonen für die vage Aussicht, eines Tages (auch aus eigenen Körperzellen) transplantierbare Gewebe züchten und (ohne
das Problem der Überwindung von Schranken der Immunabwehr
gegen fremde Zellen) einsetzen zu
»Science so often confounds the best predictions, and we should
not risk finding ourselves unprepared for the genetic engineer’s equivalent of Hiroshima. Better to have principles covering impossible situations than no principles for situations that are suddenly upon us.« N. Agar, Liberal Eugenics, in: H. Kuhse und P. Singer (2000), $. 171-181, hier $. 172.
18 R. Kollek, Präimplantationsdiagnostik, Tübingen u. Basel (A. Francke), 2000, $.214.
40
können. In dem Maße wie sich die Erzeugung und Verwendung von Embryonen für Zwecke der medizinischen Forschung verbreitet und normalisiert, verändert sich die kulturelle Wahrnehmung von vorgeburtlichem menschlichem Leben mit der Folge, dass das moralische Sensorium für die Grenzen von Kosten-Nutzen-Kalkülen überhaupt abstumpft. Heute spüren wir noch das Obszöne einer solchen verdinglichenden Praxis und fragen uns, ob wir in einer Gesellschaft leben möchten, die die narzisstische Rücksichtnahme auf eigene Präferenzen mit Unsensibilität gegenüber den normativen und
natürlichen Lebensgrundlagen erkauft. Die
beiden
Themen,
PID
und
Stammzellenfor-
schung, rücken aus der Perspektive der Selbstinstrumentalisierung und Selbstoptimierung, die der Mensch mit den biologischen Grundlagen seiner Existenz zu betreiben im Begriffe ist, in denselben Zusammenhang. Von hier aus fällt Licht auf das unscheinbare normative Zusammenspiel zwischen der moralisch gebotenen und rechtlich garantierten Unantastbarkeit der Person und der Unverfügbarkeit des naturwüchsigen Modus ihrer leiblichen Verkörperung. Bei der Präimplantationsdiagnostik ist es heute schon schwierig, die Grenze zwischen der Selektion unerwünschter und der Optimierung erwünschter Erbanlagen einzuhalten. Wenn mehr als nur ein potentiell »überzähliger Mehrzeller« zur Auswahl steht, stellt uns das Verfahren nicht mehr vor eine binäre Ja-/Nein-Entscheidung. Die begriffliche Grenze 41
zwischen der Prävention der Geburt eines schwer kranken Kindes und der Verbesserung des Erbguts, also einer eugenischen Entscheidung, ist nicht mehr
trennscharf.!? Das wird von praktischer Bedeutung sein, sobald sich die weiter reichende Erwartung korrigierender Eingriffe in das menschliche Genom erfüllt und monogenetisch bedingte Krankheiten verhütet werden können. Dann wird aus dem begrifflichen Problem der Abgrenzung der Prävention von der Eugenik eine Sache der politischen Gesetzgebung. Wenn man hinzunimmt, dass medizinische Aufsenseiter heute schon am reproduktiven Klonen menschlicher Organismen arbeiten, drängt sich die Perspektive auf, dass die Menschengattung ihre biologische Evolution bald selbstin die Hand nehmen könnte. »Mitspieler der Evolution« oder gar »Gott spielen« sind die Metaphern für eine, wie es scheint,
in Reichweite rückende Selbsttransformation der Gattung. € Zwar bilden die Suggestionen einer in die Lebenswelt einrückenden Evolutionstheorie nicht zum ersten Mal den Assoziationshorizont öffentlicher Diskussionen. Die explosive Mischung von Darwinismus und Freihandelsideologie, die sich um die Wende vom 19. zum 2o. Jahrhundert unter dem
19 A. Kuhlmann, Politik des Lebens, Politik des Sterbens, Berlin 2001, $. 104f. 20 James D. Watson, Die Ethik des Genoms. Warum wir Gott nicht
mehr die Zukunft des Menschen überlassen dürfen, in: FAZ vom 26. September 2000.
42
Schirm der Pax Britannica verbreitet hatte, scheint
sich heute im Zeichen des global gewordenen Neoliberalismus zu erneuern. Freilich geht es nicht mehr um die sozialdarwinistische Überverallgemeinerung biologischer Einsichten, sondern um die zugleich medizinisch und ökonomisch begründete Lockerung der »soziomoralischen Fesseln« des biotechnischen Fortschritts. An dieser Front stoßen heute die politischen Auffassungen von Schröder und Rau, von FDP und »Grünen« aufeinander.
Gewiss, auch an wild gewordenen Spekulationen fehlt es nicht. Eine Hand voll ausgeflippter Intellektueller versucht, aus dem Kaffeesatz eines naturalis-
tisch gewendeten Posthumanismus die Zukunft zu lesen, um an der vermeintlichen Zeitmauer doch nur - »Hypermoderne« gegen »Hypermoral« - die
sattsam bekannten Motive einer sehr deutschen Ideologie weiterzuspinnen.*! Glücklicherweise fehlt der elitären Verabschiedung von »Gleichheitsillusion« und Gerechtigkeitsdiskurs noch die breitenwirksame Ansteckungskraft. Die nietzscheanischen Phantasien der Selbstdarsteller, die im »Kampf zwischen den Kleinzüchtern und den Großzüchtern des Menschen« den »Grundkonflikt aller Zukunft« sehen und den »kulturellen Hauptfraktionen« Mut machen, »die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben«, reichen einstweilen nur
21 Vgl. dazu den erhellenden Kommentar von Thomas Assheuer, Der künstliche Mensch, in: Die Zeit vom ı5. März 2001.
43
zum Medienspektakel.?? Ausgehend von den trockenen Prämissen des Verfassungsstaates in einer pluralistischen Gesellschaft,”? möchte ich stattdessen versuchen, etwas zur diskursiven Klärung unserer auf-
gescheuchten moralischen Gefühle beizutragen.”* Allerdings ist dieser Essay im buchstäblichen Sinne ein Versuch, schwer entwirrbare Intuitionen etwas durchsichtiger zu machen. Ich selbst bin weit davon entfernt zu glauben, dass mir dieses Vorhaben auch
nur halbwegs gelungen ist. Aber überzeugendere Analysen sehe ich ebenso wenig.”” Das beunruhigende Phänomen ist das Verschwimmen der Grenze zwischen der Natur, die wir sind, und der organischen Ausstattung, die wir uns geben. Die Frage
nach der Bedeutung der Unverfügbarkeit der geneti22 Vgl. Zeit-Dokument 2, 1999, S.4-15.
23 J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt am Main 1992; ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1996. 24 Vgl. exemplarisch die Beiträge zu der unter Philosophen geführten Diskussion in: Die Zeit, Nr. 4 bis Nr. ı0, 2001.
25 Der intensive Gedankenaustausch mit Lutz Wingert und Rainer Forst war eine große Hilfe. Auch für den detaillierten Kommentar von Tilmann Habermas bedanke ich mich. Natürlich hat jeder dieser Ratgeber seine Vorbehalte. Mein eigener Vorbehalt bezieht sich auf den Umstand, dass ich dieses Thema behandele, ohne mit
dem Felde der Bioethik von Haus aus vertraut zu sein. So bedaure ich, erst nach Abschluss meines Manuskripts auf die Studie von Allen Buchanan, Daniel W. Brock, Norman Daniels und Daniel
Wikler, From
Chance to Choice, Cambridge UP, Cambridge,
Mass. 2000, gestoßen zu sein. Ich teile die deontologische Perspektive der Beurteilung. Den gleichwohl bestehenden Dissens kann ich nur in wenigen nachträglich hinzugefügten Fußnoten markieren. j
44
schen Grundlagen unserer leiblichen Existenz für die eigene Lebensführung und unser Selbstverständnis als moralische Wesen bildet die Perspektive, aus der ich die gegenwärtige Diskussion über den Regelungsbedarf der Gentechnik betrachte (I). Die aus der Abtreibungsdebatte bekannten Argumente stellen nach meiner Auffassung die Weichen falsch. Das Recht auf ein unmanipuliertes genetisches Erbe ist ein anderes Thema als die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (II). Die Genmanipulation berührt Fragen der Gattungsidentität, wobei das Selbstverständnis des Menschen als eines Gattungswesens auch den Einbettungskontext für unsere Rechts- und Moralvorstellungen
bildet
(II). Mich
interessiert
insbesondere die Frage, wie die biotechnische Entdifferenzierung der gewohnten Unterscheidung zwischen dem »Gewachsenen« und dem »Gemachten«, dem Subjektiven und dem Objektiven unser bisheriges gattungsethisches Selbstverständnis verändert (IV) und in das Selbstverständnis einer genetisch programmierten Person hineinreicht (V). Wir können
nicht ausschließen, dass die Kenntnis von einer eugenischen Programmierung der eigenen Erbanlagen die autonome Lebensgestaltung des Einzelnen ein-
schränkt und die grundsätzlich symmetrischen Beziehungen zwischen freien und gleichen Personen unterminiert
(VI). Verbrauchende
Embryonenfor-
schung und Präimplantationsdiagnostik lösen starke Reaktionen aus, weil sie als eine Exemplifizierung der Gefahren einer auf uns zukommenden liberalen Eugenik wahrgenommen werden (VII). 45
I Was heißt Moralisierung der menschlichen Natur?
Die spektakulären Fortschritte der Molekulargenetik ziehen, was wir »von Natur aus« sind, immer weiter in den Bereich biotechnischer Eingriffe. Aus der Sicht der experimentellen Naturwissenschaften setzt diese Technisierung der menschlichen Natur die bekannte Tendenz einer fortschreitenden Verfügbarmachung der natürlichen Umwelt lediglich fort. Aus der Perspektive der Lebenswelt ändert sich freilich unsere Einstellung, sobald die Technisierung die Grenze zwischen »äußerer« und »innerer« Natur überschreitet. In Deutschland hat der Gesetzgeber nicht nur PID und verbrauchende Embryonenforschung verboten, sondern auch die andernorts erlaubten Tatbestände des therapeutischen Klonens, der »Leihmutterschaft« und der »Sterbehilfe«. Vorerst sind technische Eingriffe in die Keimbahn und das Klonen von menschlichen Organismen sogar weltweit geächtet, und dies offenbar nicht nur wegen der damit verbundenen Risiken. Mit Wolfgang van den Daele können wir vom Versuch einer »Moralisierung der menschlichen Natur« sprechen: »Was durch Wissenschaft technisch disponibel geworden ist, soll durch moralische Kontrolle normativ wieder
unverfügbar gemacht werden. «*® 26 W. van den Daele, Die Natürlichkeit des Menschen als Kriterium und Schranke technischer Eingriffe, in: WechselWirkung, Juni/ August 2000, $. 24-31.
46
Mit neuen technischen Entwicklungen entsteht meistens ein neuer Regelungsbedarf. Aber bisher haben sich die normativen Regelungen den gesellschaftlichen Umwälzungen bloß angepasst. Die sozialen Veränderungen, die durch technische Innovationen in den Bereichen von Produktion und Austausch, Kommunikation und Verkehr, Militär und Gesundheit ausgelöst werden, waren dabei stets in
Führung gegangen. Die klassische Gesellschaftstheorie hat noch die posttraditionalen Rechts- und Moralvorstellungen selbst als Ergebnis jener kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung beschrieben, die sich gleichsinnig mit den Fortschritten der modernen Wissenschaft und Technik vollzogen hat. Die institutionalisierte Forschung gilt als der Motor dieser Fortschritte. Die Autonomie der Forschung verdient aus der Sicht des liberalen Verfassungsstaates Schutz. Denn mit der wachsenden Reichweite und Tiefenschärfe der technischen Verfügung über Natur verbinden sich sowohl das ökono-
mische Versprechen auf Produktivitätsfortschritte und Wohlstandsgewinne wie auch die politische Aussicht auf größere individuelle Entscheidungsspielräume. Weil wachsende Wahlfreiheiten die private Autonomie des Einzelnen fördern, standen Wis-
senschaft und Technik bislang in einem zwanglosen Bündnis mit der liberalen Grundvorstellung, dass alle Bürger die gleiche Chance haben sollen, ihr eigenes Leben autonom zu gestalten. Soziologisch gesehen, wird die gesellschaftliche Akzeptanz auch in Zukunft kaum schwinden, solange 47
nur die Technisierung der menschlichen Natur medizinisch mit der Erwartung eines gesünderen und längeren Lebens begründet werden kann. Der Wunsch nach autonomer Lebensführung verbindet sich stets mit den kollektiven Zielen von Gesundheit und Lebensverlängerung. Der medizinhistorische Blick mahnt deshalb gegenüber Versuchen einer »Moralisierung der menschlichen Natur« zur Skepsis: »Von den Anfängen der Impfung und den ersten Operationen am Herzen
und am
Gehirn, über die Organ-
transplantation und künstliche Organe bis hin zur Gentherapie gab es immer wieder Diskussionen darüber, ob nicht nun mehr eine Grenze erreicht sei, an der auch medizinische Zwecke die weitere Technisierung des Menschen nicht mehr rechtfertigen könnten. Keine dieser Diskussionen hat die Technik gestoppt.«?’ Aus dieser empirisch ernüchternden Sicht erscheinen die legislativen Eingriffe in die Freiheit von biologischer Forschung und gentechnischer Entwicklung als vergebliche Versuche, sich gegen die dominierende Freiheitstendenz der gesellschaftli-
chen Moderne zu stemmen.?® Von einer Moralisierung der menschlichen Natur ist hier im Sinne einer fragwürdigen Resakralisierung die Rede. Nachdem Wissenschaft und Technik unseren Freiheitsspielraum um den Preis einer Entsozialisierung oder Ent-
27 Ebd, 5225.
28 W. van den Daele, Die Moralisierung der menschlichen Natur und die Naturbezüge in gesellschaftlichen Institutionen, Krit. Vj. für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 2 (1987), S. 351-366.
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zauberung der äußeren Natur erweitert haben, soll diese unaufhaltsame Tendenz, so scheint es, mit einer Errichtung künstlicher Tabuschranken, also einer Wiederverzauberung der inneren Natur, zum Stilistand gebracht werden.
Die implizite Empfehlung liegt auf der Hand: Es wäre besser, jene archaischen Gefühlsreste aufzuklären, die im Abscheu vor gentechnisch hergestellten Chimären, vor gezüchteten und geklonten Menschen und vor experimentell verbrauchten Embryonen fortbestehen mögen. Ein ganz anderes Bild ergibt sich freilich, wenn man die »Moralisierung der menschlichen Natur« im Sinne der Selbstbehauptung eines gattungsethischen Selbstverständnisses begreift, von dem es abhängt, ob wir uns auch weiterhin als ungeteilte Autoren unserer Lebensgeschichte verstehen werden und uns gegenseitig als autonom handelnde Personen anerkennen können. Der Versuch, mit juristischen Mitteln der schleichenden Eingewöhnung einer liberalen Eugenik vorzubeugen und der Zeugung, d.h. der Verschmelzung der elterlichen Chromosomensätze ein gewisses Maß an Kontingenz oder Naturwüchsigkeit zu sichern, wäre dann etwas anderes als der Ausdruck eines dumpfen antimodernistischen Widerstandes. Als
Garantie von Erhaltungsbedingungen des praktischen Selbstverständnisses der Moderne wäre dieser Versuch vielmehr selbst ein politischer Akt selbstbezüglichen moralischen Handelns. Diese Auffassung
49
passt freilich eher zum soziologischen Bild einer reflexiv gewordenen Moderne.” Die Enttraditionalisierung von Lebenswelten ist eın wichtiger Aspekt der gesellschaftlichen Modernisierung; sie lässt sich als eine kognitive Anpassung an objektive Lebensbedingungen verstehen, die im Gefolge der Nutzung wissenschaftlich-technischer Fortschritte immer wieder revolutioniert worden sind. Nachdem aber die Traditionspolster im Zuge dieser Zivilisationsprozesse fast aufgebraucht sind, müssen moderne Gesellschaften auch ihre moralischen Bindungsenergien aus den eigenen säkularen Beständen, d.h. aus den kommunikativen Ressourcen von Lebenswelten regenerieren, die sich der Immanenz ihrer Selbstkonstruktion bewusst geworden sind. Aus dieser Sicht erscheint die Moralisierung der »inneren Natur« eher als ein Zeichen der »Starre« nahezu vollständig modernisierter Lebenswelten, die die Rückendeckung metasozialer Garantien verloren haben und auf eine erneute Bedrohung ihres soziomoralischen Zusammenhaltes nicht mehr mit weiteren Säkularisierungsschüben, vor allem nicht mit einer weiteren moralkognitiven Verarbeitung religiöser Überlieferungen reagieren können. Die Genmanipulation könnte unser Selbstverständnis als Gattungswesen so verändern, dass mit dem
Angriff auf moderne Rechts- und Moralvorstellun29 U. Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt am Main 1986; J. Habermas, Konzeptionen der Moderne, in: ders., Die Postnationale -
Konstellation, Frankfurt am Main 1998, $. 195-231. 50
gen zugleich nicht hintergehbare normative Grundlagen der gesellschaftlichen Integration getroffen würden. Mit einem solchen Gestaltwechsel in der Wahrnehmung der Modernisierungsprozesse fällt ein anderes Licht auf den »moralisierenden« Versuch, die biotechnischen Fortschritte nun ihrerseits an die transparent hervorgetretenen kommunikativen Strukturen der Lebenswelt anzupassen. Diese Absicht spricht nicht für eine Wiederverzauberung, sondern für das Reflexivwerden einer Moderne, die sich über ihre eigenen Grenzen aufklärt. Damit ist das Thema auf die Frage eingegrenzt, ob sich der Schutz der Integrität unmanipulierter Erbanlagen mit der Unverfügbarkeit der biologischen Grundlage personaler Identität begründen lässt. Der juristische Schutz könnte in einem »Recht auf ein genetisches Erbe, in das nicht künstlich eingegriffen worden ist«, Ausdruck finden. Mit einem solchen Recht, das die Parlamentarische Versammlung des
Europarats seinerzeit gefordert hat, wäre die Zulässigkeit einer medizinisch begründeten negativen Eugenik nicht vorentschieden. Diese könnte gegebenenfalls, wenn moralische Abwägung und demokratische Willensbildung zu diesem Ergebnis führen sollten, ein Grundrecht auf unmanipulierte Erbanlagen gesetzlich einschränken. Die thematische Einschränkung auf genverändernde Eingriffe lässt andere biopolitische Themen außer Betracht. Aus liberaler Sicht erscheinen die neuen Reproduktionstechniken ebenso wie der Organersatz oder das medizinisch assistierte Sterben als ein Sul
Zuwachs an persönlicher Autonomie. Die Einwände
der Kritiker richten sich vielfach nicht gegen die liberalen Prämissen, sondern gegen bestimmte Erscheinungen der kollaborativen Fortpflanzung, gegen zweifelhafte Praktiken der Feststellung des Todes und der Organentnahme sowie gegen unerwünschte soziale Nebenfolgen der rechtlichen Organisation einer Sterbehilfe, die man vielleicht besser dem standesethisch geregelten professionellen Ermessen überließe. Aus guten Gründen umstritten sind ferner die institutionelle Verwendung von Gentests und der persönliche Umgang mit dem Wissen, das die prädiktive Gendiagnostik anbietet. Diese wichtigen bioethischen Fragen hängen gewiss mit der Erweiterung der diagnostischen Durchdringung und therapeutischen Beherrschung der menschlichen Natur zusammen. Aber erst die auf Selektion und Merkmalsveränderung abzielende Gen-
technik sowie die dazu erforderliche, auf künftige Gentherapien gerichtete Forschung (die eine Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung und me-
dizinischer Anwendung kaum noch zulässt°®) bilden Herausforderungen einer neuen Art.”! Sie stellen 30 L. Honnefelder, Die Herausforderung des Menschen durch Genomforschung und Gentechnik, in: Forum (Info der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung), H. 1, 2000, S.49. 3 zul Aus gegebenem Anlass konzentriere ich mich auf die Grundfrage, ob wir Schritte in Richtung einer liberalen Eugenik, die über streng therapeutische Ziele hinausgeht, überhaupt wollen können. Auf Fragen einer gerechten Implementierung solcher Verfahren gehe ich nicht ein. Diese normativen Folgeprobleme einer 52
jene physische Basis, »die wir von Natur aus sind«, zur Disposition. Was Kant noch zum »Reich der Notwendigkeit« gerechnet hatte, hat sich aus evolutionstheoretischer Sicht in ein »Reich des Zufalls« verwandelt. Die Gentechnik verschiebt nun die Grenze zwischen dieser unverfügbaren Naturbasis und dem »Reich der Freiheit«. Was diese, die »innere« Natur betreffende »Kontingenzerweiterung«
vor ähnlichen Erweiterungen unsres Optionsspielraums auszeichnet, ist der Umstand, dass sie »die
Gesamtstruktur unserer moralischen Erfahrung verändert«. Ronald Dworkin begründet das mit dem Perspektivenwechsel, den die Gentechnik für die bisher als unverrückbar geltenden Bedingungen moralischen Urteilens und Handelns herbeiführt: «Man unterscheidet zwischen dem, was die Natur einschließlich der Evolution [...] geschaffen hat, und dem, was
wir in der Welt mithilfe dieser Gene anfangen. In jedem Fall zieht diese Unterscheidung eine Grenze zwischen dem, was wir sind, und dem, wie wir in eigener Verantwortung mit diesem Erbe umgehen.
Diese entscheidende Grenze zwischen Zufall und grundsätzlich begrüßten Eugenik behandeln unter Gesichtspunkten von Rawls’ Gerechtigkeitstheorie Buchanan etal. (2000), S.4: »The primary objective ofthis book is... . to answer a single question: What are the most basic moral principles that would guide public policy and individual choice concerning the use of genetic interventions in a just and humane society in which the powers of genetic intervention are much more developed than they are today.«
53
freier Entscheidung bildet das Rückgrat unserer Moral. [...] Wir fürchten die Aussicht, dass Menschen
andere Menschen entwerfen, weil diese Möglichkeit die Grenze zwischen Zufall und Entscheidung verschiebt, die unseren Wertmaßstäben zugrunde
liegt. «2 Dass genverändernde eugenische Eingriffe die Gesamtstruktur unserer moralischen Erfahrung verändern könnten, ist eine starke Behauptung. Sie lässt sich so verstehen, dass uns die Gentechnik in einigen Hinsichten mit praktischen Fragen konfrontieren wird, die Voraussetzungen moralischen Urteilens und Handelns betreffen. Die Verschiebung der »Grenze zwischen Zufall und freier Entscheidung« affiziert das Selbstverständnis von moralisch handelnden und um ihre Existenz besorgten Personen im Ganzen. Sie bringt uns Zusammenhänge zwischen unserem moralischen Selbstverständnis und einem gattungsethischen Hintergrund zu Bewusstsein. Ob wir uns als verantwortliche Autoren einer eigenen Lebensgeschichte betrachten und uns gegenseitig als »ebenbürtige« Personen achten können, hängt in gewisser Weise auch davon ab, wie wir uns anthropologisch als Gattungswesen verstehen. Können wir die genetische Selbsttransformation der Gattung als Weg zur Steigerung der Autonomie des Einzelnen betrachten - oder werden wir auf diesem 32 R. Dworkin, Die falsche Angst, Gott zu spielen, in: Zeit-Dokument (1999), 5.39; vgl. auch: Playing God. Genes, Clones, and Luck, in: ders., Sovereign Virtue, Cambridge 2000, S. 427-452.
34
Wege das normative Selbstverständnis von Personen, die ihr eigenes Leben führen und sich gegenseitig die gleiche Achtung entgegenbringen, unterminieren? Wenn die zweite Alternative zutrifft, gewinnen wir zwar nicht unmittelbar ein schlagendes moralisches Argument, aber eine gattungsethisch vermittelte Orientierung, die zu Vorsicht und Enthaltsamkeit rät. Bevor ich diesen Faden aufnehme, möchte ich erklären, warum der Umweg nötig ist. Das moralische (und umstrittene verfassungsrechtliche) Argument, dass der Embryo »von Anfang an« Menschenwürde und absoluten Lebensschutz geniefst, schneidet die Diskussion
ab, an der wir nicht vorbeikommen,
wenn wir uns über diese fundamentalen Fragen mit der verfassungsrechtlich gebotenen Rücksicht auf den weltanschaulichen Pluralismus unserer Gesellschaft politisch einigen wollen.
8)
II
Menschenwürde vs. Würde des menschlichen Lebens
Der philosophische Streit” um die Zulässigkeit von verbrauchender Embryonenforschung und PID bewegt sich bisher im Fahrwasser der Abtreibungsdiskussion. Diese hat in Deutschland zu der Regelung geführt, wonach der Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche als rechtswidriger, aber straffreier Tatbestand gilt. Rechtlich erlaubt ist er nach medizinischer Indikation mit Rücksicht auf die Mutter. Wie in anderen Ländern hat das Thema die Bevölkerung in zwei Lager gespalten. Soweit dieser Streit die ge-
33 Vom juristischen Streit über die Implikationen der bisherigen Rechtsprechung zum $ 218 StGB sehe ich in unserem Zusammenhang ab. Das Bundesverfassungsgericht hat zum Schutz des ungeborenen Lebens vom Zeitpunkt der Nidation an Stellung genommen. Ob sich diese Entscheidung, wie Herta Däubler-Gmelin und
Ernst Benda annehmen, ohne weiteres auf die absolute Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens von der Befruchtung an übertragen lässt, ist unter Juristen umstritten und erscheint auch
mir zweifelhaft; vgl. M. Pawlik, Der Staat hat dem Embryo alle Trümpfe genommen, in: FAZ vom 27. Juni 2001. Zur Bandbreite der juristischen Festlegungen ist informativ: R. Erlinger, Von welchem Zeitpunkt an ist der Embryo juristisch geschützt?, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. Juli 2001. Im Übrigen ist die Verfassungsinterpretation ein langfristiger Lernprozess, der die obersten Gerichte immer wieder zu Korrekturen eigener früherer Entscheidungen bewogen hat. Wenn der Fall eintritt, dass im Lichte anderer historische Umstände neue moralische Gründe auf beste-
hende Rechtslagen treffen, fordern die - ja selbst moralisch begründeten — Verfassungsprinzipien, dass das Recht den morali-. schen Einsichten folgt. 56
genwärtige Diskussion bestimmt, lenkt die Polarisierung zwischen »Pro Life«- und »Pro Choice«-Anhängern die Aufmerksamkeit auf den moralischen Status des ungeborenen menschlichen Lebens. Die konservative Seite hofft, unter Berufung auf einen absoluten Lebensschutz der befruchteten Eizelle den befürchteten Entwicklungen der Gentechnik einen Riegel vorschieben zu können. Aber die vermuteten Parallelen trügen. Aus denselben normativen Grundüberzeugungen ergeben sich im Hinblick auf die aktuelle Frage der Zulässigkeit von PID keineswegs ähnliche Parteinahmen wie in der Frage der Abtreibung. Heute spaltetsich das liberale Lager derer, die dem Selbstbestimmungsrecht der Frau gegenüber dem Lebensschutz des frühen Embryos Vorrang eingeräumt hatten. Wer sich von deontologischen Intuitionen leiten lässt, möchte sich nicht ohne weiteres den utilitaristischen Unbedenklichkeitsattesten für die Freigabe des instrumentellen Umgangs mit Embryonen anschlie-
ßen.?? Die Inanspruchnahme der Präimplantationsdiagnostik, dieeserlaubt, einer eventuellen Abtreibung durch das »Verwerfen« von genetisch belasteten extrakor-
poralen Stammzellen zuvorzukommen, unterscheidet sich vom Schwangerschaftsabbruch in relevanten Hinsichten. Bei der Ablehnung einer ungewollten Schwangerschaft kollidiert das Selbstbestimmungs34 Vgl.R. Merkel, Rechte für Embryonen ?, in: Die Zeit vom 25. Januar 2001; U. Mueller, Gebt uns die Lizenz zum Klonen!, in: FAZ vom 9. März 2001.
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recht der Frau mit der Schutzbedürftigkeit des Embryos. Im anderen Fall gerät der Lebensschutz des Ungeborenen mit einer Güterabwägung der Eltern in Konflikt, die einen Kinderwunsch haben, aber auf die
Implantation verzichten wollen, wenn der Embryo bestimmten Gesundheitsstandards nicht entspricht. In diesen Konflikt werden die Eltern auch nicht urversehbens verwickelt; sie nehmen die Kollision von
vornherein in Kauf, indem sie eine genetische Prüfung des Embryos vornehmen lassen. Diese Art der vorsätzlichen Qualitätskontrolle bringt einen neuen Aspekt ins Spiel — die Instrumentalisierung eines unter Vorbehalt erzeugten
menschlichen Lebens für die Präferenzen und Wertorientierungen Dritter. Die Selektionsentscheidung orientiert sich an der wünschenswerten Zusammensetzung des Genoms. Eine Entscheidung über Existenz oder Nichtexistenz fällt nach Mafsgabe des
potentiellen Soseins. Die existentielle Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft hat mit dieser merkmalsorientierten Verfügbarmachung, dem Sortieren vorgeburtlichen Lebens, ebenso wenig zu tun wie mit der Konsumtion dieses Lebens für Zwecke der Forschung. | Trotz dieser Differenzen können wir aus der über Jahrzehnte mit großem Ernst geführten Abtreibungsdebatte eine Lehre ziehen. In dieser Kontroverse ist jeder Versuch gescheitert, zu einer weltanschaulich neutralen, also nicht präjudizierenden Beschreibung des moralischen Status frühen
menschlichen Lebens zu gelangen, die für alle Bürger 58
einer säkularen Gesellschaft akzeptabel wäre.?° Die eine Seite beschreibt den Embryo im frühen Entwicklungsstadium als einen »Zellhaufen« und stellt ihm die Person des Neugeborenen gegenüber, der erst Menschenwürde im streng moralischen Sinne zukommen soll. Die andere Seite betrachtet die Befruchtung der menschlichen Eizelle als den relevan-
ten Anfang eines bereits individuierten, sich selbst steuernden Entwicklungsprozesses. Nach dieser Auffassung soll jedes biologisch bestimmbare Gattungsexemplar schon als potentielle Person und Träger von Grundrechten gelten. Beide Seiten scheinen zu übersehen, dass etwas als »unverfügbar« gelten kann, auch wenn es nicht den Status einer Rechts-
person einnimmt, die im Sinne des Grundgesetzes Träger von unabdingbaren Grundrechten ist. »Unverfügbar« ist nicht nur das, was Menschenwürde hat. Etwas kann unserer Verfügung aus guten moralischen Gründen entzogen sein, ohne im Sinne uneingeschränkt oder absolut geltender Grundrechte (die für die »Menschenwürde« gemäß Artikel ı des Grundgesetzes konstitutiv sind) »unantastbar« zu sein.
Wenn der Streit über die Zuschreibung der grundgesetzlich garantierten »Menschenwürde« mit zwingenden moralischen Gründen zu entscheiden wäre, würden die anthropologisch tief sitzenden Fragen der Gentechnik nicht über den Bereich der üblichen moralischen Fragen hinausweisen. Nun sind aber 35 R. Dworkin, Life’s Dominion, New York 1994.
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die ontologischen Grundannahmen des szientistischen Naturalismus, aus denen sich die Geburt als relevante Zäsur ergibt, keineswegs trivialer oder »wissenschaftlicher« als die metaphysischen oder religiösen Hintergrundannahmen, die den konträren Schluss nahe legen. Beide Seiten berufen sich darauf, dass jedem Versuch, irgendwo zwischen Befruchtung oder Kernverschmelzung einerseits, Geburt andererseits
einen
scharfen,
moralisch
relevanten
Schnitt zu legen etwas Willkürliches anhaftet, weil sich zunächst empfindungsfähiges und dann personales Leben aus den organischen Anfängen mit großer Kontinuität entwickele. Wenn ich recht sehe, spricht diese Kontinuitätsthese jedoch eher gegen beide Versuche, mit ontologischen Aussagen einen auch in normativer Hinsicht verbindlichen »absoluten« Anfang zu setzen.
Ist es nicht erst recht willkürlich, die phänomengerechte Ambivalenz unserer schrittweise sich wandelnden evaluativen Gefühle und Intuitionen gegenüber einem Embryo in frühen und in mittleren, gegenüber dem Fötus in späteren Stadien der Entwicklung’ durch moralisch vereindeutigende Sti-
pulationen nach der einen oder anderen Seite hin aufzulösen? Nur auf der Grundlage einer weltanschaulich imprägnierten Beschreibung von Tatbeständen, die in pluralistischen Gesellschaften ver36 Dem trägt die aristotelisch-scholastische Lehre von der sukzessiven Beseelung Rechnung, vgl. die Übersicht bei H. Schmoll, Wann wird der Mensch ein Mensch ?, in: FAZ vom 31. Mai 2001. 60
nünftigerweise umstritten bleiben, kann es gelingen, zu einer eindeutigen Bestimmung des moralischen Status zu gelangen - sei es im Sinne der christlichen Metaphysik oder des Naturalismus. Niemand zweifelt am intrinsischen Wert des menschlichen Lebens vor der Geburt - ob man es nun »heilig« nennt oder eine solche »Sakralisierung« des Selbstzweckhaften ablehnt. Aber die normative Substanz der Schutzwürdigkeit vorpersonalen menschlichen Lebens findet weder in der objektivierenden Sprache des Empirismus noch in der Sprache der Religion einen für alle Bürger rational akzeptablen Ausdruck. Im normativen Streit einer demokratischen Öffentlichkeit zählen letztlich nur moralische Aussagen im strengen Sinne. Nur weltanschaulich neutrale Aussagen über das, was gleichermaßen gut ist für jeden, können den Anspruch stellen, für alle aus guten Gründen akzeptabel zu sein. Der Anspruch auf rationale Akzeptabilität unterscheidet Aussagen über die »gerechte« Lösung von Handlungskonflikten von Aussagen über das, was im Kontext einer Lebensgeschichte oder im Kontext einer geteilten Lebensform »gut« ist »für mich« bzw. »für uns«. Dieser spezifische Sinn von Gerechtigkeitsfragen lässt immerhin einen Schluss auf den »Grund der Moral« zu. Diese »Bestimmung« der Moral halte ich für den geeigneten Schlüssel zur Beantwortung der Frage, wie wir — unabhängig von umstrittenen ontologischen Bestimmungen — das Universum der möglichen Träger von moralischen Rechten und Pflichten bestimmen können. 61
Die Gemeinschaft moralischer Wesen, die sich ihre
Gesetze selber geben, bezieht sich in der Sprache von Rechten und Pflichten auf alle Verhältnisse, die der
normativen Regelung bedürfen; aber nur die Mitglieder dieser Gemeinschaft können sich gegenseitig moralisch verpflichten und voneinander normenkonformes Verhalten erwarten. Tiere kommen in den Genuss der moralischen Pflichten, die wir im Umgang mit leidensfähigen Kreaturen um ihrer selbst willen beachten müssen. Gleichwohl gehören sie nicht zum Universum der Mitglieder, die intersubjektiv anerkannte Gebote und Verbote aneinander adressieren. Wie ich zeigen möchte, ist »Menschenwürde« im streng moralischen und rechtlichen Verstande an diese Symmetrie der Beziehungen gebunden. Sie ist nicht eine Eigenschaft, die man von Natur aus »besitzen« kann wie Intelligenz oder blaue Augen; sie markiert vielmehr diejenige »Unantastbarkeit«, die allein in den interpersonalen Beziehungen reziproker Anerkennung, im egalitären Umgang von Personen miteinander eine Bedeutung haben kann. Ich gebrauche »Unantastbarkeit« nicht gleichbedeutend mit »Unverfügbarkeit«, weil eine nachmetaphysische Antwort auf die Frage, wie wir mit vorpersonalem menschlichem Leben umgehen sollen, nicht um den Preis einer reduktionistischen Bestimmung von Mensch und Moral erkauft werden darf. Moralisches Verhalten verstehe ich als konstruktive Antwort auf Abhängigkeiten und Angewiesenheiten, die in der Unvollkommenheit der organischen 62
Ausstattung und der fortbestehenden Hinfälligkeit der leiblichen Existenz (besonders deutlich in Pha-
sen von Kindheit, Krankheit und Alter) begründet sind. Die normative Regelung interpersonaler Beziehungen lässt sich als poröse Schutzhülle gegen Kontingenzen verstehen, denen der versehrbare
Leib und die darin verkörperte Person ausgesetzt sind. Moralische Ordnungen sind zerbrechliche Konstruktionen, die beides in einem schützen, die
Physis gegen körperliche und die Person gegen innere oder symbolische Verletzungen. Denn die Subjektivität, die den menschlichen Leib erst zu einem beseelten Gefäß des Geistes macht, bildet sich über die intersubjektiven Beziehungen zu Anderen. Das individuelle Selbst entsteht nur auf dem sozialen Weg der Entäußerung und kann sich auch nur im Netzwerk intakter Anerkennungsverhältnisse szabilisieren. Die Abhängigkeit vom Anderen erklärt die Verletzbarkeit des Einen durch den Anderen. Die Person ist Verwundungen in den Beziehungen am schutzlosesten ausgesetzt, auf die sie zur Entfaltung ihrer Identität und zur Wahrung ihrer Integrität am meisten angewiesen ist — etwa in den intimen Beziehungen der Hingabe an einen Partner. In seiner detranszendentalisierten Fassung fällt Kants »freier Wille« nicht länger als eine Eigenschaft intelligibler Wesen vom Himmel. Autonomie ist vielmehr eine prekäre Errungenschaft endlicher Existenzen, die nur eingedenk ihrer physischen Versehrbarkeit und sozialen Angewiesenheit überhaupt so etwas wie »Stärke« er63
langen können.°’ Wenn das der »Grund« der Moral ist, erklären sich daraus auch deren »Grenzen«. Es ist das Universum möglicher interpersonaler Beziehungen und Interaktionen, das moralischer Regelungen bedarf und fähig ist. Nur in diesem Netzwerk legitim geregelter Anerkennungsverhältnisse können Menschen eine persönliche Identität entwickeln und - zugleich mit ihrer physischen Integrität - aufrechterhalten. Weil der Mensch in einem biologischen Sinne »unfertig« geboren wird und auf die Hilfe, die Zuwendung und Anerkennung seiner sozialen Umgebung lebenslang angewiesen bleibt, wird die Unvollständigkeit einer Individuierung durch DNA-Sequenzen in dem Augenblick sichtbar, wenn der Prozess gesellschaftlicher Individuierung einsetzt.°® Die lebensgeschichtliche Individuierung vollzieht sich durch Vergesellschaftung. Was den Organismus erst mit der Geburt zu einer Person im vollen Sinne des Wortes macht, ist der gesellschaftlich individuierende Akt der Aufnahme in den öffentlichen Interaktionszu-
37 M. Nussbaum kritisiert Kants Unterscheidung zwischen der intelligiblen und der körperlichen Existenz des Handelnden: »What’s wrong with Kant's distinction? [. ...] It ignores the fact that our dignity is that of a certain sort of animal; it is a dignity that could not be possessed by a being who was not mortal and vulnerable, just as the beauty of a cherry tree in bloom could not be possessed by a diamond.« Disabled Lives: Who Cares?, Unveröffentlichtes Ms. 2001. 38 Diese Grundeinsicht teilen Helmuth Plessner und Arnold Gehlen mit George Herbert Mead.
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sammenhang einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt.°? Erst im Augenblick der Lösung aus der Symbiose mit der Mutter tritt das Kind in eine Welt von Personen ein, die ihm begegnen, die es anreden und mit ihm sprechen können. Keineswegs ist das genetisch individuierte Wesen im Mutterleib, als Exemplar einer Fortpflanzungsgemeinschaft, »immer schon« Person. Erst in der Öffentlichkeit einer
Sprachgemeinshaft bildet sich das Naturwesen zugleich zum Individuum und zur vernunftbegabten
Person.*° 39 Hannah Ahrendt (Vita Activa, München 1959) hat auf »Pluralität« als einen Grundzug des menschlichen Daseins hingewiesenen. Das Leben des Menschen vollzieht sich nur unter der Bedingung der Interaktion mit anderen Menschen: »Für Menschen heißt Leben — wie das Lateinische, also die Sprache des vielleicht zutiefst politischen unter den uns bekannten Völkern, sagt — so viel wie unter Menschen weilen« (inter homines esse) und Sterben so viel wie »aufhören unter Menschen zu weilen« (desinere inter homines esse)« (a.a.O.S.15). 4 ° Vernunftbegabung bedeutet, dass die Geburt als Zeitpunkt des Eintritts in die soziale Welt zugleich den Zeitpunkt markiert, von dem an sich die Anlage zum Personsein verwirklichen kann, gleichviel in welchen Formen. Auch der komatöse Patient hat teil an dieser Lebensform. Vgl. M. Seel, Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt am Main 1996, $.215 f.: »Darum behandelt die Moral alle Angehörigen der Gattung Mensch als Wesen, die ein personales Leben wollen, gleichviel in welchem Maß sie es faktisch leben können. |. . .] Die in der wechselseitigen Anerkennung von Personen etablierte Achtung vor der Integrität der Anderen muss ausnahmslos allen Menschen gelten; sie alle haben dasselbe Grundrecht der Teilnahme an personalem Leben, ganz gleich, in
welchem Maße sie (überhaupt oder zeitweilig) die Fähigkeit zur selbstbestimmten Teilnahme haben. Der Kern der Moral kann
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Im symbolischen Netzwerk der reziproken Anerkennungsbeziehungen kommunikativ handelnder Personen wird das Neugeborene als »einer« oder »eine von uns« identifiziert und lernt nach und nach, sich selbst zu identifizieren -— und zwar gleichzeitig als Person überhaupt, als Teil oder Mitglied seiner sozialen Gemeinschaft(en) und als unverwechselbar einzigartiges, zugleich moralisch unvertretbares Individuum.*! In dieser Differenzierung des Selbstbezuges spiegelt sich die Struktur sprachlicher Kommunikation. Nur hier, im diskursiv erschlossenen space of reasons (Sellars), kann das kulturelle Gat-
tungsvermögen der Vernunft in der Differenz der vielfältigen Selbst- und Weltperspektiven seine einigende, Konsens bildende Kraft entfalten. Vor dem Eintritt in öffentliche Interaktionszusammenhänge genießt das menschliche Leben als Bezugspunkt unserer Pflichten Rechtsschutz, ohne selber Subjekt von Pflichten und Träger von Menschenrechten zu sein. Daraus dürfen wir keine falschen Konsequenzen ziehen. Die Eltern sprechen nicht nur über das in utero heranwachsende Kind, in gewisser Weise kommunizieren sie auch schon mit
ihm. Es ist nicht erst die Visualisierung der unverkennbar menschlichen Züge des Fötus auf dem Bildschirm, die das Kind, das sich im Mutterleib bewegt, im Sinne einer anticipatory socialization zum nur der einfachste sein, alle Menschen als Menschen zu behandeln.«
41 L. Wingert, Gemeinsinn und Moral, Frankfurt am Main 1993.
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Adressaten macht. Natürlich haben wir ihm gegenüber moralische und rechtliche Pflichten um seiner selbst willen. Darüber hinaus behält auch das vorpersonale Leben diesseits eines Stadiums, in dem es in der
zugeschriebenen Rolle einer zweiten Person angeredet werden kann, einen integralen Wert für das Ganze einer ethisch verfassten Lebensform. In dieser Hinsicht bietet sich die Unterscheidung zwischen der Würde des menschlichen Lebens und der jeder Person rechtlich garantierten Menschenwürde an - eine Unterscheidung, die sich übrigens in der Phänomenologie unseres gefühlsbeladenen Umgangs mit Toten spiegelt. Vor kurzem wurde über eine Änderung des Bremischen Landesbestattungsgesetzes berichtet. Sie nimmt auf Tot- und Frühgeburten sowie auf klinische Schwangerschaftsabbrüche Bezug und fordert, auch im Umgang mit Föten die gebotene Ehrfurcht vor dem toten Leben zu wahren. Die Föten seien nicht mehr — wie es im Behördendeutsch hieß - als »ethischer Abfall« zu entsorgen, sondern auf einem Friedhof anonym in Sammelgräbern beizusetzen. Schon die Reaktion des Lesers auf die obszöne For-
mulierung -— von der peinlichen Praxis ganz zu schweigen - verrät im Gegenlicht des toten Embryos die verbreitete und tief sitzende Scheu vor der Integrität des werdenden menschlichen Lebens, an das keine zivilisierte Gesellschaft ohne weiteres rühren darf. Andererseits wirft der Kommentar der Zeitung zur anonymen Sammelbestattung zugleich Licht auf eine intuitive Unterscheidung, auf die es mir hier an67
kommt: »Die Bremer Bürgerschaft war sich auch bewusst, dass es eine Zumutung wäre - und vielleicht sogar pathologischer Kollektivtrauer gleichkäme -, wenn Embryonen und Föten nach gleichen Maßstäben wie postnatal Verstorbene bestattet werden müssten. |... .] Das Gebot der Achtung vor dem toten Menschen kann sich in verschiedenen Bestattungs-
arten ausdrücken.«*? Jenseits der Grenzen einer strikt verstandenen Gemeinschaft moralischer Personen erstreckt sich keine Grauzone, in der wir normativ rücksichtslos handeln und ungehemmt hantieren dürften. Andererseits verlieren moralisch gesättigte juristische Be-
griffe wie »Menschenrecht« und »Menschenwürde« durch eine kontraintuitive Überdehnung nicht nur ihre Trennschärfe, sondern auch ihr kritisches Po-
tential. Menschenrechtsverletzungen dürfen nicht zu
Verstößen gegen Wertvorstellungen ermäßigt werden.*? Der Unterschied zwischen abwägungsfesten Rechten und je nach Abwägung vor- oder nachrangigen Gütern sollte nicht verwischt werden.** Der Charakter schwer zu definierender Hemmschwellen im Umgang mit dem menschlichen Leben vor der Geburt und nach dem Tod erklärt die Wahl semantisch dehnbarer Ausdrücke. Menschliches Le42 St. Rixen, Totenwürde, in: FAZ vom 13. März 2001.
43 W. Kersting, Menschenrechtsverletzung ist nicht Wertverletzung, in: FAZ vom 17. März 2001.
44 R. Dworkin, Rechte ernstgenommen, Frankfurt am Main 1984; K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, Frankfurt am Main
1988, $.335 ff.
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ben genießt auch in seinen anonymen Formen »Würde« und gebietet »Ehrfurcht«. Der Ausdruck »Würde« bietet sich an, weil er ein breites semantisches Spektrum abdeckt und den spezifischeren Begriff der »Menschenwürde« nur anklingen lässt. Die Konnotationen, die dem Begriff der »Ehre« aus der Geschichte seiner vormodernen Verwendungsweisen noch sehr viel deutlicher anhängen, haben auch in der Semantik von »Würde« Spuren hinterlassen — nämlich die Konnotation eines vom gesellschaftlichen Status abhängigen Ethos. Die Würde des Königs hat sich im Denk- und Verhaltensstil einer anderen Lebensform verkörpert als die der verheirateten Frau und des Junggesellen, des Handwerkers und des Henkers. Von diesen konkreten Ausprägungen einer jeweils bestimmten Würde abstrahiert erst die universalistisch zugespitzte »Würde des Menschen«, die der Person als solcher zukommt. Über diesem Abstraktionsschritt,
der
zu
»Menschenwürde«
und - zu Kants einzigem — »Menschenrecht« hinführt, dürfen wir wiederum nicht vergessen, dass auch die moralische Gemeinschaft der freien und gleichen Menschenrechtssubjekte kein »Reich der Zwecke« im noumenalen Jenseits bildet, sondern in konkrete Lebensformen und deren Ethos eingebettet bleibt.
69
III
Die gattungsethische Einbettung der Moral
Wenn die Moral ihren Sitz in einer sprachlich strukturierten Lebensform hat, kann der aktuelle Streit
über die Zulässigkeit von verbrauchender Embryonenforschung und PID nicht mit einem einzigen schlagenden Argument zu Menschenwürde und Grundrechtsstatus der befruchteten Eizelle entschieden werden. Das Motiv, warum man sich gerne eines solchen Argumentes bedienen würde, verstehe ich nicht nur, ich teile es. Denn die restriktive Verwen-
dung des Begriffs der Menschenwürde liefert die Schutzbedürftigkeit und die Schutzwürdigkeit des Embryos einer Güterabwägung aus, die die Tür zur Instrumentalisierung menschlichen Lebens und zur Aushöhlung des kategorischen Sinns moralischer
Forderungen einen Spalt weit öffnet. Umso relevanter wird die Suche nach einer überzeugenden, welt-
anschaulich neutralen Lösung, zu der uns das verfassungsrechtliche Toleranzprinzip ohnehin verpflichtet. Selbst wenn mein eigener Vorschlag, wie der Grund der Moral und deren Grenze zu verstehen seien, diesem Anspruch nicht gewachsen wäre und einer metaphysischen Voreingenommenheit überführt würde, bliebe die Konsequenz dieselbe. Der weltanschaulich neutrale Staat kann, wenn er demokratisch verfasst ist und inklusiv verfährt, in einer
»ethisch« umstrittenen Inanspruchnahme von GG Artikel ı und 2 nicht Partei ergreifen. Wenn die Frage des Umgangs mit ungeborenem menschlichem Leben
einen ethischen Charakter hat, muss vernünftiger709
weise mit einem begründeten Dissens, wie er sich in
der Bundestagsdebatte vom 31. Mai 2001 abgezeichnet hat, gerechnet werden. Die philosophische Diskussion kann auf diese Weise von unfruchtbaren weitanschaulichen Polarisierungen entlastet und auf das Thema des angemessenen ethischen Selbstverständnisses der Gattung konzentriert werden. Doch zunächst eine Anmerkung zum Sprachgebrauch. »Moralisch« nenne ich Fragen des gerechten Zusammenlebens. Für handelnde Personen, die miteinander in Konflikt geraten können, stellen sich solche Fragen im Hinblick auf den normativen Regelungsbedarf von sozialen Interaktionen. Es besteht die vernünftige Erwartung, dass solche Konflikte grundsätzlich im gleichmäßsigen Interesse eines jeden rational entschieden werden können. Diese Erwartung rationaler Akzeptabilität besteht hingegen nicht, wenn schon die Beschreibung der Konflikt-
situation und die Begründung der einschlägigen Normen von der bevorzugten Lebensweise und dem existentiellen Selbstverständnis, also dem identitätstragenden Deutungssystems eines Einzelnen oder
einer bestimmten Gruppe von Bürgern abhängen. Solche Hintergrundkonflikte berühren »ethische« Fragen. Für Personen
und Gemeinschaften,
deren Exi-
stenz fehlschlagen kann, stellen sich Fragen nach einem nicht verfehlten Leben im Hinblick auf die Orientierung ihrer Lebensgeschichte oder Lebensform an maßgebenden Werten. Solche Fragen sind auf die Perspektive desjenigen oder derjenigen zugeschnitya
ten, die wissen wollen, als was sie sich in ihrem
Lebenskontext verstehen sollen und welche Praktiken für sie aufs Ganze gesehen die besten sind. Die eine Nation geht mit der Massenkriminalität ihres vergangenen Regimes anders um als eine andere. Je nach historischer Erfahrung und kollektivem Selbstverständnis entscheiden sie sich für eine Strategie des Vergebens und des Vergessens oder für den Prozess
von Strafe und Aufarbeitung. Wie sie mit der Atomenergie umgehen, wird u.a. davon abhängen, welchen Rang Sicherheit und Gesundheit in Relation zu wirtschaftlichem Wohlstand geniefsen. Im Hinblick auf solche ethisch-politischen Fragen gilt der Satz »Andere Kulturen, andere Sitten«.
Demgegenüber wirft der Umgang mit vorpersonalem menschlichem Leben Fragen eines ganz anderen Kalibers auf. Sie berühren nicht diese oder jene Differenz in der Vielfalt kultureller Lebensformen, sondern in-
tuitive Selbstbeschreibungen, unter denen wir uns als Menschen identifizieren und von anderen Lebewesen unterscheiden - also das Selbstverständnis von uns als Gattungswesen. Es geht nicht um die Kultur, die überall anders ist, sondern um das Bild, das sich verschiedene Kulturen von »dem« Menschen machen,
der überall - in anthropologischer Allgemeinheit — derselbe ist. Wenn ich die Diskussion über die »Vernutzung« von Embryonen für Forschungszwecke oder die »Zeugung von Embryonen unter Vorbehalt« richtig einschätze, drückt sich in den affektiven Reaktionen nicht so sehr moralische Empörung als vielmehr Abscheu vor etwas Obszönem aus. Es sind. 6
Schwindelgefühle, wie sie uns erfassen, wenn ein si-
cher geglaubter Boden unter den Füßen wegrutscht. Symptomatisch ist der Ekel beim Anblick der chimärischen Verletzung von Artgrenzen, die wir naiverweise für »unverrückbar« gehalten hatten. Das »ethische Neuland«,
auf das Otfried Höffe mit Recht
hinweist,*° besteht in der Verunsicherung der Gattungsidentität. Die wahrgenommenen und befürchteten Entwicklungen der Gentechnologie greifen das Bild an, das wir uns von uns als dem kulturellen Gattungswesen »Mensch« gemacht hatten - und zu dem es keine Alternative zu geben schien. Gewiss treten auch diese Bilder im Plural auf. Zu kulturellen Lebensformen gehören Deutungssyste-
me, die sich auf die Stellung des Menschen im Kosmos beziehen und einen »dichten« anthropologischen Einbettungskontext für den jeweils geltenden moralischen Code bieten. In pluralistischen Gesellschaften sind diese metaphysischen oder religiösen Selbst- und Weltdeutungen aus guten Gründen den moralischen Grundlagen des weltanschaulich neutralen Verfassungsstaates untergeordnet und zu friedlicher Koexistenz verpflichtet. Unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens können auch dem gattungsethischen Selbstverständnis, das bestimmten Überlieferungen und Lebensformen eingeschrieben ist, keine Argumente mehr entnommen werden, welche die Geltungsansprüche einer präsumtiv all45 ©. Höffe, Wessen Menschenwürde ?, in: Die Zeit vom r. Februar 200I.
73
gemeingültigen Moral übertrumpfen. Aber dieser »Vorrang des Gerechten vor dem Guten« darf nicht den Blick dafür verstellen, dass die abstrakte Vernunftmoral der Menschenrechtssubjekte selber wiederum in einem vorgängigen, von allen moralischen Personen geteilten ethischen Selbstverständnis der
Gattung ihren Halt findet. Wie die großen Weltreligionen, so bieten auch metaphysische Lehren und humanistische Überlieferungen Kontexte, in die die »Gesamtstruktur unserer moralischen Erfahrung« eingebettet ist. Sie artikulieren auf die eine oder andere Weise ein anthropologisches Selbstverständnis, das zu einer autonomen Moral passt. Die hochkulturellen, in der Achsenzeit entstandenen religiösen Welt- und Selbstdeutungen konvergieren gleichsam in einem minimalen gattungsethischen Selbstverständnis, das eine solche Moral stützt. Solange eines mit dem anderen harmoniert, ist der Vorrang des Gerechten vor dem Guten unproblematisch. Aus dieser Perspektive drängt sich die Frage auf, ob die Technisierung der Menschennatur das gattungsethische Selbstverständnis in der Weise verändert, dass wir uns nicht länger als ethisch freie und moralisch gleiche, an Normen und Gründen orientierte Lebewesen verstehen können. Erst mit dem unvorhergesehenen Auftreten von überraschenden Alternativen wird die Selbstverständlichkeit elementarer Hintergrundannahmen erschüttert (auch wenn dieses Neue - wie die künstlichen »Chimären« der »aus der Art geschlagenen« transgenen Organismen - in 74
entwerteten mythischen Bildern archaische Vorläufer haben). Irritationen dieser Art werden von jenen Szenarien ausgelöst, die inzwischen von der ScienceFiction-Literatur ins Wissenschaftsfeuilleton einwandern. So konfrontieren uns neuerdings merkwürdige Sachbuchautoren mit der Verbesserung des Menschen durch Chip-Implantate oder mit der Verdrängung des Menschen durch intelligentere RoboteIz
Für die technisch assistierten Lebensvorgänge des menschlichen Organismus entwerfen Nanotechno-
logen das Mensch und Maschine verschmelzende Bild einer Produktionsanlage, die einer selbstgeregelten Supervision und Erneuerung, der ständigen Reparatur und Verbesserung unterworfen wird. Nach dieser Vision kreisen die sich selbst replizierenden winzigen Roboter durch den menschlichen Körper und verbinden sich mit den organischen Stoffen, um beispielsweise Alterungsprozesse aufzuhalten oder Funktionen des Großhirns zu steigern. Auch die Computeringenieure sind in diesem Genre nicht faul und entwerfen von den autonom gewordenen Robotern der Zukunft das Bild von Maschinen, die den Menschen aus Fleisch und Blut zum Auslaufmodell verurteilen. Diese überlegenen Intelligenzen sollen die Engpässe der menschlichen Hardware überwunden haben. Sie verheifgen der von unseren Gehirnen abgezogenen Software nicht nur Unsterblichkeit, sondern unbegrenzte Perfektion. Der mit leistungssteigernden Prothesen ausgestopfte Leib oder die auf Festplatte gebannte Intelligenz von 75
Engeln sind phantastische Bilder. Sie lösen Grenzziehungen und Zusammenhänge auf, die uns bisher in unserem Alltagshandeln als geradezu transzendental notwendig erschienen. Auf der einen Seite verschmilzt organisch Gewachsenes mit technisch Gemachtem, auf der anderen Seite wird die Produktivi-
tät des menschlichen Geistes von der erlebenden Subjektivität abgespalten. Gleichviel, ob sich in diesen Spekulationen Spinnereien oder ernst zu nehmende Prognosen, verschobene eschatologische Bedürfnisse oder neue Spielarten einer Science-FictionScience ausdrücken, mir dienen sie nur als Beispiele für eine Technisierung der menschlichen Natur, die ein verändertes gattungsethisches Selbstverständnis provoziert — eines, das mit dem normativen Selbstverständnis selbstbestimmt lebender und verantwortlich handelnder Personen nicht mehr in Einklang gebracht werden kann. So weit reicht die Provokation der inzwischen eingetretenen oder realistisch erwartbaren gentechnologischen Fortschritte nicht. Aber Analogien sind nicht ganz von der Hand zu weisen.*° Die Manipulation 46 Zum Beispiel erwähnen Buchanan et al. S.177f. das gespenstische Szenario eines »Genetic Communitarianism«, wonach ver-
schiedene Subkulturen die eugenische Selbstoptimierung der menschlichen Gattung in verschiedene Richtungen vorantreiben, sodass die Einheit der menschlichen Natur als die Bezugsbasis in Frage gestellt wird, auf der sich bisher alle Menschen als Mitglieder derselben moralischen Gemeinschaft verstehen und gegenseitiganerkennen konnten: »We can no longer assume that there will be a single successor to what has been regarded as human nature. We must consider the possibility that at some point in the future, 76
der Zusammensetzung des fortschreitend entschlüsselten menschlichen Genoms und die Erwartung mancher Genforscher, alsbald die Evolution selbst in die Hand nehmen zu können, erschüttern immerhin die kategoriale Unterscheidung zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Naturwüchsigem und Gemachtem in solchen Regionen, die
unserer Verfügung bisher entzogen waren. Es geht um die biotechnische Entdifferenzierung von tief verwurzelten kategorialen Unterscheidungen, die wir in unseren Selbstbeschreibungen bisher als invariant unterstellt haben. Das könnte unser gattungsethisches Selbstverständnis so verändern, dass davon auch das moralische Bewusstsein affiziert wird — nämlich Bedingungen der Naturwüchsigkeit, unter denen wir uns allein als Autoren des eigenen Lebens und als gleichberechtigte Mitglieder der moralischen Gemeinschaft verstehen können. Ich vermute, dass
die Kenntnis von der Programmierung des eigenen Genoms die Selbstverständlichkeit stören könnte, mit der wir als Leib existieren oder gewissermaßen unser Leib »sind«, und dass damit auch ein neuer Iypus einer eigentümlich asymmetrischen Beziehung zwischen Personen entsteht. different groups of human beings may follow divergent paths of development through the use of genetic technology. If this occurs, there will be different groups of beings, each with its own »nature«, related to one another only through a common ancestor (the human race), just as there are now different species of animals who evolved from common ancestors through random mutation and natural selection.«
TER
Vergewissern wir uns, wohin uns die bisherigen Überlegungen geführt haben. Einerseits können wir dem Embryo unter Bedingungen des weltanschaulichen Pluralismus nicht »von Anfang an« den absoluten Lebensschutz zuschreiben, den Personen als Trä-
ger von Grundrechten genießen. Auf der anderen Seite steht die Intuition, dass das vorpersonale menschliche Leben nicht einfach für konkurrierende Güter verfügbar gemacht werden darf. Um diese Intuition zu klären, wähle ich den Umweg über die heute erst theoretisch gegebene Möglichkeit einer liberalen Eugenik, die in den USA bereits eingehend erörtert wird. Aus dieser vorentworfenen Perspektive wird die gegenwärtige Kontroverse um die beiden aktuellen Fälle schärfere Konturen annehmen. Die normative Selbstbeschränkung im Umgang mit embryonalem Leben kann sich nicht gegen gentechnische Eingriffe als solche richten. Natürlich ist nicht die Gentechnik, sondern Art und Reichweite ihrer
Verwendung das Problem. Die moralische Unbedenklichkeit von Eingriffen in die genetische Ausstattung von potentiellen Mitgliedern unserer morali-
schen Gemeinschaft bemisst sich an der Einstellung, in der sie vorgenommen werden. So etwa stellen wir uns bei gentherapeutischen Eingriffen auch auf den Embryo als die zweite Person ein, die er einmal sein wird.* Diese klinische Einstellung bezieht ihre legiti47 Diesen entscheidenden Gedanken verdanke ich einer Diskussion mit Lutz Wingert. Instruktiv auch dessen Projektvorschlag für das Kulturwissenschaftliche Institut Essen: »Was macht eine Le78
mierende Kraft aus der begründeten kontrafaktischen Unterstellung eines möglichen Konsenses mit einem Anderen, der Ja oder Nein sagen kann. Damit verschiebt sich die normative Beweislast auf die Berechtigung zur Antizipation einer Zustimmung, die aktuell nicht eingeholt werden kann. Diese könnte im Falle eines therapeutischen Eingriffs am Embryo bestenfalls nachträglich (und im Falle der präventiven Vermeidung der Geburt überhaupt nicht) bestätigt werden. Zunächst ist unklar, was dieses Erfordernis für eine Praxis bedeuten kann, die - wie PID und Embryonenforschung - auf eine spätere Geburt entweder nur hypothetisch oder gar nicht abzielt. Jedenfalls kann sich ein unterstellter Konsens nur auf die Vermeidung unzweifelhaft extremer Übel beziehen, die, wie erwartet werden kann, von allen abgelehnt werden. So muss sich die moralische Gemeinschaft, die sich im profanen Bereich des politischen Alltags die ernüchterte Gestalt demokratisch verfasster Nationen von Staatsbürgern gibt, am Ende auch zutrauen, aus unseren spontanen Lebensvollzügen immer wieder hinreichend überzeugende Kriterien für eine als krank oder gesund geltende leibliche Existenz zu entwickeln. Es ist der moralische Gesichtspunkt eines nicht instrumentalisierenden Umgangs mit zweiten Personen, der uns, wie ich zeigen möchte, auf die »Logik des Heilens« festlegt und uns damit - im Gegensatz zum ausgreifenden bensform human ? Unsere Kultur zwischen Biologie und Humanismus« (MS. 2001).
2
Toleranzspielraum einer liberalen Eugenik - die Last der Grenzziehung zwischen negativer und verbes-
sernder Eugenik aufbürdet. Darüber kann sich das Programm einer liberalen Eugenik nur hinwegtäuschen, wenn es die biotechnische Entdifferenzierung von Handlungsformen nicht beachtet.
IV
Das Gewachsene und das Gemachte
Unsere Lebenswelt ist in gewissem Sinne »aristotelisch« verfasst. Im Alltag unterscheiden wir ohne großes Nachdenken die anorganische von der organischen Natur, Pflanzen von Tieren, und die animalische Natur wiederum von der vernünftig-sozialen Natur des Menschen. Die Hartnäckigkeit dieser kategorialen Gliederung, mit der sich kein ontologischer Anspruch mehr verbindet, erklärt sich aus Perspektiven, die mit Formen des Weltumgangs verschränkt sind. Auch diese Verschränkung lässt sich
am Leitfaden aristotelischer Grundbegriffe analysieren. Die theoretische Einstellung des interesselosen Naturbeobachters setzt Aristoteles von zwei anderen Finstellungen ab. Er unterscheidet sie einerseits von der technischen Einstellung des produzierenden und zielgerichtet handelnden Subjekts, das in die Natur eingreift, indem es Mittel verwendet und Material verbraucht; und andererseits unterscheidet er
sie von der praktischen Einstellung der klug oder sittlich handelnden
Personen,
die sich in Inter-
aktionszusammenhängen begegnen - sei es in der 80
objektivierenden Einstellung eines Strategen, der die antizipierten Entscheidungen seiner Gegenspieler aus der Sicht eigener Präferenzen beurteilt, oder in der performativen Einstellung eines kommunikativ Handelnden, der sich im Rahmen einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt mit einer zweiten Personen über etwas in der Welt verständigen möchte. Wiederum andere Einstellungen erfordern die Praxis des Bauern, der das Vieh hegt und den Acker bestellt, die Praxis des Arztes, der Krankheiten diagnostiziert, um sie zu heilen, und die Praxis des Züchters, der die vererbbaren Eigenschaften einer Population nach eigenen Zwecken ausliest und verbessert. Gemeinsam ist diesen klassischen Pflege-, Heil- und Züchtungs-
praktiken die Achtung vor der Figendynamik einer sich selbst regulierenden Natur. An ihr müssen sich die kultivierenden, therapeutischen oder selegierenden Eingriffe orientieren, wenn sie nicht fehlschlagen sollen. Die »Logik« dieser Handlungsformen, die bei Aristoteles noch auf bestimmte Regionen des Seienden zugeschnitten waren, hat die ontologische Dignität der Erschließung eines jeweils spezifischen Weltausschnitts verloren. Dabei spielen die modernen Erfahrungswissenschaften eine wichtige Rolle. Sie haben die objektivierende Einstellung des interesselosen Beobachters mit der technischen Einstellung eines eingreifenden Beobachters zusammengeführt, der experimentelle Effekte erzielt. So haben sie den Kosmos der bloßen Kontemplation entzogen und die nominalistisch »entseelte« Natur einer anderen Art der 81
Objektivierung unterworfen. Diese Umstellung von Wissenschaft auf die technische Verfügbarmachung einer objektivierten Natur hatte Folgen für den Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung. Die meisten Praxisbereiche sind im Zuge ihrer Verwissenschaftlichung von der »Logik« der Anwendung wissenschaftlicher Technologien geprägt und umstrukturiert worden. Die Anpassung der gesellschaftlichen Produktionsund Verkehrsformen an die wissenschaftlich-technischen Fortschritte hat gewiss die Imperative einer einzigen, eben der instrumentellen Form des Handelns zur Dominanz gebracht. Gleichwohl ist die Architektonik der Handlungsformen selber intakt geblieben. Bis heute behalten in komplexen Gesellschaften Moral und Recht ihre normativen Steuerungsfunktionen für die Praxis. Die technologische Aus- und Aufrüstung eines von Pharmaindustrie und Apparatemedizin abhängigen Gesundheitssystems hat freilich ebenso wie die Mechanisierung der betriebswirtschaftlich rationalisierten Landwirtschaft zu Krisen geführt. Aber diese haben die Logik des ärztlichen Handelns oder des ökologischen Umgangs mit der Natur eher in Erinnerung gebracht als beseitigt. Die legitimierende Kraft der im weitesten Sinne »klinischen« Handlungsformen wächst, je mehr ihre gesellschaftliche Relevanz schwindet. Genetische Forschung und die gentechnische Entwicklung werden heute im Lichte biopolitischer Ziele von Ernährung, Gesundheit und Lebensverlängerung gerechtfertigt. Darüber wird oft vergessen, dass sich 82
die gentechnische Revolutionierung der Züchtungspraxis selbst nicht mehr ım klinischen Modus der
Anpassung an die Eigendynamik der Natur vollzieht. Sie suggeriert vielmehr die Entdifferenzierung einer grundlegenden Unterscheidung, die auch für unser Selbstverständnis als Gattungswesen konstitutiv ist. In dem Maße, wie die zufallsgesteuerte Evolution der Arten in den Eingriffsbereich der Gentechnologie und damit des von uns zu verantwortenden Handelns rückt, entdifferenzieren sich die in der Lebenswelt nach wie vor trennscharfen Kategorien des Herge-
stellten und des von Natur aus Gewordenen. Dieser Gegensatz bezieht für uns seine Evidenz aus den vertrauten Handlungsformen der technischen Verarbeitung von Material einerseits und des kultivierenden oder therapeutischen Umgangs mit organischer Natur andererseits. Die schonende Behandlung von grenzerhaltenden Systemen, deren Selbststeuerungsmechanismen wir stören könnten, zeichnet sich nicht
nur durch kognitive Rücksicht auf die Eigendynamik des Lebensprozesses aus. Sie verbindet sich, je näher uns die behandelte Species steht, umso deutlicher, auch mit praktischer Rücksicht, einer Art von Re-
spekt. Die Empathie oder das »mitschwingende Verständnis« für die Verletzbarkeit organischen Lebens, die eine Hemmschwelle im praktischen Umgang errichtet, gründet offensichtlich in der Sensibilität des eigenen Leibes und der Unterscheidung einer wie auch immer rudimentären Subjektivität von der Welt manipulierbarer Objekte. 83
Der biotechnische Eingriff, der die klinische Behandlung ersetzt, schneidet diese »Korrespondenz« mit anderen Lebewesen ab. Aber vom technischen Eingriff des Ingenieurs unterscheidet sich der biotechnische Handlungsmodus durch ein Verhältnis der »Kollaboration« mit - oder des »Bastelns«*° an - einer verfügbar gemachten Natur: »Bei totem Stoff ist der Hersteller der allein Handelnde gegenüber dem passiven Material. Bei Organismen trifft die Tätigkeit auf Tätigkeit: biologische Technik ist kollaborativ mit der Selbsttätigkeit eines aktiven Materials, dem von Natur aus funktionierenden biologischen System, dem eine neue Determinante einverleibt werden soll. [.....] Der technische Akt hat die Form der Intervention, nicht des Bauens. «*” Aus dieser Be-
schreibung schliefstt Hans Jonas auf die eigentümliche Selbstbezüglichkeit und Irreversibilität des Eingriffs in ein komplexes, selbst gesteuertes Geschehen .
48 Freilich macht es einen Unterschied, ob wir unsere unter Laborbedingungen stattfindenden biotechnischen Eingriffe in die Natur oder, wie beispielsweise F. Jakob (Das Spiel des Möglichen, München 1983), die Evolution der Natur selbst nach dem Modell
des Bastelns interpretieren. Dieser Unterschied wird normativ relevant, wenn eins mit dem anderen legitimatorisch verknüpft wird, um den naturalistischen Fehlschluss nahe zu legen, dass die
Biotechnik die natürliche Evolution mit deren eigenen Mitteln nur fortsetzt. Ich stütze mich auf ein Manuskript von P. Janich u. M. Weingarten, Verantwortung ohne Verständnis. Wie die Ethikdebatte zur Gentechnik von deren Wissenschaftstheorie abhängt, Marburg, 2001. 49 H. Jonas, Lasst uns einen Menschen klonieren, in: ders., Technik,
Medizin und Eugenik, Frankfurt am Main 1985, S. 165.
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mit weitgehend unkontrollierbaren Folgen: »»Herstellen< heißt hier Entlassen in die Strömung des Werdens, worin auch der Hersteller treibt. «°® Je rücksichtsloser nun die Intervention durch die Zusammensetzung des menschlichen Genoms hin-
durchgreift, umso mehr gleicht sich der klinische Stil des Umgangs an den biotechnischen Stil des Eingriffs an und verwirrt die intuitive Unterscheidung zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Subjektivem
und Objektivem - bis hinein in den Selbstbezug der Person zu ihrer leiblichen Existenz. Den Fluchtpunkt dieser Entwicklung charakterisiert Jonas so: »Als technisch beherrschte schließt die Natur jetzt den Menschen wieder ein, der sich (bisher) in der Tech-
nik als Herr ihr gegenübergestellt hatte.« Mit den humangenetischen Eingriffen schlägt Naturbeherrschung in einen Akt der Selbstbemächtigung um, der unser gattungsethisches Selbstverständnis verändert - und notwendige Bedingungen für autonome Lebensführung und ein universalistisches Verständnis von Moral berühren könnte. Diese Beunruhigung drückt Jonas mit der Frage aus: »Aber wessen Macht ist das - und über wen oder was? Offenbar die Macht Jetziger über Kommende, welche die wehrlosen Objekte vorausliegender Entscheidungen der Planer von heute sind. Die Kehrseite heutiger Macht ist die spätere Knechtschaft Lebendiger gegenüber Toten.« so Ebd., $. 168. Die Unkontrollierbarkeit steigt mit Eingriffen in die Keimbahn, siehe Fußnote 2.
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Mit dieser Dramatisierung rückt Jonas die Gentechnologie in den Zusammenhang einer selbstzerstörerischen Dialektik der Aufklärung, wonach Naturbe-
herrschung in die Naturverfallenheit der Gattung selbst zurückschlägt.°! Der Kollektivsingular der »Gattung« bildet auch den Bezugspunkt für die Auseinandersetzung zwischen Naturteleologie und Geschichtsphilosophie, zwischen Jonas und Spaemann auf der einen, Horkheimer und Adorno auf der anderen Seite. Aber die Abstraktionsebene, auf der diese Diskussion stattfindet, ist zuhoch. Wir müssen deutlich zwischen autoritären und liberalen Spielarten der Eugenik unterscheiden. Die Biopolitik hat, for the time being, nicht das Ziel einer wie immer auch definierten Verbesserung des.Genbestandes der Gattung im Ganzen. Einstweilen sind die moralischen Gründe, die es verbieten, Individuen als Gattungsexemplare für dieses kollektivistische Ziel zu instrumentalisieren, noch fest verankert in den Prinzipien von Verfassung und Rechtsprechung. In liberalen Gesellschaften wären es die über Gewinninteressen und Nachfragepräferenzen gesteuerten Märkte, die eugenische Entscheidungen den individuellen Wahlakten von Eltern, überhaupt den anarchischen Wünschen von Kunden und Klienten
zuspielen: »While old-fashioned authoritarian eugenicists sought to produce citizens out of a single centrally designed mould, the distinguishing mark of 51 M. Horkheimer, T.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1947, S. 54.
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the new liberal eugenics is state neutrality. Access to information about the full range of genetic therapies will allow prospective parents to look to their own values in selecting improvements for future children. Authoritarian eugenicists would do away with ordinary procreative freedoms. Liberals instead propose radical extension of them.«°? Allerdings ist dieses Programm nur dann mit den Grundlagen des politischen Liberalismus verträglich, wenn positive eugenische Eingriffe auf seiten der genetisch behandelten Person weder die Möglichkeiten zu autonomer Lebensführung noch die Bedingungen eines egalitären Umgangs mit anderen Personen einschränkten. Um die normative Unbedenklichkeit dieser Eingriffe zu rechtfertigen, nehmen die Verteidiger der liberalen Eugenik einen Vergleich zwischen der genetischen Modifikation der Erbanlagen und der sozialisatorischen Modifikation von Einstellungen und Erwartungen vor. Sie wollen zeigen, dass unter moralischen Gesichtspunkten kein nennenswerter Unterschied zwischen Eugenik und Erziehung besteht: »If special tutors and camps, training programs, even the administration of growth hormone to adda few inches in height are within parental rearing discretion, why should genetic intervention to enhance normal offspring traits be any less legitimate ?«°° Dieses Argument soll die Erweiterung der grund52 N. Agar in: H. Kuhse und P. Singer (2000), 5. 171. 53 John Robertson, zitiert nach N. Agar in: H. Kuhse und P. Singer (2000), $. 172f.
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rechtlich verbürgten Erziehungsgewalt der Eltern um die eugenische Freiheit, die genetische Ausstattung der eigenen Kinder zu verbessern, rechtfertigen. Allerdings steht die eugenische Freiheit der Eltern unter dem Vorbehalt, dass sie mit der ethischen Frei-
heit der Kinder nicht kollidieren darf. Die Proponenten beruhigen sich damit, dass genetische Dispositionen stets mit der Umwelt auf kontingente Weise interagieren und sich nicht linear in Eigenschaften des Phänotyps umsetzen. Deshalb bedeute eine genetische Programmierung auch keine unzulässige Modifikation der künftigen Lebenspläne der programmierten Person: »The liberal linkage of eugenic freedom with parental discretion in respect of educationally or dietarily assisted’ improvement makes sense in the light of this modern understanding. If gene and environment are of parallel importance in accounting for the traits we currently possess, attempts to modify people by modifying either ofthem would seem to deserve similar scrutiny. [...] We should think of both types of modification in similar ways.«°* Das Argument steht und fällt mit einer fragwürdigen Parallelisierung, die sich auf die Einebnung der Differenz zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Subjektivem und Objektivem stützt. Die auf menschliche Erbanlagen ausgedehnte Manipulation macht, wie wir gesehen haben, die Unterscheidung zwischen klinischem Handeln und techni54 Ebd., $.173. S. 156ff.
Dieselbe
Parallelisierung
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bei Buchanan
et al.,
scher Herstellung im Hinblick auf die eigene innere Natur rückgängig. Für den, der einen Embryo behandelt, rückt dessen gleichsam subjektive Natur in dieselbe Perspektive wie die äußere, objektivierte Natur. Diese Sicht suggeriert die Vorstellung, dass sich die Einflussnahme auf die Zusammensetzung eines menschlichen Genoms von der Einflussnahme auf die Umwelt einer heranwachsenden Person nicht wesentlich unterscheidet: Dieser Person wird die eigene Natur als »innere Umwelt« zugeschrieben. Aber kollidiert nicht die aus der Sicht des Intervenierenden vorgenommene Zuschreibung mit der Selbstwahrnehmung des Betroffenen ? Ihren Körper »hat« oder »besitzt« eine Person nur,
indem sie dieser Körper als Leib - im Vollzug ihres Lebens - »ist«. Ausgehend von diesem Phänomen des gleichzeitigen Leibseins und Körperhabens, hat Helmuth Plessner seinerzeit die »exzentrische Posi-
tion« des Menschen beschrieben und analysiert.”° Wie die kognitive Entwicklungspsychologie zeigt, ist das Körperhaben erst Ergebnis einer im Jugendalter erworbenen Fähigkeit zur objektivierenden Betrachtung des vorgängigen Leibseins. Primär ist der Erfahrungsmodus des Leibseins, »aus« dem heraus auch die Subjektivität der menschlichen Person lebe 55 H. Plessner, Die Stufen des Organischen (1927), Gesammelte Schriften, Bd.IV, Frankfurt am Main 1981. 56 Tilmann Habermas, Die Entwicklung sozialen Urteilens bei jugendlichen Magersüchtigen, in: Acta Paedo-psychiatrica, 51, 1988, $. 147-155.
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Die Teilnehmerperspektive des »erlebten Lebens« stößt in dem Maße, wie sich dem eugenisch manipulierten Heranwachsenden sein Leib auch als etwas Gemachtes enthüllt, mit der vergegenständlichenden Perspektive von Herstellern oder Bastlern zusammen. Denn mit der Entscheidung über sein genetisches Programm haben die Eltern Absichten verbunden, die sich später in Erwartungen an das Kind verwandeln, ohne jedoch dem Adressaten die Möglichkeit zu einer revidierenden Stellungnahme einzuräumen. Die programmierenden Absichten ehrgeiziger und experimentierfreudiger oder auch nur besorgter Eltern haben den eigentümlichen Status einer einseitigen und unanfechtbaren Erwartung. Die transformierten Absichten treten innerhalb der Lebensgeschichte des Betroffenen als normaler Bestandteil von Interaktionen in Erscheinung und entziehen sich doch den Reziprozitätsbedingungen der kommunikativen Verständigung. Die Eltern haben ohne Konsensunterstellung allein nach eigenen Präferenzen so entschieden, als verfügten sie über eine Sache. Da sich aber die Sache zur Person entwickelt, nimmt der egozentrische Eingriff den Sinn einer kommunikativen Handlung an, die für den Heranwachsenden existentielle Folgen haben könnte. Auf genetisch fixierte »Aufforderungen« kann es aber im eigentlichen Sinne keine Antwort geben. Denn in ihrer Rolle als Programmierer konnten die Eltern die Dimension der Lebensgeschichte, innerhalb deren sie dann erst dem Kind als die Autoren von Aufforderungen begegnen werden, noch gar nicht betreten. 90
Die liberalen Eugeniker machen es sich mit ihrer Parallelisierung von Natur- und Sozialisationsschicksal zu einfach. Die Angleichung des klinischen Handelns an manipulierende Eingriffe erleichtert ihnen auch den weiteren Schritt zur Nivellierung der wichtigen Unterscheidung zwischen negativer und positiver Eugenik. Gewiss, hochgeneralisierte Ziele wie die Stärkung der Immunabwehr oder die Verlängerung der Lebenserwartung sind positive Bestimmungen und
liegen gleichwohl auf der Linie klinischer Zielsetzungen. So schwer es im Einzelfall sein mag, therapeutische, also Übel vermeidende, von verbessernden eugenischen Eingriffen zu unterscheiden, so einfach ist die regulative Idee, der die intendierten
Abgrenzungen gehorchen.”’ Solange der medizinische Eingriff vom klinischen Ziel der Heilung einer Krankheit oder der Vorsorge für ein gesundes Leben dirigiert wird, kann der Behandelnde das Einverständnis des - präventiv behandelten - Patienten unterstellen.°® Die Konsensunterstellung überführt 57 Buchanan et al. (2000), $.121: »Disease and impairment, both
physical and mental, are construed as adverse departures from or impairments of species-typical normal functional organization ... The line between disease and impairment and normal functioning is thus drawn in the relatively objective and non-speculative context provided by the biomedical sciences, broadly construed.« Die Autoren behandeln »normal functioning« unter normativen Gesichtspunkten in Analogie zu den von Rawls eingeführten sozialen Grundgütern als »natural primary good«. 58 J. Harris, Is Gene Therapy a Form of Eugenics, in: H. Kuhse und P. Singer (2000), $.167: »This is important because we need an 91
egozentrisch gesteuertes in kommunikatives Handeln. Der intervenierende Humangenetiker braucht
den Embryo, solange er sich als Arzt versteht, nicht in der objektivierenden Einstellung des Technikers wie eine Sache zu betrachten, die hergestellt, repa-
riert oder in eine erwünschte Richtung gelenkt wird. Er kann in der performativen Einstellung eines Interaktionsteilnehmers antizipieren, dass die künftige Person das grundsätzlich anfechtbare Ziel der Behandlung bejahen würde. Auch hier kommt es, wohlgemerkt, nicht auf die ontologische Bestimmung des Status an, sondern allein auf die klinische Einstellung der ersten Person zu einem wie immer auch virtuellen Gegenüber, das ihr einmal in der Rolle einer zweiten Person begegnen wird. Zu einer solchen vorgeburtlichen Intervention kann sich ein präventiv »geheilter« Patient in Zukunft, als Person, anders verhalten als jemand, der erfährt,
dass seine genetischen Anlagen - sözusagen ohne das virtuelle Einvernehmen, allein nach den Präferenzen eines Dritten — programmiert worden sind. Erst in
diesem Falle nimmt der genetische Eingriff die Form einer »Technisierung« der menschlichen Natur an. Anders als bei der klinischen Intervention wird dann das genetische Material aus der Sicht eines instru-
account of disability we can use for the potentially self-conscious gamets, embryos, fetuses and neonates, and for the temporarily unconscious, which does not wait on subsequent ratification by the person concerned.« 92
mentell Handelnden manipuliert, der im Objektbereich nach eigenen Zielsetzungen »kollaborativ« einen erwünschten Zustand herbeiführt. Merkmalsverändernde genetische Eingriffe erfüllen den Tatbestand der positiven Eugenik, wenn sie die Grenzen überschreiten, die durch die »Logik des Heilens«, d.h. der als konsentiert unterstellten Vermeidung von Übeln, aufgegeben sind. Die liberale Eugenik muss sich der Frage stellen, ob unter Umständen die wahrgenommene Entdifferenzierung zwischen Gewachsenem und Gemachtem, Subjektivem und Objektivem Folgen haben könnte für die autonome Lebensführung und das moralische Selbstverständnis der programmierten Person selbst. Jedenfalls können wir eine normative Bewertung nicht vornehmen, bevor wir nicht die Perspektive der betroffenen Personen selbst einneh-
men.
V
Instrumentalisierungsverbot, Natalität und Selbstseinkönnen
Was unsere moralischen Gefühle am Gedanken der eugenischen Programmierung verwirrt, bringt Andreas Kuhlmann auf die nüchterne Formel: »Natürlich haben sich Eltern immer schon Wunschphantasien darüber hingegeben, was einmal aus ihrem Nachwuchs werden soll. Etwas anderes ist esjedoch, wenn Kinder mit vorfabrizierten Vorstellungen konfrontiert würden, denen sie letztlich ihre Existenz 93
verdanken.«°? Diese Intuition wäre missverstanden, wenn wir sie mit einem genetischen Determinismus
verbinden würden.°® Denn unabhängig davon, wie weit eine genetische Programmierung die Eigenschaften, Dispositionen und Fähigkeiten der künftigen Person tatsächlich festlegt und deren Verhalten tatsächlich determiniert, könnte die spätere Kenntnis dieses Umstandes in die Selbstbeziehung der betroffenen Person zu ihrer leiblichen und seelischen Existenz eingreifen. Die Veränderung fände im Kopf statt. Der Bewusstseinswandel vollzöge sich infolge des Perspektivenwechsels von der performativen Einstellung des gelebten Lebens einer ersten Person zu jener Beobachterperspektive, aus der der eigene Körper vor der Geburt zum Gegenstand einer Intervention gemacht worden ist. Wenn der Heranwachsende von dem Design erfährt, das ein anderer für den merkmalsverändernden Eingriff in die eigene genetischen Anlagen entworfen hat, kann - in der objektivierenden Selbstwahrnehmung - die Perspektive des Hergestelltseins die des naturwüchsigen Leibseins überlagern. Damit reicht die Entdifferenzierung des Unterschieds zwischen Gewachsenem und Gemachtem in die eigene Existenzweise hinein. Sie könnte das Schwindel erregende Bewusstsein auslösen, dass in der Folge eines gentechnischen Eingriffs vor unserer Geburt die von uns als unverfügbar erlebte subjektive Natur aus der Instrumentali59 A. Kuhlmann (2o0r), $. 17. 60 Buchanan et al. (2000), 5. goff.
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sierung eines Stücks äußerer Natur hervorgegangen ist. Die Vergegenwärtigung der vorvergangenen Programmierung eigener Erbanlagen mutet uns gewissermafßsen existentiell zu, das Leibsein dem Körperhaben nach- und unterzuordnen. Gegenüber einer imaginären Dramatisierung dieses
Sachverhalts ist freilich Skepsis angebracht. Wer weiß schon, ob die Kenntnis des Umstandes, dass ein anderer das Design für die Zusammensetzung meines Genoms entworfen hat, für mein Leben über-
haupt eine Bedeutung haben muss? Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Perspektive des Leibseins
den Primat gegenüber dem Haben eines genetisch zugerichteten Körpers verliert. Die teilnehmende Perspektive des erlebten Leibsein kann nur intermittierend in die Außenperspektive eines (Selbst)Beobachters überführt werden. Das Wissen vom zeitlichen Prius des Hergestelltseins muss keinen selbstentfremdenden Effekt haben. Warum sollte sich der Mensch nicht mit einem achselzuckenden »So what?« auch daran gewöhnen? Nach den narzisstischen Kränkungen, die uns Kopernikus und Darwin mit der Zerstörung unseres geozentrischen und unseres anthropozentrischen Weltbildes zugefügt haben, werden wir der dritten Dezentrierung unseres Weltbildes - der Unterwerfung von Leib und Leben unter die Biotechnik - vielleicht mit größerer Gelassenheit folgen. Ein eugenisch programmierter Mensch muss mit dem Bewusstsein leben, dass seine Erbanlagen in der Absicht einer gezielten Einflussnahme auf deren 25
phänotypische Ausprägung manipuliert worden sind. Bevor wir uns über eine normative Bewertung des Tatbestandes schlüssig werden, müssen wir die Maßstäbe selbst klären, die von einer solchen Instrumentalisierung verletzt werden könnten. Moralische Überzeugungen und Normen haben, wie gesagt, ihren Sitz in Lebensformen, die sich über das kommunikative Handeln ihrer Angehörigen reproduzieren.
Weil sich die Individuierung über das vergesellschaftende Medium dichter sprachlicher Kommunikation vollzieht, hängt die Integrität der Einzelnen in besonderer Weise von dem schonenden Charakter ihres Umgang miteinander ab. So jedenfalls lassen sich
die beiden Formulierungen verstehen, die Kant dem Moralprinzip gibt. Die »Zweckformel« des kategorischen Imperativs enthält die Aufforderung, jede Person »jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst« zu betrachten und
»niemals bloß als Mittel« zu gebrauchen. Die Beteiligten sollen auch in Konfliktfällen ihre Interaktion in der Einstellung kommunikativen Handelns fortsetzen. Sie sollen sich aus der Teilnehmerperspektive der ersten Person auf den Anderen als eine zweite Person in der Absicht einstellen, sich mit ihm über etwas zu verständigen, statt ihn aus der Beobachterperspektive einer dritten Person zu vergegenständlichen und für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Die moralisch relevante Grenze der Instrumentali-
sierung ist durch das markiert, was sich am Gegenüber einer zweiten Person allen Zugriffen der ersten Person solange mit Notwendigkeit entzieht, wie die 96
kommunikative
Beziehung,
also die Möglichkeit
von Antwort und Stellungnahme, überhaupt intakt bleibt - das also, womit und wodurch eine Person sie selbst ist, wenn sie handelt und Kritikern Rede und Antwort steht. Das »Selbst« des Selbstzwecks, den wir in der anderen Person achten sollen, drückt sich insbesondere in der Autorschaft für eine Lebensführung aus, die sich an jeweils eigenen Ansprüchen orientiert. Jeder interpretiert die Welt aus der eigenen Perspektive, handelt aus eigenen Motiven, entwirft
eigene Projekte, verfolgt eigene Interessen und Absichten, ist die Quelle authentischer Ansprüche. Freilich können die handelnden Subjekte dem Verbot der Instrumentalisierung nicht schon dadurch genügen, dass sie die Wahl ihrer Zwecke noch einmal (im Sinne von Harry Frankfurt) an eigenen Zwecken höherer Ordnung - an generalisierten Zielsetzungen, d.h. an Werten - kontrollieren. Der kategorische Imperativ verlangt von jedem, die Perspektive der ersten Person zugunsten einer intersub-
jektiv geteilten Wir-Perspektive aufzugeben, aus der alle gemeinsam zu verallgemeinerungsfähigen Wertorientierungen gelangen können. Schon die Zweckformel enthält die Brücke zur Gesetzesformel. Denn die Idee, dass gültige Normen allgemeine Zustimmung müssen finden können, deutet sich mit der merkwürdigen Bestimmung an, dass wir in einer jeden Person, indem wir sie als Selbstzweck behandeln, »die Menschheit« achten sollen: »Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich >7
als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Die Idee der Menschheit verpflichtet uns dazu, jene WirPerspektive einzunehmen, aus der wir uns gegenseitig als Mitglieder einer inklusiven Gemeinschaft ansehen, die keine Person ausschließt.
Auf welche Weise in Konfliktfällen eine normative Verständigung möglich ist, besagt dann die Gesetzesformel des kategorischen Imperativs, die dazu auffordert, den eigenen Willen an genau die Maximen zu binden, die jeder als ein allgemeines Gesetz wollen kann. Daraus folgt, dass autonom handelnde Subjekte immer dann, wenn ein Dissens über zugrunde liegende Wertorientierungen aufbricht, in Diskurse eintreten müssen, um gemeinsam die Normen zu entdecken oder zu entwickeln, die im Hin-
blick auf eine regelungsbedürftige Materie die begründete Zustimmung aller verdienen. Die beiden Formulierungen erklären dieselbe Intuition in verschiedenen Hinsichten. Einerseits geht es um die »Selbstzweckhaftigkeit« der Person, die als Individuum ein eigenes und unvertretbares Leben soll füh-
ren können, andererseits um die gleichmäßige Achtung, die jeder Person in ihrer Eigenschaft als Person
überhaupt zukommt. Daher darf die Allgemeinheit moralischer Normen, die eine Gleichbehandlung aller sichert, nicht abstrakt bleiben; sie muss für die
Rücksichtnahme auf die individuellen Lebenssituationen und -entwürfe aller Einzelnen sensibel bleiben. Dem trägt der Begriff einer Individuierung und Verallgemeinerung verschränkenden Moral Rechnung. 98
Die Autorität der ersten Person, die sich in eigenen Erlebnissen, authentischen Ansprüchen und Initiativen zu verantwortlichem Handeln, letztlich in der
Autorschaft für die eigene Lebensführung ausdrückt, darf auch in der Selbstgesetzgebung der moralischen Gemeinschaft nicht gekränkt werden. Denn die Moral sichert die Freiheit des Individuums, ein eigenes Leben zu führen, nur dann, wenn die Anwendung allgemeiner Normen den Gestaltungsspielraum individueller Lebensentwürfe nicht unzumutbar einschnürt. In der Allgemeinheit gültiger Normen selbst muss eine nicht assimilierende, zwanglos-intersubjektive Gemeinsamkeit zum Ausdruck kommen, die die begründete Verschiedenheit der Interessen und Deutungsperspektiven auf ganzer Breite berücksichtigt, also die Stimmen der Anderen — der Fremden, der Dissidenten und der Ohn-
mächtigen — weder nivelliert und unterdrückt noch marginalisiert und ausschließt. Dem soll die rational motivierte Zustimmung von unabhängigen Subjekten, die Nein sagen können, genügen: Jede diskursiv erzielte Zustimmung zieht ihre Geltungskraft aus der doppelten Negation begründet zurückgewiesener Einwände. Aber diese im praktischen Diskurs erzielte Übereinstimmung ist nur dann kein überwältigender Konsens, wenn darin die ganze Komplexität der verarbeiteten Einwände und die uneingeschränkte Vielfalt der berücksichtigten Interessenlagen und Deutungsperspektiven eingehen. Deshalb ist für die moralisch urteilende Person das eigene Selbstseinkönnen genauso wichtig 39
wie für die moralisch handelnde Person das Selbstsein der Anderen. Im Neinsagenkönnen des Diskursteilnehmers muss das spontane Selbst- und Weltverständnis unvertretbarer Individuen zur Sprache kommen. Wie im Handeln, so im Diskurs: ihr »Ja« und »Nein« zählt, weil und soweit es die Person selbst ist, die hin-
ter ihren Absichten, Initiativen und Ansprüchen steht. Wenn wir uns als moralische Personen verstehen, gehen wir intuitiv davon aus, dass wir unvertretbar, in propria persona, handeln und urteilen — dass keine andere Stimme als die eigene aus uns spricht. Es ist nun zunächst im Hinblick auf dieses »Selbstseinkönnen«, dass sich »die fremde Absicht«, die mit dem genetischen Programm in unsere Le-
bensgeschichte hineinreicht, als ein störender Faktor herausstellen könnte. Zum Selbstseinkönnen ist es auch nötig, dass die Person im eigenen Leib gewissermaßen zu Hause ist. Der Leib ist Medium der Verkörperung personaler Existenz, und zwar so, dass im
Vollzug dieser Existenz jede vergegenständlichende Selbstreferenz, beispielsweise in Aussagen der ersten Person, nicht nur unnötig, sondern sinnlos ist.°! Mit dem Leib verbindet sich der Richtungssinn von Zentrum und Peripherie, Eigenem und Fremdem. Die Verkörperung der Person im Leib ermöglicht nicht nur die Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv, 61 E. Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung, Frankfurt am Main 1979, 68ff.; B. Mauersberg, Der lange Abschied von der Bewusstseinsphilosophie, Frankfurt am Main 2000. IOoO
Bewirken und Geschehen, Machen und Finden; sie
erzwingt eine Differenzierung zwischen Handlungen, die wir uns oder anderen zuschreiben. Aber die leibliche Existenz ermöglicht diese perspektivischen Unterscheidungen nur unter der Bedingung, dass die Person sich mit ihrem Leib identifiziert. Und damit sich die Person mit ihrem Leib eins fühlen kann, scheint er als naturwüchsig erfahren werden zu müssen - als die Fortsetzung des organischen, sich selbst regenerierenden Lebens, aus dem heraus die Person geboren worden ist. Die eigene Freiheit wird mit Bezug auf etwas natürlich Unverfügbares erlebt. Die Person weiß sich, ungeachtet ihrer Endlichkeit, als nicht hintergehbaren Ursprung eigener Handlungen und Ansprüche. Aber muss sie dafür die Herkunft ihrer selbst auf einen unverfügbaren Anfang zurückführen - also auf einen Anfang, der ihre Freiheit nur dann nicht präjudiziert, wenn er sich — wie Gott oder die Natur - der Verfügung anderer Personen entzieht? Auch die Na-
türlichkeit der Geburt füllt die begrifflich erforderliche Rolle eines solchen unverfügbaren Anfangs aus. Die Philosophie hat diesen Zusammenhang selten thematisiert. Zu den Ausnahmen gehört Hannah Arendt, die im Rahmen ihrer Theorie des Handelns
den Begriff der »Natalität« einführt. Sie geht von der Beobachtung aus, dass mit der Geburt jedes Kindes nicht nur eine andere, sondern eine neue Lebensgeschichte beginnt. Diesen emphatischen Anfang des Menschenlebens verbindet sie mit dem
Selbstverständnis
handelnder IOI
Subjekte,
aus
freien Stücken einen »neuen Anfang machen« zu können. Bei Arendt fällt von der biblischen Verheißung »Uns ward ein Kind geboren« ein eschatologi-
scher Abglanz noch auf jede Geburt, mit der sich die Hoffnung verknüpft, dass ein ganz Anderes die Kette der Ewigen Wiederkehr zerbricht. Der gerührte Blick der neugierig Umstehenden auf die Ankunft des frisch Geborenen verrät die »Erwartung des Unerwarteten«. An dieser unbestimmten Hoffnung auf das Neue soll die Macht der Vergangenheit über die Zukunft zerschellen. Mit dem Begriff der Natalität schlägt Arendt eine Brücke vom kreatürlichen Anfang zum Bewusstsein des erwachsenen Subjekts, selber den Anfang für neue Handlungsketten setzen zu können: »Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur
Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d.h. zu handeln. Im Sinne von Initiative - ein initium setzen - steckt ein Element von Handeln in allen menschlichen Tätigkeiten, was nichts anderes besagt, als dass diese Tätigkeiten eben von Wesen geübt werden, die durch Geburt zur Welt gekommen sind
und unter der Bedingung der Natalität stehen. «°? Die Menschen fühlen sich im Handeln frei, etwas
Neues zu beginnen, weil schon die Geburt, als Wasserscheide zwischen Natur und Kultur, einen Neu-
beginn markiert. Ich verstehe diese Andeutung so, 62 H. Arendt (1959), S. ı5 f. 63 Ebd., S.243, vgl. auch $. 164f. IO2
dass mit der Geburt eine Differenzierung einsetzt zwischen dem Sozialisationsschicksal einer Person und dem Naturschicksal ihres Organismus. Allein die Bezugnahme auf diese Differenz zwischen Natur und Kultur, zwischen unverfügbaren Anfängen und der Plastizität geschichtlicher Praktiken erlaubt dem Handelnden die performativen Selbstzuschreibungen, ohne die er sich selbst nicht als Initiator seiner Handlungen und Ansprüche verstehen könnte. Denn das Selbstsein der Person erfordert einen Bezugspunkt jenseits der Traditionsstränge und Interaktionszusammenhänge eines Bildungsprozesses, in dem sich die personale Identität lebensgeschichtlich erst formiert. Gewiss, die Person kann sich nur dann als Autor
zurechenbarer Handlungen und als Quelle authentischer Ansprüche sehen, wenn sie die Kontinuität eines Selbst unterstellt, das durch die Lebensgeschichte hindurch mit sich identisch bleibt. Ohne diese Unterstellung könnten wir unserem Sozialisationsschicksal nicht reflexiv begegnen und kein revisionäres Selbstverständnis ausbilden. Das aktuelle Bewusstsein, der Urheber eigener Handlungen und Ansprüche zu sein, ist verwoben mit der Intuition,
zum Urheber einer kritisch angeeigneten Lebensgeschichte berufen zu sein. Aber einer Person, die aus-
schließlich Produkt eines bestimmenden und nur erlittenen Sozialisationsschicksals wäre, entglitte im Fluss der bildungswirksamen Konstellationen, Beziehungen und Relevanzen ihr »Selbst«. Die Kontinuierung des Selbstseins ist uns im Wandel der Le103
bensgeschichte nur deshalb möglich, weil wir die Differenz zwischen dem, was wir sind, und dem, was mit uns geschieht, an einer leiblichen Existenz festmachen können, die ein hinter den Sozialisations-
prozess zurückreichendes Naturschicksal fortsetzt. Die Unverfügbarkeit des gleichsam vorvergangenen Naturschicksals scheint für das Freiheitsbewusstsein wesentlich zu sein - aber auch für das Selbstseinkönnen als solches? Aus Hannah Arendts suggestiver Beschreibung folgt noch nicht, dass die anonymen Handlungsketten, die durch den gentechnisch bearbeiteten Organismus hindurchlaufen, den eigenen Leib als Zurechnungsbasis des Selbstseins entwerten müssen. Bedeutet etwa die Geburt, sobald sich fremde Absichten er-
kennbar im genetischen Programm des eigenen Organismus einnisten, keinen Anfang mehr, der dem handelnden Subjekt das Bewusstsein geben könnte, jederzeit selbst einen Anfang machert zu können ? Gewiss, wer in seinen Anlagen einer sedimentierten fremden Absicht begegnet, muss sich dazu verhalten. Die programmierte Person kann die durch das veränderte Genom hindurchreichende Absicht des Programmierers nicht als Naturtatsache, als einen kontingenten Umstand verstehen, der seinen Hand-
lungsspielraum begrenzt. Mit seiner Absicht greift der Programmierer vielmehr als Mitspieler in eine Interaktion ein, ohne innerhalb des Handlungsspielraums des Programmierten als Gegenspieler aufzutreten. Aber was ist das moralisch Bedenkliche an der merkwürdigen Unangreifbarkeit der über GenveränIo4
derung in die Lebensgeschichte eingreifenden Intention eines anderen peers?
VI
Moralische Grenzen der Eugenik
In liberalen Gesellschaften hat jeder Bürger das gleiche Recht, seine individuellen Lebenspläne »nach besten Kräften« zu verfolgen. Dieser ethische Freiheitsspielraum, aus einem Leben, das fehlschlagen kann, das Beste zu machen, ist auch durch genetisch bedingte Fähigkeiten, Dispositionen und Eigenschaften bestimmt. Im Hinblick auf die ethische Freiheit, unter nicht selbst gewählten organischen Ausgangsbedingungen ein eigenes Leben zu führen, befindet sich die programmierte Person zunächst in keiner anderen Situation wie die natürlich gezeugte. Eine eugenische Programmierung wünschenswerter Eigenschaften und Dispositionen ruft allerdings dann moralische Bedenken auf den Plan, wenn sie die betroffene Person auf einen bestimmten Lebensplan festlegt, jedenfalls in der Freiheit der Wahl eines
eigenen Lebens spezifisch einschränkt. Natürlich kann sich der Heranwachsende die »fremde« Absicht, die fürsorgliche Eltern vor der Geburt mit einer Disposition zu bestimmten Fertigkeiten verbunden haben, in ähnlicher Weise zu Eigen machen wie beispielsweise die berufliche Tradition des Elternhauses. Ob nun der Heranwachsende der Erwartung ehrgeiziger Eltern, z.B. etwas aus einer mathematischen oder musikalischen Begabung zu machen, in 105
der Reflexion auf das dichte Gewebe der häuslichen Sozialisation oder in Auseinandersetzung mit einem genetischen Programm begegnet, macht keinen wesentlichen Unterschied, sobald der Betroffene diese
Erwartung in eigene Aspirationen verwandelt und seine symptomatische erkennbare Begabung als Chance und Verpflichtung zu eigener Anstrengung begreift. Im Falle einer derart »angeeigneten« Intention kann ein Effekt der Entfremdung von der eigenen leiblichseelischen Existenz und eine entsprechende Einschränkung der ethischen Freiheit, ein »eigenes« Leben zu führen, nicht eintreten. Andererseits können wir die Möglichkeit dissonanter Fälle nicht ausschließen, solange wir nicht sicher’sein dürfen, dass eine Harmonisierung der eigenen mit den fremden Absichten garantiert ist. An Fällen dissonanter Absichten zeigt sich nämlich, dass sich Natur- und Sozialisationsschicksal in einer morälisch relevanten Hinsicht unterscheiden.°* Sozialisationsprozesse laufen nur über kommunikatives Handeln und entfalten ihre bildende Kraft im Medium von Verstän-
64 Buchanan etal. (2000), $. 177 f.: »Even ifan individual is no more
locked in by the effects of a parental choice than he or she would have been by unmodified nature, most of us might feel differently about accepting the results of a natural lottery versus the imposed values of our parents. The force of feeling locked in may well be different.« Merkwürdigerweise wenden die Autoren dieses Argument nur gegen das, was sie »communitarian eugenics« nennen, nicht gegen die von ihnen befürwortete Praxis einer liberalen Eugenik im Allgemeinen. IOo6
digungsprozessen und Entscheidungen, die von seiten der erwachsenen Bezugspersonen auch dann mit internen Gründen verknüpft sind, wenn sich dem Kind selbst, bei einem gegebenen Stand seiner kognitiven Entwicklung, der »Raum der Gründe« noch nicht erschlossen hat. Die interaktive Struktur von Bildungsprozessen, in denen das Kind stets die Rolle einer zweiten Person einnimmt, macht die charak-
terformierenden Erwartungen der Eltern grundsätzlich »anfechtbar«. Weil auch eine psychisch fesselnde »Delegation« der Kinder nur im Medium der Gründe zustande kommen kann, behalten die Her-
anwachsenden grundsätzlich eine Chance, zu antworten und sich davon retroaktiv zu befreien.‘ Sie können die Asymmetrie der kindlichen Abhängigkeit retrospektiv ausgleichen und sich auf dem Wege einer kritischen Aufarbeitung der Genese von freiheitseinschränkenden Sozialisationsvorgängen befreien. Selbst neurotische Fixierungen lassen sich analytisch, durch die Erarbeitung von Einsichten
auflösen. Eben diese Chance besteht nicht im Falle einer genetischen Fixierung, die die Eltern nach eigenen Präferenzen vorgenommen haben. Eine genetische Intervention eröffnet nicht den kommunikativen Spielraum, das geplante Kind als eine zweite Person anzusprechen und in einen Verständigungsprozess einzubeziehen. Aus der Perspektive des Heranwach65 Vgl. oben die Hinweise auf Kierkegaard als den ersten modernen Ethiker.
Io7
senden lässt sich eine instrumentelle Festlegung nicht wie ein pathogener Vorgang der Sozialisation auf dem Wege der »kritischen Aneignung« revidieren. Sie erlaubt einem Adoleszenten, der auf den vor-
geburtlichen Eingriff zurückblickt, keinen revisionären Lernprozess. Die hadernde Auseinandersetzung mit der genetisch fixierten Absicht einer dritten Person ist ohne Ausweg. Das genetische Programm ist eine stumme und in gewissem Sinne unbeantwortbare Tatsache; denn der, der mit genetisch fixierten Absichten hadert, kann sich nicht wie natürlich geborene Personen im Laufe einer reflexiv angeeigneten und willentlich kontinuierten Lebensgeschichte zu ihren Begabungen (und Behinderungen) so verhalten, dass sie ihr Selbstverständnis revidiert und
auf die Ausgangslage eine produktive Antwort findet. Diese Situation ähnelt übrigens der des Klons, der durch den modellierenden Blick auf Person und Lebensgeschichte eines zeitverschobenen »Zwillings« seiner unverstellten eigenen Zukunft beraubt wird.°® 66 Vgl. das Argument von Hans Jonas, in: ders. (1985), $S. 190-193;
dazu K. Braun, Menschenwürde und Biomedizin, Frankfurt am Maın 2000, $. 162-179. Buchanan et. al. (2000) beachten zwar
für das Kind das »Recht auf eine offene Zukunft« (das Joel Feinberg in anderem Zusammenhang gefordert hat: The Child’s Right to an open Future, in: W. Aiken, H. LaFollette (Eds.), Whose Child? Children’s Rights, Parental Authority, and State Power, Totowa, N], 1980). Aber sie sind der Auffassung, dass dieses Recht durch das Vorläufermodell eines zeitverschobenen Zwillings nur unter den - falschen - Prämissen des genetischen
Determinismus
beeinträchtigt werden 108
könnte. Sie übersehen,
Verbessernde eugenische Eingriffe beeinträchtigen die ethische Freiheit insoweit, wie sie die betroffene Person an abgelehnte, aber irreversible Absichten Dritter fixieren und ihr damit verwehren, sich unbefangen als der ungeteilte Autor des eigenen Lebens zu verstehen. Es mag leichter sein, sich mit Fähigkeiten und Fertigkeiten als mit Dispositionen oder gar Eigenschaften zu identifizieren, aber für die psychische Resonanz beim Betroffenen zählt allein die Absicht, die mit dem Vorhaben der Programmierung verbunden war. Nur im negativen Fall der Vermeidung extremer und hochgeneralisierter Übel bestehen gute Gründe für die Annahme, dass der Betroffene der eugenischen Zielsetzung zustimmen würde. Eine liberale Fugenik beträfe freilich nicht nur das ungehinderte Selbstseinkönnen der programmierten Person. Eine solche Praxis würde zugleich eine interpersonale Beziehung erzeugen, für die es keinen Präzedenzfall gibt. Mit der irreversiblen Entscheidung, die eine Person über die erwünschte Zusammensetzung des Genoms einer anderen Person trifft, entsteht zwischen beiden ein Typus von Beziehung, der dass hier wie im Falle der verbessernden eugenischen Praxis überhaupt vor allem die Intention zählt, mit der ein genetischer Eingriff vorgenommen wird. Wie die betroffene Person weiß, ist die Manipulation nur in der Absicht vorgenommen worden, auf die phänotypische Ausprägung eines bestimmten genetischen Programms Einfluss zu nehmen und dies natürlich unter der Voraussetzung, dass sich die dazu erforderlichen Technologien bewährt haben.
109
eine bislang selbstverständliche Voraussetzung des moralischen Selbstverständnisses autonom handelnder und urteilender Personen in Frage stellt. Ein universalistisches Rechts- und Moralverständnis geht davon aus, dass einer egalitären Ordnung interpersonaler Beziehungen kein prinzipielles Hindernis entgegensteht. Natürlich sind unsere Gesellschaften von manifester ebenso wie von struktureller Gewalt geprägt. Sie sind von der Mikromacht verschwiegener Repressionen durchsetzt, durch despotische Unterdrückung, politische Entrechtung, soziale Entmächtigung und ökonomische Ausbeutung entstellt. Darüber könnten wir uns nicht empören, wenn wir nicht wüssten, dass diese beschämenden Verhältnisse auch anders sein könnten. Die Überzeugung, dass alle Personen den gleichen normativen Status
einnehmen und einander reziprok-symmetrische Anerkennung schulden, geht von einer grundsätzlichen Reversibilität zwischenmenschlicher Beziehungen aus. Keiner darf vom anderen in einer prinzipiell unumkehrbaren Weise abhängig sein. Mit der genetischen Programmierung entsteht jedoch eine in mehreren Hinsichten asymmetrische Beziehung -ein Paternalismus eigener Art.
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Anders als die soziale Abhängigkeit des Eltern-KindVerhältnisses, das sich mit dem Erwachsenwerden der Kinder im Turnus der Generationen immer wie-
der auflöst, ist gewiss auch die genealogische Abhängigkeit der Kinder von den Eltern unumkehrbar. Eltern zeugen ihre Kinder, Kinder nicht ihre Eltern. Aber diese Abgängigkeit betrifft allein die Existenz, IIO
die vorzuwerfen merkwürdig abstrakt bleibt, nicht das Sosein der Kinder - irgendeine qualitative Bestimmung ihres künftigen Lebens. Im Vergleich zur sozialen ist zwar die genetische Abhängigkeit des Programmierten von seinem Designer auf einen einzigen zurechenbaren Akt zugespitzt. Aber im
Rahmen einer eugenischen Praxis begründen Akte dieser Art — Unterlassungen ebenso wie Handlungen - eine soziale Beziehung, die die übliche »Rezi-
prozität zwischen
Ebenbürtigen«
aufhebt.°” Der
Programmplaner verfügt einseitig, ohne begründete Konsensunterstellung, über genetische Anlagen eines anderen in der paternalistischen Absicht, für den Abhängigen lebensgeschichtlich relevante Weichen zu stellen. Die Absicht kann von diesem interpretiert, aber nicht revidiert oder ungeschehen gemacht werden. Irreversibel sind die Folgen, weil sich die paternalistische Absicht in einem entwaffnenden genetischen Programm niederschlägt und nicht in einer kommunikativ vermittelten sozialisatorischen Praxis, die vom »Zögling« aufgearbeitet werden kann. Die Irreversibilität der Folgen einseitig vorgenommener Genmanipulationen bedeutet eine problematische Verantwortung für den, der sich eine solche Entscheidung zutraut. Aber muss sie per se für den Betroffenen eine Einschränkung seiner moralischen Autonomie bedeuten? Alle Personen, auch die natürlich geborenen, sind von ihrem genetischen Pro67 Vgl. meine drei Repliken in: J. Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main 1989, $. 243-256. RT
gramm in der einen oder anderen Weise abhängig. Die Abhängigkeit von einem absichtlich festgelegten genetischen Programm wird für das moralische Selbstverständnis der programmierten Person aus einem anderen Grunde relevant. Ihr ist es prinzipiell versagt, mit ihrem Programmierer die Rollen zu tauschen. Das Produkt kann, um es zuzuspitzen, für sei-
nen Designer nicht seinerseits ein Design entwerfen. Hier interessiert uns die Programmierung nicht unter dem Gesichtspunkt, ob sie das Selbstseinkönnen und die ethische Freiheit eines anderen einschränkt, sondern unter dem Aspekt, ob und wie sie gegebenenfalls eine symmetrische Beziehung zwischen dem Programmierer und dem derart »gezeichneten« Produkt verhindert. Die eugenische' Programmierung verstetigt eine Abhängigkeit zwischen Personen, die wissen, dass es für sie prinzipiell ausgeschlossen ist, ihre sozialen Plätze zu wechseln. Eine solche unumkehrbare, weil askriptiv verankerte soziale Abhängigkeit bildet aber in den reziprok-symmetrischen Annerkennungsverhältnissen einer moralischen und rechtlichen Gemeinschaft von freien und gleichen Personen einen Fremdkörper. Bisher begegneten sich in sozialen Interaktionen nur geborene, nicht gemachte Personen. In der biopolitischen Zukunft, die liberale Eugeniker an die Wand malen, würde dieser horizontale Zusammenhang überlagert von einem intergenerationellen Handlungs- und Kommunikationszusammenhang, der vertikal durch das absichtlich veränderte Genom der Nachgeborenen hindurchreicht. IT2
Man könnte nun auf den Gedanken kommen, dass
gerade der demokratische Verfassungsstaat den geeigneten Rahmen und die Mittel bietet für den Versuch, die zwischen den Generationen fehlende Rezi-
prozität durch eine rechtliche Institutionalisierung des Verfahrens auszugleichen und die gestörte Syınmetrie auf der Ebene einer verallgemeinernden Normierung wieder herzustellen. Könnte eine solche Normierung auf der breiten Grundlage einer ethisch-politischen Willensbildung nicht die Eltern von der fragwürdigen Verantwortung einer nur nach eigenen Präferenzen getroffenen individuellen Entscheidung entlasten? Könnte die Legitimität eines allgemeinen demokratischen Willens die Eltern, die das genetische Schicksal ihres Kindes nach eigenen Präferenzen formen, vom Makel des Paternalismus freisprechen und den Betroffenen selbst einen eben-
bürtigen Status zurückgeben ? Denn diese brauchten sich nicht länger nur als Abhängige betrachten, sobald sie als demokratische Mitautoren einer gesetzlichen Regelung in einen generationenübergreifenden Konsens einbezogen würden, der die im Einzelfall unheilbare Asymmetrie auf der höherer Stufe des Allgemeinwillens aufhebt. Das Gedankenexperiment zeigt jedoch, warum dieser Reparaturversuch scheitern muss. Der erforderliche politische Konsens wäre entweder zu stark oder zu schwach. Zu stark, weil eine verbindliche Festlegung von kollektiven Zielen, die über einvernehmlich indizierte Übel hinausreichen, in die private
Autonomie der Bürger verfassungswidrig eingreifen 113
würde; zu schwach, weil die bloße Erlaubnis, von eugenischen Verfahren Gebrauch zu machen, die EItern von der moralischen Verantwortung für die höchst persönliche Auswahl eugenischer Ziele nicht entlasten könnte, weil die problematische Folge einer Einschränkung der ethischen Freiheit nicht auszuschließen ist. Praktiken der verbessernden Eugenik können im Rahmen einer demokratisch verfassten pluralistischen Gesellschaft, die jedem
Bürger das gleiche Recht auf eine autonome Lebensführung zugesteht, nicht auf legitime Weise »normalisiert« werden, weil die Selektion erwünschter Dispositionen von der Präjudizierung bestimmter Lebenspläne nicht a priori entkoppelt werden kann.
VII
Schrittmacher einer Selbstinstrumentalisierung der Gattung?
Was folgt aus dieser Analyse für eine Beurteilung der gegenwärtigen Debatte über Stammzellenforschung und PID? Zunächst habe ich in Abschnitt II zu erklären versucht, warum die Hoffnung trügt, die Kontroverse mit einem einzigen schlagenden moralischen Argument entscheiden zu können. Philosophisch gesehen, ist es keineswegs zwingend, das Menschen-
würdeargument auf menschliches Leben »von Anfang« an auszudehnen. Andererseits öffnet die juristische Unterscheidung zwischen der unbedingt geltenden Menschenwürde der Person und einem Lebensschutz des Embryos, der grundsätzlich gegen II4
andere Rechtsgüter abgewogen werden kann, keineswegs Tür und Tor für einen ausweglosen Streit
über ethische Zielkonflikte. Denn die Bewertung vorpersonalen menschlichen Lebens betrifft, wie ich in Abschnitt III gezeigt habe, nicht ein »Gut« unter anderen Gütern. Wie wir mit menschlichem Leben vor der Geburt (oder mit Menschen nach ihrem Tode) umgehen, berührt unser Selbstverständnis als
Gattungswesen. Und mit diesem gattungsethischen Selbstverständnis sind die Vorstellungen von uns als moralischer Personen eng verwoben. Unsere Auffassungen von - und unser Umgang mit — vorpersonalem menschlichem Leben bilden sozusagen eine stabilisierende gattungsethische Umgebung für die vernünftige Moral der Menschenrechtssubjekte - einen Einbettungskontext, der nicht wegbrechen darf, wenn nicht die Moral selbst ins Rutschen kommen soll. Dieser interne Zusammenhang der Ethik des Lebensschutzes mit der Art und Weise, wie wir uns als autonome und gleiche, an moralischen Gründen orientierte Lebewesen verstehen, tritt vor dem Hintergrund einer möglichen liberalen Eugenik deutlicher hervor. Die moralischen Gründe, die hypothetisch gegen eine solche Praxis sprechen, werfen ihren Schatten auch auf diejenigen Praktiken, die den Weg zur liberalen Eugenik erst ebnen. Wir müssen uns heute fragen, ob sich spätere Generationen gegebenenfalls damit abfinden werden, sich nicht mehr als ungeteilte Autoren ihrer Lebensführung zu begreifen - und auch nicht mehr als solche zur RechenII5
schaft gezogen zu werden. Werden sie sich mit einer interpersonalen Beziehung abfinden, die nicht mehr zu den egalitären Voraussetzungen von Moral und Recht passt? Und würde sich dann nicht die grammatische Form unseres moralischen Sprachspiels im Ganzen verändern — das Verständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte als Wesen, für die normative Gründe zählen? Die Argumente, die ich in den Abschnitten IV bis VI vorgetragen habe, sollten plausibel machen, dass sich uns diese Fragen heute schon in Erwartung der weiteren gentechnischen Entwicklungen stellen. Beunruhigend ist die Aussicht auf eine Praxis merkmalsverändernder gentechnischer Eingriffe, die die Grenzen des grundsätzlich kommunikativen Verhältnisses zwischen Arzt und Patient, Eltern und Kindern überschreitet
und die mit der eugenischen Selbsttransformation unsere normativ strukturierten Lebensformen untergräbt. Diese Beunruhigung erklärt einen Eindruck, den man aus der bioethischen Debatte, auch aus der des Bundestages, gewinnen kann. Wer diesen Diskurs (wie z.B. die FDP-Abgeordneten) im Stile der ganz
normalen Abwägung zwischen konkurrierenden Rechtsgütern führt, scheint den Ton zu verfehlen. Nicht als ob existentielle Unbedingtheit gegenüber Interessenabwägungen a priori im Recht wäre. Aber viele von uns scheinen der Intuition zu folgen, dass wir menschliches
Leben, selbst im frühesten Sta-
dium, nicht gegen die Freiheit (und Konkurrenzfähigkeit) der Forschung, nicht gegen das Interesse an II6
der Sicherung des nationalen Standorts, auch nicht gegen den Wunsch nach einem gesunden Kind und nicht einmal gegen die (arguendo angenommene) Aussicht auf neue Heilverfahren für schwere genetische Krankheiten aufwiegen möchten. Was kann sich in dieser Intuition ausdrücken, wenn wir davon ausgehen, dass menschliches Leben nicht von Anbe-
ginn in derselben Weise absolut geschützt ist wie das Leben von Personen ? Das Bedenken gegen die PID lässt sich direkter begründen als die vergleichsweise archaische Hemmung gegen die verbrauchende Embryonenforschung. Was uns von einer Legalisierung der PID
abhäilt, ist beides: sowohl die Erzeugung von Embryonen unter Vorbehalt wie die Art des Vorbehaltes selbst. Das Herbeiführen einer Situation, in der wir gegebenenfalls einen kranken Embryo verwerfen, ist so fragwürdig wie die Selektion nach einseitig festgelegten Kriterien. Die Selektion muss einseitig und insofern instrumentalisierend vorgenommen werden, weil ein antizipiertes Einverständnis, das sich wie im Falle gentherapeutischer Eingriffe an Stellungnahmen der behandelten Patienten wenigstens nachträglich überprüfen ließe, nicht unterstellt werden kann: hier entsteht eine Person gar nicht erst. Anders als im Falle der Embryonenforschung kann in diesem Fall immerhin eine moralische Abwägung gegen die Zumutbarkeit eines schweren Leidens für die künftige
Person selbst ins Gewicht fallen.°® Die Befürworter 68 Solange den Verteidigern der PID die geltende medizinische Indi-
217.
einer Regelung, die gegebenenfalls die Zulässigkeit des Verfahrens auf wenige eindeutig extreme Fälle monogenetisch bedingter Erbkrankheiten beschränken würde, können gegen den Lebensschutz in erster
Linie°” das advokatorisch wahrgenommene Interesse des künftig Betroffenen an der Vermeidung eines künftig unerträglich eingeschränkten Lebens ins Feld führen. Aber der Umstand, dass wir für andere eine folgenreiche Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem
Leben
vornehmen,
bleibt
auch
dann beunruhigend. Verfehlen die Eltern, die sich um ihres eigenen Kinderwunsches willen zur Selektion entschließen, eine klinische, am Ziel des Heilens orientierte Einstellung? Oder verhalten sie sich
doch, wenn auch unüberprüfbar fiktiv, zum Ungeborenen wie zu einer zweiten Person - in der Annahme,
dass diese selbst zu einer in bestimmter
Weise eingeschränkten Existenz Nein sagen würde? Ich selbst bin unsicher; aber auch dann hätten die kation für Abtreibungen als Modell vorschwebt, verbieten sie
sich den Perspektivenwechsel von der Unzuträglichkeit für die Mutter zu einer präsumtiven Unerträglichkeit für das künftige Kind. 69 Wenn man vom Aspekt der absichtlich herbeigeführten Selektion absieht, kann freilich auch bei diesem Verfahren der weitere Ge-
sichtspunkt ins Spiel kommen, der in der anders beschaffenen Situation einer Abtreibung durch das Selbstbestimmungsrecht der Frau gedeckt wird: die Zumutbarkeit für die Eltern. Diese müssen sich auch unter gravierenden Umständen die anspruchsvolle Verantwortung für ein Kind, mit dem sie ihr Leben fortan teilen, zutrauen. II8
Opponenten noch starke Gründe, wenn sie (wie zuletzt der Bundespräsident) auf die diskriminierenden Nebenfolgen und auf die problematischen Gewöhnungseffekte jeder noch so restriktiven Bewertung eines vermeintlich beeinträchtigten Modus menschlichen Lebens hinweisen. Eine andere Situation wird eintreten, wenn es die gentechnische Entwicklung eines Tages erlaubt, an
die Diagnose schwerer erblicher Belastungen einen gentherapeutischen Eingriff anzuschließen und damit eine Selektion überflüssig zu machen. Damit würde zwar die Schwelle zur negativen Eugenik überschritten. Aber nun könnten die erwähnten Gründe, die heute schon für eine Freigabe der PID angeführt werden, für genverändernde Eingriffe geltend gemacht werden, ohne dass eine unerwünschte Behinderung gegen den Lebensschutz eines »verworfenen« Embryos abgewogen werden müsste. Eine (vorzugsweise an Körperzellen) vorgenommene Genveränderung, die auf eindeutig therapeutische Ziele eingeschränkt wäre, kann mit der Bekämpfung von Epidemien und Volkskrankheiten verglichen werden. Die Eingriffstiefe der operativen Mittel rechtfertigt. keinen Verzicht auf Behandlung. Eine komplexere Erklärung verlangt der Abscheu vor dem Gedanken, dass die verbrauchende Embryonenforschung menschliches Leben für Nutzen(und Gewinn-) Erwartungen eines nicht einmal sicher prognostizierbaren wissenschaftlichen Fortschritts instrumentalisiert. Darin meldet sich die Einstellung, dass »ein Embryo — auch wenn er im 119
Glas erzeugt ist - das zukünftige Kind zukünftiger Eltern (ist) und sonst nichts. Es steht für andere Zwecke nicht zur Verfügung« (Margot von Renesse). Sofern diese Einstellung unabhängig von ontologischen Überzeugungen über den Anfang personalen Lebens besteht, rechtfertigt sie sich nicht aus
einer metaphysisch verstandenen Menschenwürde. Ebenso wenig greift allerdings das moralische Argument, das ich gegen die liberale Eugenik ins Feld geführt habe, jedenfalls nicht auf direkte Weise. Das Gefühl, dass wir den Embryo nicht wie eine Sache für beliebige andere Zwecke instrumentalisieren dürfen, findet zwar einen Ausdruck in der Forderung, ihn in Antizipation seiner Bestimmung wie eine zweite Person zu behandeln, die sich, wenn sie
geboren würde, zu dieser Behandlung verhalten könnte. Aber der rein experimentelle oder »verbrauchende« Umgang im Forschungslabor zielt gar nicht erst auf eine Geburt ab. In welchem Sinne kann er dann die klinische Einstellung gegenüber einem Wesen, dessen nachträglich einzuholende Zustimmung wenigstens prinzipiell unterstellt werden kann, »verfehlen« ? Die Bezugnahme auf das kollektive Gut von Heilverfahren, die möglicherweise entwickelt werden könnten, verdeckt den Umstand einer mit der klinischen Einstellung unvereinbaren Instrumentalisierung. Natürlich lässt sich die verbrauchende Embryonenforschung nicht unter dem klinischen Gesichtspunkt des Heilens rechtfertigen, denn dieser ist auf den therapeutischen Umgang mit zweiten Personen zugeI20
schnitten. Der recht verstandene klinische Gesichtspunkt individualisiert. Aber warum sollten wir an die Laborforschung den Maßstab einer virtuellen Arzt-Patienten-Beziehung überhaupt anlegen ? Wenn uns diese Gegenfrage nicht an den essentialistischen Streit über die »eigentliche« Bestimmung embryonalen Lebens zurückverweist, scheint am Ende
doch nur eine Güterabwägung mit offenem Ausgang übrig zu bleiben. Auf einen normalen Abwägungsprozess kann diese Streitfrage nur dann nicht hinauslaufen, wenn das vorpersonale Leben, wie ich in Abschnitt III zu erklären versucht habe, ein
Gewicht eigener Art hat. An dieser Stelle kommt das lange vorbereitete Argument zum Zug, dass die gentechnische Entwicklung im Hinblick auf die menschliche Natur anthropologisch tief sitzende kategoriale Unterscheidungen zwischen Subjektivem und Objektivem, Gewachsenem und Gemachtem unscharf werden lässt. Des-
halb steht mit der Instrumentalisierung des vorpersonalen Lebens ein gattungsethisches Selbstverständnis auf dem Spiel, das darüber entscheidet, ob wir uns auch weiterhin als moralisch urteilende und handelnde Wesen verstehen können. Wo uns zwingende moralische Gründe fehlen, müssen wir uns an den gattungsethischen Wegweiser halten.”® Nehmen wir an, dass sich mit der verbrauchenden 70 Rainer Forst hat mich mit scharfsinnigen Argumenten davon zu überzeugen versucht, dass ich mit diesem Zug vom Pfade der deontologischen Tugend ohne Not abweiche. 121
Embryonenforschung eine Praxis durchsetzt, die den Schutz vorpersonalen menschlichen Lebens gegenüber »anderen Zwecken«, und sei es auch gegenüber der Aussicht auf die Entwicklung von hochrangigen kollektiven Gütern (z.B. neuer Heilverfahren), als nachrangig behandelt. Die Desensibilisierung unseres Blickes auf die menschliche Natur, die mit der Eingewöhnung einer solchen Praxis Hand in Hand ginge, würde den Weg zu einer liberalen Eugenik ebnen. Wir können darin heute schon das in Zukunft
vergangene fait accompli erkennen, auf das sich dereinst die Apologeten als den Rubikon berufen können, den wir dann überschritten haben werden.
Der Blick auf eine mögliche Zukunft der menschlichen Natur belehrt uns über den Regelungsbedarf, der heute schon entstanden ist. Normative Schranken im Umgang mit Embryonen ergeben sich aus der Sicht einer moralischen Gemeinschaft von Personen,
die die Schrittmacher einer Selbstinstrumentalisierung der Gattung abwehrt, um - sagen wir: in der gattungsethisch erweiterten Sorge um sich selbst — ihre kommunikativ strukturierte Lebensform intakt zu halten. Embryonenforschung und PID erregen die Gemüter vor allem deshalb, weil sie eine Gefahr exemplifizieren, die sich mit der Perspektive der »Menschenzüchtung« verbindet. Zusammen mit der Kontingenz der Verschmelzung von jeweils zwei Chromosomensätzen verliert der Generationenzusammenhang die Naturwüchsigkeit, die bisher zum trivialen Hintergrund unseres gattungsethischen Selbstverständnisses ge-722;
hörte. Wenn wir auf eine »Moralisierung« der menschlichen Natur verzichten, könnte ein dichter intergenerationeller Handlungsstrang entstehen, der in einsinnig vertikaler Richtung durch die zeitgenös-
sischen Interaktionsnetze hindurchgreift. Während sich die Wirkungsgeschichte von kulturellen Überlieferungen und Bildungsprozessen, wie Gadamer gezeigt hat, im Medium von Frage und Antwort entfaltet, würden genetische Programme die Nachgeborenen nicht zu Wort kommen lassen. Eine Gewöhnung an die präferenzgeleitete biotechnische Verfügung über menschliches Leben kann unser normatives Selbstverständnis nicht unberührt lassen. Aus dieser Perspektive führen die beiden kontroversen Neuerungen schon im Anfangsstadium vor Augen, wie sich der Modus unseres Lebens verändern könnte, wenn merkmalsverändernde gentechnische Eingriffe, die sich ganz aus dem Zusammenhang therapeutischen, an den Einzelnen adressierten Handelns emanzipieren, eingewöhnt würden. Dann ist nicht mehr auszuschließen, dass mit verbessernden eugenischen Eingriffen jeweils »fremde«, und zwar genetisch fixierte Absichten von der Lebensgeschichte der programmierten Personen Besitz ergreifen. In solchen instrumentell verwirklichten Absichten äußern sich nicht Personen, zu denen die betroffenen Personen als Angesprochene Stellung nehmen könnten. Deshalb beunruhigt uns die Frage, ob und wie ein derart verdinglichender Akt unser Selbstseinkönnen und unser Verhältnis zu anderen affiziert. Werden wir uns dann noch als Personen ver123
stehen können, die sich als ungeteilte Autoren ihres Lebens verstehen und die allen anderen ausnahmslos als ebenbürtige Personen begegnen? Damit stehen zwei wesentliche gattungsethische Voraussetzungen unseres moralischen Selbstverständnisses auf dem Spiel. Dieser Umstand verleiht der aktuellen Auseinandersetzung freilich ihre Schärfe nur solange, wie wir überhaupt noch ein existentielles Interesse daran haben, einer moralischen Gemeinschaft anzugehören. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass wir den Status eines Mitglieds in einer Gemeinschaft einnehmen möchten, die gleiche Achtung für jeden und solidarische Verantwortung für alle verlangt. Dass wir moralisch handeln sollen, liegt im Sinn der (deontolo-
gisch begriffenen) Moral selbst beschlossen. Aber warum sollten wir moralisch sein wollen — wenn die Biotechnik stillschweigend unsere Identität als Gattungswesen unterläuft. Eine Bewertung der Moral im Ganzen ist nicht selbst ein moralisches, sondern
ein ethisches, ein gattungsethisches Urteil. Ohne das Bewegende von moralischen Gefühlen der Verpflichtung und der Schuld, des Vorwurfs und der Verzeihung, ohne das Befreiende moralischer Ach-
tung, ohne das Beglückende solidarischer Unterstützung und ohne das Bedrückende moralischen Versagens, ohne die »Freundlichkeit« eines zivilisierten Umgangs mit Konflikt und Widerspruch müssten wir, so meinen wir heute noch, das von Menschen
bewohnte Universum als unerträglich empfinden. Das Leben im moralischen Vakuum, in einer Lebens124
form, die nicht einmal mehr moralischen Zynismus kennen würde, wäre nicht lebenswert. Dieses Urteil drückt einfach den »Impuls« aus, ein menschenwür-
diges Dasein der Kälte einer Lebensform vorzuziehen, die von moralischen Rücksichten unberührt ist.
Aus demselben Impuls erklärt sich der historische Übergang zur posttraditionalen Stufe des moralischen Bewusstseins, der sich in der Ontogenese wiederholt. Als die religiösen und metaphysischen Weltbilder ihre Allgemeinverbindlichkeit einbüßten, sind wir (oder die meisten von uns) nach dem Übergang zum tolerierten weltanschaulichen Pluralismus weder zu
kühlen Zynikern noch zu gleichgültigen Relativisten geworden, weil wir am binären Code von richtigen und falschen moralischen Urteilen festgehalten haben - und festhalten wollten. Wir haben die Praktiken der Lebenswelt und der politischen Gemeinschaft auf Prämissen der Vernunftmoral und der Menschenrechte umgestellt, weil diese eine gemeinsame Basis für ein menschenwürdiges Dasein über weltanschauliche Differenzen hinweg bieten.”' Vielleicht lässt sich der affektive Widerstand gegen eine befürchtete. Veränderung der Gattungsidentität heute aus ähnlichen Motiven erklären - und rechtfertigen.
71 J. Habermas, Richtigkeit versus Wahrheit, in: ders., Wahrheit
und Rechtfertigung, Frankfurt am Main 1999, $. 271-318, hier SSr3tt:
125
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Postskriptum (Jahreswende 2001/2002) Ich hatte das Privileg, während zwei aufeinander folgender Wochen die Thesen zur »Zukunft der menschlichen Natur« in dem von Ronald Dworkin und Thomas Nagel geleiteten Kolloquium Law, Phi-
losophy & Social Theory zur Diskussion zu stellen.! Die Einwände, denen meine Argumente dort und inzwischen auch in Deutschland? begegnet sind, haben mich zu second thoughts veranlasst. Auch wenn ich ehereinen Explikations-alseinen Revisionsbedarferkenne, sind mir die philosophischen Untiefen einer Diskussion, die an die naturalen Grundlagen des Selbstverständnisses verantwortlich handelnder Personen rührt, noch stärker zu Bewusstsein gekommen. Auch nach der Niederschrift empfinde ich die verbleibenden Unklarheiten. Nach meinem Eindruck haben wir noch nicht gründlich genug nachgedacht. Vor allem der Zusammenhang zwischen der Unverfügbarkeit eines kontingenten lebensgeschichtlichen Anfangs und der Freiheit zur ethischen Lebensgestaltung bedarf einer tieferen analytischen Durchdrin-
gung.
|
(1) Ausgehen möchte ich von einem interessanten
Unterschied in Klima und Hintergrund der Diskusı The Program in Law, Philosophy and Social Theory, NYU Law School, Fall 2001. 2 Siehe die Beiträge von Dieter Birnbacher, Ludwig Siep und Robert Spaemann in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5o (2002) 1.
127
sionen, an denen ich diesseits und jenseits des Atlan-
tiks teilgenommen habe. Während die philosophischen Gesprächsteilnehmer in Deutschland oft mit normativ gesättigten Personenbegriffen und metaphysisch aufgeladenen Naturkonzeptionen in eine Grundsatzdebatte eintreten, um das Ob der weiteren
gentechnischen Entwicklung (vor allem auf den Gebieten der Organzüchtung und der Reproduktionsmedizin) einer eher skeptischen Erörterung zu unterziehen, geht es den amerikanischen Kollegen überwiegend um das Wie der Implementierung einer im Grundsatz gar nicht mehr in Frage gestellten Entwicklung, die über die Anwendung von Gentherapien hinaus auf ein sbopping in the genetic supermarket hinausläuft. Diese Technologien werden gewiss auf umstürzende Weise in den intergenerationellen Zusammenhang eingreifen. Aber für die prag-
matischer denkenden amerikanischen Kollegen werfen die neuen Praktiken keine grundsätzlich neuen Probleme auf, sondern verschärfen nur die alten Fra-
gen distributiver Gerechtigkeit. Diese umstandslose Problemwahrnehmung
ist durch ein ungebrocheneres Vertrauen in Wissenschaft und technische Entwicklung, vor allem jedoch durch die Optik der von Locke geprägten liberalen Tradition bestimmt. Diese rückt den Schutz der Wahlfreiheiten der individuellen Rechtsperson gegen staatliche Eingriffe ins Zentrum und lenkt bei der Analyse neuer Herausforderungen den Blick primär auf die Freiheitsgefährdungen in der vertikalen Dimension der Beziehungen des privaten Gesell128
schaftsmitglieds zur Staatsgewalt. Hinter der überragenden Gefahr der rechtsmissbräuchlichen Anwendung politischer Gewalt tritt die Furcht vor dem Missbrauch der sozialen Gewalt zurück, die Privat-
leute in der horizontalen Dimension ihrer Beziehungen zu anderen Privatleuten gegeneinander ausüben können. Dem Recht des klassischen Liberalismus ist die »Drittwirkung« von Grundrechten fremd. Aus dieser liberalen Sicht ist es nahezu eine Selbstverständlichkeit, Entscheidungen über die Zusammensetzung der genetischen Anlagen von Kindern keiner staatlichen Regulierung zu unterwerfen, sondern den Eltern zu überlassen. Es scheint nahe zu liegen, den gentechnologisch neu erschlossenen Entscheidungsspielraum als eine materielle Erweiterung von Reproduktionsfreiheit und Elternrecht, also von individuellen Grundrechten zu betrachten, die der
Einzelne gegen den Staat geltend machen kann. Eine andere Perspektive ergibt sich erst, wenn man die subjektiv-öffentlichen Rechte als die Spiegelung einer objektiven Rechtsordnung begreift. Diese kann dann die staatlichen Organe — wie im Falle des Lebensschutzes von Ungeborenen, die ihre subjektiven Rechte nicht selbst verteidigen können
- zur
Wahrnehmung von Schutzpflichten anhalten. Mit diesem Perspektivenwechsel rücken objektive Grundsätze, die die Rechtsordnung im ganzen prägen, ins Zentrum der Betrachtung. Das objektive Recht verkörpert und interpretiert die stiftende Idee der gegenseitigen Anerkennung von freien und gleichen Personen, die sich aus freien Stücken assoziie129
ren, um gemeinsam ihr Zusammenleben mit Mitteln
des positiven Rechts legitim zu regeln. Aus der Sicht der Verfassung eines demokratischen Gemeinwesens ist die vertikale Beziehung des Bürgers zum Staat gegenüber dem horizontalen Netz der Beziehungen der Bürger untereinander nicht länger privilegiert. Im Hinblick auf unser Problem drängt sich die Frage auf, wie sich ein eugenisches Entscheidungsrecht der Eltern auf die genetisch programmierten Kinder auswirkt, und ob diese Konsequenzen gegebenenfalls das objektiv geschützte Wohl des künftigen Kindes berühren. Das Recht der Eltern zur genetischen Merkmalsbestimmung könnte freilich nur dann mit dem Grundrecht eines anderen kollidieren,.wenn der Embryo in vitro schon »ein anderer« wäre, dem absolut gültige Grundrechte zukommen. Diese auch unter deutschen Juristen umstrittene Frage lässt sich unter der Prämisse einer weltanschaulich neutralen Verfassungsordnung kaum in einem affırmativen Sinne beantworten.” Ich habe vorgeschlagen, die in Art.ı, Abs.ı GG festgestellte Unantastbarkeit der Menschenwürde von der Unverfügbarkeit des vorpersonalen menschlichen Lebens zu unterscheiden. Diese kann wiederum auf der Grundlage des für gesetzliche Spezifizierung offenen Grundrechtes nach 3 Vgl. Nationaler Ethikrat, Stellungnahme zum Import menschlicher embryonaler Stammzellen, Dezember 2001, 5.1.1: »Rechtsethische Überlegungen zum Status früher embryonaler Lebensphasen«.
130
Art.2, Abs.2a GG im Sinne eines abgestuften Lebensschutzes ausgelegt werden. Wenn aber für den Zeitpunkt der genetischen Intervention kein Recht auf unbedingten Lebensschutz oder körperliche Unversehrtheit des Embryos angenommen wird, findet das Argument der Drittwirkung keine direkte Anwendung. Die »Drittwirkung«, die eine eugenische Praxis haben kann, ist gegebenenfalls indirekter Natur. Sie verletzt nicht das Recht einer existierenden, aber un-
ter Umständen mindert sie den Status einer künftigen Person. Ich behaupte dies für den Fall, dass die pränatal behandelte Person, nachdem sie Kenntnis vom Design der Merkmalsveränderung erhalten hat, Schwierigkeiten bekommt, sich als autonomes und ebenbürtiges Mitglied einer Assoziation von Freien und Gleichen zu verstehen. Nach dieser Lesart würde das um eugenische Eingriffsmöglichkeiten materiell erweiterte Elternrecht zwar nicht unmittelbar mit dem grundrechtlich garantierten »Wohl« des Kindes kollidieren. Es könnte aber mittelbar dessen Autonomiebewusstsein beeinträchtigen, und zwar jenes moralische Selbstverständnis, das von jedem Mitglied einer egalitär und freiheitlich strukturierten Rechtsgemeinschaft erwartet werden muss, wenn es die gleichen Chancen haben soll, von gleich verteilten subjektiven Rechten Gebrauch zu machen. Der möglicherweise eintretende Schaden liegt mithin nicht auf der Ebene vorenthaltener Rechte. Er besteht vielmehr in einer Verunsicherung des Statusbewusstseins
eines Trägers von 131
Bürgerrechten.
Der
Heranwachsende läuft Gefahr, gleichzeitig mit dem Bewusstsein der Kontingenz seiner naturwüchsigen Herkunft eine mentale Voraussetzung für den Zugang zu einem Status einzubüßen, durch den er als Rechtsperson erst in den tatsächlichen Genuss gleicher Rechte gelangen kann. Mit dieser kursorischen Bemerkung will ich der juristischen Diskussion nicht vorgreifen. Jene Perspektivenunterschiede, die sich aus der Differenz verschiedener nationaler Rechts- und Verfassungstraditionen erklären, bestehen ohnehin nur auf der
gemeinsamen Grundlage einer individualistischen Vernunftmoral. Der Vergleich der beiden Rechtskulturen soll uns nur die heuristische Gelegenheit geben, an einem juristischen Modell jene Ebenendifferenz deutlich zu machen, auf die es mir bei der
moralischen Bewertung der Folgen einer »liberalen Eugenik« ankommt. So nenne ich eine Praxis, die Eingriffe in das Genom der befruchteten Eizelle dem Ermessen der Eltern überlässt. Das bedeutet keine Intervention in Freiheiten, die jeder geborenen Person, ob sie natürlich gezeugt oder genetisch programmiert worden ist, moralisch zustehen; aber sie berührt eine naturale Voraussetzung für das Bewusstsein der betroffenen Person, autonom und verantwortlich handeln zu können. Im Text habe ich vor allem zwei mögliche Konsequenzen erörtert: — dass sich programmierte Personen nicht länger selbst als ungeteilte Autoren ihrer eigenen Lebensgeschichte betrachten, - und dass sie sich im Verhältnis zu vorangegange132
nen Generationen nicht mehr uneingeschränkt als ebenbürtige Personen betrachten können. Wenn man diesen potentiellen Schaden am richtigen Ort lokalisieren will, empfiehlt es sich, auf das »Reich der Zwecke« das juristische Stufenmodell zu übertragen, wonach man in der Assoziation freier
und gleicher Rechtgenossen den Status eines Mitgliedes einnehmen muss, bevor man bestimmte Rechte haben und ausüben kann. Demnach kann die eugenische Praxis, ohne unmittelbar in die Sphären der Handlungsfreiheit des genetisch modifizierten Heranwachsenden einzugreifen, den Status der künftigen Person als eines Mitglieds der universalen Gemeinschaft moralischer Wesen beeinträchtigen. Darin ist zwar niemand »außer in seiner Rolle als autonomer Mitgesetzgeber< allgemeinen Gesetzen unterworfen, sodass eine Fremdbestimmung im Sinne der Unterwerfung einer Person unter die ungerechtfertigte Willkür eines anderen ausgeschlossen ist. Aber diese gewissermaßen interne, aus den Beziehungen zwischen moralisch handelnden Personen verbannte Fremdbestimmung darf nicht mit der externen, dem Eintritt in die moralische Gemeinschaft
vorausgehenden Fremdbestimmung der natürlichen und mentalen Verfassung einer künftigen Person verwechselt werden. Denn der Eingriff in die pränatale Verteilung der genetischen Ressourcen bedeutet eine Umdefinition von Spielräumen, innerhalb deren die künftige Person von ihrer Freiheit zur eigenen ethischen Lebensgestaltung Gebrauch machen wird. Im Folgenden möchte ich vier Einwände (besser: 133
Komplexe von Einwänden) behandeln. Der erste Einwand richtet sich frontal gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Praktiken einer verbessernden Eugenik und einer wie immer auch indirekten »Fremdbestimmung« der künftigen Person (2). Der zweite Einwand wendet sich gegen die präjudizierende Wahl des als exemplarisch betrachteten Falles einer partiellen Merkmalsveränderung, welche die Identität des betroffenen Wesens intakt lässt (3). Der dritte Einwand zieht die Prämissen nachmetaphysischen Denkens in Zweifel und empfiehlt als Alternative die Umstellung der »gattungsethischen Einbettung der Moral« auf starke ontologische Hintergrundannahmen (4). Schließlich nehme ich die Frage auf, ob Argumente gegen eine eugenische Praxis, die im Augenblick gar nicht zur Diskussion steht, für die aktuelle Auseinandersetzung um PID und verbrauchende Embryonenforschung überhaupt aussagekräftige Schlussfolgerungen erlauben
(5). (2) Thomas Nagel, Thomas McCarthy und andere Kollegen halten es von vornherein für kontraintuitiv, von merkmalsverändernden genetischen Eingriffen eine subjektiv erfahrene Fremdbestimmung zu erwarten, die auch noch die prinzipielle Gleichstellung im intergenerationellen Verhältnis untergräbt. Kann es für die moralische Stellung einer Person im Netzwerk ihrer interpersonalen Beziehungen einen Un-
terschied machen, ob deren genetische Mitgift von Zufällen der elterlichen Partnerwahl und dem Werk der Natur abhängt — oder von den Entscheidungen
134
eines Designers, auf dessen Präferenzen der Betroffene selbst keinen Einfluss hatte? Wer am moralischen Sprachspiel überhaupt teilnehmen will, muss sich nämlich auf bestimmte pragmatischen Voraussetzungen einlassen.* Moralisch urteilende und handelnde Subjekte unterstellen sich gegenseitig Zurechnungsfähigkeit, sie schreiben sich und anderen die Fähigkeit zu, ein autonomes Leben zu führen, und erwarten voneinander Solidarität und gleiche Achtung. Wenn die Statusordnung des moralischen Gemeinwesens auf diese Weise von den Teilnehmern selbst symbolisch erzeugt und reproduziert wird, ist aber nicht zu erkennen, wie jemand in seinem moralischen Status von der fehlenden Naturwüchsigkeit seiner genetischen Ausstattung sollte beeinträchtigt werden können. Natürlich wäre es unplausibel anzunehmen, dass sich die verdinglichende Einstellung der programmierenden Eltern gegenüber dem Embryo in vitro nach der Geburt in einem versachlichenden Umgang mit der programmierten Person selbst fortsetzte. D. Birnbacher weist auf das Beispiel der inzwischen erwachsenen Retortenkinder hin und meint mit Recht, dass wir in einer Gesellschaft, die eugenische Praktiken oder Verfahren des reproduktiven Klonens allgemein zugänglich machte, auch keine Schwierigkeiten haben würden, die genetisch veränderten Kinder oder die Klone als »freie und gleiche Interaktions4 J. Habermas, Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft, Stuttgart 2001.
135
partner« anzuerkennen. Das Argument der Fremdbestimmung meint etwas anderes; es bezieht sich nicht auf eine Diskriminierung, die die betroffene Person aus ihrer Umgebung erfährt, sondern auf eine vor der Geburt induzierte Selbstentwertung, eine Beeinträchtigung ihres moralischen Selbstverständnisses. In Mitleidenschaft gezogen wird eine subjektive Qualifikation, die nötig ist, um im moralischen Gemeinwesen den Status eines vollen Mitglieds einneh-
men zu können. Der nach eigenen Präferenzen (oder gesellschaftlichen Gewohnheiten) entscheidende Designer verletzt nicht etwa die moralischen Rechte einer anderen Person. Er muss sie keineswegs bei der Distribution von Grundgütern benachteiligen, nicht von legitimen Wahlmöglichkeiten abschneiden oder zu bestimmten Praktiken nötigen, von denen andere entlastet sind. Vielmehr greift er in die Identitätsbildung einer künftigen Person einsejtig und irreversibel ein. Insofern erlegt er der Gestaltungsfreiheit eines anderen keine Beschränkungen auf. Aber er greift, indem er sich zum Mitautor eines fremden Lebens macht, gleichsam von innen in das Autonomiebewusstsein eines anderen ein. Der programmierten Person, der das Bewusstsein der Kontingenz naturwüchsiger biographischer Ausgangsbedingungen genommen wird,’ fehlt eine mentale Bedingung, die 5 Die Ausgangsbedingungen für die eigene Lebensgeschichte sind auch unter einer religiösen Beschreibung der Willkür eines peer entzogen.
136
erfüllt sein muss, wenn sie für ihr Leben retrospektiv die alleinige Verantwortung übernehmen soll. Soweit sich eine genetisch veränderte Person durch das »fremde« Design in Spielräumen für den Gebrauch ihrer ethischen Gestaltungsfreiheit festgelegt fühlt, leidet sie unter dem Bewusstsein, die Autorschaft für das eigene Lebensschicksal mit einem anderen Autor teilen zu müssen. Die derart entfremdende Diffusion oder Aufspaltung der eigenen Identität ist ein Anzeichen dafür, dass jene grenzerhaltende deontologische Schutzhülle porös geworden ist, welche erst die Unantastbarkeit der Person, die
Unverwechselbarkeit des Individuums und die Unvertretbarkeit der je eigenen Subjektivität sichert. Damit verwischt sich auch in den intergenerationellen Beziehungen jene Interpunktion, die die Heranwachsenden von ihren Eltern unabhängig macht. Ohne diese Selbständigkeit kann es aber eine reziproke Anerkennung auf der Basis strenger Gleichheit nicht geben. Gegen dieses Szenario einer verstellten Zukunft, wonach eigene Lebenspläne mit den genetisch fixierten Absichten anderer kollidie-
ren, sind drei speziellere Einwände vorgebracht worden. (a) Warum sollte sich eine heranwachsende Person nicht in der gleichen Weise mit manipulierten wie
mit angeborenen Anlagen auseinandersetzen können? Warum sollte sie beispielsweise eine mathematische Begabung nicht im einen wie im anderen Fall ungenutzt »liegen lassen«, wenn sie lieber Musiker
oder Hochleistungssportler werden möchte? 137
Die
beiden Fälle unterscheiden sich freilich dadurch, dass die Präferenz der Eltern, das Kind mit dieser Mitgift und nicht mit einer anderen auszustatten, in den Bereich zurechenbarer Entscheidungen rückt.
Die Ausdehnung der Verfügungsmacht über die genetischen Anlagen einer künftigen Person bedeutet, dass jede Person, ob sie nun programmiert worden ist oder nicht, fortan die Zusammensetzung ihres Genoms als Folge einer vorwerfbaren Handlung oder Unterlassung betrachten kann. Der Heranwachsende kann seinen Designer zur. Rede stellen und Gründe verlangen, warum er ihm mit der Entscheidung für eine mathematische Mitgift jene athletische Leistungsfähigkeit oder jene musikalische Be-
gabung versagt hat, die für die tatsächlich erstrebte Karriere des Hochleistungssportlers oder des Pianisten sehr viel nützlicher gewesen wären. Diese Situation wirft die Frage auf, ob wir überhaupt die Verantwortung für die Verteilung von natürlichen Ressourcen und damit für den Spielraum übernehmen können, innerhalb dessen eine andere Person
einmal ihre eigene Lebenskonzeption entwickeln und verfolgen wird? (b). Dieses Argument verliert allerdings an Durchschlagskraft, wenn sich zeigen sollte, dass die Unterscheidung zwischen Natur- und Sozialisationsschicksal nicht in der erwarteten Weise trennscharf ist. Für die fehlende Trennschärfe ist freilich die Praxis einer gezielten, nach phänotypischen Merkmalen gesteuerten Partnerwahl (nach dem Vorbild der Pferdezüchtung) kein einleuchtendes Beispiel. Relevanter ist der _ 138
Fall des sportlich oder musikalisch begabten Kindes, das sich zum Tennisstar oder zum erfolgreichen Solisten nur entwickeln kann, wenn ehrgeizige Eltern das Talent rechtzeitig erkennen und fördern. Sie müssen die Begabung zu einem Zeitpunkt, wenn noch eher von Dressur als von der unterstellten Akzeptanz eines Angebots die Rede sein kanıı, durch
Disziplin und Übung zur Entfaltung bringen. Stellen wir uns auch in diesem Fall den jungen Erwachsenen vor, der ganz andere Lebenspläne hat und seinen EItern die Torturen des, wie ihm scheint, nutzlos aufer-
legten Trainings zum Vorwurf macht, oder einen anderen, der sich vernachlässigt fühlt und den Eltern, die seine Talente haben brach liegen lassen, die unterlassene Förderung unter die Nase reibt. Nehmen wir einmal im Sinne des Gedankenexperiments an, dass sich die pädagogische Praxis in ihren Folgen von einer entsprechenden eugenischen Praxis (die vielleicht nur die Mühen des Trainings verringert) kaum unterscheidet. Dastertium comparationis bildet die Unwiderruflichkeit von Entscheidungen, die für die Lebensgeschichte einer anderen Person bestimmte Weichen stellen. Anders als bei Reifungsphasen, die erklären, warum Kinder nur während eines bestimmten Alters auf die nötigen pädagogischen Anregungen mit beschleunigten Lernprozessen anspringen, soll es in unseren Fällen nicht um eine Förderung - oder um die unterlassene Förderung - der allgemeinen kognitiven Entwicklung gehen, sondern um eine spezielle Einflussnahme, die
eben für den individuellen Verlauf der künftigen Le139
bensgeschichte Folgen hat. Dann stellt sich immer noch die Frage, obsich solche Fälle von überdosierten oder unterlassenen Übungsprogrammen, die je nach Kontext und Sicht des Betroffenen Repression oder fehlende Unterstützung, Drill oder Vernachlässigung bedeuten, überhaupt als Gegenbeispiele eignen. Diese Programme liegen, obwohl sie in die Sozialisation und nicht in den Organismus eingreifen, in Ansehung der Irreversibilität und der lebensgeschichtlichen Spezifizität der Folgen gewiss auf einer Linie mit vergleichbaren genetischen Programmierungen. Da sie aber gegebenenfalls aus denselben Gründen Vorwürfe auf sich ziehen, kann die eine Praxis nicht herangezogen werden, um die andere von den gleichen Vorwürfen zu entlasten. Soweit Eltern be-
stimmte pädagogische Steuerungen vorwerfbar sind, weil sie Fähigkeiten präjudizieren, die in dem unvorhersehbaren Kontext einer späteren Lebensgeschichte ambivalente Folgen haben können, setzt sich der Verfasser genetischer Programme erst recht dem Vorwurf aus, für das Leben einer künftigen Person eine Verantwortung zu usurpieren, die dieser Person selbst vorbehalten bleiben muss, wenn
ihr
Bewusstsein autonom zu sein keinen Schaden nehmen soll. Die Fragwürdigkeit früher Dressuren, die trotz ihrer unvorhersehbar ambivalenten Folgen für die Lebensgeschichte des Betroffenen faktisch unumkehrbar sind, beleuchtet von einer anderen Seite denselben normativen Hintergrund, der auch entsprechende eugenische Praktiken in ein zweifelhaftes Licht rückt. Im Hintergrund stehen die ethische Al140
leinverantwortlichkeit und die - wie immer auch kontrafaktische - Unterstellung, dass wir uns die eigene Lebensgeschichte kritisch aneignen können, statt dazu verdammt zu sein, die Folgen eines Sozialisationsschicksals fatalistisch hinzunehmen. (c) Dieses Fremdbestimmungsargument greift freilich nur, wenn wir davon ausgehen, dass die aus Alternativen ausgewählte Mitgift den Horizont künftiger Lebensentwürfe einschränkt. Die Gefahr einer Festlegung auf bestimmte Identitätsangebote nimmt aber - wenn wir unsere Phantasie frei spielen lassen - offensichtlich ab in der Reihenfolge von programmierten Eigenschaften (wie Haarfarbe, Körpergröße oder allgemein »Schönheit«), Dispositionen (wie Friedfertigkeit, Aggressivität oder »IchStärke«), Fähigkeiten (wie athletische Geschicklich-
keit und Ausdauer oder musikalische Begabung) und »Grundgütern« (also generalisierten Fähigkeiten wie Köperkraft, Intelligenz oder Gedächtnis). Dieter Birnbacher und andere sehen keinen plausiblen Grund für die Annahme, dass eine Person rückblickend eine Vergrößerung von Ressourcen und ein höheres Maß an genetischen Grundgütern ablehnen würde.
Auch hier stellt sich jedoch die Frage: Können wir wissen, ob irgendeine Mitgift den Spielraum der Lebensgestaltung eines anderen tatsächlich erweitert? Sind Eltern, die nur das Beste für ihre Kinder 6 D. Birnbacher, »Habermas’ ehrgeiziges Beweisziel - erreicht oder verfehlt ?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (50) 1.
I4I
wollen, wirklich in der Lage, die Umstände - und das Zusammenwirken dieser Umstände - vorauszusehen, unter denen beispielsweise ein glänzendes Ge-
dächtnis oder hohe Intelligenz (wie immer wir sie definieren wollen) segensreich sein werden? Ein gutes Gedächtnis ist oft, aber keineswegs immer ein Segen. Nicht vergessen zu können, kann ein Fluch sein. Der Sinn für Relevanzen, die Bildung von Traditionen
beruhen auf der Selektivität unserer Erinnerung. Manchmal behindert ein überfüllter Datenspeicher einen produktiven Umgang mit den Daten, auf die es ankommt. Ähnliches gilt für herausragende Intelligenz. Sie ist in vielen Situationen vorhersehbar von Vorteil. Aber wie wirken sich die dadurch.erlangten »Startvorteile« in einer konkurrenzbetonten Gesellschaft beispielsweise auf die Charakterbildung des Hochbegabten aus? Wie wird der Betreffende seine differentielle Begabung interpretieren und gebrauchen — gelassen und souverän oder in rastlosem Ehrgeiz? Wie wird er eine solche Fähigkeit, die ihn markiert und die den Neid der Umgebung wecken mag, im sozialen Umgang verarbeiten? Nicht einmal das hoch generalisierte Gut des gesunden Körpers behält im Kontext verschiedener Lebensgeschichten denselben Wert. Eltern können nicht einmal wissen, ob eine
leichtere körperliche Behinderung ihrem Kinde nicht am Ende zum Vorteil ausschlagen wird. (3) Aus dieser Perspektive lässt sich auch der Einwand gegen die Wahl des von mir als exemplarisch ausgezeichneten Falles einer genetischen Merkmals142
veränderung beantworten. Ronald Dworkin hat mich mit einer lehrreichen Variation der vier Bedingungen konfrontiert, die in mein Gedankenexperiment stillschweigend eingegangen sind. Bei dem Fall von Fremdbestimmung, den ich im Text behandele — wird der genetische Eingriff von einer dritten Person und nicht von der Betroffenen selbst vorgenommen
(a);
— erhält die Betroffene retrospektiv Kenntnis von dem pränatalen Eingriff (b); - und versteht sich als eine in einzelnen genetischen Merkmalen veränderte Person, die mit sich in der
Weise identisch geblieben ist, dass sie zu dem genetischen Eingriff eine hypothetische Einstellung einnehmen kann (c); — während sie es ablehnt, sich die genetischen Ver_ änderungen als »Teil ihrer Person« zu eigen zu machen (d). ad a). Das Argument der Fremdbestimmung stöfßst ins Leere, wenn man sich vorstellt, dass die betrof-
fene Person einen vor der Geburt gewissermafsen unter Vorbehalt durchgeführten genetischen Eingriff später schmerzlos rückgängig machen könnte oder dass sie den genetischen Eingriff selber erst, also im Stile einer genetischen Körperzellentherapie auf eigenen Entschluss vornehmen ließe-nicht vielanders als im Falle einer kosmetischen Operation. Diese Variante der Selbstmanipulation ist hilfreich, weil sie den nachmetaphysischen Sinn des Argumentes ans Licht bringt. Die Kritik der Fremdbestimmung gründet sich nicht auf ein zugrundeliegendes Misstrauen ge-
143
gen die Analyse und künstliche Rekombination von Bestandteilen des menschlichen Genoms überhaupt. Sie geht nämlich nicht von der Annahme aus, dass die Technisierung der »inneren Natur« so etwas wie eine Transgression natürlicher Grenzen darstellt. Die Kritik gilt ganz unabhängig von der Vorstellung einer naturrechtlichen oder ontologischen Ordnung, die frevelhaft »übertreten« werden könnte. Seine Kraft zieht das Fremdbestimmungsargument allein aus dem Umstand, dass der Designer nach eigenen Präferenzen eine nicht-revidierbare Weichenstellung für Leben und Identität einer anderen Person vornimmt, ohne auch nur kontrafaktisch deren Ein-
verständnis unterstellen zu dürfen. Das ist ein Übergriff auf den deontologisch abgeschirmten Kernbereich einer künftigen Person, welche niemand von dem Ansinnen lossprechen kann, eines Tages ihre Existenz selbst in die Hand zu nehmen und ihr Leben ausschliefslich in eigener Regie zu führen. ad b). Freilich kann der Konflikt eigener Lebenspläne mit den genetisch fixierten Absichten eines anderen erst eintreten, wenn der Heranwachsende vom
Design des vorgeburtlichen Eingriffs Kenntnis erhält. Muss man daraus schließen, dass bei vorenthaltener Information gar kein Schaden entsteht? Dieser Verdacht lockt uns auf die falsche Fährte des ontologisierenden Versuchs, die Beeinträchtigung der Autonomie unabhängig von irgendeinem Konfliktbewusstsein zu lokalisieren, sei es im »Unbewussten« des Betroffenen oder in einer dem Bewusstsein unzugänglichen, sagen wir »vegetativen« Schicht seines
144
Organismus. Diese Variante des verschleierten genetischen Eingriffs wirft allein die moralische Frage auf, ob es zulässig ist, einer Person die Kenntnis einer biographisch wichtigen Tatsache (wie beispielsweise die Identität der Eltern) vorzuenthalten. Es dürfte kaum angehen, dem Identitätsproblem eines Heranwachsenden
dadurch
zuvorzukommen,
dass man
ihm vorsorglich die Entstehungsbedingungen des potentiellen Problems verschweigt und der Programmierung selbst die Täuschung über diesen relevanten Lebensumstand hinzufügt. ad c). Freilich kann man das Gedankenexperiment so abändern, dass sich die genetische Programmierung auf die Identität der künftigen Person im Ganzen erstreckt. Schon heute ist beispielsweise die Selektion des Geschlechts eine Option, die nach durchgeführter Präimplantationsdiagnose genutzt wird.’ Nun kann man sich kaum vorstellen, dass der Junge (oder das Mädchen), der (oder das) von der pränatalen Geschlechtswahl erfährt, die Eltern glaubwürdig mit dem moralisch ernst zunehmenden Vorwurf konfrontieren könnte: »Ich wäre doch lieber ein Mädchen (oder lieber ein Junge) geworden«. Nicht als gäbe es solche Wunschphantasien nicht; sie fallen aber (wenn wir von einem »normalen« Ge-
schlechtsrollenerwerb ausgehen) moralisch nicht ins Gewicht. Abgesehen von den sehr speziellen Indika7 Ich lasse die besondere Problematik der Selektion außer Acht;
mich interessiert hier nur der Aspekt der pränatalen Bestimmung des Geschlechts.
145
tionen für eine Geschlechtsumwandlung erwachsener Personen, empfindet man den pubertären Wunsch nach einem Wechsel der Geschlechtsidentität eher als eine »leere Abstraktion«, weil die betref-
fende Person ihre eigene Identität nicht bis in eine geschlechtsneutrale Vergangenheit hinein zurück projizieren kann. Eine Person ist Mann oder Frau, hat dieses oder jenes Geschlecht - und könnte das andere Geschlecht nicht annehmen, ohne zugleich eine andere Person zu werden. Wenn aber die Identität nicht gewahrt werden kann, fehlt der Bezugspunkt derselben Person, die im Rückblick über den pränatalen Eingriff hinweg ihre Kontinuität wahren und sich dagegen zur Wehr setzen könnte. Aus der individuellen Lebensgeschichte einer Person lassen sich gegebenenfalls gute ethische Gründe dafür finden, ein anderes Leben führen, aber nicht dafür, eine andere Person sein zu wollen - auch die Pro-
jektion der Selbstverwandlung in, eine ganz andere Person bleibt der jeweils eigenen Vorstellungskraft verhaftet. Eine so tiefreichende Entscheidung wie die identitätsdefinierende Wahl des Geschlechts scheint deshalb mit keinem seriösen Vorwurf vonseiten des Betroffenen rechnen zu müssen. Wenn das aber, so lautet der Einwand, schon für die Bestimmung eines
identitätsstiftenden Merkmals gilt, kann die genetische Modifikation beliebiger Eigenschaften, Dispositionen oder Fähigkeiten erst recht nicht verwerflich sein. Dieser von Dworkin arguendo vorgetragene Einwand ist nur auf den ersten Blick plausibel. Ein Eingriff kann aus der Perspektive eines Unbe146
teiligten Kritik verdienen, auch wenn der Betroffene selbst nicht in der Lage ist, Kritik zu üben. In unserem Beispiel bezieht die identitätsdefinierende Entscheidung ihre präsumtive Unbedenklichkeit aus einem intuitiv in Anschlag gebrachten Diskriminierungsverbot: Weil es für die Bevorzugung eines bestimmten Geschlechts keinen moralisch vertretbaren Grund gibt, sollte es für die betroffene Person keinen Unterschied machen, ob sie als Junge oder als Mädchen zur Welt gekommen ist. Daraus
folgt aber nicht, dass eine genetische Programmierung, die sich (etwa bei der Erschaffung eines Golem) auf die biologische Identität der künftigen Person im ganzen erstreckte, also einen »von Grund auf
neuen«
Menschen konstituieren würde, über
allen Zweifel erhaben wäre. Allerdings kann diese Kritik nicht mehr - wie im Falle einer genetischen Merkmalsveränderung, die eine kontinuierlich nach rückwärts verlängerte Identität gewissermaßen intakt lässt - aus der Perspektive des Betroffenen selbst geübt werden. Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, die Sicht eines Heranwachsenden einzunehmen, der sich in der durch die vier genannten Bedingungen umschriebenen Lage befindet. In diesem Fall manifestiert sich nämlich die Fremdbestimmung in dem Dissens, der zwischen dem Betroffenen und dem Designer über
die Absichten der genetischen Manipulation auftreten kann. Der moralische Grund für den Vorwurf bleibt freilich auch dann derselbe, wenn die in ihrem
Autonomiebewusstsein beeinträchtigte Person nicht
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selbst das Wort erhält, weil sie gar nicht erst widersprechen kann. Gewiss, wir sind verpflichtet, andere nach besten Kräften vor Leid zu bewahren. Wir sollen anderen Hilfe leisten und dürfen alles tun, was deren Lebensbedingungen verbessert. Aber es ist uns nicht erlaubt, für andere Personen — nach unseren Vorstellungen von deren künftigem Leben - Spielräume festzulegen, die diese später für ihre ethische Lebensgestaltung nutzen können. Unser endlicher Geist verfügt (selbst im günstigsten Fall) nicht über das prognostische Wissen, das nötig wäre, um die Folgen genetischer Eingriffe im Kontext der künftigen Lebensgeschichte einer anderen Person abzuschätzen. Können wir wissen, was potentiell gut ist für andere? Das mag im Einzelfall so sein. Aber auch dann bleibt unser Wissen fallibel und darf nur in der Form klinischer Ratschläge an jemanden weitergereicht werden, den der Ratgeber bereits, als ein lebensgeschichtlich individuiertes Wesen kennen lernt. Unwiderrufliche Entscheidungen über das genetische Design eines Ungeborenen sind allemal besserwisserisch. Eine nutznießende Person muss die Chance erhalten, Nein zu sagen. Weil uns jenseits moralischer Einsichten eine objektive Erkenntnis von Werten nicht möglich ist und allem ethischen Wissen die Perspektive der ersten Person eingeschrieben ist, wird die endliche Verfassung des menschlichen Geistes mit der Erwartung überfordert, Angaben darüber zu machen, welche genetische Mitgift für die Lebensgeschichte unserer Kinder »die beste« ist. 148
add). Allerdings können wir uns-als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens, das eine solche Praxis gesetzlich regeln muss - von der Bürde der Antizipa-
tion einer möglichen Zustimmung oder Ablehnung der Betroffenen nicht ganz entlasten. jedenfalls dann nicht, wenn wir gentherapentische Eingriffe (oder gar Selektionen) im Falle schwerer Erbkrankheiten im
Interesse der Behinderten selbst zulassen möchten. Gewiss, die pragmatischen Einwände, die auf die fließende Grenze zwischen negativer und positiver Eugenik hinweisen, stützen sich auf plausible Beispiele. Plausibel ist auch die Voraussage, dass sich die Toleranzgrenze des zunächst als »normal« Betrachteten aufgrund von kumulativen Gewöhnungseffekten immer weiter zugunsten anspruchsvollerer Gesundheitsnormen - und erlaubter genetischer Eingriffe — verschieben wird. Es gibt jedoch eine regulative Idee, die einen zwar interpretationsbedürftigen, aber nicht prinzipiell anfechtbaren Maßstab für die Grenzziehung darstellt: Alle therapeutischen Eingriffe, auch die pränatalen, müssen von einem mindestens kontrafaktisch zu unterstellenden Konsens der möglicherweise Betroffenen selbst abhängig gemacht werden. | Die öffentliche Diskussion der Bürger über die Zulässigkeit von negativ-eugenischen Verfahren wird sich anhand der vom Gesetzgeber genau zu spezifizierenden Liste der indizierten Erbkrankheiten bei jeder weiteren Eintragung von neuem entzünden. Denn jede Zulassung eines weiteren gentherapeutischen Eingriffs vor der Geburt stellt eine unerhörte
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Belastung für die Eltern dar, die aus prinzipiellen Gründen von der Erlaubnis keinen Gebrauch machen wollen. Wer von einer erlaubten oder gar eingewöhnten eugenischen Praxis abweicht und eine vermeidbare Behinderung in Kauf nimmt, muss den Vorwurf der Unterlassung und möglicherweise das Ressentiment des eigenen Kindes ertragen. In Antizipation dieser Folgen ist der Rechtfertigungsbedarf, mit dem der Gesetzgeber bei jedem Schritt auf diesem Wege konfrontiert ist, glücklicherweise sehr hoch. Die all-
gemeine politische Meinungs- und Willensbildung wird in einer anderen Konstellation als in der Abtreibungsdebatte, aber ebenso tief polarisiert sein. (4) Die Gefahr der eugenischer Fremdbestimmung kann nicht ausgeschlossen werden, wenn ein merkmalsverändernder genetischer Eingriff einseitig, also nicht in der klinischen Einstellung gegenüber einer zweiten Person vorgenommen wird, mit deren Ein-
verständnis gerechnet werden darf. Eine solche Unterstellung ist nur in Fällen eines sicher prognostizierten und unzweifelhaft extremen Leidens zu begründen. Nur hinsichtlich der Negation größter Übel dürfen wir in Wertorientierungen, die sonst weit auseinander klaffen, einen breiten Konsens erwarten. Ich habe den Fall des Heranwachsenden, der
retrospektiv von einer vor seiner Geburt durchgeführten Programmierung Kenntnis erhält und sich mit den genetisch fixierten Absichten der Eltern nicht identifizieren kann, als problematisch ausgezeichnet. Denn für diesen besteht die Gefahr, dass er sich nicht länger als der ungeteilte Autor seines 150
eigenen Lebens versteht und sich auch als Nachgeborener von den sich immer weiter verdichtenden genetischen Entscheidungen vorangegangener Generationen an die Kette gelegt fühlt. Allerdings ist dieser gleichsam durch das Sozialisationsschicksal im ganzen hindurchgreifende Akt der Fremdbestimmung indirekter Art. Er disqualifiziert die geschädigte Person für eine uneingeschränkte Teilnahme am Sprachspiel des moralischen Gemeinwesens, ohne in dieses selbst einzugreifen. Am Sprachspiel
der universalistischen
Vernunftmoral
können wir nur unter der idealisierenden Voraussetzung teilnehmen, dass jeder von uns für die ethische Gestaltung des eigenen Lebens allein die Verantwortung trägt und im moralischen Umgang Statusgleichheit im Sinne einer grundsätzlich uneingeschränkten Reziprozität von Rechten und Pflichten erwarten darf. Wenn aber die eugenische Fremdbestimmung die Regeln des Sprachspiels selbst verändert, lässt sie sich nicht anhand der Regeln selbst kritisieren.® Stattdessen fordert die liberale Eugenik
eine Bewertung. der Moral im ganzen heraus. Zur Disposition steht damit die moderne Gestalt des egalitären Universalismus als solchen. Er bietet zwar in weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften die einzige rational akzeptable Grundlage für eine normative Regulierung von Handlungskonflikten. Aber warum sollten komplexe Gesellschaften nicht von 8 Aus einer Vernachlässigung dieser Differenz erklärt sich der unter (2) behandelte Einwand.
I5I
ihren normativen Grundlagen abgelöst und ganz auf systemische — oder in Zukunft - auf biogenetische Steuerungsmechanismen umgestellt werden? Gegen eine eugenische Selbstinstrumentalisierung der menschlichen Gattung, die die moralischen Spielregeln ändert, können Argumente,
die dem morali-
schen Sprachspiel selbst entnommen sind, nicht greifen. Auf der richtigen Argumentationsebene liegen nur die moralisch selbstreflexiven, also gattungsethischen Überlegungen, die sich auf naturale (und in deren Folge auch auf mentale) Voraussetzungen des moralischen Selbstverständnisses verantwortlich handelnder Personen erstrecken. Solche gattungsethischen Werturteile entbehren andererseits der präsumtiv zwingenden Kraft streng moralischer Gründe. Wenn es um die Identität des Menschen als Gattungswesen geht, konkurrieren von Haus aus verschiedene Konzeptionen miteinander. Naturalistische Men-
schenbilder, die in der Sprache von Physik, Neurologie oder Evolutionsbiologie ausbuchstabiert werden, liegen schon seit langem im Wettstreit mit den klassischen Menschenbildern der Religion und der Metaphysik. Die grundsätzliche Auseinandersetzung verläuft heute zwischen einem naturalistischen Futurismus, der auf technische Selbstoptimierungen setzt, und anthropologischen Auffassungen, die auf der Grundlage eines »schwachen Naturalismus« den Einsichten des Neodarwinismus (und allgemein dem Stand der Wissenschaften) verpflichtet sind, ohne das normative Selbstverständnis von sprach- und hand152
lungsfähigen Subjekten, für die Gründe zählen, szientistisch zu unterlaufen oder konstruktivistisch zu überrunden.? Trotz der höheren Stufe der Verallgemeinerung teilen gattungsethische Überlegungen so-
wohl mit den ethisch-existentiellen Überlegungen von Einzelnen wie mit den ethisch-politischen Überlegungen von Nationen den Bezug zu einem jeweils besonderen, interpretierend angeeigneten Lebenskontext. Auch hier verbindet sich die kognitive Untersuchung, wie wir uns ins Kenntnis der anthropologisch relevanten Tatsachen als Exemplare der Menschengattung zu verstehen haben, mit der eva-
luativen Überlegung, wie wir uns verstehen wollen. Die Wir-Perspektiven der gattungsethischen Auffassungen finden nicht zur Einheit jener moralischen Wir-Perspektive, die unter dem Zwang zum vernünftigen Ausgleich der Interessen aus der gegenseitigen Perspektivenübernahme aller Beteiligten konstruktiv hervorgeht. Im Diskursuniversum der Gattungsethiken müssen wir, solange wir nicht auf trügerische metaphysische Sicherheiten zurückgreifen wollen, vernünftigerweise mit einem fortbestehenden Dissens rechnen. Gleichwohl scheint mir im Streit um das bessere ethische Selbstverständnis der Gattung einem Argument ein besonderes Gewicht zuzukommen: Nicht alle gattungsethischen Auffassungen 9 Siehe J. Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, Frankfurt am Main 1999, »Einleitung«, sowie die Beiträge zum Schwerpunkt Naturalismus und Naturgeschichte in: Deutsche Zeitschrift für
Philosophie 49 (2001) 6, S. 857- 927.
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harmonieren in gleicher Weise mit unserem Selbstverständnisalsmoralisch verantwortlichen Personen. Dass die optimierende Selbstinstrumentalisierung der Gattung, die über die zerstreuten Präferenzen von Käufern im genetischen Supermarkt (und die Gewohnheitsbildung der Gesellschaft) abgewickelt wird, den moralischen Status künftiger Personen verändert, ist noch eine abschreckende Aussicht: »Das Leben im moralischen Vakuum, in einer Lebensform, die nicht einmal mehr moralischen Zynismus kennen würde, wäre nicht lebenswert.« h
Dies ist nicht selbst ein moralisches Argument, benutzt aber Erhaltungsbedingungen für ein moralisches Selbstverständnis als Argument für ein gattungsethisches Selbstverständnis, das mit der Optimierung und rücksichtslosen Instrumentalisierung vorpersonalen Lebens unvereinbar ist.'” Ludwig Siep formuliert das so, dass der Vorzug der moralischen Lebensform (ich würde lieber sagen: der moralischen Strukturierung von Lebensformen) selber eine »gattungsethische Option« nahe legt.!! Dieses Argument macht jedoch die Moral keineswegs in ihrer Geltung abhängig von der kognitiven Einbettung ro Diese Pointe meiner Argumentation kennzeichnet Georg Lohmann (»Die Herausforderung der Ethik durch Lebenswissenschaften und Medizin«, Manuskript 2002, $. 19) in der folgenden Weise: »Die indirekte moralische Rückbindung seiner ethischen Argumentation kann ein größeres Gewicht als die unmittelbar weltanschaulichen Argumentationen beanspruchen.« ır L. Siep, »Moral und Gattungsethik«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5o (2002), ı (im Erscheinen).
154
in die passende Umgebung gattungsethischer Überzeugungen - so als ob, was die Menschen für moralisch gut halten, in einen ontologisch ausgezeichneten Rahmen »guter Weltzustände« eingeordnet werden müsste. Solange der moralische Gesichtspunkt einer gerechten Lösung von Handlungskonflikten zum Zuge kommt, kann die Moral der gleichen Achtung für — und der solidarischen Rücksichtnahme auf - jeden aus dem Reservoir von Vernunftgründen allein gerechtfertigt werden. Wenn die Moral nach wie vor auf eine Begründung aus Weltbildern angewiesen wäre, oder wenn diese beiden Seiten, wie Robert Spaemann behauptet, in einem zirkulären Begründungsverhältnis stünden, müssten wir den Toleranzgewinn der weltanschaulich neutralen Aufklärungsmoral und Menschenrechtskonzeption abschreiben. Als unangenehme Konsequenz müssten wir den Verzicht auf eine normativ überzeugende Befriedung kultureller und weltanschaulicher Konflikte von
vornherein in Kauf nehmen.!? Der egalitäre Universalismus ist als große Errungenschaft der Moderne weithin anerkannt; in Frage gestellt wird er jedenfalls nicht durch andere Moralen oder andere gattungsethische Auffassungen. Es sind allein die lautlosen Konsequenzen stumm eingewöhnter Praktiken, die ihn erschüttern könnten. Nicht die naturalistischen Weltbilder, sondern die unaufhaltsam vorangetriebenen Biotechnologien 12 R. Spaemann, »Habermas über Bioethik«, ebda.
155
untergraben naturale (und in deren Folge mentale) Voraussetzungen einer Moral, an die ja explizit kaum jemand rühren will. Gegen diese theorielose, aber praktisch folgenreiche Unterminierung hilft allenfalls die stabilisierende Einbettung unserer Moral in ein gattungsethisches Selbstverständnis, das uns den Wert dieser Moral und deren Voraussetzungen zu Bewusstsein bringt, bevor wir uns an die schleichende Revision der vorerst selbstverständlichen Unterstellungen von Autonomiebewusstsein und intergenerationeller Gleichstellung gewöhnen. (5) Am Ende möchte ich mich mit dem Einwand von
Ludwig Siep auseinandersetzen, dass die begründeten Vorbehalte gegen eine positive Eugenik für die
Bewertung der aktuellen Entscheidungen über die Zulässigkeit von PID und verbrauchender Embryonenforschung relevante Schlussfolgerungen erlauben. Unter der Prämisse eines abgestuften embryonalen Lebensschutzes können sie- bestenfalls den Charakter von »Dammbruchargumenten« haben." Und das Gewicht solcher Argumente hängt in der Tat davon ab,
— für wie groß wir den Schaden halten, der im hypothetischen
Falle eines
»Dammbruchs«
eintritt,
und — wie wahrscheinlich
es ist, dass die kritisierten
Schritte tatsächlich zu einem »Dammbruch« führen. 13 Vgl. mein Gespräch über die Gefahren der Gentechnik und neue Menschenbilder in: Die Zeit, 24. Januar 2002, S. 33 f.
156
Hinsichtlich des ersten Punktes habe ich die Erfahrung gemacht, dass viele Kollegen die Aussicht auf eine positive Eugenik gar nicht als Schaden, sondern als Chance begreifen. Entweder sind sie (wie Nagel oder McCarthy) vom Argument der Fremdbestimmung nicht überzeugt, oder sie betrachten (wie Dworkin) das Argument als gegenstandslos, weil sie eine zum Wohle des Kindes getroffene Auswahl genetischer Merkmale im Lichte objektiver Werterkenntnis für legitim halten. Das bestärkt mich in der Überzeugung, dass die an vorgezogener Front gesuchte Auseinandersetzung über die im Futurum II eingetretenen Folgen einer heute noch außer Reichweite liegenden, aber nicht ganz unwahrscheinlichen Praxis keine müßsige Spekulation ist. Aber auch diejenigen, die eine solche eugenische Praxis sei es aus prinzipiellen oder — heute noch - aus taktischen Erwägungen ablehnen, können Dammbruchargumente unter dem anderen Aspekt zurückweisen. PID und Stammzellenforschung lassen sich erst dann, wenn sie in einer bestimmten Richtung eine Fortsetzung gefunden haben werden, als Schrittmacher auf dem Wege zu einem bestimmten Ziel cha-
rakterisieren. Diesen Endpunkt habe ich durch eugenische Praktiken gekennzeichnet, die nicht durch klinische Absichten gerechtfertigt sind und die - das ist die These - zusammen mit dem Autonomiebewusstsein zugleich den moralischen Status der so behandelten Personen beeinträchtigen. Wie hoch ist aber die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, dass PID
und Stammzellenforschung eine über die Schwelle 157
zur positiven Eugenik hinaus treibende Entwicklungsdynamik auslösen? Die wünschenswerte Erweiterung unseres biogenetischen Wissens und gentechnologischen Könnens kann nicht in dem Sinne selektiv sein, dass beides nur für klinische Zwecke
verwendbar ist. Deshalb ist in unserem Zusammenhang die Frage relevant, ob das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik und die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen breitenwirksam Einstellungen fördern, die den Übergang von der negativen zur positiven Eugenik begünstigen. Die Schwelle zwischen beiden lässt sich durch eine Differenz der Einstellungen kennzeichnen. Der Therapeut kann sich im Rahmen einer klinischen Praxis zu dem behandelten Lebewesen auf der Grundlage eines begründet unterstellten Konsenses so verhalten, als sei es schon die zweite Person, die es einmal
sein wird. Hingegen nimmt der Designer gegenüber dem genetisch zu verändernden Embryo sowohl eine optimierende wie eine instrumentalisierende Einstellung ein: Der Achtzeller soll in seiner genetischen Zusammensetzung nach subjektiv gewählten Standards verbessert werden. An die Stelle der performativen Einstellung gegenüber einer künftigen Person, die schon im Embryonalzustand wie eine Person behandelt wird, die Ja oder Nein sagen kann, tritt im Falle der positiven Eugenik die Einstellung eines Bastlers, der die Zielsetzung des klassischen Züchters, die erblichen Merkmale einer Spezies zu verbessern, mit dem Operationsmodus eines nach eigenem Entwurf instrumentell eingreifenden Ingenieurs ver- _ 158
bindet - und die embryonalen Zellen als Material
bearbeitet. Von einer »schiefen Ebene«
(slippery slope argu-
ments heifsen die Dammbruchargumente) kann natürlich erst dann die Rede sein, wenn es Gründe für die Annahme gibt, dass die Zulassung (a) der PID und (b) der Forschung an menschlichen embryona-
len Stammzellen der Eingewöhnung genau jener beiden Einstellungen den Weg bahnt, die mit der Verbesserung und Verdinglichung des vorpersonalen menschlichen Lebens zusammengehen. (a) Der Handlungszusammenhang, in den das Ver-
fahren der PID eingebettet ist, bringt beide Einstellungen zum Zuge. Anders als im Falle der ungewollten Schwangerschaft konkurriert hier der Lebensschutz des Embryos nicht mit der grundrechtlich geschützten Selbstbestimmung der Frau. Vielmehr fassen Eltern, die ein eigenes Kind haben möchten, einen bedingten Entschluss zur Zeugung. Sie werden nach durchgeführter Diagnose entweder
zwischen mehreren Optionen zu wählen haben oder eine binäre Entscheidung (über Implantation oder Zerstörung eines Embryos) fällen müssen. Darin äußert sich zunächst eine Intention auf Verbesserung. Die vorsätzliche Selektion richtet sich nämlich nach der Beurteilung der Qualität eines menschlichen Lebewesens und folgt insoweit einem Wunsch nach genetischer Optimierung. Eine Handlung, die
auf die Selektion des gesünderen Lebewesens hinausläuft, lässt sich von derselben Einstellung wie eine eugenische Praxis leiten. 159
Bei strikter Beschränkung des Verfahrens auf das Ziel der Verhinderung schwerer Erbkrankheiten drängt sich allerdings zunächst die Parallele zur wie wir annehmen wollen unbedenklichen - negativen Eugenik auf. Die Eltern können beanspruchen, vorsorglich im Interesse des ungeborenen Kindes zu entscheiden, um diesem selbst eine unerträglich belastete, ja qualvolle Existenz zu ersparen. Unter dieser Beschreibung wird der Lebensschutz des Embryos gleichsam durch das antizipierte Nein der ungeborenen Person selber eingeschränkt. Diesem Selbstverständnis liegt eine klinische Einstellung zugrunde - jedenfalls keine, die auf Optimierung abzielt. Aber verträgt sich dieser klinische Anspruch mit der einseitig und - anders als im Falle der negativen Eugenik - mit der unwiderruflichen Unterscheidung zwischen »lebenswertem« und »lebensunwertem« Leben? Wird diese Interpretation nicht stets mit der Zweideutigkeit des altruistischen Deckmantels für die Egozentrik eines von vornherein konditionierten Wunsches behaftet bleiben? Es soll, obgleich es dazu Alternativen gibt, ein eigenes Kind sein und nur, wenn es bestimmten Qualitätsmaßstäben entspricht, zur Welt kommen dürfen. Verstärkt wird dieser gegen sich selbst gerichtete Verdacht durch die Problematik eines verdinglichenden Umgangs mit dem Embryo in vitro. Der Kinderwunsch veranlasst die Eltern, eine Situation
herbeizuführen, in der sie aufgrund einer Prognose über die Fortführung vorpersonalen menschlichen Lebens frei verfügen werden. Diese InstrumentalisieI60
rung ist unvermeidlich Teil des Handlungszusammenhangs, in den die Präimplantationsdiagnostik eingelassen ist. Kann bei skrupulöser Betrachtung die Präferenz für ein gesundes eigenes Kind die Verletzung des embryonalen Lebensschutzes allein aufwiegen? (b) Die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen steht nicht unter der Perspektive von Züchtung und Selbstoptimierung. Sie verlangt aber von Haus aus eine instrumentalisierende Einstellung gegenüber dem »embryonalen Zellhaufen«. Der experimentelle und »verbrauchende« Umgang im Labor zielt gar nicht erst auf eine mögliche Geburt ab; er kann also eine klinische Einstellung gegenüber einer künftigen Person auch nicht verfehlen. Der
Handlungszusammenhang ist vielmehr durch das Telos von Erkenntniszuwachs und technischer Entwicklung bestimmt und fällt daher, wie Ludwig Siep betont, unter eine andere Beschreibung. Wenn embryonale Stammzellen zu solchen Zwecken hergestellt, untersucht und verarbeitet werden, handelt es
sich eben um eine andere Art der Praxis als die Erzeugung (und Manipulation der Anlagen) eines zur
Geburt bestimmten Menschenwesens. Dieser richtige Hinweis bestätigt aber nur die Aussage, die für das Argument der »schiefen Ebene« den Ausschlag
gibt: dass diese Forschungspraxis einen verdinglichenden Umgang mit vorpersonalem menschlichem Leben und damit die gleiche Einstellung erfordert, durch die sich auch eugenische Praktiken auszeichnen.
I61
Allerdings kommen mit der Freiheit von Wissenschaft und Forschung ein konkurrierendes Grundrecht und mit dem Kollektivgut Gesundheit zudem ein hoher Wert ins Spiel. Das verlangt eine Abwägung, deren Resultat auch davon abhängt, wie wir die Schrittmacherfunktion der Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen für die Art der Nutzung weiterer gentechnischer Fortschritte
einschätzen. Die Minderheit im Nationalen Ethikrat, die »die Instrumentalisierung des Embryos für fremdnützige Zwecke« prinzipiell ablehnt, geht in der Dammbruchargumentation noch einen Schritt weiter und betont die symbolische
Funktion
des
Schutzes menschlicher Embryonen für alle, »die sich nicht selbst schützen und hierfür auch nicht selbst argumentieren können.« Bei der Abwägung darf übrigens das Gewicht von zwei einschränkenden Argumenten, die die Befürworter eines geregelten Imports überzähliger embryonaler Stammzellen ins Feld führen, nicht überschätzt werden. Moralisch gesehen, macht es keinen
gravierenden Unterschied, ob man »überzählige« Embryonen für Forschungszwecke nutzt, oder ob man sie sogleich zum Zwecke dieser Instrumentalisierung herstellt. Aus politischer Sicht mag eine Beschränkung auf den Import vorhandener Stammzellen ein Hebel sein, um Umfang und Dauer dieser Forschungen besser unter Kontrolle zu halten. Aber die politischen Auflagen, die der Ethikrat vorschlägt, leuchten nur unter der Voraussetzung ein, dass man diese Forschungspraxis doch nicht für 162
ganz koscher hält. Zu dem weiteren Streitpunkt, wann die befruchtete menschliche Eizelle aufhört, totipotent zu sein, habe ich keine eigene Meinung. Ich möchte nur zu bedenken geben, dass sich die einschlägige Unterscheidung zwischen pluripotenten und totipotenten Stammzellen gerade dann relativiert, wenn man (wie die Mehrheit, die sich auf diese Unterscheidung stützt) sich von der Konzeption ei-
nes abgestuften Schutzes für vorpersonales menschliches Leben leiten lässt. Unter diesen Begriff fallen
nämlich auch pluripotente Stammzellen, aus denen sich definitionsgemäß kein menschliches Individuum mehr entwickeln kann.
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Während sich die Wirkungsgeschichte von kulturellen Überlieferungen und Bildungs_ prozessen, wie Gadamer gezeig hat, im Medium von
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