Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie: Eine philosophische Reflexion 9783495824184, 9783495490709


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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Einleitung
1 Wissenschaftliche Menschenbilder als Mensch-Welt-Konzepte
1.1 Der Mensch naturwissenschaftsorientiert erklärt und verstanden
1.1.1 Das naturwissenschaftliche Experiment
1.1.2 Der Regelkreis und die Computermetapher
1.1.3 Von der Naturwissenschaft zum Naturalismus in der Neurobiologie
1.1.4 Kritische Betrachtung der Naturwissenschaft
1.2 Der Mensch als emergentes System
1.2.1 Funktionskreis, Situationskreis und die Semiotik
1.2.2 Die Systemtheorie und die Emergenz
1.2.3 Kritische Betrachtung des biopsychosozialen Modells
1.3 Der Mensch als komplementäre Einheit
1.3.1 Der biologische Akt
1.3.1.1 Die Wahrnehmung ermöglichende Bewegung
1.3.1.2 Die Bewegung bedingende Wahrnehmung
1.3.2 Die Einführung des Subjekts
1.3.3 Das Leib-Seele-Verhältnis
1.3.4 Kritische Betrachtung des Gestaltkreises
1.4 Der Mensch aus phänomenologischer Sicht
1.4.1 Die phänomenale Lebenswelt und ihre Kategorien
1.4.2 Das sinnhafte Zur-Welt-Sein
1.4.3 Von der Bewusstseins- zur Leibphänomenologie
1.4.4 Der phänomenale Leib
1.4.5 Kritische Betrachtung der Phänomenologie
1.5 Mögliche Zusammenführung der Wissenschaftsparadigmen
1.5.1 Leben als Konstruktion versus Materie als Abstraktion
1.5.2 Der Maschinenvergleich
1.5.3 Die selbstreferenzielle Projektion
1.5.4 Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Gestaltkreis und Phänomenologie
1.5.5 Versuch einer Verbindung von Gestaltkreis und Phänomenologie
2 Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild
2.1 Das Verhältnis zwischen Lebenswelt und Wissenschaft
2.2 Der genealogisch primäre Charakter der Lebenswelt
2.3 Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen
2.3.1 Präreflexive Einstellung
2.3.2 Die drei reflexiven Einstellungen
2.3.2.1 Die alltagsreflexive Einstellung
2.3.2.2 Die wissenschaftlich-konkrete Einstellung
2.3.2.3 Die wissenschaftlich-abstrakte Einstellung
2.3.3 Die Dynamik und Veränderlichkeit des situativen Menschenbilds
2.4 Der Naturwissenschaftler und sein Menschenbild
2.4.1 Das naturalistische Menschenbild und der erlebte sowie erlebende Mensch
2.4.2 Das naturalistische Menschenbild – Grenzen und Möglichkeiten
2.4.3 Der Naturwissenschaftler als Subjekt seiner Objektwelt
2.5 Zusammenfassung
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a) Die Methode prägt den Forschungsgegenstand, aus dem das Menschenbild hervorgeht.
b) Das Menschenbild liegt der Methode und dem Forschungsgegenstand als Vorverständnis zugrunde.
c) Der Forschungsgegenstand als Objekt des Interesses prägt die Methode (das Menschenbild wird nicht tangiert).
3 Die ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie
3.1 Das Kranksein als ein Sich-Verhalten des Kranken
3.2 Einfluss des wissenschaftlichen Menschenbilds auf den Umgang zwischen Therapeut und Patient
3.3 Wirklichkeit, Sympathie und Antipathie in der ganzheitlichen Bewegungstherapie
3.4 Jenseits der praktischen Bewegungsaufgaben innerhalb der Therapie
3.4.1 Die Aufklärung über den Menschen als Objekt
3.4.2 Die Aufklärung über den Menschen als Subjekt
3.4.2.1 Das therapeutische Gespräch
3.4.2.2 Die Neustrukturierung der Lebensordnung
3.4.3 Leibverfügung, Welthabe und Bestimmung des Patienten
3.5 Praktische Konsequenzen für die Aufgabenstellung in der Bewegungstherapie
3.5.1 Das motorische Lernen aus phänomenologischer Sicht
3.5.2 Charakteristika der alltagsorientierten Bewegungsaufgaben
3.5.2.1 Prinzip der angemessenen Bewegungsaufgaben
3.5.2.2 Tendenz zur aktiven Selbstbewegung
3.5.2.3 Tendenz zum freien Lösungsspielraum
3.5.2.4 Tendenz zu Bewegungsgestalten
3.5.2.5 Tendenz zu variablen Aufgaben
3.5.2.6 Tendenz zur Weltzentrierung
3.5.2.7 Tendenz zum freudvollen Erleben
3.5.2.8 Tendenz zu gruppenassoziierten Bewegungsaufgaben
3.5.2.9 Sportbezogene Aspekte
3.6 Folgerung für eine ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie
3.6.1 Der sich doppelt gegen den Strom bewegende Therapeut
3.6.2 Die psychologische Dimension in der Bewegungstherapie
3.6.3 Die ganzheitliche Bewegungstherapie als allgemeine Therapie
3.7 Der freie und selbstverantwortliche Patient
4 Epilog: Der Naturalismus in der Gesellschaft
4.1 Die Notwendigkeit der Leib-Seele-Spaltung
4.2 Die Tendenz zum Naturalismus des Arztes und Therapeuten
4.3 Die Tendenz zum Naturalismus des Patienten
4.4 Die Krankheit aus naturalistischer Sicht
4.5 Metaphysische Bedürfnisse des Menschen und der Naturalismus
4.5.1 Die Krankheit im Mittelalter
4.5.2 Das Beherrschungsstreben des Menschen
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
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Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie: Eine philosophische Reflexion
 9783495824184, 9783495490709

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Michael Utech

Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie Eine philosophische Reflexion

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ALBER THESEN

https://doi.org/10.5771/9783495824184

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Michael Utech Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Michael Utech

Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie Eine philosophische Reflexion

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495824184 .

Michael Utech On the way to a holistically oriented kinesitherapy A philosophical reflexion Every human therapeutic approach is based on certain partly reflected, but mostly unreflected images of human. At present, materialistic assumptions dominate here. In this book, different images of human are uncovered, differentiated, analysed and questioned. Subsequently, the theoretical findings are used to underpin the practical work of a holistically oriented kinesitherapy. All considerations in this book are applicable to classical physiotherapy and occupational therapy and may be understood as suggestions for them.

The Author: Michael Utech, born 1978 in Northeim. Studied sports science and kinesiology (focus on »rehabilitation and prevention«), social psychology and business administration in Hanover. Doctorate 2015 in philosophy. Owner of the Institute for Holistic Movement Therapy.

https://doi.org/10.5771/9783495824184 .

Michael Utech Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie Eine philosophische Reflexion Jedem humantherapeutischen Vorgehen liegen bestimmte zum Teil reflektierte, jedoch größtenteils unreflektierte Menschenbilder zugrunde. Gegenwärtig dominieren hier materialistische Annahmen. In diesem Buch werden verschiedene Menschenbilder aufgedeckt, differenziert, analysiert und hinterfragt. Anschließend werden die theoretischen Erkenntnisse zur Fundierung der praktischen Arbeit einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie genutzt. Sämtliche Überlegungen in diesem Buch sind für die klassische Physiotherapie und Ergotherapie anwendbar und dürfen als Anregungen für diese verstanden werden.

Der Autor: Michael Utech, geb. 1978 in Northeim. Studium der Sport- und Bewegungswissenschaft (Schwerpunkt »Rehabilitation und Prävention«), Sozialpsychologie und Betriebswirtschaftslehre in Hannover. Promotion 2015 in Philosophie. Inhaber des Instituts für Ganzheitliche Bewegungstherapie.

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Alber-Reihe Thesen Band 74

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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49070-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82418-4

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»Der erste grund der arznei, welcher ist philosophia« (Paracelsus 1493–1541)

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Vorwort

Als dominierende und handlungsleitende Wissenschaft für medizinische und im Speziellen für bewegungstherapeutische Berufe, also solche, die mithilfe der aktiven Selbstbewegung des Patienten danach streben, dessen gesundheitliche Not zu lindern oder ihn von ihr zu befreien (z. B. Physio- und Ergotherapie), gilt nach wie vor die Naturwissenschaft. So wurde auch ich 1 in meinem Studium zu großen Teilen naturwissenschaftlich geprägt. In meiner praktischen Arbeit als Bewegungstherapeut merkte ich allerdings, dass für zahlreiche Situationen des persönlichen Umgangs mit Patienten, aber auch mit deren Wohngruppenbetreuern, Familienangehörigen, Ärzten und anderen Therapeuten die Naturwissenschaft nicht ausreichte. Während des Entstehens dieses Buches wurde immer deutlicher, dass dies seinen Grund darin hat, dass die ärztliche und therapeutische Arbeit nicht nur eine neutrale angewandte Naturwissenschaft ist, sondern eine Beziehungsarbeit darstellt, in der naturwissenschaftliche Kenntnisse zwar unabdingbar sind, die primäre Situation jedoch die konkrete Begegnung und der konkrete Umgang zwischen Therapeuten/Ärzten und Patienten darstellt. Außerdem entpuppt sich bei genauerer Betrachtung eine störende vermeintlich rein körperliche gesundheitliche Beeinträchtigung eines Menschen als eine Not, die die gesamte Person in ihrem sozialen, psychischen und körperlichen Sein betrifft. Die Berücksichtigung des Menschen als in Beziehung zu seiner materiellen und insbesondere sozialen Umwelt stehendes Subjekt ermögIn einem Vorwort wird häufig vom Verfasser gesprochen, wenn der Autor sich selbst meint. Da es jedoch das erklärte Ziel dieser Arbeit ist, dem Subjekt und der Subjektivität in der wissenschaftlichen Arbeit und in der praktischen Arbeit der bewegungstherapeutischen Maßnahmen Ausdruck zu verleihen, wird in diesem Vorwort die Ich-Form verwendet. Sie ist jedoch nicht zu verwechseln mit der Ich-Form, die ich im Kontext der Phänomenologie benutzen werde und die das probehalbe Einnehmen der Erste-Person-Perspektive widerspiegelt und die von allgemeinem und eher anonymem Charakter geprägt ist.

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Vorwort

licht deshalb nicht nur einen zweitrangigen und zu vernachlässigenden Erkenntnisgewinn für die bewegungstherapeutischen Praxis, sondern diese Berücksichtigung prägt und bestimmt fundamental jede therapeutische Arbeit und bedarf daher einer expliziten Reflexion, welche in diesem Buch geleistet werden soll. Im Laufe der Bearbeitung des Themas wurden zahlreiche Literaturquellen studiert und es fanden ebenso viele Gespräche mit Personen statt, die im Bereich der Medizinischen Anthropologie und der Phänomenologie – zwei in diesem Buch wesentliche Bezugsdisziplinen – Experten sind. Hier ist der Berliner Lesekreis der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft herauszuheben, der sich bei Prof. Dr. Wilhelm Rimpau regelmäßig trifft. Weiterhin waren wichtige und häufige Gesprächspartner Barbara Hahn und Prof. Dr. Peter Hahn, mit denen es ebenfalls regelmäßig zu einem fruchtbaren und anregenden Austausch kam, sowie mit Prof. Dr. Wolfram Schüffel, der u. a. in Marburg das Marburger Gesundheitsgespräch ins Leben gerufen hat. Prof. Dr. Klaus Gahl opferte dankenswerterweise nach der intensiven Durchsicht meines Manuskripts einen gesamten Hochsommertag, um mit mir über den Inhalt zu diskutieren. Auf der einen Seite wirkte sich das erworbene theoretische Wissen im Laufe der Entstehung dieses Buches auf meine tägliche praktische bewegungstherapeutische Arbeit 2 aus. Auf der anderen Seite flossen Erfahrungen und Erlebnisse aus der Praxis in dieses Buch, das deshalb einen sehr persönlichen Charakter besitzt. So wurden sämtliche Fallbeispiele, wenn nicht explizit gekennzeichnet, selbst erlebt. Es kam also zu einer gegenseitigen Befruchtung zwischen Theorie und Praxis. Was prius und posterius war, kann im Nachhinein nicht mehr mit Bestimmtheit gesagt werden. Aus der bearbeiteten Literatur waren es insbesondere die Schriften von Viktor von Weizsäcker und Maurice Merleau-Ponty, aber auch von Edmund Husserl, Thomas Fuchs, Herbert Plügge, Bernhard Waldenfels u. a., die halfen, eine Sichtweise zu entwickeln, welche solche impliziten Voraussetzungen in Frage stellte, die in der naturwissenschaftlich geprägten modernen Medizin als selbstverständlich hingenommen und nicht weitergehend reflektiert werden. Diese Arbeiten bieten Inhalte, die geeignet scheinen, das 2 Die Erfahrungen und Erlebnisse stammen hauptsächlich aus meiner Arbeit im Institut für Ganzheitliche Bewegungstherapie – Praxis für Physio- und Ergotherapie in Hannover (siehe Kapitel 3), das seit 2004 besteht und das ich von Prof. Dr. HansJürgen Dordel übernommen habe.

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Vorwort

oben beschriebene Verstehensvakuum zu füllen, um eine reflektierte, fundierte und ganzheitlich orientierte bewegungstherapeutische Arbeit mit unterschiedlich schwer beeinträchtigten Patienten zu ermöglichen. In zahlreichen humanwissenschaftlichen Publikationen wird der Mensch aus der speziellen Profession des jeweiligen Verfassers beschrieben. Das Ziel ist es dort, innerhalb des entsprechenden Fachgebietes Erkenntnisse weiterzugeben, um den Leser fachkompetenter zu machen. Auf der einen Seite bedarf es hierfür einer enggefassten Darstellung, da sämtliche Facetten des äußerst komplexen Themas »Mensch« nicht in einer einzelnen Abhandlung aufgenommen werden können. Auf der anderen Seite wird sich jeder Leser einer bestimmten Disziplin vornehmlich mit seinem Interessengebiet befassen. Schon auf Grund der begrenzten Zeit, die zum Lernen zur Verfügung steht und der Begrenztheit der menschlichen intellektuellen Kräfte (v. Weizsäcker 1987c:10), ist eine spezialisierte Betrachtungsweise der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen naheliegend. So schreibt v. Weizsäcker (1997:275/IV), dass es bei keiner Art von Naturforschung etwas Besonderes sei, wenn in der Fülle der Erscheinungen nur Einzelnes herausgegriffen werde und nur in beschränktem Maß verstanden werden könne. Eine solche spezialisierte Betrachtung, die nur isolierte Detailuntersuchungen einschließt, birgt jedoch die Gefahr in sich, dass das Wesentliche aus dem Fokus gerät. Das Überblicken und Beurteilen des untersuchten Phänomens in seiner Ganzheit ist erforderlich, um nicht in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten (Strasser 1964:192). Der Spezialist weiß dann »mehr und mehr über weniger und weniger, und schließlich weiß er alles über ein Nichts« (Lorenz 1973:52). In diesem Buch wird daher eine allgemeine (d. h. gerade keine spezialistische) und überschauende Sicht auf den Menschen eingenommen, weshalb auch für die bewegungstherapeutische Arbeit uneingeschränkt notwendigen Detailkenntnisse über naturwissenschaftliche Zusammenhänge nicht Inhalte dieses Buches sind. In der gesamten Arbeit werden Zitate und Gedanken, die sich vom Autor ursprünglich auf den Arzt bezogen, auf den Bewegungstherapeuten angewandt. Dieses Vorgehen ist nicht als Anmaßung eines Bewegungstherapeuten zu verstehen, denn es soll keineswegs eine Gleichstellung des ärztlichen und des bewegungstherapeutischen Berufs suggeriert werden. Dennoch entspricht das Arzt-PatientenVerhältnis dem zwischen Bewegungstherapeut und Patient insofern, Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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als in beiden Fällen eine Person, die eine gesundheitliche Not hat, eine andere Person als Experten aufsucht, von dem der Kranke bzw. Verletzte glaubt, dass dieser ihm helfen kann, seine Not zu lindern. Sowohl in der Arzt-Patienten-Beziehung als auch in der Bewegungstherapeut-Patienten-Beziehung handelt es sich um einen Umgang zwischen einem hilfesuchenden Menschen und einem hilfebietenden Menschen. In beiden Fällen wird der Helfende vom Hilfesuchenden als jemand angesehen, der es besser versteht, den Nothabenden von seinem Leid zu befreien, als dieser es selbst könnte. Daher besteht automatisch ein Autoritätsgefälle, das größer oder kleiner ausfallen kann. Sowohl der Arzt als auch der Bewegungstherapeut müssen die gesundheitliche Verfassung des Patienten einschätzen können, um zu wissen, welche Hilfen ihm wie aufgegeben werden. Der Arzt verschreibt z. B. Medikamente, während der Bewegungstherapeut angemessene Bewegungsübungen aufgeben und deren Häufigkeit und Intensität richtig einschätzen muss. Sowohl Arzt als auch Bewegungstherapeut arbeiten intensiv mit Menschen, weswegen in beiden Berufen die theoretische Auffassung darüber, was der Mensch ist, eine praxisleitende Funktion besitzt (vgl. z. B. Grupe & Krüger 2007:222; vgl. v. Weizsäcker 1986b:452 f./VI; 1987b:164 f./VII). Wie bereits erwähnt, werden in diesem Buch insbesondere Arbeiten von v. Weizsäcker und Merleau-Ponty als Grundlage eigener Gedanken und Konzepte genutzt. Es stellt sich deshalb die Frage, ob und weshalb es legitim und sogar notwendig ist, Schriften heranzuziehen, die zwischen 1910 und 1961 3 entstanden sind, also solche, die der modernen Wissenschaft, besonders der modernen technizistischen Medizin, als antiquiert erscheinen müssen. Gündel in Frick (2009:9) ist diesbezüglich der Meinung, dass die moderne Wissenschaft manchmal den Boden, auf dem sie steht, vergessen zu haben scheint. Generationen vor uns, so Gündel, haben sich viele Gedanken über den Menschen, sein Wesen und das Kranksein gemacht. Diese Schätze gilt es zu heben. Auch Prohl (2010:231) begrüßt die Hinwendung zu älteren Quellen, wenn er schreibt, dass es sich immer noch lohne, »bei den ›Klassikern‹ in die Lehre zu gehen«. Anhand einiger Zitate von v. Weizsäcker soll nachfolgend gezeigt werden, dass ver-

Es wird sich darüber hinaus auf »ältere« Schriften von Edmund Husserl, Herbert Plügge sowie gelegentlich auf Gedanken u. a. von Aristoteles, Galilei, Newton und Descartes berufen.

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Vorwort

meintlich neue, aktuelle und moderne Gedanken bereits vor Jahrzehnten aufkamen und diskutiert wurden. Die Auffassung, dass Gesundheit kein eindeutiger Zustand, sondern ein steter Prozess ist, wird heutzutage zumeist mit Aaron Antonovsky, der sein Salutogenese-Modell in den 1970er Jahren formulierte, in Verbindung gebracht. Allerdings zeigen sich bereits bei v. Weizsäcker aus dem Jahr 1926 vergleichbare Gedanken, wenn er schreibt, dass »ganz gesund oder ganz krank […] niemand [ist], wenn wir diese Schwebeexistenz einmal erkannt haben« (v. Weizsäcker 1987a:233/V). Im Gestaltkreis schreibt v. Weizsäcker (1997:300 f./ IV): »In der Krise [z. B. Krankheit, M. U.] nun ist das Subjekt […] der Inbegriff der bedrohten oder erhaltenen Einheit des Organismus […]. Das Subjekt ist kein fester Besitz, man muß es unablässig erwerben, um es zu besitzen.« [Hervorh. aus Original entfernt.] Auch die vermeintlich neue Idee der Inklusion von behinderten Menschen und die rasche Wiedereingliederung in den beruflichen Alltag wurde von v. Weizsäcker bereits 1948 formuliert: »Wir haben es deshalb (von den schwersten Fällen abgesehen) nicht so gut gefunden, die Hirnverletzten zu lange Zeit in besonderen Häusern zu sammeln oder bei eigens für sie erfundenen Beschäftigungsarten festzuhalten. Unser Hauptbestreben war vielmehr, sie möglichst bald unter die Gesellschaft gesunder Arbeitskameraden zurückzubringen. Entweder sollten sie womöglich im gelernten Berufe wieder Fuß fassen oder sie wurden auf einen jetzt für sie geeigneten Beruf umgeschult.« (ebd. 1990:604/III). Auch der von v. Weizsäcker (1949b:431/VI) gehegte Zweifel, »ob die Arbeitsunfähigkeit vom Ulcus oder das Ulcus von der Arbeitsunfähigkeit kommt«, wird in der aktuellen Literatur thematisiert: »Zum Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Gesundheit gibt es folgende grundlegende Thesen: Arbeitslosigkeit führt zu einem erhöhten Krankheitsrisiko (Kausalitätshypothese); Krankheit führt zu einem erhöhten Arbeitslosigkeitsrisiko (Selektionshypothese)« (Grobe & Schwartz 2003:5). Es zeigt sich, dass in Schriften von vor einigen Jahrzehnten dieselben Probleme auftauchten und behandelt wurden wie heute. Somit sind sie noch immer hochaktuell. 4 Es gab also nach La Mettrie, der sich vom Substanzdualismus im Sinne von Descartes abwandte und einen Dem Thema »Zur Aktualität Viktor von Weizsäckers« wurde daher 2003 ein gleichnamiges Sammelwerk, herausgegeben von Jacobi & Janz, gewidmet.

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materiellen Monismus postulierte (Meyer-Drawe 2006:196), auch Denker, die gegen eine solche Sichtweise angingen. Von Weizsäcker stellt hier einen wichtigen Vertreter dar, war jedoch mit seinem Bemühen nicht allein (z. B. Buytendijk, Christian, Husserl, MerleauPonty, Plessner, Plügge, v. Uexküll). Aus heutiger Sicht ist jedoch zu konstatieren, dass die Berücksichtigung des Menschen als Subjekt in der Wissenschaft und besonders in der Heilkunde in den letzten Jahrzehnten wieder aus dem Blick geraten ist. Die Medizin nahm also eine Entwicklung, die bereits vor mehr als 60 Jahren als überwunden angesehen wurde (vgl. Merleau-Ponty 2003:75; vgl. v. Weizsäcker in Kütemeyer 1957:15). Somit legitimiert sich der Zugriff auf ältere Quellen dadurch, dass bereits zu jener Zeit maßgebliche Gedanken bezüglich einer ganzheitlichen Menschheitsauffassung formuliert wurden, die zunehmend in Vergessenheit gerieten. Mit Mutschlers Worten (2011:204) ließe sich behaupten, dass »ein Rückfall hinter das schon einmal erreichte Niveau« stattfand. Es wird in dieser Arbeit daher nicht darauf abgezielt, die neueste Technik zu beschreiben und anzuwenden; hierfür würde tatsächlich vornehmlich die aktuellste Literatur benötigt. Stattdessen soll der Mensch betrachtet werden; ein Wesen also, das sich bereits seit ca. 120.000 Jahren in Bau, Funktion und Fähigkeiten, wie z. B. die geistige Leistung in Form von Vernunft, nicht mehr gravierend verändert hat (Heitmann 2001:45) und über das bereits seit Anbeginn der Möglichkeit zeitüberbrückender Aufzeichnungen zahlreiche Gedanken weitergegeben wurden. Dieses Buch soll Anregungen geben für Menschen in Berufen, die mithilfe von Bewegungs- und Wahrnehmungsaufgaben therapeutisch arbeiten. 5 Hierzu zählen wie bereits erwähnt u. a. Physiotherapeuten, in deren Ausbildung zu großen Teilen naturwissenschaftliche Kenntnisse vermittelt werden, sowie Ergotherapeuten. Somit würde Schiffter (2006:161) entsprochen werden, der bezugnehmend auf den Arztberuf – hier stellvertretend für alle bewegungstherapeutischen Berufe – die Meinung vertritt, dass »moderne Ärzte auch ein wenig Philosophie studieren [sollten] (und etwas weniger Statistik oder Molekulartechnik).« Allerdings, so wurde mir von anderen Lesern dieses Manuskripts mitgeteilt, ist dieses Buch auch für sie anAllerdings muss sich der Leser im Vorfeld auf Termini einlassen, die heutzutage eher gewöhnungsbedürftig oder antiquiert wirken, wie etwa der Begriff »Leib«, der eine tragende Rolle in diesem Buch spielt und der nicht als veraltete Form des Körperbegriffs misszuverstehen ist (siehe besonders Kapitel 1 und 1.4.4).

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Vorwort

regend und fruchtbar. Zu den Lesern, denen mein großer Dank gebührt, zählten Ärzte verschiedener Couleur, Krankenschwestern, Sonderpädagogen, Heilerziehungspfleger, Medizinische Fachangestellte, Sportlehrer und solche Personen, die zwar nicht in einem Gesundheitsberuf tätig sind, aber als Patient (der jeder von uns dann und wann ist) Bezug zu in diesem Buch behandelten Themen hat. Kurzum darf ich mir erlauben, dieses Buch jedem ans Herz zu legen, der sich für den Menschen und für philosophische, psychologische sowie soziologische Ansichten interessiert, die über das reine mechanistische Denken hinausgehen. Ein kurzer Hinweis zur Zitierweise: In diesem Buch wird ein direktes Zitat wie gewöhnlich in Anführungszeichen gesetzt. Bei Inhalten, die sinngemäß wiedergegeben werden, steht die entsprechende Quelle in Klammern. Für Bezüge, die nur entfernt meine Aussage berühren oder die sich auf andere als von mir angegebene Situationen beziehen, wird ein »vgl.« vor die Quellenangabe gesetzt.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wissenschaftliche Menschenbilder als Mensch-Welt-Konzepte . . . . . . . . . . . . . . .

1.1 Der Mensch naturwissenschaftsorientiert erklärt und verstanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Das naturwissenschaftliche Experiment . . . . . . 1.1.2 Der Regelkreis und die Computermetapher . . . . 1.1.3 Von der Naturwissenschaft zum Naturalismus in der Neurobiologie . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Kritische Betrachtung der Naturwissenschaft . . . 1.2 Der Mensch als emergentes System . . . . . . . . . . . 1.2.1 Funktionskreis, Situationskreis und die Semiotik . 1.2.2 Die Systemtheorie und die Emergenz . . . . . . . 1.2.3 Kritische Betrachtung des biopsychosozialen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der Mensch als komplementäre Einheit . . . . . . . . . 1.3.1 Der biologische Akt . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1.1 Die Wahrnehmung ermöglichende Bewegung 1.3.1.2 Die Bewegung bedingende Wahrnehmung . 1.3.2 Die Einführung des Subjekts . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Das Leib-Seele-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Kritische Betrachtung des Gestaltkreises . . . . . . Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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1.4 Der Mensch aus phänomenologischer Sicht . . . . . . 1.4.1 Die phänomenale Lebenswelt und ihre Kategorien 1.4.2 Das sinnhafte Zur-Welt-Sein . . . . . . . . . . . 1.4.3 Von der Bewusstseins- zur Leibphänomenologie 1.4.4 Der phänomenale Leib . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5 Kritische Betrachtung der Phänomenologie . . . 1.5 Mögliche Zusammenführung der Wissenschaftsparadigmen . . . . . . . . . . . . . 1.5.1 Leben als Konstruktion versus Materie als Abstraktion . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Der Maschinenvergleich . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Die selbstreferenzielle Projektion . . . . . . . . 1.5.4 Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Gestaltkreis und Phänomenologie . . . . . . . . 1.5.5 Versuch einer Verbindung von Gestaltkreis und Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . .

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild . . . . . . . . . . . . . 119

2.1 Das Verhältnis zwischen Lebenswelt und Wissenschaft 2.2 Der genealogisch primäre Charakter der Lebenswelt . . 2.3 Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Präreflexive Einstellung . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die drei reflexiven Einstellungen . . . . . . . . 2.3.2.1 Die alltagsreflexive Einstellung . . . . . . 2.3.2.2 Die wissenschaftlich-konkrete Einstellung 2.3.2.3 Die wissenschaftlich-abstrakte Einstellung 2.3.3 Die Dynamik und Veränderlichkeit des situativen Menschenbilds . . . . . . . . . . 2.4 Der Naturwissenschaftler und sein Menschenbild . . . 2.4.1 Das naturalistische Menschenbild und der erlebte sowie erlebende Mensch . . . . . 2.4.2 Das naturalistische Menschenbild – Grenzen und Möglichkeiten . . . . . . . . . . . 2.4.3 Der Naturwissenschaftler als Subjekt seiner Objektwelt . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

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Die ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie . . . 3.1 Das Kranksein als ein Sich-Verhalten des Kranken . . . 3.2 Einfluss des wissenschaftlichen Menschenbilds auf den Umgang zwischen Therapeut und Patient . . . . . . . 3.3 Wirklichkeit, Sympathie und Antipathie in der ganzheitlichen Bewegungstherapie . . . . . . . 3.4 Jenseits der praktischen Bewegungsaufgaben innerhalb der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Die Aufklärung über den Menschen als Objekt . 3.4.2 Die Aufklärung über den Menschen als Subjekt . 3.4.2.1 Das therapeutische Gespräch . . . . . . . 3.4.2.2 Die Neustrukturierung der Lebensordnung 3.4.3 Leibverfügung, Welthabe und Bestimmung des Patienten . . . . . . . . . 3.5 Praktische Konsequenzen für die Aufgabenstellung in der Bewegungstherapie . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Das motorische Lernen aus phänomenologischer Sicht . . . . . . . . . . 3.5.2 Charakteristika der alltagsorientierten Bewegungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2.1 Prinzip der angemessenen Bewegungsaufgaben . . . . . . . . . . . 3.5.2.2 Tendenz zur aktiven Selbstbewegung . . . 3.5.2.3 Tendenz zum freien Lösungsspielraum . . 3.5.2.4 Tendenz zu Bewegungsgestalten . . . . . 3.5.2.5 Tendenz zu variablen Aufgaben . . . . . . 3.5.2.6 Tendenz zur Weltzentrierung . . . . . . . 3.5.2.7 Tendenz zum freudvollen Erleben . . . . . 3.5.2.8 Tendenz zu gruppenassoziierten Bewegungsaufgaben . . . . . . . . . . . 3.5.2.9 Sportbezogene Aspekte . . . . . . . . . . 3.6 Folgerung für eine ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Der sich doppelt gegen den Strom bewegende Therapeut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Die psychologische Dimension in der Bewegungstherapie . . . . . . . . . . . .

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3.6.3 Die ganzheitliche Bewegungstherapie als allgemeine Therapie . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Der freie und selbstverantwortliche Patient . . . . . . .

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Epilog: Der Naturalismus in der Gesellschaft . . . . . . 256

4.1 Die Notwendigkeit der Leib-Seele-Spaltung . . 4.2 Die Tendenz zum Naturalismus des Arztes und Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Tendenz zum Naturalismus des Patienten . 4.4 Die Krankheit aus naturalistischer Sicht . . . . 4.5 Metaphysische Bedürfnisse des Menschen und der Naturalismus . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Die Krankheit im Mittelalter . . . . . . . 4.5.2 Das Beherrschungsstreben des Menschen

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

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Abbildung 1: Der Funktionskreis (nach v. Uexküll & Wesiack 2003:30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 2: Der Gestaltkreis (nach v. Weizsäcker 1997:254/ IV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 3: Verbindung von Phänomenologie und Gestaltkreis (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 4: Genealogie des Verständnisses des Menschen über den Menschen (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . Abbildung 5: Die unterschiedlichen Einstellungen innerhalb der Lebenswelt (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . Abbildung 6: Der Mensch in präreflexiver Einstellung (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 7: Der Mensch in alltagsreflexiver Einstellung (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 8: Der Mensch in wissenschaftlich-konkreter Einstellung (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . Abbildung 9: Der Mensch in wissenschaftlich-abstrakter Einstellung (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . Abbildung 10: Das ursprüngliche gesunde Zur-Welt-Sein eines Fußballprofis (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . Abbildung 11: Das Zur-Welt-Sein nach schwerem Schädelhirntrauma (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . Abbildung 12: Das Zur-Welt-Sein nach Beginn der ganzheitlichen Bewegungstherapie (Eigene Darstellung) . . . . . Abbildung 13: Das Zur-Welt-Sein nach Findung eines neuen Lebensziels (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . Abbildung 14: Das neue Zur-Welt-Sein aus Sicht des Betroffenen in der neuen Situation (Eigene Darstellung) . Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Abbildung 15: Die bewegungstherapeutische Trias (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 16: Der sich gegen den Strom bewegende Therapeut (Eigene Darstellung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tabelle 1: Der Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher Theorie und lebensweltlicher Erfahrung (Eigene Darstellung) .

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Die Philosophie wird häufig fälschlicherweise für eine theoretische Wissenschaft gehalten, die sich mit Fragen beschäftigt, welche das praktische Leben nicht tangieren und deshalb als überflüssig oder zumindest als verzichtbar gilt (vgl. Janich 2009:12). Übersehen wird hier jedoch, dass es gerade die Aufgabe der Philosophie ist, alltagsrelevante Themen zu analysieren und zu reflektieren. Hierzu zählen auch aktuelle Fragen im Bereich der – Ethik: Ist es gut ein Handelsembargo auszusprechen, auch wenn daraufhin Zivilisten verhungern könnten? Darf ein entführtes Flugzeug abgeschossen werden, auch wenn die unschuldigen Insassen deshalb ihr Leben lassen müssen? – Erkenntnistheorie: Sieht der einzelne Mensch die Welt, wie sie objektiv ist? Wenn ja, so könnte jeder Mensch einen anderen Menschen belächeln, wenn eine Situation unterschiedlich erlebt wird (z. B. Angst vor Wasser). – Anthropologie: Hat der Mensch einen freien Willen, oder ist er durch seine soziale Umwelt, seine Gene und eingeborenen Programme vorbestimmt? Zahlreiche Fragen des Alltags werden häufig als sich von selbst beantwortend beiseitegeschoben. Beispielsweise würde heutzutage kaum jemand in Deutschland den Sklavenhandel befürworten. Eine Ablehnung der Sklaverei ist jedoch offenbar weder ahistorisch evident noch eine Frage der Intelligenz. Selbst die größten Denker der Menschheitsgeschichte wie Aristoteles besaßen Sklaven und empfanden Sklavenhandel als selbstverständlich (Ferber 1998:97 f.). Auch der heute dominierende Naturalismus mit seiner Auffassung, dass physikalische Methoden ausreichen, um den Menschen (in Zukunft) komplett zu erfassen, wird in der Gesellschaft und speziell in der Schulmedizin als modern und unzweifelhaft erachtet. Gefühle, Wünsche, Ziele werden hier z. B. als Epiphänomene der Materie angesehen, die auf elektrische Reize zurückgeführt werden können (vgl. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Einleitung

Brugger & Schöndorf 2010:316; vgl. Mutschler 2002a:8; vgl. Schlicht 2007:201). Das mit dem nachfolgend beschriebenen Phänomen der Willkürbewegung verbundene Leib-Seele-Problem ist ein bedeutendes philosophisches Thema, welches seit Beginn der klassischen Naturwissenschaft seine Verschärfung gefunden hat und bis heute nicht gelöst werden konnte: Die klassische Naturwissenschaft erkennt jeden Vorgang in der Natur als Wirkung einer vorangegangenen äußeren Ursache. So bewegt sich ein Stein, wenn eine Kraft von außen auf ihn einwirkt. Die Willkürbewegung des Menschen bedarf jedoch keiner äußeren Ursache. Der Wille, der die physikalische Bewegung initiiert, scheint demnach den physikalischen Naturgesetzen enthoben (Sukale 2004:34 f.; v. Weizsäcker 1997:101/IV), sodass eine Spaltung zwischen dem determinierten materiellen Leib und einer nicht an die Naturgesetze gebundenen Seele folgt. Es sei denn, es wird postuliert, dass der freie Wille lediglich eine Illusion und der Mensch in seiner Handlung doch naturgesetzlich determiniert ist (vgl. Roth 2004: 218 ff.; vgl. Singer 2004:30 ff.). Oder die Willensfreiheit wird zwar als frei, jedoch nicht als unbedingt frei erachtet (vgl. Keil 2009:73 ff.) (zur Vertiefung siehe Kapitel 1.1.3). Hier zeigt sich, dass eine grundsätzliche Frage über das Wesen des Menschen ein alltägliches Phänomen wie den freien Willen und die Willkürbewegung berührt und zu prinzipiellen Fragen aus anderen philosophischen Gebieten (Ethik: »Kann ein Mensch ohne freien Willen etwas Schlechtes tun?«) sowie zu neuen alltagspraxisrelevanten Fragen führt (Justiz: »Wenn der Mensch keinen freien Willen besitzt, kann sein Verhalten dann bestraft werden?«). Laut Falkenburg (2006:44) ist der Mensch heutzutage von der Lösung des Leib-Seele-Problems genauso weit entfernt wie im 17. Jahrhundert. Es ist mit Husserl (der von Held in Husserl [1985:18] wiedergegeben wird) gesprochen ein Ziel dieses Buches, »die großen Scheine […] universale[r] Thesen ins Kleingeld sachnaher Detailanalysen zu wechseln.« Es sollen also philosophische Konzepte über den Menschen betrachtet und bewertet werden, um die theoretischen Erkenntnisse auf die praktische Arbeit einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie anzuwenden. 6 Diese Bewegungstherapie hat sich 6

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Dies birgt die nicht zu umgehende Gefahr, dass die vorliegende Arbeit ausgebildeten

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Einleitung

zur Aufgabe gemacht, Menschen mit gesundheitlichen Beschwerden über das Medium der Selbstbewegung zu helfen, d. h. sie von ihrer Not möglichst umfassend zu befreien (siehe Kapitel 3). Das Sich-Bewegen wird auf handlungsorientierter Basis gelehrt: Es werden Aufgaben gestellt, die der Patient zu seiner Gesundheitsförderung selbstständig lösen soll. Gesundheitsfördernd zu wirken, bedeutet hier jedoch nicht nur vermeintlich rein somatische Aspekte wie z. B. das Herz-Kreislauf-System positiv zu beeinflussen. Vielmehr steht der ganze Mensch als Einheit mit seinen körperlichen, seelischen und sozialen Dimensionen im Fokus. Das bedeutet, dass die leibliche Zufriedenheit des Menschen durch dessen hinzugewonnene Bewegungskompetenz, aber auch durch die gemeinschaftliche Bewegungserfahrung und den Bewegungserwerb mit anderen verbessert wird. Nach v. Weizsäcker soll die heilkundliche, also auch die therapeutische Hilfe »kein wunderartiges Zauberding sein […], sondern ein wissendes Hinlenken auf einen wertvolleren Zustand, als es die Krankheit ist« (v. Weizsäcker 1990:630/III). Die Überlegungen in diesem Buch stützen sich maßgeblich auf Autoren, die dem Bereich der Philosophie, der Medizin und dem Bereich der Sportwissenschaft zuzurechnen sind. Der philosophische Einbezug wurde bereits erläutert. Die beiden anderen Bezugsdisziplinen gründen auf zahlreiche fundamentale Übereinstimmungen zwischen Therapie, Medizin und Sportwissenschaft: Sowohl in der Bewegungstherapie als auch in der Medizin werden Heilmittel verwendet, um einer gesundheitlichen Beeinträchtigung zu begegnen und die leibliche Zufriedenheit des Betroffenen zu steigern. Die Medizin nutzt etwa Medikamentengabe oder operative Eingriffe, während die Bewegungstherapie die Selbstbewegung, die mit der Wahrnehmung stets einhergeht, als »Heilmittel« verwendet. Um Ursachen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung aufspüren zu können, setzen beide Bereiche apparative und nicht-apparative Diagnostikverfahren ein. Die wichtigsten gemeinsamen Themenbereiche zwischen Medizin und ganzheitlicher Bewegungstherapie sind: Mensch, gesundheitliche Beeinträchtigung, Heilmittel, Leidensminderung, Gesundheitsförderung, Steigerung der Zufriedenheit, Diagnostik.

Philosophen als inhaltlich zu dünn erscheinen könnte und solche Leser, die bisher mit philosophischen Themen nicht in Berührung kamen, diese Arbeit – allein wegen der verwendeten Begrifflichkeiten – als abstrakt und wenig greifbar empfinden. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Innerhalb der Sportwissenschaften und insbesondere der Sportpädagogik wird ebenso wie in der ganzheitlichen Bewegungstherapie versucht, gesundheitsfördernd zu wirken sowie das Wohlbefinden und die Zufriedenheit des Menschen zu steigern. Durch das Lehren körperlicher Aktivitäten wird die Bewegungs- und Handlungskompetenz erweitert und das Selbstkonzept positiv beeinflusst. In beiden Fällen soll durch Bewegung der eigene Körper bzw. Leib sowie die soziale und die materielle Umwelt erfahren werden (vgl. z. B. Grupe & Krüger 2007:253 ff.; Thiele 1990:18). Den elementaren Stellenwert der Bewegung für die Sportwissenschaften unterstreicht Prohl (1996:94) wie folgt: »Bezogen auf die Sportwissenschaften […] läßt sich wohl kein zweiter Begriff finden, der so unmittelbar im Mittelpunkt des Erkenntnis- und Forschungsinteresses steht, wie die (menschliche) Bewegung.« Die wichtigsten Gemeinsamkeiten zwischen ganzheitlicher Bewegungstherapie und Sportwissenschaft sind: Mensch, Bewegung, Lernen und Lehren der Bewegung, Gesundheitsförderung bzw. Steigerung der Zufriedenheit, Stärkung des Selbstkonzepts, Aneignung durch Erfahrung der materiellen und sozialen Welt. Ohne in der alltäglichen Arbeit explizit philosophische Aspekte beleuchten zu müssen, erwächst jede Handlung sowohl des Sportlehrers, des Arztes als auch des Therapeuten stets aus dem Boden der Philosophie (vgl. Schipperges 1987:51 ff.). Jaspers in Schipperges (1987:60) schreibt: »Das Tun des Arztes ist konkrete Philosophie«, denn jede Vorgehensweise beruft sich auf ein spezielles Menschenbild, das der Arzt implizit aber auch explizit besitzt. Die Akzeptanz eines bestimmten Menschenbilds hat Einfluss auf die Auffassung über das menschliche Bewegen (vgl. Tamboer 1994:26) sowie die menschliche Krankheit und ist laut Strasser (1964:189 ff.) grundlegend für jede weitere Untersuchung bzw. wissenschaftliche und praktische Vorgehensweise. Somit liefert die Anthropologie als die Lehre vom Wesen des Menschen Begründungen für das Selbstverständnis, die Orientierung für Vorgehensweisen und Inhalte sowie Normen zur Festlegung und Bewertungen von Inhalten und Zielen in der praktischen Arbeit mit Menschen (Grupe & Krüger 2007: 221 f.). Wenn die therapeutische Arbeit also maßgeblich vom vertretenen Leib-Seele-Verständnis beeinflusst wird (vgl. Fuchs 2008:258 f.; Töpfer 2007a:211 ff.; v. Weizsäcker 1987b:163 ff./VII) und der Naturalismus in der Gesellschaft in der heutigen Zeit dominierend ist (z. B. 28

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Adler 2003:209 f.; Janich 2008:32; Schlicht 2007:201), dann kommt einer Reflexion und Analyse dieser Einstellung eine hohe Bedeutung zu. Es soll deshalb in diesem Buch geklärt werden, ob und wenn ja, welche Fehler die naturalistische Einstellung beinhaltet. Sollten sich Fehler finden lassen, so ist zu ergründen, warum die Naturwissenschaft dennoch die bisher erzielten Erfolge erbringen konnte, warum sie sich ihrer großen Beliebtheit erfreuen kann, welche Alternativen es zu ihr gibt und welche von diesen berücksichtigt werden müssen, um optimal zur Gesundung eines Patienten beizutragen. Die gewonnenen theoretischen Erkenntnisse werden auf die praktische Arbeit einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie angewendet.

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1 Wissenschaftliche Menschenbilder als Mensch-Welt-Konzepte

In der Wissenschaft wird danach gestrebt, in ihrem jeweiligen Theoriekomplex die wesentlichen Merkmale des Erkenntnisgegenstandes adäquat abzubilden, um auf dieser Grundlage Empfehlungen für die Praxis auszusprechen und diese zu verantworten. Der Wissenschaftler hält sich an intersubjektiv geltende Regeln und ist bestrebt, seine Argumente logisch konsistent, kohärent und stringent vorzutragen (vgl. z. B. Gutmann & Rathgeber 2010:69; vgl. Prohl 1991:380). Die Philosophie ist einerseits selbst eine Wissenschaft, fungiert darüber hinaus jedoch auch als Instrument zur metatheoretischen Kritik. Sie betrachtet die Prämissen und Vorgehensweisen der Wissenschaft im Allgemeinen und bezüglich verschiedener Fachwissenschaften im Speziellen. Die Philosophie beschäftigt sich u. a. mit dem Wesen des Menschen. Ihre Themengebiete lassen sich in Anlehnung an die vier Fragen Kants in folgende Bereiche teilen: 1. »Was kann der Mensch wissen?« (Erkenntnistheorie), 2. »Was soll der Mensch tun?« (Ethik), 3. »Was darf der Mensch hoffen?« (Religion) (Frick 2009:9; vgl. Störig 2011:27). Zur Beantwortung der 4. Frage »Was ist der Mensch?« (Anthropologie) wird das Verhältnis von Leib und Seele thematisiert. Dies führt u. a. zu den Folgefragen, wie das Leibliche bzw. Seelische erfasst werden kann und in welcher Beziehung der Mensch zu sich selbst und zur Welt steht. Als Antwort ergibt sich das wissenschaftliche Menschenbild als Konzept über das Wesentliche des Menschen, das systematisch, reflektiert und (mehr oder weniger) konsistent fundiert wurde. Um der bedeutenden Rolle des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt gerecht zu werden, werden alle Überlegungen bezüglich des wissenschaftlichen Menschenbilds im Folgenden als Mensch-Welt-Konzepte bezeichnet. Aus den MenschWelt-Konzepten ergibt sich das bereits thematisierte philosophische Leib-Seele-Problem (vgl. Tamboer 1994:26 ff.). Die Leib-Seele-Betrachtung umfasst alle Überlegungen, die versuchen, das Verhältnis

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von Leib und Seele zu ergründen und setzt eine vorhergehende Klärung der Termini voraus: Der Leib 7 wird im Alltag zumeist als antiquierter Begriff für Körper oder innerhalb des reflektierten Leib-Seele-Problems explizit als belebter bzw. beseelter Körper verstanden (vgl. Buytendijk 1967:27; vgl. Brugger & Schöndorf 2010:267 f.). Was der Begriff Seele bedeutet und was die Seele ist, wird, abhängig vom ideologischen Standort, höchst unterschiedlich aufgefasst. Der Begriff Seele bezeichnete ursprünglich einen Lufthauch oder Atem. Sie ist zumeist als Negativum bestimmt: das Un-sichtbare, das Un-körperliche, das Un-sterbliche, das Nicht-messbare, das Nicht-wahrnehmbare etc. (Sommerfeld 2007:22 f.). Eine operationale Definition gibt es laut Schipperges (2002:117) nicht. Die Seele wird in der vorliegenden Arbeit verstanden als das, was den Menschen befähigt zu denken, zu fühlen, sich etwas vorzustellen, zu empfinden etc. Sie bezeichnet den subjektiven Aspekt des Menschen und wird nicht in naturalistischer Sicht als Neuronenansammlung im Gehirn verstanden. Ausgehend von ihrem Bedeutungsursprung dienen die Begriffe Seele und Psyche als Synonyma füreinander. Abzugrenzen ist beides vom Geist: Plessner unterscheidet hier die tierische zentrische und die menschliche exzentrische Positionalität (Meinberg 1986:136 ff.; vgl. Plessner 2003b:396 ff./VIII; Seewald 1996:27). Der Geist oder die exzentrische Positionalität bedeutet »die Fähigkeit der Abstandnahme«, wodurch die Umwelt zur Welt sachlichen Charakters wird (Plessner 2003b:64/VIII). Sie ermöglicht erst ein Selbstbewusstsein, d. h. die »Fähigkeit zur Reflexion, also wissendes Sein, das die gegebenen Situationen gegenständlich zu erfassen vermag« (Buytendijk et al. 1963:5). Während das Tier ganz im Bedeutungsgefüge der Situation aufgeht, steht der Mensch dieser auch stets gegenüber. Nach dieser Geist-Definition kann sowohl dem Menschen als auch dem Tier eine Seele zugesprochen werden, jedoch besitzt nur der Mensch einen Geist. Zu der Frage, wie sich der Leib und die Seele zueinander verhalten, lassen sich grundsätzlich zwei ontologische Anschauungen – der Monismus und der Dualismus – unterscheiden. Die Anhänger des Substanzdualismus, wie Platon, Leibniz und Descartes, sind der MeiIn der Geschichte des Leib-Seele-Problems wurden die Begriffe Körper und Leib undifferenziert verwendet (Prohl 2010:223). Erst im Zusammenhang mit der phänomenologischen Philosophie wurden diese explizit unterschieden (siehe Kapitel 1.4.4).

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nung, dass alles Seiende auf der Welt in zwei Substrate aufzuteilen ist, nämlich in das Materielle und in das Seelische. Vertreter des materiellen Monismus, wie etwa La Mettrie, postulieren, dass alles Seiende auf der Welt auf eine Grundsubstanz, nämlich die Materie, zurückgeführt werden könne. Der materielle Monismus oder auch Physikalismus bzw. Naturalismus (Fahrenberg 2008:34), nach dem sämtliche menschlichen Aspekte mit den Methoden der Physik zumindest in Zukunft erfasst werden können, ist als ontologische Anschauung heutzutage am weitesten verbreitet (Brugger & Schöndorf 2010:316.; vgl. Janich 2008:30 f.). Der Substanzdualismus und der Naturalismus beschreiben zwei Extrempole, die unterschiedlichen Zwischenpositionen wie dem Aspektdualismus, dem Doppelaspekt, der Komplementarität oder dem phänomenalen Monismus Platz bieten. Es können verallgemeinert zwei Wissenschaftsauffassungen unterschieden werden, die eine wissenschaftliche Untersuchung, Erfassung und Reflexion des Menschen prägen: 1. Die Naturwissenschaften, wie z. B. die Biomechanik, Biologie, Physiologie, Anatomie. Sie streben nach objektiven und vergleichbaren Ergebnissen, die durch Experimente mittels einer Beobachtung und Registrierung von Phänomenen oder messend hervorgebracht wurden und betrachten den Menschen in seiner Materialität. Hier wird nach einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis geforscht, um Naturgesetze zu entdecken. 2. Die geisteswissenschaftlich orientierten Wissenschaften, wie die Pädagogik, Phänomenologie, die verstehende Psychologie, wie z. B. die Psychoanalyse, 8 oder die humanistische Psychologie. Sie betrachten den Menschen und die Beziehung zwischen Mensch und Welt in ihren individuellen Gegebenheiten und deren Gesetzmäßigkeiten. In diesen Wissenschaften wird auch der Vergangenheitsbezug und die Zukunftsorientierung des Menschen inklusive dessen bedürfnis-, motiv- und zielgeleitetem Handeln erforscht (vgl. Janich 2006:79 f.). Freuds Psychoanalyse ist ein Sonderfall: Freud verglich den Menschen im materialistischen Sinn mit einer Maschine, was die verwendeten Begriffe wie Trieb, Energie etc. erklärt. Er vertrat die Meinung, dass die physikalischen Methoden in Zukunft dafür geeignet sein werden, Krankheiten wie Neurosen oder Psychosen zu begreifen und zu heilen (Freud 2001:77; v. Uexküll 1992:25). Somit sah er den Menschen als physikalisches Objekt (sensu Naturwissenschaft), ging erkenntnistheoretisch jedoch bedeutungsintegrierend, also hermeneutisch (sensu Geisteswissenschaft) vor.

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Dilthey (1990:144) unterschied grundsätzlich zwischen erklärender Wissenschaft, in der beobachtbare Ereignisse auf Gesetzmäßigkeiten zurückgeführt werden, und verstehender Wissenschaft, in der der Sinn von Handlungen interpretiert wird 9: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« (Dilthey in Mattner 1987:20). In der wissenschaftlichen Literatur der letzten drei Jahrzehnte finden sich zahlreiche Aussagen von Vertretern naturwissenschaftlich und geisteswissenschaftlich ausgerichteter Disziplinen, die eine starke Ablehnung des jeweils »anderen Lagers« erkennen lassen. 10 So wird in zahlreichen Arbeiten mit geisteswissenschaftlich-sportpädagogischer Orientierung darauf hingewiesen, dass Modelle, mit denen einzelne Aspekte des Menschen beleuchtet werden sollen, nicht auf das ganze Original übertragen werden dürfen. Des Weiteren wird aus dieser Richtung – zumeist implizit – naturwissenschaftlich orientierten Disziplinen vorgeworfen, ein unzureichendes oder fehlerhaftes Menschenbild zu besitzen (vgl. Mattner 1987:19 ff.; vgl. Müller & Trebels 1996:138; vgl. Prohl 2010:13 f.; vgl. Thiele 1995:64) Auf diesen Vorwurf reagieren z. B. Mechling & Munzert (2003:16) mit Unverständnis: »Der bisweilen von mehr geisteswissenschaftlich orientierter Seite erhobene Vorwurf, eine verkürzte Sicht auf den Menschen, kurz ein falsches Menschenbild zu haben, ist unsinnig«. Auf dem Gebiet der Philosophie hat sich der Streit um das zutreffende Menschenbild auf das Geist-Gehirn-Verhältnis zugespitzt (Fuchs 2008:109). Auf Seiten der Neurobiologie wird behauptet, dass das, was vom Menschen als Bewusstsein aufgefasst wird, im Sinne neurobiologischer, also letztlich physikalischer Forschung komplett erfasst In der Literatur (z. B. Janich 1997:69 f.) wird eine solche Zweiteilung kritisiert, da in jeder Wissenschaft verschiedene Methoden zum Einsatz kommen. So muss z. B. ein Naturwissenschaftler seine empirisch gewonnenen Ergebnisse hermeneutisch deuten. Dennoch scheint eine Unterscheidung nach Dilthey deshalb gerechtfertigt, da sie das Hauptinteresse des wissenschaftlichen Tuns verdeutlicht. Dass jede wissenschaftliche Handlung nur mithilfe verschiedener – auch vorwissenschaftlicher – Bezüge auskommt, wird in Kapitel 2 erläutert. 10 Zwar sind Fikus (2001:99) und Seewald (2001:147) der Meinung, dass mittlerweile eine friedliche Koexistenz zwischen den Verfechtern der geisteswissenschaftlichen und der naturwissenschaftlichen Methoden innerhalb der Sportwissenschaft zu beobachten ist: »Nur noch einige wenige hartgesottene Vertreter des methodischen Monismus führen entschiedene Nachhutgefechte« (Seewald 2001:147). Jedoch zeigen die weiteren Ausführungen in diesem Buch, dass es noch nicht zu solch einer friedlichen Koexistenz gekommen ist. 9

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und beschrieben werden kann (z. B. Roth 2003, 2004; Singer 2004; 2006). Vertreter der Analytischen Philosophie wie Wingert (2004, 2006, 2008) und Hartmann (2006) widersprechen hier und erachten die Erforschung des Bewusstseins aus der naturalistischen Perspektive per se als unmöglich. Diese Meinung vertreten auch phänomenologisch orientierte Wissenschaftler wie Husserl (1962), MerleauPonty (1974, 1976), Fuchs (2000, 2006a, 2006b, 2008), Plügge (1967) sowie aus medizinisch-anthropologischer Sicht v. Weizsäcker (Gesammelte Schriften I-X). Nachfolgend werden vier Mensch-Welt-Konzepte vorgestellt, denen eine unterschiedliche Interpretation des Leib-Seele-Verhältnisses und des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt zugrunde liegt. Die ersten beiden Konzepte werden in der Medizin und der Sportwissenschaft in den westlichen Industrieländern zurzeit am häufigsten verwendet. Die zwei anschließend vorgestellten MenschWelt-Konzepte gründen auf der Medizinischen Anthropologie nach Viktor von Weizsäcker bzw. auf der Phänomenologie nach Maurice Merleau-Ponty. Beide Autoren beschäftigten sich intensiv sowohl mit der menschlichen Bewegung und Wahrnehmung als auch mit dem Leib-Seele-Problem und dem Verhältnis zwischen Mensch und sozialer sowie materieller Welt. Die gewählte Reihenfolge der vier vorgestellten Mensch-Welt-Konzepte ergibt sich daraus, dass das erste Konzept den Menschen primär als materielles Objekt erkennt. Die darauffolgenden Mensch-Welt-Konzepte beachten zunehmend das Subjekt im Menschen, bis innerhalb der Phänomenologie der objektive physikalische Körper keine Relevanz mehr hat und stattdessen der phänomenale Leib des Subjekts im Fokus steht.

1.1 Der Mensch naturwissenschaftsorientiert erklärt und verstanden Sämtliche naturwissenschaftliche Disziplinen, die nach den quantitativen Gesetzmäßigkeiten des Menschen suchen, unterliegen den physikalischen Paradigmen. Hierzu zählt auch die Biologie, die zwar Lebewesen untersucht, sie jedoch unter den Gesetzen der Physik (Materialismus, Kausalgesetz etc.) betrachtet (Falkenburg 2006:43; Schmitz 2010:24). Daher besteht methodologisch gesehen kein Unterschied, ob ein belebter oder unbelebter Gegenstand erforscht wird. Gleiches gilt für die naturwissenschaftlich orientierte Psychologie, 34

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namentlich z. B. der Behaviorismus. Als Leitwissenschaft für die Naturwissenschaften fungiert die Physik aufgrund ihres materiellen, kausalen, experimentellen, quantitativen und theoriebildenden Charakters (Brugger & Schöndorf 2010:322; Falkenburg 2006:43; Janich 2008:33 ff.; Schmitz 2010:24). Es existiert zwar nicht die eine Naturwissenschaft (Demmerling 2008:242; vgl. Falkenburg 2006:64), jedoch können fundamentale Gemeinsamkeiten festgestellt werden, die nachfolgend eine Verallgemeinerung rechtfertigen: Alle Naturwissenschaften 1. gehen vom metaphysischen und wissenschaftlichen Realismus sowie vom Objektivismus aus (Schlicht 2007:168; Hartmann 2006:106 f.), 2. liegen den Paradigmen der Physik zugrunde (Brugger & Schöndorf 2010:322; Falkenburg 2006:43; Schmitz 2010:24; v. Weizsäcker 1987c:15), 3. erlangen ihre Ergebnisse durch Experimente und streben danach, die Situationen bei unterschiedlichen Messungen zu homogenisieren (Brugger & Schöndorf 2010:322; vgl. Fuchs 2008:258; vgl. Gadamer 2010a:12), 4. verzichten in ihrer Betrachtung auf teleologische Bezüge (Brugger & Schöndorf 2010:322; vgl. Fuchs 2006b:339) und erklären Phänomene stattdessen durch Herstellung von Ursache-Wirkungs-Bezügen (Brugger & Schöndorf 2010:322; Fuchs 2006b:339; Janich 2009:58), 5. streben danach, quantitative (unter der Vernachlässigung qualitativer) Aspekte durch Messungen zu erfassen, um hieraus auf Gesetzmäßigkeiten zu schließen (vgl. Prohl 1991:370; vgl. Schmitz 2010:24), 6. betrachten ihr Erkenntnisobjekt aus der Dritte-Person-Perspektive. Naturwissenschaftler nehmen eine Beobachterrolle ein (Fuchs 2008:88 ff.). Das Ziel der Naturwissenschaften ist es, Ereignisse oder Phänomene zu erklären, d. h. auf allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, indem sie Kausalzusammenhänge im euklidischen Raum und der physikalischen Zeit aufzeigen (vgl. Brugger & Schöndorf 2010:322; vgl. Hartmann 2006:109; vgl. Prohl 1991:370). Um dieses zu erreichen, muss eine Abstraktion von allen subjektiven Kategorien (des Beobachters und des Beobachteten) erfolgen, mithilfe derer eine Objektivierung des Beobachters und des Erkenntnisgegenstands erfolgen soll. Das Streben nach Objektivität ist ein Streben nach einer Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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verminderten Abhängigkeit von individuellen, veränderlichen und damit schwer vergleichbaren personen- oder artspezifischen Gesichtspunkten (vgl. Kimura 2000:192). Die Einführung der naturwissenschaftlichen Methode und die hiermit einhergehende Reduktion auf Ursache-Wirkungs-Verhältnisse ermöglichte historisch betrachtet die Abkehr von der spirituellen Gedankenwelt des ausgehenden Mittelalters (siehe Kapitel 4.5.1). Die Wissenschaft konnte auf den Boden nachweisbarer Tatsachen befördert und fort von mystischen Glaubensrichtungen der Kirche bewegt werden. Qualitative und somit uneindeutige Erkenntnisse wurden zugunsten quantitativer eindeutiger Daten aufgegeben (vgl. Meyer-Drawe 2006:195; vgl. Rappe 2012:32 ff.; vgl. Tamboer 1994: 31 ff.). Galileo Galilei ist es gelungen, mittels der strengen Anwendung von mathematischen und idealisierenden Methoden, das Subjekt aus der wissenschaftlichen Betrachtung auszuschließen (Entanthropomorphisierung) und die Phänomene der Welt objektiv, d. h. subjektunabhängig und exakt zu beschreiben und zu begründen. Während Aristoteles noch alles Seiende in der Welt als Streben auf etwas hin deutete (finale oder teleologische Gründe), sah Galilei jeden Vorgang in der Welt als Folge bzw. Wirkung einer zuvor eingetretenen Ursache (Kausalnexus) (vgl. Falkenburg 2006:45 ff.; Mutschler 2011:27 f.; Tamboer 1994:22). Insbesondere die Arbeiten des französischen Philosophen, Mathematikers und Naturwissenschaftlers René Descartes (1596–1650) ermöglichten den Einzug der mechanistisch-maschinistischen Ansichten über den Menschen in die Philosophie und hierdurch auch in praxisleitende Wissenschaften wie die Heilkunde (vgl. Merker 2011: 251). Allerdings war der gottgläubige Descartes der Ansicht, dass es einen »Bereich« des Menschen gibt, der weder sichtbar noch physikalisch messbar ist und offensichtlich physikalische Gesetzmäßigkeiten nicht einhält. Er glaubte daher, dass der Mensch aus zwei selbstständig, jedoch interaktionistisch existierenden Substanzen (res extensa: der ausgedehnte und materielle Körper und res cogitans: das nichtausgedehnte immaterielle Bewusstsein) besteht (Gadamer 2010a:184; Gloy 1996:63; Perler 2008:268 ff.). Den Ort der Wechselwirkung dieser zwei Substanzen vermutete Descartes in der Zirbeldrüse (Epiphyse) (Schlicht 2007:203; Wesiack 1989:293). Die ursprüngliche, bereits durch Aristoteles erarbeitete Konzeption der Einheit von Leib und Seele zerfiel in dieser Zeit durch die Zerlegung des Menschen in eine »Gliedermaschine und ein denkendes Wesen« (Carrier & Mittelstraß 36

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1989:17). Newtons Mechanik-Lehre beeinflusste maßgeblich die Interpretation über den Menschen, fort vom cartesianischen Substanzdualismus und hin zu einem materiellen Monismus. Der Mensch wurde nun als Maschine interpretiert, d. h. als System materieller Substanzen, welches komplett auf Naturgesetze im Sinne des Ursache-Wirkungs-Prinzips zurückzuführen ist. Das Werk von La Mettrie mit dem programmatischen Titel »L’homme machine« (1748) wurde wegen der Abkehr von nicht-physikalisch erfassbaren Sphären wie die Seele zum Symbol für die grundsätzliche Emanzipierung des Menschen von der christlichen Kirche, die gerade der Seele einen höheren Stellenwert einräumte als dem schwachen Körper (vgl. Meyer-Drawe 2006:195 ff.; Störig 2011:424). Der Mensch war nun kein dualistisches Wesen mehr, sondern vergleichbar mit einer Uhr, die sich selbst aufziehen konnte (Meyer-Drawe 2006:196). Die Berücksichtigung der Newton’schen Mechanik in medizinischen Bereichen verfestigte sich am Anfang des 19. Jahrhunderts zusätzlich und führte zur reduktionistischen Denkweise, die zunächst u. a. durch die Erkenntnisse der modernen Physik (Chaostheorie, Komplementarität) als überwunden schien, jedoch aufgrund der großen Erfolge bis heute im gesamten Gesundheitswesen dominierend ist (Adler 2003:209). Die bekanntesten Vertreter einer solchen mechanistischen Denkweise waren der Physiologe und spätere Lehrer Freuds Ernst von Brücke sowie die Bakteriologen Pasteur und Koch (Meyer 1992:35). Sie vertraten die Auffassung, dass alle Lebensvorgänge in den Organismen und somit auch im Menschen durch die Erforschung von Naturgesetzen, welche die kleinsten Bauelemente lenken, vollständig erfasst werden können; der Mensch ließe sich somit auf seine Materialität reduzieren (eliminativer oder reduktiver Monismus). Bis heute ist die Medizin von dieser reduktionistischen Einstellung geprägt, nach der ein Vergleich zwischen Mensch und Maschine die wesentlichen Merkmale der menschlichen Handlung aufzeigt (v. Uexküll & Wesiack 2003:4 ff.). Durch die Aufnahme der klassisch-physikalischen Methode konnte die Humanwissenschaft Forschung betreiben, die den Grundstock für die heutigen Erfolge bildete. Der Reduktionismus ermöglicht es, komplexe Phänomene des menschlichen Körpers in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen zu erklären, und hilft so, den Menschen und die Welt besser zu verstehen. Durch die naturwissenschaftliche Forschung wurde das Leben leichter und es konnten unzählige Erfolge möglich werden, wie z. B. leidfreie Operationen Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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mittels Anästhesie (Entralgo 1987:41 f.; Meyer-Abich 2010a:76; v. Uexküll 2002:4; v. Weizsäcker 1987a:17/V). Plügge (1967:94) schreibt deshalb, dass die Legitimität einer naturwissenschaftlichen Reduktion niemand bezweifelt. Jedoch wird die reduktionistische und kausalistische Vorstellung und insbesondere deren Anspruch auf Allgemeingültigkeit kritisiert, in der die Formeln und Modelle der naturwissenschaftlichen Technik als allgemeine Wahrheit hypostasiert werden (vgl. Mutschler 2011:32 f.). Somit ist zu verstehen, wenn v. Weizsäcker (1987b:22/VII) schreibt, dass exakte Naturwissenschaft nicht zu wollen unmöglich sei. Jedoch führt er sogleich eine fundamentale Einschränkung ein: »aber mit der allein eine Menschenkenntnis zu begründen[, ist] ebenso unmöglich« [Hervorh. v. Original verändert]. Die notwendig eingeschränkte Sichtweise der physikverhafteten Naturwissenschaft auf objektive Aspekte des menschlichen Körpers schärft nicht nur den klaren Blick auf alle substanziellen Zusammenhänge, sondern sie blockiert gleichermaßen den Blick auf Wesenheiten und Bezüge des Menschen, die mit physikalischen Mitteln nicht erfasst werden können. Im Folgenden wird untersucht, welche Konsequenzen die Nutzung ausschließlich physikalischer Paradigmen auf die Betrachtungsmöglichkeit auf den Menschen hat und wie sie auf das Menschenbild im Sinne des Mensch-Welt-Konzepts wirken.

1.1.1 Das naturwissenschaftliche Experiment Wie bereits erwähnt, ist die klassische Methode der Naturwissenschaften zur Erforschung der Lebensvorgänge das Experiment (Janich 2009:58). Wissenschaftliche Beobachtungen müssen hierbei möglichst personenunabhängig und technisch reproduzierbar sein. Um das Ziel aller Naturwissenschaften, nämlich die Reduktion beobachtbarer Phänomene auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten, zu gewährleisten, ist 1. ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herzustellen. Hierfür muss 2. das gesamte Experiment aus jeglichem weltlich-situativen Kontext abstrahiert werden und 3. das Phänomen aus der Beobachterperspektive erfasst werden; der Mensch wird als Subjekt ausgeklammert und als objektiver Gegenstand betrachtet (vgl. Dürr in Dürr 1997:41; Falkenburg 2006:43; Fuchs 2008:88 ff., 258; Janich 2009:150). Mit der ersten Maßnahme wird der Mensch als Erkenntnis38

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gegenstand auf einen Organismus, der naturkausalen Gesetzen unterworfen ist, reduziert. Die Fokussierung auf Kausalverhältnisse führt zur Herstellung des Zusammenhangs zwischen einem Ausgangswert in der Vergangenheit und einem Gegenwartswert. Die Veränderung (Wirkung) zwischen beiden Werten wird aufgrund eines Einflusses (Ursache) hervorgerufen. Die Beziehung, die zwischen Ursache und Wirkung hergestellt wird, wird durch die Vorannahme ermöglicht, dass die Gegenwart ausschließlich durch die Vergangenheit bestimmt wird. Die Zukunft wird innerhalb des Experiments als Ursache für eine Veränderung des Ausgangswertes ausgeschlossen. 11 Um eine maximale Objektivierung zu gewährleisten, wird, wie bereits beschrieben, außerdem danach gestrebt, die Versuchssituation zu homogenisieren, also den Forschungsgegenstand von der individuell-situativen Welt abzukoppeln (Fuchs 2006b:348; vgl. Janich 2009:104, 152 ff.; vgl. v. Weizsäcker 1997:255/IV). Wenn jedoch der weltlich-situative Kontext, die Zukunft als Zeitmodus und Sinn- sowie Bedeutungsaspekte aus der Betrachtung des Menschen ausgeklammert werden, entfallen wichtige Bezugsanker, um Lebensvollzüge wie Bewegungshandlungen zu ergründen (vgl. Falkenburg 2006:52). Um die Tatsache, dass von Sinn und Bedeutung abstrahiert wird, später kritisch betrachten zu können, müssen beide Begriffe zunächst beleuchtet werden. Der Begriff Sinn wird in der deutschen Sprache in mehrfacher Bedeutung verwendet. Der Sinn einer Handlung realisiert sich über Ziele, die als Abbildungen einer zukünftigen Wirklichkeit gelten (vgl. Bornet 1996:155 ff.). Der Sinn eines Lebensvollzugs kann deshalb erst erfasst werden, wenn das in der Zukunft liegende Ziel vermutet wird oder bekannt ist. Somit ist der Einbezug der Zukunft und der Welt die unabdingbare Voraussetzung für die Erfassung des Sinns und ein Grund dafür, dass jeglicher Sinn der Physik verborgen bleiben muss. Sinn präsentiert sich also als Begriff, der anzeigt, inwieweit eine Handlung der Erreichung der Absicht bzw. dem Zweck entspricht. Ursprünglich lag die Bedeutung des Begriffs »Sinn« dem der Ortsbewegung zugrunde (Bornet 1996:155; vgl. Loosch et al. 1996:37). Jede Ortsbewegung ist stets ein Transfer von einem Ursprung oder Anfang

Die Zukunft ist in Kausalerklärungen nur insofern vorhanden, als dass aus dem Ursache-Wirkungs-Verhältnis eine Prognose erstellt werden kann. Sie ist somit die Folge, aber kein Bestandteil des Kausalgesetzes.

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zu einem Ziel. Jeder Sinn einer Handlung liegt daher in der Intention, die selbst einen Ausgangs- und Ankunftspunkt, einen Gesichtspunkt und ein Absehen voraussetzt. »Allen Bedeutungen des Wortes ›Sinn‹ zugrunde liegend finden wir den einen Grundbegriff eines Seins, das auf etwas hin, was es nicht selber ist, orientiert oder polarisiert ist […]« (Merleau-Ponty 1974:488). Der Sinn einer Bewegungshandlung kann also auch deshalb naturwissenschaftlich nicht erfasst werden, da etwas, das zwar auf etwas verweist, es selbst allerdings nicht ist, auch nicht gemessen werden kann. Aristoteles nannte Fragen, die sich auf finale Gründe, also Ziele oder Zwecke beziehen, Wozu-Fragen. Die Wozu-Fragen und ihre teleologischen Erklärungen werden jedoch ebenfalls aus allen Naturwissenschaften ausgeklammert, da für solche Erklärungen ein anthropozentrisches Erklärungsmuster benutzt werden muss, d. h. es wird davon ausgegangen, dass etwas nach einem Plan bzw. einem Vorsatz geschieht (Falkenburg 2006:45 ff.; vgl. v. Weizsäcker 1997: 255/IV). Das Bestreben der Naturwissenschaften im Sinne Galileis ist aber gerade die Entanthropomorphisierung (Falkenburg 2006:47). Hieraus folgt, dass Wozu-Fragen, die Handlungsmotive und Absichten untersuchen, sich nicht in naturwissenschaftliche Forschungen einbetten lassen. Wenn Absichten, Zwecke etc. nicht erfasst werden können, wird der Frage nach dem Sinn einer Handlung die Grundlage entzogen, denn Absichten und Zwecke bestimmen den Sinn einer Handlung. Jegliche Sinnfrage wird somit obsolet (Falkenburg 2006:45 ff.). Der Physiker Weinberg (in Mutschler 2011:8) schreibt entsprechend, dass »[j]e begreiflicher uns das Universum wird, umso sinnloser […] es auch [erscheint]«. Es ist allerdings so, dass die Physik aufgrund ihrer Forschungsmaxime alles Sinnhafte notwendig ausblendet und daher sinnfrei ist. Da ihre Resultate jedoch enorme Erfolge z. B. in der Medizin ermöglichen, ist sie dennoch sinnvoll und eben nicht sinnlos (Mutschler 2011:8). Darüber hinaus wird in der Hermeneutik der Begriff Sinn verstanden als das Ganze eines Komplexes, dem durch das Wissen oder Interpretieren von Teilaspekten nähergekommen werden kann (Gadamer 2010b:270 ff.). Eine Handlung ergibt für einen Beobachter z. B. dann keinen Sinn, wenn das von ihm vermutete oder bekannte Ziel des von ihm beobachteten Akteurs nicht mit dessen Bewegungshandlung in Einklang gebracht werden kann. Um den Sinn des Verhaltens einer Person erfassen zu können, muss ihre Absicht, wenn sie noch nicht bekannt ist, gedeutet werden. Der Terminus Bedeutung findet 40

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ebenfalls in der Literatur unterschiedliche Verwendungen (z. B. Bornet 1996:175 ff.): Wenn danach gefragt wird, was eine Tätigkeit oder ein Gegenstand bedeuten soll, so wird nach ihrem bzw. seinem Sinn (nach dem Zweck) gefragt. Auch wenn ein Wort »im Sinne von X« benutzt wird, sind Bedeutung und Sinn zueinander äquivalent. Neben den zwei weiteren Verwendungen des Begriffs Bedeutung, nämlich als Definition von etwas (to run bedeutet auf Deutsch laufen) und als Hinweis auf die Wichtigkeit von etwas für jemanden (es bedeutet mir viel = es ist wichtig für mich), wird er als intentionaler Gehalt von etwas als etwas für jemanden verwendet (siehe Kapitel 1.4.2) (vgl. Brugger & Schöndorf 2010:54 f.). Bedeutungen können aus unterschiedlichen Bezügen hervorgehen und sich daher stets verändern (vgl. Fuchs 2008:217). Die Bedeutung von etwas weist auf und ist immer gebunden an den gemeinten Gegenstand und die Situation: Der Ball kann im Sportunterricht für einen bewegungsunsicheren Schüler, wenn »Völkerball« gespielt wird, einer unmittelbaren Gefahr, aus dem Spiel auszuscheiden, entsprechen. Derselbe Ball ist, wenn ich 12 ihn von einer Tribüne aus weiter Distanz beobachte, ein spannendes Objekt, das keine Angst, sondern reines Interesse hervorruft. In beiden Fällen handelt es sich objektiv um denselben Gegenstand »Ball«. Subjektiv unterscheidet er sich jedoch wesentlich und zwar durch die unterschiedlichen Bedeutungsbezüge. Die Bedeutung eines Gegenstandes ist also weder dem Gegenstand als dessen Eigenschaft noch dem Subjekt als dessen Konstruktion zuzuordnen, sondern entsteht aus der Mensch-Welt-Beziehung (Gordijn in Tamboer 1979:17). Ein Ölgemälde etwa kann zwar an sich physikalisch bzw. chemisch bestimmt werden, jedoch kann die Bedeutung, die das Bild für den Betrachter hat, nicht erfasst werden. Zum Beispiel könnte die Provenienz, die Epoche oder der Ort des Entstehens für den Betrachter die Bedeutung des Bildes prägen. Dies ist naturwissenschaftlich nicht zu erfassen, gleichwohl etwa eine durch die Betrachtung hervorgerufene Erregung messbar wäre. Physikalische Prozesse wie die Aktivierung von Nervenzellen sind zwar notwendige Bedingungen intentionaler Zu-

Um den subjektiven Charakter des phänomenalen Erlebens zu verdeutlichen, wird in seinem Zusammenhang innerhalb dieses Buches, ebenso wie es in der Phänomenologie üblich ist und wie es auch Merleau-Ponty praktiziert, der »probeweise eine leibliche Sicht auf das Ich ein[nimmt]« (Seewald 1996:29), die erste Person genutzt.

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stände, können aber nicht deren Bezug auf ihren Gehalt erfassen (vgl. Fuchs 2008:217; Janich 2009:105 ff.; Mutschler 2011:93). Die Bedeutung als qualitativer Bezug zwischen Mensch und Welt kann aus allen Zeitmodi erwachsen. Wenn mich z. B. in der Vergangenheit ein harter Lederball am Kopf getroffen hat, so hat er für mich eine negative Bedeutung: Schmerz und Gefahr. Wenn ich in der Gegenwart versuche, einen Ball zu kontrollieren und er mir immer wieder verspringt, so dass ich von anderen verhöhnt werde, bedeutet er für mich eine Hinführung zur Scham, bedeutet eigenes Versagen etc. Wenn ich in der Zukunft in einer Ballsportnationalmannschaft spielen möchte, bedeutet der Ball für mich die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Weiterhin kann eine Bedeutung durch einen immer gleichen Bedeutungsbezug das ganze Leben bestehen. Dies ist etwa bei einem Datum der Fall, an dem ich Geburtstag habe. Die Bedeutung von etwas kann schließlich maßgeblich situationsabhängig sein. Wenn ein strenger Sportlehrer neben einem Kind steht und es barsch auffordert, auf einem Balken zu balancieren, um eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen, so bedeutet der Balken für das Kind die Gefahr, gescholten zu werden und zu versagen. Geht es jedoch spazieren und balanciert es über eine gleichartige Balanciermöglichkeit aus dem Wunsch heraus, sich zu bewegen und die Welt zu erkunden, dann stellt sie für ihn die Gelegenheit zur Freude und zur Spannung dar. Die Bedeutung und der Sinn sind mit physikalischen Mitteln prinzipiell nicht zu erfassen (Janich 2009:105 ff.; vgl. Fuchs 2008:57, 217).

1.1.2 Der Regelkreis und die Computermetapher Naturwissenschaftlich orientierte Theorien über die menschliche Wahrnehmung und Bewegung bedienen sich der Maschinen-Analogie. Durch die Reduktion des Menschen auf seine materiellen Aspekte ist dieser Vergleich möglich. In solchen Theorien wird die menschliche Bewegung in Innenaspekte (Motorik) und Außenaspekte (sichtbare biomechanische Ortsveränderung) aufgegliedert und als Prozess aufgefasst, der als eine »in der Zeit verlaufende Veränderung in einem Gefüge« verstanden wird (Buytendijk 1972:7). Gleichwohl innerhalb naturwissenschaftlicher Theorien, wie z. B. Programmtheorien, divergierende Ansätze vertreten sind, findet sich eine Gemeinsamkeit in der grundsätzlichen Annahme, nach der ein motorisches Programm als neuronale Repräsentationsstruktur die Durch42

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führung und Speicherung von Bewegung ermöglicht. Der Mensch wird als informationsverarbeitendes System verstanden, das wahrgenommene Umweltreize in zweckdienliche Bewegungen transformiert (Loosch et al. 1996:31 ff.). Innerhalb des Informationsverarbeitungsansatzes funktioniert die koordinierte Ausführung von Bewegung im Sinne des Regelkreises zusammengefasst dargestellt in der Reihenfolge Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung, Informationsabgabe, Informationsrückmeldung (vgl. Fikus 2001:90 f.; Loosch et al. 1996:32; vgl. Meinel & Schnabel 2007:41 ff.). Als naturwissenschaftlich orientierte Theorie zur menschlichen Bewegung und Wahrnehmung hat sich die kognitive Handlungstheorie etabliert. Handlungen werden hier als Einheiten verstanden, die auf das Erreichen von konkreten Zielen gerichtet sind (vgl. Prohl 1991:374). Diese bedürfen neben der eigentlichen Durchführung mittels motorischer Programme (Realisierungsphase) der Planung als gedankliche Vorausnahme der Bewegung und ihrer Folgen (Antizipationsphase) sowie der Reflexion als Soll-Ist-Vergleich, die eine Überprüfung der Erwartungen der Bewegungsleistung mit dem tatsächlich erzielten Ergebnis gewährleistet (Interpretationsphase) (Prohl 1996:102). Die Realisierungsphase wird anhand des Steuer- und Regelkreises beschrieben (Philippi-Eisenburger 1991:48). Verhaltensweisen des Menschen werden hier gemäß der Computermetapher maßgeblich von kognitiven Verarbeitungsprozessen konstituiert (Leist 1993:138). Wenn in solchen Bewegungstheorien, die den Menschen in seiner physikalisch messbaren Körperlichkeit untersuchen, die Willensfreiheit und somit Selbstverantwortung des Menschen nicht negiert werden sollen, muss eine zusätzliche Entität postuliert werden, die nicht an Naturgesetze gebunden ist. Es kommt notwendig zu einer Leib-Seele-Dichotomie: Einerseits ist der Mensch als Körper dem Ursache-Wirkungs-Prinzip unterworfen, andererseits ist er zukunftsorientiert, erkennt Sinn und Bedeutung in der Welt und handelt planvoll und zweckorientiert (vgl. Cho 2007:61; vgl. Schrödinger in Leist 1993:125; vgl. Tamboer 1994:30).

1.1.3 Von der Naturwissenschaft zum Naturalismus in der Neurobiologie Fragen bezüglich des Bewusstseins und insbesondere des menschlichen Bewusstseins, welche mit Fragen der Willensfreiheit korresAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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pondieren, nimmt sich die Neurobiologie als naturalistische Vertretung an. Sie beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Gehirn und Geist 13, das aus dem alten Leib-Seele-Problem hervorgegangen ist (Fuchs 2008:109). Die Neurobiologie geht davon aus, dass sich der gesamte Mensch, also auch dessen Bewusstsein, als neurobiologische Bausteine (zukünftig) komplett neurophysiologisch erklären lässt. 14 Während also die Naturwissenschaft als Methode in ihrem Erkenntnisstreben notwendig materialistisch ist, beschreibt der Naturalismus die Überzeugung, also die Ideologie eines Menschen, dass die der Naturwissenschaft zugrunde liegende Physik die gesamte Welt erschöpfend darstellen kann, und dass sie somit nicht nur eine bestimmte Zugangsweise, sondern die einzige Zugangsweise zum Wesen des Menschen verkörpert (vgl. Fahrenberg 2008:34; vgl. Janich 2006:79 f.; vgl. Mutschler 2011:16). Da das Bewusstsein aus Sicht der Neurobiologie durch Gehirnvorgänge als Naturprozesse bestimmt wird bzw. das Bewusstsein mit diesen Prozessen identisch ist, versucht sie, alles Geistige auf ihre physische Basis zu reduzieren, um es hieraus zu bestimmen, zu analysieren und zu erklären (vgl. Falkenburg 2006:57; Hartmann 2006:121). Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die Einnahme der unabhängigen und objektiven Beobachterperspektive des Forschers. Die Festlegung auf diese Dritte-Person-Perspektive ist jedoch problematisch: Eine absolute objektive Untersuchung, die den Zusammenhang zwischen subjektiven mentalen Ereignissen und objektiven Hirnaktivitäten ergründet, ist deshalb per se nicht möglich, da die physikalischen Messungen mit den Aussagen über die Bewusstseinserlebnisse des Subjekts, dessen Gehirn untersucht wird, verglichen werden müssen (Zweite-Person-Perspektive) (Fuchs 2011:272). Hier zeigt sich das grundsätzliche Problem der Introspektion in der Neurobiologie, denn das Bewusstsein, das Erleben, die Qualia etc. entzie-

In diesem Kontext wird sowohl seitens der Neurobiologie als auch der Analytischen Philosophie der ursprünglich umfassendere Begriff des Geistes, der nur dem Menschen zuzusprechen ist und das Selbstbewusstsein, die Freiheit, die Fähigkeit zur Moral etc. einschließt, auf das Bewusstsein reduziert, welches auch Tieren zukommt und das in Kapitel 1 als Seele definiert wurde (Brugger & Schöndorf 2010:154). 14 Zwar wird im »Manifest« (Elger et al. 2004:37) zugegeben, dass die Introspektion des Bewusstseins neurobiologisch nicht möglich ist, jedoch, so Sturma (2006:10), bleibt dieses Eingeständnis folgenlos. 13

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hen sich grundsätzlich der Beobachterperspektive. Solche Phänomene sind den individuellen Empfindlichkeiten zuzurechnen. Erst in der Erste-Person-Perspektive eröffnet sich die Welt des Bewusstseins und all seine zusammenhängenden Phänomene (vgl. Fuchs 2006b: 339; 2008:88 f.; vgl. Henningsen 2003:109 f.; Janich 2009:123; Quante 2006:141). Nur ich kann als einziger meine Schmerzen empfinden, allerdings kann ich einem Du meine Schmerzen mitteilen, bzw. die andere Person kann meine Schmerzen zum Teil miterleiden. Das eigene Erleben von Bewusstseinsinhalten, also der unmittelbare privilegierte Zugang, ist dennoch nur mir möglich, während jemand Fremdes durch Verhalten (z. B. Mimik) oder Sprechen mittelbar mit weniger großer Sicherheit von ihnen erfahren kann. Hierzu sei das bekannte Beispiel des Philosophen Thomas Nagel (2018:6 ff.) herangezogen: Es ist zwar möglich, eine Fledermaus mit ihrem Echolot als Wahrnehmungs- und Orientierungsorgan zu untersuchen und seine Funktionsweise empirisch zu bestimmen, der Mensch kann jedoch niemals wissen, wie es für die Fledermaus ist, die Welt mit einem Echolot wahrzunehmen, eben eine Fledermaus zu sein. Das Faktum des subjektiven Erlebens wird als das wichtigste Kennzeichen des Bewusstseins gesehen (z. B. Kimura 2000:191 f.; Nagel 1991: 11 ff.; Nagel 1991:11 ff.; Schlicht 2007:34 f.). Das Bewusstsein hat also keinen empirischen Charakter und kann deshalb mit den naturwissenschaftlichen empirischen Wissenschaften nicht erfasst werden. Das, was von ihnen tatsächlich gemessen werden kann, sind lediglich materielle Veränderungen. Auch moderne bildgebende Verfahren sind nicht in der Lage, bewusstseinshafte Phänomene wie Bedeutungen, moralische Werte oder andere subjektive Kategorien zu messen. Stattdessen ist es mit ihrer Hilfe möglich, physikalische Parameter in bestimmten Hirnarealen zu erfassen und zu visualisieren. Mit der funktionellen Magnetresonanztomographie lassen sich z. B. nur »Visualisierungen statistischer Berechnungen, also […] kompliziert hergestellte wissenschaftliche Konstrukte« herstellen (Fuchs 2008:73; siehe auch Brugger & Schöndorf 2010:66). Bei einer Gleichsetzung von Bewusstseinserlebnissen und Modellen, die aus der Visualisierung von Gehirnaktivitäten gewonnen werden, spricht Sturma (2006:196) von einem referenziellen Fehlschluss. Zwar werden Denktätigkeiten durch biologische Prozesse ermöglicht, sie dürfen deshalb jedoch nicht mit ihnen identifiziert werden. In der Naturwissenschaft häufig genutzte Metaphern unterliegen hingegen dem mereologischen Fehlschluss, mit dem FähigAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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keiten des gesamten Subjekts seinen Einzelteilen zugesprochen werden (Janich 2009:96). In Anlehnung an Anthony Kenny und John Searle sprechen Mutschler (2002b:334 ff.) und Keil (2003:1 ff.) hier auch von einem Homunculus-Fehlschluss (Homunculus = lat. kleiner Mensch). Ein solcher ist z. B. anhand der Buchtitel »Aus der Sicht des Gehirns« nach Gerhard Roth (ein Gehirn kann nicht sehen) oder »Das egoistische Gen« nach Richard Dawkins zu erkennen. Bei Letzterem wird eine menschliche Eigenschaft den Genen zugeschrieben, die sie nicht besitzen können, da eine egoistische Handlungsweise von Urteilen und moralischer Ausrichtung abhängig ist, die ein Naturobjekt nicht tätigen bzw. besitzen kann (Wingert 2004:198 ff.). Der Begriff »Homunculus-Fehlschluss« unterstreicht also die Tatsache, dass die Neurobiologie, deren wichtigstes Ziel es ist, den Menschen als Subjekt durch reine materielle Tatsachen zu verdrängen, in letzter Konsequenz auf ein Subjekt bzw. einen kleinen Menschen angewiesen ist, der nun als Gehirn, Gen etc. deklariert wird, aber dennoch Tätigkeiten wie Entscheidung, Abwägung und zweckorientiertes Denken vollführt, die sich physikalischen Messungen entziehen. Der Naturalist begeht einen weiteren Fehler, den Hartmann (2006:107) als zweiten naturalistischen Fehlschluss und Mutschler (2011:192) als Modellplatonismus bezeichnet, wenn bestimmte durch die Physik notwendig idealisierte und damit verzerrte theoriegeladene Modelle als Wirklichkeit angesehen werden. Hartmann (2006:97 ff.) und Janich (2009:46 ff.) beschreiben, dass Dinge wie Moleküle, Atome, Elektronen, Neuronen etc. erst durch intensive Bearbeitung das geworden sind, was heutzutage gemeinhin im Alltag und der Schulmedizin als Wirklichkeit aufgefasst wird. »Es ist eine dramatische, lange und von Zufällen, Irrtümern und Kämpfen begleitete Entdeckungsgeschichte, Teile des Hirns zu unterscheiden und die feineren Strukturen […] zu finden […]. Wenn heute schon der Laie von Neuronen oder gar von Axonen und Dendriten, von Synapsen und Ionenkanälen spricht, wird er wohl kaum ahnen, wie sich erst allmählich über Gewebe- und Zelllehren, Nervenwissenschaften, ideengeschichtliche Kontroversen usw. das heutige Bild des Gehirns als Organ durchgesetzt hat« (Janich 2009:44 f.). Es ist also nicht das Wirkliche, das die Neurobiologie beschreibt, sondern es sind Modelle und Annäherungen an die Wirklichkeit. Da im Naturalismus davon ausgegangen wird, dass die Welt materialistisch kausal geschlossen ist, muss notwendig die Willensfreiheit des Menschen negiert werden: Die Einzelteile wie Atome und 46

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Moleküle des Menschen werden als »Wirklichkeitsklötzchen« (Leist 1993:42) erkannt, die kausal aufeinander wirken. Die Wirkungen wurden selbst von Ursachen hervorgerufen, welche selbst Wirkungen von früheren Ursachen waren etc. Aus dieser Annahme ist zu schließen, dass das gesamte menschliche Handeln vorbestimmt, also determiniert ist. Ein freier Wille würde die geschlossene kausale Welt sprengen, denn der Wille wäre etwas Immaterielles, das auf die Materie wirkt, jedoch selbst nicht deren Gesetzen unterliegt (z. B. Habermas 2008:15 ff.; Wingert 2008:288 ff.). Hier zeigt sich der deutliche Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Naturalismus. Die Naturwissenschaft als Methode ist materialistisch. Dennoch kann der Naturwissenschaftler der Meinung sein, dass der Mensch eigenverantwortlich handelt, obgleich er dann notwendig in eine dualistische Leib-Seele-Position gerät. Der Naturalismus hingegen beschreibt die Überzeugung, dass die Welt (und somit auch der Mensch) in ihrer Totalität dem physikalischen Ursache-Wirkungs-Prinzip unterliegt. Er muss deshalb die Willensfreiheit und Eigenverantwortlichkeit des Menschen bestreiten. Pointiert zeigt sich das Problem in dem innerhalb der Analytischen Philosophie häufig vorgetragenen Trilemma, das drei Thesen aufführt, die häufig unreflektiert für die eigene Argumentation in Anspruch genommen werden, sich jedoch widersprechen: 1. Physisches und Mentales sind kategorial verschieden (Materie ist z. B. physikalisch messbar und räumlich ausgedehnt, Gedanken sind selbst nicht messbar und räumlich nicht ausgebreitet); 2. Mentales ist kausal wirksam (der Wille führt zur Bewegung; zur Will-kürBewegung); 3. Die physische Welt ist kausal geschlossen (für alle Vorgänge auf der Welt gibt es eine entsprechende vorherige Ursache) (z. B. Habermas 2008:15; Hartmann 2006:97; Mutschler 2011:63). Wenn also die 3. Prämisse als gültig erklärt wird (und das tut der Naturalist), muss entweder die 1. oder die 2. Prämisse falsch sein, denn entweder ist Mentales und Physisches kategorial verschieden (dann ist es weiterhin möglich, dass die physische Welt kausal geschlossen ist, allerdings gerät sie in den von ihr angefeindeten Substanzdualismus), oder Mentales ist kausal wirksam (hier wird Mentales als in der gleichen Kategorie befindliches Epiphänomen der physikalischen Welt verstanden). Während die Vertreter der kognitiven Handlungstheorie den beiden ersten Thesen anhängen, unterstützt ein Naturalist wie z. B. Roth (2003:179 ff.) die letztgenannte Lösung, weshalb er zwar die kausale Geschlossenheit des Materiellen bewahrt (dies ist das wichtigste Ziel des Naturalismus), er jedoch die Konsequenzen tragen und Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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die Willensfreiheit lediglich als Illusion akzeptieren muss. 15 Roth (2003:180) schreibt in Bezug zur Willensfreiheit, dass »[d]as bewusste, denkende und wollende Ich […] nicht im moralischen Sinne verantwortlich für dasjenige [ist], was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn ›perfiderweise‹ dem Ich die entsprechende Illusion verleiht […]. Wenn also Verantwortung an persönliche moralische Schuld gebunden ist, wie es im deutschen Strafrecht der Fall ist, dann können wir nicht subjektiv verantwortlich sein, weil niemand Schuld an etwas sein kann, das er gar nicht begangen hat und auch gar nicht begangen haben konnte«. Wenn nun postuliert wird, dass die Naturwissenschaft alles Seiende auf der Welt erfassen kann, ist das menschliche Handeln ebenfalls sinnfrei. Eine solche Behauptung ist jedoch insofern paradox, da bereits diese Aussage und die schon vorher betriebene entsprechende Forschung, die zu dieser Annahme führte, sinnhaft sein musste. Würde sowohl der Neurobiologe als auch sein Gegner naturkausal determiniert sein, wären auch beide kontradiktorischen Urteile Kausalergebnisse neuronaler Vorgänge. Die Frage nach der Willensfreiheit bliebe dann für ewig unentschieden und darüber hinaus als Produkte kausalen Geschehens ununterscheidbar (Janich 2006:91). Der Neurobiologe als willensfreies Subjekt hat sich jedoch für die neurobiologische Forschung entschieden, da es für ihn rechtfertigende Gründe gibt, dieser einen höheren Wert als anderen Theorien beizumessen und sie deshalb als geeignet zu erachten, den Menschen komplett zu beschreiben. Rechtfertigende Gründe und Sinn sind allerdings physikalisch, also im Rahmen neurobiologischer Forschung ebenfalls nicht zu erfassen (vgl. Schockenhoff 2004:166 ff.; Wingert 2004:198 ff.). Ebenso wie Ethik und Moral unterliegen auch rechtfertigende Gründe keinem Naturgesetz. 16 Ihre Inhalte sind nicht durch physikalische Forschung entdeckt, also gefunden, sondern im und durch das praktische Leben erfunden und stets implizit wirksam (Mutschler 2011:79).

Bestätigt sehen sich Vertreter des Naturalismus in einem in den 1980er Jahren bekannt gewordenen Experiment von Benjamin Libet (2004:268 ff.). Sämtliche Handlungsvollzüge, so die naturalistisch gedeuteten Ergebnisse des Experiments, sind bereits vor ihrer Ausführung festgelegt (siehe zur Kritik dieser Interpretation Geyer [2004]). 16 Unterlägen Handlungen und moralische Ansichten einem Naturgesetz, würde das bedeuten, dass sich ein Mörder oder Tierquäler darauf berufen könnte, dass sein Handeln einem solchen Gesetz und nicht seiner eigenen Entscheidung geschuldet sei. 15

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Die Überzeugung, dass dem Menschen ein freier Wille zu eigen ist, darf allerdings nicht missverstanden werden als Behauptung, dass dieser freie Wille unbedingt ist (vgl. Keil 2009:78). Um ein Bewusstsein zu besitzen und einen Willen zu realisieren, bedarf es materieller Prozesse, die naturwissenschaftlich untersucht werden können. Es handelt sich hier jedoch nicht um eine diachrone Determination im Sinne einer Bestimmung von Materie auf Bewusstsein, sondern um eine synchrone Determination als gegenseitige Bedingtheit von Gehirn und Bewusstsein bzw. Bewusstsein und Gehirn (ebd.:56). Beide Phänomene gehören unterschiedlichen Kategorie- und Gültigkeitssystemen an und sind wissenschaftlich zu erfassen, allerdings mit unterschiedlichen Methoden. Die Willensfreiheit wird somit nicht aufgegeben, denn es wird nicht behauptet, dass physiologische Prozesse den Willen bestimmen, es zu einem Zeitpunkt also notwendig zu einer einzigen ganz bestimmten Handlung kommen muss, sondern dass der Mensch fähig ist, sich zu besinnen und eine Handlung zu unterlassen oder zu modifizieren. Es gibt einen Spielraum offener Möglichkeiten, sich so oder anders zu verhalten (ebd.:27, 74). Ebenso bedeutet das Postulat des freien Willens nicht, dass menschliche Handlungen absolut zufällig und völlig frei von charakterlichen Dispositionen sind. Einem aggressiven Menschen fällt es tatsächlich schwerer, eine Konfliktsituation verbal zu lösen als einem pazifistisch eingestellten Menschen. Dennoch ist es grundsätzlich auch dem Aggressiven möglich, sich zu beherrschen und von einem körperlichen Angriff abzusehen, auch wenn er sich stärker gegen einen gespürten Widerstand stemmen muss (Fuchs 2006a:75 ff.; Keil 2009:29, 105). Es handelt sich also nicht um einen materiellen/charakterlichen Determinismus, sondern um eine materielle/charakterliche Disposition (Keil 2009:113). Auch wenn es z. B. bei kleinen Kindern, bei pathologischen Fällen wie schweren Psychosen und bestimmten Hirnschädigungen zu einer verminderten Möglichkeit der Steuerungsfähigkeit der eigenen Handlungen kommen kann, ist es grundsätzlich gerechtfertigt, dem Menschen die Verantwortung seines Handelns zuzusprechen (ebd.:25). Erst vor dem Hintergrund der Willensfreiheit ist auch Verantwortung, Schuld und hieraus resultierend Scham möglich, denn dadurch, dass dem Menschen das Vermögen von Einsicht und eines So-oder-anders-Handeln-Könnens zugesprochen wird, kann er für als falsch empfundene Handlungen verantwortlich gemacht werden. Schuld und die hierdurch ermöglichte Scham anzuerkennen, ist wiederum die Voraussetzung, die Möglichkeit zu akzeptieren, dass Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Krankheiten auch einem sozialen Konflikt entspringen und sinnvoll sein können und nicht ausschließlich durch physiologische Vorgänge verursacht werden. Diese Einsicht kann gegebenenfalls das Vorgehen innerhalb einer therapeutischen Intervention maßgeblich verändern (siehe Kapitel 3). Die Negierung der Willensfreiheit korrespondiert mit einer Auffassung, nach der der Mensch grundsätzlich nicht in der Lage ist, die Wirklichkeit als solche zu erfassen: Da der Mensch die Wirklichkeit erst, nachdem sie durch neurophysiologische Prozesse des Gehirns verzerrt wurde, wie durch einen Schleier sehen kann, ist es gemäß dem radikalen Konstruktivismus nicht möglich, die Welt so zu erblicken, wie sie tatsächlich ist. Es kann somit nicht mit letzter Bestimmtheit gesagt werden, ob es wirklich eine Welt gibt, oder ob sie lediglich das Produkt des eigenen Gehirns ist. Aus der Illusion der Willensfreiheit wird so die Illusion der gesamten Welt.

1.1.4 Kritische Betrachtung der Naturwissenschaft Die Computermetapher innerhalb naturwissenschaftlich orientierter Bewegungskonzepte ist ein Versuch, eine psychische Instanz in den menschlichen Körper zu integrieren, ohne den naturwissenschaftlichen Objektivismus aufzugeben. Leib und Seele verhalten sich demnach wie Hardware und Software (vgl. Henningsen 2003:104 f.; Mutschler 2011:95). Dieser Vergleich erlaubt es, dem Menschen eine Individualität zu verleihen, indem postuliert wird, dass unterschiedliche Erfahrungen im Menschen gespeichert werden, weshalb es zu unterschiedlichen Persönlichkeiten kommt. Mit dem Maschinenvergleich gehen Begriffe aus der Nachrichtentechnik wie Informationsweiterleitung, Prozesse, Daten, Kommunikation etc. einher. 17 So sollen Nachrichten und Informationen durch physikalische Prozesse übermittelt werden. Übersehen wird dabei allerdings, dass Nachrichten und Informationen stets einen Sinn- und Bedeutungsgehalt besitzen. Physikalische Prozesse sind jedoch Naturprozesse, die weder sinnvoll noch sinnlos, weder falsch noch wahr sein können; sie sind, wie sie sind, vorhanden (Janich 2009:72 f.). Es zeigt sich, dass in naSolche technizistischen Begriffe sind laut Janich (2009:71) fest im naturwissenschaftlichen Sprachgebrauch verankert, weswegen eine auf sie bezogene Kritik erfahrungsgemäß auf Unverständnis stößt.

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turwissenschaftlich orientierten Handlungstheorien zwar eine psychische Instanz in die Betrachtung des Menschen eingefügt wurde. Allerdings wird ein Kategorienfehler begangen, wenn sie in der Planungsphase einen »Innenbereich« des Menschen anhand von Vorstellungen, Absichten, Sinn, Gedanken etc. darstellt und die Realisierungsphase hingegen mithilfe der Programmtheorie, die sich auf die physikalische Welt bezieht, mit Begriffen wie Regler, Messfühler, elektrische Signale beschreibt (vgl. Fahrenberg 2008:29; Janich 2006:86 f.; 2009:68 ff.; Leist 1993:132 ff.). Beide Beschreibungen für sich sind in ihrer entsprechenden Kategorie richtig, dürfen aber nicht vermischt werden. Ein Stuhl ist für mich ein Stuhl, der eine Möglichkeit und Einladung ist, sich zu setzen und auszuruhen. Derselbe Stuhl kann für jemand anderen aber auch ein wertvolles, nicht zu berührendes antikes Museumsstück sein. Physikalisch beschrieben ist der Stuhl hingegen z. B. ein Gebilde aus vier Holzstäben und einer Holzplatte (es ist dann aber kein Stuhl als Stuhl). Beide Beschreibungen sind zutreffend, gehören aber unterschiedlichen Kategorien an und können daher nicht ineinander überführt werden. Signale, die physiologisch beschrieben werden, können deshalb ebenfalls nicht in eine bedeutungshafte, von einer Intentionalität abhängige phänomenale Welt des Bewusstseins transformiert werden. Nachfolgend wird ein Satz von Munzert (1995:78) zitiert, in dem ein Kategorienfehler begangen wird: »Eine spezifische Leistung des emotionalen Regulationssystems besteht darin, daß Reize oder Reizkonstellationen [physikalische Kategorie; M. U.] erfahrungsabhängig emotional ›etikettiert‹ [unbekannte Kategorie; M. U.] werden. Entsprechend können dann individuell erworbene Situationsbedeutungen [phänomenale Kategorie; M. U.] die Verhaltensmuster auslösen«. Wie und wo diese Etikettierung geschieht, kann nicht erklärt werden, da sie nach Leist (1993:133) wegen der zwei verwendeten unterschiedlichen Kategoriewelten »[e]in Ding der Unmöglichkeit« ist. Eine syntaktische physikalisch beschreibbare Maschine wie der Computer kann keine Semantik verarbeiten (Janich 2009:69). Die eingeführte psychische Instanz wird letztlich ähnlich wie im Behaviorismus als interne Box betrachtet, die einen Input in Form einer physikalischen Information erhält, sie berechnet und bewertet (hier unterscheidet sie sich vom Behaviorismus) und als Output weitergibt (vgl. Gröben 1995:125; vgl. Mutschler 2002b:337 ff.). Zwar fordert Munzert (1995:82) den stärkeren Einbezug von Erlebnissen in die Handlungstheorie, jedoch sind Erlebnisse für ihn entsprechend dem Computermodell »interne Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Repräsentationen« bzw. »Prozesse«, die als »verbale Daten« nach außen vermittelt werden können. Nicht die Einführung des Erlebnisses wird hier also gefordert, sondern die stärkere Berücksichtigung individueller interner Verarbeitung externer Reize. Der Begriff Erlebnis verliert hier seine semantische Berechtigung, denn das, was beschrieben wird, ist lediglich ein Vorgang lebloser Maschinen und nicht eine Bewusstseinsgegebenheit, die nur einem Lebewesen möglich ist. Das Bestreben der Neurobiologie als Vertreter naturalistischer Annahmen ist, das Bewusstsein und die Subjektivität zu naturalisieren, weshalb es in letzter Konsequenz auch zur Naturalisierung des LeibSeele-Problems kommt (vgl. Fuchs 2006b:343; vgl. Janich 2008:46). Es zeigt sich jedoch, dass die physisch-materielle Basis des Menschen nicht seine vollständige Determination zur Konsequenz hat (Thiele 1990:273): Bedeutungsbezug, Sinnhaftigkeit, Absicht, Ziele sind Lebensinhalte, die dem Menschen als Subjekt zugesprochen werden, die jedoch nicht in dem Bereich des physikalisch Messbaren zu finden sind. Die Anwendung der Biomechanik, der Physiologie, der Chirurgie etc. auf den Menschen ist dennoch nicht nur legitim, sondern auch uneingeschränkt notwendig (Thomas 1996:114 f.). Da der menschliche Organismus als biologisch-physikalischer Körper der räumlichphysikalischen Welt zugehörig und somit in ihrer Kausalität verflochten ist, kann er in seiner strukturellen und chemischen Beschaffenheit analysiert werden (Mattner 1987:22; 1996:89; vgl. Mechling & Effenberg 1999:47). Aus der nicht in Frage gestellten Notwendigkeit der materiellen Bedingung darf jedoch nicht der Schluss folgen, dass sie hinreichende Bedingungen für das Erleben, d. h. für das Bewusstsein oder für andere Lebensvollzüge sind (Falkenburg 2006:68). Die naturalistische Überzeugung, nach der der Mensch durch die Physik vollständig zu erfassen und somit auch (in Zukunft) beliebig manipulierbar ist, ist selbst kein naturkausales Ergebnis, sondern, so Janich (2006:92), eine »pseudophilosophische Folgerung«. Auch die Annahme, dass der Mensch die Welt nicht erkennen kann, wie sie ist, er sie stattdessen mit seinem Gehirn konstruiert, ist ebenfalls nicht aufrechtzuhalten. Es stellt sich dann nämlich die Frage, wie es dazu kommen kann, dass alles Mentale wie die Willensfreiheit, das Bewusstsein etc. als Täuschung »den Getäuschten [also den Neurobiologen; M. U.] selbst vortäuscht, der dann diese Täuschung auch noch zu durchschauen vermag« (Fuchs 2008:87). Wäre die naturalistische Annahme richtig, würde es sich so verhalten, wie wenn alle Menschen 52

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von Beginn ihrer Erkenntnisfähigkeit an eine Art »Milchglasbrille« trügen, sie also die Welt nicht sehen könnten, wie sie wirklich ist. Warum es jedoch dem Neurobiologen exklusiv möglich sein soll, diese Brille abzusetzen, um die Brillen der anderen Menschen zu untersuchen, kann nicht geklärt werden. Der Neurobiologe behauptet also, Aussagen über das Gehirn zu tätigen, wie es tatsächlich ist (denn ansonsten wären all seine Argumente sinnlos) und übersieht dabei, dass er aufgrund der von ihm postulierten Weltverzerrung (hervorgerufen durch sein eigenes Gehirn) das andere Gehirn gar nicht wahrnehmen kann, wie es tatsächlich ist. Seine eigene Theorie ist somit auf metaphysische Annahmen über die Wirklichkeit angewiesen, die die Theorie selbst widerlegen möchte, bzw. glaubt widerlegt zu haben.

1.2 Der Mensch als emergentes System Solange der menschliche Körper lediglich als Strukturkomplex in seiner physikalisch erfassbaren Gesetzmäßigkeit interessiert, wie etwa während einer Operation, können und müssen zum Teil subjektive Bezüge vernachlässigt werden (vgl. Gröben 1995:128). Ist das Interesse jedoch auf den Menschen als Person mit Lebensäußerungen wie Pläne, Absichten und Handlungen gerichtet, dann wird nach der finalen Kausalität gefragt, weshalb die Naturwissenschaft an ihre Grenzen stößt (vgl. Brugger & Schöndorf 2010:544). Das von Engel (1977:129 ff.) entwickelte biopsychosoziale Modell, welches insbesondere von Adler, v. Uexküll und Wesiack zu einer Integrierten Medizin weiterentwickelt wurde, beschreibt eine Ansicht, die die Einbindung des Individuums in eine soziale Umwelt ermöglicht. Es stellt sich gegen die Mechanisierung des Welt- und Menschenbilds. Das biopsychosoziale Modell ist der Versuch, der in der Wissenschaft und insbesondere in der Medizin geforderten objektiven Betrachtung Gehalt zu geben und dennoch den Menschen mit seiner Subjektivität einzubeziehen. Es wird in diesem Modell prinzipiell davon ausgegangen, dass alles Seiende auf der Welt aus Materie besteht und somit auch der Ursprung der Psyche im materiellen Bereich zu finden ist (v. Uexküll & Wesiack 2003:31). Während die Neurobiologie einem atomistischen Erklärungsmodell unterliegt, in dem die Zerlegung des Ganzen auf seine Einzelteile stattfindet, um es auf Modellebene zu erklären und später wieder zusammenzuAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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fügen, präsentiert sich das biopsychosoziale Modell als biologischsystemisch orientiert (vgl. Falkenburg 2006:61; vgl. Fuchs 2008:109; Jacobi & Janz 2003:11). Es ist das Ziel, mithilfe des biopsychosozialen Modells die verschiedenen Entitäten des Menschen als Systemebenen zu erklären und in einen Bezug zu setzen, ohne einen Kategorienfehler zu begehen. Hierfür ist das Konzept des lebenden Systems herangezogen worden (vgl. Otte 2001:149).

1.2.1 Funktionskreis, Situationskreis und die Semiotik Der Funktionskreis und der Situationskreis beschreiben innerhalb des biopsychsozialen Modells die Beziehungen zwischen Zellen, Organen, Organsystemen eines lebenden Organismus und Beziehungen zwischen dem Organismus und seiner Umwelt. Die beiden Kreismodelle verstehen die Reaktionen lebender Organismen auf Einflüsse ihrer Umgebung als Antworten auf Zeichen und nicht wie in der Physik als Wirkung von Ursachen (Adler 2000:5). Das Modell des Funktionskreises fasst Organismen als lebende Systeme auf, die über Rezeptoren und Effektoren in ständiger Nachrichten- oder Zeichenverbindung mit sich selbst und ihrer Umgebung stehen. Der Begriff »Merken« beschreibt die aktive Aufnahme und die Bedeutungserteilung von Einwirkungen durch Sinnesorgane. Die Merkmale von Objekten lösen eine Aktivität der »Wirkorgane« bzw. Effektoren aus. Durch das Wirken werden die Merkmale gelöscht. Der Unterschied zu kausalmechanischen Erklärungsmodellen besteht in deren Unterschlagung des Bedeutungsaspekts (siehe Abbildung 1). Das Objekt »Futter« existiert nur für das hungrige Lebewesen, für das gesättigte gibt es diese Bedeutung nicht mehr, so dass aus dem Objekt ein bedeutungsloses Stück Umgebung wird. Jedoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass jeder Zeichenprozess eines physikalischen Vorgangs bedarf, der in der Lage ist, die Rezeptoren des Empfängers zu verändern. Hieraus ist abzuleiten, dass das biomechanische Konzept einen Teilaspekt des biosemiotischen darstellt (v. Uexküll & Wesiack 2003:26).

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Merken Merkorgan (Rezeptor)

eutungserteilun g Bed

Subjekt Wirkorgan (Effektor)

Umgebung

Umwelt

Be

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t u n g s ve r w e r

Merkmal (Problem)

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Wirkmal (Problemlösung)

Wirken Abbildung 1: Der Funktionskreis (nach v. Uexküll & Wesiack 2003:30, eigene Darstellung)

Während sich der Funktionskreis, der vom Biologen Johann Jacob von Uexküll ausgearbeitet wurde, allgemein auf alle tierischen Lebewesen und menschlichen Säuglinge bezieht, bedarf es einiger Anpassungen, um der Sonderstellung des Menschen nach dem Säuglingsalter unter den Lebewesen gerecht zu werden. Hierfür wurde der Situationskreis von Johann Jacobs Sohn, dem Arzt Thure von Uexküll, konzipiert. In der Terminologie der Psychoanalyse 18 ausgedrückt, ist es nur dem Menschen möglich, sich von seinen Primärtrieben zu befreien, indem er zwischen Triebdrang und Triebbefriedigung eine psychische Instanz einbezieht. Diese Instanz nannte Freud in seiner zweiten Theorie des psychischen Apparats »Ich«. Das Tier ist im Gegensatz zum Menschen bereits früh nach seiner Geburt autark; Probleme durch »Merken« und »Wirken« kann es rasch selbst lösen. Der Mensch hingegen ist, um zu überleben, auf eine soziale Gesellschaft angewiesen. Die biologischen Funktionskreise sind deshalb vom ersten Lebenstag mit Anforderungen an die und von der Gesellschaft konfrontiert. Die lebensnotwendige Ergänzung infantiler Funktionskreise zwingt den Säugling zu einer Veränderung und Differenzierung primär biologischer Verhaltensweisen und damit zu einer Sozialisation biologischer

Die Psychoanalyse stellte grundlegende Erkenntnisse für das biopsychosoziale Modell bereit (vgl. v. Uexküll & Wesiack 2003:31).

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Funktionskreise (v. Uexküll & Wesiack 2003:31). Mit zunehmender Lebenserfahrung vergrößert sich die Toleranz gegenüber Bedürfnisspannungen, die sich aufgrund der zeitlichen Dauer zwischen Spüren von Bedürfnissen und dem motorischen Verhalten als Bedürfnisbefriedigung ergeben. In der weiteren Ontogenese erweitert sich das Ich und vergegenwärtigt immer deutlicher, dass Emotionen vorhanden sind, dass Handlungen ablaufen und dass sich Vorstellungen ergeben (Adler 2005:14). Dieser Entwicklungsprozess führt vom biologischen Funktionskreis zum Situationskreis. Mit der im Situationskreis zwischengeschalteten Imagination wird eine Bedeutungserteilung (Merken bzw. Sensus) und Bedeutungsverwertung (Wirken bzw. Motus) durchgeführt, die zunächst probeweise als Bedeutungsunterstellung durchgespielt werden können, bevor das Ich sie für die tatsächliche Motorik freigibt. Dieses Ich schaltet zwischen dem Triebanspruch und einer Bedürfnisbefriedigungshandlung die Denktätigkeit ein. Sie versucht nach Orientierung in der Gegenwart und der Verwertung vergangener Erfahrungen durch Probehandlungen den Erfolg der intendierten Unternehmung vorauszuahnen. In der Vorstellung wird die Situation quasi experimentell vorstrukturiert: Die Bedeutungserteilung erfolgt zunächst nur als hypothetische Bedeutungsunterstellung, woraus folgt, dass die Triebbefriedigung aufschiebbar ist (Adler 2000:12; v. Uexküll & Wesiack 2003:31 f.). Das biopsychosoziale Modell kann allerdings erst vollständig nachvollzogen werden, wenn die beiden Kreismodelle mit zwei weiteren Theorien verbunden werden.

1.2.2 Die Systemtheorie und die Emergenz Um zu verstehen, wie der Zeichenaustausch zwischen Lebewesen und Umgebung mit den Zeichen verknüpft ist, die zwischen den Zellen, Geweben oder Organen im Inneren des Organismus und deren Umgebung ausgetauscht werden, muss das Konzept der Semiotik (s. u.) mit dem Modell des hierarchischen Systems verbunden werden, da es den notwendigen Gesichtspunkt der Emergenz einbringt (Adler 2000:7; vgl. v. Uexküll 1992:30): Verbinden sich Teile des Organismus zu höheren Einheiten, z. B. Zellen zu Geweben, Gewebe zu Organen, bis hin zur sozialen Ebene, bilden sie eine neue Systemstufe (Adler 2005:9). Ein zentraler Gedanke der Systemtheorie ist die Einsicht, nach der Eigenschaften des hierarchisch höheren Systems nicht auf 56

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seine ihm zugrunde liegenden Einzelteile zurückgeführt werden können. Der österreichische Philosoph und Vordenker der Gestaltpsychologie Christian von Ehrenfels (1967:126) übertrug den von Aristoteles formulierten Satz »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile« auf die Systemtheorie, welche für jenen Sachverhalt den Begriff »Emergenz« 19 geprägt hat (Adler 2000:7). Mit dem Begriff Emergenz wird beschrieben, dass mit der Integration von Teilen zu einem Ganzen emergent (sprunghaft) etwas unvorhersehbares Neuartiges, wie z. B. psychische Erlebnisse oder soziale Einheiten, gebildet wird. Dieses Neue ist von den Eigenschaften der physikalisch-chemischen Elemente nicht ableitbar und deshalb auch naturwissenschaftlich nicht zu erfassen. Somit ist die Emergenztheorie eine Abkehr vom reduktiven und eliminativen Materialismus (z. B. Adler 2000:7; Falkenburg 2006:69; Fuchs 2008:97; v. Uexküll & Wesiack 1988:104). Es entwickelt sich eine hierarchische Ordnung, in der vom einfachen zum komplexeren System stetig neue Eigenschaften auftreten. So entspringt – verkürzt dargestellt – aus der physikalischen Systemebene die psychische und hieraus die soziale. Neue, emergente Eigenschaften entstehen vornehmlich aufgrund von Restriktionen: Bestimmte Eigenschaften der Einzelteile blockieren sich gegenseitig, sodass nur diejenigen weiterwirken, welche dem Funktionieren des jetzt komplexeren Systems förderlich sind (Adler 2005:9). Mithilfe der Semiotik ist es möglich, die wesensverschiedenen Systemebenen einheitlich, nämlich als Antworten auf Zeichen, zu beschreiben. Zur Erläuterung beschreiben v. Uexküll & Wesiack (1988:155 ff.) den bekannten Hunde-Versuch von Pawlow vor dem Hintergrund des biopsychosozialen Modells neu: Die Hunde haben ein zuvor neutrales Geräusch als Zeichen für bedeutsame Vorgänge ihrer Umgebung kodiert (Futter bzw. Fressen) und parallel in nervale Zeichen zur Aktivierung der Speicheldrüsen übersetzt. Jedes Lebewesen besteht aus Subsystemen verschiedener Integrationsstufen, die alle mittels »Nachrichtennetzen« mit ihrer Umgebung sowie den benachbarten Subsystemen untereinander verbunden sind. Jedes der Subsysteme verwandelt Einwirkungen auf seine Rezeptoren nach einem anderen Code in Nachrichten oder Zeichen. Deshalb gehören

Zur Unterscheidung zwischen synchronem, schwachem, schwachem diachronem und diachronem Struktur-Emergentismus sei auf Stephan (2006:146) verwiesen.

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die Zeichen, die auf verschiedenen Integrationsebenen zwischen den dort angesiedelten Systemen ausgetauscht werden, verschiedenen Zeichensystemen bzw. »Sprachen« an. Bestimmte Hormone werden nur von spezifischen Zellen und Organen, Signalstoffe nur von den Rezeptoren bestimmter Organismen »verstanden« und beantwortet (v. Uexküll & Wesiack 2003:28). Zwischen den verschiedenen Integrationsebenen findet eine sogenannte Bedeutungsübersetzung statt und zwar einerseits als Abwärtseffekte: Soziale Probleme führen z. B. zu psychischem Stress, der wiederum ein somatisches Stressulcus hervorrufen kann. Andererseits kann es zu einem Aufwärtseffekt kommen, wenn z. B. Toxine wie Drogen Krankheiten auf psychischer Systemstufe auslösen, welche ihrerseits zu sozialer Isolation führen (Adler 2000:10, 2003:9 f.; v. Uexküll 1988:157 ff.).

1.2.3 Kritische Betrachtung des biopsychosozialen Modells Die Semiotik erlaubt laut Hahn (2003:135) fachübergreifende Wissenschaftskonzepte. So kann der Mediziner den Patienten auf der empirisch-analytischen, also naturwissenschaftlichen und auf der hermeneutischen, also geisteswissenschaftlichen Ebene begegnen. Während sich Daten der körperlichen Ebene auch ohne Zutun des Patienten als handelnde Person erfassen lassen, wird auf der zweiten Ebene die Beziehung zwischen Mediziner und Patient notwendig. Wenn die Objektivierung und Betrachtung des Gegenstands einer Distanznahme vom Menschen entspricht, so kann das biopsychosoziale Modell insbesondere durch seinen Umgang in der zweiten Person als Annäherung an den Menschen als handelnde Person gesehen werden; sie ist somit »menschlicher« als die Neurobiologie. Die in der kognitiven Handlungstheorie verwendete Computeranalogie integriert eine psychische Instanz, die jedoch auf ihren informationsverarbeitenden kognitiven Aspekt reduziert wird. Mit dem biopsychosozialen Modell wird ein Schritt weitergegangen, indem hier die Einführung des Subjekts als – im semantischen und nicht nur im syntaktischen Sinne – bedeutungshaltiges Wesen ermöglicht wird. Der Vorteil dieses Modells besteht insbesondere in der Möglichkeit, die unterschiedlichen Wesensbereiche miteinander in Beziehung zu setzen, ohne einen ontologischen Dualismus voraussetzen zu müssen. Otte (2001:149) ist deshalb der Meinung, dass das biopsychosoziale Modell mit seiner inkludierten Systemtheorie eine Lehre der Ganz58

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heit ist. Außerdem ermöglicht die Semiotik in Verbindung mit der Systemtheorie, Vorgänge eines Lebewesens in einer einheitlichen Terminologie zu beschreiben, ohne die Unterschiede zwischen biologischen, psychischen und sozialen Phänomenen zu verwischen und ohne in dualistische Leib-Seele-Vorstellungen zu verfallen. Mit der integrierten biopsychosozialen Anschauung wird der Mensch wieder als Subjekt in die Heilkunde eingeführt. Das Subjekt gilt hier als individueller Kranker mit einem lebenden Körper als Interpret seiner Umwelt (vgl. Adler 2000:37; v. Uexküll & Wesiack 1988:173; v. Uexküll & Wesiack 2003:25). Bezogen auf das Leib-Seele-Problem bleibt festzuhalten, dass im biopsychosozialen Modell davon ausgegangen wird, dass Körper und Psyche als zwei wesensverschiedene Instanzen des Menschen erst vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Analysen auftauchen (Wesiack 1989:293 ff.). Ontologisch erscheinen Psyche und Soma nie als getrennte Wesenheiten, sondern treten lediglich aus heuristischen Gründen im Zuge von Abstraktionen als wissenschaftliche Hilfsbegriffe auf, um Phänomene der Welt einordnen zu können. »Für das Kind, den Naturmenschen und die naive vorwissenschaftliche Erfahrung […] gibt es noch kein Leib-Seele-Problem« (Wesiack 1989:293). Es handelt sich hier somit um eine ontologische monistische Ansicht, die in der Wissenschaft eine epistemisch dualistische Sichtweise durch die Schichtung von Systemebenen als notwendig erachtet. Der psychophysische Zusammenhang lässt sich weder mit ausschließlich physikalischen noch mit ausschließlich psychologischen Methoden erhellen, da beide Methoden jeweils nur einen Ausschnitt des Menschen abbilden können (v. Uexküll in Wesiack 1989:297). Von Uexkülls semiotische Begriffsverwendung erscheint zwar im heutigen Technologiezeitalter als anschaulich, sein Versuch, hierüber eine Verwissenschaftlichung der Psychosomatik zu erreichen, ist ihm laut Meyer-Abich (2010a:184) jedoch nur eingeschränkt gelungen. Auch wenn im biopsychosozialen Modell der Mensch als Individuum mit subjektiver Wahrnehmung betrachtet wird, so erschwert die technizistische Sprache und der damit einhergehende Formalismus den Zugang zum Menschen als Person. In semiotischer Terminologie zeigt sich der Mensch als eine »informationsverarbeitende Biomaschine« 20 (Fuchs 2008:261). Das menschliche Leben wird hier nicht als Umgang, sondern als nachrichtentechnischer Vorgang ge20

Tatsächlich übernehmen v. Uexküll & Wesiack (2003:19 f.) den von Foerster ver-

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deutet. Zepf & Hartmann (2001:135) sind der Meinung, dass v. Uexküll & Wesiack glauben, das Problem des Leib-Seele-Dualismus gelöst zu haben. Sie sähen in der Teilung des Menschen in Psyche und Soma Systembereiche, deren jeweilige Zeichensysteme durch Transmutation verbunden werden können. Jedoch, so Zepf & Hartmann (ebd.:138), bleibt im Dunkeln, wie Zeichen der einen Ebene in die nächst höhere übersetzt werden können. Auch der Einbezug der Systemtheorie und mit ihr einhergehend der Emergenztheorie wird von verschiedenen Autoren bemängelt. Fahrenberg (2008:34) erkennt in der Emergenztheorie einen grundsätzlichen Mangel, denn aus einer physikalischen Schicht kann laut ihm auch emergent keine psychische Schicht emporspringen, da beide Schichten kategorial verschieden sind und unterschiedlichen Geltungsbezügen angehören (siehe Kapitel 1.3.3). Die Gestalt- und Emergenztheorie können trotz der gegenteiligen Versicherung ihrer Befürworter (vgl. z. B. Grassi & v. Uexküll 1950:138 ff.) als Varianten des Vitalismus interpretiert werden, denn ohne eine irgendwie geartete Lebenskraft ist nicht nachvollziehbar, wie aus der unbelebten Materie ein lebendes Wesen entstehen kann (vgl. v. Weizsäcker 1997:113/IV). Emergenz scheint daher lediglich ein modernerer und wissenschaftlich anerkannter Begriff für den als überwunden geglaubten Vitalismus mit seiner Entelechie zu sein (vgl. Mutschler 2011:143 f.; vgl. v. Weizsäcker 1997:113/IV). Systemtheoretisch fundierte Ansätze gelten darüber hinaus als objektivierend und offenbaren durch ihre Dritte-PersonPerspektive ihre naturalistische Einstellung. Obgleich auch Fuchs (2008:109) ähnlich wie Hahn (s. o.) die integrativen Vorteile hervorhebt, unterstreicht er die Unmöglichkeit, integrative Lebensäußerungen mithilfe der Systemtheorie zu identifizieren: »Die Erforschung von Systemen und Organismen verbleibt in objektivierender Einstellung und geht nicht in die Wahrnehmung von Lebensäußerungen über« (ebd.). Sowohl Fuchs (ebd., 236, 261), Bette in Seewald (1996:43) als auch Seewald (2001:148) sehen in »entindividualisierenden« systemtheoretischen Konzepten und ihren Bindemitteln in Gestalt der Emergenz und der Zeichentheorie eine radikale Gegenposition zu personenorientierten Ansätzen, da sie den Menschen lediglich in seiner Körperlichkeit als Umweltfaktor für soziale Systeme sieht. Mit dieser objektivistischen Sicht ist es zwar möglich, Lebenswendeten Begriff der nicht-trivialen Maschine für die Bezeichnung lebender Systeme also auch des Menschen (vgl. Zepf & Hartmann 2001:135 ff.).

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Der Mensch als emergentes System

weisen zu imitieren, aber indem sie nur unterschiedlich komplexe Systeme kennt, kann sie letztlich keine Unterscheidung zwischen Mensch und Technik 21 treffen (vgl. Buytendijk & Christian 1963:98). Systemtheoretische Ansätze gehen laut v. Uexküll (2002:6 ff.) und v. Uexküll & Wesiack (2003:20) mit dem Konstruktivismus einher, da postuliert wird, dass aufgrund der »Zwischenschaltung« des Gehirns zwischen Rezeptoren und Welt diese nicht wahrnehmen könne, wie sie ist, sondern nur so, wie sie vom Gehirn konstruiert wurde. Hier zeigt sich abermals eine Nähe zu neurobiologischen Ansichten und beschreibt einen Gegensatz zu v. Weizsäckers Gestaltkreiskonzept und phänomenologischen Ansichten (siehe Kapitel 1.5.4). Im biopsychosozialen Modell führt also ein subjektdistanzierendes theoretisches Fundament, das aus den Einzelteilen Systemtheorie, Semiotik und Emergenztheorie besteht, zu einer subjektnahen praktischen Vorgehensweise im Umgang mit dem Menschen, indem auf der Systemebene der Psyche der Situationskreis und damit die verstehende Zweite-Person-Perspektive eingefügt werden kann. Die Befürworter des biopsychosozialen Modells könnten somit ihre Emergenzthese durch ihr eigenes Modell bestätigt sehen, denn während die Einzelteile subjektdistanzierend sind, besitzt das Modell als Ganzes eine neue, nämlich eine subjektnahe Qualität. Das biopsychosoziale Modell kann insgesamt als theoretischer »Generalschlüssel« verstanden werden, der unterschiedliche praktische Methoden ermöglicht. Daher wird insbesondere im modernen Gesundheitswesen häufig auf das biopsychosoziale Modell rekurriert. Ohne tiefergehende philosophische Untersuchungen kann erklärt werden, dass die soziale Welt, die Psyche des Menschen und sein Körper auf engste Weise miteinander verflochten sind. Hier zeigt sich ein besonders wichtiger Schritt fort vom Physikalismus hin zu einer Wissenschaft, die den Menschen als individuell ansieht und die die Tür dafür öffnet, vermeintlich rein somatische Probleme als Ergebnis psychischer, sozialer und körperlicher Probleme zu sehen. Vor diesem Hintergrund scheint es zweitrangig zu sein, die erkenntnistheoretischen Implikationen und Widersprüche hervorzuheben.

Wenn der Aspekt der Autopoesis (nach Maturana und Valera; vgl. v. Uexküll & Wesiack 2003:7) integriert wird, kann die Systemtheorie zwar zwischen lebendem Organismus und toter Materie, jedoch nicht zwischen Mensch und Tier unterscheiden.

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1.3 Der Mensch als komplementäre Einheit Ein wichtiges Anliegen des Arztphilosophen 22 Viktor von Weizsäcker war die Einführung des Subjekts in die biologische und damit medizinische Betrachtung (v. Weizsäcker 1997:83/IV). Subjekt wird von v. Weizsäcker in diesem Zusammenhang als Lebewesen verstanden, das durch Wahrnehmen und Bewegen 23 der Welt aktiv begegnet. Von Weizsäcker geht es um ein Menschenverständnis, das nicht nur eine rein objektivistische Sicht einbezieht, sondern ein umfassenderes und zwar verstehendes Verständnis. Er vertritt die Meinung, dass jeder Mensch erst durch seine eigene Lebensgeschichte, seine Wünsche, Ziele und Ängste etc. zu erfassen ist. Mit seinem häufig zitierten Satz: »Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen« konkretisiert v. Weizsäcker (1997:83, 295/IV) seine Ansicht, nach der es nicht genügt, ausschließlich Erkenntnisse aus leblosen bzw. experimentell hergerichteten materiellen Strukturen zu ziehen, um Lebewesen und deren Verhalten verstehen zu können. Stattdessen muss sich der Forscher mit dem Leben bzw. mit dem Lebenden und seinen Funktionen auseinandersetzen. Von Weizsäcker distanziert sich von der Annahme in der Medizin, nach der die Ursachen für sämtliche biologische Vorgänge, also auch für alle Krankheiten, nicht auch in (gestörten) Lebensfunktionen, sondern ausschließlich in Strukturveränderungen des Gewebes und der Zellen zu suchen sind. Der Mensch muss nach v. Weizsäcker stattdessen als lebendes und erlebendes Beziehungsgefüge angesehen werden (vgl. v. Weizsäcker 1997:83/IV). Nach v. Weizsäcker setzen sich lebende Organismen nicht aus Substanzen zusammen, die ab einem gewissen Komplexitätsgrad plötzlich Leben hervorspringen lassen. Er bezieht sich zwar nicht direkt auf das biopsychosoziale Modell, da dieses erst nach seiner Lebenszeit ausformuliert wurde, jedoch auf dessen emergenzbezogenen Vorläufer, die Gestalttheorie (Adler 2000:7). Von Weizsäcker (1987:113/IV) erkennt in der Emergenz vitalistische Züge und hält einen übersummativen Faktor bei der Beschreibung für Zur Biographie siehe die Monographie: »Der Arztphilosoph Viktor von Weizsäcker« von Udo Benzenhöfer (2007). 23 Nachfolgend werden die Begriffe »Bewegen« und »Bewegung« stets im Sinne des Selbstbewegens verwendet. »Wie biologische Bewegung nicht wesentlich als Ortsveränderung, sondern als Selbstbewegung erscheint, so erscheint biologisches Werden überhaupt nicht als Konsequenz von causa und effectus, sondern als spontanes Ereignis« (v. Weizsäcker 1997:318/IV). 22

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Lebewesen prinzipiell für nicht möglich. Er strebt somit nicht ein aus der toten Substanz hervorkommendes Erklärungsprinzip des Lebendigen an: »Das Lebende entsteht nicht aus dem Toten« (ebd.:83). Stattdessen beginnen seine Überlegungen beim Lebewesen, d. h. beim Subjekt. Da jeder Mensch und somit auch der Wissenschaftler erst aus dem Leben heraus forschen kann, das Leben also nie anfängt, sondern stets bereits begonnen hat, ist es ihm auch nicht möglich, hinter das Leben zu blicken. »Der Grund dafür ist der, daß wir selbst ein Lebewesen sind, und ferner der, daß wir mitsamt allen Lebewesen uns in einer Abhängigkeit befinden, deren Grund selbst nicht Gegenstand der Erkenntnis werden kann […]. Wir müssen uns […] im Grund-Verhältnis bewegen, nicht den Grund selbst erkennen« (v. Weizsäcker 1987b:47 f./VII). Von Weizsäcker (1988:349/IX) erachtet die naturwissenschaftliche Forschung für die Medizin zwar als notwendig, sieht in ihr jedoch nicht die Methode zur absoluten Erkenntnis. Für ihn stellt sie eine Methode dar, die solche Aspekte nicht berücksichtigen kann, von denen sie aufgrund ihrer Paradigmen und Zielsetzungen notwendig abstrahieren muss (siehe Kapitel 1.1.4). Er erteilt somit der naturalistischen Hoffnung eine Absage, nach der das Leben jetzt oder in Zukunft absolut bestimmt werden kann.

1.3.1 Der biologische Akt In der Konzeption des Gestaltkreises, die an Biologie, Medizin und Philosophie grenzt (v. Weizsäcker 1997:100/IV) und die als das theoretische Zentrum seiner Medizinischen Anthropologie gilt (Christian 1987:72; v. Weizsäcker 1987c:15), bezog v. Weizsäcker insbesondere die intensive Verschränkung der zwei Fähigkeiten ein, die es dem Subjekt ermöglichen, mit seiner Welt in Beziehung zu gelangen: Wahrnehmung und Bewegung. Beides ist nur in enger, sich gegenseitig fortlaufend ergänzender Weise möglich. Während die Wahrnehmung nur durch die Bewegung geschehen kann, ist andersherum jegliche Bewegung auf Wahrnehmung angewiesen. Beispielsweise wird im mikroskopischen Bereich die Einstellung der Weite der Iris des Auges durch innere Augenmuskeln vollzogen; im makroskopischen Bereich ist die Wahrnehmung z. B. eines fliegenden Schmetterlings nur möglich, wenn der Körper, der Kopf, die Augen etc. durch Muskelkraft dem Objekt folgen können. Andererseits kann die Bewegung der Intention entsprechend nur gelingen, wenn z. B. proprioAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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zeptive Informationen aus den Muskelspindeln wahrgenommen werden (Edelhäuser 1998:118 f.; v. Weizsäcker 1997:7, 283, 304/IV). Obwohl die Existenz des engen Zusammenhangs von Wahrnehmung und Bewegung laut Senn & Seichert (1996:209) auch heute im Bereich der Sensomotorik, die sich des Modells des Regelkreises bedient, angenommen wird und eine wichtige Grundlage der Neurologie und Bewegungslehre (z. B. Meinel & Schnabel 2007:37 ff.) bildet, zeigt sich ein besonderer Unterschied zwischen Regelkreis und Gestaltkreis: Im Regelkreis werden Sensus und Motus als voneinander getrennt und nacheinander arbeitend gedacht, und es wird von einer gegenseitigen eindeutigen Kausalität ausgegangen. Von Weizsäckers Anliegen ist hingegen gerade das Hervorheben der Koinzidenz beider nur erkenntnistheoretisch getrennten, aber in der Funktion verwobenen Bereiche gewesen. »Wir können nichts tun, ohne auch irgend etwas zu empfinden, wir können nichts empfinden, ohne uns auch irgendwie motorisch zu verhalten: jede Trennung ist selbst schon eine ›Abstraktion‹« (v. Weizsäcker 1997:23 f./IV). Die physikalische Zeit, wie sie in der Naturwissenschaft seit Newton verstanden wird, kann die erlebte Koinzidenz der Gegenwart nicht beschreiben, denn die physikalisch verstandene Gegenwart hat eigentlich stets nur gegolten, aber da sie fortlaufend in jedem Jetzt von einem anderen Jetzt abgelöst wird, gilt sie nie (ebd.:112/IV). Die Aussage: »Ich sehe einen sich bewegenden Gegenstand« ist physikalisch-objektiv nicht denkbar, denn das Präsens »Ich sehe« ist mit einem sich bewegenden Gegenstand unvereinbar. Physikalisch betrachtet durchläuft der Gegenstand einen Raumort nach dem anderen. Das menschliche Wahrnehmen fasst hingegen einen Wahrnehmungsraum in einer Gleichzeitigkeit zusammen, wodurch Bewegung in der erlebten Gegenwart erfasst wird (Edelhäuser 1998:116). Eine als Jetzt erfasste Zeitkontinuität eines Subjekts benötigt daher eine andere Zeitauffassung als die physikalische Newton-Zeit. Von Weizsäcker bezieht sich in seinem Gestaltkreis daher auf die vitale Zeit nach dem französischen Philosophen Henry Bergson. Sie erkennt die Gegenwart als »eine aus Vergangenheit in die Zukunft durchschwingende Zeitkontinuität« (v. Weizsäcker 1997:263/IV).

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1.3.1.1 Die Wahrnehmung ermöglichende Bewegung Während physikalische Ansätze die Wahrnehmung als passive Reizaufnahme des Menschen sehen, wird im Gestaltkreis darin eine aktive Tätigkeit – eine Leistung – erkannt. Es handelt sich demnach nicht um ein passives Wahr-bekommen, sondern um ein aktives Wahrnehmen (z. B. Achilles 2003:147; v. Weizsäcker 1997:108 ff., 223 ff./ IV). Den konstituierenden Charakter der Weltwahrnehmung in enger Verknüpfung mit der Bewegung als Selbstbewegung illustriert v. Weizsäcker (1997:283/IV) anhand eines Experiments, in dem eine Person einen Würfel abtastet, ohne ihn sehen zu können und ohne die Form vorher zu kennen. »Beobachten wir, wie ein Tastorgan, die Hand, zugleich Fühler und Greifer, sich dem Gegenstande anschmiegt und gleichzeitig denselben hin und her bewegt, als wüßte sie schon das, was sie ertasten will, so ist es auch so, daß man nicht weiß, ob zuerst die Empfindung war, welche die Bewegung leitet, oder ob zuerst die Bewegung es ist, von der das ›hier‹ und ›jetzt‹ jeder zukommenden Empfindung bestimmt wird« (ebd.). »Jede Wahrnehmung eines Dinges, jede Bewegung auf ein Ziel ist ein einzelner festgefügter Akt, und in jedem Akt sind Wahrnehmen und Bewegen fest verschränkt« (ebd.:304). Wahrnehmung und Bewegung sind füreinander wechselseitig Ursache und Wirkung. Diese Verbundenheit stellt den Gestaltkreis als biologischen Akt dar (ebd.:335). Das aktiv hervorbringende Moment bei der Wahrnehmung ist an der von v. Weizsäcker beschriebenen Stellvertretung von Wahrnehmen und Bewegen zu erkennen. Die Kohärenz, also die Verbundenheit von Subjekt und Welt in der Begegnung (ebd.:236, 287/IV), ist nur aufrechtzuerhalten, indem sich Wahrnehmen und Bewegen gegenseitig vertreten können. Würde der Mensch während seiner eigenen Bewegung nämlich nicht die Welt in Ruhe und sich selbst in Bewegung erfassen, sondern umgekehrt die Welt (so wie sie sich auf der Retina auch abbildet) sich bewegend wahrnehmen, würde es ständig zu Schwindel, zum Gleichgewichtsverlust und zum Sturz kommen (ebd.:289 f./IV). Die gegenseitige Stellvertretung ist am Beispiel einer fahrenden Straßenbahn zu verdeutlichen: Obwohl sich auf der Retina eine sich bewegende Landschaft abbildet, nimmt der Herausschauende die Landschaft in Ruhe und sich selbst in Bewegung wahr. Die Bewegung wurde also durch die Wahrnehmung substituiert (ebd.:112). Auch jede Art von perspektivischer Verzerrung wird vom Subjekt »korrigiert«, da ansonsten eine konsistente WahrAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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nehmung eines Gegenstandes in der Bewegung nicht möglich wäre (ebd.:227/IV). Eine optische Täuschung ist deshalb kein Missstand, sondern sie ist Lebensbedingung (ebd.:416). Ein weiterer Schein, der als Sein erlebt wird und der erst die Orientierung in der Welt ermöglicht, wird von v. Weizsäcker im Zuge der Antilogik beschrieben: Wenn eine Person aus der Zentralperspektive ein Schienenpaar betrachtet, erscheint dem Auge in Abhängigkeit fortlaufender Entfernung eine Verkleinerung der Spurbreite bis hin zur Verschmelzung beider Schienen. Dennoch nimmt der Betrachter parallel verlaufende Schienen wahr. Die Erscheinungsweisen der Gegenstände können somit dem Sein der Dinge widersprechen. Dadurch, dass sich der Mensch aktiv der Welt zuwendet, kann er aus unterschiedlichen Perspektiven ein auf der Netzhaut sich unterschiedlich abbildendes Etwas als dasselbe wahrnehmen (ebd.:224, 234). Die Wahrnehmung im Gestaltkreis verweist somit nicht auf den euklidischen Raum, in dem fixe Koordinaten einen widerspruchsfreien Bezug zwischen Raum und Gegenstand sowie zwischen den Gegenständen zueinander ermöglichen, sondern nimmt Bezug auf den vitalen bzw. biologischen Raum, der in Abhängigkeit vom Subjekt perspektivisch erfasst wird und dessen Bezugssystem nie dauerhaft und absolut ist, sondern stets zugunsten eines anderen geopfert werden kann (ebd.: 112/IV). Die Wahrnehmung als aktive Tätigkeit bezieht automatisch das aktive Subjekt und seine Konstitutionsleistung mit ein. Die Verzerrung in Relation zur eigenen Perspektive bedeutet gleichzeitig den Einbezug des Wissens um die Bedeutung des Nahen und des Fernen, des Seitlichen, des Dinges als Tür etc. »Subjekt und Objekt bestimmen also gemeinsam – und von Fall zu Fall in unterschiedlicher Gewichtung – was wie wahrgenommen wird« (Ennenbach 1991:22). Ennenbach (ebd.:24) stellt ein Experiment von Held vor, in dem die Notwendigkeit der aktiven Selbstbewegung zur Wahrnehmung der Welt im Sinne der Orientierung verdeutlicht wird. Im Versuch tragen zwei Personen Prismenbrillen, die eine Verzerrung aller Konturen verursachen. Während eine Person sich aktiv im Raum bewegt, wird die zweite Person von der ersten Person in einem Rollstuhl geschoben. Nach einer Stunde hat sich die aktive Person soweit angepasst, dass optisch gesteuerte Greifbewegungen wie vor dem Aufsetzen der Brille getätigt werden konnten. Die passive Person zeigte hingegen keine Anpassung an die Zerrbrille. Einen weiteren Versuch beschreibt Ennenbach (ebd.:25 f.), der die hervorgehobene Rolle der 66

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aktiven Bewegung für die Kohärenz zwischen Subjekt und Welt bestätigt: Zwei Katzen wurden seit ihrer Geburt in einem dunklen Raum in einem Korb gehalten. Einige Stunden pro Tag wurde der Raum erhellt und eine Katze konnte herumlaufen, während die zweite passiv im Korb sitzend von der ersten umhergezogen wurde. Nach einigen Wochen durften sich beide Katzen frei bewegen. Während die aktive Katze eine normale Raumwahrnehmung besaß und z. B. einen Absturz von einer Tischplatte vermied, verhielt sich die vormals passive Katze, als wäre sie form- und raumblind. Sie konnte nicht auf drohende Gebärden reagieren und erfasste das Ende des Tisches nicht als Absturzgefahr. Aktive Selbstbewegungen im Raum, d. h. das Sich-Entfernen, Sich-Nähern, Stehenbleiben etc. erweisen sich somit als Verhaltensweisen, die erst durch die Kohärenz zwischen Subjekt und Welt in einer Situation bestimmt sind. Es handelt sich hier weniger um physikalische Berechnungsprozesse neutraler Reize, sondern vielmehr um ein Erkunden, Verhindern, Ausweichen, Zurückweichen, Überwinden etc. (vgl. v. Weizsäcker 1997:227/IV). Durch diese Kohärenz erhalten die mit dem Verhalten einhergehenden Umweltveränderungen überhaupt erst ihre Bedeutung, die selbst das Verhalten prägen. Ausschließlich mit der aktiven Selbstbewegung erhalten Gegenstände in der Umgebung Bedeutung; z. B. bedeutet das größer werdende Abbild auf der Retina, dass ich mich der Tischkante nähere (Prohl 2010:232 f.). Ein Gegenstand wird also nicht passiv als Synthese mehrerer Reize wahrgenommen, sondern prädikativ und bedeutungsgeladen als etwas: Das größer werdende Gebilde als sich näherndes Fahrzeug, das mich verletzen kann (vgl. v. Weizsäcker 1987c:17). Da die Selbstbewegung maßgeblich ist für die Wahrnehmung der Welt und die Orientierung in ihr, und durch eine zerrissene Kohärenz Krisen auch in Form von Schwindel auftreten können (Christian 1987:73 f.; vgl. v. Weizsäcker 1997:23 ff./IV), ist die Selbstbewegung in der Bewegungstherapie unabdingbar und nicht durch passives Bewegen zu ersetzen (siehe Kapitel 3.5.2.2). Von Weizsäcker erteilt mit seiner Einführung des Subjekts dem Objektivismus bzw. dem naiven Realismus der Naturwissenschaft eine Absage, indem er erklärt, dass nicht Erkenntnis Objektives erkennt, sondern dass das Ich als Subjekt seiner Umwelt diese konstituierend begegnet; es findet ein Umgang von Subjekten mit Objekten statt (vgl. v. Weizsäcker 1990:615/III; 1997:96, 112, 220/IV). »Es könnte sein, daß vielmehr der Mensch zusammen mit der Natur das, was erscheint, erscheinen läßt« (v. Weizsäcker 1997:272/IV). »Keine Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wahrnehmung ist gemeint als Identität von Erlebnis und Gegenstand; jede Wahrnehmung nimmt sich eine Erscheinungsweise des Gegenstandes, ist prädikativ« (ebd.:223). Nach v. Weizsäcker wird, entgegen dem radikalen Konstruktivismus, die Welt als Welt wahrgenommen und durch das entscheidende und erscheinen lassende Subjekt konstituiert: »Nur das Sein kann uns erscheinen; aber auch: das Sein kann uns nur erscheinen; jedoch das, was uns so erscheint, ist kein Schein, sondern das Sein selbst« (ebd.:402).

1.3.1.2 Die Bewegung bedingende Wahrnehmung Die aktive Weltzuwendung durch Selbstbewegung verweist auf die menschliche Aktivität als Auseinandersetzung mit der Welt mithilfe der Wahrnehmung und gilt als wichtiges Charakteristikum des Mensch-Seins im Sinne eines leiblich verfassten Lebewesens (vgl. Buytendijk 1972:3 f.; Thiele 1995:64 ff.). Selbstbewegungen als Bewegungshandlungen sind stets intentional, bedeutungsgeladen und zweckgerichtet 24 (vgl. Christian 1963:33 f.; Prohl 2010:233 f.; vgl. v. Weizsäcker 1997:247/IV). Die Bewegungen von Maschinen sind hingegen rein technische Vorgänge, die zwar einen Zweck verfolgen, aber nicht einen selbst gesetzten, sondern lediglich den des Konstrukteurs (vgl. Frick 2009:209; Janich 2009:65). Wie bereits erwähnt, interpretiert die kognitive Handlungstheorie den Bewegungsvollzug als Durchführen von Bewegungsprogrammen, nachdem ein Ziel vom Subjekt definiert wurde. Im Anschluss findet im Sinne des technischen Regelkreises ein Vergleich zwischen getätigter Ist-Bewegung und der Soll-Bewegung des Programms statt. Die Wahrnehmung führt demnach die Bewegung. Der Bewegungsvorgang wird anhand der linearen physikalischen Zeit gedacht. Im Gestaltkreis hingegen wird die Bewegungshandlung nicht als Nacheinander von Handlungsplan, Programmauswahl und Bewegungsdurchführung unter Vermittlung sensorischer Rückkopplungsprozesse verstanden. Hier

Dies bedeutet nicht, dass alle Bewegungen bewusste und explizit reflektierte Bewegungshandlungen sind. Das Bewegungsverhalten des Menschen schließt ebenfalls nicht bewusste Reflexe ein, die dennoch in ihrer störungsfreien Ausprägung sinnhafte Lebensakte zur Erreichung eines Ziels darstellen (Goldstein 1934:108 ff.; Grupe & Krüger 2007:246; Merleau-Ponty 1976:47 ff.).

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gibt es kein Prius oder Posterius, sondern nur ein Ineinander von Wahrnehmen und Bewegung (Buytendijk & Christian 1963:101 ff.; Christian 1987:74; vgl. Prohl 1995:44 f.; 2010:232; v. Weizsäcker 1997:254 ff./IV). Jede Bewegungshandlung als biologischer Akt wird als zukunfts- und zielgerichtetes, d. h. proleptisches Tun verstanden (Gröben 1995:138; Grupe 2007:246 ff.; Prohl 1991:373 ff.). Die Zukunftsorientierung ist nicht als ein klarer Handlungsplan und eine Auswahl eines geeigneten Bewegungsprogramms zu verstehen (Prohl 1996:108). Stattdessen ist sie eine präreflexive, diffuse und vorichhafte Erwartungshaltung (Buytendijk 1972:280; vgl. v. Weizsäcker 1997:261/IV). Den Rückkopplungsprozessen als Vergleich von physikalischen Ist-Werten mit Soll-Werten wird im Gestaltkreis ein von v. Weizsäckers Schüler Paul Christian formuliertes Wertbewusstsein im Tun entgegengesetzt (Christian 1963 21 ff.; v. Weizsäcker 1990:601/III). Die kognitive Handlungstheorie geht davon aus, dass eine Bewegung als gelungen empfunden wird, wenn der IstWert mit dem Soll-Wert identisch ist. Dies bedeutet jedoch, dass eine Bewegung stets erst nach ihrer Ausführung z. B. Freude über den Erfolg hervorrufen kann. Die Einführung der phänomenalen Zeitkategorie lässt hingegen die Betrachtung des Erlebens in der Gegenwart als Vollzugszeitraum zu. In der erlebten Gegenwart ist das Wertbewusstsein beheimatet, das Christian mit seinem bekannten Glockenbeispiel wie folgt veranschaulicht: »Vor mir befindet sich das Zugseil einer Glocke. Es sei durch ein Loch an der Decke geführt und mithin die Voraussetzung erlaubt, daß ich nicht wüßte, wohin das Seil führt, noch wozu es dient. Ich kenne also weder den Gegenstand ›schwingende Glocke‹, dessen Teil und Handhabe das Seil ist, noch weiß ich die Bedienungsart […]. Ein ungeordnetes Zerren am Seil, ein regelloser Umgang führt zu nichts. Voraussetzung für eine zutreffende Erfahrung ist also ein regelhaftes, wechselseitiges Zusammenspiel zwischen antreibenden und entfachten Kräften. Die Regeln sind zwar erst vom vollendeten Resultat her einsichtig, verständlich und bestimmbar. Aber man wird zugeben, daß sie im Tun bereits wirksam gewesen sein müssen […]. Die spezielle Form der Bewegung gestaltet sich also erst in der Auseinandersetzung mit dem Umweltvorgang, sie ist niemals schon da, sondern entsteht.« (Christian 1963:21 f.). Das Gefühl, dass eine Bewegung nicht gelungen ist, wird scharf und unmittelbar, also nie auf kognitive bzw. reflexive Art erlebt (ebd.:23).

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Die Unmittelbarkeit und Schärfe des Aufmerkens des Nicht-Gelingens wird deshalb als negativ erfahren, da der Mensch grundsätzlich danach strebt, mit Dingen, Aufgaben und Situationen positiv und richtig umzugehen (Christian 1963:23). Die zukunftsbezogene Orientierung jeder menschlichen Leistung zeigt sich beispielsweise, wenn jemand eine Strecke gehend zurücklegt. Hierbei hängt die Gehweise von der Umgebung wie z. B. dem Untergrund ab. Sie hängt jedoch auch maßgeblich von der Gehgeschwindigkeit ab, die ihrerseits von dem Vorhaben beeinflusst wird, ob das Subjekt schnell am Ziel sein möchte oder Zeit hat und schlendern kann. Der Wurf des Handballers wird davon geprägt, wo der Ball in der Zukunft eintreffen soll. Da die Zukunft nur diffus vorweggenommen werden kann und darüber hinaus die Umwelt ständig auf das Subjekt einwirkt, ist die Selbstbewegung kein geregeltes Abspielen eines gewählten Bewegungsprogramms, sondern eine Improvisation (v. Weizsäcker 1997:304/IV). Erst »der Vollzug […] entscheidet, wie sie [die Bewegung; M. U.] nun ausfällt.« (ebd.:274). Die lebendige Bewegung enthält somit lediglich eine nachträglich messbare Verwirklichung von mechanischen Gesetzmäßigkeiten.

1.3.2 Die Einführung des Subjekts Jeder biologische Akt wird aus einer stetig neuen Begegnung des Lebewesens mit seiner Umwelt vollzogen (v. Weizsäcker 1997:274/IV). In dieser Kohärenz als jederzeit zerreißbare und herstellbare Verbundenheit geschieht die Begegnung von Ich und Welt (ebd.:291). Sie verwirklicht sich nicht als Kausalreihe: Objekt, Reiz, Erregung, Empfindung (ebd.:236). Eine solche Kette ist nur zu postulieren, wenn – wie in der Naturwissenschaft als evident betrachtet – von einer ursprünglichen Zweiheit zwischen Organismus und Umwelt ausgegangen wird. Der Gestaltkreis erkennt in der Kohärenz jedoch eine ursprüngliche Einheit (ebd.:291). Der Reiter mit seinem Pferd, Hammer und Hand, Fahrer und PKW befinden sich in einer primordialen Formbeziehung (ebd.: 246). Die Kohärenz zwischen Ich und Welt – z. B. zwischen einem tanzenden Paar – wird über deren Formgenese gestiftet, die selbst als Begegnung zweier selbstbewegender Körper unter Vermittlung der jeweiligen Wahrnehmung ermöglicht wird. Somit wirkt das Lebewesen auf seine Umwelt und gleichzeitig wirkt die Umwelt auf das Lebewesen. Da beide von Beginn an da sind, gibt es keine zwin70

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gende Vorschrift, nach der zuerst das eine und dann das andere gewirkt hat; statt Prius und Posterius, im Sinne eines eindeutigen Kausalverhältnisses, tritt hier die Kohärenz von Organismus (O) und Umwelt (U) als Koinzidenz zutage, die sich als geschlossener Kreis darstellen lässt, den v. Weizsäcker als Gestaltkreis bezeichnet (ebd.:253 f.):

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Abbildung 2: Der Gestaltkreis (nach v. Weizsäcker 1997:254/IV, eigene Darstellung)

Die Kohärenz zwischen Subjekt und Welt ist physikalisch weder zu erfassen noch eindeutig zu bestimmen, denn das Subjekt wird nicht als Substanz verstanden, nicht als ein Etwas, sondern als ein Bezugsverhältnis (v. Weizsäcker 1986b:452/VI). »Um nun jede Verwechslung von ›Ich‹ mit physischer Erscheinung auszuschließen, schälen wir aus dem noch erscheinungsgebundenen Begriffe des Ich das seiner Gegensetzung zur Umwelt zugrunde liegende Prinzip heraus und nennen es Subjekt« (v. Weizsäcker 1997:299/IV). Aus dem substanziell erscheinenden ontisch-gegenständlichen Begriff des »Ich« wurde ein »nichtgegenständlich-ereignishaft-ontologisches Prinzip des ›Subjekt‹ als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung des Ich mit der Umwelt ›herausgeschält‹« (Kimura 2000:195). »Die Haut des Menschen ist nicht länger die Grenze seiner Individualität, denn durch seine Kräfte ist er mit den Kräften seiner Umwelt unlösbar verschmolzen, sich nur gestaltend, indem er sie gestaltet; von ihnen gestaltet, indem er sich gestaltet« (v. Weizsäcker 1987b:208/VII). Eine physikalische Trennung im räumlichen und zeitlichen Sinn ist deshalb nicht möglich. Die Kohärenz von Subjekt und Objekt zeigt sich im Werden und Vergehen, in einer Unstetigkeit, die durch Kohärenzzerreißung, also Krisen erlebt wird (Hahn 1987:245). Die Einführung und Berücksichtigung des Subjekts ist also auch zu verstehen als die Unterstreichung der Tatsache, dass das Leben nicht nur ein naturwissenschaftlich erfassbarer Vorgang ist, sondern ein Umgang des SubAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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jekts mit anderen Subjekten und der Welt. Das Wort »Umgang« verweist auf die cyklomorphe Ordnung dieser Kohärenz (v. Weizsäcker 1987b:264/VII). »Der Mensch lebt, wirkt und schafft inmitten einer Umwelt, auf die er tausendfache Wirkung ausübt, und von der er tausendfache Einwirkungen erfährt in jeder Sekunde seines Lebens« (Krehl in Schipperges 1987:52). Der Gestaltkreis ist nur unter den Voraussetzungen des Leistungsprinzips zu verstehen, welches besagt, dass die Erreichung des gleichen Erfolgs auf verschiedenen Wegen gelingen kann. Hierfür ist die Möglichkeit des Funktionswandels der physiologischen und neurologischen Strukturen notwendig (Achilles 2003:147 f.). Im Bereich der Bewegungsphysiologie ist z. B. zu beobachten, dass ein Muskel mehrsinnig arbeiten kann. Dieselbe Leistung, wie etwa das Gehen, ist auf verschiedenen neuronalen Wegen (Leitungen) möglich. So werden z. B. während der Gehbewegung bei ansteigendem Gelände andere neuromuskuläre Strukturen genutzt als auf abschüssiger Ebene (v. Weizsäcker 1997:103 f./IV). Auch nach einer Verletzung kann die gleiche Leistung mithilfe anderer und unverletzter Strukturen gelingen. Es handelt sich hierbei nicht um eine reine Adaption an veränderte biologische Bedingungen, sondern um eine Neuschöpfung, die in und durch die Begegnung zwischen Organismus und Umwelt gestiftet wurde (Entralgo 1987:32; v. Weizsäcker 1990:598/III). Eine solche Auffassung von Bewegungshandlungen bedeutet keinen Verlust, denn es wird nicht bestritten, dass Selbstbewegung als mechanische Bewegung oder dass der Mensch in seiner materiellen Beschaffenheit betrachtet und untersucht werden kann (vgl. v. Weizsäcker 1997:256/IV). Es ist vielmehr als Gewinn zu sehen, die Kohärenz zwischen Mensch und Welt als kreisartiges Ordnungsverhältnis zu begreifen. Das Leben hängt zwar von physiologischen Strukturen ab und ist so auch ein Vorgang, aber das Leben wird ebenfalls vom Subjekt erlitten. Jeder biologische Akt ist somit erst zu verstehen, wenn nicht nur physikalisch gemessene Werte der Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch beide Zeitmodi und der Zukunftsbezug als qualitativ erlebte Phänomene berücksichtigt werden. Hierzu gehören Begriffe wie Vorsatz, Überraschung, Erwartung, Sicherung, Bedrohung, Willkür, Freiheit, Angst, Sorge etc. Sie beschreiben Existenzweisen des pathischen, d. h. erleidenden Lebewesens und betreffen nicht das Ontische als Dasein. Während Gegenstände in der Kategorie des Ontischen erschöpfend dargestellt werden können, ist die Existenz bei Lebewesen maß72

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geblich vom Pathischen 25 konstituiert. Wenn eine Person sagt, dass sie etwas will, so zeigt es, dass sie es noch nicht hat, und wenn sie etwas tun kann, dann ist es noch nicht geschehen. Beim Pathischen handelt es sich somit um etwas, das noch nicht ist. Das Pathische ist physikalisch also deshalb nicht zu erfassen, da es eben nicht da ist, nicht ontisch ist (v. Weizsäcker 1987b:48 f./VII). Von Weizsäcker greift auf insgesamt fünf pathische Kategorien inklusive ihrer Negationen zurück und fügt sie zu einem pathischen Pentagramm zusammen: Müssen bzw. Nichtmüssen, Wollen bzw. Nichtwollen, Können bzw. Nichtkönnen, Sollen bzw. Nichtsollen, Dürfen bzw. Nichtdürfen. Das Pathische ist stets personal und kann auf andere Subjekte bezogen werden. Aus »ich will« kann »er will« oder »wir wollen« werden. Genauso verhält es sich mit den anderen Kategorien. Sie werden allerdings sinnlos, wenn sie Gegenständen zugesprochen werden. Ein Regentropfen »will nicht«, »darf nicht« etc. (ebd.:49; Wiedebach 2014:132 ff.). Da durch das pathische Pentagramm auch moralische Wertungen einbezogen werden, ist seine Einführung auch eine Einführung der Moral (v. Weizsäcker 2005:13/X), die ein weiterer Aspekt ist, der der Naturwissenschaft verschlossen bleibt. Jede Willkürbewegung, jeder biologischer Akt und allgemein jeder Lebensvollzug ist nach v. Weizsäcker nur vor dem Hintergrund der pathischen Kategorien zu verstehen. Insbesondere das Sollen und Dürfen sind ausschließlich als Verhältnis zu einem anderen zu verstehen und deshalb nicht nur subjektiv, sondern auch sozial. Im von v. Weizsäcker verwendeten Begriff »Welt« steckt deshalb nicht nur die materielle, sondern auch und insbesondere die soziale Umwelt, die auf den Menschen wirkt und auf die der Mensch wirkt. Nach v. Weizsäcker geht das soziale Sein des Menschen allem anderen voran (ebd. 1987a:122/ V). Jede Veränderung eines Subjekts durch ein anderes geschieht nicht als einseitige Ursache-Wirkungs-Beziehung, sondern es wirkt vielmehr die Veränderung auf den, der verändert hat, zurück. Veränderungen des Menschen geschehen also niemals statisch-linear, sondern stets als dynamisch-fließender Prozess. Da der Gestaltkreis auch zwischen zwei Subjekten stattfindet, ist er auch für die Untersuchung der Arzt-Patienten-Beziehung bzw. Therapeut-PatientenBeziehung fruchtbar (siehe Kapitel 3).

Das Pathische ist nicht zu verwechseln mit dem Pathologischen, das in der Medizin eine krankhafte Veränderung von Organen bezeichnet (Dudenredaktion 1990:582).

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1.3.3 Das Leib-Seele-Verhältnis Der Gestaltkreis besagt, dass das Ich und seine Umwelt einander in einem wechselseitigen Verhältnis zugeordnet sind. Dieses Verhältnis wird vollzogen durch die Selbstbewegung, die von der Wahrnehmung bedingt wird, welche wiederum von der Bewegung bedingt wird (v. Weizsäcker 1997:292/IV). Da v. Weizsäcker im Akt der Wahrnehmung eine aktive Leistung eines erlebenden Subjektes mit seinen psychischen Inhalten sieht, rechnet er Wahrnehmen dem Bewusstsein bzw. der Seele, also dem Subjekt, und Bewegen dem Körper, also dem Objekt zu (vgl. Reenpää 1966:40; v. Weizsäcker 1987c:16, vgl. v. Weizsäcker 1990:614/III; 1997:271 f., 292/IV). »Einheit von Wahrnehmen und Bewegen ist also psychosomatische Einheit« (v. Weizsäcker 1987c:16) und damit der Versuch, cartesianische dualistische Denkweisen zu überwinden. Rimpau (2008:19) schreibt hierzu, dass v. Weizsäcker die Beziehung zwischen Wahrnehmen und Bewegen und deren Bedingungen »verallgemeinerte […], indem er sie auf das Verhältnis von Seele und Körper bezog.« In der Willkürbewegung offenbaren sich das Willkürliche des Seelischen mit den Kategorien der Motivation und Finalität sowie das Objekt als Körper mit seinen Kategorien von Raum und Zeit. Umgekehrt werden Wahrnehmungsleistungen und Empfindungen, wie z. B. die Angst, vom Subjekt auf Grundlage des Objektes bzw. des Körpers vollzogen (z. B. Retina, Sinnesnerven) (Jores 1970:45 f.; v. Weizsäcker 1987:258/VII; 1988: 501/IX). In allen Lebensvollzügen wird neben dem Ursache-Wirkungs-Mechanismus der Materie insbesondere die Entscheidung des Subjekts als maßgeblich erachtet (vgl. v. Weizsäcker 1997:273 f./IV). Diese Auffassung hat nachhaltige wissenschaftstheoretische und metaphysische Konsequenzen zur Folge, denn Entscheidungen sind nur vor dem Hintergrund intentionaler also auch subjektiver Kategorien zu verstehen. Aufgrund der Tatsache, dass der Mensch als entscheidendes Subjekt und somit als Lebewesen mit Willensfreiheit anerkannt wird, wird gleichzeitig der Determinismus, der dem Naturalismus immanent ist, abgelehnt. Aus einer Vorlesung wird v. Weizsäcker (1988:209/IX) mit folgenden Worten zitiert: »Jemand, der die Freiheit leugnet, der Determinist ist, kann nicht Arzt bleiben oder werden wollen. Wenn alles, was geschieht, von Anfang an unerbittlich festliegt, ist es unsinnig, Arzt zu werden; wer dies glaubt, muß diesen Hörsaal schleunig verlassen und nie wieder kommen.« Der allumfassende Kausalnexus wird 74

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daher im Gestaltkreis aufgebrochen und führt zur Einführung psychologischer Beschreibungs- und Wissenschaftsebenen. Ähnlich wie im biopsychosozialen Modell versteht v. Weizsäcker (1987b:390/VII) unter der Psychologie nicht eine erklärende Wissenschaft, wie sie der Behaviorismus darstellt, sondern eine verstehende bzw. »begreifende«, mit der er sich auf Freuds Psychoanalyse bezieht. Von Weizsäckers Psychologie-Verständnis kann jedoch auch mit der nach dessen Leben begründeten humanistischen Psychologie, welche ebenfalls aus der Psychoanalyse erwuchs, in Einklang gebracht werden (Achilles 2003:145 ff.). Freud sah die Ursache seelischer Krankheiten in der Biographie, also in der Vergangenheit des Betroffenen, und blendete ganz im Sinne der kausalistischen Naturwissenschaft den Zeitmodus der Zukunft aus. Diese Tatsache, die in der Unmöglichkeit mündete, Motivationen aus Zukunftsbezügen herzuleiten, veranlasste Maslow, sich von der Psychoanalyse abzuwenden, um die sogenannte humanistische Psychologie, deren eine wichtige Säule die Phänomenologie ist, mitzubegründen. Seelische Krankheiten entstehen nach Maslow nicht aufgrund von Traumata, sondern aufgrund der mangelhaften oder fehlenden Befriedigung von Grundbedürfnissen, die er jedem Menschen zuspricht. Der Mensch versucht nach der Maslowschen Theorie zunächst die grundlegendsten Bedürfnisse zu stillen, um anschließend nach der Erfüllung der in den nächsten Hierarchieebenen befindlichen Bedürfnisse zu streben (Maslow 2008:7 ff., 127 ff.; Rotter & Hochreich 1979:90 f.). Allerdings verhält es sich nicht so, dass bei jedem Mensch die Bedürfnisse stets in gleicher Weise nacheinander abgearbeitet werden müssen (Maslow 2008:79 ff.). Auch der häufig verwendete und Maslow zugeschriebene Begriff »Bedürfnispyramide« wird von ihm selbst in keiner Schrift genutzt. Nach Maslow existieren fünf menschliche Grundbedürfnisse: 1. Körperliche Existenzbedürfnisse: Freiheit, Atmung, Wärme, Nahrung, Schlaf, Gesundheit, Wohnraum, Sexualität. 2. Sicherheitsbedürfnisse: Recht und Ordnung, Schutz vor Gefahren, fester Arbeitsplatz, Absicherung. 3. Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe sowie nach sozialen Beziehungen (Anschlussmotiv): Familie, Freundeskreis, Partnerschaft, Liebe, Intimität, Kommunikation. 4. Bedürfnisse nach (sozialer) Wertschätzung: Höhere Wertschätzung durch Status, Respekt, Anerkennung (Auszeichnungen, Lob), Wohlstand, Geld, Einfluss, private und berufliche Erfolge, mentale und körperliche Stärke. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Selbstverwirklichung 26: Individualität, Talententfaltung, Perfektion, Erleuchtung (Maslow 2008:62 ff.; Rotter & Hochreich 1979:90 ff.). Sowohl v. Weizsäcker als auch beide soeben angesprochenen Psychologieschulen beziehen die hermeneutische Methode, mit der Bedeutungs-, Ziel- und Sinnbezüge sowie absichtsvolles Handeln erfasst werden können, 27 ein (vgl. z. B. Entralgo 1987:31; Henningsen 2003:115). Hermeneutisch soll das aufgedeckt werden, was nicht physikalischen Gesetzen gehorcht, den physikalischen Kategorien nicht entspricht, nicht physikalisch gemessen und daher von der Naturwissenschaft nicht erreicht wird (v. Weizsäcker 1987b:373 ff./VII). In v. Weizsäckers (1997:83/IV) bereits in Kapitel 1.3 zitierten Satz: »Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen« [Hervorh. M. U.], steckt daher auch die verstehende (hermeneutische) Teilnehmerperspektive der zweiten Person. Die Einführung des Subjekts verweist auf die Tatsache, dass es im Gestaltkreis nicht um Substanzen geht, sondern um Bezugsverhältnisse wie Sinn, Bedeutung, Ziel, Wünsche, Hoffnungen, Wollen, Sollen, Können, Müssen, Dürfen etc. (vgl. v. Weizsäcker 1986b:452 ff./VI). Zwar wird die strikte Trennung zwischen Psyche und Soma durch den Gestaltkreis aufgebrochen, dennoch bleibt ein Dualismus wissenschaftlichen Denkens (Buytendijk & Christian 1963:104). Von Weizsäcker versteht seinen Gestaltkreis jedoch nicht als eine Theorie neben oder entgegen der Naturwissenschaft, sondern schließt diese mit ein (v. Weizsäcker 1997:92/IV). Eine kategorische Ablehnung naturwissenschaftlicher Zugangsweisen findet somit nicht statt. Von Weizsäcker unterstreicht vielmehr, dass neben individualbiographischen Faktoren auch kollektive Naturgesetze greifen, aber »Naturvorgänge sind genauso geistvoll, subjektiv und kreatürlich wie das, was die nur individualistische biographische Betrachtung zeigt« Der Begriff Selbstverwirklichung wird nachfolgend übernommen, obgleich er inhaltlich leicht abgewandelt wird. Selbstverwirklichung bedeutet hier im Sinne des Bestimmungs-Begriffs nach Meyer-Abich (2010a:124), der sich auf v. Weizsäcker (1986c:145/VIII; vgl. auch 1987b:219/VII) bezieht, dasjenige, wonach der Mensch unter anderen Menschen im Laufe seines Lebens strebt zu sein (siehe auch Kapitel 3.4.3). Die Bestimmung ist kein fixes Ziel, sondern zeichnet sich durch ihre Dynamik und Veränderlichkeit aus, denn der Mensch verändert sich zu jeder Zeit seines Lebens und ist niemals ein fertiges Produkt. 27 Hier zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zum Regelkreis (Achilles 2003:148), der häufig fälschlicherweise mit dem Gestaltkreis gleichgesetzt wird. 26

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(v. Weizsäcker 1986b:410/VI). Von Weizsäcker (1987b:142 ff./VII) sieht ein großes Problem der Naturwissenschaft darin, dass sie glaubt, die Wahrheit gefunden zu haben, jedoch ist sie laut ihm keine Wahrheit, sondern Technik (siehe Kapitel 1.1.3: zweiter naturalistischer Fehlschluss). Es geht ihm nicht darum, die naturwissenschaftliche Technik abzulehnen, sondern sich mit zusätzlichen Mitteln dem Menschen als Person zu nähern. In diesem Zusammenhang wendet er sich gegen den mereologischen Fehlschluss, indem er feststellt, dass zwar der Mensch sagen kann, er sei krank, jedoch kann kein Molekül, kein Atom und kein Elektron dies behaupten. Während Dinge ein »Etwas« bleiben, ist der Mensch ein »Jemand«. Die Aussage des Kranken »Ich fühle mich krank« ist naturwissenschaftlich nicht zu verstehen (v. Weizsäcker 1987a:12 ff./V), denn was krank ist, und wer »ich« sagt, kann unter den physikalischen Paradigmen nicht bestimmt werden. Die Annäherung an den Menschen bedeutet gleichzeitig die Aufgabe atomistischer, summativer, d. h. naturalistischer Organismus- bzw. Menschenverständnisse (vgl. Neuser 2003:213 ff.). In der in Kapitel 1.3.1.1 dargestellten Möglichkeit der Stellvertretung von Wahrnehmung und Bewegung sowie unter Berücksichtigung der Verknüpfung beider mit dem Bewusstsein bzw. dem Körper offenbart sich v. Weizsäckers psychosomatische Orientierung. Er bezieht die gestalthafte, sich gegenseitig erläuternde Kreisbeziehung in sämtliche Lebensvollzüge des Menschen ein. »Subjektives (Wahrnehmung) drückt sich im Körpergeschehen und Körperliches (Bewegung) im Seelischen aus« (Buytendijk & Christian 1963:101; vgl. auch Christian 1987:74). »Der Körper stellt die Seele dar, die Seele den Körper; sie ringen miteinander, und sie lassen sich gegenseitig vertreten« (v. Weizsäcker 1986b:408/VI). Dies kann im Falle eines Missbefindens für den Betroffenen auch zur Verunsicherung führen, denn es ist nicht ausgemacht, ob er etwa bei einem beginnenden Infekt krank (körperlich) oder unzufrieden, ängstlich, traurig etc. (seelisch) ist (Plügge 1967:31). »Es herrscht hier kein eindimensionales Kausalschema, auch kein psychophysischer Parallelismus, sondern ein fortlaufendes und gegenseitig sich erhellendes, in sich geschlossenes, körperlich-seelisches Hin und Her in kreisartiger Verbundenheit« (Christian 1987:74). In diesem Umgang befinden sich beide Bereiche in einer gegenseitigen Verborgenheit. Diese Tatsache bezeichnet v. Weizsäcker als Drehtürprinzip 28. »Betrachte ich die Dinge 28

Zur Zeit von v. Weizsäcker waren Drehtüren noch nicht aus Glas, weshalb die Sicht

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nur somatisch, dann muß ich für einen Augenblick auf die psychologische Ansicht verzichten; betrachte ich sie psychologisch, dann muß ich für diesen Augenblick die somatische Seite weglassen. Aber nur im Herüber und Hinüber dieser Drehtür kann ich Lebendes erfahren« (v. Weizsäcker 1986b:384/VI). Das Drehtürprinzip ist eng verwandt mit der aus der Physik bekannten Komplementarität (vgl. v. Weizsäcker 1956:31 ff.): Laut der Quantenphysik nach Nils Bohr verhalten sich Ort und Impuls eines Teilchens komplementär zueinander. Die Bestimmung des Ortes schließt die Bestimmung des Impulses aus und umgekehrt. Eine bestimmte Messanordnung erfasst den Impuls, wodurch die Bestimmung des Ortes unmöglich wird. 29 Nach der klassischen Mechanik müsste beides zugleich bestimmbar sein. Da die Komplementarität auf »zusammengehörige, einander ergänzende, aber auch einander ausschließende Züge hin [weist]« (Küppers 1992:171), steht der aus der Komplementarität erfolgte Indeterminismus gegen die Lehren der klassischen Physik. Im Komplementaritätsprinzip erkennt v. Weizsäcker den Ursprung aller abgeleiteten Möglichkeiten biologischen Geschehens: Sie umfassen die komplementäre Einheit im methodischen Indeterminismus (Drehtürprinzip), die Komplementarität im Wahrnehmen und Bewegen und die leib-seelische Komplementarität (v. Weizsäcker 1997: 319 f./IV). Aus dem Grundverhältnis als Kern seines Leib-Seele-Verständnisses leitet v. Weizsäcker die gegenseitige Verborgenheit in den biologischen Akten ab. »Man kann den Gestaltkreis nicht in seiner Integration besitzen (weder denkend noch anschauend), sondern man muß ihn durchlaufen und seine Gegensätze erleiden in einem fortgesetzten Aus-den-Augen-Verlieren und einem immer neuen Die-Wirkung-Verlieren, um ein Neues zu gewinnen« (v. Weizsäcker 1987b:55/VII). Das Drehtürprinzip, dessen Angelpunkt aufgrund des Grundverhältnisses nicht anschaulich zu erfassen ist, führt zur Illusion, dass die komplementären Einheiten zu trennen sind. Erst im steten Durchlaufen des Gestaltkreises zeigt sich das komplementäre Verhältnis, welches dem Missverständnis entgegenwirkt, dass es sich

auf die andere Seite der Drehtür nicht möglich war (Achilles 2003:149; v. Weizsäcker 1987c:17). 29 Auch dies hat wissenschaftstheoretische Konsequenzen, denn der Forscher entscheidet darüber, was und wie etwas am selben Objekt untersucht wird. Eine Entscheidung ist laut der klassischen Naturwissenschaft jedoch nicht vorgesehen, denn die gegenständliche Natur zeigt sich so, wie sie ist.

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hier um unterschiedliche Orte der Funktion (Sensus versus Motus) oder verschiedene Arten biologischer Akte (Psyche versus Physis) handele. Diese »einheitliche Zweiheit« (v. Weizsäcker 1990:70/III) stellt den komplementären Dualismus dar 30 (Küppers 1992:168; v. Weizsäcker 1997:319 f./IV). Wenn Rudolf Ludwig Karl Virchow (in Grassi & v. Uexküll 1950:145) sagt, er habe schon viele Leichen seziert, aber noch keine Seele entdeckt, lässt sich mit v. Weizsäcker entgegnen, dass Virchow lediglich die körperliche Kategorie aus der Dritte-Person-Perspektive betrachtet hat. Das Seelische bzw. Psychische befindet sich jedoch in einer anderen Kategorie, die erst in der ersten und zweiten Person wahrgenommen und gedeutet, aber eben nicht gesehen oder gemessen werden kann. Gaarder (1993:273 f.) verdeutlicht diesen Umstand, wenn er einen Chirurgen berichten lässt, dass dieser schon zahlreiche Gehirne erforscht, aber noch nie einen Gedanken entdeckt habe. Während die Seele etwas Diffuses ist, das aufgrund der Nicht-Greifbarkeit und begrifflichen Unbestimmtheit (siehe Kapitel 1) bestritten werden könnte, ist es nicht möglich zu behaupten, dass es keine Gedanken 31 gibt. Gedanken, die der Seele zugeordnet werden können, und das Gehirn, das dem Körper zugeordnet werden kann, unterliegen also unterschiedlichen Kategorien und Gültigkeitskriterien. Von Weizsäcker (1986b:456/VI) konkretisiert diese Verbundenheit: »Körper und Seele sind [zwar] keine Einheit, aber sie gehen miteinander um.« Es stellt sich hier jedoch die Frage, wie sie miteinander umgehen. Von Weizsäcker beschreibt hier drei Möglichkeiten: 1. Die psychophysische Kausalität zeigt sich von der Psyche zum Körper etwa in der Willkürbewegung. Wegen des intensiven Verhältnisses zwischen Unbewusstem und Körper schreibt v. Weizsäcker, dass jede einzelne Zelle des Körpers als beseelt vorzustellen ist. Umgekehrt wirkt Körperliches auf das Psychische, etwa während einer Sinnesempfindung wie Sehen oder Hören durch die Reizung eines Organs. Gleichwohl die Naturwissenschaft sich hier auf sicherem Boden zu bewegen scheint, hat der Gestaltkreis deutlich gemacht, dass die Kausalität in beiden Richtungen weiterhin unverständlich und

Als Veranschaulichung führt Wyss (1957:189) ein Beispiel an, in dem eine Zeichnung von ihrer Farbe nicht zu trennen ist: Beides ist nicht dasselbe, aber beides kann nicht ohne das andere existieren. 31 Dass Gedanken nicht identisch mit ihren korrelierenden messbaren elektrischen Gehirnaktivitäten sind, wurde bereits in Kapitel 1.1 aufgezeigt. 30

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komplex ist: Wie kommt es von einer mechanischen Reizung zu einer bedeutungshaften Empfindung? (v. Weizsäcker 1997:292/IV) 2. Eine weitere Form der Interaktion zwischen Leib und Seele ist die Ausdrucksfunktion, die durch die postulierte Beseelung des menschlichen Körpers ermöglicht wird. Sie zeigt sich z. B. im Herzklopfen während der Angst oder im Erbrechen durch Ekel (v. Weizsäcker 1986b:402/VI). Körperfunktionen sind demnach stets Darstellungen von Bewusstseinsinhalten wie Gedanken oder Gefühlen. 3. Leib und Seele können auch einander vertreten. Die Stellvertretung ist eine weitere Form des Umgangs zwischen Leib und Seele (v. Weizsäcker 1988:158). Vor unangenehmen Gedanken kann der Mensch durch Taten entfliehen. Psychosomatische Krankheiten wie die Konversionsstörung gelten bei v. Weizsäcker nicht als Körperkrankheiten, die durch ein seelisches Problem verursacht wurden, sondern er ist der Meinung, dass die Krankheit einen Konflikt vertritt. Statt der seelischen Verarbeitung eines Konflikts entsteht eine Angina, anstatt sich einer bedrückenden Situation zu stellen, kommt es zur Diarrhö, zu heftigen Kopfschmerzen etc. Die körperlichen Symptome führen schließlich dazu, dass der Situation entgangen werden kann. Jedes der drei Bilder hat sein Recht: die psychophysische Kausalität, der Parallelismus bis zur zusammenliegenden Einheit als Ausdrucksfunktion und der cyklomorphe Gestaltkreis als Stellvertretungsfunktion. Alle Bilder sind nach v. Weizsäcker (1987b:183/VII) »verträgliche und wertvolle Vorstellungen, von denen wir keine entbehren wollen.«

1.3.4 Kritische Betrachtung des Gestaltkreises Der von v. Weizsäcker beschriebene Gestaltkreis stellt das intrapersonelle integrierte Ineinandergreifen von Wahrnehmung und Bewegung als biologischen Akt dar und damit auch die intensive Leib-Seele-Verschlingung des Subjekts, das gleichermaßen verwoben ist mit seiner physikalischen und sozialen Umwelt, bei dem das Subjekt seine Umwelt formt und selbst von ihr geformt wird. Laut v. Weizsäcker (1987c:10) geht es beim Gestaltkreis um »die Einheit von Leib und Seele, um die Zusammengehörigkeit von Krankheit und Biographie, um die Kontinuität von Bewusstem und Unbewusstem, um die Verflochtenheit der Biographie des Kranken in die Gesellschaft.« Der Ge80

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staltkreis bildet ein zirkuläres Geschehen, bei dem die Freiheit besteht, seinen Anfang an jeder beliebigen Stelle zu setzen. So ist es möglich, Wahrnehmung und Körperbewegung sowie Umwelt und Wahrnehmung in eine funktionelle Beziehung zu bringen (v. Weizsäcker 1997:39/IV). Von Weizsäcker wendet sich mit seiner Anthropologischen Medizin gegen den Objektivismus und Szientismus der klassischen Naturwissenschaften und der hiermit verbundenen Ansicht des allgemeingültigen deterministischen kausal-mechanistischen Wirkungszusammenhangs aller Naturvorgänge (Schindler 2003:21). Die Ablehnung der ausschließlichen Verwendung der Dritte-Person-Perspektive und die Einführung der Teilnehmerperspektive münden in der Möglichkeit phänomenologischer Untersuchungen und mit ihr in der Beschreibung der Lebenswelt, die v. Weizsäcker als primär anerkennt (vgl. v. Weizsäcker 1997:222 ff., 515 ff./IV) 32. Dies bringt es mit sich, dass v. Weizsäcker nicht von Systemen und Codes, von Regelgrößen und Ist-Soll-Kontrollen spricht. Insbesondere im therapeutischen Bereich ergibt sich hierdurch eine angemessenere Übertragung von der Theorie auf die Praxis, als es bei abstrakten Konstruktionsmodellen der Fall ist. Ein weiterer großer Vorteil des Gestaltkreises besteht in dem Integrationspotenzial der Naturwissenschaften mit den Geisteswissenschaften. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht entspricht die Einführung des Subjekts einer Einführung der hermeneutischen Erkenntnismethode, die später von Gadamer weiter philosophisch untermauert wurde (Rimpau 2010:27). Da die Hermeneutik auch als (verstehende) Psychologie eng mit den eigenen und den in der Gesellschaft herrschenden Werten, Normen und der Moral verbunden ist und deshalb ein soziales Verhältnis markiert, können die Bereiche Psychologie und Soziologie nicht getrennt werden. Die Einführung des Subjekts geht somit mit der Einführung der verstehenden Psychologie und der Soziologie in die Medizin einher (Hahn 1987:234; vgl. Schindler 2003:27; vgl. Schrenk 2003:303 ff.; vgl. v. Weizsäcker 1987b:373 ff., 390/VII). Der Gestaltkreis ist aus dieser Sicht der Versuch, die unterschiedlichen Wissenschaften miteinander zu versöhnen (vgl. Kütemeyer 1957:18), jedoch nicht durch eine schlichte Aufsummierung oder einer Alternativtheorie entgegen Von Weizsäcker verwendet in den angegebenen Textstellen zwar nicht den von Husserl eingeführten Begriff »Lebenswelt«, er meint aber ebenfalls die Welt, die unmittelbar und phänomenal wahrgenommen wird und nicht durch Modellbildungen verzerrt wurde.

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bzw. neben der anatomisch-physiologischen Theorie. Stattdessen möchte v. Weizsäcker eine Theorie entwerfen, die beides integriert: objektorientierte Physiologie und subjektorientierte Psychologie, die gemeinsam etwas neues Umfassenderes, Drittes entstehen lässt (v. Weizsäcker 1997:92, 97/IV). Die Einführung phänomenaler Kategorien wie die vitale Zeit nach Bergson oder die pathischen Aspekte des Lebewesens ist die Voraussetzung, die Gegenwart und das Leben als Erleben und nicht als puren Vorgang zu verstehen, und ist somit überhaupt erst die Möglichkeit, das Lebewesen selbst und Phänomene, wie sie dem Lebewesen erscheinen, zu untersuchen (vgl. Prohl 1991:378). Von Weizsäcker hat allerdings die Möglichkeit einer zufälligen, zustoßenden und somit sinnlosen Krankheit zumeist vernachlässigt oder sogar negiert (vgl. Entralgo 1987:43; vgl. Petersen 1985:71). Tatsächlich schreibt v. Weizsäcker: »Wenn also jemand eine Erbkrankheit oder eine Verletzung oder zufällig eine Infektion erleidet, wäre es annehmbar, daß damit nicht etwas auf ihn eingewirkt hat, das vorherging, sondern daß etwas geschieht, was nur und nur aus einem Zukünftigen plausibel wird? Ja, so ist es« (v. Weizsäcker 2005:285/X). Allerdings warnt er (1988:349/IX) seine Arztstudenten, dass sie keinesfalls vorschnell eine Diagnose nur auf Psychogenie erstellen dürften. Stattdessen müssten stets materielle Aspekte durchleuchtet werden. An anderer Stelle schreibt v. Weizsäcker (1987a:331/V), dass »kein Vernünftiger […] bestreiten [will], daß Erbfaktoren und Konstitution der Krankheit Vorschub leisten oder ihr ein besonderes Gepräge geben, daß Verletzungen, Gifte, Allergene, Bakterien, vom Zufall herangeführt, die Ursache von Krankheiten sind.« In einer späten Schrift (1986a:51/I) bestätigt er diese Ansicht, wenn er schreibt, dass er die Innere Medizin »für das eigentliche Kernstück aller Medizin« hält. Eine eindeutige Aussage über v. Weizsäckers Verhältnis zu sinnvollen oder zufällig entstandenen Krankheiten ist daher nicht zu treffen. Küppers (1992:173) als weiterer Kritiker zu diesem Thema befürwortet zwar den Einbezug der Psychoanalyse in die Anthropologische Medizin, er schließt sich jedoch der Meinung von Reuster (in ebd.: 173) an, dass die konkrete Anwendung in den Schriften v. Weizsäckers nur marginal festzustellen sei. Ein umfangreicher Einbezug psychoanalytischer Gedanken wären der Qualität seiner Fallbeispiele zuträglich gewesen, so Küppers weiter. Von Weizsäcker hat zwar ein umfangreiches Werk geschaffen, doch gibt er wenig konkrete Handlungsanweisungen für den interessierten Leser. Mancher Arzt, so ver82

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Der Mensch aus phänomenologischer Sicht

mutet Entralgo (1987:43), wird nach der v. Weizsäckerschen Lektüre sagen: »Gut. Und was mache ich jetzt?« Insgesamt weist v. Weizsäcker eine meist provokante, philosophisch eigensinnige, grüblerische und zum Teil weniger strukturierte Art auf, mit der er eine Verstörung seiner Leser in Kauf nimmt (vgl. Reenpää 1966:39; Stoffels 2003:95; Wyss 1957:183; Zybowsky 2008:321). Lässt man bezüglich der Kritik v. Weizsäcker Stellung beziehen, so schreibt er ganz unkompliziert: »Betrachten Sie bitte die Schwierigkeiten nicht gleich als Gegenargumente« (v. Weizsäcker 1986b:460/VI). Außerdem begründet er die zum Teil unübersichtliche Komplexität der Gestaltkreistheorie mit der Eigenschaft des Lebensvorgangs. Der Begriff Kreis bedeutet für ihn bereits einen Abfall von der Idee, weil er »ins Anschauliche zu transponieren versucht, was unanschaulich ist« (v. Weizsäcker 1987a:185/V). Da also das zu Erklärende, nämlich der Lebensvorgang, unanschaulich, mehrdeutig und antilogisch ist, kann die Erklärung, will sie das zu Erklärende nicht verklären, ebenfalls nicht leicht verständlich, eindimensional und klar strukturiert sein. 33

1.4 Der Mensch aus phänomenologischer Sicht Aufgrund der Tatsache, dass nicht die eine Phänomenologie existiert, sondern unterschiedliche Richtungen (Thiele 1990:105; Zahavi 2007:36) entstanden sind (weshalb ihre Originarität bis heute nicht beschrieben werden konnte [Thiele 1995:63]), ist es nicht möglich, eine erschöpfende Darstellung über sie zu leisten. Nachfolgend werden einige wichtige Aspekte der Husserlschen Phänomenologie beschrieben, um hierauf aufbauend die Weiterführung Merleau-Pontys zu einer Leibphänomenologie zu erreichen, da phänomenologische Bezüge in der Heilkunde und in der Sportwissenschaft insbesondere zu den Konzeptionen dieser beiden Autoren hergestellt werden (vgl. Meinberg 1986:140). Merleau-Ponty hat sich ausführlich mit dem menschlichen Leib, seiner Wahrnehmung und Bewegung auseinandergesetzt (Thiele 1990:62). Außerdem hat er medizinische und psychopathologische Erkenntnisse in seine Überlegungen einbezogen Diese grundsätzliche Meinung vertritt auch Heidegger in Mattner (1987:26), der schreibt: »Alle […] Wissenschaften vom Lebendigen [müssen], gerade um streng zu bleiben, notwendig unexakt sein. Man kann zwar auch das Lebendige als eine raumzeitliche Bewegungsgröße auffassen, aber man faßt dann nicht mehr das Lebendige«.

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(ebd.:229) und so eine Verbindung zwischen Wahrnehmen – Bewegen – Mensch – Welt – Gesundheit – Krankheit hergestellt. Daher verspricht die Berücksichtigung seines Ansatzes einen hohen Gewinn für die theoretische Fundierung der ganzheitlichen Bewegungstherapie.

1.4.1 Die phänomenale Lebenswelt und ihre Kategorien In der Naturwissenschaft bedeutet ein phänomenologisches Vorgehen ein solches, das ein Phänomen von außen betrachtet und subjektunabhängig möglichst exakt beschreibt. Die Phänomenologie als philosophische Strömung, welche durch Edmund Husserl begründet wurde, strebt konträr dazu danach, den Objektivismus und Szientismus zu überwinden (Zahavi 2007:7 ff.). In seinem Werk »Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie« (1962) kritisiert Husserl die zu seinerzeit herrschenden objektiven Wissenschaften, indem er ihnen vorwirft, ihr eigenes Sinnfundament vergessen zu haben. Nach Husserl fußt auch die Naturwissenschaft historisch auf der primären Lebenswelt 34, in der noch keine wissenschaftliche Abstraktion und Modellbildung vorhanden sind. Seine Kritik richtet er jedoch nicht gegen die Wissenschaft als Erkenntnismethode (vgl. Zahavi 2007:32), sondern gegen den Monopolanspruch zur Wahrheitserfassung, also gegen die Neigung zum Szientismus bzw. im Fall der Naturwissenschaft zum Naturalismus (Husserl 1962:3 ff.; vgl. Thiele 1990:117 f.; Zahavi 2007:31 ff.). Husserl sieht in jeder wissenschaftlichen Abstraktion eine nachträgliche Bearbeitung des lebensweltlichen Originals (z. B. Idealisierung in der Geometrie). Der Objektivismus löst darüber hinaus alles Weltliche von seinem Sinn- und Bedeutungsgehalt ab und beschreibt so nur noch Tatsachen. Durch den in den Naturwissenschaften mit dem Objektivismus verknüpften Szientismus, nach dem nur das als existent angesehen wird, was physikalisch messbar ist, gerät die europäische verwissenschaftliche Kultur in eine Sinnkrise (Husserl 1962:45 ff.). Die Betonung des lebensweltlichen Primats soll dieser Krise entgegenwirDie Lebenswelt ist nicht mit der alltäglichen Welt gleichzusetzen. Während der Laborant in seinem Arbeitsalltag immer mit Modellen und Theorien außerhalb der Lebenswelt zu tun hat, ist eine Papstwahl zwar ein lebensweltliches, jedoch kein alltägliches Phänomen (Hartmann 2006:102).

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ken (vgl. Merker 2011:250). Die Husserlsche Phänomenologie versucht, sich den Grundannahmen und Voraussetzungen, die jeder Wissenschaftsbetrachtung unterliegen, zu entziehen, indem sie diese als hypostasierte Vorurteile suspendiert. Eine solche in diesem Fall metaphysische Grundannahme ist beispielsweise die, dass es eine vom Menschen unabhängige Welt gibt, die da liegt und nur mit dem geeigneten Instrumentarium erfasst werden möchte. Mit seiner Parole »Zu den Sachen selbst« verweist Husserl auf sein Ziel, alle Vormeinungen, die sich unbemerkt und über Traditionen fortgeführt und sedimentiert haben, zu unterwandern (Strasser 1964:229). Hierzu zählt auch die im Juden- und Christentum gebräuchliche Trennung von Natur und Geist (vgl. v. Weizsäcker 1986a:244/I) bzw. Leib und Seele. Die Phänomenologie versucht also nicht, das Was-hafte im Sinne einer materiellen Substanzuntersuchung zu ergründen, sondern sie versucht, an das Wie-hafte als die Art der Erscheinungsweisen der Gegenstände durch philosophische Forschung heranzutreten (Brugger & Schöndorf 2010:357 f.; Heidegger 2006:27). Sie befasst sich mit den verschiedenen Erscheinungsweisen von lebensweltlichen Phänomenen, wie z. B. Kunstwerke, Melodien oder soziale Relationen, so, wie sie sich von selbst zeigen, und so, wie sie aufgefasst werden (vgl. Bermes 2004:59 f.; Zahavi 2007:13). Die Erscheinungen desselben Phänomens können in ganz unterschiedlichen Weisen vorkommen. Bei der objektiven Beschreibung z. B. eines starken Erdbebens lassen sich Daten über die geographische Lage, die Stärke auf der Richter-Skala oder die vermutete Ursache heranziehen. Das phänomenale Gegebensein des Erdbebens ist das Erleben dessen so, wie ich es erfahre bzw. erfahren habe. Es fällt gänzlich unterschiedlich aus, wenn a) b) c) d)

ich es gegenwärtig direkt vor Ort unter Todesangst erlebe, ich mich an das Erlebte erinnere (mit dem jetzigen Wissen, dass ich überlebt habe), ich mir einen Dokumentationsbeitrag darüber im Fernsehen anschaue, oder jemand es mündlich erwähnt.

Die Bezugskategorien der Phänomenologie unterscheiden sich maßgeblich von denen der Physik. Der phänomenale Raum wird nicht in physikalischer (z. B. euklidischer) Bezugsordnung beschrieben, sondern so, wie er unmittelbar erlebt wird. Er unterscheidet sich vom objektiven Raum in seiner situativen Veränderlichkeit und seiner PerAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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spektive, da ich die Welt nicht von ihr enthoben durch ein Raster eines fixen Koordinatensystems erfasse, sondern durch meinen Leib, der Nullpunkt meiner Ausrichtung ist (Husserl 1966:298 f.; Zahavi 2007:60): Das Zimmer derselben objektiven Größe kann mir, so Plügge (1967:2 f.), im Gefängnis bedrückend und einengend erscheinen, im Haus eines guten Freundes, der mir sein gleich kleines Gästezimmer zum Schlafen anbietet, hingegen wohlig und freundlich. Beim Fußballspielen ist der wahrgenommene Raum kein geometrisches Gebilde, sondern z. B. eine geschaffene Qualität als Lücke, die ich in den Abwehrblock gerissen habe und in die ich hineinschlüpfen möchte (Leist 1993:43). Der Fußballplatz, so Merleau-Ponty (1976:193), besitzt in der Aktion für den Spieler keine objektiven Ausmaße in Zentimeter, sondern »ist von Kraftlinien durchzogen (›Seitenlinien‹, Linien, die den ›Strafraum‹ abgrenzen) – in Abschnitte gegliedert (z. B. die ›Lücken‹ zwischen den Gegnern), die eine Aktion von ganz bestimmter Art herbeirufen […]. Der Spielplatz ist ihm nicht gegeben, sondern er ist gegenwärtig als der immanente Zielpunkt seiner praktischen Intentionen; der Spieler bezieht ihn in seinen Körper mit ein und spürt beispielsweise die Richtung des ›Tores‹ ebenso unmittelbar wie die Vertikale und Horizontale seines eigenen Leibes.« Die zum Teil beträchtliche Diskrepanz zwischen unveränderlichem physikalischen Raum und situationsbedingtem phänomenalen Raum ist jedem Fußballspieler bekannt, der in einem wichtigen Spiel einen ebenso wichtigen Strafstoß verwandeln musste. Hier erscheint das Tor als Ziel, als Möglichkeit zum großen Glück, ganz klein und der Torwart als potenzieller Verhinderer dieses Glücks, als Feind riesengroß. Die Lebenswelt mit ihrem phänomenal veränderlichen Raumund Zeitgefüge ist also nicht identisch mit der idealisierten, objektiven und eindeutigen physikalischen Raum- und Zeitauffassung.

1.4.2 Das sinnhafte Zur-Welt-Sein Am obigen Beispiel des Erdbebens wurde implizit bereits ein wichtiger Grundpfeiler der Phänomenologie, nämlich die Intentionalität, eingeführt (Thiele 1990:134). Intentionalität steht im Sinne von Franz Brentano und in seiner Folge von Husserl für Bezogenheit, Gerichtetheit auf etwas (Held in Husserl 1985:22 ff.; Tamboer 1997a:31). So ist kein Lebensvollzug, wie etwa das Gehen, ein situationsfreies ortsveränderndes Bewegen der Gliedmaßen, sondern stets ein »Ge86

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hen auf etwas« oder »über etwas«, »zu etwas bzw. jemandem hin« und »von etwas bzw. jemandem weg«. Intentionalität ist laut Tamboer (1997a:31) ein Begriff, mit dem die grundlegende menschliche Bezogenheit zur Welt bezeichnet wird. Ein Phänomen ist immer eine Erscheinung für jemanden als etwas, d. h. in einer bestimmten Bedeutung mit einem bestimmten Sinn (Thiele 1990:134 f.; Waldenfels 1998a:19). Wenn verstanden werden soll, als was etwas für jemanden erscheint, muss zwangsläufig auch das die Erscheinung wahrnehmende Subjekt in den Blick genommen werden. Dieselbe BarockTruhe etwa ist für den einen eine unpraktische Kleidungsaufbewahrungsmöglichkeit, für mich ist sie ein wertvolles schönes antikes Erbstück, das Freude bereitet und das unmittelbar als Teil der Großmutter mit positiven Gefühlen erlebt wird. Der kleine Junge erkennt in einer Eisfläche die Möglichkeit zu rutschen; er springt schräg auf sie auf, um vorwärts zu kommen und dabei Spaß zu haben. Der Gehbeeinträchtigte empfindet sie als Gefahr der Verletzung, als potenzielles Risiko; er umgeht sie oder überwindet sie langsam mit breiter Gangbasis und nach vorn gebeugtem Oberkörper. Das Subjekt ist immer individuell sinnhaft zur Welt gerichtet und kann deshalb nicht ohne sie betrachtet werden. Umgekehrt kann der Welt nur ein Sinn gegeben werden unter Berücksichtigung des erlebenden Subjekts. Eine isolierte Betrachtung des Subjekts oder der Welt ist deshalb als Abstraktion aufzufassen. Der Mensch ist somit niemals neutral zur Welt und seinen Dingen gerichtet, sondern nimmt stets etwas als etwas in seiner Um-zu-Möglichkeit wahr (Heidegger 2006:149). Er ist weiterhin zu jeder Zeit als natürliches Ich bereits präreflexiv sinnstiftend (Bermes 2004:80 ff.; Prohl 2010:229; Seewald 1996:30; Töpfer 2007b:267; Waldenfels 1986:160), weshalb er laut Merleau-Ponty (1974:16) »verurteilt zum Sinn« ist. »Mein Leib hat seine Welt oder begreift seine Welt, ohne erst den Durchgang durch ›Vorstellungen‹ nehmen […] zu müssen.« (ebd.:170). Das natürliche Ich erfährt erst sekundär seine Fortführung in dem bewussten, verantwortlich tätigen und die Reflexion durchführenden personalen Ich (vgl. Bermes 2004:87; Waldenfels 1986:160). Dass der Mensch sinnstiftend ist, bedeutet also nicht, dass der Mensch stets überlegt und vernünftig handelt und deshalb ein zielgerichtetes, zweckmäßiges, also sinnvolles Betragen an den Tag legt, oder dass er sich stets explizite Gedanken um die Dinge macht, die er wahrnimmt. Die Präreflexivität der Sinnstiftung lässt sich am Beispiel eines etwa fünfzehn Monate alten Kindes illustrieren, das den Mund öffnet, wenn es leicht am Finger gebissen wird. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Das Kind hat weder eine reflexive Kenntnis von dem Beißenden und seinem Mund noch von sich selbst und seinem eigenen Mund. Allerdings erfährt es seinen eigenen Mund und seine eigenen Kiefer unmittelbar und vorreflexiv als Beißwerkzeug. Da der Beißende aus der Sicht des Kindes die Fortführung der eigenen Intentionen ist, öffnet es intuitiv den Mund, um der erlebten Enge bzw. des erlebten unangenehmen Drucks am Finger durch das Beißwerkzeug aufzulösen (Merleau-Ponty 1974:403 ff.). So wie jede Wahrnehmung ist auch jede Bewegungshandlung stets sinngeladen, ohne dass ein Umweg über ein explizit überlegtes Ziel genommen werden muss (Kratzen wegen Mückenstich, Wippen vor Langeweile oder Unruhe). Bereits ein Reflex (z. B. Streckreflex) auf einen Reiz (z. B. Kniegelenkflexion) ist kein blinder Prozess, sondern er entspricht dem Sinn der Situation (z. B. Gleichgewichtssicherung). Reflexe resultieren deshalb nicht aus objektiven Reizen, sondern das Subjekt wendet sich selbst diesen zu und verleiht ihnen einen Sinn, den die Reflexe nie als einzelne physische Vorkommnisse, vielmehr erst als Situation haben (ebd.:104). Der zur Welt seiende Mensch ist also aus phänomenologischer Sicht deshalb doppelt verurteilt zum Sinn: zum einen, weil jeder Lebensvollzug für ihn als Akteur stets sinnhaft ist, und zum anderen, weil von ihm als Wahrnehmender alles Seiende stets bereits präreflexiv in einem Sinn erfasst wird.

1.4.3 Von der Bewusstseins- zur Leibphänomenologie Neben dem Ziel einer genauen Beschreibung der Phänomene versucht Husserl in seinen frühen Werken das reine – transzendentale – Bewusstsein freizulegen. Hierzu muss die von ihm ausgearbeitete phänomenologische Reduktion durchgeführt werden, mithilfe derer zumeist unreflektierte oder unbewusste Vorannahmen, wie z. B. wissenschaftliche Erkenntnisse, suspendiert werden (Fritz 2000:14 ff., 88; Husserl 1985:191 ff.). Insbesondere durch die phänomenologische oder auch transzendentale Reduktion unterscheidet sich die Phänomenologie von allen anderen Wissenschaften, so auch von der Psychologie, die ebenfalls das Bewusstsein zum Thema hat. Die phänomenologische Einstellung ist nicht auf die Gegenstände selbst, sondern auf die Art und Weise ihres Erscheinens gerichtet. Indem sie die intentionalen Strukturen des Bewusstseins thematisiert, deckt

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sie das auf, was in der natürlichen Einstellung 35 im Verborgenen bleibt. Das Verfahren zur Suspendierung auch der natürlichen Einstellung nennt Husserl Epoché. Sie stellt die Ermöglichung der phänomenologischen Reduktion dar, also die unvoreingenommene Thematisierung des Zusammenhangs von Subjekt und Welt (Thiele 1990:99 ff.; Zahavi 2007:23). Es ist bis zu seiner Krisis-Schrift das vorrangige Streben Husserls, mit der Phänomenologie voraussetzungslose Erkenntnisse zu erzielen. »Wir dürfen auf keinerlei Vormeinungen oder auf Vorurteile, wie sie uns durch irgendwelche Wissenschaften oder die philosophische Tradition gegeben sind, zurückgreifen« (Prechtl 2006:23). Die Methode der Epoché soll vermeintlich Selbstverständliches analysieren und reflektieren, um dem Wesen der Phänomene näher zu kommen. Während Husserl das reine transzendentale Bewusstsein von dem durch die Wissenschaft und naiv übernommenen Vormeinungen verfälschten Bewusstsein befreien will, wendet Merleau-Ponty den Blick von dem Versuch einer solchen absoluten Reduktion mit dem Hinweis ab, dass diese nie gelingen könne, da sich das Subjekt schon immer leiblich zur Welt gerichtet vorfindet (Fritz 2000:86, 90; Merleau-Ponty 1974: 6, 11; Strasser 1964:237; Waldenfels 1986:155). Husserl geht es in erster Linie darum, im Sinne einer Bewusstseinsphilosophie die Welt in »statu nascendi« zu erfassen, wobei ihm der Leib stets als eine Art Störung gilt, da er weder allein Gegenstand für das Bewusstsein ist, noch Bewusstsein vom Gegenstand (vgl. Seewald 1995:213 f.). Merleau-Ponty hingegen lenkt die Aufmerksamkeit seiner Phänomenologie vom Bewusstsein gerade auf dieses »merkwürdig unvollkommen konstituierte […] Ding« (Husserl in Bermes 2004:88). Er führt Husserls Bewusstseinsphilosophie inklusive des transzendentalen Subjekts in Richtung Leibphilosophie mit einem inkarnierten Subjekt zurück (vgl. Merleau-Ponty 1974:198; Waldenfels 1986:151). René Descartes stellte der res cogitans (Seele) die res extensa als Körper diametral entgegen. Diese ontologische Zweiheit warf nun die alte philosophische Frage auf, wie beide getrennten Wirklichkeitsbereiche, die unterschiedlichen Gesetzen gehorchen, sich im Men-

Als natürliche Einstellung bezeichnet Husserl diejenige, in der der Mensch von Natur aus davon ausgeht, dass es eine objektiv vorhandene Welt gibt, die unmittelbar vor ihm existiert und die er anschaulich erfährt. Diese eine Welt ist auch für andere Subjekte vorhanden, die für jeden anders zu Bewusstsein kommt, da jeder seinen Ort hat, von dem aus er die Gegenstände betrachtet (Husserl & Held 1985:131 ff.).

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schen verbinden. Entweder wird der Mensch vom Geist her beschrieben, nach dem nichts ist, es sei denn als Gegenstand des Bewusstseins (Idealismus), oder er wird beschrieben als Körperliches, das auch das Seelische und das Bewusstsein als Geflecht der objektiven Welt ansich einbezieht (Realismus und Naturalismus) (vgl. Bermes 2004:40 f.; vgl. Merleau-Ponty 1974:487 ff.; Waldenfels 1986:149 f.). Die dritte Dimension, die Merleau-Ponty in seine Betrachtung einführt, bezeichnet den Rückgang auf die konkrete Erfahrung des ZurWelt-Seins, in der die in der Reflexion auftretenden Dichotomien noch nicht aufgebrochen sind (Fritz 2000:14 f.; vgl. Merleau-Ponty 1974:489, 503; Vetter 2004:277). Mit dieser dritten Dimension setzt Merleau-Ponty den Idealismus (Für-Sich) und den Realismus (AnSich) zueinander in Bezug. Es soll eine kategorial fehlerbehaftete und bipolare Sichtweise durch eine Orientierung des Menschen mit seinem Leib im Sinne der präreflexiven Wahrnehmung überwunden werden (vgl. Fritz 2000:14; Merleau-Ponty 1974:489; Vetter 2004:276 f.). Der Schlüssel zur phänomenalen Welt ist die Reflexion des Unreflektierten, in der »noch kein Wissen und besonders keine Wissenschaft die individuelle Perspektive nivelliert und ihrer Reduktion unterworfen haben. In dieser Perspektive und durch sie hindurch müssen wir aber allererst einen Zugang zur Welt finden. Sie also gilt es zuerst zu beschreiben« (Merleau-Ponty 1974:298). Vorreflexiv und phänomenal zeigt sich ein Gegenstand wie etwa eine Beinprothese dem Prothesenträger nicht als Außen-Fremd-Objekt, das er durch Rezeptoren und Verarbeitungsprozesse in seinem Gehirn wahrnimmt, sondern als Verlängerung des eigenen Leibes und damit seiner Intention und Welthabe (vgl. ebd.:173, 182). Sowohl die Prothese als auch der Leib sind im Lebensfluss nicht als vom Bewusstsein getrennte Einheiten gegeben. Es ist auch nicht so, dass der Mensch seine Hand als Körper-Ding erlebt, die er mit seinen Gedanken steuern kann. So ist der fungierende weltvermittelnde Leib während aller Lebensvollzüge weder als reine res cogitans noch als reine res extensa gegeben. Stattdessen ist der fungierende Leib für ihn das Medium, durch das er die Welt verändert. Die Philosophie Merleau-Pontys kann somit als Versuch angesehen werden, das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Natur bzw. Innen und Außen aufzudecken, um eine Versöhnung im Spannungsfeld zwischen Subjektivismus und Objektivismus zu erreichen (Bermes 2004:40; Danzer 2006:288; vgl. Thiele 1990:69; Vetter 2004:277; vgl. Waldenfels 1986:155). Die Setzung des Leibes als natürliches Ich fällt mit der Auflösung der in allen reflek90

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tierten Wissenschaften vorkommenden Subjekt-Objekt-Spaltungen und Innen-Außen-Dichotomien zusammen. »Inneres und Äußeres sind untrennbar. Die Welt ist gänzlich innen, ich bin gänzlich außer mir« (Merleau-Ponty 1974:464). In seinem Werk »Phänomenologie der Wahrnehmung« zeigt Merleau-Ponty (ebd.:97 ff.) zunächst die Unzulänglichkeit empiristisch-realistischer Konzepte auf. Hierfür beschreibt er das Phänomen des Phantomglieds aus physiologischer und psychologischer Sicht – also aus der Perspektive einer wissenschaftlichen Objektivation. 36 Gegen eine rein physiologische Erklärung des Phantomglieds spricht, dass der Betroffene das strukturell verlorene Glied nicht als immer gleich groß spürt. Unmittelbar nach der Amputation fühlte sich der Phantom-Arm einiger Patienten riesengroß an. Nach einer gewissen Weile schrumpfte er wieder. Wenn der Arm thematisiert wurde, so wuchs er wieder an. Physiologisch lassen sich diese Berichte nicht erklären, da eine lineare und eindeutige Kausalreihe zwischen Reiz, Reizempfang und Reizempfindung, also ein Korrelat zwischen physiologischen Strukturen und phänomenalen Bewusstsein nicht vorhanden ist (Waldenfels 1986:153). Es läge somit nahe, von einem psychischen Phänomen zu sprechen. Jedoch ist es so, dass, wenn sämtliche den Arm vormals versorgenden Nervenfasern unterbrochen wurden, auch das Phantomglied verschwand. Das Spüren des amputierten Arms ist also einerseits von physiologischen Komponenten im Sinne einer Kausalität des Objektes Körper abhängig, andererseits hängt das Phantomglied an der persönlichen Geschichte des Betroffenen mit seinen Erwartungen, Erinnerungen, Erschütterungen und seinem Willen zusammen. Die Phänomenologie akzeptiert hier jedoch keine »Mischlösung«, die besagen würde, dass ein Teil physisch und ein Teil psychisch konstituiert sei; denn dies hieße, dass es einen gemeinsamen Boden für räumlich situierte physiologische und räumlich nicht situierte psychische Komponenten gäbe (ebd.:101). »Was es uns ermöglicht, ›Physiologisches‹ und ›Psychisches‹ zueinander in Bezug zu setzen, ist also dies, daß eines und das andere, integriert in die Existenz, nicht mehr sich unterscheidet als Bereich des An-Sich und Bereich des Für-Sich, vielmehr beide auf den intentionalen Pol einer Welt hin orientiert sind« (ebd.:112). Der Phantomarm ist nicht nur eine Erinnerung, die durch psychische VerEr bezieht sich hier auf Experimente der Gestaltpsychologen Gelb und Goldstein (1920).

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drängung und Nicht-Wahrhaben-Wollen vorgestellt wird. Der phänomenal vorhandene Arm ist derselbe Arm, der abgetrennt wurde, er ist Gegenwart des Leibes, ohne sich gänzlich mit ihm zu vereinigen (Merleau-Ponty 1974:110; Plügge 1967:15). Das Phantomglied ist so verstanden eine Weise des Zur-Welt-Seins als »einstige Gegenwart, die sich weigert, zur Vergangenheit zu werden« (Merleau-Ponty 1974:110). Dass die Trennung der entsprechenden Nerven das Phantomglied zum Verschwinden bringt, kann unter dem Gesichtspunkt des Zur-Welt-Seins so verstanden werden, dass die vom Stumpf ausgehenden Erregungen den amputierten Arm im Kreislauf der Existenz gehalten haben. Der gespürte habituelle Leib als Vermögen der Handhabe der Dinge in der Welt verhält sich nun asynchron zum aktuellen von außen sichtbaren Leib, dessen Gliedmaße nicht vorhanden ist. In diesem Spannungsfeld präsentiert sich das Phänomen des Phantomarms »als ein Bewahren der Möglichkeiten des Weltbezugs, die allein dem Arm zukommen, als beständiges Engagement in der Welt« (Bermes 2004:81).

1.4.4 Der phänomenale Leib In den vorherigen Kapiteln wurde bereits stillschweigend der Begriff des Leibes eingeführt, ohne ihn explizit aus phänomenologischer Sicht vom wissenschaftlichen Körper-Objekt abzugrenzen. Dies soll nun nachgeholt werden. Gleichwohl mein Leib als Ding auf die Welt einwirken kann und er selbst Einwirkungen erleidet, ist er nicht ein beliebiges Objekt, das von meinem getrennt existierenden Geist gesteuert bzw. erlebt wird. Dies zeigt sich bereits in der alltäglichen Rede: Nicht mein Arm greift nach dem Glas, sondern ich greife nach dem Glas. Den Schmerz, der mit physiologischen Vorgängen verbunden wird, erlebe, erleide ich unmittelbar als Schmerz an der verletzten Stelle (Merleau-Ponty 1974:131; Waldenfels 1986:153 ff.). Der Leib ist zum einen ein bestimmtes Körper-Ding unter anderen Dingen. Er ist die materielle Hülle, der materielle Rahmen, die Ermöglichung des Lebens und kann empirisch erfasst, beschrieben und behandelt werden. Auf der anderen Seite zeigt er sich als fungierender Leib, der das Medium meiner Welthabe ist. Während das Körper-Ding ein Ding ist, das von außen (auch naturwissenschaftlich) betrachtet und vermessen werden kann, wird der Leib als mein oder dein Leib gelebt und unterschiedlich erlebt (Waldenfels 1986:156). Dieser Sachverhalt ent92

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spricht nach Merleau-Ponty der Doppeldeutigkeit bzw. Ambiguität des Menschen (Danzer 2006:285 f.; Plügge 1967:67). Der naturwissenschaftlich betrachtete Leib als Körper-Objekt ist von seinem ursprünglichen sinnhaften und intentionalen Zur-WeltSein gelöst. Der fungierende Leib als Medium hingegen ist meine Verankerung in der Welt. Nur mit ihm und durch ihn vermag ich es, zur Welt zu sein und erblicke sie aus Sicht meines mir je gegebenen Leibes. Der Leib ist somit mein unhintergehbarer Null-Punkt meiner natürlichen Lebenswelt (Husserl 1966:298; vgl. Merleau-Ponty 1974: 115 f.; Zahavi 2007:60). Mattner (1996:89) beschreibt unter Bezugnahme Gabriel Marcels und in Abgrenzung zum naturwissenschaftlich erfassten menschlichen Körper, den er als »biologisch-physikalische Apparatur, die der räumlich-physikalischen Welt angehört« bezeichnet, den menschlichen Leib als eine individuelle Wesenheit und als jeweiliges menschliches Subjekt, das mit der Welt »sinnhaft« verankert ist. Ein so verstandener Leib ist nicht mit einem Körper als Haben-Ding vergleichbar, da er dem Menschen unverfügbar ist, denn in diesem Verständnis ist der Mensch sein Körper. Aus dieser Sicht ist der menschliche Leib erst nach dem Tod oder durch die wissenschaftliche Abstraktion ein dinghafter Körper im Sinne einer objektivierbaren raum-zeitlichen Größe. Als Medium tritt der Leib im alltäglichen Lebensvollzug zurück und verhüllt sich in Verborgenheit. Er ist als Sehender unsichtbar und ein ständig latent blinder Fleck, der das eigene Fungieren in seiner Selbstvergessenheit im Dunkeln lässt (Bermes 2004:75; Fuchs 2006b:338; Mattner 1986:89). So wie es die Qualität eines Mediums auszeichnet, selbst in den Hintergrund zu treten, um – ungeachtet seiner selbst – zu wirken, nimmt sich der Leib in alltäglichen Handlungen zurück, um die Welt zu eröffnen, sich selbst der Welt zu öffnen und in Begegnung zu ihr und Umgang mit ihr zu gelangen (Waldenfels 1986:157). So ist mir mein Bein beim störungsfreien Gehen phänomenal nicht gegeben. »Es geht in der Aktion des Stehens oder Gehens unter« (Plügge 1967:12). Im alltäglichen Tun bin ich überhaupt nicht bei mir, sondern stets dort im Geplanten, im Gewollten (ebd.:72), oder wie Fuchs (2000:46) es schreibt, bin ich mir selbst vorweg. Die vorgängige Verborgenheit zerfällt dann, wenn eine Störung auftritt, etwa in der Dissonanz zwischen dem, was ich will (z. B. Laufen) und dem, was ich kann (z. B. gebrochenes Bein verursacht heftigen Schmerz). Der Verlust der phänomenalen Verborgenheit des Leibes ist z. B. eindringlich gegeben, wenn ich mir beim Kauen auf die Zunge beiße. Im alltäglichen Kauakt Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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habe ich phänomenal keine Zunge. Erst wenn ich den heftigen, stechenden Schmerz, hervorgerufen durch meine Verletzung, spüre, drängt sie sich in meine Wahrnehmung. An diesem Beispiel zeigt sich auch die Notwendigkeit der Verborgenheit des Leibes: Wenn ich meinen Leib stets thematisieren würde, wäre mir zu jeder Zeit bewusst, welcher Verletzungsgefahr ich mich tagtäglich aussetzte: Meine Zunge befindet sich beim Kauen immer wieder zwischen den harten, scharfen Zähnen, die in schnellen Bewegungen aufeinander zurasen, um die Nahrung mit Gewalt zu zerteilen. Die Zähne »sind glatt, sie sind hart, sie geben nicht nach; man kann sie zusammenpressen, ohne daß ihr Volumen sich verändert; sie wirken wie eingesetzte und wohlpolierte Steine« (Canetti 2001:243). Das alltägliche Essen ist aus dieser Sicht immer ein gesundheitsgefährdender Akt. Würde ich das Kauen, aus Angst, mich selbst zu beißen, nun immer bewusst durchführen, würde sich die harmonische Kaubewegung aufheben und im schlimmsten Fall ständig missglücken 37 (siehe Kapitel 3.5.2.6). Das, was tatsächlich phänomenal erlebt wird, ist jedoch das schmackhafte Essen und das hiermit wohlige Gefühl, das sich im gesamten Mundraum, der nicht auf die Zunge als Träger der Geschmacksrezeptoren zu reduzieren ist, befindet und über diesen Mundraum sich noch weiter leiblich auswellen kann. Der Leib ist also kein klar bemessenes Objekt mit deutlichen Grenzen, wie die Haut des physikalischen Körpers. Auch die phänomenale Räumlichkeit des eigenen Leibs ist eine andere als die fixe physikalisch-objektive Räumlichkeit des objektiven Körpers. Der habituelle Leib ist mir nicht durch irgendwelche kognitiven Berechnungen eines objektiven Gegenstandes mittels aller Rezeptoren gegeben, sondern ist schon stets vorichhaft als Gestalt vorhanden (Merleau-Ponty 1974:107). Die Lage meiner Hand ist nicht analytisch bestimmt durch Winkel zwischen Boden und Rumpf, Arm und Rumpf, Unter- und Oberarm und letztlich Unterarm und Hand. Stattdessen weiß ich absolut, wo sich meine Hand befindet. Ebenso wenig muss ich bei einem Schmerz meinen Körper in Bezug zu einem objektiven Koordinatensystem setzen; vielmehr weiß ich unmittelbar und ohne zu suchen, wo es schmerzt. Die Finger als Massiervermögen und der schmerzende Ort als ein zu massierender BeDie Tatsache, dass eine durch Reflexion kontrollierte Bewegung ihre Natürlichkeit und harmonische Selbstverständlichkeit verliert, beschrieb bereits Heinrich von Kleist (2011:311 ff.) in seinem bekannten Werk »Über das Marionettentheater«.

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reich haben ein unmittelbares Verhältnis zueinander (ebd.:125 ff.). »Die ganze Handlung spielt sich im phänomenalen Bereich ab und nimmt durch die objektive Welt keinen Durchgang; nur ein Zuschauer […] kann glauben, […] die Hand bewege sich im objektiven Raum« (ebd.:131). Die leiblich-phänomenale Räumlichkeit ist keine Positionsräumlichkeit, sondern eine Situationsräumlichkeit (Merleau-Ponty 1974:125 ff.; Müller & Trebels 1996:128). Die Situationsräumlichkeit, die letztlich eine dynamische stets veränderliche Gestalt des Leibes als Existenz zur Welt meint (vgl. Merleau-Ponty 1974:126), zeigt sich in alltäglichen Situationen, wie z. B. beim Tennisspiel. Hier ist der Schläger phänomenal die Verlängerung meines Leibes geworden. Er ist kein Gegenstand mehr, den ich wahrnehme, sondern er ist ein Instrument, mit dem ich wahrnehme (ebd.:182). Er wird einverleibt, ohne sich diese Tatsache reflexiv oder kognitiv vergegenwärtigen zu müssen (Prohl 2010:228). So verhält es sich auch, wenn eine Axt gekonnt beherrscht wird. In diesem Fall verlängert sich der phänomenale Leib bis in die Schneide der Axt. Es werden nicht die gereizten Rezeptoren der Haut gespürt, sondern es wird das Eindringen der Axt in das Holz an der Scheide erlebt (vgl. Fuchs 2011:269; vgl. Merleau-Ponty 1974:173). Allerdings ist der Leib nicht als absolut verfügbares harmonisches Nicht-Sein in der absolut habbaren Welt zu verstehen. Er zeichnet sich stattdessen durch seine partielle Unverfügbarkeit aus, die die absolute Welthabe beeinträchtigt. Etwas ist z. B. zum Heben zu schwer, ich bin müde oder ich habe Knieschmerzen und kann daher nicht laufen. Aufgrund der Dissonanz zwischen Wollen und Können kann sich im menschlichen Erleben sowohl präreflexiv als auch reflexiv ein Leib-Seele-Dualismus auftun. Plügge (1967:70 ff.) bezieht sich deshalb in seinen medizinischen Überlegungen auf das Verhältnis von Ich und Leib in der Störung des Leib-Welt-Verhältnisses. Während mein Leib im für mich unauffälligen Lebensvollzug ganz hinter die Situation tritt und mir mein Handeln als verborgenes Medium ermöglicht, tritt er mir in der Störung entgegen (s. o. Zungenbeispiel). Dann erfahre ich meinen Leib als Widerstand – als Gegenstand. Die Aussage: »Ich fühle mich schlecht« impliziert die von Merleau-Ponty bezeichnete Ambiguität des Leibes. Wenn das Reflexivum in einer Aussage verwendet wird, drückt es stets ein Verhältnis zu etwas bzw. zu jemandem aus. Wenn ich mich schlecht fühle, so bezeichnet das »Ich« etwas, das fühlt, und das »Mich« bezeichnet das, was gefühlt wird. Dieses Ins-Verhältniszu-sich-selbst-Setzen hat seinen Ursprung in der Situation einer IchAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Dissonanz, also im Sich-selbst-Erleben als Leib-Ding (ebd.:70 ff.). Wenn etwa das Wollen (z. B. Gehen) dem Können nicht mehr entspricht, entsteht eine solche Dissonanz. In dieser tritt dann auch ein phänomenaler Dualismus zutage. Hier erlebe ich den Leib als Ding, dem als Vermögen der Erfüllung meines Wollens Grenzen gesetzt werden. Plessner 38 (2003a:238 ff./VII) bezieht sich auf einen solchen möglichen Fremdheitscharakter des Leibes, wenn er zwischen gelebtem Leib als Leibsein 39 und dem zum Teil widerspenstigen Charakter des aufgemerkten Leibs als Leibhaben beschreibt. Ein solcher Dualismus ist allerdings eher als Polarität, denn als ein Substanzdualismus zu verstehen. »Es handelt sich […] um eine ontologische Zweideutigkeit, die Natur ist nicht reine Natur, der Geist nicht reiner Geist, der Mensch ist eines im anderen […]« [Hervorh. v. Original verändert] (Waldenfels 1986:164). Während einer nicht gekonnten Bewegung tritt der Leibhaben-Charakter deutlich hervor, der sich, sobald die Bewegung in »Fleisch und Blut« (Plessner 2003a:242/VII) übergangenen ist, im selbstverborgenen Leibsein verliert. Der Leib ist somit kein fest umrissener Körper, sondern schwingt dynamisch zwischen Leibsein und Leibhaben hin und her (Grupe & Krüger 2007:234 ff.; Plessner 2003a:236 ff./VII; Seewald 1996:38).

1.4.5 Kritische Betrachtung der Phänomenologie Die Phänomenologie ist eine Wissenschaft, die gerade das Vorwissenschaftliche, nämlich das tägliche Leben und die Lebensvollzüge, zum Thema hat. Weil sie als Wissenschaft anderen Kategorien und Paradigmen unterworfen ist als ihr Erkenntnisgegenstand (das lebensweltliche Phänomen), muss sie einen »Spagat« vollziehen: Sie ist selbst reflexiv, darf ihr eigenes Sein jedoch nicht auf das performative Gleichwohl Plessner einen Vertreter der philosophischen Anthropologie darstellt und kein Phänomenologe ist, rechtfertigt sich sein Einbezug deshalb, da seine Ausführungen phänomenologische Gedanken beinhalten, also eine inhaltliche Verwandtschaft zwischen beiden zu verzeichnen ist (siehe hierzu ausführlich Thiele [1990: 206 ff.]). 39 Plessner (1973:396 f./VIII) unterscheidet nicht konsequent zwischen den Begriffen Leib und Körper. In diesem Buch wird jedoch, sobald die erlebende Perspektive gemeint ist, vom Leib und, wenn die objektivierende Perspektive betrachtet wird, vom Körper gesprochen. Daher werden im Nachfolgenden die Begriffe »Leibsein« und »Leibhaben« im Kontext des Erlebens des Menschen seiner selbst genutzt. 38

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lebensweltliche Leben, das insbesondere durch seine präreflexive Selbstverständlichkeit gekennzeichnet ist, übertragen. Die Wissenschaft strebt nach Logik und Stringenz, während das Leben zum Teil ambigue und widersprüchlich ist. Die Wissenschaft ist rational, während das Leben auch der Rationalität entsagt. Die größte Schwierigkeit ist jedoch, die gewohnte Beobachterperspektive aufzugeben und sich in die Teilnehmerperspektive zu versetzen. Merleau-Ponty verfolgt das Ziel, die Einseitigkeit des Realismus und Idealismus aufzuzeigen. Er wendet sich in seiner Ausarbeitung gegen den Dualismus von Körper und Seele. Der Schlüssel zur Versöhnung ist für Merleau-Ponty der menschliche Leib in seinem präreflexiven ZurWelt-Sein, das weder im Körper noch im Bewusstsein aufgeht (vgl. Fritz 2000:15; Vetter 2004:276 f.). Merleau-Ponty setzt dem verdinglichten Menschen den erlebten phänomenalen Leib gegenüber. Der Leib-Seele-Dualismus hat sich somit verlagert zu einem Leib-Körper-Dualismus (Fuchs 2008:109). Auf der einen Seite befindet sich der objektive Körper als materieller Teil des Menschen, der sich messen und quantifizieren lässt. Auf der anderen Seite steht der Leib als Medium zur Welthabe, als Anker und Nullpunkt in der Welt und als natürliches Ich, das als dritte Dimension außerhalb der Gegenstandsbereiche Physis und Psyche beheimatet ist (Merleau-Ponty 1974: 174 ff.; Waldenfels 1986:149 ff.). Der Leib ist etwas nie Fertiges und fortlaufend neu Entstehendes, das von der jeweiligen Situation und ihrer Bedeutung entscheidend bestimmt wird. Alles Leibliche entsteht und verwirklicht sich ständig wandelnd in Situationen, in denen der ichhafte Leib in unauflösbarer Verbindung mit der Welt zu ständig neuen Gestalten geboren wird (vgl. Plügge 1967:35). Aufgrund der Tatsache, dass die Phänomenologie die objektive Betrachtung des Menschen nicht zum Gegenstand hat, ist sie nicht in der Lage, die in der Medizin und Therapie notwendigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu erlangen. Indem sie den Fokus auf all das richtet, das sich vor jeder wissenschaftlichen Objektivierung zeigt, ist es ihr z. B. nicht möglich, chemische Analysen zu betreiben. Wegen ihrer Naturvergessenheit, so Meyer-Abich (2010a:351), ist die Phänomenologie »für die Philosophie der Medizin nur begrenzt interessant.« Diese Bewertung wird in dieser Arbeit allerdings nicht geteilt. Es ist zwar nicht möglich, Medizin ausschließlich mit der Phänomenologie durchzuführen, allerdings ist sie als kritische Meta-Wissenschaft, die sich gegen die Selbstverständlichkeit des Szientismus und Objektivismus stellt, fruchtbar. Darüber hinaus verspricht insbesondere der Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Einbezug der Ambiguität des Leibes und seine präreflexiven Aspekte gerade im Zusammenhang mit Menschen, deren Leibverfügbarkeit und Welthabe herabgesetzt ist, eine Lücke der objektivistischen Wissenschaften zu schließen (siehe hierzu Kapitel 3).

1.5 Mögliche Zusammenführung der Wissenschaftsparadigmen Nachfolgend soll der Versuch unternommen werden, die bisher besprochenen Mensch-Welt-Konzepte auf ihre Anwendbarkeit für das lebende Subjekt und damit auf die praktische Arbeit der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie zu überprüfen.

1.5.1 Leben als Konstruktion versus Materie als Abstraktion Sowohl v. Weizsäcker als auch die Phänomenologie um Husserl und Merleau-Ponty wenden sich insgesamt von den davor besprochenen Mensch-Welt-Konzepten ab, die unterschiedliche Abhängigkeiten zwischen Leib und Seele postulierten: 1. Der Naturalismus begreift den Menschen als Materiekomplex, also als Objekt, aus dem alles Lebendige und somit auch das Bewusstsein erklärt werden kann. Unabhängig davon, ob das Bewusstsein als Epiphänomen oder als identisch mit dem Gehirn gesehen wird, fasst der Naturalismus das Bewusstsein und die hierdurch möglichen Erlebnisse als Produkte des Gehirns, welches lediglich Illusionen wie die Willensfreiheit oder die Welt insgesamt vermittelt, auf. 2. Die kognitive Handlungstheorie spricht dem Menschen Selbstverantwortung und Willensfreiheit zu und erkennt im Bewusstsein eine Sphäre, die nicht auf das Gehirn reduziert werden kann. Da sie jedoch seelische Prozesse und physikalische Prozesse vermischt bzw. per Transformatoren aufeinander kausal wirken lässt, begeht sie einen Kategorienfehler. 3. Einen solchen Kategorienfehler versucht das biopsychosoziale Modell zu vermeiden. Hier wird der Mensch ebenfalls als ein Wesen erachtet, das sukzessive durch seine materiellen Einzelteile aufgebaut ist. Mit dem biopsychosozialen Modell konnten sowohl physikalische und psychische als auch soziale Merkmale des menschlichen Lebens aufeinander bezogen werden. Jedoch zeigten sich auch hier grundsätzliche erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Pro98

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bleme: Die Systemtheorie versucht unter Einbezug der Semiotik und der Emergenz eine Antwort auf die ontologisch-substanzielle Frage zu finden, was der Mensch ist und wie sich seine Systembestandteile zusammensetzen. Jedoch konnte nicht erklärt werden, wie die Übersetzung zwischen den verschiedenen Systemebenen erfolgt und wie plötzlich aus der toten Materie Leben hervorkommt. Alle drei Mensch-Welt-Konzepte erkennen in der wahrnehmbaren Lebenswelt eine Summe bzw. Übersumme von physikalischen Reizen und setzen so die Lebenswelt zu einer Täuschung bzw. zu einem sekundären Phänomen herab. Die Wahrnehmung ist aus dieser Sicht lediglich »eine pure Erkenntnisoperation fortschreitenden Registrierens von Qualitäten und ihres gewöhnlichsten Ablaufs« (Merleau-Ponty 1974:44). Da das menschliche Bewusstsein in diesen Konzeptionen ursprünglich das Produkt des Gehirns, also der materiellen Substanz ist, Bewusstseinsstrukturen sich deshalb isomorph zu den Gehirnstrukturen verhalten, handelt es sich sowohl beim Naturalismus und bei der kognitiven Handlungstheorie als auch beim biopsychosozialen Modell im Kern um physikalistische Annahmen. Nachfolgend werden solche Mensch-Welt-Konzepte objekt- bzw. substanzbasiert 40 genannt. Der Gestaltkreis und die Phänomenologie vollziehen hingegen eine Blickwendung und beginnen mit ihrer Betrachtung beim Lebewesen und dessen Strukturen, denn das Leben entsteht nach ihnen nicht aus toter Materie, sondern nur aus dem Leben: »omne vivum ex vivo« 41 (v. Weizsäcker 1987b:33/VII). Hier gelten nicht mehr die Atome der Physik und die physikalisch-chemischen Reaktionen des Empirismus als die ursprüngliche Wirklichkeit, sondern die qualitative Gestalt der Welt, ihre qualitativen Gebilde und Beziehungsstrukturen, die wahrgenommenen Phänomene und der intentionale, d. h. relational zur Welt seiende Leib (vgl. Merleau-Ponty 1974:43; vgl. v. Weizsäcker 1987a:122/V; 1997:292/IV). Nicht die lebensweltlich erfahrbaren Gestalten sind Konstruktionen, sondern umgekehrt sind die einzelnen isolierten Substanzen Abstraktionen des ursprünglich Ganzen und können nur durch das Absehen von qualitativen Aspekten betrachtet werden (Rappe 2012:12 ff.). Der Leib und die Welt lassen sich deshalb nur aus Sicht des leiblichen Vollzugs selbst verste40 Es sei darauf hingewiesen, dass substanzbasierte Menschenbilder (wie es z. B. beim biopsychosozialen Modell der Fall ist) dennoch subjektintegrierend sein können. 41 »Alles Lebendige (entsteht nur) aus Lebendigem« (v. Weizsäcker 1987b:33/VII).

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hen, da die Objektivation bereits die Leiblichkeit voraussetzt (Rappe 2012:12 ff.; Waldenfels 1986:157). Aus dem primordialen Leib lässt sich der Körper als Materiekomplex abstrahieren, verliert dadurch jedoch seine ursprüngliche Subjektivität und wird zum bloßen Objekt (Rappe 2012:65, 100). Auch v. Weizsäcker (1997:83/IV) erkennt im stattfindenden Lebensvollzug das Primat vor der sekundären Verdinglichung. Der Mensch, so v. Weizsäcker (1987a:122/V), kann nur verstanden werden, wenn von einer ursprünglichen Ordnungslehre der Gemeinschaft ausgegangen wird: »Der Einzelmensch ist ontologisch nicht real, er ist eine pure Abstraktion […]. In Wirklichkeit kann eine Person nur als Person unter Personen begriffen werden.« Sowohl die Phänomenologie als auch der Gestaltkreis gehen weitergehend von einer primordialen Einheit zwischen Mensch und Welt aus (vgl. Merleau-Ponty 1974:488 f.; vgl. Seewald 1995:211; vgl. v. Weizsäcker 1987a:125/V; vgl. v. Weizsäcker 1990:614). Sowohl bei v. Weizsäcker als auch bei Merleau-Ponty gilt diese intensive Verbundenheit als Kernstück ihrer Konzepte (vgl. Merleau-Ponty 1974:128, 239; vgl. Reenpää 1966:55). Die Welt wird hier nicht als Reizumwelt aufgefasst, sondern als Lebenswelt, die so beschrieben wird, wie sie phänomenal erscheint. Der Mensch ist ein Subjekt im Sinne eines erlebenden, oder wie v. Weizsäcker schreibt, pathischen Wesens. Er wird nicht auf substanzielle Bestandteile reduziert und anhand verschiedener Maschinenanalogien erklärt, sondern als ein lebendiges Ganzes mit seinen mehrdeutigen (antilogischen oder ambiguen) Aspekten verstanden. Er ist unlöslich mit der Welt verbunden und kann nur in sekundärer Sicht als isoliertes System betrachtet werden. Der Mensch als Subjekt ist teleologisch mit einem Um-zu-Charakter handelnd zur Welt gerichtet und erkennt die Welt nie als Neutrum, sondern stets etwas als Etwas. Sinn- und Bedeutungsbezüge gelten als primäre Seinsweise der Welt und ihrer Dinge und werden unmittelbar und nicht durch den Umweg eines Analogieschlusses erfahren (z. B. Merleau-Ponty 1974:16 ff., 218 f.; vgl. v. Weizsäcker 2005:70 ff., 405 f./X). Bedeutung und Sinn bezeichnen weder Eigenschaften der Subjektseite noch der Objektseite, sondern sind als deutbares Relationsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt zu verstehen (Gordijn nach Tamboer 1997b:241). Da der Mensch Bedeutungen bzw. bedeutungshafte und sinnvolle Gestalten wahrnimmt und diese die Bewegungen als Einwirkmöglichkeit auf die Welt prägen und umgekehrt von ihnen geprägt werden, lässt sich resümieren, dass alle Lebensvollzüge 100

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unter der notwendigen Bedingung der materiellen Basis primär durch gestalthafte Relationsverhältnisse organisiert werden (Buytendijk 1967:75; Fritz 2000:131; Fuchs 2008:237 ff.). »Man kommt der phänomenalen Realität des leiblichen Geschehens also näher, indem man sagt, daß die Bedeutung […] die nervösen Aktivitäten, die vegetativen endokrinen Funktionen usw. organisiert, als wenn man sagen würde, daß durch die Totalität dieser Aktivitäten und Funktionen die Bedeutung ›entsteht‹« (Buytendijk 1967:75). Das Wesentliche des Lebens sind also Bezugsverhältnisse zwischen Lebewesen und Welt, die auf Bedeutungen, Zielen, Wünschen, Werten etc. beruhen (Fuchs 2008: 217; v. Weizsäcker 1986b:452/VI). Der relationale, bedeutungs- und sinnhafte Charakter des Menschen impliziert eine Auffassung, nach der der Mensch primordial ein pathisches Subjekt ist, weshalb nachfolgend bei Bezugnahme auf die Anthropologische Medizin und die Phänomenologie von einem subjektbasierten Menschenbild gesprochen wird. »Nicht die Subjektivität entsteht als ein Restprodukt aus der Objektivität oder als deren Zutat, sondern die Objektivität geht aus der Reduktion jener Subjektivität hervor« (Rappe 2012:76). Die naturwissenschaftliche Betrachtung führt aus dieser Sicht also nicht zum Wesen des Menschen, sondern erreicht lediglich ein besseres Verständnis für die materiellen Rahmenbedingungen des Lebens. Bereits in Kapitel 1.1.4 wurde gezeigt, dass der Computervergleich einen Kategorienfehler beinhaltet. Nachfolgend werden weitere Probleme bezüglich des Maschinenmodells im Allgemeinen unter sprachphilosophischer Perspektive dargestellt.

1.5.2 Der Maschinenvergleich In den Mensch-Welt-Konzepten, die im Menschen einen bedeutungsgeladenen biologischen Körper (kognitive Handlungstheorie, biopsychosoziales Modell) erkennen, wird ein Subjekt in die Überlegung eingefügt, das gleichzeitig die Berücksichtigung von Zielen, Absichten und Bedeutungsrelationen und aus wissenschaftstheoretischer Sicht verstehende, hermeneutische Vorgehensweisen ermöglicht. Um diesen subjektiven Charakter des Menschen in ihre Theorien zu integrieren, ziehen auch sie, wie naturalistische Konzepte, Maschinen- und insbesondere Computermodelle heran. Es stellt sich die Frage, warum es, wie Janich (2006:77) und Meyer-Drawe (2006: 195 ff.) ausführen, offensichtlich eine allgemeine Tendenz dazu gibt, Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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den Menschen mit der neuesten unbelebten Technik zu vergleichen. Hierzu war historisch betrachtet zunächst die Entwicklung fort von der Naturphilosophie hin zur physikalisch geprägten Naturwissenschaft notwendig. Sie nutzte zur Erkenntnisgewinnung das Experiment und verwendete physikalische Erklärungs- und Messmethoden. Die gewonnenen Ergebnisse konnten mit den ursprünglichen Erkenntnisgegenständen der Physik, nämlich den unbelebten Gegenständen (Hartmann 2006:105 f.), verglichen werden. So lassen sich Knochenbrüche entsprechend mechanischer Erkenntnisse schienen oder es kann das Herz-Kreislauf-System im Sinne einer Pumpmechanik verstanden werden. Auch Phänomene, die durch lebensweltliches Beobachten nicht verstanden und deshalb nicht manipuliert werden konnten (z. B. Epilepsie, Schlaganfall), wurden mithilfe der Naturwissenschaft nicht nur verständlich, sondern zum Teil auch beherrschbar. Maschinenanaloge Modelle versprachen und versprechen noch immer insgesamt eine relativ leicht zu verstehende und transparente Erklärung menschlichen Lebens (Loosch 1999:57). Vertreter substanzbasierter Mensch-Welt-Konzepte der kognitiven Handlungstheorie und des biopsychosozialen Modells vertreten die Meinung, dass sie mithilfe der Computeranalogie Anleihen aus der Maschinenwelt anwenden, jedoch zusätzlich das lebende Subjekt als individuelles, auch fühlendes Wesen einführen. In Fällen, in denen der Mensch als handelndes Wesen, d. h. als ein bewusstseinhabendes, zukunftsgerichtetes, strebendes, wünschendes, hoffendes Wesen interessiert, reicht der Computervergleich allein jedoch nicht aus, da hier sämtliche pathische Kategorien ausgeblendet werden und nur der seiende, messbare, also ontische Aspekt betrachtet werden kann. Die Anwendung der Computermetapher und der Maschinenmetapher darf deshalb nicht, trotz der großen Erfolge, ontologisiert werden, denn dies kann zu nachfolgend aufgezeigten Fehlannahmen führen. Metaphern, verstanden als sprachlich verfasste bildhafte Vergleiche, dienen als begriffliches Behältnis für zahlreiche Aspekte, die nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch implizit dem Sujet des Vergleichs zugesprochen werden. Sie sind eine Möglichkeit, das jeweils als wesentlich für einen Gegenstand Erachtete für den Leser pointiert zu vermitteln. Hier bestehen zwei Gefahren: Metaphern können falsch oder unzureichend sein, nämlich, wenn ihre Aspekte in wesentlichen Annahmen nicht mit denen des Originals übereinstimmen. Da sie die Aufgabe haben, das Original so zu reduzieren, dass eine operationale Arbeit möglich ist, jedoch auch so, dass es wieder auf das komplexe 102

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Original zurück übertragen werden kann, ist dies jedoch eine unhintergehbare Forderung an die Metapher (vgl. Wiemeyer 1996:1 ff.). Die Abstraktion des Lebensganzen auf maschinenanaloge Aspekte macht das komplexe Original zwar leicht verständlich oder wie Loosch (1999:57) schreibt »griffig« und hat eine hohe heuristische Bedeutung (Mertens 2011:245). Allerdings besteht die Gefahr der Ontologisierung, wenn sich die Metapher nur auf einen Teil des Menschen bezieht, sie jedoch auf den gesamten Menschen übertragen wird (vgl. Fuchs 2008:89; vgl. Mattner 1996:95 f.; vgl. Plügge 1967:94; vgl. Prohl 2010:13; vgl. v. Weizsäcker 1987b:327/VII). So ist es z. B. Theorien, die sich an der unbelebten Materie orientieren, nicht möglich, den Erlebnisaspekt des Menschen zu berücksichtigen: Da ein Erlebnis nur ein Lebewesen haben kann, die materialistischen Theorien zur Beschreibung der Realisierungsphase jedoch Anleihen an der unbelebten Natur nehmen, können sie das Erleben nicht in ihre Theorie aufnehmen. Die Tatsache, dass sich handlungstheoretische Ansätze an Maschinen orientieren, führt also zwangsläufig zur Vernachlässigung bzw. Nichterfassung von Erlebnisqualitäten. Ein weiterer wichtiger Grund, weshalb Anleihen aus der unbelebten Materie den Erlebnisaspekt des Menschen nicht berücksichtigen können, ist das sogenannte Zeitproblem (siehe Kapitel 1.3.1). Die kognitive Handlungstheorie und das biopsychosoziale Modell beziehen sich auf die physikalische Zeit und haben deshalb keinen brauchbaren Begriff von der Gegenwart. Als Parameterzeit ist die Gegenwart eigentlich nie vorhanden, denn sie wird ständig von neuen Gegenwarten abgelöst (vgl. Prohl 1995:18; vgl. Seewald 1995:210; vgl. v. Weizsäcker 1997:112/IV). Genau die Gegenwart ist allerdings die Zeitspanne (und kein Zeitpunkt), in der es zu Erlebnissen kommt. Die klassische Naturwissenschaft führte zu einer Selbstauffassung des Menschen, die ihn als mechanische Arbeitsmaschine bestimmte, welche im Zweifelsfall repariert werden konnte (v. Weizsäcker 1987a:226/V). Da Maschinen als Funktionseinheiten angesehen werden, die einen von außen vorgegebenen Zweck zu verrichten haben, wird ihr Wert danach bemessen, wie zuverlässig der Zweck und die Erfüllung des Zwecks sich decken, d. h., sie werden nach ihrer Nützlichkeit bewertet. Weil die mechanistische Denkweise also ein Weniger von Funktion als Minderwert interpretiert, kann es vorkommen, dass ein kranker Mensch automatisch als defektes bzw. defizitäres System angesehen wird. Der Mensch ist dann nicht mehr nur krank, sondern arbeitsbeschränkt, seine Krankheit ist in erster Linie Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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ein ökonomischer Ausfall, der den Arbeitgeber, die Kollegen und in letzter Konsequenz die Gesellschaft belastet (v. Weizsäcker 1987a: 226/V). In solchen Ansichten spiegelt sich die heute weit verbreitete Verbindung von Mechanizismus, Darwinismus und Utilitarismus wider. Hiernach ist »Leben soviel wie ein Zweck, Zweck des Lebens soviel wie Erhaltung des Lebens, Gesundheit soviel wie leidlose Tüchtigkeit (Arbeits- und Genußfähigkeit), langes Leben undiskutierbarer Wert, Verhinderung des Todes eine Aufgabe der Medizin, Gesundheit soviel wie Normalität, Krankheit soviel wie Abnormität« (v. Weizsäcker 1987a:227/V). Lebensvollzüge wie erleiden, sich freuen, wünschen, helfen, zweifeln, hoffen, sich ängstigen, lieben, Geborgenheit geben etc. werden in einer solchen Ansicht vernachlässigt. Warum der Einbezug eines substanzbasierten Mensch-Welt-Konzepts allerdings nicht per se dazu führt, dass der Mensch im Alltag entwertet und herabgesetzt wird, wird in Kapitel 2.3 beschrieben. Die Mensch-Maschinengleichung birgt eine weitere Gefahr, da eine Prägung auf den beschriebenen Gegenstand (Mensch) bereits durch die verwendeten technizistischen Termini stattfindet. Generell verhält es sich laut Strasser (1964:21) so, dass unterschiedliche Sichtweisen auf einen Gegenstand auch unterschiedliche Sprachen und Termini hervorrufen, da unterschiedliche Inhalte ausgedrückt werden müssen. Somit prägt die Sichtweise bzw. die Einstellung zu einem Gegenstand die Begriffswelt. Auf der anderen Seite, so z. B. Humboldt (2003:9 ff. und in Drexel 1996:256 ff.), Heidegger (2006:160 ff.) und Merleau-Ponty (1974:159 ff., 210 ff.), formt die Sprache das Denken. Humboldt schreibt, dass Sprache nicht bloß ein Instrument zur Darstellung von Inhalten ist, sondern in sich bereits inhaltserzeugende Kraft hat. Der Mensch bildet sich selbst und seine verschiedenen Welten auf Grundlage der verschiedenen Sprachen. Nach Heidegger ist das Denken der Sprache identisch mit dem Denken des Seins (Drexel 1996:257). »Erst wo das Wort gefunden ist […], ist das Ding ein Ding […]. Kein Ding ist, wo das Wort, d. h. der Name fehlt. Das Wort verschafft dem Ding erst das Sein« (Heidegger 1959:154). Und Merleau-Ponty (1974:210) schreibt: »Die Sprache setzt nicht das Denken voraus, sondern vollbringt es.« Er veranschaulicht seine Einschätzung mit der Tatsache, dass erst nachdem jemand seine Gedanken formuliert hat, sie für ihn verständlich werden. Der vertrauteste Gegenstand bleibt, ohne dass ihm ein Name gegeben wurde, unverständlich. Prohl (1991:368) zitiert Wittgenstein, wenn er Merleau-Ponty und Heidegger Recht gibt, indem er schreibt: »Die Grenzen meiner Spra104

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che sind die Grenzen meiner Welt.« Wenn die Sprache also das Denken bestimmt, so ist die Bedeutung der gewählten Begriffswelt für das Verständnis und die Wesenserfassung für den untersuchten Gegenstand von großer Tragweite. Die Begriffswelt von v. Uexküll oder Vertretern der kognitiven Handlungstheorie könnte eine mechanistische Auffassung des Menschen durch ihren expliziten Inhalt verschleiern (behauptete Einführung des Subjekts), jedoch durch ihren implizierten (Wort-)Gehalt (z. B. der Mensch als nicht-triviale Maschine; Codierung, Signaltransport, Decodierung) unterschwellig weitergeben. Der Leser würde seinerseits gezwungen, die apersonale Einstellung zum Menschen zu übernehmen, denn erst durch die bestimmte Bezeichnung wird aus einem unbestimmten Gegenstand ein bestimmter und somit greifbarer Gegenstand. Somit erlauben systemtheoretische Ansätze zwar neurobiologische, psychische und ökologische Kategorien zu verbinden, jedoch um den Preis eines apersonalen Verständnisses vom Menschen: Die menschlichen Lebensvollzüge lösen sich in kybernetische Mechanismen auf (Fuchs 2008:261.; vgl. Seewald 1995:229; 2001:148).

1.5.3 Die selbstreferenzielle Projektion Ein Mensch-Welt-Konzept, das den Menschen als sinn- und bedeutungsfreien Materiekomplex anerkennt, ist, wie bereits erwähnt, anwendbar, wenn das fühlende, (er-)leidende Subjekt nebensächlich ist. Wenn Vertreter des substanzbasierten Menschenbilds das Subjektive des Menschen mitberücksichtigen möchten, besteht die Gefahr, dass sie das rationale Kalkül ihrer eigenen Wissenschaften auf den erlebenden Menschen übertragen. Erst dann jedoch, wenn der Forscher bzw. Wissenschaftler selbst als pathischer Teilnehmer eingeführt wird, kann das Subjekt als wahres Subjekt erkannt werden. Zur Verdeutlichung soll folgende Analogie dienen: Der Wissenschaftler als Zuschauer blickt durch einen Zaun, dessen Maschen streng strukturiert angeordnet sind. Diese klare Strukturierung entspricht den wissenschaftlichen Paradigmen wie Stringenz, Eindeutigkeit, Logik und Rationalität. Der Forscher versucht, das »Wuselige«, Lebendige, Vielfältige, Dynamische, Undurchsichtige, Antilogische, Veränderliche des Lebens mithilfe des Zauns an eine Wand zu drücken, um es so in eindeutiger Weise betrachten zu können. Das Leben wird so zersetzbar und erforschbar, verliert jedoch seinen ursprünglichen Charakter, Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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der mit der Heraklit zugeschriebenen Aussage »panta rhei« 42 beschrieben werden kann. Auch der Anwender der kognitiven Handlungstheorie und des biopsychosozialen Modells, der das Subjekt vermeintlich einführt, unterstellt dem Menschen unbemerkt die idealen Eigenschaften seiner eigenen rationalen Wissenschaft (Herzog in Seewald 1995:210). »Wir glauben an das, was wir sehen, vor jeder Verifikation, und die klassischen Wahrnehmungstheorien führen zu Unrecht in die Wahrnehmung selbst intellektuelle Leistungen und eine Kritik der Sinneszeugnisse ein, auf die wir in Wirklichkeit erst zurückgreifen, wenn die gerade Wahrnehmung in der Zweideutigkeit scheitert« (Merleau-Ponty 1974:394). Das wahrnehmende Subjekt steht aus dieser Sicht »der Welt gegenüber wie der Wissenschaftler seinen Experimenten« (ebd.:44). Der Mensch ist jedoch nicht, wie die Wissenschaft, vernünftig, sondern auch unvernünftig. Das Leben ist nicht immer logisch, sondern auch antilogisch, d. h., das Leben ist ein sinnvoller Widerspruch: »Leben ist Werden. Werden aber ist die Wesensbestimmung, in der etwas weder ist noch etwas nicht ist, sondern ein Sein gerade eben verliert und zugleich ein Sein gerade bekommt« (v. Weizsäcker 1987b:50/VII). Der Mensch zeigt seine Antilogik z. B. auch in der Tatsache, dass er sich vor dem fürchten kann, was er sich wünscht. Er ist nicht, wie sich die objektive Wissenschaft selbst sieht, leidenschaftslos, wertfrei und sachlich, sondern pathisch, wertend, unruhig etc. (vgl. v. Weizsäcker 1987b:170/VII; 1988:553 ff./ IX). Im Leben gibt es nicht nur Gesetzmäßiges, sondern auch Zufall, Einmaliges, Originelles, Unberechenbares und Spontanes (vgl. Fuchs 2006b:334; v. Weizsäcker 1987b:139/VII). »Der Kalkül [der Wissenschaft, M. U.] ist nützlich, aber er verbürgt keine ontologische Wahrheit, vielmehr verbirgt er sie« (Mutschler 2011:11). Er macht uns blind für den wahren Reichtum und die bunten Farben des Lebens (Mutschler 2011:11; vgl. v. Weizsäcker 1988:577/IX). Nur eine Wissenschaft, die das Lebendige als Lebendes akzeptiert, kann als Humanwissenschaft mit der wirklichen Lebenswelt zur Deckung kommen (vgl. Mutschler 2011:77; vgl. Waldenfels 1986:165; vgl. v. Weizsäcker 1987a:16/V; 1987b:139/VII; 2005:435/X). »Was […] im Resultat einsichtig, faßbar und gesetzmäßig erscheint, darf [also] nicht selbst wieder in das Tun zurückgedreht werden in derselben logischen Reihe, wie das Resultat erfahren wird« (Christian 1963:41). Und Merleau-Ponty (1974:402) schreibt hierzu: »Das physiologische 42

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»Alles fließt« (Prohl 1995:23).

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Mögliche Zusammenführung der Wissenschaftsparadigmen

Vorkommnis ist nur abstrakte Nachzeichnung des Wahrnehmungsgeschehens.« Ein Fehlschluss besteht also darin, dass das rationale Instrument (Wissenschaft) im Sinne der cartesianischen Vernunftgläubigkeit zur rationalen Wahrheit (Welt, Leben, Mensch) erhoben wird. Da es der Wissenschaftler ist, der in der Reflexion danach strebt, dem Charakter seiner Wissenschaft zu entsprechen und diesen unbewusst auf das zu erkennende Subjekt überträgt, wird dieser Fehlschluss nachfolgend in Anlehnung an Freuds Psychoanalyse selbstreferenzielle Projektion genannt. 43 »Das Wesen des Menschen und die Wissenschaft erscheinen so unvereinbar, daß wir fürchten, zwischen den beiden wählen zu müssen« (v. Weizsäcker 1987b:51/VII). Die Auflösung ist nur möglich, indem sich der Wissenschaftler selbst vor den Zaun begibt (dennoch von diesem Zaun und seiner Struktur wissend), so dass er in einen Umgang mit dem Subjekt treten und es in dessen Ambiguität und Antilogik erfassen und die Welt als Lebenswelt und nicht als sterile Reizumwelt wahrnehmen kann. Es gilt wieder: »Um Lebendes zu erforschen, muß man sich am Leben beteiligen« (v. Weizsäcker 1997:83; 295/IV).

1.5.4 Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Gestaltkreis und Phänomenologie Der Einbezug des Subjekts in die Betrachtung des Menschen ist eine wichtige Voraussetzung für eine gesundheitsfördernde bewegungstherapeutische Arbeit. Die Berücksichtigung des phänomenalen Erlebens inklusive der zeitüberbrückenden Gegenwart als Zeitraum, in dem gesundheitliche Nöte beheimatet sind, erlaubt erst die Beleuchtung des pathischen Lebens eines Menschen. Da in den substanzbasierten Mensch-Welt-Konzepten dieser Einbezug des Subjekts nicht in letzter Konsequenz durchgeführt wird, wird sich nachfolgend auf die beiden subjektbasierten Mensch-Welt-Konzepte bezogen. Es soll deshalb untersucht werden, in welchen Bereichen sich der anthroFreuds Projektion trifft den hier gemeinten Sachverhalt nicht absolut, denn dieser Begriff aus der Psychoanalyse bezeichnet einen psychischen Abwehrmechanismus. Es werden hier unbewusst eigene Qualitäten, Wünsche oder Gefühle projiziert, die das Subjekt in sich verkennt oder ablehnt (Laplanche & Pontalis 1998:400). Bei der selbstreferenziellen Projektion werden auch und insbesondere solche Eigenschaften, die als erstrebenswert erachtet werden, unbewusst projiziert. Es handelt sich deshalb auch nicht um eine psychische Abwehr.

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pologisch-medizinische und der phänomenologische Ansatz insbesondere nach Merleau-Ponty unterscheiden und inwieweit eine Zusammenführung beider möglich ist. Zunächst werden grundsätzliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede benannt und exemplarische Textstellen zitiert sowie auf Kompatibilität überprüft. Anschließend wird der Versuch unternommen, eine Ansicht über den Menschen zu erhalten, aus der später Vorschläge für das praktische Vorgehen in der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie abgeleitet werden können. Von Weizsäcker verstand die Phänomenologie primär als Transzendentalphilosophie im Sinne Husserls, die die Strukturen des Bewusstseins auf Kosten des zu erkennenden Gegenstandes (Welt) untersuchte: »Die beiden […] Annäherungswege, der phänomenologische und der existenzphilosophische, […] meinen, die dunkle Straße mit den Laternen des Bewußtseins erleuchten zu können« (v. Weizsäcker 2005:75/X). Deshalb ist es nachzuvollziehen, dass er sich selbst nicht als Phänomenologen einschätzte. 44 Es wäre allerdings interessant zu erfahren, wie sich v. Weizsäcker zur Weiterentwicklung der Husserlschen Phänomenologie durch Merleau-Ponty geäußert hätte, jedoch kannte v. Weizsäcker laut Hoffmann-Axthelm (1987:456) Merleau-Pontys Monographie wahrscheinlich nicht. Umgekehrt bezog sich Merleau-Ponty lediglich auf eine frühe Arbeit v. Weizsäckers mit dem Titel »Reflexgesetze«, die in einem von Albrecht Bethe et al. 1927 herausgegebenen Sammelband mit dem Titel »Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie« erschien (ebd.). Die nicht bzw. kaum stattgefundene Korrespondenz bzw. Bezugnahme zwischen beiden ist deshalb besonders bedauernswert, da sich gerade zwischen Merleau-Ponty und v. Weizsäcker zahlreiche Gemeinsamkeiten finden lassen, die nachfolgend aufgearbeitet werden: Merleau-Ponty sieht das Zur-Welt-Sein oder die Existenz nicht (wie Husserl insbesondere vor seiner Krisis-Schrift) als ein reines, transzendentales Subjekt eines leistenden Bewusstseins. Stattdessen bricht er die Reduktion früher ab und verbleibt auf der Ebene des leiblichen inkarnierten Subjekts (Thiele 1990:70). Er lenkt den Blick also vom transzendentalen Bewusstsein auf den Leib, der auch für v. Weizsäcker ein Hauptthema war. Der Leib als Subjekt geht nach Eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Phänomenologie nach Husserl und Heidegger und der v. Weizsäckerschen anthropologischen Methode ist bei Wyss zu finden (1957:281 ff.).

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v. Weizsäcker mit der Welt eine Kohärenz ein, sodass der Gegensatz zwischen Objekt und Subjekt, Außen und Innen verschwimmt (vgl. v. Weizsäcker 1987a:184/V). Empfindungen, wie sie in der Naturwissenschaft als Kausalreihe verstanden werden (äußeres Objekt, Reiz, Erregung, Empfindung), kommentiert v. Weizsäcker (1997:236/ IV) mit dem kritischen Hinweis, dass »nichts davon […] in der Wahrnehmung als solcher enthalten [ist]. In der Aktualität dieser Wahrnehmungen ist zunächst nichts von einer Trennung oder einem Neben- oder Nacheinander von Ich und Gegenstand enthalten«. »Die Trennung also von Subjekt und Objekt als besondere störbare Leistung beweist gleichsam durch Rückschluss die ursprüngliche Einheit von Subjekt und Objekt« (ebd. 1990:614/III). An anderer Stelle schreibt er, dass, wenn jemand z. B. mit einer Schreibfeder etwas schreibt, er seine Hand, den Griff der Schreibfeder, das Kratzen auf dem Papier oder die harte oder weiche Unterlage empfinden kann (ebd. 1997:307/IV). »Der Unterschied von Leib und Umwelt scheint sich, ohne zu verschwinden, zu verringern« (ebd.). Hier ist eine deutliche Nähe zum phänomenologischen Verständnis des Leibes zu erkennen, denn ähnliche Ansichten zeigen sich bei Merleau-Ponty (1974:173): »Der Stock des Blinden ist für ihn kein Gegenstand mehr, er ist für sich selbst nicht mehr wahrgenommen, sein Ende ist zu einer Sinneszone geworden […], ist zu einem Analogon des Blicks geworden.« Die von v. Weizsäcker beschriebene Kohärenz als Verwobenheit zwischen Subjekt und Welt ist die Ermöglichung, den erst im Nachhinein künstlich aufbrechenden Dualismus von Leib und Seele als primordiale Einheit zu beschreiben. Zwar ist Seewald (1996:40) der Meinung, dass sich das Ambiguitätsproblem im Sinne von Merleau-Ponty bei v. Weizsäcker nicht findet, allerdings lassen sich Ähnlichkeiten hierzu feststellen. So schreibt v. Weizsäcker (1987a:242/V): »Der Mensch, der im Gleichgewicht seiner störungsfreien Mitte geht, braucht sich nicht wahrzunehmen. Die Not erst zwingt zur Selbstwahrnehmung […] [und] trennt in mir mich von meinem Ich.« Es zeigt sich ebenfalls ein versteckt ambigues Verhältnis des Subjekts, wenn der Interpretation Plügges (1967:60) bezüglich v. Weizsäckers Pathosophie gefolgt wird. Anhand des Beispiels eines Phantomarms zeigt Plügge nämlich, dass in der Existenz des Subjekts ein gelebter (pathischer) Arm vorhanden ist, wohingegen der dingliche (ontische) Arm den verlorenen nichtvorhandenen Arm beschreibt. Sowohl Merleau-Ponty als auch v. Weizsäcker wollen insbesondere dem Objektivismus der klassiAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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schen Naturwissenschaft durch die Einführung des Subjekts bzw. der Subjektivität überwinden. Sie beziehen die Lebenswelt in ihre Betrachtung mit ein, wodurch es möglich ist, das Verhalten in Relation zu einer bestimmten Situation zu verstehen. Die Einführung der Lebenswelt und der Situation geht einher mit der Beachtung der Welt so, wie sie phänomenal erscheint, und nicht (nur 45), wie sie physikalisch definiert wurde (vgl. Frick 2009:123; Petersen 1985:72; vgl. v. Weizsäcker 1987b:169/VII; 1997:222 ff./IV). »Die biologische Zeit […] ist weder objektives homogenes Kontinuum noch aufbewahrte Zeit im Gedächtnis, sie ist Gegenwartszeit. Leben ist weder indifferent gegen den Unterschied von vergangen und zukünftig noch Erinnerung, sondern Leben ist immer ›zeitüberbrückende Gegenwart‹ [Alfred Prinz Auersperg 1935, 1936], Vergangenheit an Zukunft bindende Aktualität« (v. Weizsäcker 1997:354 f./IV). Merleau-Ponty schreibt hierzu (1974:93): »Die Gegenwart hält, ohne es gegenständlich zu setzen, das soeben Vergangene noch an sich, und da dieses in derselben Weise das ihm soeben vorangegangene Vergangene festhält, ist die gesamte verflossene Zeit in der Gegenwart erfaßt und übernommen. Ähnlich steht es mit der unmittelbar bevorstehenden Zukunft, die ihrerseits ihren Horizont des noch ferner Bevorstehenden hat.« Für die Einführung des Subjekts nehmen beide eine Erklärungsrichtung ein, die den Naturwissenschaften und der Emergenztheorie entgegensteht. Sie leiten das Leben und Lebensvollzüge nicht aus dem Einzelnen ab, um hieraus das Ganze zu erklären, sondern sie sehen das Ganze als Ausgang, von dem sich Anteile analysieren lassen (siehe Kapitel 1.5.1). Somit sind sie holistisch orientiert und wenden sich gegen den Atomismus: »Man kann zwar den Versuch machen, Lebendes aus Nichtlebendem abzuleiten, aber dieses Unternehmen ist bisher mißlungen […]. Man sollte daher nicht, wie oft geschehen ist, mit dem unbelebten Stoff oder dem Toten anfangen, etwa durch Aufzählen der in den Organismen vorkommenden chemischen Elemente« (v. Weizsäcker 1997:83/IV). Von Weizsäcker ist bestrebt, »die positivistische oder materialistische Theorie zu überwinden, welche den geistigen Faktor (wie schon im Darwinismus)

Während die phänomenalen Erscheinungen bei Merleau-Ponty den Kern seiner Überlegungen bilden, ist es bei v. Weizsäcker so, dass diese Betrachtung die reflexive Wissenschaftsbetrachtung ergänzt.

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aus der Not gleichsam von unten nach oben ableitet« (ebd.:1987a: 122/V). Merleau-Ponty (1974:402) ist ebenfalls der Meinung, dass es »auf immer […] unverständlich bleiben [wird], wie Bedeutung und Intentionalität Molekulargebäude oder Zellhaufen zu bewohnen vermögen«. Von Weizsäcker (1988:175/IX) erkennt im Verhalten des Menschen nicht einen materiellen Vorgang, sondern versteht den Menschen als Integration zu seiner (auch sozialen) Umwelt gerichtet. Das Wollen setzt er in Bezug zu anderen Kräften, namentlich dem Sollen, Dürfen, Müssen und Können, die er als pathische Kategorien kennzeichnet. Zwischen den pathischen Kategorien findet ein steter Streit statt und gleichermaßen das Streben nach Gleichgewicht. Eine Krankheit kann aus einem bestimmten Ungleichgewicht z. B. zwischen Wollen und Sollen entstehen. Wenn eine solche Krankheit auftritt, kann sich diese körperlich ausdrücken. Allerdings sind die pathischen Kategorien eben nicht ontisch und somit naturwissenschaftlich nicht mess- oder erfassbar. »Diese Kategorien haben mit messbar Seiendem nichts zu tun; man erleidet sie, man hat sie nicht« (ebd.). Auch Merleau-Ponty (1974:488) erkennt im menschlichen Leben eine Dimension, die es maßgeblich prägt, jedoch objektiv nicht gemessen werden kann. »Allen Bedeutungen des Wortes ›Sinn‹ zugrunde liegend finden wir den einen Grundbegriff eines Seins, das auf etwas hin, was es nicht selber ist, orientiert und polarisiert ist.« Sowohl v. Weizsäcker als auch Merleau-Ponty wenden sich somit gegen die naturalistische Annahme, dass das Leben jemals absolut erforscht werden kann und enttäuschen somit das menschliche Verlangen zu wissen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, um aus diesem Wissen diese Welt beherrschen zu können (siehe Kapitel 4.5). Die Einführung der Subjektivität ist nicht misszuverstehen mit einem Verdrängen oder Negieren des Objektiven, des Materiellen. Das finale Ziel, das Merleau-Ponty und v. Weizsäcker in ihrem gesamten Tun anstreben, ist die Versöhnung zwischen zwei sich in der Wissenschaft diametral zueinander verhaltenden Ansichten, die nicht als Addition verstanden werden dürfen, sondern etwas Drittes ergeben sollen. Merleau-Ponty versucht den Realismus und den Idealismus zu vereinen: »In der Welt also […] entdeckten wir das Mittel zur Überwindung der Alternative von Realismus und Idealismus, von Zufall und absoluter Vernunft, von Un-Sinn und Sinn« (MerleauPonty 1974:489). Von Weizsäckers Ziel ist es, die Naturwissenschaft, welche die Psychologie als ihre Ergänzung interpretiert und umgekehrt die Psychologie, die die Naturwissenschaft als ihre Ergänzung Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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ansieht, miteinander in Einklang zu bringen: »Beide Ergänzungen können nicht durch einfache Addition erfolgen, beide werden zu einer einheitlichen Medizin und hoffentlich auch einer Versöhnung der bisher getrennten Lager führen, bei der aber etwas neues Drittes entsteht« (v. Weizsäcker 1997:97/IV). Allgemein gesprochen verfolgen beide die Aufhebung der Dichotomie von Subjektivismus und Objektivismus bzw. Körper und Seele (vgl. Christian 1987:72; vgl. Fritz 2000:10; vgl. Merleau-Ponty 1974:113; vgl. Philippi-Eisenburger 1991:14 f.; vgl. Rimpau 2008:19; vgl. Thiele 1990:73; vgl. Vetter 2004:276; vgl. v. Weizsäcker 1997:97/IV; vgl. Kütemeyer 1957:18; vgl. Zybowsky 2008:176). Es folgen weitere metaphysische und methodologische Gemeinsamkeiten, die die grundsätzlichen Ähnlichkeiten beider Autoren weiter verdeutlichen sollen: – Es genügt beiden nicht, Bewegungen im Sinne eines physikalischen Ursache-Wirkungs-Verhältnisses als Addition von Einzelbewegungselementen zu sehen. Stattdessen erkennen sie eine teleologische bzw. proleptische 46 Bestimmung der Bewegung als Handlung (v. Weizsäcker 1997:261/IV; Merleau-Ponty 1974: 129). – Beide gehen von einer gemeinsamen Welt aus, die vom Subjekt konstituiert wird und somit verschieden erscheint. Sie stellen sich hiermit gegen einen naiven Realismus, Konstruktivismus und Idealismus (v. Weizsäcker 1987b:51/VII; 1997:400 ff./IV; vgl. Føllesdal 2011:378; Husserl 1962:142). – Beide gehen von einer präreflexiven und unmittelbaren Verschränkung zwischen Subjekt und Welt aus (vgl. Merleau-Ponty 1974:219; Prohl 2010:228; vgl. Seewald 1995:217; v. Weizsäcker 1997:65, 236, 313/IV). – Beide beziehen sich bei ihren psychologischen Gedanken auf die Psychoanalyse und setzen sich ausführlich mit der Gestaltpsychologie auseinander (Merleau-Ponty 1974:189 ff.; v. Weizsäcker 1987a:121 f./V; 1988:18 ff./IX; 1997:67 f., 96 ff./IV). – Bei beiden ist das Leben ein notwendiger Vorgang und eine Entscheidung: Der Mensch ist Natur und Geist (v. Weizsäcker Sowohl teleologisch als auch proleptisch meint hier eine geistige Vorwegnahme, die keinen bewusst »berechnenden« kognitiven Prozess darstellt (siehe kognitive Handlungstheorie), sondern als unmittelbare, zukunftsgerichtete und eher diffuse Intention zu verstehen ist.

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1997:264/IV; 1998:279/II) bzw. ein natürliches Ich (MerleauPonty 1974:204, 499).

1.5.5 Versuch einer Verbindung von Gestaltkreis und Phänomenologie Leib und Körper werden, wie bereits betont, in der Phänomenologie grundsätzlich unterschieden. Von Weizsäcker als jemand, der zwar zahlreiche phänomenologische Aspekte in sein Denken einbezieht, jedoch nicht Phänomenologe im eigentlichen Sinne ist, differenziert hingegen nicht konsequent zwischen Leib und Körper. Er weist aber grundsätzlich darauf hin, dass das Lebewesen nicht nur ein materieller Körper ist, sondern ein Leib, den er als Körper-Seele-Einheit bzw. beseelten Körper interpretiert (v. Weizsäcker 1988:533/IX). In der Kohärenz mit der Welt, als Begegnung durch Wahrnehmen und Bewegen, verschwindet nun das Gegenständliche gänzlich und verliert sich im nichtgegenständlich-ereignishaft-ontologischen Subjekt (Kimura 2000:195). Von Weizsäcker identifiziert das Subjekt demnach unter zweierlei Einstellungen: 1. Das Subjekt wird von ihm in der Betrachtung der Kohärenz mit der Welt als nichtgegenständliches Ich erkannt. 2. Wenn das Subjekt zwecks Analyse in den Bereich des Anschaulichen, Messbaren (Buytendijk & Christian 1963:97) und Handhabbaren zu bringen ist, z. B. um zu ergründen wie körperliches und seelisches Kranksein zusammenhängen, so tut sich auch bei v. Weizsäcker notwendig ein Dualismus auf. Dieser ist jedoch nicht als cartesianischer Dualismus zu verstehen, denn es handelt sich hier lediglich um zwei unterschiedliche Dimensionen des Subjekts. Hier promeniert nun der Zusammenhang als Verschlingung zwischen materiellem Körper und seelischem Befinden (vgl. v. Weizsäcker 1986b: 379 ff./VI; 1987b:387/VII). Der wichtigste Unterschied zwischen v. Weizsäcker und Merleau-Ponty besteht in ihrem Ausgangspunkt und der damit einhergehenden Perspektive, aus der sie den Menschen und das Leben im Allgemeinen ergründen. Bei v. Weizsäcker ist dies der sicht-, berührund manipulierbare Körper in wissenschaftlich reflexiver Einstellung, durch die der Dualismus entsteht. »Man sieht […], daß die Reflexion sich in ein Entweder-oder verstricken läßt, bei dem nur das eine richtig sein kann, das andere falsch sein muß« (v. Weizsäcker Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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2005:376/X). Mithilfe des Gestaltkreises ist es v. Weizsäckers Bestreben, diese Dichotomie zwischen Körper bzw. Leib und Seele zu überwinden. Für die Lösung bedient er sich des auch aus der Quantenphysik bekannten Komplementaritätsprinzips (vgl. ebd. 1956:21 ff.; 1997:519 f./IV) und führt es in seiner Gestaltkreis-Konzeption als Drehtürprinzip ein (ebd. 1986b:381 ff./VI). Von Weizsäcker beschreibt das Verhältnis von Subjekt und Welt im Rückgang auf präreflexive Erfahrungsweisen des Subjekts als Kohärenz, er selbst verbleibt aber für die Betrachtung des Menschen in der reflexiven Position (v. Weizsäcker 1980:166). Während v. Weizsäcker den Menschen also von außen betrachtet notwendig dualistisch darstellt, beschreibt er den Weltbezug des Subjekts phänomenal aus Sicht des Subjekts (vgl. v. Weizsäcker 1997:236/IV). Gleichwohl er auf die enge Verflechtung zwischen Leib und Seele hinweist, bleibt auch im Gestaltkreis die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt erhalten, denn diese Zweiheit ist zur Behandlung von Krankheit erforderlich. Da materielle Strukturen Lebensvollzüge ermöglichen, jedoch bei einer Störung diese auch erschweren oder sogar verhindern können (Plügge 1967:44; v. Weizsäcker 1997:239/IV), muss ein Mediziner detaillierte Kenntnisse über den materiellen Menschenkörper besitzen, um das gesundheitliche Problem als solches zu erkennen und zu behandeln. Die Wahrnehmung der Welt durch das Subjekt (inkl. des Untersuchers) und die Bewegungen in ihr werden durch v. Weizsäcker hingegen mit ihren phänomenalen Inhalten beschrieben (z. B. Buytendijk & Christian 1963:101; v. Weizsäcker 1997:263/IV). Diese phänomenologischen Beschreibungen ermöglichen eine Verbindung zwischen Gestaltkreis und Phänomenologie. Dass eine solche Zusammenführung von Anthropologischer Medizin und Phänomenologie inklusive deren Präreflexivität nach Merleau-Ponty v. Weizsäckers Zustimmung hervorgerufen hätte, lässt sich aufgrund folgender Aussage vermuten: Es bräuchte »eine Wissenschaft, die nicht den Zusammenhang von Leib und Seele untersucht, sondern die schon jenseits dieses Dualismus oder, wenn man will, noch diesseits der Spaltung steht« (v. Weizsäcker 1986a:169/I). Von Weizsäcker beschreibt damit exakt die Herangehensweise von Merleau-Ponty. 47

Von Weizsäckers Meinung, dass es eine präreflexiv orientierte Wissenschaft noch nicht gab, untermauert die bereits formulierte Vermutung, dass er Merleau-Pontys Arbeiten nicht gekannt hat.

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Merleau-Ponty geht es insbesondere nach seiner Erstschrift »Die Struktur des Verhaltens« darum, das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Idealismus und Realismus zu bestimmen. Sein Abstoßpunkt ist nicht wie bei v. Weizsäcker der kranke Mensch, sondern der Mensch im Allgemeinen und dessen primordiale Wahrnehmung. Merleau-Ponty begibt sich auf den Boden der Präreflexivität, auf dem noch keine Trennung von Leib und Seele vorhanden ist (Waldenfels 1986:156). Hierzu verlässt er die Position des Zuschauers und nimmt die Rolle des Wahrnehmenden ein (Bermes 2004:76). Es wird aber konstatiert, dass es auch bereits vor jeder expliziten Reflexion zu einer Dissonanz zwischen dem persönlichen Wollen und den körperlichen Grenzen kommen kann. Wenn Seelisches als das aufgefasst wird, was das Denken, das Vorstellen und das In-die-Zukunft-Schauen ist, und der Leib als das, was als Instrument dieses Zukünftige realisiert, dann ist der Leib-Seele-Dualismus nicht nur der theoretischen Reflexion geschuldet, sondern auch im täglichen Erleben vorhanden (Čapek 2007:194; Fritz 2000:48 f.). Die Differenzen stellen die Vorbedingung für eine theoretische und praktische Reflexion auf den Leib als Selbstspaltung dar. Der Leib, der den von außen sichtbaren Leib, welcher natürlichen Gesetzen unterworfen ist, integriert, der aber gleichsam für das persönliche Ich als fungierender Leib offen ist, führt zu einem Dualismus, der nicht als eindeutige, sondern als polare Seinsweisen zu verstehen ist (Waldenfels 1986:168 f.). Die phänomenologische Betrachtung beinhaltet demnach zwar nicht die physikalische Betrachtung der menschlichen Materialität, negiert jedoch auch nicht die Möglichkeit hierzu und öffnet ihr Modell in Richtung Naturwissenschaft (siehe Abbildung 3). Diese Verbindung entspricht dem von Fuchs (2008:99 ff.) beschriebenen Doppelaspekt der menschlichen Person: Sie ist ein leibliches Subjekt, das sowohl gelebt als auch erlebt werden kann, und sie ist ein physikalisch messbarer Körper. Es handelt sich, wie der Name bereits suggeriert, nicht um zwei verschiedene Entitäten, sondern um eine Identität mit unterschiedlichen Aspekten. Die Identität zeigt sich, da der gelebte Leib und der untersuchbare Körper zumeist zu einer syntopischen Deckung kommen: Dort wo ein Schmerz gespürt wird, ist auch die Verletzung. Den Körper wiederum integriert der Gestaltkreis und verbindet ihn mit dem Seelischen zu einer komplementären Einheit. Während hierin das Materielle dem physikalischen Gültigkeits- und Kategoriesystem angehört, ist das Seelische dem phänomenalen Gültigkeits- und Kategoriesystem zuzuordnen. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaftliche Menschenbilder als Mensch-Welt-Konzepte Ursprüngliche Einheit in lebensweltlicher Betrachtung – inkl. des erlebten eigenleiblichen Fremdheits-Charakters

Spaltung durch wissenschaftliche Reflexion

phänomenale Kategorien

SEELE 1. + 2. Person

Koinzidentialparallelismus

Syntopische Deckung

LEIB

KÖRPER

1. + 2. Person

3. Person

Phänomenologie

Naturwissenschaft

Gestaltkreis mit Komplementarität bzw. Drehtürprinzip

verstehende Psychologie

physikalische Kategorien

Doppelaspekt

Abbildung 3: Verbindung von Phänomenologie und Gestaltkreis (Eigene Darstellung)

Die Bereicherung, die durch die Verknüpfung beider Ansätze entsteht, begründet sich in der Tatsache, dass auf der einen Seite Aspekte des Leibseins und dessen ambigue Eigenschaft in die Betrachtung des Menschen einfließen können, die dem tatsächlichen performativen Erleben des Menschen gerecht werden. Dies wurde bei v. Weizsäcker nur zum Teil berücksichtigt (s. o.). Auf der anderen Seite wird der Mensch als Naturgegenstand in den Blick genommen. Dies wurde in der Phänomenologie laut Meyer-Abich (2010a:351) und Thomas (1996:158) vernachlässigt. Der Gestaltkreis erlaubt zusätzlich den Einbezug der seelischen Dimension. Im Unterschied zum Doppelaspekt wird hier die Komplementarität von Seelischem und Körperlichem herausgestellt. Während Fuchs (2008:107) gemäß dem Dop116

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Mögliche Zusammenführung der Wissenschaftsparadigmen

pelaspekt schreibt, dass Leib und Körper zwei Seiten einer Münze sind, die medizinische Behandlung also chemisch oder mit Worten durchgeführt werden kann, vertritt v. Weizsäcker (1987a:179/V; 1987b:20/VII) entsprechend des Komplementaritätsprinzips die Ansicht, dass seelische und körperliche Probleme zwar aufeinander wirken und sich gegenseitig ausdrücken und vertreten können, aber dennoch verschieden sind und deshalb auch verschieden behandelt werden müssen. Beide Betrachtungsweisen sind, wie in Abbildung 3 zu sehen ist, kompatibel. Im weiteren Verlauf wird sich zeigen, dass insbesondere im Bereich von sich körperlich zeigenden Beschwerden die Betrachtung des Menschen als einheitliche Zweiheit wichtig ist. Der Zusammenhang zwischen Leib, Körper und Seele lässt sich anhand der Unterscheidung zwischen reflexiver und präreflexiver Sichtweise mit folgender Analogie neu darstellen: Sinnbildlich steht für den phänomenalen Leib das einheitliche Sonnenlicht. Erst in der Reflexion, hier vergleichbar mit dem Halten eines Prismas in das Licht, werden unterschiedliche Farbbestandteile des Lichts sichtbar. So wie das Licht aus phänomenologischer Sicht das ist, was das Subjekt unmittelbar visuell wahrnimmt (Strasser 1966:229) und erst durch die Reflexion mittels des Prismas seine »Bestandteile« als verschiedene abgetrennte Farben hervortreten lässt, so ist der Leib die ursprüngliche Einheit, die erst durch die Reflexion in Materielles und Seelisches getrennt wird. 48 Eine Reflexion ist immer dann nötig, wenn es zur Störung oder Krankheit kommt – wenn sich also das ursprünglich weiße Licht verändert – und der Grund hierfür herausgefunden werden soll. Sowohl die Betrachtung als auch die Beeinflussung beider Sphären sind unterschiedlich, denn beide unterliegen unterschiedlichen Kategoriesystemen und Gültigkeitskriterien (vgl. Fahrenberg 2008:37; vgl. v. Weizsäcker 1988:498/IX; 1990:615/III): Der körperliche Aspekt lässt sich durch ein immer näheres HerantreDie Prisma-Metapher soll die Tatsache hervorheben, dass komplementäre Kategorien aus einer ursprünglichen Einheit durch Sekundärbetrachtung hervorgehen. Drei Eigenschaften des vom Komplementarismus entlehnten Drehtürprinzips des Gestaltkreises werden mit ihr allerdings vernachlässigt: 1. Das Drehtürprinz enthält nur zwei Kategorien und beherbergt kein so vielfältiges Spektrum wie das Licht. 2. Das Drehtürprinzip beinhaltet die Tatsache, dass jeweils nur eine Kategorie allein gesehen werden kann und nicht beide gleichzeitig. 3. Das Drehtürprinzip verweist auf die Notwendigkeit, bereits vor dem Betrachten des Erkenntnisgegenstandes wählen zu müssen, was betrachtet werden soll, da die Erfassungsmethode entsprechend gestaltet werden muss. 48

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ten im Sinne des natürlichen Ursache-Wirkungs-Mechanismus betrachten. Eine Veränderung wird unmittelbar durch die Beeinflussung von Strukturen herbeigeführt. Das Seelische ist nur durch eine bestimmte Distanznahme und erst mit Berücksichtigung lebensweltlicher Größen wie Zielen, Situation, Biographie, sozialem Umfeld, Bedeutung, Sinn zu sehen und mittelbar durch Worte übertragende Bedeutungs- und Sinninhalte zu beeinflussen.

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2 Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

Im vorhergehenden Kapitel wurden zunächst unterschiedliche wissenschaftliche Menschenbilder in Form von Mensch-Welt-Konzepten aufgezeigt und miteinander in Beziehung gebracht. Es konnte herausgestellt werden, dass diese Konzepte gleichzeitig wichtige menschliche lebensweltlich erfahrbare Aspekte wie Willensfreiheit, Bedeutungs- und Sinnbezüge tangieren. Durch das Explizieren der Vorund Nachteile sowie der erkenntnistheoretischen Fundamente wurde eine Versöhnung der zum Teil disparitär zueinanderstehenden Disziplinen angestrebt. Der Gestaltkreis nach v. Weizsäcker und die Phänomenologie nach Merleau-Ponty wurden als angemessene Ansätze angesehen, den Menschen verbunden mit der Lebenswelt in seinen unterschiedlichen Dimensionen darzustellen. Es scheint zunächst, als ob mit dem Einbezug des Gestaltkreises und der Phänomenologie der unter Kapitel 1 vorgestellte Menschenbildstreit der unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachbereiche geschlichtet werden kann, denn die naturwissenschaftliche Komponente wird im Gestaltkreis ebenso integriert wie die geisteswissenschaftlich-phänomenologische. Um dies zu überprüfen, wird nun untersucht, ob die nachfolgenden drei beispielhaften Thesen, die den Menschenbildstreit betreffen und unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen entstammen, widerspruchsfrei miteinander bestehen können: 1. Die Methode prägt den Forschungsgegenstand, aus dem das Menschenbild hervorgeht (z. B. vgl. v. Weizsäcker 1987b:214/VII): Während das naturwissenschaftliche Menschenbild mittels physikalischer Objektivierung hervorgebracht wird, sind bedeutungsgeladene Menschenbilder durch die Einführung der Hermeneutik möglich (siehe Kapitel 1.2 und 1.3). Wenn – metaphorisch gesprochen – jemand ausschließlich eine Brille trägt, die nur Rottöne durchlässt, so wird dieser Jemand keine Erkenntnisse bezüglich anderer Farbtöne machen können, weshalb er auch keine Aussagen über die gesamte Farbenwelt treffen kann. Der Naturwissenschaftler, der sich ausAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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schließlich auf die physikalischen Wissenschaftsparadigmen beruft, kann keine subjektiven Aspekte des Menschen erfassen. Die wissenschaftlichen Methoden prägen daher das Menschenbild, d. h., »die Ontologie [hängt] […] methodisch von der Epistemologie ab« (Hartmann 2006:121). 2. Das Menschenbild liegt der Methode und dem Forschungsgegenstand als Vorverständnis zugrunde (vgl. Gröben 1995:123): Hier zeigt sich der Hinweis darauf, dass jede Wissenschaft aus historischer Sicht ihre Verankerung in der primären Lebenswelt hat. Sämtliche wissenschaftliche Zugänge zu einem Erkenntnisobjekt, also auch zum Menschen, fußen auf der Lebenswelt, die sich so zeigt, wie sie ohne theoretische Konstruktionen erfahrbar ist. »Das Universum der Wissenschaft gründet als Ganzes auf dem Boden der Lebenswelt […]. Nie wird die Wissenschaft denselben Seinssinn wie die Erfahrungswelt haben, aus dem einfachen Grunde, daß sie deren Bestimmung oder Erklärung ist« (Merleau-Ponty 1974:4 f.). Die Geographie als Wissenschaft ist z. B. gegenüber der Landschaft als lebensweltliche Erscheinung nur sekundär, da zuerst gelernt worden sein musste, was der Wald, die Wiese und der Fluss überhaupt sind (ebd.:5). Das Menschenbild als Vorverständnis lässt sich daher im Sinne eines zumeist präreflexiven, aus früheren alltäglichen Erfahrungen unsystematisch entstandenen Vermeinens darüber, was der Mensch ist, verstehen. In jeder wissenschaftlichen Forschung ist ein Menschenbild inkludiert, das implizit als alltagsfundiert-unsystematisches Menschenbild der jeweilige Wissenschaftler innehat. Erst dadurch, dass er weiß bzw. meint zu wissen, was der Mensch ist und was an ihm erforschbar ist, kann er die entsprechende Methode heranziehen, aus der er schließlich seine wissenschaftlichen Ergebnisse erhält (vgl. Loosch et al. 1996:35 ff.; vgl. Prohl 2010:218 f.). Wenn im Falle eines chronischen Rückenleidens der behandelnde Arzt der Meinung ist, dass der Mensch vergleichbar mit einer Maschine ist, so wird er ausschließlich die biomechanischen Gegebenheiten des Körpers und die täglichen Belastungen in den Blick nehmen. Ein psychosomatisch orientierter Arzt würde hingegen zusätzlich nach den Lebensverhältnissen, nach Stress und Kummer fragen. Er würde sowohl biographische Informationen als auch Zukunftspläne erfragen. Somit beeinflusst der zumeist nicht reflektierte herrschende Zeitgeist und das hier beheimatete soziokulturelle Umfeld das Menschenbild des Wissenschaftlers und prägt wiederum die verwendete wissenschaftliche Methode sowie deren Ergebnisse. 120

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3. Der Forschungsgegenstand als Objekt des Interesses prägt die Methode, während das Menschenbild nicht tangiert wird (vgl. Mechling & Munzert 2003:16): Hier wird die Meinung vertreten, dass in einer wissenschaftlichen Arbeit Forschungsprogramme erkannt werden können, jedoch keine Menschenbilder. Das Interesse oder das Problem bestimmt das Forschungsprogramm und damit die Methode. Das bedeutet, dass humanwissenschaftliche Untersuchungen keinem Menschenbild zugrunde liegen, sondern einem Interesse an einem Forschungsgegenstand, der als Teil des Menschen die Methode vorgibt. Während der Geisteswissenschaftler danach strebt, das Einmalige und Individuelle durch hermeneutische Methoden zu erfassen, interessiert sich der Naturwissenschaftler für das Gesetzmäßige, das er durch Experimente versucht zu ermitteln. 49 Um solche Gesetzmäßigkeiten zu ergründen, müssen einzelne, zufällige und individuelle Störfaktoren ausgeblendet werden (vgl. Janich 2008:116 f.; vgl. Meyer-Abich 2010a:389; vgl. Seewald 2001:157; vgl. Strasser 1964:22; vgl. Thiele 1990:88). Dass ein Chirurg ausschließlich naturwissenschaftliche Erkenntnisse während einer Operation anwendet, ist kein Hinweis auf ein Menschenbild, das im Menschen lediglich eine Maschine erkennt; es handelt sich hier eher um einen notwendigen Zweckreduktionismus. Dies bedeutet, dass aus der Methode und dem Forschungsgegenstand nicht auf das Menschenbild geschlossen werden kann. Alle drei Argumentationsweisen wirken für sich zunächst plausibel und richtig. Zwar ist es grundsätzlich möglich, dass sich Menschenbild und Erkenntnisgegenstand gegenseitig beeinflussen (Aussage 1 und 2), jedoch wäre dann die dritte Aussage nichtzutreffend, nach der das Menschenbild in der Wissenschaft nicht tangiert wird. Bei genauerem Hinschauen zeigt sich also, dass nicht alle drei Aussagen zugleich wahr sein können. Wenn sich Bezugnahmen, die sich auf einen Gegenstand richten, (teilweise) ausschließen, ist von einem sprachlichen Missverständnis auszugehen. Es ist hier zu vermuten, dass der Begriff »Menschenbild« unterschiedliche Bedeutungen impliziert. In dem in Kapitel 1 unternommenen Versuch einer Versöhnung wurden lediglich die wissenschaftlichen Menschenbilder theWährend die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen ihre eigenen Methoden besitzen, ist es den Nutzern der Wissenschaften möglich, unterschiedliche Methoden zu verwenden. Ein Beispiel für ein transdisziplinäres Konzept für den Arzt ist der von Hahn (1988:144; 2003:139) erarbeitete Methodenkreis.

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Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

matisiert. Die obigen Aussagen beziehen sich jedoch auch auf ein anderes, nämlich lebensweltliches Menschenbild.

2.1 Das Verhältnis zwischen Lebenswelt und Wissenschaft Wissenschaftliche Menschenbilder wurden in Kapitel 1 im Sinne von wissenschaftlich-systematisch formulierten und produzierten Menschenbildern als Mensch-Welt-Konzepte vorgestellt. Es ist wichtig zu betonen, dass es sich hier nicht um ein in der Wissenschaft bewusst oder unbewusst verwendetes Menschenbild handelt, sondern um eins, das wissenschaftlich, also systematisch – mehr oder weniger widerspruchsfrei – fundiert wurde. Die pragmatische Wissenschaft unterscheidet sich hier fundamental von der Phänomenologie als philosophischer Wissenschaft. Erstere reflektiert den Menschen und verdinglicht ihn so; es kommt zur Spaltung von Leib und Seele oder es kommt zum Identitätspostulat, nach dem das Gehirn als Materie mit dem Geistigen als Bewusstsein gleichgesetzt wird (siehe Kapitel 1.1.3 und 1.5.5). Die Phänomenologie im Sinne Merleau-Pontys versucht hingegen aus der reflexiven und systematischen Position heraus, das präreflexive Erleben, in dem sich der Leib-Seele-Dualismus auflöst, zu ergründen (siehe Kapitel 1.4.3). Ein wissenschaftliches Menschenbild zeichnet sich durch eine maximale Reflexivität aus, wobei die Phänomenologie ihre reflexive Tätigkeit darauf richtet, das Unreflektierte und Vorreflexive zu ergründen (Merleau-Ponty 1974:6). Es stellt sich nun zunächst die Frage, inwieweit sich wissenschaftlich fundierte Menschenbilder und Lebenswelt gegenseitig beeinflussen. Husserl thematisiert und problematisiert die bereits in Kapitel 1.4.1 erwähnte Lebenswelt auf drei im Folgenden vorgestellte Weisen: 1. Die Lebenswelt wird zum einen als Bestandteil der Wissenschaft behandelt. In solchen Fällen wird sie als Welt der praktischen Handlungen verstanden, wie sie im Gegensatz zur konstruiertmodellhaften Experimentsituation der wissenschaftlichen Theorie gegeben ist. Die Lebenswelt wird in folgende wissenschaftliche Ansätze eingebunden: a) in der Phänomenologie, die ihre systematischen Bestimmungen an dieser Lebenswelt ausrichtet (z. B. Zahavi 2007:31), b) in v. Weizsäckers Gestaltkreis-Theorie (Frick 2009:123), in die sie neben der abstrakten Naturwissenschaft integriert wird, 122

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Der genealogisch primäre Charakter der Lebenswelt

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in jeder Geistes- und Sozialwissenschaft, deren Forscher stets an der Praxis teilnehmen, um die Ergebnisse zu Daten zu vergegenständlichen (vgl. Habermas 2011:78). Da die Lebenswelt reflektiert werden kann, ist sie auch wissenschaftlich erforschbar. Die primordiale Lebenswelt präsentiert sich somit aufgrund der Möglichkeit, sie im Nachhinein zu reflektieren, als eine wissenschaftlich nutzbare Erkenntnisquelle (vgl. Habermas 2011:67; 78 f.). Aus dieser Sicht ist die Lebenswelt ein mögliches Erkenntnisobjekt der Wissenschaftswelt. 2. Die Lebenswelt gilt ferner als die Welt, die sich ohne wissenschaftliche, also theoretisch-systematische Abstraktion, stattdessen performativ innerhalb routinemäßiger Lebensvollzüge zeigt. »In der Lebenswelt begegnen wir einander nicht wie Körpervehikel« (Fuchs 2011:272), die, wie v. Uexküll (1987:131) schreibt, in »verschiedenen Wirklichkeiten leben und gemeinsam den Code suchen und finden müssen, der Übersetzungen zwischen den Zeichensystemen ihrer verschiedenen individuellen Wirklichkeiten ermöglicht«, »sondern als Personen, die ihren gesamten Leib bewohnen, in ihm erscheinen und sich ausdrücken« (Fuchs 2011:272). Im unmittelbaren Erleben existieren keine theoretischen Modelle und deren Begriffe wie Moleküle, Aktionspotenziale, Über-Ich, Es etc. (vgl. Carr 2011:1305 ff.; Hartmann 2006:101). 3. Zuletzt wird die Lebenswelt in allgemeinerer Form als die Welt angesehen, in der jeder Mensch lebt und die sich von der theoretischen Wissenschaftswelt fundamental unterscheidet. Sie gilt hier als Basis des praktischen Handelns und beinhaltet sowohl das Routinemäßige, Alltägliche als auch das Besondere, Unalltägliche, das dazu führt, dass das Erlebte reflektiert und zum Thema gemacht wird (Gethmann 2011:3; Habermas 2011:64 ff.; vgl. Waldenfels 1998a:13, 65). Nachfolgend wird die soeben dargestellte dritte Variante des Husserlschen Lebensweltverständnisses angewandt. Allerdings fließt das zweite Verständnis ebenfalls in die nachfolgenden Überlegungen ein, jedoch im Sinne der präreflexiven und zum Teil alltagsreflexiven Einstellung.

2.2 Der genealogisch primäre Charakter der Lebenswelt Das Streben nach wissenschaftlich fundierten Aussagen resultiert aus der Unzulänglichkeit der Erkenntnisse des vorwissenschaftlichen Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

praktischen Lebens. Das Hineingehen in die Wissenschaft als Quelle des strukturierten und systematisch gewonnenen Wissens ist der Versuch einer Befreiung aus der Befangenheit durch ungleiche, z. B. subjektive Perspektiven (Strasser 1964:100; vgl. Vetter 2004:119). Der Mensch verlangt nach objektiven, also bereichs- und überzeugungsinvarianten, exklusiven und zeitlich stabilen Erkenntnissen. Solche Erkenntnisse liefert die Wissenschaft, die sich von der Lebenswelt notwendig entfernt (Gethmann 2011:5; Lembeck 2011:227 f.; Strasser 1964:97 ff.). Die wissenschaftliche Praxis, in der der Forscher z. B. zu seinem Mikroskop greift, eine Messung vornimmt usw., gehört der Lebenswelt an und ist von den wissenschaftlichen Modelltheorien zu unterscheiden. Während etwa ein Computer als Gerät, mit dem gearbeitet werden kann, als Gebrauchsgegenstand wirklich vorhanden ist, existieren in der wissenschaftlichen Theorie Modelle und Abstraktionen, die zunächst konstruiert werden müssen und nicht theorieunabhängig vorhanden sind und verstanden werden können. Beispielsweise ist ein Kieselstein der kleine Gegenstand, der gesehen, berührt, gedreht und geworfen werden kann. Neuronen oder Ia-Muskelfasern sind hingegen Modellkonstruktionen, die nicht theorieunabhängig vorhanden sind und die in der lebensweltlichen Wirklichkeit nicht vorkommen. Sie wurden dazu entworfen, ein besseres Verstehen lebensweltlicher Zusammenhänge zu ermöglichen. Die Modelle der wissenschaftlichen Theorien sind deshalb nicht lediglich eine Fortsetzung lebensweltlicher Erkenntnis, die ein immer detaillierteres Bild der Wirklichkeit ermöglichen. Stattdessen entfernt sich die Wissenschaft mit ihrem Abstraktionsgrad von der primären lebensweltlichen Wirklichkeit (vgl. Breidbach 1993:81 ff.; vgl. Fuchs 2006b:333 f.; Hartmann 2006:101; vgl. Janich 2009:46 ff.). So ist z. B. auch »der Hund, den wir streicheln […], nicht die genetische programmierte Überlebensmaschine, als die ihn die Biologie darstellt« (Mutschler 2011:33). Diese Auffassung steht im Gegensatz zu der von Schlick (in Mutschler 2011:32), der behauptet, dass die Naturwissenschaft »uns auf die größte Höhe der Abstraktion [führt]. Je höher aber die Abstraktionsstufe einer Wissenschaft, desto tiefer dringt sie in das Wesen der Wirklichkeit.« Für Lembeck (2011:228) ist die beschriebene Loslösung der Wissenschaftswelt ein AnlaufNehmen und keine Flucht aus der Lebenswelt. Zum einen ist ein Zurückkehren zur Lebenswelt schon immer dann gegeben, wenn wissenschaftliche Experimente vorbereitet und verwirklicht werden. Auch das Skalieren, Ablesen, Deuten und Diskutieren der Ergebnisse 124

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Der genealogisch primäre Charakter der Lebenswelt

Subjekte als Errichter und/oder Nutzer der Theorien

wissenschaftl.abstrakt (d) Subjekte als Nutzer der Theorien

Subjekte, die sich über den Menschen Gedanken machen

Subjekte, die ohne zu überlegen sich und andere erleben

wissenschaftl.konkret (c)

Theorien über den Menschen mit maximaler Stringenz und Kohärenz (e)

Naturalismus Emergentismus Komplementarität Phänomenologie Theologie

Widersprüche alltagsreflexiv (b)

Dissonanzen präreflexiv (a)

praktische Lebenswelt

theoret. Welt

Abbildung 4: Genealogie des Verständnisses des Menschen über den Menschen (Eigene Darstellung)

ist stets auf die Lebenswelt als allgemeine sinn- und bedeutungsimmanente Welt verwiesen (vgl. Husserl 1962:128; Strasser 1964:61; siehe hierzu auch den Methodenkreis von Hahn 1988:144). Außerdem kehren wissenschaftliche Erkenntnisse wieder zurück und beeinflussen die Lebenswelt und ihre impliziten Gewissheiten (Føllesdal 2011:378 ff.; Gethmann 2011:5; Lembeck 2011:228; Merker 2011:249; Waldenfels 1998a:57). Lebensweltliche Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten prägen alle praktischen Handlungen und Lebensvollzüge. Sie zeigen sich in Sätzen wie: »Erwachsene, gesunde Menschen können für ihr Tun so verantwortlich sein, dass sie dafür Lob und Tadel, Wertschätzung und Verachtung verdienen« (Wingert 2008:290). Es handelt sich um Selbstverständlichkeiten, die kulturell und sozial vermittelt werden, in routinemäßigen Lebensvollzügen selbst wahrgenommen und erfahren oder durch die Vernunft hervorgebracht und stets implizit vorausgesetzt werden (siehe (a) in Abbildung 4; Fuchs 2006a:81; Scholz 2011:1386 ff.). Kommt es dazu, dass über den Menschen und sein Verhalten nachgedacht wird, können die soeben beschriebenen präreflexiven Selbstverständlichkeiten expliziert und reflektiert werden. Es ist dann möglich, dass die Selbstverständlichkeiten zugunsten von Theorien Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

aufgegeben werden, von denen geglaubt wird, dass sie die Wirklichkeit wahrheitsgetreuer wiedergeben. Ein Beispiel hierfür ist der radikale Konstruktivismus und seine deterministische Schlussfolgerung, nach der der Mensch keinen freien Willen besitzt, sondern dessen Verhalten das Ergebnis vorheriger Naturprozesse darstellt. Hier werden Erkenntnisse lebensweltlicher Erfahrungen von dem theoretischen Wissen überdeckt. Im alltäglichen Bereich wird ein solches abstraktes Wissen häufig herangezogen, ohne dass eine Angabe über seine Quelle(n) gemacht werden könnte (z. B. der Mensch ist egoistisch, weil es in seinen Genen einprogrammiert ist). In diesem Fall befindet sich der Mensch in der alltagsreflexiven Einstellung (b). Während z. B. ein Arzt bei einem Patienten eine Untersuchung durchführt, wird der Patient in der wissenschaftlich-konkreten Einstellung betrachtet (c). Wenn in einer wissenschaftlichen Abhandlung danach gestrebt wird, maximal kohärente und stringente Wissensquellen heranzuziehen und zu verarbeiten, so befindet sich der Autor in der wissenschaftlich-abstrakten Einstellung (d). Die Modelle über den Erkenntnisgegenstand als Ideen gehören nicht der Lebenswelt an, sondern sind Teil der Theoriewelt (e). Die Theologie wurde im Schaubild integriert, um darauf hinzuweisen, dass die mögliche Anwendung des Konzepts des situativen Menschenbilds nicht auf die in diesem Buch besprochenen Mensch-Welt-Modelle begrenzt ist. Strasser (1964:67) vergleicht sinnähnlich zur hier vorgestellten Analogie die Lebenswelt »mit einem fruchtbaren Boden […], aus dem die Gewächse der kritisch-systematischen Erkenntnis hervorsprießen […]. Natürlich werden auch die physischen und chemischen Eigenschaften des Bodens infolge der üppigen Vegetation verändert.« So erkennt der naturwissenschaftlich geprägte Mensch ein Gewitter bereits vor jeder Überlegung nicht mehr als einen Zornesausbruch einer göttlichen Gestalt, sondern er fasst dieses Ereignis als ein Naturschauspiel auf. Der epileptische Anfall wird nicht mehr als Strafe höherer Mächte angesehen, sondern als ein physikalisch-chemischer Prozess, der medikamentös beeinflusst werden kann. Dass auch wissenschaftliche Termini und Metaphern die lebensweltliche Sprache durchziehen (Merker 2011:249), zeigt sich an Sätzen wie: »Das war Adrenalin pur!« Wie die Sprache fließen auch wissenschaftliche Erkenntnisse in den Alltag hinein und werden zum selbstverständlichen Inventar (vgl. Lembeck 2011:228). Die Lebenswelt mit ihren alltagsbezogenen vorwissenschaftlichen Auffassungen wird hier genealogisch nicht von der Wissenschaft abgetrennt gedacht (Føllesdal 126

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Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen

präreflexive Einstellung

alltagsreflexive Einstellung

wissenschaftl.konkrete Einstellung

wissenschaftl.abstrakte Einstellung

Lebenswelt

Abbildung 5: Die unterschiedlichen Einstellungen innerhalb der Lebenswelt (Eigene Darstellung)

2011:392), sondern zeigt sich in Form einer gemeinsam geschichtlich sedimentierten Praxis als ihr Sinnesfundament (Husserl 1962:48; Mertens 2011:234), wobei die aus ihr hervorgegangenen Früchte selbst wieder auf das Sinnesfundament verändernd wirken können.

2.3 Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen Nachfolgend soll ein Modell entwickelt werden, das es erlaubt, die Lebenswelt als Welt der praktischen Lebensvollzüge unter Einfluss präreflexiver sowie reflexiver Einstellungen zu begreifen. Hieraus lässt sich ein lebensweltlich verhaftetes Menschenbild ableiten, das sich in Abhängigkeit verschiedener Situationen verändert (siehe Abbildung 5). Es existieren, wie in Kapitel 2.2 beschrieben, drei Einstellungen: In der präreflexiven Einstellung ist das erlebende natürliche Ich (siehe Kapitel 1.4.2) zur Welt gerichtet und lebt sich bewegend und wahrnehmend in ihr ohne explizite Reflexion. In der alltagsreflexiven Einstellung zieht das denkende, personale Ich unsystematisch verschiedene, zum Teil anonyme Wissensquellen heran (z. B. ZeitAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

schriftenartikel, Fernsehberichte, Erzählungen eines Bekannten), um aufgemerkte Sachverhalte zu ergründen. Die wissenschaftlich-reflexive Einstellung spaltet sich auf und zwar in die wissenschaftlichkonkrete Einstellung, in der der zu reflektierende Mensch im unmittelbaren örtlichen Kontakt zur reflektierenden Person steht. In der wissenschaftlich-abstrakten Einstellung wird über den zu reflektierenden Menschen in dessen Abwesenheit nachgedacht und es werden Theorien über den Menschen im Allgemeinen aufgestellt. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass der Begriff »Einstellung« nicht klar abgegrenzte Bereiche beschreibt. Das lebensweltliche Menschenbild wird durch das intentionale Bewusstsein des erlebenden Menschen, nachfolgend dargestellt in Form eines Öltropfen, geprägt (siehe Abbildung 6 bis Abbildung 9). Dieser Öltropfen zeichnet sich durch die Veränderbarkeit seiner Form und sein stetes dynamisches Hin- und Herbewegen zwischen den Einstellungen aus. Um den dynamischen und veränderlichen Charakter des lebensweltlichen Menschenbilds zu unterstreichen und der Tatsache gerecht zu werden, dass es sich situationsabhängig verändert, wird es nachfolgend als situatives Menschenbild bezeichnet. Während sich die präreflexive Einstellung dadurch auszeichnet, dass hier der Mensch nicht gedanklich explizit zum Thema gemacht wird, wird in der reflexiven Einstellung der Mensch und sein postuliertes Sein mehr oder weniger explizit betrachtet, also über ihn nachgedacht.

2.3.1 Präreflexive Einstellung In der präreflexiven Einstellung erfahre ich mich vorichhaft als leibseelische Einheit, die intentional zur Welt gerichtet ist und ihr einwohnt (vgl. Merleau-Ponty 1974:169 f.). Hier erfahre ich mich nicht als Wesen, das mittels seiner Beine als Knochen-Muskel-Apparat eine bestimmte physikalisch bemessene Distanz zurücklegt. Stattdessen nehme ich die Welt während des Gehens – metaphorisch gesprochen – wie durch eine schwebende Kristallkugel wahr. Ich kann mein Bewusstsein dorthin bringen, wohin ich will; es ist zwar abhängig von meinem Leib, kann sich jedoch von ihm lösen. Beim Gehen kann mein Bewusstsein auf meine Füße, meine Beine, meine Körperhaltung etc. gelenkt werden. Im performativen Lebensvollzug bin ich jedoch zur unmittelbar vor mir befindlichen Welt oder einer zeitlich und räumlich von meinem Leib entfernten Welt gerichtet. Im Gehen 128

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Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen

etwa kann ich mich einem plötzlich emporfliegenden Vogel zuwenden. Hier wird keine Trennung zwischen seelischer Aktivität (Erschrecken, Interesse, Neugier, Aufmerksamkeit) und körperlicher Aktivität (heftiges Herzklopfen, Bewegung der Augenmuskeln, der Halsmuskeln) empfunden. Auf das präreflexive Erleben des Menschen seiner selbst bezieht sich Hicklin (1977:53), wenn er schreibt: »Nie erlebt sich ein Mensch als ein in Leib und Seele Gespaltener.« In direkter Nähe zum präreflexiven Pol wird noch nicht zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt unterschieden (vgl. Fritz 2000:14). Den Stift nehme ich beim Schreiben nicht als objektiven Gegenstand wahr, sondern ich sehe, dass ich mich auf dem Papier festhalte, ich fixiere mich als meine Gedanken in Zeit und Raum durch den Stift als einverleibtes Ding – als dinghaften Teil von mir. Eine wirkliche Überlegung, wie ich mich bewege, benötige ich nur bei neuen oder besonders komplizierten Problemen, die der Erfüllung meines Vorhabens entgegenstehen (siehe Kapitel 3.5.2.3). Der Welt und ihren Lebewesen gebe ich zu jeder Zeit vorichhaft und unmittelbar einen Sinn. Alle Empfindungen und Bilder treten hierbei bereits vor jeder aktiven Setzung in einem Sinnhorizont auf (Merleau-Ponty 1974:35). Das Verhalten zur Welt beinhaltet deshalb eine Schicht des Ungewussten und Unwillkürlichen, die weder der Natur gehört, noch meiner absoluten Verfügung unterliegt (Waldenfels 1986:160). Während das personale Ich selbst wahrnimmt, müsste ich als natürliches Ich sagen, »daß man in mir wahrnimmt« (ebd.). Die Farbe, die ich sehe, ist kein neutrales Faktum, sondern als Farbgestalt mit kulturell sedimentierten Bedeutungsgehalten gegeben: Das Rot etwa ist nicht nur ein Rot, sondern das Rot des Blutes. Es ist mir so wenig möglich, die Farbe von ihrer Bedeutung zu trennen, wie das Schriftzeichen von seiner Bedeutung des geschriebenen Satzes (Merleau-Ponty 1974:198; Waldenfels 1986:160). Es handelt sich hier um eine ursprüngliche präreflexive und vorgängige Sinnstiftung des natürlichen Ich, die einer sekundären Reflexion den Boden bereitet und daher vor ihr eine Vorrangstellung einnimmt (vgl. Fritz 2000:132; Merleau-Ponty 1974:5; Seewald 1995:215). In dieser Einstellung ist es genauso wenig möglich, eine Person von ihrem Körper zu trennen. Ich nehme z. B. automatisch die vor mir Stehende als Ines mit meiner bestimmten Beziehung zu ihr wahr. Durch die vorprädikative Sinnsetzung wird die unmittelbare und evidente intersubjektive Kommunikation, die Kohärenz von Ich und Welt als Voraussetzung zum sozialen Miteinander erst ermöglicht. Müsste jede Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Handlung eines anderen Menschen stetig neu explizit interpretiert und bewertet werden, wäre das gesellschaftliche Leben als performatives »Amalgam« (Habermas 2011:65) undenkbar. Allerdings ist die Einheit des Eigenen und Anderen nie absolut, denn sonst wäre kein Unterschied zwischen mir und dem Anderen mehr vorhanden (vgl. Merleau-Ponty 1974:404) – es löste sich mein Ich als Welt für mich auf, mein Selbst als solches enthöbe sich selbst. Während dem Neugeborenen seine Ich-Identität noch nicht ganz gewahr ist und das Du noch nicht als anderer, sondern als eigener Teil gegeben ist (das Du als Ich), ist dem Menschen im weiteren Verlauf seines Lebens auch präreflexiv das Wissen um die »Andersheit des Anderen« bewusst (Seewald 2007:27). Wenn ich an einer Straße entlanggehe und sich ein Auto von vorne nähert, erkenne ich unmittelbar ein Gefährt, das von einem anderen Menschen gesteuert wird. Ebenso unmittelbar weiß ich, dass dieses Gefährt auf der Straße an mir vorbei weiterfährt und nicht aus Aggression oder Langeweile plötzlich auf mich zurast, denn der Leib begreift vorichhaft seine Welt, ohne den Durchgang durch Vorstellungen nehmen zu müssen. Meine Verhaltensstrukturen und mein Denken werden präreflexiv in den Anderen injiziert (mein Ich im Du). In alltäglichen Lebensvollzügen zeigt sich dieser Sachverhalt immer wieder in intersubjektiven Situationen, in denen mit anderen Menschen umgegangen wird. Wenn mir jemand die Hand reicht, so stellt sich mir dies nicht als innerer mentaler Akt dar, der für mich mittels der symbolischen Körperbewegung interpretierbar ist. Stattdessen sind mir der andere und sein Gruß unmittelbar – leibhaftig – gegenwärtig (Merleau-Ponty 1974:219; Fuchs 2008:99). Dass andere Menschen ebenfalls Wesen mit einem Bewusstsein sind, die einen Willen haben, ist für mich in präreflexiver Einstellung selbstverständlich. »Wieso sollten […] andere Leiber, die ich wahrnehme, nicht ihrerseits von Bewußtsein bewohnt sein? Hat mein Bewußtsein einen Leib, warum sollten andere Leiber nicht Bewußtsein ›haben‹ ?« (Merleau-Ponty 1974:402). Genauso evident ist mir das Wissen darum, dass ich selbst einen freien Willen habe und entscheiden kann, wie ich handeln werde, weshalb es keinen Grund gibt, anzunehmen, dass andere keinen freien Willen haben sollten. Allerdings kenne ich mein Gegenüber nie in der Klarheit wie mich selbst, 50 und nie erlebe ich eine Situation des Anderen als die meine Ohne mich allerdings selbst jemals in absoluter Durchlässigkeit erkennen zu können (Merleau-Ponty 1974:404).

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Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen

und umgekehrt. Ich erfasse den Zorn des Anderen zwar unmittelbar, aber ich gerate dabei nicht in denselben Zorn. Er erlebt diesen Zorn, für mich ist sein Zorn appräsentiert, d. h., er wird implizit hinzugesehen (Fuchs 2008:42; Merleau-Ponty 1974:402). Unsere beiden subjektiven Situationen, die derselben einzigen Welt entstammen, decken sich nicht (Merleau-Ponty 1974:407 ff.). 51 Intuitiv ist mir nicht nur die Andersheit des Anderen gewahr, sondern es kann zu einem präreflexiv erlebten Dualismus kommen zwischen meinem selbstverborgenen Leib, der ich bin, und dem Leib, den ich als Widerstand bzw. als Gegenstand im Erleben des Nichtvon-selbst-Könnens habe (der aber eben nicht unbedingt reflektiert wird) (Waldenfels 1986:167). Dass die leibliche Ambiguität nicht reflexiv erlebt werden muss, zeigt die Tatsache, dass auch ein nicht zur exzentrischen Positionalität fähiges Tier Dissonanzen zwischen dem, was es will, und dem, was es erreicht, als Zweiheit erleben kann. Es leidet, wenn es die Diskrepanz zwischen triebhaftem Wollen (z. B. Fressen) und Unmöglichkeit der Einleibung (z. B. durch Unerreichbarkeit der Nahrung) als Mangel erlebt. Ebenso kann auch der Mensch einen Mangel erleben, wenn etwa bei einer Verletzung das Wollen des Leibes einer Unmöglichkeit des Könnens des Leibes als Instrument gegenübersteht (Čapek 2007:184 ff.; Waldenfels 1986: 168). Ein latentes intuitives Wissen um einen gelebten Dualismus von Psyche und Körper, das sich von der präreflexiven Einstellung entfernt und in den Vorbereich des alltagsreflexiven Bereichs geht, entsteht in intersubjektiven Situationen, wenn ich das Verhalten des Anderen als »nicht-natürlich« empfinde. Nach Plügge (1963:53) ist der Mensch natürlich, »wenn die äußere Erscheinung seines Sich-Gebens, seines Ausdrucks seiner inneren Substanz entspricht, wenn sich also Innen und Außen durchdringen wie beim Vorgang organischen Wachstums.« Es kann somit ein Unterschied zwischen Innen und Außen, d. h. zwischen Psyche und Körper des Gegenübers phänomenal wahrgenommen werden und zwar aufgrund der Nicht-Transparenz der Welt und damit auch des Anderen. So kann das Erröten meines Gegenübers als leibliche Scham gesehen werden. Wenn dieser Verschämte jedoch versucht, selbstsicher zu wirken, indem er eine lässige Körperhaltung einnimmt, so empfinde ich sein Verhalten als unnaDie Tatsache, dass das Bewusstsein eines Menschen privilegiert nur ihm zugänglich ist und es also ausschließlich in der ersten Person und nicht in der zweiten oder dritten Person erlebbar ist, wurde bereits ausführlich in Kapitel 1.3.1.1 begründet.

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild präreflexive Einstellung

alltagsreflexive Einstellung

wissenschaftl.konkrete Einstellung

wissenschaftl.abstrakte Einstellung Naturalismus

Emergentismus

Komplementarität

Phänomenologie

praktische Lebenswelt

Wissenschaft

Abbildung 6: Der Mensch in präreflexiver Einstellung (Eigene Darstellung)

türlich – als Dissonanz zwischen meinem unmittelbaren Erleben seiner Scham und der nicht dazu passenden Körperhaltung als Sprengung seiner Einheit. Eine solche Unstimmigkeit kann weiter unreflektiert diffus empfunden werden, mit Freuds Vokabular wäre sie dann vorbewusst vorhanden. So wie Inhalte des Vorbewusstseins nicht gänzlich dem Bewusstsein entzogen sind, sondern bei Bedarf an die »Bewusstseinsoberfläche« gebracht werden können, so kann auch diese intuitive in eine reflektierte Dissonanz verwandelt werden. Die folgenden Abbildungen stellen die Veränderbarkeit des situativen Menschenbilds zwischen den verschiedenen Einstellungen, in denen sich der Erkennende befinden kann, dar. Die Öltropfenform symbolisiert die Uneindeutigkeit, Dynamik und Wandelbarkeit des intentionalen Bewusstseins und damit das hiervon geprägte situative Menschenbild. Die vier Wissenschaften sind beispielhaft und orientieren sich an den in Kapitel 1 vorgestellten Mensch-Welt-Konzepten. In Abbildung 6 wird das Menschenbild einer Situation in präreflexiver Einstellung beschrieben.

2.3.2 Die drei reflexiven Einstellungen Der Mensch besitzt grundsätzlich die Möglichkeit, sich von sich selbst zu distanzieren, d. h. aus der zentrischen in die exzentrische 132

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Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen

Positionalität zu wechseln (Seewald 1996:27 ff.; Plessner 2003a: 238 ff./VII). Dies geschieht, wenn er sich oder andere reflektiert. Merleau-Ponty führt hierzu ausgehend vom natürlichen Ich das personale Ich ein (siehe Kapitel 1.4.2 und 2.3.1). Während sich das natürliche Ich dadurch auszeichnet, dass es vor jeder kognitiven Setzung der Welt einen Sinn erteilt, ist das personale Ich ein verantwortlich tätiges Ich, dem es möglich ist, sich auf seine leibliche Situation zu besinnen (Waldenfels 1986:160). Das Explizieren des Menschen (seiner selbst oder anderer) hat zur Konsequenz, dass der performative und intuitive Charakter der präreflexiven Einstellung aufgehoben wird (vgl. Habermas 2011:65). Während ich etwa Gestik und Mimik eines für mich alltäglichen Menschen direkt und unmittelbar verstehe (Merleau-Ponty 1974:218 ff.), gelingt dies nicht in Situationen, in denen ich jemandem begegne, der von mir als fremd erlebt wird. Solange die Fremdheit des Fremden eine alltägliche ist, wie z. B. der fremde Nachbar oder der Straßenpassant, befinde ich mich weiter in der präreflexiven Einstellung. Dies ist jedoch dann nicht mehr ausreichend, wenn ich in einer Begegnung eine explizite Deutung benötige oder wenn sich die Fremdheit des anderen zu einer strukturellen Fremdheit steigert, die all jenes betrifft, was außerhalb einer bestimmten Ordnung angetroffen wird. So können z. B. die Laute eines beeinträchtigten Menschen, deren Sinn und Funktion mir verschlossen bleiben, als strukturell fremd erscheinen: Hat er Angst, ist er zornig oder freut er sich extrem, wenn er schreit?; wie ist seine Mimik zu verstehen: Ekelt er sich oder lacht er? (vgl. Merleau-Ponty 1974:219; vgl. Waldenfels 1998a:35 f.). Im Falle einer strukturellen Fremdheit befinde ich mich in einer der drei reflexiven Einstellungen, wodurch sich das situative Menschenbild ändern kann.

2.3.2.1 Die alltagsreflexive Einstellung Wenn Lebensvollzüge gestört werden und Dissonanzen auftreten, werden sie ihres impliziten Charakters verlustig und expliziert. Das Hervorheben des Impliziten in das Bewusstsein ist immer dann nötig, wenn mir im Alltag nicht nur das Vertraute und Bekannte, sondern etwas als Fremdes frontal begegnet. Dieses Fremde und meine Intentionalität auf sich Ziehende kann z. B. in der eigenen, aber nicht gelingenden Handlung (z. B. möchte ich eine Aufgabe bewältigen, schaffe es aber aufgrund körperlicher Defizite nicht) oder im sozialen Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild präreflexive Einstellung

alltagsreflexive Einstellung

wissenschaftl.konkrete Einstellung

wissenschaftl.abstrakte Einstellung Naturalismus

Emergentismus

Komplementarität

Phänomenologie

praktische Lebenswelt

Wissenschaft

Abbildung 7: Der Mensch in alltagsreflexiver Einstellung (Eigene Darstellung)

Miteinander auftreten (Habermas 2011:64 ff.). Wenn ich z. B. bemerke, dass das, was mein Gegenüber mir erzählt, mit dem, was er weiß, nicht übereinstimmt, er also schwindelt, gerät die alltagsreflexive Einstellung in den Vordergrund, denn ich deute bewusst das Gesagte und das Erlebte (siehe Abbildung 7). Die Notwendigkeit der Deutung resultiert aus dem bereits angesprochenen privilegierten Zugang zum Bewusstsein, der nur in der Ich-Perspektive möglich ist. Hier heißt es nicht mehr »mein Ich im Du« (präreflexiv), sondern es wird versucht, durch Deutung »dein Ich im Du« (reflexiv) zu erkennen. Allerdings ist es nicht möglich, das Du im Du absolut erkennen zu können, denn durch die bereits angesprochene leibliche Perspektivität, die niemals gänzlich abgestreift werden kann (Merleau-Ponty 1974:464), greift in jeder Deutung der sogenannte hermeneutische Zirkel: Durch den Vorgriff eines von mir gesetzten vorhandenen Ganzen (z. B. der Mensch besteht aus Materie), wird der Teil (z. B. der Beeinträchtigte schafft etwas nicht, da eine Hirnstörung vorliegt oder aber der Behinderte könnte, traut sich aber nicht aus Angst zu stürzen) in die Ordnung des Ganzen eingefügt. Dieses Ganze verändert sich durch den Teil, sodass der Vorgriff des Ganzen sich ebenfalls verändert, in das beim nächsten Durchlauf der neue, auch veränderte Teil eingefügt wird (Heidegger 2006:150 ff.; Gadamer 2010b:270 ff.). Das Ganze als Vorurteil wird selbst nicht reflektiert und als Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Es werden 134

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Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen

das eigene implizite Denken und die eigenen impliziten Evidenzen in den Anderen hineingedacht. Jede alltagsreflexive Deutung beinhaltet stets eine Projektion des eigenen Seins und des eigenen Denkens auf den Anderen. Andersherum prägt der Andere durch sein Sein mich und mein Denken: Es kommt zu einem Umgang, bei dem sich beide Subjekte gegenseitig prägen (vgl. v. Weizsäcker 1987a:238/V). Das vermeintliche »dein Ich im Du« entpuppt sich daher als »unser Ich im Du«. Die alltagsreflexive Einstellung zeichnet sich dadurch aus, dass für das Vorverständnis des Ganzen – in diesem Fall des Menschen – verschiedenste Erkenntnisquellen, die bewusst oder auch unbewusst greifen, herangezogen werden. Hierzu gehören z. B. die eigenen Erfahrungen, die Tradition, Kultur, Religion, Gesellschaft oder die Meinungen Anderer, welche u. a. durch Gespräche oder Medien verbreitet werden können (Scholz 2011:1386 ff.). Sowohl Menschen, die sich noch nicht explizit systematisch mit dem Menschen auseinandergesetzt haben, als auch humanwissenschaftlich ausgebildete Personen, die sich z. B. gerade unbefangen unterhalten und naiv, d. h. unkritisch, Bewertungen des Gegenübers vornehmen, befinden sich in dieser Einstellung. Während einige traditionell und kulturell überlieferte Selbstverständlichkeiten, wie die, dass der Mensch ein Naturwesen ist und nicht verhext werden kann, das situative Menschenbild bereits in präreflexiver Einstellung prägen, erscheinen andere sedimentierte Erkenntnisse erst durch Reflexion und werden alltagsreflexiv zum Thema gemacht. In der alltagsreflexiven Einstellung frage ich mich z. B. explizit, was mit mir nicht in Ordnung ist, wenn ich eine erwartete Leistung nicht erbringe. Hier kommt es zu dem bereits angesprochenen phänomenal erlebten Dualismus. Sätze wie: »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach« oder ein in der heutigen Zeit häufig gehörter Satz: »Das ist ein reines Kopf-Problem« verweisen auf einen im Alltag vorherrschenden Leib-Seele-Dualismus, der nicht systematisch reflektiert wird (vgl. Fahrenberg 2008:32). Im Alltag wird z. B. häufig mit großer Selbstverständlichkeit behauptet, dass Stress ein Magengeschwür verursachen kann. Auf der anderen Seite kommt es vom selben Menschen zu einer heftigen Gegenwehr, wenn ihm gesagt wird, dass auch seine chronischen unspezifischen Rückenschmerzen ihre seelischen Anteile haben können (vgl. v. Weizsäcker 1987a:236, 280/V; 1987b:389/VII; 1988:576/IX). Hier wird plötzlich argumentiert, dass der menschliche Körper ausschließlich physikalischen Bedingungen unterliege und nichts mit dem seelischen Befinden zu tun Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

habe. Straus nach Buytendijk (1967:219) schreibt daher: »Als Menschen des Alltags leben wir zwischen reiner Physik und Landschaft.« In der alltagsreflexiven Einstellung, die von Widersprüchlichkeiten und Inkonsistenzen geprägt ist, wird situationsabhängig eine LeibSeele-Dichotomie durch einen naturalistischen Monismus oder umgekehrt ersetzt, ohne dass dies bemerkt bzw. problematisiert werden würde. Das situative Menschenbild entspricht hier also einem Durcheinander von verschiedenen Meinungen, die je nach Situation herangezogen und zu einem labilen Ganzen zusammengebaut werden.

2.3.2.2 Die wissenschaftlich-konkrete Einstellung Während in der präreflexiven Einstellung das natürliche Ich die Intersubjektivität ermöglicht und in der alltagsreflexiven Einstellung verschiedene unsystematisch hervorgebrachte Meinungen das Miteinander prägen, ist in anderen Situationen, wie z. B. in der Bewegungstherapie oder beim Arztbesuch, ein wissenschaftliches Wissen notwendig, damit der Experte als Bewegungstherapeut oder Arzt das gegebene Ziel erreichen kann. Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich vom Alltagswissen darin, dass ersteres einer stärkeren Anforderung an Stringenz unterliegt. Wissenschaften sind grundsätzlich danach bestrebt, überzeugungs- und bereichsinvariante sowie zeitlich stabile Erkenntnisse zu gewinnen (Gethmann 2011:5). Während ich mich in der alltagsreflexiven Einstellung je nach Bedarf unbewusst unterschiedlicher Erkenntnisquellen und unterschiedlicher Meinungen bediene, ist es das Streben in der wissenschaftlich-konkreten Einstellung (siehe Abbildung 8), in der mir der zu reflektierende Mensch gegenübersteht, konsistente, stringente, kohärente und von Halbwissen gereinigte theoretische Modelle anzuwenden (vgl. Gethmann 2011:5; vgl. Gutmann & Rathgeber 2010:69). In der wissenschaftlich-konkreten Einstellung speist sich das situative Menschenbild mehrheitlich aus Mensch-Welt-Konzepten, ohne dass a) dies unbedingt bemerkt werden muss und b) die entsprechenden Konsequenzen (Determinismus oder Konstruktivismus) bedacht bzw. gewusst und somit einbezogen werden müssen. Das wissenschaftliche Wissen ist in solchen Situationen unerlässlich, in denen ich mit einer Person umgehe, die ich aufgrund ihrer strukturellen Fremdheit weder präreflexiv noch alltagsreflexiv verstehen 136

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Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen präreflexive Einstellung

alltagsreflexive Einstellung

wissenschaftl.konkrete Einstellung

wissenschaftl.abstrakte Einstellung Naturalismus

Emergentismus

Komplementarität

Phänomenologie

praktische Lebenswelt

Wissenschaft

Abbildung 8: Der Mensch in wissenschaftlich-konkreter Einstellung (Eigene Darstellung)

könnte. Für eine adäquate Aufgabenstellung muss z. B. auch das naturwissenschaftliche Wissen vorhanden sein, dass ein Patient mit einer Spastik bei einem Ergometertraining ungleich mehr Muskeln und damit mehr Energie als ein Nicht-Beeinträchtigter einsetzt (vgl. v. Weizsäcker 1990:612/III). Daher wird er auch schneller erschöpft sein, weshalb der Trittwiderstand oder die Fahrtdauer geringer sein muss als bei einem Menschen ohne diese Beeinträchtigung. Auch für die Aufgabenstellung innerhalb der therapeutischen Arbeit ist wissenschaftliches Wissen unbedingt notwendig. Es muss z. B. bekannt sein, welche Kräftigungsübung wie wirkt (Maximalkraft, Kraftausdauer etc.), welche Gelenkbewegungen gesundheitsschädlich sind, welche neurologischen Hintergründe und Implikationen ein Schädelhirntrauma, eine Multiple Sklerose, eine Arm-Plexus-Lähmung etc. haben und wie sie sich funktionell auswirken können. Ein Aufmerken im Sinne eines reflexiven Nachdenkens über den vor mir sich befindlichen Menschen kommt bei wissenschaftlich (vor-)gebildeten Personen in alltäglichen Momenten vor, z. B. während der Sprechstunde, wenn der Arzt seinen Patienten untersucht oder in der Bewegungstherapie, in der der Therapeut mit dem Patienten arbeitet. Allerdings kann es geschehen, dass unbemerkt verschiedene Einzelwissenschaften als Erkenntnisquellen vermischt werden, weshalb das situative Menschenbild auch bei wissenschaftlich gebildeten Personen trotz gegenteiligen Strebens häufig von Unsystematik und Instringenz geprägt ist. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

Es verhält sich also so, dass ein Wissenschaftler seine Wissenschaft maximal systematisch beherrscht, seine Theorien stringent und konsistent sind und der Mensch im praktischen Umgang dennoch aus unterschiedlichen Erkenntnisquellen heraus gedeutet wird. Die Inkonsequenz etwa, einerseits die geschlossene naturkausale Gesetzmäßigkeit gemäß dem Naturalismus anzuerkennen und andererseits die Willkürbewegung als seelischen Eingriff in die eigentlich absolut determinierte Welt aufzufassen, findet sich nicht nur im naiven Alltag, sondern auch in der wissenschaftsfundierten Praxis wieder (vgl. v. Weizsäcker 1988:538/IX). »Konfliktlos, eigentlich spielend, verbindet und verschmilzt ein guter Arzt, so scheint es, die naturwissenschaftliche Methode mit psychologischen Wahrnehmungen und überwindet so praktisch die Kluft, welche theoretisch zwischen Körper und Seele bestehen, durch ›Metaphysik‹, aber sozusagen nur illegal und jenseits der exakten Wissenschaft, überbrückbar sein soll« (v. Weizsäcker 1987b:159/VII). So ist auch der cartesianische Dualismus neben einem Monismus nicht nur im Alltagsbewusstsein, sondern auch in den Wissenschaften und der Medizin allgegenwärtig (vgl. Meyer-Abich 2010a:27 ff.). Je nachdem, welches Mensch-Welt-Konzept ein Wissenschaftler in seiner Forschung heranzieht, werden, da sie maßgeblich die Erkenntnismethoden bestimmen, Aspekte erkannt oder bleiben im Verborgenen. Während in der alltagsreflexiven Einstellung das situative Menschenbild insbesondere durch nicht immer benennbare Erkenntnisquellen gebildet wird, werden Forscher unterschiedlicher Wissenschaften innerhalb der wissenschaftlich-konkreten Einstellung von deren Welt- und Menschenverständnis, d. h. vom wissenschaftlichen Menschenbild, maßgeblich geprägt.

2.3.2.3 Die wissenschaftlich-abstrakte Einstellung Die wissenschaftlich-abstrakte Einstellung (siehe Abbildung 9) unterscheidet sich von den vorherigen reflexiven Einstellungen durch ihr lediglich mittelbares epistemisches Niveau, bezogen auf den thematisierten Menschen. Hier befindet sich der Wissenschaftler, wenn er sich nicht in unmittelbarer Begegnung mit der zu reflektierenden Person befindet, sondern z. B. einen Bericht von ihr liest oder selbst schreibt, ein Bild oder ein Video sieht oder sie selbst in ihrer Abwesenheit bewertet. 138

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Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen präreflexive Einstellung

alltagsreflexive Einstellung

wissenschaftl.konkrete Einstellung

wissenschaftl.abstrakte Einstellung Naturalismus

Emergentismus

Komplementarität

Phänomenologie

praktische Lebenswelt

Wissenschaft

Abbildung 9: Der Mensch in wissenschaftlich-abstrakter Einstellung (Eigene Darstellung)

In Kapitel 1.4.1 wurde bereits aufgeführt, dass dasselbe Ereignis unterschiedlich wahrgenommen wird, je nachdem wie unmittelbar es erlebt wird. Es wurde gezeigt, dass ein Erdbeben, das ich vor Ort erfahre, gänzlich anders wahrgenommen wird, als wenn ich etwas davon lese. So verhält es sich auch mit dem Menschen: Wenn mir ein Mensch direkt gegenübersteht, erkenne ich ihn unmittelbar als pathische Person. Diese Unmittelbarkeit ist nicht gegeben, wenn ich diese Person zum Thema mache, während sie nicht anwesend ist. Hier fließt das theoretische Mensch-Welt-Konzept mehr in das Verständnis über den Menschen ein, als es in der unmittelbaren Begegnung der Fall ist. Daher wird sich eine schriftliche Bewertung, wie z. B. ein Therapiebericht, verfasst von einem naturwissenschaftlich orientierten Therapeuten, mehr von einer Bewertung im persönlichen Miteinander unterscheiden als von einem Therapeuten, der auch im wissenschaftlich-reflexiven Bereich ein subjektintegrierendes Menschenbild heranzieht. Weiterhin befinden sich in der wissenschaftlich-abstrakten Einstellung solche Personen, die danach streben, den Menschen wissenschaftlich zu bestimmen, oder die sich mit einem wissenschaftlichen Menschenbild beschäftigen. Die Besonderheit der wissenschaftlich-abstrakten Einstellung ist die Tatsache, dass der Wissenschaftler keinem Handlungsdruck ausgesetzt ist. Er kann sich Zeit nehmen, um über Sachverhalte nachzudenken und sie auf Widersprüche zu überprüfen. Nur wenn diese Freiheit vorhanden ist, ist Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

es möglich, sich ausführlich Gedanken zu machen und möglichst widerspruchsfreie Theorien und Modelle zu entwickeln. Die wissenschaftlich-abstrakte Einstellung ist somit die stringenteste Einstellung, sie ist aber gleichzeitig die, mit der »ärmste[n] Erscheinungsweise« (Zahavi 2007:14), da von den nur im konkreten Umgang erlebbaren Aspekten abstrahiert wird (s. o.). Diese Einstellung beschreibt die lebensweltliche Tätigkeit des Wissenschaftlers, in der er sich mit der Theorie ausführlich auseinandersetzt und sie denkerisch auf eine Person anwendet. Die wissenschaftlich-abstrakte Einstellung ist als Tor zwischen praktischer Lebenswelt und theoretischer Wissenschaft zu verstehen: Einerseits ist letztere stets abhängig von dem der Lebenswelt inkarnierten Subjekt, das selbst nie in den theoretischen Bereich einzugehen vermag (die Lebenswelt ist hier die Vorgeschichte der Wissenschaft), andererseits beeinflusst die theoretische Wissenschaft die praktische Lebenswelt, indem sie z. B. Handlungsvorgaben für die Bewegungstherapie formuliert. Jedoch ist es auch möglich, dass die Wissenschaft den präreflexiven Bereich der Lebenswelt beeinflusst. Hier fließt das wissenschaftliche Wissen in die Lebenswelt und setzt sich als Sediment auf deren Grund ab (siehe Kapitel 2.2). Die Lebenswelt ist in dieser Hinsicht laut Waldenfels (1998a:57) die Nachgeschichte der Wissenschaft. Während die theoretischen Modelle in sich maximal kohärent und stringent sein können, fließen in beide wissenschaftlichen Einstellungen stets auch vorwissenschaftliche Selbstverständlichkeiten ein, die, ohne dass dies bemerkt wird, dem herangezogenen theoretischen Modell widersprechen können (s. u.). Da die wissenschaftlich-abstrakte Einstellung am weitesten von der performativen Lebenswelt entfernt ist, kann sich bei entsprechender zugrunde liegender Wissenschaft das wissenschaftliche Menschenbild fundamental von dem präreflexiven situativen Menschenbild unterscheiden. Weil z. B. die Naturwissenschaft die Substanzen des Menschen untersucht und für ihre Erkenntnis Sinn, Bedeutung sowie Angst ausblendet und der Wissenschaftler in der wissenschaftlichabstrakten Einstellung durch die Brille seiner Wissenschaft blickt, ist es eher möglich, dass er subjektive Aspekte ebenfalls vernachlässigt, als wenn er sich in unmittelbaren Umgang mit der von ihm reflektierten Person befindet und direkt ihre Ängste erlebt.

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Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen

2.3.3 Die Dynamik und Veränderlichkeit des situativen Menschenbilds Die vorangegangenen Ausführungen ergaben, dass der Mensch, wie er mir erscheint, in Abhängigkeit der eingenommenen Einstellung variiert. Während sich in der präreflexiven Situation der Mensch sich selbst und andere als leibliche Einheit wahrnimmt, kann es in anderen Einstellungen zu einer deutlichen Trennung von Leib und Seele kommen. Zunächst wird ein Unterschied zwischen mentalem Wollen und dem Können latent gespürt. In alltagsreflexiver und wissenschaftlichkonkreter Einstellung erhöht sich die Relevanz des verwendeten theoretischen Mensch-Welt-Konzepts und kann zu unterschiedlichen monistischen bis hin zu dualistischen Deutungen führen. Um die ursprünglich erfahrene leibliche Einheit zurückzugewinnen, ist es nötig, den Blick auf das vorreflexive Erleben zu richten (Merleau-Ponty 1974:87). Daher ist es verständlich, dass v. Weizsäcker (1986b:456/ VI) schreibt, dass Leib und Seele nicht das Gleiche seien, da er sich während des Schreibens dieses Satzes als Arzt, der die Ursache von Krankheiten herausfinden will, in einer maximalen reflexiven Einstellung befindet, in der sich der Dualismus aufdrängt (siehe Kapitel 1.5.5). Die Dynamik des situativen Menschenbilds innerhalb der unterschiedlichen Einstellungen zeigt sich in zahlreichen alltäglichen und nicht-alltäglichen Situationen: Einerseits steht der Patient als leibliches Subjekt vor mir, den ich als Frank, Gaby, Kristin oder Andreas kenne und den ich präreflexiv verstehe. Des Weiteren weiß ich z. B., dass sich das kleine Kind Gaby anders verhält und ich anders mit ihm umgehen muss als mit dem Erwachsenen Frank und dem Senior Andreas, ohne dass ich dies in wissenschaftlichen Abhandlungen nachgelesen haben müsste. Der Mensch befindet sich im Bereich der präreflexiven Einstellung. In Situationen, in denen ich mich z. B. mit Andreas ungezwungen über das Problem, dass er wegen seiner lauten Nachbarn nicht einschlafen könne, unterhalte und ich ihm rate, sich zu beschweren, weil jeder Mensch ausreichend Schlaf benötige, befinde ich mich in der alltagsreflexiven Einstellung. Ich ziehe in dieser Situation nicht bewusst wissenschaftliche Untersuchungen heran, sondern meine Empfehlung speist sich aus dem Wissen, das ich irgendwann aus verschiedenen mir nicht mehr bekannten Quellen erworben habe. Wenn ich dann z. B. in der Bewegungstherapie-Situation meinen Patienten eine adäquate Bewegungsaufgabe geben möchte, muss ich wissen, was sie für ein Leiden haben, und muss einAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

schätzen können, welche Vorgabe sich positiv oder negativ auswirkt. Hier befinde ich mich in der wissenschaftlich-konkreten Einstellung. Versucht ein Laie, z. B. in seiner Freizeit im Sinne eines kostenfreien Freundschaftsdienstes, als Sporttrainer zu fungieren, dann wird er sich innerhalb seiner alltagsreflexiven Einstellung an eigene Erfahrungen oder Fernsehbeiträge, Zeitschriftenartikel etc. erinnern und diese Wissensquellen unsystematisch zur Handlungsvorgabe heranziehen. In beiden letztgenannten Einstellungen kann es unbemerkt zu Widersprüchen kommen, z. B. wenn der Therapeut einerseits davon ausgeht, dass der Mensch auf seine physikalischen Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren ist (naturalistischer Monismus), und andererseits zwischen seelischem Wollen und körperlichem Können (Dualismus) unterscheidet. Im therapeutischen Alltag wird sich, wie bereits beschrieben, in der wissenschaftlich-abstrakten Einstellung aufgehalten, wenn Berichte über Patienten geschrieben werden, da hier ein konzentriertes Denken und eine eindeutige Anwendung einer Theorie vereinfacht sind. Jedoch kann es auch selbst hier vorkommen, dass verschiedene disparitär zueinanderstehende Mensch-Welt-Konzepte und Einzelwissenschaften unbemerkt vermischt werden. Es ist unbedingt zu beachten, dass sich derselbe Mensch je nach Situation in unterschiedlichen Einstellungen befinden kann. Das hierdurch geprägte situative Menschenbild präsentiert sich also als äußerst dynamisch, denn zu jeder Zeit kann die präreflexive, alltagsreflexive, wissenschaftlich-konkrete bzw. -abstrakte Einstellung dominieren. »Wir haben daher keine dichotomisch aufgebaute Welt, sondern eher ein Kontinuum mit polaren Extremfällen vor uns« (Schwemmer 1990: 105; siehe hierzu auch Fuchs 2006b:334). In der therapeutischen Praxis werden laut v. Weizsäcker (1987b:159/VII) zumeist automatisch und kritiklos naturwissenschaftliche Methoden, die den Körper betrachten, mit einer psychologischen Wahrnehmung vermischt, verbunden und verschmolzen, jedoch werden auch, so v. Weizsäcker (ebd.:169) weiter, Kräfte des Gemüts jenseits von Verstand und Vernunft hereingenommen, die leidenschaftlich erfahren und erlebt werden können (präreflexive Einstellung). Die Dynamik des situativen Menschenbilds zeigt sich in zweierlei Hinsicht: 1. Zum einen kann sich der erkennende Mensch in einer Situation zwischen präreflexiver und wissenschaftskonkreter Einstellung 142

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bewegen, wodurch sich das situative Menschenbild ändern kann: Ein Schlaganfallpatient ist beispielsweise während der Bewegungstherapie ständig auf seine Wertsachen fokussiert. Hierdurch ist er immerfort von der eigentlichen Therapiearbeit abgelenkt. Auf die Frage des Patienten, ob seine Wertsachen auch wirklich gut verwahrt sind, kann der Therapeut gereizt reagieren und unwirsch sagen, dass die Wertsachen wie immer sicher aufgehoben seien. In diesem Beispiel befindet sich der Therapeut in der präreflexiven Einstellung. Das ZurWelt-Sein des Therapeuten, d. h. das eigene aus seiner Sicht vernünftige und sinnvolle Verhalten wird unbewusst im Zuge der selbstreferenziellen Projektion als Norm gesetzt, die in den Patienten unreflektiert hineingedacht wird. Diese wird vom Therapeuten durch das vermeintlich sinnlose Verhalten des Patienten verfehlt. Eine explizite Deutung, in der die eigene Subjektivität innerhalb des Deutungsprozesses bedacht wird, findet hier nicht statt. Der Therapeut kann jedoch auch, bei entsprechender kulturell-gesellschaftlicher Prägung ebenfalls in präreflexiver Einstellung Verständnis für die Andersartigkeit des Beeinträchtigten haben und über das für ihn störende Verhalten hinwegsehen. Weiterhin ist es möglich, dass er sich in alltagsreflexiver Einstellung befindet, er also explizit, aber unsystematisch Wissen von unterschiedlichen Quellen heranzieht (»Ich habe vor Kurzem im Fernsehen gesehen, dass sich Menschen nach einem schweren Schädelhirntrauma nicht immer logisch verhalten«). Zuletzt kann sich der Therapeut jedoch auch wissenschaftlich-konkret besinnen, sodass sich das situative Menschenbild in der Nähe zum reflexiven Extrempol befindet. Ist der Therapeut naturalistisch orientiert, so wird eine mechanizistische Erklärung für das Verhalten herangezogen: Aufgrund der Tatsache, dass einige Strukturen des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen wurden, entstand auf der Handlungsebene eine Verhaltensauffälligkeit. Dieser Umstand wird dann als sogenanntes hirnorganisches Psychosyndrom bezeichnet. Es wird dann z. B. ohne Aussicht auf Veränderung hingenommen oder es wird versucht, durch Konditionierung das Verhalten des Patienten zu beeinflussen. Es ist bedeutsam, dass der Mensch die Tendenz hat, immer wieder in Richtung der präreflexiven Einstellung zurückzuschwingen, allerdings ohne den Weg durch eventuell dazwischenliegende Einstellungen nehmen zu müssen. Dies ist vergleichbar mit einem Elementarteilchen, das ebenso an einem Ort verschwinden und an einem anderen Ort wieder plötzlich auftauchen kann, ohne den Durchgang Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

zwischen dem ersten und dem zweiten Ort vollziehen zu müssen (vgl. Dürr in Dürr et al. 1997:16). Im letztgenannten Beispiel ist es also so, dass selbst wenn ein wissenschaftlich hervorgebrachtes Verständnis vorhanden ist, es auch möglich ist, dass der Therapeut gereizt reagiert, wenn dieser vom Patienten nach den Wertsachen gefragt wird. Der Grund hierfür ist die entscheidende Tatsache, dass auch der Therapeut oder Wissenschaftler als Lebewesen der praktischen Lebenswelt nie selbst Teil der von ihm hervorgebrachten oder genutzten theoretischen Wissenschaftswelt, in der alles logisch und stringent verläuft, sein kann. Die Theorien der Wissenschaft können zwar den Menschen beleuchten, da sie aber als Ideen der Theoriewelt angehören, ist es dem Menschen grundsätzlich nicht möglich, selbst Eingang in sie zu finden. Er kann von der Lebenswelt aus lediglich verschiedene Erkenntnisse unterschiedlichster Wissenschaften und Theorien bewusst und unbewusst, reflektiert und unreflektiert gewinnen. Ein Hin- und Herschwappen und ein Aufteilen des Menschenbilds im situativen Tun ist hier die Folge. 2. Das situative Menschenbild kann auch zwischen verschiedenen Situationen in unterschiedlichen Einstellungen konstituiert werden: Es kann geschehen, dass ein naturalistisch orientierter Therapeut, der außerhalb der Therapie von einer Kollegin erfährt, dass deren kürzlich verwitwete Patientin mit Parkinsonsyndrom an Schlafstörungen leidet und auffallend wenig isst, diese Information mit dem Hinweis abtun, dass bestimmte der Krankheit entsprechende Prozesse im Gehirn die üblichen vegetativen Funktionen behindern. Die Therapie würde, um die vegetativen Prozesse positiv zu beeinflussen, möglicherweise ein Ausdauertraining beinhalten, das ohne einfühlsames Gespräch stattfände. Das therapeutische Vorgehen würde dann ausschließlich auf physiologischen Kenntnissen beruhen. Das wissenschaftliche, nämlich in diesem Fall naturalistische Menschenbild, das in der wissenschaftlich-abstrakten Einstellung herangezogen wurde, überlagert und verdeckt das situative Menschenbild der Einstellungen im konkreten Umgang (jeder Mensch empfindet tiefes Leid, wenn ein geliebter Mensch stirbt, das sich auch in Appetitlosigkeit ausdrücken kann). Derselbe naturalistisch orientierte Therapeut könnte aber, wenn seine sich in der Pubertät befindliche Tochter plötzlich nicht mehr isst, in der alltagsreflexiven Einstellung ganz selbstverständlich danach fragen, ob sie Liebeskummer habe. Er würde dann nicht nur darauf hinweisen, dass durch die Pubertät der Hormonhaushalt durcheinanderkomme und dadurch vegetative Stö144

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Lebenswelt als praktische Welt verschiedener Einstellungen

rungen verursacht würden. 52 Ein Biologe etwa kann sich außerhalb einer intersubjektiven Situation während seiner wissenschaftlichen Forschung im Labor in direkter Nähe des naturalistisch-wissenschaftlich-reflexiven Pols befinden, im nächsten Moment kann er die präreflexive Einstellung einnehmen, nämlich z. B. wenn ihn sein Sohn anspricht. 53 Ein zweites Beispiel soll diesen Sachverhalt nochmals aufgreifen: Einerseits ist ein Therapeut, der sich in der wissenschaftlich-abstrakten Einstellung befindet und ein naturalistisches Mensch-Welt-Konzept heranzieht, der Meinung, dass ein Patient keinen Spaß in der Therapie haben sollte, denn es komme darauf an, dass dieser sich konzentriere und alltagsrelevante Aufgaben, die ebenfalls häufig keinen Spaß bereiten, geübt werden. Freude, Spannung, Aufregung, Langeweile, Ungewissheit, Angst, Mutlosigkeit etc. sind Aspekte, die in dieser Einstellung nicht berücksichtigt werden – der Patient wird nur in seiner physikalisch-funktionalen Dimension gesehen. Auf der anderen Seite fordert er vom Patienten, dass er sich so »normal« verhält wie der Therapeut selbst. Er soll (um am obigen Beispiel anzuknüpfen) nicht ständig an seine Wertsachen denken und nicht stören. Eigentlich, so könnte vermutet werden, müsste der Therapeut Verständnis für das auffällige Verhalten zeigen, denn es wird mit seiner Interpretation durch die Läsion des Gehirns verursacht. Es kann daher keine Schuld des Patienten postuliert werden. Das Verhalten des Therapeuten ist nur zu verstehen, wenn erkannt wurde, dass ein unbemerktes Herüberschwappen zwischen verschiedenen Einstellungen stattfinden kann: In der ersten Situation befindet er sich in der naturalistischen wissenschaftlich-konkreten Einstellung: Er distanziert sich vom Patienten, indem er ihn objektiviert und verdinglicht. In der zweiten Situation tritt er ihm präreflexiv gegenüber und erwartet, dass der Patient genauso vernünftig handelt, wie es der Therapeut Allerdings ist es durch die Möglichkeit der Ontologisierung des wissenschaftlichen Menschenbilds möglich, dass der Therapeut durch seine Profession ein unempathisches Verhalten an den Tag legt und den seelischen Kummer seiner Tochter tatsächlich als solchen übersieht. 53 Diese These wird durch eine Aussage des Neurobiologen Wolf Singer in einem Zeitungsinterview der ZEIT ONLINE (Assheuer & Schnabel 2000) untermauert: »Ich kann bei der Erforschung von Gehirnen nirgendwo ein mentales Agens wie den freien Willen oder die eigene Verantwortung finden – und dennoch gehe ich abends nach Hause und mache meine Kinder dafür verantwortlich, wenn sie irgendwelchen Blödsinn angestellt haben.« 52

Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

(seiner eigenen Meinung nach) tut (mein Ich im Du). Wie bereits beschrieben, gibt es eine stete menschliche Tendenz zur präreflexiven Einstellung. Dies hat auch v. Weizsäcker beobachtet, der schreibt, dass während einer Begegnung ein Gesunder um die Tatsache weiß, dass ein Hirnverletzter aufgrund seiner Schädigung auch durch mehr guten Willen seine Minderleistung nicht absolut kompensieren kann. »Dafür hat [auch] der unvoreingenommene Mensch ein ganz natürliches Verständnis, was aber nicht hindert, daß er ein solches verständnisvoll einfühlendes und rücksichtsvolles Verhalten sehr inkonsequent mischt mit einem unverstehenden Umgang, in dem der eine andersartige Umwelt Habende behandelt wird, als sei er so wie der mit ihm Umgehende« (v. Weizsäcker 1990:615/III). Er beschreibt hier das Zurückschwappen von der alltagsreflexiven Einstellung hin zur präreflexiven Einstellung, in der die Verleibung der eigenen Intentionen, der eigenen Möglichkeiten, also das eigene Zur-Welt-Sein, in den Anderen stattfindet.

2.4 Der Naturwissenschaftler und sein Menschenbild Es hat sich in den vorherigen Kapiteln herausgestellt, dass es nicht nur ein einziges Menschenbild gibt. Vielmehr musste unterschieden werden zwischen dem situativen Menschenbild, das durch verschiedene lebensweltliche Einstellungen geprägt wird, und dem MenschWelt-Konzept der Theoriewelt. Mit dieser Erkenntnis soll nachfolgend die Frage beantwortet werden, ob in der Naturwissenschaft ein falsches Menschenbild existiert oder nicht.

2.4.1 Das naturalistische Menschenbild und der erlebte sowie erlebende Mensch Falkenburg (2006:61 ff.) und Wiemeyer (1996:5 ff.) sind der Ansicht, dass ein theoretisches Modell dann richtig ist, wenn es auf sein Original zurückübertragen werden kann. Die Richtigkeit des MenschWelt-Konzepts hängt aus dieser Sicht von seiner Bewährung in der lebensweltlichen Praxis ab (Hartmann 2006:121). Eine Überführung des naturwissenschaftlichen Menschenbilds auf das lebensweltliche Original ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich (siehe Kapitel 1). 146

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Der Naturwissenschaftler und sein Menschenbild

Nur in sehr wenigen Fällen, z. B. wenn der Mensch unter Anästhesie operiert wird oder als Leiche, ähneln sich das in der Naturwissenschaft verwendete Menschenbild und der lebensweltlich erfahrbare Mensch (vgl. Thomas 1996:114 f.). Wenn eine handelnde, weltoffene und selbst-bewusste Person als Original gilt, stimmen beide Menschenbilder nicht überein. Die folgende Tabelle 1 soll einen Vergleich bieten zwischen dem Verständnis vom Menschen in der naturwissenschaftlichen Theorie und dem Menschen in seinem alltäglichen praktischen Erleben von sich selbst und seinen Mitmenschen: Theoretische Voraussetzungen und Konsequenzen der Naturwissenschaft

Praktisches alltägliches Erleben in der Lebenswelt

Ausschließlich Dritte-Person-Perspektive als unbeteiligter Beobachter des Objekts.

Insbesondere Teilnehmerperspektive in Form der Erste-Person-Perspektive und Zweite-Person-Perspektive als Umgang und Begegnung zwischen Subjekten.

Variable lebensweltliche Situationen, in denen sich die Erkenntnisgegenstände befinden, werden künstlich homogenisiert.

Jede Erfahrung ist situativ konstituiert. Der Mensch ist zu jeder Zeit zur Welt intentional gerichtet.

Mensch wird als mechanischer Kör- Mensch wird als teleologisch orienper erfasst und nach dem Ursache- tierte Person erkannt. Jemand tut Wirkungs-Prinzip untersucht. etwas, um etwas zu erreichen. Es werden hauptsächlich quantitati- Es werden qualitative Merkmale ve Merkmale durch Messung erunmittelbar und durch Deutung fasst. erfasst. Alles Weltliche ist Materie, weshalb Sinn und Bedeutung als Konstrukte aufgefasst werden. Da in der Naturwissenschaft nur erfasst wird, was physikalisch messbar ist und nur das seiend ist, was erfasst werden kann, existieren Bedeutung und Sinn nicht.

Nichts auf der Welt ist für den Menschen ohne Sinn und Bedeutung. Er ist prinzipiell auf Dinge in seiner je individuellen Perspektive gerichtet. Der Mensch ist verurteilt zum Sinn.

Die Welt wird mathematisch ideali- Die Welt wird individuell erfasst siert, sie besteht aus geometrischen und verändert sich fortlaufend. Figuren.

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

Theoretische Voraussetzungen und Konsequenzen der Naturwissenschaft

Praktisches alltägliches Erleben in der Lebenswelt

Naturwissenschaft ist logisch und erkennt nur die Logik an.

Menschliche Lebensvollzüge können antilogisch sein.

Es werden Naturprozesse erfasst.

Es werden Lebensvollzüge verlebt und erfasst.

Moral und rechtfertigende Gründe werden nicht erfasst.

Menschliches Miteinander basiert u. a. und besonders auf Moral und rechtfertigenden Gründen.

Die Naturwissenschaft ist wertfrei. Der Mensch ist nie neutral zur Welt gerichtet. Es wird das Ontische, also das Seiende erfasst.

Das Leben ist pathisch / leidenschaftlich. Das, was das Verhalten bestimmt, ist das Noch-Nicht-Seiende (wollen, dürfen, können, sollen, müssen) und das Seiende.

Wahrnehmen wird als passive Reiz- Wahrnehmen ist ein aktiver intenerfassung mit anschließender Ver- tionaler Vorgang, mit dem sich die arbeitung erkannt. Es handelt sich Welt erschlossen wird. somit eigentlich um ein Wahrbekommen. Empfindungen wie Schmerz sind Informationen, die in das Gehirn geleitet und dort verarbeitet werden.

Empfindungen wie Schmerz werden unmittelbar am Ort der Verletzung qualitativ und situationsabhängig erlebt und erlitten.

Der Mensch ist eine Sache (res), die als monistisch aufgefasst oder cartesianisch gespalten wird in res cogitans und res extensa.

Der Mensch erkennt sich und andere primordial als einheitliche Lebewesen an, die Leib sind (ich nehme – nicht mein Körper nimmt – das Buch).

Die menschlichen Handlungen wer- Der Mensch gilt als bedingt frei in den biologisch determiniert. seinen Handlungen und kann daher auch getadelt, bestraft oder gelobt werden. Der Mensch kann in seinem Denken Der Mensch kann nur als integrale auf neurophysiologische Prozesse Person denken – er kann sich irren; des Gehirns reduziert werden. ein physiologischer Reiz kann dies nicht.

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Der Naturwissenschaftler und sein Menschenbild

Theoretische Voraussetzungen und Konsequenzen der Naturwissenschaft

Praktisches alltägliches Erleben in der Lebenswelt

Der Mensch wird als Zusammensetzung aus seinen Bestandteilen verstanden.

Der Mensch zeigt sich als Ganzheit in seinen Beziehungen zur Welt. Sie können Rückschlüsse auf seine Teile ermöglichen.

Das, was im Alltag gesehen wird, ist lediglich eine Illusion. Die Wirklichkeit ist nur naturwissenschaftlich zu erkennen.

Das, was im Alltag gesehen wird, ist wirklich. Die wissenschaftliche Abstraktion und Konstruktion zeigen eine verzerrte Wirklichkeit.

Die Zeit ist fortlaufend und immer gleich. Die Gegenwart existiert nicht, da sie immerfort von neuen Gegenwarten abgelöst wird.

Die Zeit verläuft unterschiedlich schnell. Die Gegenwart existiert und spannt sich zwischen Zukunft und Vergangenheit auf.

Der Mensch ist durch seine Haut klar getrennt von der Welt.

Der menschliche Leib ist dynamisch veränderlich und gestalthaft: Dinge der Welt können einverleibt werden.

Tabelle 1: Der Unterschied zwischen naturwissenschaftlicher Theorie und lebensweltlicher Erfahrung (Eigene Darstellung)

Anhand der Gegenüberstellungen in Tabelle 1 zeigt sich, dass sich der Mensch als naturwissenschaftlich verstandenes Erkenntnisobjekt von dem Menschen, der uns tagtäglich begegnet, als den wir uns selbst verstehen und der seine Welt unmittelbar erblickt, maßgeblich unterscheidet. Dennoch ist die Gegenüberstellung nicht als Beweis für ein falsches Menschenbild der Naturwissenschaft zu verstehen, wenn der Aussage von Mechling & Munzert (2003:16) zugestimmt wird, nach der, wie in Kapitel 2 geschrieben, das Menschenbild der Naturwissenschaft nicht falsch sei, da das, was in einer naturwissenschaftlichen Analyse betrachtet wird, nur ein Teil des Menschen ist. Um Ergebnisse zu erhalten, müssten notwendig Reduktionen, Abstraktionen und zur Veranschaulichung und Verarbeitungsmöglichkeit Konstruktionen durchgeführt werden. In der wissenschaftlichen Arbeit könnten daher Forschungsprogramme, jedoch keine Menschenbilder erkannt werden. Die Naturwissenschaft erfasse, so eine mögliche Fortführung der Argumente von Seiten der Naturwissenschaft, einen Teil des Menschen, weshalb sie ein richtiges Bild über den menschlichen Körper besitze. In Bereichen, in denen der Körper des MenAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

schen im Vordergrund steht, z. B. bei einer Organtransplantation, reiche ein solches »Körperbild« aufgrund der richtigen Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Messungen aus. Allerdings, so lässt sich hier entgegnen, handelt es sich lediglich um eine vorläufige Richtigkeit, denn das naturwissenschaftliche Menschenbild als Körperbild führt unweigerlich zu einem falsch verstandenen Zusammenhang von Körper und Seele. Wenn der Mensch als Körper-Ding verstanden wird, jedoch psychische Eigenschaften auch nicht bestritten werden können, ergibt sich eine Psychosomatik, die den Menschen als Summe aus Psyche und Körper sieht. Dabei können beide Entitäten unabhängig voneinander untersucht werden: Es entsteht der im Alltagsbewusstsein dominierende cartesianische Dualismus (vgl. MeyerAbich 2010a:29; v. Weizsäcker 1988:12/IX). Aus dem vorläufig richtigen Körperbild resultiert unweigerlich ein falsches, nämlich dualistisches Menschenbild (vgl. v. Weizsäcker 1987a:228/V). Jede anatomische Beschreibung und jede physiologische Analyse enthält daher bereits einen Fehler, da sie Tun und Leid des menschlichen Subjekts künstlich ausklammert (ebd. 1986b:451 ff./VI). Der heutzutage sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft vorherrschende metaphysische Realismus, der besagt, dass es eine objektive Welt gibt, die vom Beobachtungsvorgang unabhängig existiert und die vollständig physikalisch erfasst werden kann (vgl. Fuchs 2008:87; Janich 2008:32), ebnet den Weg zu einem mechanizistischen Bild des gesamten Menschen. Es wird also der Teil, der erfasst werden kann, identifiziert mit allem, was ist. Die Bereiche, die sich außerhalb des naturwissenschaftlich erfassbaren Bereichs befinden, gelten dann als nicht existent bzw. lediglich als Produkt oder Illusion der messbaren Entitäten oder als unwichtig und daher zu vernachlässigen. Es werden also notwendige Rahmenbedingungen (Körper) mit dem gesamten Inhalt (Mensch) gleichgesetzt. Strasser (1964:104 f.) schreibt hierzu in Anlehnung an Husserl (1962:48 ff.), dass die naturwissenschaftliche »Beschreibung […] mit einem Kleid vergleichbar [ist], dessen Stoff aus Begriffen und Denkgebilden gewebt ist […]. Seit der Renaissance und der Aufklärung haben wir uns jedoch daran gewöhnt, dieses Kleid als die Person selbst zu betrachten. Wir nennen das, was eine geniale wissenschaftliche Konstruktion ist, ›wahre Natur‹ und ›objektive Wirklichkeit‹. Dies ist jedoch ein Irrtum.« Die den Menschen in vieler Hinsicht helfende Naturwissenschaft ist daher nicht als Universalwissenschaft zu verstehen, die allein und einzig es vermag, den Menschen zu erklären, zu erfassen und zu bestimmen. 150

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Der Naturwissenschaftler und sein Menschenbild

Stattdessen muss sie als wissenschaftliches Instrument oder wissenschaftliche Methode unter anderen wissenschaftlichen Instrumenten verstanden werden. Dies meinte auch Husserl (1962:52), als er sagte, dass das als Wahrheit gehalten wird, was tatsächlich nur Methode ist, oder v. Weizsäcker (1987a:17/V), der schrieb: »Das Naturwissenschaftliche bedeutet in diesem Sinne nicht mehr Wahrheit, sondern Technik, nicht einen Inhalt, sondern einen Weg (Methodos).«

2.4.2 Das naturalistische Menschenbild – Grenzen und Möglichkeiten Dass das naturalistische Mensch-Welt-Konzept nicht in den Tiefen der theoretischen Wissenschaft verbleibt, sondern im Zuge der selbstreferenziellen Projektion (siehe Kapitel 1.5.3) maßgeblich das Handeln des Arztes bzw. Therapeuten und auch die Erwartung des Patienten bezüglich des Handelns des Mediziners beeinflussen kann, beschreibt v. Weizsäcker (1987b:9 f./VII) wie folgt: »Bilder [also auch Menschenbilder, M. U.] wirken Bildung, Bildung aber wirkt Taten, und diese bekommt beim Arzte auch der Kranke zu fühlen. Ferner aber: Das Bild, welches die Medizin zeigt, wirkt nicht nur auf ihre Schüler, sondern auch auf die Laien. Die Laien aber, die dann auch die Kranken sind, werden ebenfalls gleichsam Schüler. Was sie dann von der Medizin erwarten, wirkt auch in ihnen fort und schafft in ihnen, mehr als man glaubt, an ihrem Kranksein.« Wenn davon ausgegangen wird, dass der Mensch auf seine materiellen Bestandteile reduziert werden kann, so ist aus dieser Sicht auch die Krankheit mit physikalischen Mitteln zu erfassen. Die Vorgehensweise dieser Medizin beschränkt sich darauf, nach Sitz und Ursache der Krankheiten im Organismus zu suchen (v. Weizsäcker 1987b:11/VII). Auch der Patient ist heutzutage häufig der Ansicht, dass jede Krankheit einen reinen Körperdefekt darstellt u. a. aufgrund der in der Vergangenheit erzielten zahlreichen Erfolge einer solchen reduktionistischen Krankheitsauffassung (siehe zu weiteren Gründen für die Tendenz zum Naturalismus auch Kapitel 4). Er erwartet dann Spritzen, Tabletten o. Ä. und lehnt Vorgehensweisen ab, die darauf abzielen, die Bedeutung der Krankheit (z. B. chronische Schmerzen aufgrund von Ängsten) zu verstehen. Sowohl der Arzt als auch der Patient fühlen sich dann bestätigt, wenn ein organischer Befund vorliegt. Allerdings ist dieser lediglich als selbsterfüllende Prophezeiung zu verstehen: Der organiAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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sche Befund ist deshalb nicht verwunderlich, weil der Körper auch als Ausdrucksorgan und als Stellvertretung des Psychischen fungiert (vgl. v. Weizsäcker 1987b:23, 260, 388/VII) und an ihm daher auch messbare Veränderungen festgestellt werden können. Der Stress, die Sorge können sich in einem Magengeschwür manifestieren, d. h., es kommt zu einer Materialisierung des Seelischen 54 (vgl. v. Weizsäcker 1986b:461/VI). Das Geschwür wird dann als Wirkung falscher Ernährung erachtet und medikamentös oder operativ beseitigt. Schädliche Lebensbedingungen wie Ängste und Stress werden hingegen ignoriert. Der organische Befund ist deshalb kein Beweis für eine rein materielle Problematik, weil es mit naturwissenschaftlichen Mitteln grundsätzlich gar nicht möglich ist, seelische Gegebenheiten zu erfassen. Ebenso lassen sich mit einem Metalldetektor zwar Münzen, aber keine Trüffel finden. Dennoch würde der Münzsucher nicht behaupten, dass es generell keine Trüffel unter der Erde gäbe. Die Entscheidung, ob in der Untersuchung des Menschen dieser befragt, betastet, chemisch analysiert etc. wird, führt daher zu entsprechenden Ergebnissen. Mit der Wahl der Methode, die sich aus dem postulierten Weltbild ergibt, erfolgt ein Vorgriff auf das Verständnis vom Wesen des Menschen, also vom Menschenbild (v. Weizsäcker 1988:489/IX). Das naturwissenschaftliche Weltbild wird somit auf den Menschen übertragen (ebd.:552), indem das, was einmal Ergebnis sein wird, vorweggenommen und das Resultat der Forschung zur Grundlage gemacht wird (ebd.:489). Es kann zwar nicht bezweifelt werden, dass z. B. eine Gewalteinwirkung zu Substanzverlust führen kann, die Störungen des biologischen Aktes hervorruft. Allerdings zeigen sich bei zahlreichen insbesondere chronischen Erkrankungen wie Rückenschmerzen, Kopfschmerzen etc. keine eindeutigen Kausalzusammenhänge physikalischer Prozesse (vgl. Meyer-Abich 2010a:172). So fand Rosemeier (2013:149 f.) heraus, dass es keine Korrelation zwischen chronisch-rezidivierenden Rückenschmerzen und körperlicher Belastung am Arbeitsplatz oder im Privatleben gibt. In einem Fragebogen gaben die Probanden stattdessen an, dass sie in ihrem Alltag einer hohen psy-

Dass ein unbewusstes seelisches Wirken zu körperlichen Veränderungen führen kann, ist bereits an automatisierten Bewegungshandlungen zu sehen. Jedoch können z. B. über Hypnose – also durch seelische Beeinflussung – auch vermeintlich autonome körperliche Prozesse wie Absonderungen der Niere manipuliert werden (v. Weizsäcker 1986b:334/VI).

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Der Naturwissenschaftler und sein Menschenbild

chischen Belastung ausgesetzt sind. Eine weitere Untersuchung (sogenannte Whitehall-Untersuchung), die Meyer-Abich (2010a:280 ff.) vorstellt, ergab ebenfalls, dass insbesondere fehlende Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, Anerkennung sowie damit verbundene psychische und soziale Belastungen als Ursachen für gesundheitliche Beeinträchtigungen in Frage kommen. Auch v. Weizsäcker (z. B. 1987a:281 ff./V; 1988:9 ff./IX) stellt zahlreiche Erkrankungen vor, die nicht im Sinne eines eindeutigen Kausalgesetzes innerhalb naturwissenschaftlicher Konzepte zu verstehen sind. So schreibt er etwa, dass mit der Konversionsstörung ein »unerhörter Einbruch« in die Konsequenz naturgesetzlicher Kausalzusammenhänge erfolgt ist, ohne dass es laut v. Weizsäcker (1988:538/IX) den meisten bewusst ist. Jedoch ist die Naturwissenschaft durch ihre Einseitigkeit keineswegs obsolet. Innerhalb der Naturwissenschaft und ihrer selbstgesteckten Grenzen und Ziele ist der physikalisch messbare Aspekt als ein Aspekt des Menschen theorierelativ richtig (vgl. Sack 2005:63). So ist auch v. Weizsäckers Aussage zu verstehen, nach der »die naturwissenschaftlichen Daten alle richtig sein, d. h. in Berührung mit der Realität gewonnen sein können«, aber »das naturwissenschaftliche Bild des Menschen doch falsch ist« (v. Weizsäcker 1987a:228/V), denn die Resultate, die in der Physik erbracht werden, lassen keine hinreichenden Erklärungen für das Leben zu (ebd. 1997:220/IV). Die Naturwissenschaft ist also in der Lage, die materiellen Strukturen des menschlichen Organismus und seiner Tätigkeiten zu erfassen und zu erklären. Da diese materiellen Strukturen notwendige Bedingungen menschlicher Lebensvollzüge darstellen, können deren Veränderungen eine menschliche Leistung erschweren oder sogar unmöglich machen (z. B. Plügge 1967:44; v. Weizsäcker 1997:239/IV). In einem akuten Notfall bei Bewusstlosigkeit sind primär die Vitalfunktionen des menschlichen Körpers zu beachten und weniger subjektive Aspekte. Auch für das therapeutische Vorgehen nach einer Verletzung ist es uneingeschränkt notwendig zu wissen, welche Prozesse z. B. während einer Wundheilung ablaufen. Der naturalistische Aspekt des Menschen, der für solche Fragen betrachtet werden muss, ist für alle Berufe relevant, die mit dem Menschen und damit auch automatisch mit seinem Körper zu tun haben: Chirurgen, Zahnärzte, Physiotherapeuten, Sportlehrer, aber auch Sonderpädagogen, Erzieher usw. Das bedeutet also, dass die Naturwissenschaft nicht nur gewinnbringend, sondern auch unersetzlich notwendig ist. Mechling & Munzert (2003:16) kann also mit v. Weizsäcker Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

(19987a:228/V) entgegnet werden, dass die Naturwissenschaft als Wahrheit ein falsches Menschenbild innehat, denn »die Vorstellung, der Mensch sei ein Aufbau aus chemischen Elementen, sein Leben sei eine Kette chemischer Reaktionen, eine Kombination von Reflexen […] [ist] samt und sonders falsch […]. So wie alles dieses aussieht, so sieht der Mensch, das Leben, die Krankheit nicht aus; sie ist in Wirklichkeit etwas anderes.« Die Einzelheit und das Kausalprinzip sind keine Erkenntnis der Naturwissenschaft, sondern die Forschungsmaxime, die sagt, wie geforscht werden soll, und nicht, wie die Welt beschaffen ist (Mutschler 2011:64; vgl. v. Weizsäcker 1987a:228/V). Die Angst vor einer Prüfung ist nicht lediglich eine Fehlregulation des vegetativen Nervensystems, eine wertfreie und qualitätsfreie Reaktion verschiedener Substanzen und auf die messbaren Parameter des Körpers reduzierbar, sondern eine bestimmte Beziehung zwischen dem sich Ängstigenden und der aktuellen und zukünftigen Situation, die für ihn eine Gefahr des Ausgeliefert-Seins darstellt, die selbst auf vergangene Erfahrungen der Hilfslosigkeit zurückgeführt werden könnten. Dennoch kann die Handlungsmaxime für die naturwissenschaftliche Forschung als Methode von einem Mensch-Welt-Konzept als wissenschaftliches Menschenbild integriert werden, ohne dass dies zu einem falschen Menschenbild führen muss.

2.4.3 Der Naturwissenschaftler als Subjekt seiner Objektwelt Es darf selbstverständlich nicht behauptet werden, dass ein Naturwissenschaftler, der in seiner Forschung ein mechanizistisches Menschenbild heranzieht, per se unmenschlich ist. Dies würde bedeuten, dass sich z. B. Neurochirurgen zu ihren Mitmenschen im Alltag verhielten, als wären diese Maschinen und gingen entsprechend gefühlskalt und respektlos mit ihnen um. Einer solchen Unterstellung ausgesetzt, würde wohl jeder Naturwissenschaftler zu Recht heftig protestieren. Auch v. Weizsäcker schreibt hierzu: »Es ist […] nicht wahr, daß diese Leute nicht phantasierten und spekulierten, nicht zwischen List und Gewalt, zwischen Geduld und Zorn schwankten« (v. Weizsäcker 1987b:140/VII). »Es ist also nicht wahr, daß der Naturforscher ein eiskalter Verstandesmensch ist« (ebd.). Auch naturwissenschaftlich orientierte Ärzte und Therapeuten wollen helfen und sind der festen Überzeugung, zum Besten ihres Patienten zu handeln. 154

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Der Naturwissenschaftler und sein Menschenbild

Zur Auflösung der Frage, wie es möglich ist, dass die Naturwissenschaft ein falsches Menschenbild impliziert und sie dennoch betrieben werden kann, ohne dass es zu einer Entwertung des Menschen kommen muss, war deutlich zwischen Naturwissenschaft als Methode und Naturwissenschaftler als Subjekt zu unterscheiden. Hierfür wiederum war die Einführung des Menschenbilds als situatives Menschenbild notwendig. Das Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Naturwissenschaftler ist mit dem zwischen Haus und Bewohner zu vergleichen. Zunächst wird das Haus vom Subjekt, das sich aufgrund rechtfertigender Gründe und bestimmter Zielvorstellungen für eine bestimmte Form und Struktur des Gebäudes entscheidet, errichtet. Im Laufe der Zeit wird das Gebäude immer wieder verändert, bis es die Merkmale aufweist, die heute festzustellen sind. Derjenige, der die Meinung vertritt, dass die Naturwissenschaft alles auf der Welt Existierende erfassen und erklären könnte, würde sich in der hier vorgestellten Analogie im Haus der Naturwissenschaft befinden und müsste behaupten, dass es Menschen errichteten, die ohne Zielvorstellung, ohne Wertung, ohne rechtfertigende Gründe und damit ohne jeglichen Sinn handelten, wie sie handelten, denn Teleologie, Gründe, Werte, Sinn etc. kann die Naturwissenschaft schließlich nicht erfassen. Allerdings widerspricht sich der Naturwissenschaftler bereits mit seinen Allgemeinheitsansprüchen, denn diese Behauptung unterliegt seiner eigenen Bewertung, und Werte sind selbst wieder nicht auf naturwissenschaftlicher Basis messbar. Auch die Annahme, dass es durchaus Sinnhaftigkeit, Bedeutung, Intentionalität, also einen Geist bzw. ein Bewusstsein gäbe, allerdings nur als Illusion, d. h. als Epiphänomen des physikalisch Messbaren, würde das Paradoxon hervorrufen, dass die Illusion oder das Epiphänomen (Bewusstsein bzw. Geist) die Wahrheit (Gehirn) hervorgebracht haben müssten, denn erst das sinnhafte, wertende und zielgerichtete Bewusstsein vermochte es, die naturwissenschaftlichen Paradigmen aufzustellen, nach denen das Gehirn als Reizverarbeitungsorgan verstanden und untersucht werden kann. Das Subjekt spielt jedoch nicht nur als Errichter und Verteidiger der Naturwissenschaft eine maßgebliche Rolle, sondern auch als Nutzer: Das Haus besitzt grundfeste Mauern und steht unbeweglich da, während der Mensch als Subjekt sich individuell entscheiden muss, ob er in das Haus hineingeht. Hier zeigt sich ein wichtiges Zwischenfazit der bisherigen Überlegungen: Der Naturwissenschaftler ist nicht derjenige, der, da er die Naturwissenschaft beherrscht, die Wahrheit erkennen kann, sondern er ist ein Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

Subjekt, das für sich aufgrund rechtfertigender Gründe entschieden hat, so als Wissenschaftler zu handeln, wie er handelt. Wir können »uns klarmachen, daß auch die [Natur-]Wissenschaft etwas ist, was eine ganz bestimmte menschliche Haltung unter anderen darstellt, daß sie nicht ein göttlicher Strahl von oben ist, der eine Sonderstellung der Verehrung fordern kann« (v. Weizsäcker 1986b:453/VI). Während die Naturwissenschaft die Lebenswelt mit ihren subjektiven Dimensionen ausblendet, ist der Naturwissenschaftler als Subjekt dieser stets verhaftet, denn es ist bereits die werthafte Entscheidung, ausschließlich naturwissenschaftliche Erkenntnisse anzuerkennen (vgl. Strasser 1964:191; vgl. v. Weizsäcker 1987a:185 f./V). Deshalb befindet sich der Naturwissenschaftler stets außerhalb seiner Wissenschaft (siehe Kapitel 2.3.2.3) (Dürr in Dürr et al. 1997:25 f.). Auch der ausschließlich naturwissenschaftlich ausgebildete und interessierte Mediziner muss alltägliche Fragen beantworten, die mithilfe seiner Wissenschaft nicht zu beantworten sind, z. B.: – – –

Was bedeutet Kranksein bzw. Gesundsein? Ist eine Abtreibung moralisch vertretbar? Welches Ziel verfolge ich mit meiner Therapie?

An den oben genannten Fragen zeigt sich, dass die Medizin nicht lediglich angewandte Naturwissenschaft sein kann und darf (Entralgo 1987:27; vgl. Meyer-Abich 2010a:75). Das Problem des naturwissenschaftlichen Menschenbilds ergibt sich in der oben beschriebenen Tatsache, dass es als Wirklichkeit vom interpretierenden Subjekt anerkannt wird. Somit setzt der eigentliche Fehler – wenn er denn begangen wird – nicht in der Hinzunahme naturwissenschaftlicher Ergebnisse ein, sondern in deren Interpretation. Das aus der Naturwissenschaft ausgeschlossene Subjekt offenbart sich auf vierfacher Weise: 1. Das Subjekt als Errichter der objektiven Naturwissenschaft 2. Das Subjekt als Verteidiger der objektiven Naturwissenschaft 3. Das Subjekt als Anwender der objektiven Naturwissenschaft 4. Das Subjekt als Erkenntnisgegenstand der objektiven Naturwissenschaft Durch den Einbezug des Wissenschaftlers als entscheidendes Subjekt wird dieser einerseits geschwächt, denn sein Wissen gilt nicht mehr als sakrosankt und allein fähig, den Menschen zu erfassen. Anderer-

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seits wird er gestärkt, denn er ist nicht mehr ein eingesperrter »Kanarienvogel« in seinem »Käfig« (v. Weizsäcker 1987b:141/VII), sondern ihm wird die Freiheit zuerkannt, sich unabhängig von seinen bevorzugten Wissenschaften frei zu bewegen und selbst zu entscheiden, welcher Umgang mit dem Patienten der Richtige ist. Diese Freiheit impliziert jedoch zugleich den Verlust der schützenden dicken Mauern der Naturwissenschaft und ist deshalb mit einer größeren Verantwortung verbunden (vgl. Habermas 2008:16), denn es lässt sich nun nicht mehr bei Bedarf auf naturwissenschaftliche Paradigmen berufen: Eine Wissenschaft, die eine richtige medizinische Handlung vorgibt, existiert nicht. »Dies liegt im Begriff, daß die ärztliche Handlung Wissenschaft ›anwendet‹, nicht umgekehrt etwa die Wissenschaft ärztliche Handlung erzeugt« (v. Weizsäcker 1998:364/II).

2.5 Zusammenfassung Die Frage nach einem falschen oder richtigen Menschenbild ist nicht ohne Weiteres zu beantworten. Bereits in Kapitel 1 wurden wissenschaftliche Menschenbilder als Mensch-Welt-Konzepte aufgezeigt. In Kapitel 2 zeigte sich das Problem, dass offensichtlich die theoretischen Menschenbilder nicht immer stringent vom selben Menschen in jeder Situation verwendet werden. Um dies zu erklären, wurde die Lebenswelt von Husserl eingeführt, die in unterschiedlich reflexiven Einstellungen erlebt wird. Die drei zu Beginn des zweiten Kapitels vorgestellten Aussagen, die das Menschenbild thematisieren und die für sich als richtig, zueinander jedoch zum Teil als widersprüchlich eingeschätzt wurden, sollen mit den im letzten Kapitel gewonnenen Erkenntnissen widerspruchsfrei interpretiert werden: a)

Die Methode prägt den Forschungsgegenstand, aus dem das Menschenbild hervorgeht. Die wissenschaftliche Methode, die den Menschen erfassen soll, prägt das Ergebnis und das Mensch-Welt-Konzept. Dieses Mensch-WeltKonzept kann in die Lebenswelt durch die Erkenntnisweitergabe der Wissenschaftler einsickern und so das Menschenbild in der alltagsreflexiven, aber auch zum Teil in der präreflexiven Einstellung beeinflussen. Wenn nur Instrumente herangezogen werden, die physikalische Faktoren erfassen, werden bedeutungshafte Aspekte vernachlässigt. In der wissenschaftlich-abstrakten Einstellung wird dann Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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etwa eine beeinträchtigte Person als defektes System identifiziert, das durch entsprechende Maßnahmen wie Medikamentengabe »repariert« werden soll. In präreflexiver Einstellung kann hingegen diese Person als z. B. Kristin oder Tim, also als bedeutungsimmanente Person wahrgenommen werden. Wenn beeinträchtigte Menschen aufgrund zuvor selten stattgefundener Begegnungen als strukturelle Fremdheit erlebt werden, kann es geschehen, dass auch in alltagsreflexiver Einstellung diese Menschen in Anlehnung an den Naturalismus als Systemdefekte betrachtet werden. Die Methode prägt also das Mensch-Welt-Konzept und dies kann das lebensweltliche situative Menschenbild beeinflussen. b)

Das Menschenbild liegt der Methode und dem Forschungsgegenstand als Vorverständnis zugrunde. Die Wissenschaft erwuchs genealogisch aus der Lebenswelt, d. h. aus der alltagsreflexiven Einstellung, nämlich wenn Probleme auftauchten, die nicht ohne Weiteres erklärt werden konnten (siehe Kapitel 2.2). Die im Laufe der Zeit entstandenen unterschiedlichen Wissenschaften flossen nach und nach in die Lebenswelt ein und prägen nun das situative Menschenbild. Während dieses in der präreflexiven Einstellung nur bedingt manipuliert wird, sind die reflexiven Einstellungen maßgeblich von der Wissenschaft beeinflusst. Über Medien etwa können entsprechende Erkenntnisse in der Gesellschaft verbreitet werden. Das situative Menschenbild hängt also von den unterschiedlichen Einstellungen innerhalb der Lebenswelt ab, die von der theoretischen Wissenschaft unterschiedlich stark geprägt werden. Probleme, die in der präreflexiven Einstellung entstehen, werden reflektiert und führen schließlich zu einer bestimmten wissenschaftlichen Methode. Das Menschenbild, das der Methode also zugrunde liegt, ist das, was in der Reflexion zustandekommt, sprich das alltagsreflexive, wissenschaftlich-konkrete oder das wissenschaftlich-abstrakte. Das präreflexive Menschenbild ist per se nicht zu erkennen, da sich der Forscher, bevor geforscht wurde, vergegenwärtigen und reflektieren musste, was erforscht werden soll. Da das situative Menschenbild in den reflexiven Einstellungen vom theoretischen MenschWelt-Konzept geprägt wird und umgekehrt das situative Menschenbild das wissenschaftliche Menschenbild beeinflusst, kommt es zu einer kreisartigen Verbundenheit, bei der zwar gesagt werden kann, wer genealogisch angefangen hat (nämlich die Lebenswelt), jedoch nicht, inwieweit nach der Initiative welche Beeinflussung stärker 158

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und schwächer ausgeprägt war. Allerdings darf hier nicht von einem geschlossenen Kreis ähnlich einem geschlossenen System ausgegangen werden, sondern von einem solchen, der selbst von zahlreichen Einflüssen wie gesellschaftlichem und politischem Denken oder technischen Möglichkeiten geprägt wird. c)

Der Forschungsgegenstand als Objekt des Interesses prägt die Methode (das Menschenbild wird nicht tangiert). Jedem Denken und jedem Forschen liegt ein Vorverständnis des Erkenntnisobjekts zugrunde. So geht der Naturwissenschaftler davon aus, dass der Mensch aus Materie besteht, die physikalisch erforscht werden kann. Ohne ein Menschenbild als Vorverständnis gäbe es auch keine Forschung. Allerdings kann anhand der gewählten Methode nicht automatisch festgestellt werden, welche Attribute dem Menschen zugesprochen werden. In wissenschaftlich-abstrakter Reflexion blendet ein naturalistisch orientierter Wissenschaftler subjektive Aspekte aus, ohne gleichzeitig prä- oder alltagsreflexiv glauben zu müssen, dass der Mensch auf seine Materie reduziert werden kann. Allerdings besitzt die Naturwissenschaft automatisch ein falsches Menschenbild, denn um ihre Ergebnisse als wahr gelten zu lassen, muss sie die Physik als einzige Methode anerkennen und notwendig alles Subjektive negieren. Außerdem vermag sie nur einen Teil des Menschen zu erfassen, weshalb ihr Modell (als wissenschaftliches Menschenbild) wesentlich nicht dem Original entspricht. Der naturalistisch orientierte Forscher muss deshalb Dissonanzen zwischen seinen wissenschaftlichen Aussagen und alltäglich erfahrbaren lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten hinnehmen. Dennoch ist es nicht so, dass die theoretische Wissenschaftswelt »unter sich bleibt«, sondern sie besitzt die Möglichkeit, das lebensweltliche Menschenbild bis zur präreflexiven Einstellung zu verändern. Das lebensweltliche Menschenbild prägt umgekehrt die wissenschaftliche Forschung (vgl. Merker 2011:249 ff.). Zuletzt wurde begründet, weshalb die Ergebnisse der Naturwissenschaft trotzdem richtig und wichtig sind. Hierzu wurde die Einführung des Subjekts in Form des Wissenschaftlers vorgenommen. Er entscheidet als wertende Person, wie er die Daten und Ergebnisse als Grundlage seines praktischen Handelns integriert. Die methodischen Beschränkungen und somit die Einschränkungen der Erfassung der menschlichen Vielfalt werden von Naturwissenschaftlern häufig nicht berücksichtigt oder sie sind ihnen nicht bekannt (Janich 2008:35). Deshalb werden Fehlschlüsse beganAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Wissenschaft, Lebenswelt und das situative Menschenbild

gen (Hartmann 2006:97 ff.), die wissenschafts- und erkenntnistheoretische Missverständnisse hervorbringen und zu weitreichenden Folgen für das Verständnis des Menschen im Allgemeinen und die hieraus abgeleiteten Vorgehensweisen in therapeutischen Maßnahmen im Speziellen führen können. Nachfolgend wird anhand einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie dargestellt, inwieweit das praktische Vorgehen vom herangezogenen theoretischen Mensch-Welt-Konzept beeinflusst wird. Es soll aufgezeigt werden, weshalb die Einführung des Subjekts als Therapeut und als Patient in die Krankheitsbetrachtung notwendig ist.

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3 Die ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie

Wie bereits erwähnt, wurden die in diesem Buch beschriebenen und angewendeten Erfahrungen während der praktischen Arbeit im Institut für Ganzheitliche Bewegungstherapie in Hannover gesammelt. Hier werden Menschen mit weniger schweren Beeinträchtigungen bis hin zu Menschen mit schwersten Mehrfachbehinderungen betreut. Zu den gesundheitlichen Nöten zählen Beeinträchtigungen durch Multiple Sklerose, Morbus Parkinson, Infantiler Cerebralparese, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei Skoliose, bei Fußfehlstellungen, nach Amputationen, nach Schädelhirntrauma oder Schlaganfall, nach Bänderrissen oder Knochenbrüchen, bei Krebserkrankungen, Demenz etc. Es ist das Ziel der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie, mittels der Selbstbewegung den Patienten möglichst umfassend von seiner Not, aufgrund derer er eine Rehabilitationseinrichtung aufgesucht hat, zu befreien. Die Therapie versteht sich nicht selbst als Heilmittel im Sinne einer direkten Manipulation des menschlichen Körpers, sondern ist in ihrem ursprünglichen Wortsinn als Dienst bzw. Dienen, Sorgen, Helfen (vgl. Frick 2009:52; vgl. Gadamer 2010a:141; vgl. v. Weizsäcker 1987a:263/V), also als das Hinführen zum Heilmittel in Form der Selbstbewegung zu verstehen. Sie verlangt daher die Eigenaktivität des Patienten. Nachfolgend werden die in den vorherigen Kapiteln erarbeiteten Erkenntnisse auf die bewegungstherapeutische Arbeit angewendet. Es soll an konkreten Beispielen aufgezeigt werden, inwieweit das herangezogene wissenschaftliche Menschenbild und damit einhergehend das Verständnis von Krankheit und Gesundheit inhaltliche Maßnahmen prägen. Des Weiteren werden Vorschläge zu den Inhalten von bewegungstherapeutischen Maßnahmen gemacht, mit denen die verschiedenen Dimensionen des Menschen berücksichtigt werden. Die Ausführungen beziehen sich grundsätzlich auf jeden Patienten. Dennoch ist die Relevanz für Personen mit schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigung besonders hoch. Dies hat seinen Grund darin, Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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dass sich in diesem Fall das Zur-Welt-Sein in höherem Maße von gesundheitlich Nicht-Beeinträchtigten unterscheidet (z. B. herabgesetzte kognitive Fähigkeiten, langsamere Bewegungen, undeutliches Sprechen). Daher treten hier besonders häufig und besonders ausgeprägt seelische und soziale Konflikte im Alltag auf. Gerade dann ist die Berücksichtigung körperlicher, psychischer und sozialer Aspekte und deren Verhältnis zueinander notwendig. Darüber hinaus verbringen schwer beeinträchtigte Patienten für gewöhnlich mehr Zeit über einen längeren Zeitraum in der Bewegungstherapie als Patienten mit einer funktionell eingegrenzten Beeinträchtigung wie z. B. einer Außenbandruptur im Sprunggelenk.

3.1 Das Kranksein als ein Sich-Verhalten des Kranken Das Kranksein des Menschen wird innerhalb der ganzheitlichen Bewegungstherapie entsprechend der anthropologisch-medizinischen Sicht als eine aktive Begegnung zwischen Subjekt und Welt verstanden. Der Krankseiende hat nicht lediglich eine Krankheit als wertneutrale Sache, sondern er verhält sich zu ihr und erlebt sie etwa als Fremdteil von ihm. In jedem Kranksein kann sich grundsätzlich eine gegenseitige Stellvertretung von Körper und Seele verbergen, z. B. wenn jemand statt einer Depression ein Magengeschwür bekommt. Umgekehrt kann sich das ungelebte Leben oder die ungelebte Tat in einer Depression zeigen. Krankheit als Kranksein kann sich nach dem Gestaltkreis als Stellvertretung des ungelebten Lebens zeigen (v. Weizsäcker 1986b:406 f./VI; 1987b:388/VII). »Seelisches drückt sich in der Körpersprache aus, Körperliches in der seelischen […]. Zum Beispiel aus der Klinik der Migräne […] sind täglich Beobachtungen zu entnehmen, daß statt eines in der Liebe, in der Fortpflanzung, in der Arbeit, im Geiste ungelebten Lebens ein körperliches Symptom auftritt« (v. Weizsäcker 1986b:459 f./VI). Wenn Krankheiten körperliche Darstellungen des seelischen Vorgangs sein und unvollendete Gedanken und Gefühle des Lebens vertreten können, ist es möglich, dass Krankheiten in engster Weise mit der Biographie des Kranken verflochten sind. Es zeigt sich immer wieder, so v. Weizsäcker (1986b:409/VI), dass Krankheiten ausbrechen, wenn sich eine große Schwierigkeit im Leben entwickelte: Wenn wir bei Fällen wie z. B. einer Angina, einer Grippe oder einem Nesselausschlag »›biographisch‹, lebensgeschichtlich zusehen, entdecken wir oft genug – 162

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ich meine: immer –, daß auch hier sich ein Knoten schürzte; ohne es zu bemerken – das ist wichtig –, floh hier ein Mensch aus einer unerträglichen Situation unbewußt in die Krankheit« (ebd.). Die Krankheit stellt dann eine Flucht dar. Meyer-Abich (2010a:181 f.) schreibt hierzu, dass sich die Darstellung der Seele durch den Körper häufig im unbewussten Willen zur Krankheit zeigt. Der Betroffene ist nicht mehr willensschwach oder böse, denn nun ist er krank. Er »hatte den seelischen Konflikt durch eine körperliche Unterwerfung ersetzt, und der Körper leistete ihm den Dienst – weiterzuleben, zu genesen und neu anzufangen« (v. Weizsäcker 1986b:409/VI). Da eine organische Krankheit oft, so v. Weizsäcker (1987b:380/VII), auf dem Gipfel einer dramatischen Zuspitzung auftritt, eine Katastrophe aufhält und dem biographischen Verlauf eine Wende gibt, kann sie als bedeutsames Zeichen für eine Lebenskrise verstanden werden. Von Weizsäcker zeigt also keine feindliche Haltung gegenüber der Krankheit. Er ist stattdessen der Meinung, dass »die Krankheit den Sinn habe, den Betroffenen zum Sinne seines Lebens zu führen« (v. Weizsäcker 1986b:464/VI). Mit ihrer Hilfe bzw. mithilfe ihrer Deutung eröffnet sich eine Chance, etwas von sich zu lernen und zu erkennen sowie sein Leben zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern. Dies wäre in einer rein objektivistischen Menschen- und Krankheitsauffassung nicht möglich (Weizsäcker 1987a:239/V). Von Weizsäcker führt mit dem Subjekt auch das Seelische ein, das einer anderen Kategorie angehört als die physikalische Welt (ebd. 2005:406/X) und das den strikten Naturprozess als pures UrsacheWirkungs-Verhältnis verändern kann. Verbunden mit der Anerkennung des Unbewussten (ebd.:439) ist es nun möglich, auch Krankheiten als sinnhaft, d. h. auf etwas hinstrebend, zielgerichtet (ebd.:330) zu verstehen, ohne zu behaupten, dass diese explizit und bewusst vom Betroffenen herbeigeführt worden wäre. Hieraus ergibt sich eine weittragende Konsequenz, denn wenn 1. ein Wille eine physikalisch messbare Veränderung hervorrufen kann, 2. auch unbewusst Mentales physikalisch messbare Veränderungen hervorrufen kann, 3. diese physikalisch messbaren Veränderungen auch in Form von Krankheiten wie etwa einer Lähmung oder eines Magengeschwürs im Sinne der Konversionsstörung auftreten können (ebd. 1987a:286 f./V), dann gibt es keinen plausiblen Grund, warum nicht jede körperlich-materielle Veränderung des lebendiAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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gen Körpers und somit jede Krankheit eine seelisch-mentale Dimension besitzen kann. Deshalb schreibt v. Weizsäcker (ebd.:314): »Nichts Organisches hat keinen Sinn; nichts Psychisches hat keinen Leib.« Seelische Erschütterungen können zwar keine Viren oder Bakterien produzieren und somit eine Krankheit aus dem Nichts erschaffen. Aber genauso wenig entstammt eine Krankheit aus dem Erreger allein. Krankheiten sind nicht nur von einem Faktor abhängig, d. h., sie stellen keinen einseitigen Prozess dar. Stattdessen sind sie ein Entgegenkommen von Subjekt und Welt als ein beidseitiger Umgang (v. Weizsäcker 1986b:375/VI; 1987a:238/V; 1988:539/IX). In welchem Verhältnis genau Mentales wie freier Wille, Angst oder Hoffnung mit der von Naturgesetzen bestimmten Welt steht, kann bis heute nicht befriedigend beantwortet werden (Mutschler 2011:66). Die Unmöglichkeit, Bedeutungshaftes und Materielles in einen unmittelbaren Bezug zu setzen (siehe Kategorienfehler), liegt in dem von v. Weizsäcker postulierten Grundverhältnis (siehe auch Kapitel 1.3.3). Aufgrund dieses Grundverhältnisses lässt sich auch nicht klar bestimmen, inwieweit und bei welchen Krankheiten die seelische Dimension wirksam ist, weshalb v. Weizsäcker (1987b:260/VII) fragt: »Wie weit kann man, darf man gehen? Sind auch die Arteriosklerose, der Diabetes, der graue Star und der Krebs psychophysische Krankheiten? Wo ist die Grenze, wo der Halt?« Ein grundsätzlicher Ausschluss dieser Annahme und eine grundsätzlich ausschließliche naturkausale Erklärung, wie sie im Bereich der Schulmedizin zumeist praktiziert werden, sind jedoch nicht mehr haltbar. Es stellt sich nun die Frage, ab wann von einer Krankheit überhaupt gesprochen werden kann. Auch hier gibt es keine eindeutigen Grenzen. So sind etwa von Expertenorganisationen definierte Normalwerte für Körperfunktionen keine Fakten, die der Natur entstammen, sondern z. B. über statistische Mittelwerte errechnet worden. Weiterhin empfinden unterschiedliche Kulturen und Personen verschiedene Bedingungen als krankhaft bzw. als normal. Aufgeweckte Kinder gelten der einen Person als krankhaft, eine andere hingegen erkennt hierin einen zu unterstützenden Bewegungsdrang. Es ist auch interindividuell unterschiedlich, ab welchem Grad etwas als Krankheit erkannt wird. Manche Menschen empfinden die Unzufriedenheit oder den leichten Bauch- oder Rückenschmerz bereits als Krankheit, andere hingegen sehen hierin eine vorübergehende Missempfindung. Der Mensch zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass er nie 164

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einen gleichen Wohlfühlzustand hat, sondern dass jeder immer auch von Unzufriedenheit, Müdigkeit, Unbehagen und Unwohlsein etc. durchdrungen wird. »Ganz gesund oder ganz krank ist also niemand« (Weizsäcker 1987:233/V). Der Begriff Krankheit ist überhaupt nicht definierbar, so v. Weizsäcker (2005:14/X). Der Grund hierfür liegt darin, dass es sich bei »Gesundheit« und »Krankheit« genau wie z. B. bei »Glück« um implizite Definitionen handelt. Sie setzen ein Vorverständnis bereits voraus und können nur durch Erläuterungen näher bestimmt werden (vgl. Ferber 1998:109). Nach v. Weizsäcker (1987a: 13/V) ist es das Wesen jeder Krankheit, dass der Betroffene eine Not hat und um Hilfe bittet. 55 Hierunter könnte somit auch jede Art von Behinderung fallen. Allerdings werden im alltäglichen Sprachgebrauch z. B. Querschnittslähmung, spastische Lähmung oder geistige Retardierung als Beeinträchtigung angesehen; grippalen Infekten, Krebs oder Magengeschwüren hingegen wird der Begriff Krankheit zugesprochen. 56 Es ist jedoch auch hier keine klare Grenze zu ziehen: Sowohl Krankheiten als auch Beeinträchtigungen können chronisch sein. Beide können das soziale Mitsein erschweren oder unmöglich machen. Es ist auch nicht so, dass eine Behinderung durch eine schädliche Einwirkung von außen auf den Organismus hervorgerufen wird, eine Krankheit hingegen aus dem Organismus heraus entsteht. Erstens können Lähmungen z. B. durch Multiple Sklerose oder durch einen Schlaganfall infolge eines Blutgerinnsels hervorgerufen werden. Der Auslöser befand sich also nicht außerhalb des Körpers. Zweitens kann generell nicht zwischen extern und intern des Körpers unterschieden werden. Es stellt sich dann nämlich die Frage, ob z. B. Bakterien zum Körper gehören oder nicht. Dann müsste festgestellt werden, was mit »gehören« gemeint ist. Sollte es bedeuten, dass etwas zum Organismus gehört, wenn dieser bei Abwesenheit des Zugehörigen nicht überlebensfähig ist, so sind auch etwa Darmbakterien Bestandteil des Körpers. Auch die Berufung auf die genaue Bedeutung von »Behinderung«, die auf etwas verweist, das den Betroffenen hindert, am Leben so teilzunehmen, wie es im gesunden Zustand möglich wäre, gelingt nicht. Denn eine Person, die Auch diese Bestimmung hat ihre Schwächen, denn sie umfasst nicht solche psychischen Krankheiten, die sich dadurch auszeichnen, dass es gerade die Krankheitseinsicht ist, die erkrankt ist (Gadamer 2010a:207). 56 Chronische unspezifische Rückenschmerzen werden weder der Kategorie »Krankheit« noch der Kategorie »Beeinträchtigung« zugeordnet, stellen aber dennoch eine gesundheitliche Not dar. 55

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aufgrund einer schweren Lungenentzündung im Bett liegen muss, würden die Wenigsten als behindert bezeichnen. Nachfolgend wird in Anlehnung an v. Weizsäcker (s. o.) von Krankheiten gesprochen, wenn es sich um eine gesundheitliche Not handelt, die dazu führt, dass der Betroffene einen Experten als Arzt bzw. Therapeut aufsucht. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie mit einer mehr oder weniger gestörten Ordnung der Gesellschaft einhergeht. Gesellschaftsbereiche, die durch Krankheit in Unordnung gebracht werden können, sind z. B. Rechtsfähigkeit, Familienfähigkeit, Erwerbsfähigkeit oder Freizeitfähigkeit (vgl. v. Weizsäcker 1986b: 448/VI). Um Missverständnisse zu vermeiden, wird, wenn konkrete Fälle behandelt werden, von Krankheiten und Behinderungen gesprochen, wie es entsprechend im »freie[n], […] vom Takt geleitete[n] Sprachgebrauch« (ebd. 2005:14/X) getan wird. Die Zuschreibung der gesundheitlichen Beeinträchtigung überspannt beides.

3.2 Einfluss des wissenschaftlichen Menschenbilds auf den Umgang zwischen Therapeut und Patient Die Begegnungen zwischen Therapeut und Patient während der Bewegungstherapie in wissenschaftlich-konkreter Einstellung können sich, wie im letzten Kapitel dargestellt wurde, in Abhängigkeit des gewählten Mensch-Welt-Konzepts fundamental unterscheiden. In Kapitel 2.3.3 wurde das Fallbeispiel behandelt, in dem ein Schlaganfallpatient wiederholt nach seinen Wertsachen fragt und sich deshalb nicht auf seine Aufgaben konzentrieren kann. Wenn der Therapeut in wissenschaftlich-konkreter Einstellung ein naturalistisches Menschenbild heranzieht, wird der Patient als Materiekomplex aufgefasst, der aufgrund einer Hirnstörung ein fehlerhaftes Verhalten an den Tag legt. Es könnte hieraus z. B. die Auffassung entstehen, dass sich der Patient nicht ändern wird, da eine pointierte Beeinflussung des Gehirns nicht möglich ist. Eine solche Einschätzung würde dazu führen, dass das Verhalten ignoriert oder der Patient gemaßregelt wird, da er stört. Ist ein subjektintegrierendes Menschenbild vorhanden, so ist eine andere Interpretation des Patientenverhaltens denkbar: Für den Beeinträchtigten hat sich eine dramatische Lebensveränderung aufgrund seines Schlaganfalls ergeben. Zuvor hatte er seinen gesamten Alltag unter Kontrolle, nun ist er zu großen Teilen von außen bestimmt. Er lebt in einer betreuten Wohngruppe für 166

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Menschen mit Behinderungen, in der der Tagesablauf fremdgeregelt ist. Andere Personen wie etwa Kostenträger und Ärzte, die seine Therapien ermöglichen oder verweigern, entscheiden für ihn. Die zwanghafte Kontrolle seiner Wertsachen, so eine mögliche Deutung, soll die latente Angst vor seiner Verletzlichkeit, Anfälligkeit und Gefährdung seiner Existenz, letztlich die Entborgenheit (vgl. Condrau 1962:98 f.) und das verlorene Vertrauen in die Welt kompensieren. Die häufige Nachfrage nach den Wertsachen könnte jedoch schon allein deshalb notwendig sein, weil der Patient aufgrund seiner Tetraparese nicht mehr in der Lage ist, selbst zum üblichen Aufbewahrungsort zu gehen, um zu überprüfen, ob sie sich dort befinden. Es könnte also eine Verflechtung einer psychisch sinnvoll motivierten Zwangsneurose mit einer körperlich kausal-mechanischen Bewegungs- und damit Überblickseinschränkung stattfinden (vgl. Fuchs 2006b:348). Naturwissenschaftlich herausgearbeitete maschinenanaloge Konzepte über den Menschen werden heutzutage häufig in populärwissenschaftlichen Beiträgen z. B. in den Medien verbreitet. Diese verfestigen sich weiter im gesellschaftlichen Bewusstsein als sedimentiertes Wissen (Fuchs 2006b:343; vgl. Janich 2008:30). Wenn im expliziten Denken über das »Fremdartige«, z. B. über Behinderte im Alltag (der nachdenkende Mensch springt hier von der präreflexiven zur reflexiven Einstellung), ein solches maschinenanaloges Bild des Menschen dominiert, ist die teilnehmende soziale Begegnung mit dem Anderen durch die naturwissenschaftliche Distanznahme erschwert. Aufgrund der Reduzierung des Menschen auf einen Materiekomplex beginnt »die Grenze zwischen Personen und Sachen […] sich aufzulösen« (Fuchs 2006b:335). Wenn der Mensch jedoch als körperliches und als leibliches Wesen mit seinem Bewusstsein, seinen Empfindungen, Wünschen etc. und seiner sozialen Existenz erkannt wird, sind Sichtweisen abzulehnen, die dem Beeinträchtigten seinen Wert als Person absprechen bzw. ihn ignorieren (Thomas 1996:179). Zieht der Therapeut also ein subjektintegrierendes Menschenbild heran, ist es ihm möglich, sowohl die organische Dimension zu bewerten als auch seelische Aspekte zu erkennen. Er bleibt nicht in distanzierter Position, sondern begibt sich aus der Beobachterperspektive in den pathisch teilnehmenden Umgang und nutzt als Heilmethode nicht nur die Somatotherapie, sondern auch die Heilkraft des Wortes und der Bedeutung (vgl. v. Weizsäcker 1987a:188 ff./V). Dieser Umgang, verstanden als therapeutischer Gestaltkreis, umschließt den Therapeuten und den Patienten: Aus beiden wird »ein zweisamer Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Mensch, ein bipersoneller Mensch« (ebd.:189). Hierin ist der Therapeut nicht eingeengt im objektivierenden System der theoretischen Wissenschaftswelt und deren Krankheitsverständnis, sondern es kommt zu einer lebensweltlichen und gegenseitig prägenden Begegnung zwischen dem Patienten und dem Therapeuten. Weiterhin ist der Therapeut bestrebt, den Menschen und die Erscheinungen der Welt auch ohne theoretische Konstrukte zu erkennen, d. h. Dinge auch einfach geschehen zu lassen, ohne dass der Patient oder sein Verhalten direkt in ein Modell oder System hineingepresst wird (vgl. Thomas 1996:175). Hierfür fühlt er sich in den Patienten als konkrete Person ein und versucht, ihn in seinem Selbstverständnis zu verstehen. Dies erfordert eine Abkehr von objektivierenden Methoden und zur Anwendung der Reflexion auf das Präreflexive, das einen lebensweltfundierten intuitiven, d. h. empathischen intersubjektiven Umgang mit dem Patienten ermöglicht und durch eine maximale Offenheit und eine Identifizierungsbereitschaft des Therapeuten gekennzeichnet ist (vgl. Töpfer 2007a:217). Das Sich-Hineinversetzen des Therapeuten innerhalb der wissenschaftlich-reflexiven Einstellung in das präreflexive Erleben des Anderen scheint unmöglich, zumindest jedoch paradox zu sein: »Versuche reflektierend in die präreflexive Einstellung des Anderen zu gelangen.« Das Dilemma kann aufgelöst werden, wenn sich vergegenwärtigt wird, dass dieses reflektierte Erleben des Patienten durch den Therapeuten nicht identisch ist mit dem ursprünglich präreflexiven Erleben des Patienten. Diese Unmöglichkeit besteht darin, dass jeder Mensch stets seine eigene, ausschließlich ihm zukommende bestimmte Perspektive innehat und jedes Bewusstsein daher nie von einer außenstehenden Perspektive, in diesem Fall der des Therapeuten, wahrgenommen werden kann. Es handelt sich also um eine Reflexion auf das Unreflektierte des Anderen (vgl. Merleau-Ponty 1974:6, 43). Dieser Vorgang, der nur aktiv erfolgen kann, bedeutet einen »seelischen Aufwand«, denn der Reflektierende tendiert immer wieder dazu, die Welt aus seiner eigenen Sicht zu sehen und sein Denken sowie sein Wahrnehmen, d. h. sein Zur-Welt-Sein, in das des zu Reflektierenden hineinzuprojizieren (mein Ich im Du). Es genügt daher nicht, oberflächlich zu behaupten, dass der Patient in einer anderen Lage sei als man selbst. Auch das temporäre Hineinsetzen in einen Rollstuhl, um nachvollziehen zu können, wie es ist, die Welt aus sitzender Position zu erfahren, muss noch einmal reflektiert werden: Es muss sich vor Augen geführt werden, dass der Therapeut diese Rollstuhlverbundenheit niemals wirk168

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lich identisch wie ein Gelähmter erleben kann. Ihm ist nämlich stets evident, dass er jederzeit aufstehen könnte und dass er nur für kurze Zeit im Rollstuhl sitzt. 57 Für den Gelähmten hingegen ist der Rollstuhl eine Art mobiles Zu-Hause oder sogar etwas, das er sich »anzieht«. Wenn es möglich ist, sich einen Tennisschläger oder eine Prothese einzuverleiben, so ist davon auszugehen, dass der Gelähmte, der ständig in seinem Rollstuhl sitzt, sich diesen in besonderem Maße einverleibt und er zu einer Verlängerung seines Leibes wird. Eine solche intensive Verschmelzung kann der Therapeut, der nur kurzzeitig im Rollstuhl sitzt, nicht nachempfinden. Die selbstreferenzielle Projektion bezieht sich nicht nur auf das Primat der Wahrnehmung und das epistemische Niveau, sie geschieht ebenso in Bezug auf die Raum-Zeit-Kategorien. Die Entfernungen zwischen zwei Raumorten und die zeitliche Dauer einer Streckenbewältigung, die ein Therapeut in präreflexiver Einstellung erlebt, nimmt er als intersubjektiv identisch erlebbare Größen wahr. Dass physikalische und phänomenale Kategorien jedoch unterschiedlichen Ordnungen angehören, wurde bereits in Kapitel 1.1.4 dargelegt. Da der Therapeut der Meinung ist, dass sein Erleben ein objektives Erleben ist, verlangt er vom Patienten Leistungen, die er selbst erbringen könnte, eventuell unter dem Zugeständnis, dass der Beeinträchtigte mehr Zeit zur Verfügung haben müsse. Zur Verdeutlichung soll folgendes Beispiel dienen: Ein Patient lebt im selben Gebäude, in dem seine Therapie stattfindet. Um zur Therapiestätte zu gelangen, muss er einen Gang von ca. 50 m Länge überwinden. Für den Therapeuten ist die Bewältigung der Wegstrecke in etwas weniger als einer Minute möglich, während der spastisch gelähmte Patient in seinem Rollstuhl sitzend ca. 25 Minuten benötigt. Es soll nachfolgend davon ausgegangen werden, dass sowohl der ausschließlich naturwissenschaftlich orientierte als auch der subjektorientierte Therapeut (beide befinden sich in der wissenschaftlich-konkreten Einstellung) die Meinung vertreten, dass der Patient die Fortbewegung im Rollstuhl üben müsse, um eine selbstständige Mobilität zu erreichen. Der naturwissenschaftliche Therapeut würde daher den Patienten auffordern, die Strecke zur Therapiestätte allein zu bewältigen. Zwar brauche er hierfür viel Zeit, aber nur so kann er Selbstständigkeit erDiese Tatsache entspricht der je nach dem epistemischen Niveau individuellen Intentionalität auf die Welt/Situation, die in Kapitel 1.2.5 am Beispiel eines Erdbebens aufgezeigt wurde.

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lernen. Der subjektintegrierende Therapeut hingegen würde die Tatsache des unterschiedlichen Zur-Welt-Seins zwischen sich und dem Patienten (vgl. v. Weizsäcker 1990:615/III) sowie die besondere Beziehung zwischen Bewegung, Raum und Zeit berücksichtigen: Eine Selbstbewegung ist nie wie eine rein mechanische Bewegung ein neutraler Fakt, sondern stets ein Weg von einem Ausgang zu einem Ziel. Erfolgt die Fortbewegung schneller, so geschieht sie auch räumlich anders: Das Ziel wurde am Ende nicht nur schneller erreicht, sondern der Weg dorthin, der Durchfahrraum, ist auch als kürzer wahrgenommen worden. Phänomenal hat sich also die Entfernung zwischen Anfang und Ziel verkürzt, gleichwohl in physikalischer Sicht kein Unterschied festzustellen ist. Umgekehrt vergrößert sich die erlebte Distanz sowohl zeitlich als auch räumlich zwischen Anfang und Ende der zu bewältigenden Strecke, wenn die Bewegung aufgrund der Beeinträchtigung langsamer ausgeführt werden muss. Die Konsequenzen der unterschiedlichen Distanzwahrnehmung sind jedoch erst in Verbindung mit dem unterschiedlichen Erleben und der veränderten Intentionalität auf diesen phänomenalen Raum angemessen zu verstehen. Während der Gang für den Therapeuten ein kurzer Transferweg ist, der z. B. die Möglichkeit bietet, die gleich stattfindende Therapieeinheit noch einmal gedanklich durchzugehen, ist dieser Gang für den Patienten ein Raum eines sich zäh hinziehenden Bewusstseinslochs, in dem, abgeschottet von anderen Menschen, ein Hinabsinken in tiefe Gedanken, die eine wache und aktive Wahrnehmung und so einen aktiven Umgang mit sich und der Welt unmöglich machen, nicht zu verhindern ist. Für den Patienten ist daher die Aufgabe, ständig den langen Gang entlangfahren zu müssen, ein steter Kampf zwischen der im wahrsten Sinne des Wortes langen Weile und dem Bestreben, die Aufgabe des Therapeuten zu befolgen. Der subjektintegrierende Therapeut würde dem Patienten, wenn die Möglichkeit vorhanden ist, helfen, die Transferstrecke zu bewältigen, indem er ihn begleitet und sich mit ihm unterhält oder den Patienten zur Therapiestätte schiebt und ihn dort in Gesellschaft mit anderen Patienten und anderen Therapeuten Bewegungsaufgaben stellt, die zur Verbesserung der Fortbewegung und allgemein der Welthabe und Selbstverwirklichung geeignet sind. Es reicht für den Therapeuten somit nicht aus zu wissen, welche physiologischen Störungen für ein gesundheitliches Problem verantwortlich sind. Er muss darüber hinaus das phänomenologische Wesen der Beeinträchtigung für den Patienten kennen. Das eigentliche Problem ist dann keine Spastik, die 170

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durch neurophysiologische Prozesse zu einem erhöhten Muskeltonus führt, sondern sie ist z. B. ein Steif-Sein, ein Gegen-Gummizug-arbeiten-Müssen, ein Nicht-mehr-gehen-Können, ein Zu-Hause-bleiben-Müssen, ein Alles-planen-Müssen, ein Anderer-Leute-Entscheidungen-ausgeliefert-Sein, ein ständiges Angewiesen-auf-die-Gunstanderer-Sein, ein Nie-wieder-wirklich-allein-sein-Können. Aus der Kenntnis der physiologischen Aspekte der Krankheit und der phänomenologischen und seelischen Aspekte des Krankseins wird der konkrete Inhalt in der Therapie gebildet (siehe Kapitel 3.5.). Insbesondere bei Menschen mit einem schweren Schädelhirntrauma oder Apoplex ist der Fokus in der Medizin besonders häufig auf die materielle Schädigung im Gehirn gerichtet. Jede Verhaltensauffälligkeit wird dann ausschließlich als Teil des neurophysiologischen »Krankheitsbilds« gedeutet. Wenn allerdings zahlreiche Menschen ohne Hirnschädigung das Erlebnis ihres eigenen wirtschaftlichen und sozialen Abstiegs mit Krankheit beantworten (v. Weizsäcker 1988:562/IX), so ist nicht zu begründen, warum z. B. neurotische Verhaltensweisen oder Konversionsstörungen nach einem Schädelhirntrauma und den damit einhergehenden dramatischen Veränderungen der Lebensbedingungen ihre Ursache ausschließlich in veränderten Gehirnprozessen haben und nicht auch als Antwort auf diese neue – aus Sicht des Betroffenen ungleich schlechtere – Lebenssituation zu verstehen ist. Die Angst vor einer weiteren zukünftigen Verschlechterung der Lebensverhältnisse kann z. B. zu einem fixierten Verhalten führen, das zumindest den Status quo (Kontrolle über Wertsachen) halten soll. Es wirkt also nicht nur das, was ist – das kann die Naturwissenschaft erfassen –, sondern ebenso das, was war und das, was sein wird bzw. sein werden könnte. Und wenn es richtig ist, dass organische Krankheit gleichbedeutend sein kann mit der Verdrängung einer Depression (v. Weizsäcker 1986b:363/VI), so lassen sich Missempfindungen, Lähmungserscheinungen oder Schwellungen vom Arm etc., die plötzlich und lange nach dem eigentlichen Trauma erscheinen und bei denen keine somatische Ursache gefunden werden kann, im Sinne der Stellvertretung als Fortgang der verminderten Lebensqualität werten. Eine ätiologisch somatische Beeinträchtigung schließt nicht aus, dass hieraus ein seelisches Problem entsteht, das sich als Ausdruck organisch zeigt (z. B. kann Kummer zu chronischen starken Schmerzen oder einer Blasenschwäche führen). Es kann bei einer Krankheit somit grundsätzlich nicht von einem »Entweder-Oder« – entweder es ist Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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eine seelische oder eine körperliche Krankheit – ausgegangen werden (Danzer 2006:286 f.; v. Weizsäcker 1986b:459/VI). Warum also Krankheiten eines Menschen nach einem Schädelhirntrauma oder bei einer Parkinsonerkrankung etc. ausschließlich als Fehlregulationen des Gehirns oder des vegetativen Nervensystems gedeutet werden und der Einfluss psychischer Belange komplett negiert oder zumindest als zweitrangig erachtet wird, ist nicht zu begründen. Es existieren ständige Verschlingungen zwischen Leiblichem und Seelischem (v. Weizsäcker 1986b:379 ff./VI; 1986c:178, 185/VIII). Auch die Betrachtung sozialer Aspekte spielt beim Verständnis einer vermeintlich rein körperlichen Behinderung eine wichtige Rolle, denn durch eine Beeinträchtigung kann es zu Situationen und Konflikten kommen, die auch ohne organische Störung häufig zu Neurosen führen, wie z. B. Sexual- oder Ehekonflikte oder Konflikte mit Eltern (v. Weizsäcker 1986b:98/VI). Wenn, wie Maslow postuliert, jeder Mensch nach Zuneigung und Wertschätzung strebt (siehe Kapitel 1.3.3) und dieses fundamentale Bedürfnis nicht erfüllt wird, weil die Beeinträchtigung den Betroffenen aus Sicht seines sozialen Umfelds zu einem »nervenden Pflegefall« umwandelt, der nur Arbeit bereitet, mit dem man aber keine Freude mehr haben kann, dann ist eine schwere seelische Erschütterung kaum zu verhindern. Diese Vermutung bestätigt v. Weizsäcker (1990:617/III), indem er schreibt, dass es insbesondere bei Hirnverletzten häufig zu einer Ausdrucksidentität bzw. Ausdrucksgemeinschaft von psychogenen und somatogenen Symptomen kommt. Eine seelisch bedingte Neurose kann sich also über eine bereits vorhandene organische Schädigung lagern und sich ganz wie ein organisches Problem verhalten. So sind die Symptome eines Menschen nach einem Schädelhirntrauma häufig dieselben wie die einer reinen Neurose: Schwindel, Depression, Kopfschmerz, Kopf- und Augendruck, Ermüdbarkeit, Vergesslichkeit etc. (ebd. 1986b:99/VI). »Parkinsonismus und hysterische Zitterneurose, Thalamusherde und hysterische Halbseitensyndrome können zum Verwechseln ähnlich aussehen« (ebd. 1987a:271/V). Ein Problem eines isolierten Teils des Menschen gibt es demnach nicht, sondern nur ein Problem des ganzen Menschen. Die naturalistische Einschätzung, dass sich Verhaltensauffälligkeiten auf suboptimale Hirnprozesse zurückführen lassen, führt dazu, dass der Therapeut das Verhalten des Betroffenen nicht in Relation zur Situation zu verstehen versucht, sondern es als unumgängliche Folge des materiellen Traumas erklärt. Hierdurch wird dem Patienten allerdings die Mög172

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Einfluss des wissenschaftlichen Menschenbilds

lichkeit genommen, dass z. B. sein großer Unmut, seine auffallende Aggressivität etc. als Zeichen für einen behebbaren Konflikt, wie z. B. eine Unterforderung durch übertriebene Rücksichtnahme am Arbeitsplatz, erkannt wird und durch die Beachtung ihrer Bedeutung die Situation und hierdurch das Wohlbefinden des Patienten verbessert werden können. Zwar wird dem Patienten aus naturalistischer Sicht Verständnis entgegengebracht, allerdings ist dies ein falsches Verständnis, da sein leiblicher Ausdruck seines tatsächlich empfundenen und für ihn berechtigten Unbehagens im schlimmsten Fall nicht ernst genommen, sondern als zwar bedauernswerte, aber lediglich medikamentös beeinflussbare Fehlregulation bestimmt wird. Ein gestaltkreisartiger Umgang, in dem der Patient zu Wort kommt, findet dann nicht statt. Ein wichtiges Fundament, auf dem jegliche Therapie ruht, ist also nicht das Erziehen, Richten und Einstellen, sondern das Verstehen als Begreifen des Patienten im pathischen Umgang (ebd. 1987a:232/ V). Gleichwohl das menschliche Bewusstsein und Verhalten erst durch das Gehirn ermöglicht wird und deshalb auch Veränderungen desselben zu einer Veränderung des Charakters führen können, ist auch immer die Subjektivität und die Relationalität jedes Einzelnen zu berücksichtigen, denn es kann nie gesagt werden, ob erst das Körperliche (Gehirn) oder erst das Seelische (z. B. psychosoziale Konflikte) zu einer Verhaltensauffälligkeit oder Krankheit geführt hat. Der Gestaltkreis muss deshalb immer wieder durchlaufen werden, wobei innerhalb dieses Durchlaufs aufgrund des Drehtürprinzips stets nur entweder das Seelische oder das Körperliche betrachtet werden kann (vgl. ebd. 1986b:378/VI). »Nur im Herüber und Hinüber dieser Drehtür kann ich Lebendes erfahren« (ebd.:384). Von Weizsäcker (ebd.:455/VI) stellt die Frage, was daran auszusetzen sei, wenn der Naturwissenschaftler ausschließlich naturwissenschaftliche Erkenntnisse als wahr anerkennt, er aber dennoch in seiner praktischen Handlung innerhalb der Therapie ein freundlicher, gütiger, sich aufopfernder Mensch ist (dass dies möglich ist, wurde anhand des situativen Menschenbilds aufgezeigt), um selbst darauf knapp zu antworten: »Ganz genau das, daß er einen falschen Begriff von der Wirklichkeit hat« (ebd.:455/VI). Den richtigen Begriff von Wirklichkeit zu besitzen, ist jedoch die Voraussetzung, »um wirklich zu wirken« (ebd. 1988:583/IX). Ein Fehler findet also erst im Moment der falschen Interpretation in Gestalt der Ontologisierung statt. Insbesondere die der Naturwissenschaft verhafteten Vertreter begehen Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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laut Hartmann (2006:107 ff.) einen solchen Fehlschluss. Da also Wissenschaften und deren Welt- und den hieraus abgeleitete Menschenbilder Prämissen und Orientierung des auch medizinischen Berufs sind (vgl. Merker 2011:249; vgl. v. Weizsäcker 1987b:164/VII), beeinflussen sie maßgeblich das Vorgehen in wissenschaftlich-konkreter Einstellung des Arztes oder Therapeuten mit dem gesundheitlich beeinträchtigten Menschen (vgl. v. Weizsäcker 1986b:399/VI).

3.3 Wirklichkeit, Sympathie und Antipathie in der ganzheitlichen Bewegungstherapie Welche maßgebliche Rolle Sympathie und Antipathie zwischen Therapeut und Patient innerhalb der Therapie spielen und wie beides vom situativen Menschenbild in der wissenschaftlich-konkreten Einstellung beeinflusst wird, soll folgendes Beispiel verdeutlichen: Ein Patient erlitt im Rahmen eines Autounfalls ein leichtes Schädelhirntrauma. Obwohl aus ärztlicher Sicht keine Leistungsminderung zu erwarten war, zeigt sich bei dem Patienten ein ungewöhnlich schneller Ermüdungszustand und eine ausgeprägte Gleichgewichtsunsicherheit. Psychologische Untersuchungen haben ergeben, dass es sich hierbei um eine Konversionsstörung handeln könnte. Der Therapeut, den der Patient aufsucht, ist es entsprechend seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung gewohnt, streng medizinisch-naturalistisch zu denken und zu handeln. Dieser Therapeut weiß um die nur geringgradige Läsion durch das Schädelhirntrauma und vernachlässigt den ihm vorliegenden psychologischen Befund, da er die Bedeutung des Seelischen in der Reflexion unterschätzt bzw. ausblendet. Deshalb fordert er den Patienten genauso wie einen Patienten ohne eine solche Problematik. Der Patient kann jedoch den Ansprüchen des Therapeuten nicht genügen und fühlt sich überfordert, weshalb er aufgrund der sich hieraus ergebenden Frustration immer wieder den vereinbarten Therapiestunden fernbleibt. Der naturalistisch geprägte Therapeut glaubt nun, dass der Patient sich nicht richtig anstrengen will und maßregelt ihn. Die versäumten Einheiten versucht er durch eine noch strengere Betreuung wieder wettzumachen. Der Therapeut interpretiert die Situation so, dass der Patient ihn und seine Bemühungen und Ratschläge als Fachmann nicht respektiert und ihm stattdessen eine nicht vorhandene Schwäche vortäuscht. Der Therapeut ist sich also sicher, dass der Patient die gestellten Anforderungen erfüllen könnte, 174

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denn das bestätigen aus seiner Sicht die objektiven Befunde. Er geht daher davon aus, dass der Patient bewusst nicht will; er also lügt, wenn er sagt, er könne die gestellte Aufgabe nicht schaffen. Er hat somit Schuld an seiner Situation. Die ungerechtfertigte Schuldzuschreibung ist eine wesentliche Gefahr in der Begegnung zwischen Patient und Therapeut, denn jemand, der Schuld an etwas hat, verhält sich aus Sicht des Anschuldigenden moralisch verwerflich. Er gilt entweder als schwach oder als jemand, der nicht die Wahrheit sagt. Oder das ablehnende Verhalten wird als Autoritätsuntergrabung interpretiert. In allen Fällen sinkt die Wertschätzung des Therapeuten gegenüber dem Patienten. Für den Therapeuten ist der Patient nun nicht mehr jemand, der eine Not hat und Hilfe benötigt, sondern er ist, so v. Weizsäcker (1987a:307/V), »eine unangenehme Person, er [ist] halsstarrig, faul, ungehorsam, verlogen oder taug[t] nicht viel.« Der Patient auf der anderen Seite fühlt sich ebenfalls nicht respektiert, weil er (zu Recht) denkt, der Therapeut glaube ihm nicht, dass er wirklich nicht mehr kann. Von Weizsäcker würde die Situation so einschätzen, dass der Patient zwar könnte, aber unbewusst nicht können will. Der Patient erkennt jedoch nur sein eigenes Wollen und das körperliche Nicht-Können (vgl. v. Weizsäcker 1988:547, 554/IX; 1997:315 f./IV). Es zeigt sich hier wieder, dass die therapeutische Arbeit nicht nur angewandte Naturwissenschaft ist, sondern immer zu großen Teilen eine Beziehungsarbeit darstellt, in der es um die Begegnung und den Umgang von Menschen geht. Wenn nun abermals mit Maslow davon ausgegangen wird, dass jeder Mensch nach Anerkennung strebt, so werden beide Seiten enttäuscht und fühlen sich durch den anderen nicht respektiert. Es kommt zur Auflösung der Zusammenarbeit, wodurch die Gefahr besteht, dass sich der Patient weiter in eine Neurose hineinsteigert. Wäre der Therapeut nicht nur naturwissenschaftlich geschult, sondern könnte das Verhalten des Patienten und seine eigene Frustration richtig deuten, würde er therapeutisch anders vorgehen: Er würde eine Belastungserhöhung nur einschleichend und vorsichtig vornehmen, um so das Vertrauen des Patienten zu gewinnen und das Bedrohungs- und Überforderungspotenzial zu reduzieren (v. Weizsäcker 1988:212 ff./ IX). In Verbindung mit einer gegebenenfalls zusätzlich von extern hinzuzuziehenden psychologischen Betreuung ist schließlich eine berufliche Wiedereingliederung anzustreben. Hierfür ist es allerdings auf Seiten des Therapeuten unbedingt notwendig zu wissen, dass die Konversionsstörung keine absichtliche oder boshafte Täuschung ist (ebd. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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1986b:468/VI). Erst durch die Verbindung physikalischer und seelischer Aspekte ist eine effektive und positive Therapiearbeit möglich. Ein weiteres Problem des naturalistischen Menschenbilds in der konkreten Therapeut-Patient-Beziehung liegt darin, dass das Verhalten des Therapeuten dem Patienten gegenüber maßgeblich von zum Teil rein zufälligen Sympathie- oder Antipathiegefühlen abhängig ist. Während es ihm möglich ist, sich dem für ihn sympathischen Patienten zuzuwenden, ihm einfühlsam und hilfsbereit entgegenzukommen, wendet er sich vom für ihn unsympathischen Patienten ab und ist deshalb nicht in der Lage, ihm in seiner Not adäquat zu helfen. Dies hat folgenden Grund: Wenn ein Therapeut Sympathie für einen Patienten empfindet, ist er bereits präreflexiv in der Lage, mit diesem Menschen mitzufühlen und seine Verhaltensweisen zu verstehen. In einer solchen Situation der präreflexiven Einstellung, in der sich zwanglos und interessiert unterhalten wird, werden auch seelische und subjektive Eindrücke wahrgenommen und berücksichtigt. Diese Einstellung wird erst dann unterbrochen, wenn sich der Therapeut Gedanken über das gesundheitliche Problem des Gegenübers macht und z. B. Bewegungsaufgaben vorgibt. Ist Sympathie vorhanden, befindet sich das situative Menschenbild (siehe Kapitel 2.3) sowohl im Bereich der reflexiven Einstellung als auch in der präreflexiven Einstellung, in der aufgrund lebensweltlich erworbener (auch moralischer) Selbstverständlichkeiten ein subjektintegrierendes Miteinander vorherrscht. Der Naturalist als Mensch, der zielgerichtet, sinneinlegend, wertend und moralisch ist, ist als stets Lebenswelt-Verhafteter selbst nie Teil seiner eigenen Theorie. Aufgrund der Tatsache, dass er der Lebenswelt einwohnt, ist auch der distanzierte Naturalist in der Lage, wenn Sympathie vorhanden ist, einem Patienten einfühlsam und freundlich zu begegnen. »Die Sympathie wendet sich zu, öffnet Auge und Hand, denkt nicht an sich, aber identifiziert sich mit dem Gegenstande, als ob er das Ich wäre, studiert ihn und hält ihn von sich weg, um ihn genauer zu betrachten, nähert ihn an, um ihn besser zu sehen« (v. Weizsäcker 1988:591/IX). Ist allerdings keine Sympathie vorhanden, verbleibt der Therapeut hauptsächlich im Bereich der wissenschaftlich-konkreten Einstellung. Subjektive Aspekte wie Angst, Unwohlsein, aber auch Freude werden dann, wenn ein naturalistisches Menschenbild herangezogen wird, lediglich als Ausdruck organischer Prozesse verstanden, weshalb eine emotionale Distanzierung vom Therapeuten zum Patienten die Folge ist. Zwar steht vor dem naturalistisch-orientierten Therapeuten ein 176

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Mensch, der offensichtlich ein Bewusstsein hat; da er diesen Menschen jedoch nur im Sinne eines Materiekomplexes reflektiert, ist der Therapeut nicht in der Lage, sich in ihn als pathische Person einzufühlen. In das Bewusstsein des Anderen wird dann das eigene Bewusstsein (Antipathie, Ablehnung) projiziert. 58 »Die Antipathie […] wendet sich ab, schließt das Auge, um besser zu überlegen, mißtraut und denkt nach, projiziert ihr eigenes Gefühl in den Gegner, sieht, was sie sich vorstellt im Feind, läßt ihn sein wie sie ist, erwartet von ihm, was sie in ihrem Hasse wünscht« (v. Weizsäcker 1988:591/IX). Wenn in das wissenschaftliche Menschenbild das Subjekt integriert wurde, kann es auf den präreflexiven Bereich wirken (durch Sedimentierung), und der Therapeut ist grundsätzlich jedem Menschen positiver gestimmt. Genauso wichtig ist jedoch die Tatsache, dass auch, wenn der Therapeut in wissenschaftlich-konkreter Einstellung verbleibt, ein pathischer Umgang mit dem Patienten möglich ist, denn auch in dieser Einstellung werden seelische Regungen als Wirklichkeit und nicht nur als Epiphänomen von Körperstrukturen erkannt. Gleichwohl die Charaktere der Menschen höchst unterschiedlich sind, so gibt es stets Motive für ihr Verhalten, nämlich die Befriedigung der Grundbedürfnisse, die jedem Menschen innewohnen. Der ausschließlich naturwissenschaftlich ausgebildete Therapeut, der selbst stets leistungsorientiert und optimistisch ist, wird eher entnervt sein und Antipathie gegen einen Patienten hegen, der immerfort frustriert ist, als dies bei einem subjektintegrierenden Therapeut der Fall wäre, denn dieser ist sich im Klaren, dass jeder Mensch nach Anerkennung, Zugehörigkeit und Selbstverwirklichung strebt (siehe Kapitel 1.3.3). Da die schwere Beeinträchtigung einen Betroffenen z. B. an den Rollstuhl fesselt und ihn daran hindert, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen, ist es für den Therapeuten verständlich, dass der Patient Existenzängste und Sorgen hat und Missmut an den Tag legt. Andere Betroffene könnten sich in ähnlicher Situation aber auch affektiert und »albern« verhalten. Auch wenn also das Wie des Verhaltens sehr unterschiedlich sein kann, ist es möglich, das ursprüngliche Warum auf grundlegende Motive, die jeder Mensch kennt, zurückzuführen. Quitmann (1996:237) sieht hierin eine dem Menschen immanente wesenhafte Natur, die er als Ein solches Vorgehen warf v. Weizsäcker (1986a:50/I) seinem Mentor Krehl vor, indem er schrieb: »Ich erkannte, daß Krehl immer sein eigenes Wesen in das des Patienten projizierte […]. Krehl maß den anderen an seinem, des Arztes, Maßstabe«.

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»Art Skelett von psychischer Struktur« bezeichnet. Das Wissen um diese psychische Struktur des anderen führt zu einem Mitgefühl bzw. einer Mitempfindung, also in griechischer Sprache ausgedrückt zur Sympathie. Der Mensch kann so auch in beiden wissenschaftlichen Einstellungen »in seiner Innerlichkeit, Menschlichkeit, Subjektivität wieder ins Gesichtsfeld komme[n] und dadurch die Gleichgültigkeit der objektiven Naturwissenschaft gegen humane, moralische, persönliche Werte korrigier[en]« (v. Weizsäcker 1988:486/IX). Ein willkürliches, vom Patienten abhängiges Verhalten gegenüber diesem kann so vermieden und eine allgemeine respektierende Haltung des Therapeuten gegenüber jedem Patienten ermöglicht werden. Der Streit wird nicht verschärft oder verewigt, sondern durch eine begreifende, rücksichtsvolle, d. h. respektvolle 59 Haltung aufgelöst (v. Weizsäcker 1988:17/IX).

3.4 Jenseits der praktischen Bewegungsaufgaben innerhalb der Therapie Das Ziel der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie ist es, mittels der aktiven Bewegungen des Patienten dessen Selbstheilungskräfte zu mobilisieren (siehe Kapitel 3.5.2.2). Das bedeutet, dass der Therapeut danach strebt, den Patienten zu seiner Gesundung, die ein »Wieder-Zurücktreten in die den Wiederhergestellten tragenden Lebensbahnen« (Gadamer 2010a:126) ist, zu führen. Die hierzu nötigen Selbstheilungskräfte können vom Therapeuten jedoch nicht von extern quasi injiziert werden, stattdessen hat er die Aufgabe, dabei zu helfen, diese natürlichen Selbstheilungskräfte im Patienten zu mobilisieren. Er ist also jemand, der dabei lediglich mithilft, was die Natur selbst vollbringt (ebd.:126 f.). Die Mobilisierung geschieht innerhalb der Bewegungstherapie zu großen Teilen durch die aktive Selbstbewegung des Patienten und einer damit einhergehenden erhöhten Fitness 60 an den Alltag. Jedoch können ebenso seelische und hiermit verbunden soziale Umstände sowohl zur Verschlechterung wie auch

Respekt = respectare (lat.) zurückschauen, sich umsehen, Rücksicht nehmen (Pfeifer 2005:1119). 60 »Fitness« bedeutet hier nicht »kräftig« oder »stark«, sondern »angepasst«. Angepasst ist jemand, der im Besitz von angemessenen Überlebensstrategien ist (vgl. Wuketits in Dürr 1997:99). 59

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zur Verbesserung der Gesundheit beitragen. Jede Gesundung und jedes Wohlbefinden ist somit auch maßgeblich von der Zufriedenheit und dem sozialen »Mitsein« (Meyer-Abich 2010a:578) des Patienten abhängig (siehe Kapitel 3.1). Daher muss die Bewegungstherapie den Menschen ganzheitlich, d. h. mit seinen leiblichen, seelischen und sozialen Aspekten, in die Betrachtung einbeziehen und entsprechend therapeutisch agieren, da die Vernachlässigung bereits eines Aspekts die Möglichkeit der Gesundung negativ beeinflussen kann.

3.4.1 Die Aufklärung über den Menschen als Objekt Der Mensch ist, wie in Kapitel 1.3 bereits erwähnt, Subjekt und Objekt zugleich; er ist somit als Körper der materiellen Welt und ihren Einflüssen unterworfen und wird durch diese beeinflusst (Mattner 1987:27; v. Weizsäcker 1987b:36, 259/VII). Aufgrund der Ambiguität des Leibes ist es möglich, den menschlichen Leib als Körper-Ding zu betrachten, d. h. ihn von jeglicher Subjektivität zu abstrahieren und ihn auf ein reines materielles Objekt zu reduzieren (vgl. Frick 2009:140; Merleau-Ponty 1974:131, 402; Waldenfels 1986:156). Die hierdurch mögliche naturwissenschaftliche Betrachtung und Schlussfolgerungen aus archäologischen Funden führten u. a. zu der Erkenntnis, dass sich alle Spezies auf der Erde durch Evolution gebildet haben. Zwar werden die genauen Mechanismen, die zu der Speziesentwicklung beigetragen haben, weiterhin kontrovers diskutiert, jedoch gilt es als gesichert, dass sich solche Eigenschaften im Verlaufe der phylogenetischen Entwicklung durchgesetzt haben, die Überlebensvorteile innerhalb eines entsprechenden Lebensraums mitbrachten. Benachteiligte Spezies hingegen haben sich nicht fortpflanzen und vermehren können (Gadamer 2010a:21; Gierer 1998:48 ff.; Henke & Rothe 1999:4 ff.; Junker & Scherer 2006:16 ff.; Plessner 2003b:141 ff./VIII). Somit ist auch der heutige menschliche Körper ein Produkt der Anpassung an die gegebenen Umstände der herrschenden Umwelt seit Beginn des Lebens auf der Erde vor mehreren hundert Millionen Jahren (vgl. Plessner 2003b:143/VIII). Der heute lebende Mensch ist somit in seinem Körperbau vergleichbar mit dem aus der Altsteinzeit. Sein Körper ist also kein Anpassungsergebnis der industrialisierten Gegenwart, sondern er ist die Anpassung an die Lebenswelt, die vor mehreren zehntausend Jahren vorhanden war (Israel 1995:15 f.). Vor diesem Hintergrund kann er als antiquiert Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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bezeichnet werden (ebd.:39). Aus den früheren Lebensumständen lassen sich Rückschlüsse herleiten, wie sich der Mensch heutzutage verhalten sollte, um seiner natürlichen Gewordenheit zu entsprechen. Im Umkehrschluss kann aus den Erkenntnissen gefolgert werden, welche Lebensbedingungen bzw. Verhaltensweisen sich nachteilig auf die Gesundheit des Menschen auswirken: »Die Phylogenese gibt [also] Ratschläge für das Verhalten in der Ontogenese« (ebd.:41). Körperliche Aktivität in Form von Selbstbewegung hat aufgrund der Tatsache, dass sich der Mensch zu einem bewegungsaktiven Lebewesen entwickelte, folgende beispielhafte physiologisch erfassbare gesundheitsfördernde Wirkungen: Es kommt zur Kräftigung der neuromuskulären Einheiten, zur Verbesserung der auf spezifische Funktionen ausgerichteten Beweglichkeit und zur Verbesserung der allgemeinen Ausdauer infolge eines ökonomisch arbeitenden HerzKreislauf-Atemsystems. Darüber hinaus werden der Stoffwechsel angeregt, das Immunsystem aktiviert und die Knochen gekräftigt. Durch die mit allgemeiner körperlicher Aktivität verbundenen Zugund Druckkräfte werden die Bandscheiben ähnlich einem Schwamm mit Nährstoffen versorgt. Bewegungsaktivität führt darüber hinaus zur Verminderung von Bluthochdruck, zu einem verminderten Risiko von Beschwerden etwa aufgrund von Arthrose, zu allgemeinem Wohlbefinden und verbesserter Lebensqualität (z. B. Bach et al. 2004:28 ff.; Braumann 2006:18 ff.; vgl. De Marées 2002:175 ff.; Froböse 2007:8; vgl. Reuter 2004:510 ff.). Nachdem der Mensch und seine Vorfahren über Jahrmillionen einer Umwelt ausgesetzt waren, in der sie sich ausschließlich aktiv fortbewegen und sich zur Lebensbewältigung höchst variabel bewegen mussten (klettern, kriechen, bücken, ducken, tragen, wegdrücken, festhalten, ziehen, weit springen, strecken, Gegnern ausweichen und mit ihnen kämpfen etc.) und unmittelbar für ihre Nahrungsbeschaffung verantwortlich waren, lebt der Mensch seit der Industrialisierung in einer Welt, in der aufgrund apparativer Hilfen immer häufiger menschliche Selbstbewegungen überflüssig werden (vgl. Gronemeyer 1996:117 ff.; vgl. Israel 1995:39 f.). Noch vor 100 Jahren, so Braumann (2006:8), bewegte sich der Mensch pro Tag selbsttätig ca. 20 km fort. Heute hingegen werden in den Industrieländern lediglich 400 bis 700 Meter zurückgelegt. Durch die Industrialisierung Mitte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer Zäsur in der Entwicklung der Arbeitsbedingungen und damit der alltäglichen physischen und seelischen (s. u.) Anforderungen. Es ist laut Israel 180

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(1995:29) davon auszugehen, dass innerhalb der letzten 10.000 Jahre (99 % der überschaubaren Zeit) 1 % an Umweltveränderungen eintraf, während innerhalb der letzten hundert Jahre in den westlichen Industrieländern 99 % an Umweltveränderungen zu verzeichnen waren. Die massenhaft eingesetzten Maschinen als »technische Verstärker« (ebd.:23) des menschlichen Wirkens, die mittlerweile zu großen Teilen zu technischen Ersetzern wurden, führen dazu, dass es eine große Diskrepanz zwischen natürlicher Notwendigkeit und der tatsächlich betriebenen körperlichen Aktivitäten und Belastungen gibt. Der Mensch verhält sich also gegen seine ursprüngliche, natürliche Gewordenheit, wenn er während des Alltags hauptsächlich sitzt oder liegt. Die modernen technischen Errungenschaften, die auf der einen Seite das Leben des Menschen maßgeblich angenehmer gestalten, führen auf der anderen Seite zu gesundheitlichen Problemen und Verlusten, denn Folgen chronischen Bewegungsmangels können z. B. Muskelhypotrophie, Adaptionsverlust an die Umweltkräfte, Arthrose, Haltungsstörungen, chronische Schmerzen, verringerte körperliche Leistungsfähigkeit und Krankheiten sein (vgl. z. B. Braumann 2006:8 f.; Israel 1995:19 f., 35; 2004:347 ff.; vgl. Meyer-Abich 2010a: 29; Reuter 2004:514). Die technischen Möglichkeiten stellen einen besonders destruktiven Faktor dar, wenn berücksichtigt wird, dass, wie Israel (1995:34) schreibt, es offensichtlich keinen Bewegungstrieb beim erwachsenen Menschen gibt, denn er »benötigte evolutiv keinen Bewegungsinstinkt. Die äußeren Zwänge zur Bewegung [z. B. Nahrungsbeschaffung, M. U.] waren in der gesamten Phylogenese derartig unverzichtbar und gravierend, daß sich ein innerer Zwang erübrigte […]. Kinder [hingegen] verfügen über einen Bewegungsdrang als Vorbereitung auf das Leben; ohne diesen Trieb würde die Motorik nicht abgerufen und entwickelt.« Aus der Berücksichtigung der menschlichen Evolution und seinem aktuellen hypokinetischen Lebenswandel lässt sich die Forderung ableiten, dass sich der Mensch selbst bewegen und allgemein motorisch belasten muss, um die Gefahr von gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu minimieren oder diese bei Vorhandensein einzudämmen (Dörner 2006:84; MeyerAbich 2010a:480 ff.). Hierfür ist die Anlehnung an die Alltagsbelastungen, die bis vor der Zeit der Industrialisierung vorhanden waren, erforderlich. Auch physiologisch ist die Notwendigkeit des Imitierens der Alltagsbelastung für die Rehabilitation und Prävention zu rechtfertigen, denn geführte Willkürbewegungen, die in einer rigiden Kraftmaschine durchgeführt werden, werden durch andere StruktuAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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ren und Koordinationsleistungen gewährleistet als gleichgewichtssichernde Bewegungsleistungen im Alltag, die zumeist als unbewusste Kompensationsbewegungen in allen Ebenen und Richtungen gegen plötzlich auftretende Auslenkungen des Körpers aufgrund von Kräften auftreten (Erhardt 2003a:13 ff.; 2003b:45 ff.). In der ganzheitlichen Bewegungstherapie werden deshalb keine körperfixierenden und bewegungsführenden Kraftapparaturen, sondern Geräte genutzt, wie sie in hiesigen Sporthallen zu finden sind (siehe Kapitel 3.5.2.2 und 3.5.2.9). Auf die phylogenetische Entwicklung des Menschen bezieht sich auch Meyer-Abich (2010a:361 ff.; 2010b:61) mit dem von Edward Osborne Wilson geprägten Begriff der Biophilie: Zu jeder Zeit war der Mensch eingebettet in den Kreislauf der Natur und hat sich entsprechend bis heute fortentwickelt. Diese angeborene enge Bindung zur Natur führt dazu, dass der Mensch sich auch heute noch zu einem angemessenen natürlichen Mitsein hingezogen fühlt. Untersuchungen ergaben, dass Patienten, die aus ihrem Krankenhausbett auf Bäume schauen konnten, weniger Schlaf- und Schmerzmittel benötigten, ruhiger waren und 10 % weniger Liegezeit benötigten als solche, die nur eine kahle Ziegelwand sehen konnten (Meyer-Abich 2010b:61 f.). Insbesondere für Patienten, die nicht die Möglichkeit haben, ihre Wohnstätte selbstständig zu verlassen, ist es wichtig, dass sie darin unterstützt werden, sich in der Natur aufhalten zu können. Es geht in der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie daher nicht darum, auf einem Laufband sinnlos, also Weg-los, zu laufen und dabei geistesabwesend auf einen Fernsehbildschirm zu sehen. Stattdessen ist es das Bestreben, die Bewegungsaufgaben sinnvoll zu gestalten und u. a. auch draußen in der Natur anzubieten. Die Natur mit ihren Wäldern, Feldern, Wiesen etc. bietet vielfältigste Angebote, mit ihr in einen ursprünglichen Kontakt als Bewegen und Wahrnehmen zu gehen (z. B. klettern, gehen, laufen, sitzen, liegen, springen, balancieren). Diese Angebote sind aufgrund ihres Charakters der ursprünglichen Lebenswelt des Menschen und der damit einhergehenden Biophilie desselben innerhalb der Bewegungstherapie neben der Therapie in der Sport- und Schwimmhalle, in der die ursprünglichen Lebensbedingungen simuliert werden, immer wieder wahrzunehmen (siehe Kapitel 3.5.2). Der Bewegungstherapeut hat also nicht nur die Aufgabe, innerhalb der therapeutischen Maßnahme Bewegungsaufträge zu erteilen, sondern er muss als Aufklärer fungieren und dem Patienten Verhal182

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tensweisen als gesund bzw. schädigend vor Augen führen und diese Einschätzung mithilfe naturwissenschaftlicher, physiologischer und diese überspannend evolutionstheoretischer Argumente begründen. Dem Patienten muss verdeutlicht werden, dass körperliche Passivität zu einer erhöhten Morbidität führt (vgl. Dörner 2006:84). Der Patient darf nicht demselben Irrtum unterliegen wie die Kantsche Taube, die sich während ihres Fluges denkt, dass sie besser vorankomme, wenn es keine Luft gäbe. Sie übersieht, dass die Luft nicht nur Widerstand und damit Beschränkung, sondern auch die notwendige Ermöglichung ihres Wollens, nämlich vorwärts zu kommen, ist. Erst der Umgang (siehe Kapitel 1.3.1) und die Widerständigkeit der Welt machen das Leben möglich (Meyer-Abich 2010a:131). Dieselbe Hoffnung, die die Taube hat, nämlich, dass durch Mühelosigkeit das Leben leichter wird, treibt den Menschen zu immer neuen technischen Innovationen an. Allerdings darf er, trotz der durch die zu großem Teil zu befürwortende Technik verbesserten Welthabe (s. u.), nicht vergessen, dass erst die Reibung zwischen Leib und Welt, d. h. die leibliche Mühsal, das Streben nach etwas, das Bewältigen von Problemen, das durch Anstrengung ermöglichte Erreichen von Zielen, erst das Leben als Leben ermöglicht. Vor diesem Hintergrund kann Sisyphos nicht nur deshalb als glücklicher Mensch gelten, weil er, wie Camus (2013: 141 ff.) schreibt, seinem Schicksal entgegentritt, sondern auch, weil die göttliche Strafe es ihm ermöglicht, stets auf ein Ziel zustreben und dabei die Friktion zwischen sich und der Welt erleben zu können. Es muss daher das Bestreben des Bewegungstherapeuten sein, Selbstbewegung und damit auch Anstrengung und Mühsal als Möglichkeit unmittelbarer Freude zu vermitteln. Er hat dafür zu sorgen, dass der Patient durch die Selbstbewegung Erfolge erlebt und das Gefühl erhält, mit etwas gut bzw. richtig umgehen zu können. Erst wenn die Bewegung einen intrinsischen, d. h. präreflexiven und vorichhaften positiven Gehalt erhält, ist der Patient ganz in der Lage, auch die durch Reflexion erfahrenen und kognitiv erfassten positiven Aspekte nicht nur zu kennen, sondern auch anzuerkennen und sich einzuverleiben, da »Belehrungen, Ermahnungen und Erleuchtungen genau so weit wirken, als die Zuwendung des Kranken zum Arzt dessen Ratschläge und Wünsche bereits potentiell umschließt« (v. Weizsäcker 1987a:188/V). Diese Einverleibung führt letztlich zu einer Sedimentierung der Bewegung als gesundheitsförderndes »Medikament«, durch das zukünftig der positive Wert des Bewegens unmittelbar mit der Bewegung selbst identifiziert wird. Naturwissenschaftliche ErAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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kenntnisse über den Menschen als Objekt und psychologische Kenntnisse sind also notwendig, um bewegungstherapeutisch positiv wirken zu können.

3.4.2 Die Aufklärung über den Menschen als Subjekt Da die Naturwissenschaft die materielle Beschaffenheit des Menschen in den Blick nimmt, wird ein Vergleich mit der Funktionalität, Präzision, Zuverlässigkeit, Konstanz, also Perfektion von Maschinen, möglich. 61 Jede Unzuverlässigkeit, jedes Abweichen von der maschinellen Perfektion kann dadurch vom Menschen als Scham – Anders (2002:23 ff.) beschreibt sie als prometheische Scham – erlebt werden. Gesundheit wird aus dem naturalistischen Menschenbild heraus gleichgesetzt mit normaler Funktion und einer damit einhergehenden »Verwertbarkeit für beliebige Zwecke« (v. Weizsäcker 1987b: 216/VII). Hierdurch wird die cartesianische Spaltung in der Selbstauslegung des Menschen gefördert, durch die der eigene Leib als etwas erachtet wird, das funktionieren muss, um die von der Gesellschaft und von sich selbst erwarteten optimalen Leistungen erzielen zu können. Der so verstandene Körper wird nun skeptisch betrachtet, da dieser unzuverlässige Apparat, der gleichzeitig die Existenzgrundlage des Menschen schlechthin darstellt, zu jeder Zeit einen Leistungsausfall des Ichs auslösen kann. Selbst natürliche Schwankungen des leiblichen Befindens werden bei Verwendung eines maschinenanalogen naturalistischen Menschenbilds vom Betroffenen nicht mehr sich selbst überlassen (vgl. Fuchs 2006b:340). Das technische Verständnis des Daseins und der feste Glaube an die allumfassende Beherrschbarkeit des Lebens führt zu einem unbedingten Streben in Richtung Wohlfühlmaximierung und Selbstoptimierung sowie zur Pathologisierung jedes geringen Unwohlseins (Schmidt 2013:86). Dass es sich hier nicht nur um eine hypothetische Entwicklung handelt, zeigen die drastisch steigenden Zahlen der Notaufnahmen in Krankenhäusern. Während 2005 deutschlandweit 13,5 Millionen Notfallaufnahmen zu verzeichnen war, stieg die Zahl bis 2011 auf 21 Millionen (DGINA 62 in Suppa 2011:5). Der ärztliche Leiter der So macht z. B. Dawkins keinen kategorialen Unterschied zwischen Organismus und Maschine; das Lebewesen ist hier eine »Überlebensmaschine« (Mutschler 2011:188). 62 Deutsche Gesellschaft für interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin. 61

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Notfallaufnahme eines hannoverschen Krankenhauses (in Suppa 2011:15) sieht dafür u. a. folgenden Grund: »Das gesunde Bauchgefühl der Leute geht verloren, und dass man mit sich und seinem Körper auch mal Geduld haben muss.« Die durch den Dualismus hervorgerufene Hypochondrie führt dazu, dass der Mensch schon ein geringes Missempfinden, einen leichten Kopfschmerz etc. argwöhnisch registriert. Der Beeinträchtigte geht mit seinem Körper zum Arzt und erwartet, dass er ihn mit Medikamenten etc. »repariert« (Lown 2012:103; vgl. auch Gadamer 2003:23). Bei übervorsichtigen Patienten muss der Therapeut deshalb eventuell auch etwas streng sein und den Patienten überzeugen, dass es im Leben nicht nur maximales Wohlbefinden gibt, sondern dass ein kleiner viraler Infekt, leichte Schmerzen wie Muskelkater, also allgemein leichtes Unwohlsein, auch auszuhalten sind. Es muss eine Fixierung auf die Missempfindung aufgelöst und als üblicher Lebensbestandteil vermittelt werden. Hierdurch wird dem vom ängstlichen Patienten empfundenen Schmerz die Gefährlichkeit und Bedrohung genommen. Empfindungen und somit auch Schmerzen stellen, wie bereits betont, keine objektiven Reize dar, sondern sie hängen von der Zuwendung des Subjekts ab (vgl. Merleau-Ponty 1974:26, 104; v. Weizsäcker 1990:622, 626/III). Derselbe objektive Reiz kann unterschiedlich intensiv empfunden werden, weshalb eine Aufklärung über physiologische und psychosomatische Zusammenhänge durch den Bewegungstherapeuten zu einer adäquaten Gelassenheit des Betroffenen und einem verringerten Bedrohungspotenzial führen und hierdurch bereits eine Leidminderung einsetzen kann (vgl. Tesarz 2018:36 ff.). Insbesondere bei solchen Patienten, die selbst ein naturalistisches Menschenbild heranziehen und unter chronischen unspezifischen Schmerzen leiden, sind auch zentralnervöse schmerzverstärkende Vorgänge zu beschreiben und deren sinnvoller Hintergrund zu vermitteln (Egle & Zentgraf 2017:47 f.). Es kann hier erläutert werden, dass im Lauf der Evolution ein chronifizierter Schmerz nach der Abheilung einer Gewebsschädigung einen Überlebensvorteil darstellte. Der Mensch verhielt sich von nun an vorsichtiger und vermied gefährliche und lebensbedrohliche Situationen (Tesarz 2018:28 ff.). Schmerzverstärkende Mechanismen sind zudem neurologisch abbildbar. Unter Zuhilfenahme von Modellen der Neurobiologie lässt sich darstellen, dass chronische Schmerzen mit schmerzverstärkenden Veränderungen des sensorischen Kortex, der Mandelkerne im Gehirn und mit der Ausbildung neuer Schmerzrezeptoren einhergehen. Wenn der erAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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lebte Schmerz in ein sinnvolles Gefüge eingegliedert werden kann, der Betroffene nun erkennt, dass Schmerzen nicht immer Signale einer neuerlichen Gewebsschädigung sein müssen, verringert sich das Bedrohungspotenzial und damit das Schmerzempfinden. Dieses Wissen hat zuletzt eine positive Wirkung, dass der Betroffene nun nicht mehr befürchten muss, als Simulant wahrgenommen zu werden (Egle & Zentgraf 2017:48 ff.). Hierdurch kommt es zu dem Gefühl, dass er ernst genommen wird und seine von außen nicht sichtbaren Problemen anerkannt werden. Dies führt wiederum zu einer verbesserten Motivation und Compliance während der Therapie. Wird der Patient hingegen darin bestärkt, dass Schmerz stets eine große Gefahr signalisiert, gerät dieser verstärkt in den Fokus des Patienten, sodass er ihn eindringlicher spürt. Es ist also die Aufgabe des Therapeuten, den Patienten nicht nur körperlich, sondern auch seelisch zu stabilisieren, indem ihm durch das therapeutische Gespräch (siehe nachfolgendes Kapitel 3.4.2.1) und gelingende Bewegungsaufgaben (siehe Kapitel 3.5.2) mehr Selbstbewusstsein und mehr Gelassenheit vermittelt wird. Hierdurch ist der Patient vermehrt imstande, in seinen Möglichkeiten selbst, etwa durch ein bewegungsreiches Alltagsleben, zu seiner eigenen Gesundheit und zum eigenen Wohlbefinden beizutragen. Die phänomenale Externalisierung des eigenen Körpers vom Ich kann jedoch auch zu einer gegenteiligen Verhaltensweise führen, nämlich dann, wenn die Angst vor dem Versagen des Organismus zu einer Verleugnung eines gesundheitlichen Problems führt. So kann es geschehen, dass ein permanentes Erschöpfungsgefühl durch Arbeitsüberlastung nicht als Warnsignal und damit als Hinweis beachtet wird, das eigene Leben hinterfragen und gegebenenfalls ändern zu müssen. Stattdessen ist aus Sicht des Betroffenen der Forderung nach einer tadellosen Funktionsfähigkeit, die die Leistungsgesellschaft an jedes seiner Mitglieder und die der Kranke als Teil dieser Gesellschaft auch an sich selbst stellt, zu entsprechen: Das Ich muss Leistung erbringen und der Körper ist der Diener, der hierfür im Hintergrund arbeitet und sich schon selbst instand hält. Der Patient muss hier Entspannungsübungen vermittelt bekommen und darauf hingewiesen werden, dass er neben der Belastung auch Ruhe und Muße benötigt. In beiden Fällen (Hypochondrie und Verleugnung) führen der Dualismus und die Entfremdung vom Körper zu einem Lebenswandel, der für das Wohlbefinden des Menschen abträglich ist. Beide gegensätzliche Verhaltensweisen entspringen einem Urgrund: 186

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dem Streben nach der eigenen an der Maschine orientierten perfekten Leistungsfähigkeit.

3.4.2.1 Das therapeutische Gespräch Grundsätzlich wird in der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie mit jedem Patienten über ihn selbst und seine Not gesprochen. In solchen Gesprächen soll ihm geholfen werden, seine Krankheit bzw. seine Beeinträchtigung zu verstehen, um die Notwendigkeit der selbstständigen Aktivität zur Besserung des eigenen Gesundheitszustands zu vermitteln. Mit Menschen über ihre gesundheitliche Beeinträchtigung zu reden bedeutet, mit ihnen über ihr verändertes Verhältnis zur Welt, zu den anderen Menschen und zu sich selbst zu sprechen. Ein Begleitgespräch kann fördernd, hemmend, verstörend oder beruhigend wirken. Das Gespräch ist somit keine äußere Zutat wie eine Anweisung zur Reparatur eines Geräts (Waldenfels 1998b:121 ff.). Es geht hier nicht darum, den Patienten systematisch auszufragen, sondern sich durch aktives Zuhören passiv zu verhalten und dem Patienten ein Ohr zu bieten. Dieser wird so von selbst rasch und leicht die wichtigsten Verhältnisse seines Lebens und seinen Werdegang erzählen (v. Weizsäcker 1986b:413/VI). Eine Notwendigkeit eines solchen passiven Verhaltens in Form des Zuhörens beschrieb Krehl (in v. Weizsäcker 1987:301/V) mit folgendem Vergleich: »Die Nachtigall verstummt sofort, wenn wir in ihrer Nähe selbst singen.« Es muss jedem Patienten die Möglichkeit gegeben werden, seine Nöte mitzuteilen und Probleme zu erörtern. Es ist z. B. möglich, dass ein Patient berichtet, er habe Angst vor einer erneuten Verletzung und traue sich sein altes Hobby oder sogar Alltagshandlungen nicht mehr zu. Die Thematisierung von Ängsten ist ein wichtiger Bestandteil eines Patientengesprächs, da Ängste auch bei kleinsten Beeinträchtigungen eine überproportionale Wirkung entfalten können. Eine Sturzangst resultiert nicht nur aus der Angst sich zu verletzen, sondern auch aus der Angst vor dem Festkleben in einer aus der Sicht des Betroffenen peinlichen Situation. Für ihn ist in seiner Vorstellung eine potenzielle Situation, in der er hilflos und hilfebedürftig auf dem Boden liegt, Menschen über ihm stehen, auf ihn herabschauen, voller Scham besetzt. Wenn z. B. eine Sturzangst vorhanden ist, weil der Betroffene befürchtet, in einer Situation, die selten oder unwahrscheinlich ist, unkontrolliert zu fallen, kann es dazu Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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kommen, dass er deshalb überhaupt nicht mehr aus dem Haus geht. Eine kleine aktuelle gesundheitliche Problematik führt über die Angst als Multiplikator zu einer großen potenziellen Problematik, die schließlich in ihrer Wucht die Lebensführung stark beeinträchtigt und die Lebensqualität und das Wohlbefinden reduziert. Über die Angst können schließlich auch körperliche Veränderungen hervorgerufen werden, nämlich, wenn die Angst z. B. zu einem erhöhten Muskeltonus, Verkrampfungen oder Angstschwindel führt, sodass die Sturzgefahr tatsächlich erhöht wird. Søren Kierkegaard (2019: 581) beschrieb die transzendente Eigenschaft der Angst anschaulich wie folgt: »Die Angst geht voraus, sie entdeckt die Konsequenz, bevor sie kommt, wie man an sich selbst merken kann, daß ein Unwetter im Anzuge ist; sie kommt näher, das Individuum zuckt wie ein Pferd, das keuchend sich vor der Stelle bäumt, an der es schon einmal scheute.« Es müssen aus einem solchen Gespräch Bewegungsübungen resultieren, durch die eine Stand- und Gangsicherheit erarbeitet wird. Außerdem sind Strategien zu entwickeln, wie sich der Betroffene in beängstigenden Situationen verhält, um währenddessen und bestenfalls bereits vorher eine Sicherheit zu spüren, die ihn dazu befähigt, den Alltag möglichst uneingeschränkt zu verleben. Es muss jedem Patienten – auch dem, dessen Not vom Therapeuten als gering empfunden wird – die Chance gegeben werden, Ballast abzuwerfen. Im weiteren Verlauf der Therapie kann sich mit steigendem Vertrauen zwischen Therapeut und Patient ein Verhältnis entwickeln, in dem der Patient Probleme oder auch das eigene Fehlverhalten bespricht. Der Therapeut kann so dem Patienten das Gefühl des Geborgenseins und der Anerkennung bieten und ihm auch bei Alltagsproblemen mit Rat zur Seite stehen. Es wurde bereits festgestellt, dass Ängste eine Krankheit hervorrufen oder begünstigen können. Angsteinflößende Worte können den Menschen somit im wahrsten Sinne des Wortes verletzen. 63 Umgekehrt können Worte der Zuversicht und des OptiHier wird von einem »Nocebo-Effekt« gesprochen (Schott 2011:10 f.; 2013:113 ff.). Dabei kommt es aufgrund negativer Aussagen oder Prognosen seitens einer Vertrauensperson wie dem Arzt oder durch negative psychosoziale Einflüsse zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes. Wie wirkungsvoll eine negative Imagination sein kann, beschreibt Lown (2012:53): Ein zum Tode Verurteilter wurde an ein Bett gefesselt. Ein Hindu-Arzt überredet ihn, dass dieser ihn verbluten lassen dürfe. Dem Verurteilten wurden die Augen verbunden und seine vier Extremitäten wurden leicht angekratzt, sodass sie nicht bluteten. Anschließend wurde Wasser hörbar in Eimer erst schnell, dann tropfenweise gelassen. Der Arzt begleitete diese Prozedur

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mismus zur Heilung beitragen. Lown (2012:106) schreibt hierzu: »Ich kenne nur wenige Heilmittel, die mächtiger sind als ein sorgsam gewähltes Wort.« Es muss in der Therapie eine positive Atmosphäre, ein »humanes Fluidum« (Schipperges 1987:59) geschaffen werden. Der Bewegungstherapeut darf während des Gesprächs nicht belehrend wirken und dem Patienten autoritär gegenübertreten (vgl. Gadamer 2010a:157). Da autoritäre Ermahnungen und Anklagen beim Betroffenen Widerstände wecken und ein Oppositionsverhalten auslösen können (vgl. v. Weizsäcker 1987b:379/VII), muss der Therapeut mit seinem Patienten in einen therapeutischen Gestaltkreis gehen. In diesem sollte er durch einen respektvollen Umgang den Patienten argumentativ von den eigenen Ansichten überzeugen, dass z. B. jede körperliche Beeinträchtigung den ganzen Menschen tangiert (s. o.). Es muss ihm gegebenenfalls nahegelegt werden, dass Krankheiten auch sinnvolle Phänomene sein können, die etwas ausdrücken. Der Therapeut muss ferner versuchen, den Patienten dahingehend aufzuklären, dass Naturgesetze im menschlichen Körper zwar wirken, so führt z. B. eine Nervenläsion zur Lähmung, allerdings verlaufen zahlreiche Gesundheitsbeschwerden nicht nach dem UrsacheWirkungs-Schema. Es müssen Beispiele aufgezeigt werden, die dem Patienten vermitteln, dass auch er jeden Tag die psychische Beeinflussung auf den Körper erlebt und anerkennt. So könnte angeführt werden, dass bereits der Gedanke an eine morgige Prüfung mit Schweißbildung und Herzrasen einhergehen kann. Auch kennen viele Menschen das Phänomen, dass sie besonders häufig im Urlaub oder an anderen freien Tagen erkranken, auch wenn sie sich nicht in einer anderen Umgebung als während der Arbeitszeit aufhalten. Hier wird offensichtlich die Krankheit während des Funktionieren-Müssens zurückgehalten. Weiterhin kann darauf verwiesen werden, dass Krankheiten gesellschaftlich-kulturell bedingt sind. Die (politische) Kultur hat maßgeblichen Einfluss auf das seelische Leben und damit die Gesundheit jedes Einzelnen. 64 Grundsätzlich haben also das soziale Mitmit einem immer leiser werdenden Singsang. Als das Tropfen des Wassers aufhörte, war der Verurteilte tot. 64 Die hohe Leistungsbereitschaft, das Streben nach Perfektion und die nahezu maschinelle Pünktlichkeit, die der deutschen Bevölkerung zugesprochen werden, könnten auch der Grund dafür sein, warum es dort, wie Meyer-Abich (2010a:553) ausführt, doppelt so viele Herzinfarkte gibt wie in der »gelasseneren« Bevölkerung der südeuropäischen Staaten Spanien und Italien sowie in Frankreich. Im Abendland des 16. und 17. Jahrhunderts existierte eine große Angst vor dem Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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einander und die Werte der Kultur einen maßgeblichen, aber unsichtbaren Einfluss auf jeden Einzelnen. Kulturelle Beziehungen sind jedoch nicht materiell, sondern Beziehungsgefüge. Körperliche Ereignisse resultieren also nicht ausschließlich aus einer physischen Ursache-Wirkungs-Kette, sondern sind auch relationale, gestalthafte Bedeutungsphänomene zwischen Subjekt und Welt, die nicht messbar, sondern ausschließlich deutbar sind. Wieso solche nicht-naturkausalen Zusammenhänge bei der eigenen Krankheit per se negiert werden, ist vom Patienten dann nicht mehr zu begründen. Ein Aufklärungsgespräch sollte auch im Sinne der sokratischen Methode (Gadamer 2010a:172) stattfinden, bei der der Patient durch Fragen und Beispiele zur Einsicht gebracht wird, dass das naturalistisch geprägte Menschenbild unzureichend ist. Aus dieser Einsicht erst erwächst eine Bereitschaft des Korrigierens und Lernens, so dass der Therapeut dem Patienten helfen kann, sich selbst als Subjekt zu rehabilitieren und so zu einer neuen und akzeptierten Erkenntnis zu gelangen. Der Therapeut muss einerseits kompetent und selbstbewusst auftreten, damit sich der Patient sicher und gut betreut fühlen kann, auf der anderen Seite jedoch muss er fähig sein, andere Meinungen wahrzunehmen und sich mit diesen auseinanderzusetzen sowie Kritik anzunehmen. Er muss stets die kritische Freiheit bewahren, auch einmal im Unrecht sein zu können und dies auch anerkennen (vgl. ebd.:156 f.). Häufig ist zu beobachten, dass Patienten frustriert, besorgt oder ängstlich reagieren, wenn eine Bewegungsaufgabe nicht so gut gelingt wie beim Therapiebesuch zuvor. Kleinere Missempfindungen wie Müdigkeit werden von ihnen vorschnell als Zeichen der grundsätzlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands gedeutet. Es muss jedem Patienten die Einsicht vermittelt werden, dass leichte Abweichungen des persönlichen Lebensrhythmus (Tagesform, kurzfristige Frustration) ganz normal und nicht zu sehr zu beachten sind und Störungen sowie ihre Überwindungen einen Teil jedes Lebens darstellen (ebd.:106 f., 171). Der Mensch ist ein Lebewesen, das müde wird, das etwas vergessen kann, das an Schlaflosigkeit leiden kann, das lustlos sein kann, das traurig sein kann, das unerklärliche Missempfindungen haben kann, das krank werden kann etc. All »Nestelknüpfen«. Man glaubte, dass Hexen in der Lage wären, eine Impotenz der Ehemänner zu bewirken, indem sie während der Hochzeitszeremonie ein Band verknoteten. Tatsächlich kam es laut Zeitzeugen zu einer weit verbreiteten Frigidität unter Männern (Delumeau 1985a:81 ff.).

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diese Entfernungen vom Wohlbefinden sind zumeist harmlos und keine Katastrophe, »und die Zeit selbst ist ein außerordentlich wirksamer Test dafür, ob eine gesundheitliche Störung weiterer Untersuchung bedarf« (Lown 2012:104). Dem Patienten ist zu vermitteln, dass er nicht nur seinen Leib als Instrument hat, sondern er auch sein Leib ist, d. h., er ist nicht nur Instrument, sondern auch Medium zur und Verankerung in der Welt, der er leiblich einwohnt. Dieser Leib kann und darf sich sowohl im Missbefinden wie auch im Wohlbefinden zu Wort melden. Aus »Ich tue meinem Körper etwas Gutes, damit er mir nicht mehr so viel Probleme bereitet« soll »Ich tue mir einmal etwas Gutes, damit ich mich besser fühle« werden. Kam es zu einer Krankheit (z. B. grippaler Infekt), ist einem leistungsstrebenden und zu sich selbst strengen Patienten zu raten, die Krankheit auszukurieren und dem Entlastungsbedürfnis seines Leibes zu entsprechen, denn »dieser Leib, Körper und Materie [ist] nicht nur schwach, sondern auch geistreicher, vernünftiger […], ›psychologischer‹«, als es der naturalistisch-maschinistisch denkende Mensch glaubt (v. Weizsäcker 1987b:209/VII). Es darf nicht das Ziel des Menschen sein, eine »100 %-Marke« der Körperfunktion zu erreichen, die durch einen schweren Unfall oder eine schwere Krankheit in weite Ferne rücken kann. Somit darf die Therapie ebenfalls nicht als absolute Reparaturmaßnahme verstanden werden, denn jeder Mensch ändert sich sein Leben lang, ist deshalb ein nie Fertiger und bleibt nie absolut derselbe, weshalb er der Idee einer vollendeten perfekten Maschine niemals gerecht werden kann (vgl. Gadamer 2010a:163; Meyer-Abich 2010a: 432; vgl. v. Weizsäcker 1986b:411/VI; 1988:640/IX). Deshalb kann auch nach einem Unfall oder einer Verletzung nicht der vorherige Zustand absolut erreicht werden. Selbstverständlich ist es das große Ziel des Patienten, die alten Fertigkeiten und die alten Lebensumstände wiederzuerlangen. Allerdings muss ihm im Genesungsprozess das Streben nach der Maschinenähnlichkeit als Fehlorientierung vermittelt werden. Es soll ihm eine gewisse Leichtigkeit des Daseins nahegebracht werden. Während Ängste und Besorgnis zur Krankheit führen, wirken umgekehrt Zuversicht, Zufriedenheit und Optimismus gesundheitsfördernd. Bereits eine solche Atmosphäre des Optimismus kann beim Patienten Selbstheilungskräfte 65 hervorrufen (Meyer-Abich 2010a:229 f.). Die Weltgesundheitsorganisation (1999: Die Wirkung von Selbstheilungskräften aufgrund einer positiven Intentionalität auf das therapeutische Vorgehen wird auch in der naturwissenschaftlich orientierten

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34) schreibt deshalb: »Menschen bleiben gesund, wenn sie zuversichtlich sind, daß sie mit ihrem Leben zurechtkommen und daß ihr Leben einen Sinn hat, und wenn sie über entsprechende (geistige, körperliche, seelische, soziale und materielle) Mittel verfügen, um alle an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen. Von Kindheit an muß sich ein Gefühl des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit entwickeln«. Allerdings stellt sich die Frage, wie der Therapeut reagieren sollte, wenn ein Patient eine so schwere Beeinträchtigung erlitten hat, dass eine Wiederherstellung seiner ursprünglichen Lebensordnung ausgeschlossen ist. Von Weizsäcker (1986b:414 f./VI) vertritt die Meinung, dass es falsch ist, wenn der Arzt glaubt, »dem Kranken manche fromme Lüge schuldig zu sein, und […] diese fromme Lüge mit dem Worte ›Suggestion‹ [verherrlicht] […]. Der Arzt hat auch die bestimmte Aufgabe, die Kranken zu enttäuschen – zu ent-täuschen – ihre Illusion, sorgsam und gütig zwar immer, aber doch wirksam zu zerstören. Seine Praxis also auch zu verkleinern, die Unheilbarkeit des Unzulänglichen im Menschen zu enthüllen.« Lown (2012:108) hingegen ist der Meinung, dass es im Allgemeinen das Beste ist, »die Tür immer ein wenig offen zu halten, auch in den schwärzesten Situationen.« Es kann also offensichtlich auch hier keine Via Regia beschritten werden. Einige Patienten benötigen den Zuspruch und die Zuversicht, um Lebenskraft und Freude zu entwickeln, andere hingegen müssen sich im Sinne einer Trauerarbeit von ihrem alten ZurWelt-Sein verabschieden und sich mit ihrer neuen Lebensrolle identifizieren, um sich von alten, nicht mehr möglichen Zielen zu trennen und neue erreichbare Ziele stecken zu können. Sind diese erreicht, ist es möglich, neue höhere Ziele anzustreben. Hier soll das ständige Gefühl der Frustration vermieden werden, wenn ein Patient nach etwas strebt, das für ihn nicht lösbar ist, und er so an den tatsächlichen Möglichkeiten des Lebens vorbeilebt. Um mögliche Zusammenhänge zwischen dem Kranksein und dem Zustand des seelischen und sozialen Lebens berücksichtigen zu können, ist eine ausführliche Anamnese nötig. In ihr erkennt Lown (2012:87) den wichtigsten Aspekt des Arztseins. Insbesondere, wenn eine gesundheitliche Beeinträchtigung nicht eindeutig auf eine materielle Schädigung zurückgeführt werden kann, wie z. B. beim unspe-

Medizin anerkannt (Rappe 2012:125). Es wird dann von einem »Placebo-Effekt« gesprochen (Meyer-Abich 2010a:230).

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zifischen Rückenschmerz 66, muss der Therapeut auch in Betracht ziehen, dass die Krankheit einem unbewussten Krankheitsstreben unterliegen könnte. Zur Beantwortung dieser Fragen muss danach gesucht werden, ob es aktuell einen Grund gibt, den Fortgang des gesunden Lebens zu unterbrechen. Es muss dann danach gefragt werden, ob es sich um ein Entspannungsbedürfnis handelt oder ob der Patient irgendetwas tun muss, was er nicht will oder nicht kann (Meyer-Abich 2010a:124). Hierfür ist es notwendig, das Patientengespräch aktiv zu führen und biographische und gegenwärtige seelische und soziale Zusammenhänge (z. B. Arbeit, Familie, Hobbies) sowie Zukunftswünsche und Lebensziele zu erfragen. Es ist z. B. möglich, dass die heftige Verspannung, die zur Arbeitsuntauglichkeit führte, einem Ruhebzw. Entlastungsbedürfnis entsprang, denn »Krankheiten sind häufig Konkretionen von Vermeidungsbedürfnissen« (ebd.:72). Auch soziale Konflikte im Arbeits- oder Familienleben können eine Krankheit nach sich ziehen. Die vermeintlich körperliche Krankheit ist dann eine Flucht vor diesem Konflikt (Meyer-Abich 2010a:72 f.; v. Weizsäcker 1987b:369/VII). Insbesondere bei Menschen, deren Lebensordnung sich aus Sicht des Betroffenen gravierend negativ verändert hat (z. B. Pflegebedürftigkeit durch Unfallfolgen), sind Folgekrankheiten möglich. Eine gefühlte soziale Entwertung (Dysarthrie und die damit einhergehenden Kommunikationsprobleme führen zur Abwendung von Bezugspersonen) kann z. B. zu einer Krankheit führen, die einer erhöhten Zuwendung bedarf. Ein Patient mit schwerer Gangstörung durch Spastik kann ständige und schmerzhafte Muskelkrämpfe entwickeln, die einen beruflichen Wiedereinstieg unmöglich machen. Der Krankheitswille könnte in diesem Fall aus der Angst resultieren, weniger zu leisten als andere oder als man es selbst vor dem Unfall vermochte. Es ist in diesem Fall nicht mehr eindeutig zu klären, ob es sich hier um eine kausal-mechanische Unfallwirkung oder um eine sinnvoll motivierte Neurose handelt (v. Weizsäcker 1986c: 179/VIII). In allen beschriebenen Beispielen, in denen ein Krankheitswille und ein Krankheitsgewinn vorhanden sind, wird deutlich, dass die seelische Verfassung eng mit sozialen Zusammenhängen, die auch krankheitsprägend sein können, verschlungen ist. Deshalb ist v. Weizsäcker (1986b:409/VI; 1987b:285, 292/VII) der Meinung, dass Krankheit immer ein soziales Problem und nicht nur ein NaturvorLaut Egle & Zentgraf (2017:85) ist in nur 10 % der Fälle das Symptom Rückenschmerz auf einen körperlichen Defekt ausreichend zurückzuführen.

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gang ist. Vermeintlich rein körperliche Prozesse sind in diesem Fall nicht ausschließlich dem Kausalgesetz unterworfen, sondern sie sind selbst »geistvoll, subjektiv und kreatürlich« (ebd. 1986a:410/VI). In Krankheitsfällen, die mit einer maßgeblichen Veränderung der Lebensordnung einhergehen, sind deshalb nicht nur Gespräche mit dem Betroffenen, sondern auch z. B. in Konfliktsituationen mit seinen Angehörigen, Freunden, Arbeitskollegen oder Vorgesetzten zu führen. Lown (2012:119) hebt die große Rolle der Familie und der Arbeit für die Gesundheit des Menschen hervor, wenn er schreibt, dass zumeist Konflikte mit der Arbeit und der Familie bei Krankheitsfällen im Vordergrund stehen. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass solche Konflikte die Menschen einbeziehen, die zumeist die engsten sozialen Verbindungen zum Menschen unterhalten und maßgeblich zur Befriedigung der Grundbedürfnisse des Menschen beitragen; jeder Mensch benötigt das Gefühl der Zugehörigkeit zu seinen Mitmenschen (Meyer-Abich 2010b:63). Besonders wichtig ist das Gespräch mit den direkten Angehörigen auch aus einem anderen Grund, der häufig nicht beachtet wird. Es ist nicht nur der Betroffene selbst, der ein Trauma erlitten hat. Häufig sind auch die Eltern, Kinder etc. traumatisiert, denn die Person, die sie vor einem schweren Unfall, Schlaganfall o. Ä. kannten, ist einerseits dieselbe und andererseits durch die Beeinträchtigung und eventuell eingetretene Verhaltensänderung nicht mehr dieselbe. Es kommt daher häufig zu einem moralischen Konflikt und zu einer Vernachlässigung einer eigentlich notwendigen Trauerarbeit. Insbesondere nach einer eingetretenen schweren Beeinträchtigung müssen nahe Angehörige unzählige organisatorische Angelegenheiten koordinieren. Hier ist es das Ziel einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie, auch den betroffenen Angehörigen die Möglichkeit zu geben, sich mitzuteilen, ihre Not zu kommunizieren und organisatorische Unterstützung anzubieten, indem z. B. Ansprechpartner in einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SBZ) oder einem Medizinischen Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) vermittelt werden. Das therapeutische Gespräch erfüllt insgesamt vier wichtige Aufgaben: 1. Es wird dem Patienten Zuversicht, Optimismus und Geborgenheit vermittelt. Ein positives, selbstsicheres und zuversichtliches Denken ist bereits ein wichtiger Heilfaktor. Durch Freundlichkeit und aufmunternde Worte wird ein Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Therapeut geschaffen. Hier erfüllt der Bewegungstherapeut eine 194

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ähnliche Aufgabe, wie sie – aufgrund von Zeitmangel immer seltener (Meyer-Abich 2010a:110) – der Hausarzt übernimmt (vgl. Gadamer 2010a:124, 161). Der Therapeut wird zu einer Vertrauensperson, die das Leben des Patienten kennt. 2. Es dient der freien Rede des Patienten (und gegebenenfalls der direkten Angehörigen), um Nöte, Konflikte und Alltagsprobleme zu formulieren. Hier werden dem Patienten zwar Lösungsvorschläge unterbreitet, jedoch wird keine psychotherapeutische Arbeit, die eine offizielle Ausbildung verlangt, verrichtet. Die bloße Thematisierung von Alltagssorgen kann bereits dem Wohlbefinden und der Gesundheit zuträglich sein. Aus den Erkenntnissen, die der Therapeut aus der freien Rede erhält, ist es möglich, die dritte Gesprächsfunktion vorzubereiten. 3. Es kann über das Gespräch herausgefunden werden, ob gesundheitliche Nöte etwas mit dem seelischen und sozialen Zustand des Patienten zu tun haben. Hierfür sind Fragen bezüglich der Biographie, der aktuellen seelischen und sozialen Situation sowie der Ziele, Hoffnungen und Wünsche zu stellen. Gegebenenfalls muss der Patient seine Lebensordnung verändern und neue Ziele für sein Leben finden. 4. Es wird auf naturwissenschaftlichem wie auf anthropologischem Gebiet Aufklärungsarbeit geleistet. Aus den vermittelten Erkenntnissen soll der Patient Selbstsicherheit sowie Gelassenheit gewinnen und hierauf aufbauend Verantwortung für seine Lebensform und seine Lebensordnung übernehmen. Es muss hier jedoch berücksichtigt werden, dass der Therapeut häufig gegen den Widerstand des Patienten arbeiten muss, denn das Wesen der Krankheiten, die sich als Stellvertretung seelischer Konflikte körperlich zeigen können, ist gerade die Abwehr und der Widerstand gegen ihre Entdeckung. Die Zumutung, dass der Therapeut besser zu wissen glaubt, was der Patient empfindet, wird von ihm daher häufig mit der Projektion der eigenen Unwissenheit auf den Therapeuten beantwortet (vgl. Mitscherlich 1974:60) (siehe Kapitel 4.3).

3.4.2.2 Die Neustrukturierung der Lebensordnung Jede gesundheitliche Beeinträchtigung ist gekennzeichnet durch eine Abweichung von der ursprünglichen Lebensordnung des Betroffenen (v. Weizsäcker 1988:637/IX). Die Einführung des Subjekts in die Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Heilkunde ermöglicht dem Patienten die Chance, seine Krankheit als einen Hinweis zur Notwendigkeit einer Änderung der eigenen Lebensordnung wahrzunehmen, wenn es sich um eine Krankheit handelt, bei der eine seelische Beeinflussung nicht ausgeschlossen werden kann. Die Krankheit ist dann kein zufälliger, sinnloser und negativer Einbruch in das geordnete Leben, sondern ermöglicht es, den Patienten zu seiner Bestimmung zu führen (Meyer-Abich 2010a:124 f.; v. Weizsäcker 1987b:219/VII). Die Bestimmung ist als das zu verstehen, »wofür ein Mensch von sich aus gut ist oder worin sich sein Leben, wenn es gutgeht, in einem persönlichen Sinn erfüllen könnte« (Meyer-Abich 2010a:124). Sie ist somit nicht zu verwechseln mit dem in Kapitel 1.1.3 thematisierten Determinismus innerhalb des Naturalismus. Jeder Mensch besitzt eine individuelle Bestimmung, die sich im Verlaufe des Lebens ändern kann. Ein erwachsener Mensch kann z. B. seine Bestimmung in der Berufskarriere sehen, weshalb sich seine Lebensordnung auf seine Arbeit gründet. Ein anderer erkennt seine Bestimmung in der Förderung und dem Wohlergehen seiner Familie und ordnet deshalb alles andere unter (vgl. v. Weizsäcker 2005:291/X). Es muss also auch ein wichtiges Ziel der Bewegungstherapie sein, nach einem Unfall und einer damit einhergehenden Veränderung der Lebensordnung dabei zu helfen, dass diese Lebensordnung von vor dem Unfall wiederhergestellt wird. Ist dies aufgrund der Schwere der Beeinträchtigung nicht möglich, so ist eine andersgeartete Wiedereinführung in das soziale Leben anzustreben (s. u.). Da zur Bestimmung jedes Menschen maßgeblich das alltägliche Tun gehört, ist es eine wichtige Aufgabe der ganzheitlichen Bewegungstherapie, dem Patienten gegebenenfalls bei der Suche nach einem neuen geeigneten Arbeitsverhältnis zu helfen (vgl. v. Weizsäcker 1986b:371/VI). Die Arbeit wird aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht als objektiver Produktionsfaktor definiert. Unberücksichtigt bleibt hier die Arbeit in ihrem phänomenalen Gehalt für das Subjekt. Die Arbeit schließt das Erleben von Müdigkeit und Vergnügen ein. Durch sie wird die Widerständigkeit der Welt erfahren. Sie ist durch Kraftanstrengung und Einsatz gekennzeichnet. Sie ist »eine unmittelbare Erfahrung des Sichabrackerns, des Schwitzens, MüdeWerdens, des Durstig- und Hungrig-Werdens« (Welten 2009:46). Die Arbeit muss nicht notwendig einer extrinsischen Motivation entspringen und muss nicht bloß ein notwendiges Übel sein, dem man sich zu stellen hat, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (vgl. Bermes 2006:154 ff.). Mit der Arbeit wird ein Wirken, eine Veränderung 196

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der Welt angestrebt. Die gelungene Auseinandersetzung mit der Welt führt zu einer Verschmelzung und gleichzeitig zum Erleben ihrer Widerständigkeit. Beide dialektischen Aspekte – Verschmelzung und Differenzierung – sind eine wesentliche Eigenschaft der Arbeit. Durch den Widerstand des Objekts ist das Selbst als Subjekt erfahrbar. Arbeit ist in dieser Hinsicht nicht nur Lebensmittel, sondern primär Selbstverwirklichung und als solche der eigentliche Lebenszweck (Bermes 2006:154; vgl. Welten 2009:37 ff.). »Hier erscheint die Arbeit als ein Grundgeschehen des menschlichen Daseins, als das ganze Sein des Menschen dauernd und ständig durchherrschendes Geschehen« (Marcuse in Bermes 2006:155). Die Arbeit ist nicht nur etwas, das man tut, sondern sie ist das, was man ist; sie wird inkarniert (vgl. Welten 2009:39). Der Verlust einer Arbeitsstelle ist deshalb auch nicht gleichzusetzen mit der quantitativen Minderung rein monetärer Einkünfte, sondern er kann eine Erschütterung des ganzen Selbst darstellen. Mit v. Weizsäcker (1986b:411/VI) gesprochen, handelt es sich hier um einen Teiltod des Menschen. Eine Person, die urplötzlich aufgrund einer Behinderung nicht nur ihre gewohnte Umgebung, ihr natürliches und soziales Mitsein verliert, sondern durch den Arbeitsverlust auch sich selbst, kann deshalb in eine schwere Depression geraten. Das Absterben eines Teils bedeutet jedoch nicht nur unwiederbringliche Vernichtung, sondern auch Möglichkeit für Neues. Kann eine Wiedereingliederung in den verlorenen Beruf aufgrund der Schwere der Beeinträchtigung nicht erfolgen, ist es eine wichtige Aufgabe der Bewegungstherapie, das zunächst qualitätsverminderte Leben wieder mit einer neuen Bestimmung zu füllen (siehe Kapitel 3.4.3). Hierfür werden zum einen durch die praktische therapeutische Arbeit körperliche und seelische Voraussetzungen wie Optimismus, Selbstbewusstsein, Lebensfreude, Konzentrationsfähigkeit, Zuversicht, Gelassenheit gefördert. 67 Zum anderen hilft der Bewegungstherapeut nach Möglichkeit bei der Suche und Vermittlung einer geeigneten Arbeitsstelle. Eine Arbeit ist dann geeignet, wenn es eine intrinsische Motivation ist, die den Menschen zum beruflichen Tun anregt. Die Arbeitsfreude wird hier nicht von außen zugeführt, sondern befindet sich in

Unter seelischen Voraussetzungen sind hier auch kognitive Fähigkeiten, wie z. B. Konzentrationsfähigkeit, Merkfähigkeit, Ort- und Zeitorientierung, zu verstehen, die mithilfe eines Hirn-Leistungs-Trainings gefördert werden.

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Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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der Arbeit (v. Weizsäcker 1986c:237/VIII; 1990:604/III). Bei der Arbeitssuche genügt es nicht, sich ausschließlich nach der vom Arzt bescheinigten prozentualen Arbeitsfähigkeit zu orientieren (vgl. ebd. 1987a:275/V). Die Abkehr einer prozentualen Bewertung der Arbeitsfähigkeit berücksichtigt die Tatsache, dass die Leistungsfähigkeit einer Person nicht als quantitative Größe messbar ist, sondern dass sie eine Qualität der Zuordnung einer bestimmten Fähigkeit eines Menschen zu einer bestimmten Aufgabe darstellt (ebd. 1986b:371/ VI). Die eine Person erledigt Arbeiten in einer Kfz-Werkstatt ausdauernd und mit Freude. Eine andere Person mit derselben prozentualen Arbeitsfähigkeit hingegen arbeitet mit Enthusiasmus als Bürokraft an einem Computer, während sie unproduktiv und nur unter großer Mühe Aufgaben in einer Kfz-Werkstatt vollzieht. Diese Beispiele zeigen auch, dass Arbeitsfähigkeit und Leistungsbereitschaft nicht zu trennen sind, denn bei dem, was jemand gerne und gut tut, steigt seine Bereitschaft und verringert sich bei mit großer Unlust verbundener Arbeit. In der geeigneten beruflichen Tätigkeit verschmilzt diese mit dem Arbeitenden und stellt einen transzendenten Akt dar, mit dem der Mensch aus sich hinauswirkt. Jede gelingende Arbeit ist somit eine kleine Ekstase (ebd. 1986c:188, 243/VIII). Jedoch wird auch die geeignete Arbeit stets mit Leid, etwa in Form von Unzufriedenheit über das Ergebnis, Müdigkeit etc., ergänzt (v. Weizsäcker 1986c: 239 f./VIII; vgl. Welten 2009:46). Es werden durch die individuell geeignete berufliche Tätigkeit indirekt oder direkt alle Bedürfnisse nach Maslow befriedigt: Die Arbeit ermöglicht es dem Menschen, Erfolg zu haben, etwas gut zu machen und hierfür gesellschaftliches Ansehen zu erlangen. Durch die Arbeit tut er in seinem sozialen Mitsein nicht nur etwas für sich, sondern er leistet etwas für andere, so dass er sich zu einer Gesamtheit zugehörig fühlt. In der geeigneten Arbeit ist es dem Arbeitenden möglich, Selbstidentifikation aufzubauen und seine Persönlichkeit zu entfalten (Meyer-Abich 2010a:310 f.). Eine geeignete Arbeit, die intrinsisch motiviert ausgeführt wird, ist primär kein produktorientierter Prozess, sondern Teil der Selbstverwirklichung und ermöglicht das Selbstsein im sozialen Mitsein. Sie dient daher in ihrer Funktion als Grundbedürfnisbefriedigung der Gesundheit (Meyer-Abich 2010a:534; Welten 2009:52). Arbeit ist dann Heilmittel (v. Weizsäcker 1986c:258/VIII). Es wurde jedoch auch verdeutlicht, dass Arbeit nicht nur gesundheitswirksam ist, sondern auch pathogen sein kann, nämlich wenn sie für einen Menschen ungeeignet ist, d. h., wenn sie nur wi198

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derwillig und nur aufgrund extrinsischer Motivation etwa in Form des Arbeitslohns ausgeführt wird. Es handelt sich also um ein Wechselwirkungsverhältnis von Krankheit und Arbeit (ebd.:256/VIII). Die Relevanz der Arbeit für den Menschen heben auch Grobe & Schwartz (2003:18) hervor, die sich auf eine Untersuchung berufen, in der herausgefunden wurde, dass Personen mit mehr als einem halben Jahr bestehender Arbeitslosigkeit einem 2,6-fachen Risiko für längerfristige Krankenhausaufenthalte ausgesetzt sind als solche mit durchgängiger Beschäftigung. Wenn keine oder eine ungeeignete Arbeit unzufrieden und krank macht und ein geeigneter Beruf der Gesundheit dient, ist die Hilfe zur beruflichen (Wieder-)Eingliederung einer Person mit oder nach einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in ein geeignetes Arbeitsleben eine fundamental wichtige Aufgabe der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie. Für die Wiedereingliederung in das Berufsleben muss durch aktive Bewegungen die individuelle Leibverfügung, verstanden als eine ausreichende Möglichkeit, durch den Leib auf die Welt entsprechend dem eigenen Willen zu wirken, gefördert werden.

3.4.3 Leibverfügung, Welthabe und Bestimmung des Patienten »Der Leib ist unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben« (MerleauPonty 1974:176) – er ist das »allgemeine Medium einer Welthabe« (Waldenfels 1986:156). Mittels des Leibes ist der Mensch zur Welt gerichtet, wohnt ihr ein, spürt sie und wirkt auf sie, je nach leiblichen Möglichkeiten, ein. Im Falle einer chronischen Beeinträchtigung muss eine individuelle neue Welthabe erarbeitet werden, da sich die leiblichen Möglichkeiten nachhaltig verändert haben. Der Beeinträchtigte hat aus dieser Sicht nicht lediglich eine quantitativ mindere Körperfunktion, sondern ein qualitativ anderes Zur-Welt-Sein. Das Bestreben der Therapie ist eine Verbesserung dieser individuellen Welthabe, also der Möglichkeit einer Einflechtung in die materielle und soziale Welt sowie der Selbstverwirklichung (vgl. Merleau-Ponty 1974:104 ff.). Die Möglichkeiten zur Welthabe und Selbstverwirklichung werden gefördert, wenn der Leib als Widerstand und Hindernis in den Hintergrund rücken kann und durch seine Selbstverborgenheit die Weltzugewandtheit zulässt. Im Hinblick auf ein selbstbestimmtes Leben ist es von Vorteil, alleinverantwortlich tätig sein zu können. Dies ist gegebenenfalls auch unter Nutzung technischer Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Die ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie verschiedene Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung

Selbstverwirklichung als Fußballprofi

Welthabe = Leibverfügung

Welthabe

menschliches Dasein im Lebensfortgang

Abbildung 10: Das ursprüngliche gesunde Zur-Welt-Sein eines Fußballprofis (Eigene Darstellung)

Geräte wie Prothesen, Elektrorollstühlen etc. möglich. In diesem Fall ist es die Aufgabe der Bewegungstherapie, die Einleibung dieser Gegenstände durch häufiges Üben zu ermöglichen. Es ist stets zu beachten, dass die Selbstverwirklichung höchst variabel ist. Der eine Mensch möchte seinen Beruf als Hausmeister oder als Arzt optimal ausüben, jemand anderem ist es wichtig, primär ein ruhiges Leben mit der Familie zu führen. Die Ziele der Bewegungstherapie sind somit nicht festgelegt, sondern individuell und ändern sich auch im Laufe der Zeit bei derselben Person. Sowohl die Möglichkeit zur Welthabe als auch zur Selbstverwirklichung sind zu optimieren. Das nachfolgende Fallbeispiel, in dem ein Profifußballer ein schweres Schädelhirntrauma erlitten hat und so seine ursprüngliche Bestimmung unerreichbar wird, soll die bisher aufgezeigten Zusammenhänge zwischen Lebensordnung, Leibverfügung und Welthabe verdeutlichen:

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Jenseits der praktischen Bewegungsaufgaben innerhalb der Therapie

verschiedene Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung

Selbstverwirklichung als Fußballprofi

Möglichkeit der Selbstverwirklichung als Fußballprofi

Welthabe Leibverfügung

menschliches Dasein im Lebensfortgang

Abbildung 11: Das Zur-Welt-Sein nach schwerem Schädelhirntrauma (Eigene Darstellung)

Abbildung 10 zeigt dreidimensional das Zur-Welt-Sein eines Profifußballers, der gesund ist und seinen Beruf ausüben kann, seine Bestimmung im Leistungssport sieht und entsprechend seine Lebensordnung ausrichtet (z. B. häufiges Training): Die Körperfunktionen sind für sein Alter optimal ausgebildet, weshalb er eine hohe Leibverfügung und damit auch Welthabe besitzt. Sowohl die Welthabe als auch die Leibverfügung sind nicht als quantitative, in Prozenten anzugebende Größen messbar. Stattdessen stellen sie die qualitative Fähigkeit einer Person in Relation zu einer bestimmten Aufgabe dar (vgl. v. Weizsäcker 1986b:371/VI). Es handelt sich also um eine individuelle Zuordnung. Eine hohe Welthabe korreliert mit einer hohen Anzahl an Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung wie andere Sportarten, neuer Beruf, Familiengründung etc. (siehe ZAchse). Die Selbstverwirklichung, also die praktische Tätigkeit zur Selbstverwirklichung, ist geprägt vom üblichen Wohl- und Missbefinden, das durch die Wellenlinie symbolisiert wird. Abbildung 11 zeigt das Zur-Welt-Sein des Profifußballers nach einem Autounfall mit schwerem Schädelhirntrauma: Die Körperfunktionen sind u. a. infolge einer schweren Spastik herabgesetzt. Die Leibverfügung ist somit vermindert. Die LebensAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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verschiedene Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung

Selbstverwirklichung als Fußballprofi Möglichkeit der Selbstverwirklichung als Fußballprofi

Welthabe Leibverfügung

menschliches Dasein im Lebensfortgang

Abbildung 12: Das Zur-Welt-Sein nach Beginn der ganzheitlichen Bewegungstherapie (Eigene Darstellung)

ordnung hat sich massiv verändert. Der Betroffene verbringt sein Leben nun im Krankenhaus. Die Welthabe ist deshalb höher als die Leibverfügung, da durch technische Hilfsmittel und soziale Kontakte die Möglichkeiten zur Welthabe über die Leibverfügung hinaus vergrößert werden. Seine »intentionale[n] Fäden« (Merleau-Ponty 1974:131) ermöglichen es ihm, besser zu wirken, d. h. sich selbst zu verwirklichen. Dennoch besteht eine große Diskrepanz zwischen der Bestimmung als Profifußballer und der Möglichkeit hierzu. Abbildung 12 zeigt das Zur-Welt-Sein unter dem Einfluss der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie: Die Leibverfügung hat sich verbessert durch die verbesserten Körperfunktionen. Es zeigt sich dennoch eine Diskrepanz zwischen Welthabe und Bestimmung, die zu Unzufriedenheit, Frustration bis hin zur Depression führen kann. Es ist nun die Aufgabe des Bewegungstherapeuten, andere Möglichkeiten der Selbstverwirklichung für und mit dem Patienten zu erarbeiten. Der Patient muss seine neue Situation erkennen und akzeptieren. Er darf seine neue Situation nicht nur wütend, verzweifelt oder resigniert zur Kenntnis nehmen, sondern er muss die Verantwortung für sein Leben übernehmen und neue Wege zur Selbstverwirklichung suchen. So kann er sich z. B. als 202

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Jenseits der praktischen Bewegungsaufgaben innerhalb der Therapie

Selbstverwirklichung als Fußballtrainer = Möglichkeit der Selbstverwirklichung als Fußballtrainer

Welthabe Leibverfügung

menschliches Dasein im Lebensfortgang

Abbildung 13: Das Zur-Welt-Sein nach Findung eines neuen Lebensziels (Eigene Darstellung)

Fußballtrainer betätigen, denn mit dieser Arbeit kann er seiner Neigung zum Fußball und im Allgemeinen zum Sport entsprechen. Es soll sich also die Bestimmung (Wollen) der möglichen Welthabe (Können) annähern, so dass Frustration, Ärger und Trauer minimiert oder beseitigt werden. Abbildung 13 zeigt die Situation, wenn der Fußballer seine Lebensordnung neu strukturiert und für sich angepasste Lebensziele definiert hat: Die fixierte Orientierung auf das Ziel eines wieder 100 %ig leistungsfähigen Körpers wurde aufgegeben. Auch der Glaube an die absolute Gebundenheit des Lebensziels an die Funktionsfähigkeit des Körpers konnte aufgehoben werden. Der ehemalige Fußballer arbeitet nun als Fußballtrainer. Sein großes Ziel ist es nicht mehr, ein Fußballnationalspieler zu werden, sondern z. B. seine Mannschaft zum Aufstieg zu führen. Aus ursprünglicher Sicht des gesunden Fußballers hat sich die Form der Selbstverwirklichung nach unten in Richtung der durch den Unfall verminderten Welthabe verschoben. Eine Diskrepanz zwischen beiden ist zwar nicht mehr auszumachen – Frustration, Resignation etc. werden nicht mehr provoziert –, aller-

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Die ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie

Selbstverwirklichung als Fußballtrainer im neuen Zur-Welt-Sein

menschliches Dasein im Lebensfortgang

Abbildung 14: Das neue Zur-Welt-Sein aus Sicht des Betroffenen in der neuen Situation (Eigene Darstellung)

dings sind die verschiedenen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung eingeschränkt. Abbildung 14 zeigt die Situation aus Sicht des Trainers, für den innerhalb seiner neuen Ordnungs- und Beziehungsstrukturen seine Welthabe nicht als vermindert oder schlechter erfahren wird, sondern lediglich als anders als zuvor. Es ist bei jeder Art von Beeinträchtigung das Bestreben der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie einerseits, die Selbstheilungskräfte des Organismus durch Aktivierung zu wecken und ein freies Schwingen zwischen Wohlbefinden und Missbefinden zu ermöglichen und so die Leibverfügung zu verbessern. Andererseits muss der Therapeut gegebenenfalls die Welthabe durch die Bereitstellung technischer Hilfsmittel oder den Einbezug von Bezugspersonen erhöhen, so dass die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung verbessert werden. Es ist wichtig, dem Patienten zu verdeutlichen, dass es eine 100 %ige Gesundheit nie gibt und sie deshalb, um eine ständige Frustration zu vermeiden, nicht als Ziel definiert werden darf. Stattdessen muss angestrebt werden, die Deckung von Selbstverwirklichung und Welthabe zu gewährleisten. Diese Einstellung impliziert, dass es 204

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Praktische Konsequenzen für die Aufgabenstellung in der Bewegungstherapie

nicht das Ziel der Bewegungstherapie ist, eine bestimmte Prozentmarke an körperlicher Leistungsfähigkeit zu erlangen, sondern dass die Welthabe individuell verbessert und gegebenenfalls eine neue Bestimmung gefunden werden soll.

3.5 Praktische Konsequenzen für die Aufgabenstellung in der Bewegungstherapie Im Institut für Ganzheitliche Bewegungstherapie gilt die aktive Bewegung als wichtigstes Heilmittel zur Gesundheitsförderung (vgl. Meyer-Abich 2010b:60; siehe auch Rütten et al. 2005:7), weshalb es das allgemeine Ziel ist, durch Selbstbewegung und Wahrnehmung die Verfügbarkeit des eigenen Leibes zu erhöhen und hierdurch die Verhältnisstruktur zwischen Mensch und Welt so zu verändern, dass eine individuell optimale soziale Teilhabe und Welthabe ermöglicht wird. Es wird danach gestrebt, dem Patienten in seinen Möglichkeiten Kompetenzen zu vermitteln, die sich an alltägliche Wünsche und Anforderungen anlehnen und an dem alltäglichen gesunden Zur-WeltSein des Menschen orientieren. Die alltäglichen Wünsche und Anforderungen sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich und hängen unter anderem von seinem Alter, seinen Interessen sowie seinem Charakter ab. Während z. B. eine Seniorin mit 70 Jahren wieder mit ihren Freundinnen in den Bergen wandern können möchte, bedeutet eine alltagsrelevante Tätigkeit für den sportbegeisterten 20-Jährigen, wieder leistungsorientiertes Tennis betreiben zu können. Folgende beispielhaften Zielsetzungen könnten je nach Indikation formuliert werden: Schmerzfreies Gehen, rasche Fortbewegung im Rollstuhl, Gehen an einem Vierpunktstock, Erhalten der Greiffunktion bei fortgeschrittener MS, Integrieren des schlaff gelähmten Arms in den aktuellen Leib, Vergrößerung des Handlungsraums durch verbesserte Mobilität, entspanntes und offenes alltägliches Zur-Welt-Sein bei Ängstlichkeit. Die ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie greift, um den Patienten an sein individuelles Ziel zu bringen, u. a. sowohl auf Kenntnisse der Medizin als auch auf solche der Sportwissenschaften zurück. Die didaktische Vorgehensweise bei der Aufgabenstellung innerhalb der Therapieeinheit hängt maßgeblich davon ab, wie das motorische Lernen interpretiert wird. Daher wird nachfolgend beschrieben, welches Verständnis über das motorische Lernen der ganzheitlichen Bewegungstherapie zugrunde liegt. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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3.5.1 Das motorische Lernen aus phänomenologischer Sicht Während sich in der gekonnten Bewegung der Leib in seiner Selbstverborgenheit befindet, drängt sich bei der nicht gekonnten Bewegung das Gegenständliche als Widerstand, das angestrebte Ziel zu erreichen, im Bewusstsein auf (vgl. Buytendijk 1967:63). In dem gekonnten Handeln ist der Akteur nicht von seinem Leib zu unterscheiden, während es beim Nichtkönnen zu einer phänomenal erfassten Diskrepanz zwischen Wollen und Können kommt (vgl. Buytendijk 1967:32; Grupe & Krüger 2007:236 f.; Prohl 2010:226; Waldenfels 1986:168). Hier zeigt sich der spannungsgeladene und dynamisch veränderliche Charakter der Relationalität zwischen Leib und Welt, der zu jeder Zeit die menschliche Existenz durchzieht: In der gekonnten Handlung wird die Aufmerksamkeit des Akteurs nicht auf seinen eigenen Leib gelenkt, sondern es öffnet sich ihm z. B. im Handballspiel eine Lücke in der Abwehr, beim Joggen erlebt er die Natur und die eigene federnde, schwingende und beschwingte Bewegung ist latent wie-von-selbst-geschehen gegeben. In solchen Momenten hat der Akteur keine sich sträubenden Glieder und keinen Körper; er ist Leib. Hier wird die Leib-Welt-Einheit erlebt, die es erlaubt, ganz in der Situation aufzugehen, sich der Welt hinzugeben und sich ihr voll intentional zuzuwenden (Buytendijk 1972:279 ff.; vgl. Gröben 2000: 67; vgl. Leist 1993:280; Prohl 2010:226 f.). Ist eine Bewegungshandlung hingegen ungewohnt und noch nicht gelernt oder durch eine gesundheitliche Beeinträchtigung nicht mehr gekonnt, widersetzt sich der Leib als Hinderungsgegenstand dem Ich und zieht die Zentrierung auf sich. »Krankheit wird als Entfremdung vom eigenen Leib und als Hervortreten des Körperhaften aufgefaßt« (Seewald 1996:39). Wenn z. B. die Hand nicht dem Willen gehorcht, ist sie wissentlich, d. h. im Denken, zwar die eigene, dennoch hat sie einen deutlichen Fremdheitscharakter 68 (vgl. Buytendijk 1967:72). Mit Plessner (2003a:238 ff./VII) gesprochen, prominiert in der doppeldeutigen Existenz des Menschen nun nicht mehr das unsichtbare und fungierende Leibsein, sondern das gegenständliche Leibhaben (vgl. auch Fuchs 2006b:345 f.; vgl. Gröben 2000:63; Grupe & Krüger 2007: 237 ff.; Prohl 2010:227). In diesen Momenten wird sich von der Welt Zwar besitzt der Leib zu jeder Zeit einen Charakter des Fremden, da er nie absolut transparent ist (Merleau-Ponty 1974:404; Zahavi 2007:74, 85), jedoch wird im NichtGehorchen der Fremdheitscharakter einschneidend und bewusst erlebt.

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abgewandt und sich der eigenen Bewegung und dem eigenen Leib zugewandt, weshalb dieser seinen vorichhaften, unsichtbaren und präreflexiven Charakter verliert. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Welt (wie der Leib in der gekonnten Bewegung) verschwindet, stattdessen wird sie durch die Tatsache, dass sie nun nicht verfügbar ist, ebenfalls als sich sträubend, als Widerstand zum eigenen Ich erlebt. Durch den qualitativ veränderten Umgang zwischen Mensch und Welt kommt es zu einer erhöhten Entdifferenzierung (vgl. v. Weizsäcker 1990:602, 614/III). Plügge (1967:10 ff.) stellt hierzu fest, dass insbesondere das Nicht-mehr-Können auch als negative Veränderung der Welt aufgefasst wird. Es ist von den Betroffenen dann nicht deutlich zu unterscheiden, ob sie selbst müde sind oder das Gewicht schwerer ist. Wenn die körperliche Leistungsfähigkeit z. B. durch Alterungsprozesse oder Behinderung vermindert wurde, wird also nicht unbedingt der Leib als schwächer, sondern die Welt als schwerer, weiter, größer, anstrengender erlebt. Dies hat seinen Grund darin, dass nicht der Leib und die Welt voneinander abgegrenzt sind, sondern dass die Welt und der Leib stetig gegenseitig aufeinander wirken (Kapitel 1.3), sodass ein veränderter Leibbezug stets mit einem veränderten Weltbezug einhergeht (Grupe & Krüger 2007:239). Eine neue Bewegungshandlung ist zunächst so strukturiert, dass Bewegungen und Teilbewegungen zu bestimmten Effekten führen. Es findet eine Aneinanderreihung von zunächst wenig zusammenhängenden Bewegungssegmenten statt, die im Laufe des Bewegungslernens zu einer summenartigen Folge und später zu einer untergliederten Folge verschmelzen. Schließlich wird die Bewegungshandlung als Einheit erworben, die durch das intendierte Ziel, d. h. final strukturiert wird (Gröben 2000:92). Durch das motorische Lernen kann die Bewegungshandlung in eine zunehmend entferntere Zukunft vorentworfen werden und gestalthafter und damit harmonischer gespürt werden. Während in der ungekonnten Bewegung die Einzelbewegungen bewusst durchgeführt werden, führt die vergrößerte Weite des Vorentwurfs dazu, dass lediglich einzelne Knotenpunkte innerhalb der Gesamtbewegung beachtet werden müssen. Die Bewegungen dazwischen gelingen dann wie von selbst (Prohl 2010:277 f.; Gröben 2000:92 ff.). Die gekonnten Bewegungen sind Bewegungsgestalten, durch die das gegebene Ziel auf unterschiedliche Weise erreicht werden kann und bei denen die Streuung des Bewegungsziels weniger ausgeprägt ist als die Bewegungen der einzelnen Glieder (vgl. Loosch 1999:50 ff.; Loosch et al. 1996:48 f.). Motorisches Lernen ist also weAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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niger zu verstehen als Neubildung oder Festigung eines Bewegungsprogramms, sondern vielmehr als Neustrukturierung des Leib-WeltVerhältnisses (vgl. Merleau-Ponty 1974:28; 1976:30 ff.). Es ist anders ausgedrückt der individuelle Erwerb eines überdauernden Wissens von Möglichkeiten, den gestellten Aufgaben Genüge zu leisten und Bewegungsprobleme lösen zu können (Prohl 2010:339). Als erlernt gilt eine Bewegung, »wenn der Leib sie verstanden hat, d. h., wenn er sie seiner ›Welt‹ einverleibt hat« (Merleau-Ponty 1974:168). Je länger sich der Akteur mit dem Problem beschäftigt, desto mehr Lösungsstrategien werden erarbeitet und desto mehr tritt die Widerständigkeit des Leibes zurück. Die Bewegung wird zur leiblichen Verbindung zur Welt und ihren Dingen (Gröben 2000:67; Grupe & Krüger 2007:234 ff.). Das neue qualitativ als harmonisch erlebte Leib-Welt-Verhältnis bildet sich durch den Übungsprozess und dem hierin stattfindenden qualitativen Wertbewusstsein im Tun (siehe Kapitel 1.3.1.2). Hierbei werden innerhalb eines Suchraums zunächst adäquate Bewegungsweisen aktiv konstituiert, die sich im Verlauf des Lernprozesses als Bedeutungsrelation sedimentieren (z. B. Ball als Wurfgelegenheit, der Untergrund als sichere Möglichkeit der gehenden Fortbewegung). Diese sedimentierten Lösungsstrategien mit ihren entsprechenden Merkmalen sind in der gekonnten Bewegung implizit repräsentiert, so dass ihr Fehlen bzw. Verfehlen gerade bei hochgeübten Handlungen unmittelbar auffällt (z. B. fehlerhafte Ausführung eines Dartwurfes) (vgl. Leist 1993:317 f.). Das Ziel einer Bewegung ist nicht das Produkt einer Berechnung oder einer detaillierten kognitiven Vorstellung, d. h. eines genauen Plans, der sukzessive bewusst abgearbeitet wird. Stattdessen ist es auch in präzisen Bewegungsweisen ein mehr oder weniger diffuses »Dorthin«, das vorichhaft und wie von selbst vermittels des Leibes verwirklicht wird (Buytendijk 1972:280; Christian 1963:33). Das Gefühl einer harmonischen und gelingenden Bewegung korrespondiert mit der Verwirklichung von ungewussten mechanischen Prinzipien. »Es scheint nun, daß eine symmetrische Gleichläufigkeit besteht zwischen der Ordnung des Tuns und der Ordnung der mechanisch objektivierbaren Exaktheit der Tat« (Christian 1963:24). Christian (ebd.:21 ff.) hat die Verwirklichung mechanischer Prinzipien mithilfe des Wertbewusstseins im Tun anhand seines bekannten Glockenbeispiels (siehe Kapitel 1.3.1.2) erklärt. Das Wertbewusstsein ermöglicht das motorische Lernen, indem die Verwirklichung von mechanischen Prinzipien qualitativ als 208

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Praktische Konsequenzen für die Aufgabenstellung in der Bewegungstherapie

passend, als gelungen, als »wie aus einem Guß« (ebd.:26) erscheint, während deren Verletzung als hölzern oder misslungen, zu schwach, zu weich, zu früh etc. scharf empfunden wird (ebd.). »Die koordinativ richtige Durchführung tritt dabei als höherer Wert ursprünglich, gleichsam von selbst entgegen. Keine Wahl entscheidet zwischen verschiedenen Formen der Durchführung, und das Gefühl des Richtigen oder Falschen ist evident« (ebd.:24). Wenn die Bewegung als Bewegung verschwindet, entfalten sich erst die Wahrnehmungsinhalte der Welt. So konnte in einem Experiment bestätigt werden, dass die intendierte Leistung (Zielwurf) abnahm, wenn sich der Akteur auf bestimmte Geschwindigkeitsabfolgen der Hand konzentrieren musste (ebd.:30 f.). Weder das objektiv richtige Ergebnis noch die bewusste Befolgung objektiver mechanischer Gesetze, sondern das Sich-Hingeben an ein Bewegungsgefühl führt zu einer gelungenen Bewegung (Leist 1993:280). Das bedeutet, je ungebundener sich ein Wollen und Tun verwirklichen lässt, desto exakter gestaltet sich die Leistung hinsichtlich des äußeren Erfolgs und hinsichtlich der variablen inneren Regulation. Durch variantenreiches und häufiges Üben, in dem ein Suchraum zur Erfahrung und Bewältigung unterschiedlicher Bewegungsprobleme gesetzt wird, kommt es zu einer immer gelungeneren Bewegungsweise. Mit der Berücksichtigung der gestalthaften Wahrnehmung des eigenen Leibes und des Wertbewusstseins im Tun lässt sich das Abfangen eines plötzlichen Sturzes wie folgt beschreiben: Die Stellung des Leibes und der Glieder ist zu jeder Zeit präreflexiv gewusst und muss nicht kognitiv synthetisiert oder berechnet werden. »In Wirklichkeit habe ich die Konklusionen, ohne daß die Prämissen irgendwo gegeben waren« (Merleau-Ponty 1976:32). Der Leib ist ein Gestaltphänomen, das sich im Sturz in die Zukunft entwirft und während des Sturzes vorbewusste und werthafte Bewegungsgestalten als ganzheitliche Abroll-, Krümm-, Drehbewegung etc. vollzieht. Der Leib des Könners schmiegt sich in der gegenwärtigen Situation, die durch die größere Weite des Vorentwurfs als verlängerte Gegenwart zu verstehen ist, variabel als Leib-Gestalt in die Welt-Gestalt zu einer harmonischen Leib-Welt-Einheit. Eine gekonnte Abrollbewegung bedarf einer vorherigen und variantenreichen Auseinandersetzung des Leibes mit der Welt, um eine präreflexiv greifende Formstruktur zu fördern, die mit zunehmender Erfahrung sedimentiert. Das Zur-Welt-Sein in der Bewegungshandlung gelingt also nicht durch die intellektuelle Erfassung des eigenen und fremden objektiAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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ven Körpers zum objektiven Raum, sondern durch den fungierenden Leib als Medium zur Erfassung von Bedeutungsrelationen und der Verwirklichung meiner Intentionen in Bezug zur Welt (MerleauPonty 1974:172 f.; vgl. Tamboer 1994:36). So kann ein geübter Organist nach kurzer Einarbeitungszeit mit jeder Orgel spielen, auch wenn sie mehr oder weniger Klaviaturen aufweist und eine andere Anordnung der Register vorliegt als bei dem gewohnten Instrument. Die Einübung entspricht hierbei nicht dem Erstellen eines genauen Plans der objektiven Orte der einzelnen Orgelteile. Stattdessen verleibt sich der Organist Richtungen und Dimensionen ein, so dass ihm während des Konzertes Klaviaturen, Regale und Register als Vermögen verschiedener emotionaler oder musikalischer Werte gegeben sind. Ihre Stellungen im Raum sind dann Orte des Erscheinens der verschiedenen Werte (Merleau-Ponty 1974:175). Das Können eines Tastaturschreibens oder Orgelspielers bedeutet also weder, dass sich der Akteur bedingte Reflexe angeeignet hat, noch dass er zahllose Bewegungsprogramme für jeden Buchstaben, jede Taste, jedes Register unterschiedlicher Geräte erworben und gespeichert hätte. Die hier beschriebene motorische Gewohnheit ist aus phänomenologischer Sicht vielmehr »ein Wissen, das in den Händen ist, das allein der leiblichen Betätigung zur Verfügung steht, ohne sich in objektive Bezeichnungen übertragen zu lassen« (ebd.:174). Motorisches Lernen heißt also, den Raum der Gegenstände in den eigenen leiblichen Raum zu integrieren und umgekehrt. Computertasten sind deshalb nicht nur Knöpfe, die einzelne Buchstaben hervorbringen, sondern sie sind aus phänomenologischer Sicht mein leiblich vermitteltes bedeutungshaftes Vermögen, meine Gedanken zeitlich zu fixieren. 69 Der Handballspieler konzentriert sich nicht mehr darauf, den Ball des Mitspielers zu fangen, um ihn dann bewusst auf das Tor zu werfen, sondern er kann bereits vor dem eigentlichen Fangen den sich öffnenden freien Raum in der Abwehr als »Durchschlagstelle« erfassen, um das Ziel des erfolgreichen Wurfes vorauszunehmen; der Leib ist sich selbst vorweg (Fuchs 2006b:337). Hierbei sind dem Akteur die objektiv vorhandenen Hände und Arme phänomenal ebenso wenig

Wenn ich später meine eingegebenen Begriffe wie Baum, Haus etc. lese, erscheint in meinem Bewusstsein weder eine Buchstabenreihe noch eine abstrakte Begriffsgestalt, die ich intellektuell »übersetzen« muss, sondern es erscheint der Baum, das Haus selbst. Phänomenal schaue ich also durch die Einzelbuchstaben und die Gestalten hindurch und sehe die beschriebene Welt unmittelbar vor mir.

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Praktische Konsequenzen für die Aufgabenstellung in der Bewegungstherapie

gegeben wie die Beine, die in der Spielsituation seine »Bewegungsintention nach unten hin verlängert« (Merleau-Ponty 1974:176). Wenn die phänomenalen Gliedmaßen als intentionale Fäden angesehen werden (ebd.:131), so entspricht der Ball einer Erweiterung dieser Fäden, die ab der Einleibung des Balls bereits vor dem eigentlichen Fangen aufgebaut wird und die nach dem Erfolg oder Misserfolg, also mit der intentionalen Abwendung, wieder gelöst wird. Der Leib verlängert sich während dieses gesamten Wurfhandlungszeitraums in das Bewegungsziel (vgl. Seewald 1996:30). Das Bewegungskönnen führt dazu, dass, obwohl sich die Entfernung zwischen dem menschlichen Körper und dem Ziel physikalisch betrachtet nicht ändert, phänomenal das Ziel in Bezug zum eigenen Leib »wirknäher« erscheint. Es hat nun nicht mehr den Charakter des Entfernten, Fremden, kaum Erreichbaren und Nicht-Habbaren, sondern präsentiert sich als Nahes, Bekanntes, unmittelbar Beeinflussbares, zu Erreichendes. Die Welt in der individuellen Situation ist durch das motorische Lernen für den Akteur gefügiger geworden und führt zu einem optimierten biologischen Akt zur Erreichung des Ziels, das nun zeitlich weiter in die Zukunft entworfen werden kann (s. u.) (Gröben 1995:140 ff.). Es ist das Ziel der ganzheitlichen Bewegungstherapie, dass Wille und Können eine Einheit werden und dass die Ich-Zentrierung in eine Weltzentrierung überführt wird. Die zuvor fremde Welt soll wieder heimisch werden.

3.5.2 Charakteristika der alltagsorientierten Bewegungsaufgaben Jede in der Ontogenese erworbene gesundheitliche Not geht mit einer Entfremdung des eigenen Leibes einher, die sich in einer Entfremdung der materiellen und sozialen Welt manifestieren kann. Es ist die Aufgabe der Bewegungstherapie, den mit der gesundheitlichen Störung einhergehenden Charakter des Leibhabens während des Alltags in den des Leibseins zurückzuführen, um die Welthabe und hiermit einhergehend das Wohlbefinden des Patienten zu verbessern. »Das Leben [in der Therapie, M. U.] sollte [daher] ein Spiegelbild des Lebens in der Welt werden« (v. Weizsäcker 1990:609/III). »Die Tätigkeit der Kranken ist nicht auf eine energetische Leistungssteigerung ausgerichtet, sondern auf eine Gewöhnung an die freie Bewegung im Alltag, im Benehmen, Spiel, im Sport und im Beruf organisiert« (ebd. 1986b:370 f./VI). Aus den Merkmalen des alltäglichen Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Zur-Welt-Seins können also Prämissen des praktischen therapeutischen Vorgehens abgeleitet werden, da die Bewegungsaufgaben so gestellt werden müssen, wie sie grundsätzlich auch im wirklichen und alltäglichen Leben auftreten können. 1. Im Alltag wird niemand von außen bewegt, sondern die Menschen bewegen sich selbst aus sich heraus. 2. Im Alltag werden Handlungen vom Ziel her bestimmt, eine detaillierte Anweisung zur Bewegungsabfolge gibt es nicht. 3. Die Bewegung wird im Alltag in der phänomenalen zeitüberspannenden Gegenwart konstituiert und erlebt. 4. Im Alltag werden keine neutralen Bewegungen als Teilbewegungen ausgeführt, sondern sinn- und bedeutungshafte Bewegungsgestalten. Die Welt wird durch Selbstbewegung wahrgenommen und es wird sich in der Welt wahrnehmend bewegt. 5. Die alltägliche Kohärenz als Umgang von Mensch und Welt (beides verändert sich fortlaufend) wird ermöglicht durch den Funktionswandel und dem damit einhergehenden Leistungsprinzip. Gekonnte Bewegungen zeichnen sich deshalb durch erhöhte Variabilität aus. 6. Im Alltag treten keine geführten einachsigen und eindimensionalen Bewegungen auf, sondern es finden stets dynamische Bewegungen statt, bei denen veränderliche und verschieden verlaufende Kräfte wirken, welche entsprechende dreidimensionale unwillkürliche Kompensationsbewegungen erforderlich machen. 7. Im Alltag verändern sich die Situationen ständig. 8. Im Alltag ist der Handelnde bei den Sachen in der Welt und nicht auf seine Bewegung konzentriert. 9. In gelingenden Handlungen des Alltags wird keine Trennung von Körperlichem und Seelischem erlebt. 10. Der Alltag ist geprägt von sozialen Interaktionen verschiedenster Art. 11. Im Alltag werden Aktivitäten bevorzugt, die Freude und Spaß bereiten. Aus den gewonnenen Erkenntnissen der letzten Kapitel lassen sich folgende neun Charakteristika der Bewegungsaufgaben ableiten, die in der Bewegungstherapie berücksichtigt werden müssen. Bei den Punkten 2 bis 8 handelt es sich um Tendenzen, die zwar grundsätzlich anzustreben sind, von denen jedoch entsprechend der Situation des Patienten mehr oder weniger abgewichen werden kann. Es handelt 212

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sich hier also nicht um rigide Dogmen, sondern um Spielräume, die allgemeine Richtungsweisen für das Lehren von Bewegungen innerhalb der Bewegungstherapie aufzeigen sollen. Punkt 1 hingegen beinhaltet ein stets umzusetzendes Prinzip, während Punkt 9 allgemeine praktische Bezüge zur Sportwelt aufzeigt. Als grundsätzliche Orientierung jeder Bewegungsaufgabe gelten Aufgaben und Situationen, wie sie auch im Alltag vorkommen und bewältigt werden müssen.

3.5.2.1 Prinzip der angemessenen Bewegungsaufgaben Das Prinzip der angemessenen Bewegungsaufgaben ist unhintergehbar. Es besagt, dass stets die besondere Situation des Patienten (z. B. körperliche Leistungsfähigkeit, Angst vor Wasser oder Höhe, wenig Selbstvertrauen, Niedergeschlagenheit etc.) berücksichtigt werden muss und dass nur Aufgaben zu stellen sind, die keine Verletzungen oder andere gefährliche Störungen des Organismus hervorrufen. Es sind darüber hinaus solche Bewegungsaufgaben zu stellen, die einen Trainingseffekt im Sinne einer verbesserten Anpassung an die Anforderungen des Alltags hervorrufen. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass der kleine Raum, der in diesem Buch der Naturwissenschaft gewidmet ist, nicht ihre bedeutende Rolle für die Bewegungstherapie widerspiegelt. Denn um zu wissen, wie der menschliche Körper mit seiner Naturgesetzmäßigkeit auf Einflüsse aus der Umwelt reagiert, sind z. B. biomechanische, physiologische sowie trainingstheoretische Kenntnisse unabdingbar. Über das Wissen von physikalischen Gesetzmäßigkeiten hinaus muss der Therapeut das Können des Patienten richtig einschätzen und in der Lage sein, sich in den Patienten hineinzuversetzen, da utopische Leistungserwartungen zu Frustration und einem Absinken der Motivation führen. Denn der Mensch tritt, so Christian (1963:23), stets mit der Einstellung an eine Aufgabe heran, mit ihr aus seiner Sicht positiv, passend, es richtig machend umzugehen (siehe Kapitel 1.3.1.2). Andererseits dürfen die Aufgaben nicht zu einfach sein, da sonst kein Anpassungs- und Trainingseffekt erzielt wird und die Gefahr besteht, dass der Patient sich unterfordert fühlt (vgl. ebd.:43). Um die Angemessenheit einer Aufgabe gewährleisten zu können, ist es notwendig, auch während der Aufgabenausführung improvisierend einzugreifen. Der Therapeut muss in der Lage sein, sich innerhalb kürzester Zeit auf das Befinden des Patienten Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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einzustellen. Wurde z. B. eine Therapieeinheit konzipiert, die verschiedene schnelle Bewegungen des Rumpfes erfordert, der Patient jedoch berichtet, dass ihn seit kurzem starke Rückenschmerzen plagen, ist die komplette Einheit umzustrukturieren. Darüber hinaus ist es häufig notwendig, auch während der Ausführung einer Bewegungsaufgabe Zielvorstellungen zu modifizieren, nämlich dann, wenn sich die Aufgabe als zu schwer oder zu leicht erweist. Für eine Beurteilung der Angemessenheit einer Aufgabe ist es für den Therapeuten unerlässlich, das Verhalten des Patienten deuten zu können. Aufgrund der exzentrischen Positionalität des Menschen (Plessner 2003b:190 ff./VIII), ist der Patient zur Scham fähig. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion in Verbindung mit dem Gefühl, selbst exponiert und der objektivierenden Wahrnehmung durch andere ausgesetzt zu sein, kann als unangenehm empfunden werden und drückt sich dann in einem unwillkürlichen schamhaften leiblichen Ausdruck der eigenen Verunsicherung, wie z. B. der Gesichtsröte, aus (vgl. Frick 2009:143). Um eine drohende Scham zu vermeiden, kann der Mensch Täuschungen anwenden. Es kann daher vorkommen, dass ein Patient nicht als »Schwächling« dastehen möchte und deshalb zur übertriebenen Verdrängung seines Missempfindens, wie z. B. Erschöpfung oder Schmerz, neigt. Der Therapeut muss dann in der Lage sein, Zeichen wie schwere Atmung, Mimik, Schweiß, Gesichtsröte, Stöhnen, unkoordinierte Bewegungen etc. unabhängig von den Äußerungen des Betroffenen richtig einzuschätzen und entsprechend das Aufgabenniveau anzupassen. Besonders, wenn Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungsarten und damit einhergehend mit unterschiedlichsten Leistungsmöglichkeiten und Zeichen des Nichtmehr-Könnens betreut werden, sind präzise theoretische Angaben von Aufgaben, deren Wiederholungszahlen und der exakten Deutung der Zeichen etc. nicht möglich. Der Therapeut muss dann im praktischen Miteinander mit dem Patienten in einen Umgang gehen, in dem beide offen sind für verbale und nonverbale Zeichen, die es zu deuten gilt. Bewegungsaufgaben dürfen nicht nur für den Therapeuten, sondern müssen genauso für den Patienten einsichtig und sinnvoll sein (Loosch 1997:15 ff.). Aus Sicht des Patienten sinnlose Aufgaben bereiten keine Freude, führen zu negativen Emotionen und lustlosem Ausführen der Bewegungen (vgl. Leist 1993:47; Loosch 1993:29). Damit der Patient den Zweck einer Aufgabe verstehen kann, ist es nötig, die angestrebten Ziele auf handlungsrelevante Bereiche des Alltags 214

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zurückzuübersetzen (vgl. Tamboer 1997a:35). In diesem Kontext müssen drei unterschiedlich eng am Alltag orientierte Bewegungsaufgaben unterschieden werden: 1. Unmittelbar-konkrete Aufgaben: Hier werden genau die Bewegungshandlungen ausgeführt und geübt, die auch im Alltag vorkommen (Gehen auf dem Rasen, Treppensteigen, Fahren auf einem Fahrrad). 2. Unmittelbar-abstrakte Aufgaben: Da es das Ziel der Bewegungstherapie ist, als Spiegelbild des Alltags dessen Anforderungen immer wieder zu entsprechen, die meisten Alltagshandlungen in der Übungsstätte jedoch nicht identisch aufgegeben werden können, müssen diese in der Therapie imitiert werden. Es werden dieselben Leistungen verlangt, jedoch mit anderen Gegenständen als den Alltagsgegenständen: Schwimmen im Bewegungsbad entspricht beispielsweise dem Schwimmen in einem See. Das Gehen auf der Matte entspricht dem weichen, unebenen Untergrund einer Wiese. Das Gehen im Slalom um schwingende Taue imitiert das Ausweichen vor plötzlich auftauchenden Hindernissen. 3. Mittelbar-abstrakte Aufgaben: Solche Bewegungshandlungen finden gewöhnlicherweise nicht im Alltag des Patienten statt, verbessern jedoch das Leib-Welt-Verhältnis durch variantenreiche Auseinandersetzung zwischen Mensch und Umwelt. Dieses verbesserte Leib-Welt-Verhältnis wirkt auch in Alltagssituationen: Das Klettern über einen großen Kasten verbessert z. B. die Körperstabilität und das Leibgefühl. Beides ist z. B. für das Gehen, Laufen oder bei ruckartigen Auslenkungen des Körpers wichtig. Das Schwingen an Ringen fördert die Stabilität und Kraft insbesondere des Schulter- und Armbereichs, aber auch des Rumpfes. Rumpf, Arme, Schultern werden im Alltag ständig benötigt, so beim Aufstehen aus der Liegeposition, beim Abfangen eines Sturzes oder beim Aufstützen. In der Bewegungstherapie werden Komponenten des Alltags abstrahiert, um gezielt geübt zu werden. Das Werfen und Fangen von zwei Bällen mit einem Partner kommt zwar nicht in Alltagssituationen vor, jedoch wird hiermit die Simultankoordination und die Sukzessivkoordination geübt. Es werden insgesamt Bewegungsaufgaben gestellt, die verbesserte Voraussetzungen für die Alltagsbelastungen schaffen. Dieselben Übungen können in Abhängigkeit zu den Alltagsverrichtungen des Patienten unterschiedlichen Kategorien zugeordnet werden: Das Aufheben und anschließende Werfen eines Basketballs ist für einen Basketballspieler eine unmittelbar-konkrete Aufgabe. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Für den Bauarbeiter, der dieselbe Bewegung täglich durchführen muss, dies allerdings mit anderen Gegenständen wie Steinen, ist sie eine unmittelbar-abstrakte Übung. Für den Büroangestellten, der eine solche Bewegung in seinem Alltag nie durchführt, ist diese für ihn mittelbar-abstrakte Aufgabe ebenfalls sinnvoll. Durch sie kann er z. B. seine Beweglichkeit verbessern, seinen Rumpf kräftigen und seine Hand-Augen-Koordination trainieren.

3.5.2.2 Tendenz zur aktiven Selbstbewegung Der Einbezug evolutionstheoretischer Erkenntnisse (siehe Kapitel 3.4.1) hat für die Vorgehensweise in der Bewegungstherapie eine maßgebliche Bedeutung. Der Mensch hat sich im Laufe seiner Phylogenese an die damals gegebenen Umstände angepasst. Dies bedeutet umgekehrt, dass der Patient entsprechend seinen individuellen Möglichkeiten diesen ursprünglichen Lebensbedingungen ausgesetzt werden muss, um gesundheitsfördernd zu wirken (vgl. Meyer-Abich 2010a:68). Da sich der Mensch bis zur Industrialisierung vor ca. 180 Jahren hauptsächlich ohne technische Verstärker selbst bewegen musste, sind insbesondere Übungen aufzugeben, die der Patient ebenfalls durch Selbstbewegungen lösen muss. Um alltagsorientiert zu arbeiten, sind Aufgaben ebenfalls nicht in bzw. an starren Trainingsgeräten 70 durchzuführen, in denen lediglich unnatürliche, geführte einachsige und eindimensionale Bewegungen möglich sind. Um die ursprünglichen und auch gegenwärtig auftretenden Alltagsbelastungen zu imitieren, werden stattdessen Übungen mit in Turnhallen und Schwimmhallen befindlichen üblichen Sportgeräten in verschiedensten Kombinationen angeboten. Mit diesen Low-TechGeräten 71 lassen sich beliebig viele und variantenreiche auf den Patienten individuell zugeschnittene Bewegungsaufgaben konzipieren Hier wird sich insbesondere auf Kraftmaschinen bezogen. Insbesondere die Verwendung von »Low-Tech« irritiert häufig Patienten, die es gewohnt sind, die neuesten und innovativsten technischen Geräte zu benutzen (vgl. Braumann & Stiller 2010:101; vgl. Lown 2012:105). Ihnen muss nahegebracht werden, dass in der ganzheitlichen Bewegungstherapie die ursprünglichen Belastungen, durch die sich der Mensch so entwickelt hat, wie er sich heute darstellt, berücksichtigt werden. Allerdings werden auch z. B. Fahrradergometer und Stepper in die Therapie mit einbezogen, da hiermit auch gleichgewichtsunsichere Patienten risikolos ein Herz-Kreislauf-Training durchführen können.

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(siehe Kapitel 3.5.2.5 und 3.5.2.9). Die Besonderheit der ganzheitlichen Bewegungstherapie besteht also nicht in der Nutzung der neuesten Technik, sondern in ihrer Rückbesinnung auf das im aktuellen technikaffinen Zeitalter in Vergessenheit geratene originäre ZurWelt-Sein des Menschen und dem Bestreben, diesem zu entsprechen, um es zu üben und hiermit zu fördern. Die Selbstbewegung ist in der Bewegungstherapie also eine wichtige Kompensation des durch die Kultur (technische Hilfen wie PKW, Fahrstuhl etc.) oder durch die individuelle Beeinträchtigung provozierten Bewegungsmangels zu verstehen (vgl. Grupe & Krüger 2007:244). Sie ist nicht nur ein »netter Ausgleich«, sondern die Ermöglichung einer Annäherung an die ursprüngliche und gegenwärtige gesunde Lebensweise des Menschen. Insbesondere für Personen, die durch ihre Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, sich im Alltag aufrecht gehend fortzubewegen, ist die Bewegungstherapie eine uneingeschränkt notwendige Maßnahme. Die Notwendigkeit hierzu ergibt sich aus der erzwungenen permanenten sitzenden Körperhaltung und dem daraus erzwungenen massiven Bewegungsmangel. Vor dem Hintergrund, dass sich der aufrecht gehende Mensch im Alltag nicht nur auf einer ebenen Fläche vorwärts bewegt, sondern auf unterschiedlich festen Untergründen mit unterschiedlichem Gefälle geht, dass er Gegenstände trägt, sich nach vorne beugt, um etwas zu erreichen, sich streckt und bückt, Treppen steigt, Hindernisse überwindet etc., sind die Trainingsreize während des Alltags bereits für einen Büroangestellten, der keinen Sport treibt, bedeutend höher als für einen Rollstuhlfahrer. Mit dem Bewegungsmangel gehen verschiedene Gesundheitsgefahren einher, wie z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krankheiten des Bewegungsapparates wie Arthrose oder Osteoporose (vgl. Braumann 2006:18 ff.; Froböse 2007:6 ff.). Wenn bedacht wird, dass der Bundesverband für Gesundheitsinformation und Verbraucherschutz (Froböse 2007:3) empfiehlt, täglich 10.000 Schritte zu gehen, so wird die große gesundheitliche Bedeutung der Bewegungstherapie für einen Rollstuhlfahrer, den erzwungenen Bewegungsmangel zu kompensieren, deutlich. »Bewegungen sind praktisch die einzigen direkten Einwirkungsmöglichkeiten des Menschen auf seine Umwelt. Sie sind untrennbar verwoben mit jenen Absichten, Wünschen und Bedürfnissen, mit denen sich das Subjekt auf seine Umgebung und auf sich selbst bezieht« (Loosch et al. 1996:43). Deshalb ist Prohl (1996:94) der Meinung, dass »die Fähigkeit, sich zu bewegen […], ein Grundphänomen des Lebens schlechthin [ist]. Dementsprechend ist auch das menschliche Dasein Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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ohne ›Bewegung‹ nicht denkbar«. Das alltägliche Zur-Welt-Sein wird in jeder Hinsicht erst durch Selbstbewegung und der damit einhergehenden Wahrnehmung möglich; Bewegen und Wahrnehmen ist ein Brot essen, Wasser trinken, zur Arbeit gehen, im Auto fahren, ein Lied singen, Schach spielen, sich mit jemandem streiten, mit jemandem tanzen, mit einem Stift schreiben, auf einer Tastatur schreiben etc. Die menschlichen Grundbedürfnisse und die Bedürfnisse nach sozialer Anerkennung und Selbst-ver-wirk-lichung sind nur möglich, wenn der Mensch selbst auf die Welt wirken kann. Die durch die Therapie verbesserte Möglichkeit, seinen Leib als Mittel zur Welthabe zu nutzen, ermöglicht erst die letztlich angestrebte Selbstbestimmung. In der Bewegungstherapie ist die verbesserte Möglichkeit der Selbstbewegung einerseits das Ziel und gleichzeitig das Mittel zur Verbesserung der Leibverfügung und Welthabe, d. h. zu einer Situation, die für den Patienten wertvoller ist als die, in der er sich zu Beginn der Therapie befand. Es ist fundamental wichtig, diese Selbstbewegung als Bewegungshandlung zu verstehen. Da Bewegungshandlungen teleologisch konstituiert werden, sind in der Bewegungstherapie stets Ziele vorzugeben, die durch eigenes Ausprobieren erlangt werden sollen. Nur durch das selbstständige Wirken und das Spüren der Welt kommt es zur Bedeutungserteilung der Welt und so zu der Möglichkeit, sich mit ihr auseinanderzusetzen, sie zu prägen und zu gestalten, sie sich einzuverleiben und sie heimisch zu machen (vgl. Christian 1963:21; vgl. Leist 1993:249, 289 ff.; vgl. Seewald 2007:21 f.). »Es zeigt sich also, dass Dinge der Umgebung im Zusammenwirken mit aktivem Verhalten – und nur mit diesem – Bedeutung gewinnen. Der aktiv Sich-Bewegende und das Umfeld, in dem er handelt, sind in einer sich gegenseitig bedingenden Einheit verbunden« (Prohl 2010:232). Eine besondere Alltags-Relevanz erhält diese Tatsache für mobilitätseingeschränkte Personen. Es ist uneingeschränkt notwendig, dass sie sich nach Möglichkeit immer wieder selbst fortbewegen und die Situationen und Orte in ihrem Alltag selbst erkunden. Hier ist auf das Katzenexperiment und das Prismenbrillenexperiment von Heldt zu verweisen, die die Notwendigkeit der Selbstbewegung für die adäquate Wahrnehmung der Welt aufgezeigt haben (siehe Kapitel 1.3.1.1). Nur die Bewegungsaktivität fördert die Wahrnehmung und ist durch keine andere Aktivität austausch- oder ersetzbar (Israel 1995:39; vgl. Mertens 2011:241). Bewegungstherapie ist deshalb automatisch Wahrnehmungstherapie und ein wichtiger Beitrag zur Förderung der Raum- und Zeitorientierung sowie 218

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der hierdurch erst möglichen Selbstbestimmung des Patienten. Da eine Kohärenzzerreissung (siehe Kapitel 1.3.1.1 und 1.3.2) im Sinne einer Krise als Schwindel und Unwohlsein auftreten kann (Buytendijk 1967:208; vgl. v. Weizsäcker 1997:55 ff./IV), ist die häufige Selbstbewegung in der Bewegungstherapie insbesondere für Personen, die sich aufgrund ihrer Beeinträchtigung weniger häufig aktiv bewegen können, unbedingt notwendig.

3.5.2.3 Tendenz zum freien Lösungsspielraum Der Mensch ist aus subjektbasierter Sicht ein weltoffenes, freies, spontanes und kreatürliches Wesen, das zur Selbstverwirklichung strebt und soziale Anerkennung sucht (vgl. Fuchs 2006b:334 ff.; vgl. Plessner 2003b:182/VIII; vgl. Prohl 2010:224; vgl. v. Weizsäcker 1997:101 ff./IV). Innerhalb des angemessenen Rahmens sind deshalb offene Bewegungsfelder anzubieten, in denen möglichst wenige Korrekturen von außen als Feedback zu geben sind. Suboptimale, also nicht zielführende und unökonomische Bewegungsabläufe sind unerlässliche Stufen zum Lernen und deshalb nicht als Fehler anzusehen (Prohl 2010:272; Thiele 1990:279). Es muss ein Suchraum geschaffen werden, in dem der Patient das vorgegebene Ziel selbstständig und mit unterschiedlichen Mitteln erreichen kann, um die Möglichkeit zu haben, mit der Welt in einen unterschiedlich strukturierten Umgang zu gehen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Hierdurch kommt es zu einer Stabilisierung der Selbstorganisation in Verbindung mit der Situation und es wird ein Gefühl der erfolgreichen Selbstwirkung erreicht (vgl. Christian 1963:22; Prohl 2010:271 ff.). Innerhalb des Suchraums zeigt Tamboer (1979:17 f.; 1997:242 f.) bezugnehmend auf Gordijn drei Weisen auf, die eine Grenze zwischen Leib und Welt in unterschiedlichem Maß überschreiten: Die direkte Überschreitung beschreibt das alltägliche unmittelbare, spontane und problemlose Eingehen und Umgehen mit der Welt. Merleau-Ponty würde hier von einem präreflexiven Umgang sprechen, bei dem kein explizites Denken über den eigenen Leib oder die Welt erforderlich ist, während Plessner (2003a:238 ff./VII) den gekonnten Zustand als Leibsein bezeichnen würde. Wichtige Eigenschaften dieser alltäglichen präreflexiven Einstellung sind die Selbst-

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verborgenheit und das Sich-Selbst-Vorwegsein des Leibes, so z. B. beim problemlosen Öffnen einer Flasche (vgl. Fuchs 2000:48). Bei der erlernten Überschreitung tritt die Gegenständlichkeit des Leibes als Leibhaben (Plessner 2003a:241/VII) deutlich zutage. Hier sollen Bewegungsaufgaben gestellt werden, die die Konzentration des Patienten erfordern. Bernstein (1986) und Loosch (1993) haben aufgezeigt, dass sich eine gekonnte Bewegung nicht durch eine Fixierung, sondern durch eine erhöhte Variabilität auszeichnet (vgl. auch Fikus 2001:97; v. Weizsäcker 1997:182/IV). Das Variieren verhindert eine starre Kopplung von Bewegungsphasen, Bewegungsteilen und Bewegungsfunktionen und führt zu einer maximalen Handlungsflexibilität. Diese gewährleistet, dass auch neue, unbekannte Situationen optimal bewältigt werden können. Es dürfen somit bei der Aufgabenstellung auch keine fixen Bewegungsabläufe vorgeschrieben werden, sondern es muss eine Freiheit unterschiedlicher und variabler Bewegungshandlungen zur Erreichung des Bewegungsziels gewährt werden. Die Handlungsstrukturen sollten über Extremvarianten ausgereizt werden, damit die Grenzen vom Patienten erlebt werden können, ohne ihn jedoch einer Gefährdung auszusetzen (siehe Kapitel 3.5.2.1). Ein gangunsicherer Patient, der die Neigung hat, nach hinten zu fallen, sollte also nicht nur ein Gehtraining an einer fixen Greifstange durchführen, da er hier nie die Wirkung seines Nach-hinten-Tendierens spüren kann. Stattdessen muss das Gehtraining solche Situationen bieten, in denen der Patient seine fehlerhafte Körperausrichtung während des Gehens erlebt, ohne ihn der Gefahr auszusetzen, tatsächlich zu stürzen. Eine solche Situation könnte mithilfe von Tauen als labile Festhaltemöglichkeit hergestellt werden, da hier ein gewisser Spielraum in der Körperausrichtung erlaubt wird. In der erfinderischen Überschreitung können die neu beherrschten Bewegungen spontan weiter fortgeführt werden. Fremdes und Neues kann nun im spielerischen Umgang hervorgerufen werden, um dieses später als neu Vertrautes und Teil der Eigenwelt immer wieder zu integrieren (vgl. Fuchs 2006b:338; Tamboer 1979:18). In der wiedergewonnenen Einheit von Leib und Welt kann der Patient der Welt problemlos begegnen, um sie erfinderisch und schöpferisch neu zu entdecken (vgl. Tamboer 1997b:243). Das Lehren von Bewegungen ist also ein Vermitteln im handelnden Bewegungsdialog zwischen Subjekt und Welt. Es soll ein vertrauter Umgang, d. h. eine zuverlässige Ordnungsstruktur zwischen Leib und Welt erlangt wer220

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den. In der Bewegungstherapie wird das selbstständige Ausleuchten unterschiedlicher Wege und deren unterschiedlichen Werte zur Erlangung des Aufgabenziels gefördert. Der Weg zum Brunnen ist in diesem Fall nicht lediglich so gut wie der Trunk (vgl. Anders 2002: 100; vgl. Volger 2004:261 ff.), sondern er ist dann auch der Trunk selbst. Die Aufgabe des Therapeuten hierbei ist es, den Patienten »beim Erlernen der ›Überschreitung‹ seiner leiblichen Grenzen zu unterstützen.« (Prohl 2010:270). Während Lehrverfahren, die sich am kybernetischen Lehrkreis orientieren, entweder straff gegliederte Übungsreihen vorgeben oder direkt auf den Übenden belehrend einwirken, tritt in der Bewegungstherapie der Therapeut innerhalb der Problemlösung der offenen Übungssituation als Vermittler oder Moderator in den Hintergrund; er bleibt allerdings »Anwalt der Zweckmäßigkeit« (Leist 1993:290; vgl. auch Prohl 2010:271 f.). Es handelt sich um eine Tendenz zum freien Lösungsspielraum, weil z. B. auch Kräftigungsübungen mit den Freihanteln aufgegeben werden, bei denen die Zweckmäßigkeit und nicht der Spielraum im Vordergrund steht. Auch im Techniktraining (z. B. Rückenschwimmen) muss eine falsche Bewegung immer wieder korrigiert werden. Weiterhin ist der Spielraum nicht absolut frei, sondern in Abhängigkeit von der Sinnhaftigkeit und der Gesundheit begrenzt.

3.5.2.4 Tendenz zu Bewegungsgestalten Bewegungen sind als sinnvolle und zielbestimmte Bewegungsgestalten zu verstehen. Sie sind also nicht willkürlich in Einzelteile zerlegbar, sondern werden teleologisch geprägt und treten als Gesamtheit auf. Es muss daher angestrebt werden, sie über die Zieldefinition der Bewegungsaufgaben in ihrer Ganzheit erfahren zu lassen. Als Kontrastbeispiel zu dieser Auffassung eignet sich das Preussische Schulturnen nach Adolf Spiess im 19. Jahrhundert, bei dem Gesamtbewegungen mechanistisch als Summe von Einzelbewegungen ohne Berücksichtigung von Sinnhaftigkeit und Zielerreichung aufgefasst wurden. Die heute skurril anmutenden Leibesübungen, in denen in monotoner Abfolge immer wieder dieselben Einzelbewegungsmuster ausgeführt werden mussten, verweisen auf die in dieser Zeit ausgeprägte Technikbegeisterung. Ein Aufgabenbeispiel zitiert Prohl (2010:39 f.): »Vorwärtsgehen bei besonders angeordnetem Armdrehverhalten, Armhebeverhalten, Unterarmdrehverhalten, UnterarmAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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beugeverhalten oder Handbeugverhalten.« Es mussten immer wieder Teilbewegungen durchgeführt werden, die sich zu einer vermeintlichen Gesamtbewegung zusammensetzten (Prohl 2010:39 ff.). Hier zeigt sich der Fehler, dass Bewegungshandlungen als Verknüpfungen aus mechanischen Einzelbewegungen missverstanden und nicht als ganzheitliche Selbstbewegung erachtet wurden, die wie erwähnt proleptisch und gestalthaft strukturiert sind (Loosch 1996:48). Derselbe Fehler wird begangen, wenn, wie von Leist (1993:46 f.) kritisiert, für das Hürdensprunglernen lediglich der Absprung geübt wird, da der Hürdenläufer aufgrund der proleptischen Prägung der Bewegungsgestalt bereits den Absprung und die Flugphase anders ausführt, wenn ihm aufgegeben wird, nach der Landung maximal schnell weiterzulaufen. Bewegungsgestalten zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass auch Kompensationsbewegungen etwa zur Gleichgewichtsstabilisierung durchgeführt werden, die dem Akteur nicht bewusst sind. Wenn in der Bewegungstherapie bei Übungen im brusttiefen Bewegungsbad die Rumpfstabilität und gleichzeitig die Kraft der Arme verbessert werden sollen, könnte sich der Patient mit einer Hand auf ein Schwimmbrett stützen und zwar mit der Aufgabe, das Brett Richtung Beckenboden zu drücken, ohne dass er zu der einen oder anderen Seite eine Rumpfbeugung ausführt. Hier werden muskuläre Aktivitäten im Sinne einer Rumpfstabilisierung provoziert, die unbewusst ablaufen. Es handelt sich hier um eine mittelbar-abstrakte Aufgabe. Ein sitzhaltungsunsicherer Tetraplegiker könnte folgende Aufgabe unter Berücksichtigung von Bewegungen als Bewegungsgestalten bekommen: Er soll frei auf einem kleinen Kasten sitzen und bekommt einen Gewichtsstab in beide Hände. Seine Aufgabe ist es nun, den Stab anzuheben und ihn nach rechts, links, vor, zurück etc. zu führen, ohne mit dem Körper »hinterherzukippen«. Hier werden wieder unbewusste Kompensationsmechanismen trainiert, die entsprechende Muskulatur und Koordinationsleistung gestärkt und so der Rumpf stabilisiert. Da sich Funktionen im Verband von Funktionen verbessern, ist eine das Gestaltprinzip berücksichtigende Bewegungsaufgabe einer elementaristischen Aufgabe vorzuziehen, die z. B. den Inhalt hat, im Stehen den hinteren, seitlichen Rumpfbereich anzuspannen, oder die isoliert und eingespannt in einer Kraftmaschine nur eindimensionale Bewegungen, wie sie im Alltag nie vorkommen, zulässt (siehe hierzu auch Erhardt 2003a:13 ff.). Die Tatsache, dass Bewegungshandlungen als Bewegungsgestal222

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ten durchgeführt werden und es hierdurch möglich ist, nicht nur unmittelbar ausgeführte Bewegungen im Sinne eines motorischen Programms zu üben, sondern sowohl unmittelbar als auch mittelbar Aspekte des Leib-Welt-Bezugs gefördert werden, sind auch solche Bewegungshandlungen aufzugeben, die aufgrund der Schwere der Beeinträchtigung voraussichtlich im Alltag nie durchgeführt werden können. Der Sinn, mit einer schwerbeeinträchtigten Person ein Gehtraining im mobilen Gehbarren durchzuführen, ist nicht der, ihn wieder an das eventuell utopische freie Gehen heranzuführen. Stattdessen werden über die aufrechte Gehbewegung die Hüftbeuger gedehnt, die Beinmuskeln gekräftigt, das Herz-Kreislauf-System aktiviert, die Rumpfstabilität verbessert etc. Ein Gehtraining ist also nicht im Sinne der unmittelbar-konkreten Übung (Gehtraining soll Gehen ermöglichen) sondern im Sinne der mittelbar-abstrakten Übung (Gehtraining führt zu Verbesserungen des gesamten menschlichen Organismus und insgesamt des Leib-Welt-Verhältnisses) zu verstehen. Die gleiche Bedeutung kommt den durch das Gehtraining im mobilen Gehbarren geschaffenen Möglichkeiten zu, sich selbstständig aufrecht fortzubewegen, die Therapiehalle bis in jede Ecke als Handlungsraum zu erfassen, anderen Personen im wahrsten Sinne des Wortes auf Augenhöhe zu begegnen, an Gruppenübungen teilzunehmen, die ein Stehen erfordern etc. »Wenn man so etwas wie eine ›räumliche Sozialisation‹ als Möglichkeit und Notwendigkeit menschlichen Zur-Welt-Seins annimmt, dann wird Bewegung in diesem Sinne als Sozialisationsmedium bedeutsam, und dies in vielerlei Hinsicht. Am eklatantesten wohl im Falle pathologisch bedingter Bewegungseinschränkungen oder Behinderungen« (Thiele 1990:294). Somit ist dem Schriftsteller Johann Gottfried Seume (2002:9), der der Meinung war, »daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge«, auch im bewegungstherapeutischen Sinne zuzustimmen.

3.5.2.5 Tendenz zu variablen Aufgaben Der Patient muss sich in der Bewegungstherapie sowie im Alltag den sich ständig verändernden und variantenreichen Situationen mit ständig veränderlichen Bedingungen stellen. 72 Insbesondere mit dem Diese Meinung steht der von Meinel & Schnabel (2007:197) entgegen, die die störungsfreie, gleichbleibende Situation als normal (hier im Sinne von üblich) erachten.

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Thema des variantenreichen Übens hat sich Gordijn (in Tamboer 1979:14 ff.) auseinandergesetzt. Mit seinen Worten beschrieben, muss der Patient immer wieder in einen motorischen Dialog mit der Welt gehen. Er muss sie motorisch befragen und erhält von ihr Antworten in Form von motorischen Bedeutungen. Jemand kann z. B. einen Ball daraufhin befragen, wie er vom Boden abprallt, wenn er fallen gelassen wird oder wie die Matte reagiert, wenn auf ihr gegangen wird. Der Dialog mit der Welt bietet dem Akteur jedoch nicht nur Antworten von der Welt, sondern er erfährt auch Dinge über sich selbst. Wie reagiert sein Leib und somit auch im Falle einer Amputation seine Prothesen, die er sich durch variantenreiches Üben einverleibt hat, auf eine bestimmte Anstrengung? Da der Mensch im Alltag immer wieder einzigartigen Situationen begegnet und da entstehende Fragen und Antworten immer unterschiedlich sind, müssen die Übungen in der Therapie entsprechend variantenreich durchgeführt werden: So wie ich im sprachlichen Dialog meinen Gesprächspartner immer besser kennenlerne, wenn ich zahlreiche Gespräche führe, verschiedene Themen berühre und die Gespräche unterschiedlich geführt werden (Streitgespräch, Diskussion, harmonisches Gespräch), so verhält es sich auch im motorischen Dialog. Je häufiger, unterschiedlicher und variantenreicher die motorischen Dialoge geführt werden, desto mehr kann ich über mich und die Welt erfahren und desto vertrauter werde ich mit meinem Leib und der Welt. Es reicht daher nicht, wenn ich ungefragt von der Welt angesprochen werde. Eine passive Reizwahrnehmung bringt mir die Welt mit ihren Bedeutungsbezügen nicht näher (siehe wieder den Katzenversuch in Ennenbach 1991:25 f.). Der Bewegungstherapeut muss daher auch vor dem Hintergrund alltäglicher und natürlicher Belastungen, in Anlehnung an die menschliche Phylogenese (siehe Kapitel 3.4.1), Bewegungsaufgaben und deren Ziele vorgeben und diese variantenreich gestalten. Hierdurch wird immer wieder die Kohärenz zwischen Subjekt und Welt zerrissen, die über den Funktionswandel neu errichtet wird. Es werden Bewegungsleistungen geübt, die über verschiedene Leitungen erhalten bzw. wiederaufgebaut werden sollen. Hierbei greift die in der Biologie zu beobachtende Nomophilie bzw. Nomotropie. Sie besagt, dass ein Organismus die Vorliebe hat, Leistungen möglichst auf physikalisch sparsame Weise, auf dem nächsten Weg, in der kürzesten Zeit und mit dem geringsten Energieaufwand zu erreichen (v. Weizsäcker 1988:561/IX). Die nomophile Richtigkeit der Bewegungsleistung wird, wie bereits erwähnt, durch das Wertbewusstsein 224

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im Tun vom Patienten gespürt (Christian 1963:42). Es kommt darauf an, durch vielfältige Übungen Erfahrungen zu ermöglichen, wie unterschiedliche Kräfte wirken und wie mit ihnen umgegangen werden muss (siehe Kapitel 3.5.1). Das hierfür benötigte Wertbewusstsein wird durch solche Übungen sensibilisiert und geschult, durch die das Leib-Welt-Verhältnis in eine neue und dynamisch-stabile Ordnungsstruktur überführt werden kann. Neben variantenreichen Aufgaben werden in der Bewegungstherapie auch solche vermittelt, die relativ gleichartig sind. Hierzu zählt z. B. das Ergometertraining. Darüber hinaus werden zu Beginn einer nicht gekonnten Übungsaufgabe wenig oder gar keine Veränderungen eingefügt, um Ängste und ein Misslingen zu vermeiden.

3.5.2.6 Tendenz zur Weltzentrierung Entgegen dem kognitiven Lernen, bei dem Inhalte wie bewusste Einsicht, klare Vorstellung, Abstraktion und Urteile gestaltend wirken (Buytendijk 1972:267), ist es für die gekonnte Bewegung und das Lernen der Bewegung während des Bewegungsvollzugs notwendig, sich der Aufgabe hinzugeben und so das Wertbewusstsein im Tun ohne Reflexion zu erfahren. Wenn das nicht-thematische Fungieren des Leibes die Normalität darstellt, so ist es anzustreben, diese in der Therapie nicht immer wieder künstlich zu zerbrechen, indem die Zentrierung auf die Widerständigkeit des Körpers gerichtet wird. Es »steht […] zu vermuten, daß ein allzu hartnäckiges Thematisieren des Leibes seiner Normalfunktion zuwiderläuft« 73 (Thiele 1990:275). »Eine unreflektierte Handlung gelingt meist besser als eine reflektierte« (Plügge 1967:72). Wird die Konzentration jedoch immer wieder auf den im Hintergrund tätigen Leib gelenkt, besteht die Gefahr des Zusammenbrechens des vorichhaft harmonischen Bewegungsverhaltens. Dieses Phänomen beschreibt Heinrich von Kleist (2001:311 ff.) in seinem Essay Über das Marionettentheater: »Wir sehen, daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschenThematisieren bedeutet hier das explizite Richten der Intentionalität des Patienten auf sich selbst durch den Therapeuten und nicht das von selbst Gerichtetsein des Patienten auf die Bewegungsaufgabe und seinen Leib in der Situation, die er nicht automatisch bewältigen kann (siehe erlernte Überschreitung in Kapitel 3.5.2.3).

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der hervortritt« (ebd.: 319). Das Von-selbst-Gelingen der präreflexiven Bewegung zeigt sich eindrücklich an Tieren, die aufgrund ihrer zentrischen Positionalität sich selbst und ihre Bewegungen nicht explizit zum Thema machen können. Ein Beispiel hierfür lässt sich als Bergziegenphänomen bezeichnen: Bergziegen, die sich an extrem steilen Hängen und mit einem in Relation zu den mit dem Boden in Berührung stehenden Körperteilen hohen Körperschwerpunkt 74 fortbewegen, würden nicht lange überleben, wenn sie sich der permanenten Absturz- und damit Todesgefahr bewusst wären und sie deshalb ihre Bewegungen und ihren Leib in das Bewusstsein bringen würden, sodass es zum Zusammenbruch der von selbst gelingenden harmonischen und situationsadäquaten Bewegungsweisen kommen würde. Dennoch müssen auch gerade solche Bewegungsaufgaben in der Bewegungstherapie aufgegeben werden, durch die der Leib als Gegenstand und gleichzeitig die Welt als widerspenstig erlebt wird. Aus diesem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Entfremdung und Einverleibung der Welt, zwischen dem Hin- und Herschwingen von Selbstentfremdung und Wiedervereinigung des Ichs, des Leibseins und des Leibhabens wird die Zentrierung auf die Welt und damit die Verschmelzung von Leib und Welt für den Alltag erreicht (vgl. Christian 1963:27; vgl. Fuchs 2006b:338; Seewald 1996:38 f.; Prohl 2010:227 ff., 268, 302; vgl. Thiele 1990:275). Daher ist es auch in der Bewegungstherapie notwendig, immer wieder von der WeltZentrierung zur Ich-Zentrierung überzugehen. Wenn über eine längere Zeit eine Bewegung falsch ausgeführt wurde, z. B. infolge einer fehlerhaften Schuhversorgung, ist es die Aufgabe des Bewegungstherapeuten, dies dem Patienten bewusst zu machen. Über die stete Bewusstmachung soll die richtige Bewegung geübt werden, bis sie wieder von allein, also selbstverborgen richtig, d. h. physiologisch gelingt. Diesbezüglich ist eine Unterscheidung zwischen Sich-Verhalten und Handeln zu machen: Jede Bewegungsleistung des Menschen ist eine Verhaltensweise, d. h., ein Subjekt tut etwas mit einem Sinn. Bereits das aufrechte Stehen ist keine Summe aus neutral zur Situation stehenden Reflexen, sondern ein sinnhaftes Verhalten eines Subjekts in Bezugnahme zur Welt (Goldstein 1934:104 ff.; vgl. MerDeshalb ist die Leistung, nicht abzustürzen, höher zu bewerten als die von menschlichen »Freeclimbern«, die durch Muskelkraft den Absturz verhindern, jedoch nicht ihren Körper in Balance halten müssen, da sich der Körperschwerpunkt unterhalb der haltenden Handberührung zum Untergrund bzw. zur Wand befindet.

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leau-Ponty 1976: 11 ff.). Das Sich-Verhalten wird nicht explizit bemerkt oder ist nicht beabsichtigt (Kompensationsbewegungen bei Verlagerung des Körpers, Stehen, Husten). Handlungen hingegen folgen einem Begehren, denen eine mehr oder minder ausgeprägte Überlegung vorausgeht (Kamlah in Gröben 2000:70 f.). Nach einer Versorgung mit einer Hüftgelenkstotalendoprothese kann es z. B. das Ziel der Bewegungstherapie sein, eine bestimmte Bewegungshandlung in ein Verhalten zu überführen. Wenn der Betroffene z. B. stets nur mit großer Konzentration auf seine Bewegungsabläufe vorwärts geht, so soll die therapeutische Intervention dazu führen, dass das Gehen wieder im Verborgenen von selbst ablaufen kann, so dass es dem Patienten auch während des Gehens wieder möglich ist, sich der Welt zuzuwenden. Es findet hier wieder eine Veränderung des Leib-Welt-Verhältnisses statt: Durch eine Subjektzentrierung (beim Gehen-Üben auf die Beinstellung achten), die immer wieder durch Ablenkung bzw. dem Auslassen des Feedbacks unterhöhlt wird, wird die Bewegungshandlung in ein Verhalten umgewandelt (das Gehen geschieht, ohne beachtet zu werden), um wieder weltzentriert agieren zu können. Besonders wichtig ist eine Hinlenkung des Bewusstseins auf den Patienten bei Veränderungen in der Leibwahrnehmung bei einem Neglect, einer Anosognosie oder einer Amputation. Bei einer schlaffen Lähmung von Gliedmaßen kann es ebenfalls zu einer Differenz zwischen aktuellem und habituellem Leib (siehe Kapitel 1.4.3) kommen, nämlich wenn beides zueinander nicht mehr zur syntopischen Deckung kommt (Fuchs 2008:38; 2011:265 f.). Der habituelle Leib entspricht nun nicht mehr dem aktuellen Leib, der von außen betrachtet werden kann. Der habituelle Leib richtet sich stattdessen in der gewohnten Weise an die Welt, in der sich Gegenstände, die als Gegenstände des Hantierens erscheinen, fragend und auffordernd an die gelähmte Hand wenden (Merleau-Ponty 1974:106 f.). Der Leib verkörpert das zuvor bestandene im Leben erworbene Vermögen des Zur-Welt-Seins. Eine Spannung entsteht dann, wenn der Leib nicht mehr in der Lage ist, die Fragen der handhabbaren Gegenstände zu beantworten. Die Täuschung des ursprünglichen habituellen ZurWelt-Seins wird ent-deckt, weshalb eine Ent-täuschung stattfindet, die sich bis zum Hass auf die »Regionen des Schweigens« (ebd.:106) steigern kann. Es ist eine wichtige Aufgabe der Bewegungstherapie, den aktuellen und den habituellen Leib anzunähern, damit eine Akzeptanz des Betroffenen bezüglich seines veränderten Leib-WeltAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Bezugs einsetzt. Eine solche Annäherung ist mit einer häufigen Auseinandersetzung zwischen Leib und der Welt in Form der Selbstbewegung und Wahrnehmung zu erzielen, in der immer wieder der gelähmte Arm in die Bewegungsaufgaben einbezogen werden muss (vgl. Christian in Ennenbach 1991:76). Insbesondere der Einbezug des gelähmten Bereichs (z. B. Heben beider Arme, wobei die funktionierende Hand die Hand der gelähmten Seite greift und mit in die Luft hebt), muss immer wieder von außen eingefordert werden. Durch den steten Einbezug der gelähmten Gliedmaße wird eine rigide Verdrängung der Region des Schweigens vermieden und stattdessen als solche in den habituellen Leibraum integriert. Enttäuschungen, Hassgefühle und im extremen Fall die Externalisierung der betroffenen Leibregion können so verringert oder vermieden werden. Auch bei Hirnschädigung und jahrelanger Fehlhaltung kommt es vor, dass sich aktueller und habitueller Leib nicht entsprechen. Hier wird im Sitzen der Leib als aufrecht empfunden, obwohl von außen betrachtet eine deutliche Seitneigung zu konstatieren ist. In diesem Fall ist es notwendig, immer wieder sowohl verbal als auch visuell (Spiegel) ein Feedback zu geben, mit dem Ziel, dass sich im Laufe der Zeit aktueller und habitueller Leib angleichen und eine aufrechte Haltung von selbst, ohne nachdenken zu müssen, gelingt (vgl. Buytendijk 1972:292). Es findet dann folgender Ablauf statt: 1. Bemerken des Therapeuten einer für den Betroffenen verborgenen Fehlhaltung, 2. Bewusstmachung der Fehlhaltung durch den Therapeuten, 3. Veränderung zur physiologischen Haltung, 4. Sedimentieren der physiologischen Haltung, die wieder zur Verborgenheit des Leibes führt. Weiterhin ist die Zentrierung auf das eigene Ich insbesondere bei solchen Menschen wichtig, die nahezu ausschließlich der Welt zugewandt sind und z. B. Krankheits- oder Erschöpfungszeichen des eigenen Leibes ignorieren. Hierfür bieten sich Übungen aus den Bereichen Yoga oder Pilates an. Eine Tendenz zur Weltzentrierung meint also, dass während der Therapie immer wieder Ablenkungen geschaffen werden müssen, da Bewegungen, die nicht fokussiert werden, meist besser gelingen. Darüber hinaus ist der Begriff »Tendenz« hier auch als Zielsetzung zu verstehen, denn erst die Weltzentrierung und damit einhergehend die Zurückgewinnung der Selbstverborgenheit des Leibes ermöglichen einen variablen und gelingenden Austausch zwischen Mensch und Welt.

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3.5.2.7 Tendenz zum freudvollen Erleben Wenn ein Patient unter großen Schmerzen oder anderen heftig störenden Probleme leidet, so ist das Bewusstsein besonders stark auf den eigenen Leib gerichtet, der sich nun in seinem Lästig-sein, in seiner Schwere und seinem Ungehorsam zeigt (vgl. Plügge 1967:39 f.). In solchen Fällen ist es besonders wichtig, dem Beeinträchtigten – wenn er möchte und in der Lage ist –, die Möglichkeit zu geben, einfach nach außen hin zu leben und Spaß zu haben. Dies könnte z. B. ermöglicht werden, indem ein Karten-, Gesellschafts- oder Ballspiel mit anderen Patienten oder Therapeuten angeboten wird. Hier geht es nicht ausschließlich darum, physiologische Strukturen zu trainieren oder zu optimieren, sondern ebenso eine Atmosphäre des Spaßes sowie der Freude zu bieten und eine Bewusstseins-Ablenkung vom eigenen Leid zu ermöglichen. Zwar ist die Freude und das Außer-Sich-Sein genauso wie die Bewegung bereits ein Selbstzweck, darüber hinaus kann eine fröhliche Stimmung und ein gemeinsames Beieinander Optimismus wecken und Selbstheilungskräfte des Menschen aktivieren. Es ist fundamental wichtig, dass der Patient gerne an der Bewegungstherapie teilnimmt. Immer wiederkehrende gleichartige Bewegungen sollten schon deshalb nicht gefordert werden, weil sie für die meisten Patienten keinen freudbringenden Charakter besitzen und deshalb ein engagiertes Mitarbeiten erschwert wird. In Kapitel 3.2 und 3.5.2.1 wurde bereits verdeutlicht, dass es sehr wichtig ist, ob der Mensch einer sinnvollen Beschäftigung nachgeht oder ob eine sinn-abgetrennte Handlung reproduziert werden soll, in der sich kein Wohlbefinden, keine Freude und damit keine Leistungsbereitschaft einstellen wird 75 (Loosch 1993:29, vgl. Leist 1993:47). Es ist die Aufgabe des Therapeuten, Patienten auch über Hintergründe von Missbefinden aufzuklären. So muss der Therapeut in der Lage sein, dem Patienten zu erklären, wie der als Muskelkater bekannte Schmerz entsteht und diesem die eventuell vormals beängstigende Bedeutung zu nehmen. Er muss ihm eine positive Bedeutung verleihen, z. B. indem er ihn – bei moderater Intensität – als gutes Zeichen bestimmt,

Der Einbezug des Subjekts und damit einer für ihn wohlbefindlichen Situation musste in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in der Wirtschaft, d. h. in der Güterproduktion, nachgeholt werden, nachdem Fließbandarbeiter, die keinen Bezug zum Endprodukt hatten und jeden Tag dieselbe Arbeit verrichten mussten, kränker, unzufriedener und leistungsschwächer wurden (Scholz et al. 1994:85 ff.).

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das darauf hinweist, etwas geleistet zu haben. Bei manchen Patienten muss sogar grundsätzlich die positive Wirkung der Selbstbewegung vermittelt werden. Der Bewegungstherapeut muss sich stets bewusst machen, dass die eigene positive Intentionalität auf die Selbstbewegung mit ihrer Anstrengung, ihrem Widerstand und ihrer Mühsal nicht ihr objektives Wesen ist. Die Selbstbewegung darf dem Patienten nicht als störende oder sogar gesundheitsschädliche Tätigkeit erscheinen, die durchgeführt werden muss, um lediglich Notwendigkeiten zu verrichten. Stattdessen ist sie zu vermitteln als Möglichkeit der Selbstbestimmung und des freudvollen Wirkens auf die Welt, als gesundheitsfördernde Aktivität, die »guttut« und als eine Tätigkeit, um sich selbst zu verwirklichen und um das Leben auszufüllen. Auch ihre Begleit- und Folgeerscheinungen müssen durch aufklärende Gespräche als etwas Positives nahegebracht werden, z. B. als Zeichen, eine Leistung bzw. einen Beitrag zur eigenen Gesundheit vollbracht zu haben (siehe Kapitel 3.4.1 und 3.4.2). Bewegungsaufgaben sollten stets so gestellt werden, dass körperliche Anstrengung zusammen mit Freude erlebt wird und das vorgegebene Ziel erreicht werden kann. Naturwissenschaftliche und anthropologische Aufklärung, gepaart mit praktischem, freudvollem Erleben soll dazu führen, dass Bewegung, Anstrengung, Verausgabung und die hiermit einhergehenden Phänomene wie Müdigkeit, Erschöpfung und Muskelkater ohne explizites Denken, sondern unmittelbar und präreflexiv als positiv empfunden werden. Es soll also die Intentionalität auf Bewegung verändert werden. Der Therapeut muss hierfür auch bei seinen Patienten persönliche Neigungen ermitteln und diese immer wieder ansprechen. Wenn jemand ein passionierter Fußballspieler ist oder war, so könnte eine Aufgabe nach einem Außenbandriss im Fußbereich darin bestehen, dass er aufrecht und einbeinig auf einer Weichbodenmatte steht und mit dem hochgehaltenen Fuß einen Ball zum Therapeuten spielt. Freudvolles Erleben ist hier also nicht nur auf die Tatsache beschränkt, dass sich Freude nach erfolgreicher Beendigung der Therapiemaßnahmen insofern einstellt, als dass die Möglichkeit zur Leibverfügung und Welthabe erarbeitet wurde und so z. B. Sozialkontakte wieder möglich sind. Freudvolles Erleben ist auch zu verstehen als die Freude während der Therapieeinheit durch ungezwungenes Miteinander zu anderen Patienten und Therapeuten und während der Bewegungen selbst, also im Tun. Bewegungen gelten hier nicht nur als Instrument zur Organismus- und hierdurch zur Leistungsopti230

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mierung, sondern auch als mögliche unmittelbare, positive Erfahrung. Wenn davon ausgegangen wird, dass jeder Mensch das Streben hat, mit einer Aufgabe bzw. einem Problem positiv umzugehen und es »richtig zu machen« (Christian 1963:23), so ist eine verbesserte Leibverfügbarkeit und damit eine vereinfachte Welthabe der Weg zu einem freudvollen Erleben. Diese verbesserte Leibverfügung erhöht die Möglichkeit, selbst auf die Welt unterschiedlich – gemäß der eigenen Intention – wirken zu können. Diese nun mögliche Selbstverwirklichung und die in der und durch die Bewegungstherapie erfahrene soziale Anerkennung führen zu einem größeren Selbstvertrauen und zu einem Wohlbefinden, das in der gesamten leiblichen Gesundheit seinen Widerhall findet. Dem freudvollen Erlebnis wird nicht nur die Rolle einer willkommenen Nebenwirkung oder Folge von Bewegungen und ihrem Gelingen zugesprochen, sondern die Rolle eines maßgeblichen Gesundheitsfaktors aus sich selbst: Während negative Erfahrungen, Frust, Ärger, Traurigkeit etc. sich sowohl seelisch als auch körperlich in Krankheiten zeigen können (siehe Kapitel 3.2), führen positive Erfahrungen, Freude, Spaß, Anerkennung, Glück etc. zu einem verbesserten Allgemeinbefinden und einer verbesserten Möglichkeit der Gesundung (siehe Kapitel 3.3). Die Tendenz zum freudvollen Erleben darf jedoch nicht hedonistisch missverstanden werden. Es ist nicht so, dass der Patient den Inhalt der Bewegungstherapie frei nach eigener Laune und Gefallen bestimmen darf. Dies hat seinen Grund darin, dass die meisten Patienten nicht exakt wissen, wie körperliches Training, Nahrungsaufnahme etc. auf den Menschen wirken. So kann auch der Patient nicht immer einschätzen, welche Maßnahmen seinem leiblichen Wohlbefinden zuträglich sind. Darüber hinaus verhält sich nicht jeder Mensch stets logisch und vernünftig, d. h. so, wie es für ihn richtig und gesund ist (siehe Antilogik in Kapitel 1.3). Antilogisch verhält es sich, wenn ein und dasselbe Empfinden gleichzeitig ein Lust- und Unlustgefühl ist. Eine solche Triebverschlingung findet z. B. statt, wenn das Kratzen bei einem Juckreiz sowohl als Lust wie auch als Unlust empfunden wird (v. Weizsäcker 1988:495 ff./IX), oder wenn einerseits das teilnahmslose Ausruhen (den ganzen Tag im Bett verbringen) Lust aufgrund der geringen Anstrengung und gleichzeitig Unlust und Gereiztheit aufgrund der Unausgelastetheit und Langeweile hervorruft. Ein eindeutiges Richtig oder Falsch kann vom Patienten deshalb häufig gar nicht eindeutig erlebt werden. Der Beeinträchtigte wird aus Sicht des Bewegungstherapeuten als bedürfAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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nishabendes und individuelles Subjekt betrachtet, das zukunftsgerichtet und weltoffen ist. Allerdings dürfen dessen körperliche, naturwissenschaftlich erfassbare Lebensbedingungen nicht ignoriert und stattdessen lediglich der Subjektseite und z. B. ihren Bedürfnissen und Wünschen absolute Priorität eingeräumt werden. Ein gut gemeintes, aber gesundheitsabträgliches Handeln zeigt sich immer dann, wenn die Wünsche und Bedürfnisse des beeinträchtigten Menschen die einzige Grundlage helfenden Tuns darstellen. Übersehen wird dann häufig, dass zwar jeder Mensch menschliche Rechte besitzt, ihm jedoch erst würdig begegnet wird, wenn diese Rechte auch mit Pflichten einhergehen. 76 Die Würde ist somit als Münze zu sehen, die auf der einen Seite mit Rechten und auf der anderen Seite mit Pflichten versehen ist. Dieser Umstand ist genauer zu erläutern: Das Einfordern von Pflichten kann nur geschehen, wenn die Möglichkeit einer Willensfreiheit angenommen wird, die Entscheidungen für eine Handlung, jedoch auch die bewusste Entscheidung gegen eine Handlung impliziert. Im Umkehrschluss ist also davon auszugehen, dass denjenigen, denen Pflichten aufgrund ihrer Beeinträchtigung abgesprochen werden, keine Willens- und Handlungsfreiheit zugetraut wird. Auf den ersten Blick wirkt es »menschlich«, wenn darauf hingewiesen wird, dass der Beeinträchtigte als selbstbestimmtes Wesen entsprechend seinen Möglichkeiten seinen Tagesablauf ausschließlich selbst bestimmen solle, er somit das Recht auf absolute Selbstbestimmung hat. Vergessen wird jedoch, dass auch der NichtBeeinträchtigte keine maximale freie Verfügung über seinen Tagesablauf besitzt. Auch er hat die selbstverständliche Pflicht, z. B. pünktlich zur Arbeit zu erscheinen, womit das Recht der Entlohnung einhergeht. Es wird hier also einerseits Wert darauf gelegt, den Beeinträchtigten auf gleichem Niveau zu betrachten wie Nicht-Beeinträchtigte, indem aber deren Schuldfähigkeit negiert oder zumindest stark herabgesetzt wird, findet eine Abgrenzung und Degradierung statt. Denn eine solche verminderte Schuldfähigkeit ist nur zu rechtfertigen, wenn behauptet wird, dass der Betroffene grundsätzlich nicht in der Lage ist, z. B. Verantwortung, Absprachen und Verpflichtungen einzuhalten. Darüber hinaus wird offensichtlich geglaubt,

Die Pflichten hängen selbstverständlich von den Möglichkeiten des Betroffenen ab. Ein Wachkomapatient als Extrembeispiel kann zu keinerlei Handlungen verpflichtet werden.

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dass eine maximale Wahl- und Entscheidungsfreiheit per se dem Wohlbefinden und der Gesundung des Menschen zuträglich ist. Ein solcher eindeutiger Zusammenhang ist jedoch keineswegs evident (vgl. v. Weizsäcker 1986b:479, 488/VI). Jores (1970:88 ff.) etwa ist der Meinung, dass Mitglieder von Naturvölkern deshalb weniger an sogenannten Zivilisationskrankheiten leiden als Mitglieder der westlichen liberalen und individualistischen Industriegesellschaft, da erstere eine fixere Beziehungs- und Rollenstruktur besitzen; sie also quasi unfreier sind: »Dem heutigen Menschen kommt das Leben auf dieser Kulturstufe [der Naturvölker, M. U.], bei der fast jede Handlung durch Vorschriften und Tabus geregelt wird, unfrei und erschreckend vor. Man übersieht dabei, daß dem Menschen durch diese Wertsysteme nicht nur eigene Verantwortung abgenommen wird, sondern daß er auch innerhalb dieser Welt der Riten, des Glaubens und der Gemeinschaft seines Stammes aufgehoben und geborgen ist« (ebd.:91). Die Schaffung und Ermöglichung einer maximalen Wahlfreiheit, die ohnehin auch der Nicht-Beeinträchtigte nicht besitzt, darf also nicht unkritisch als Maxime einer (sonder-)pädagogischen Arbeit verstanden werden. Ein wichtiges Ziel der ganzheitlichen Bewegungstherapie ist die Förderung der Welthabe und somit der sozialen Teilhabe und Selbstverwirklichung. Eine Selbstverwirklichung ist, wie bereits erwähnt, nur möglich, wenn der Mensch selbst auf die Welt wirken kann. Die durch die Bewegungstherapie verbesserte Möglichkeit, seinen Leib als Mittel zur Welthabe zu nutzen, ermöglicht erst die letztlich angestrebte Selbstbestimmung. Von Weizsäcker (1990:609/III) ist diesbezüglich der Meinung, dass »nicht die Schonung, sondern die Bereicherung der Lebensfülle das ist, was dem Hirnverletzten gut tut.« Die Welt wird nicht ersessen oder erlegen, sondern er-fahren (MeyerAbich 2010a:481). Allerdings darf hier kein passives Fahren, also ein Gefahren-Werden verstanden werden, denn ursprünglich meinte dieser Begriff jede Art von Fortbewegung wie laufen, reiten, schwimmen, fahren (Pfeifer 2005:317). Erst durch das aktive Sich-Bewegen kann die Welt adäquat in ihrer jeweiligen Bedeutung wahrgenommen werden, so dass eine verbesserte Orientierungsfähigkeit und damit Welthabe möglich ist. Wenn eine gesteigerte körperliche Leistungsfähigkeit die Welthabe verbessert, wird auch die Möglichkeit der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung sowie Anerkennung verbessert. Wenn außerdem anerkannt wird, dass die Bewegungstherapie bereits während ihres Stattfindens Freude, Stolz etc. bereitet Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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(s. o. auf Augenhöhe arbeiten), so ist nachzuvollziehen, dass »jede Somatotherapie […] auch eine psychische Bilanz [hat]« (v. Weizsäcker 1987a:189/V). Das Vernachlässigen der Objektseite des Menschen führt also in letzter Konsequenz dazu, dass ihm durch die Überbehütung genau das genommen wird, was eigentlich gefördert werden sollte: Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Anerkennung und damit die Zufriedenheit des Patienten. Freudvolles Erleben bedeutet also nicht, dass die Therapie aus einem unstrukturierten Miteinander besteht, in dem Aufgaben vorgeschlagen werden, die dem Patienten Freude bereiten. Wie auch im Alltag beinhaltet die Bewegungstherapie nicht nur Wohl-, sondern auch Missbefinden. Der Patient muss auch Übungen durchführen, die ihm keine besondere Freude bereiten, jedoch sinnvoll sind. Der Therapeut muss die Aufgaben im Sinne der erlernten Überschreitung auch so stellen, dass sie nicht ohne Weiteres, d. h. ohne Anstrengung, gelöst werden können. Denn gerade die negativen Erfahrungen im zunächst Nicht-Gelingen sind die lehrreichen im Leben: »Die negative Erfahrung hat so primär den Charakter der Selbsterfahrung, die frei macht für eine qualitativ neue Art der Erfahrung« (Buck in Thiele 1990:279). »[Sie] hat also einen eigentümlich produktiven Sinn« (Gadamer in Thiele 1990:279). Der Therapeut muss somit immer wieder Aufgaben stellen, die erst nach mehrmaligem Ausprobieren gelingen. Hierfür muss er das Leistungsvermögen des Patienten sehr gut einschätzen können und sich gegebenenfalls auch gegen dessen eigene Prognose stellen (z. B. »Das kann ich doch nicht, weil mein Arm nicht funktioniert!«). Es macht häufig gerade den Reiz für einen Patienten aus, etwas, das nicht gelang, nun endlich zu beherrschen. Hier wird eine Spannung empfunden, die zu einem motivierten Interesse führt und die erst abgebaut wird, wenn die Aufgabe gelöst wurde. Erst durch die mit der erlernten Überschreitung einhergehende Mühsal und Anstrengung führt das Gelingen zu einem Gefühl der Selbstverwirklichung. Wohlbefinden und Missbefinden sind also eng miteinander verbunden. Darüber hinaus können sie auch zeitgleich diffus empfunden werden (Antilogik). Eine schwere Anstrengung, der Schmerz in den Beinen etc., kann zugleich als lust- und leidvoll empfunden werden. So kann auch die große Freude über den kurz bevorstehenden Triumph jede Anstrengung und jede Kälte, die eigentlich vorhanden sind, in den Hintergrund rücken (Gruppe & Krüger 2007:254, 258 ff.). Außerdem muss jeder Mensch, wie bereits in Kapitel 3.4.1 angemerkt, grundsätzlich der Friktion mit der Welt aus234

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gesetzt werden, da durch ein absolut reibungsloses Leben die Welt ihren Gegenstandscharakter verlöre und als Welt verschwände. Die Art und Weise der Vermittlung der Aufgaben besitzt nicht einen immer gleichbleibenden höflichen und eher vorschlagenden Charakter, sondern muss sich auch an dem Charakter und der Erwartung des Patienten orientieren. Während ein schüchterner Patient eher freundlich und mit größerem Zuspruch betreut werden muss, dürfen Patienten, die z. B. aus dem Mannschaftssport kommen, wo die Kommunikation häufig »rauer« abläuft und insgesamt einen eher forschen Charakter besitzt, strenger und »unnachgiebiger« angesprochen werden. Insgesamt sollte der Therapeut nicht immer nur sachlich sein, sondern er muss auch eine gewisse Lockerheit und Leichtigkeit vermitteln sowie immer wieder Scherze und Spaß einbringen, denn auch dies sind alles Komponenten des Lebens. Eine wichtige Aufgabe der Bewegungstherapie ist es, freudvolle Erfahrungen auch außerhalb der eigentlichen Bewegungsaufgaben zu ermöglichen. Als Pause zwischen den Aufgaben oder nach der Therapie als gemeinsamer Abschluss bieten gemeinsame lockere Unterhaltungsrunden bei Kaffee und Tee die Gelegenheit, Gesellschaftsspiele zu spielen, sich auszutauschen, sich näher kennenzulernen und sich ungezwungen über alle möglichen Themen zu unterhalten. Insbesondere solche Zusammenkünfte führen zu einer allgemeinen Zufriedenheit und werden im weiteren Tagesverlauf mitgeführt. Eine Therapieeinheit kann dann als gelungen angesehen werden, wenn sich der Patient nach der Einheit besser fühlt als vorher.

3.5.2.8 Tendenz zu gruppenassoziierten Bewegungsaufgaben Der Mensch ist zu jeder Zeit seines Lebens auf Gesellschaft und Gemeinschaft angewiesen. Es besteht eine hohe Korrelation zwischen Lebenserwartung und sozialer Integrität (Meyer-Abich 2010a:249). Auch Maslow (2008:70 ff.) spricht der sozialen Zugehörigkeit eine wichtige Bedeutung für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen zu. Wenn also das soziale Mitsein ein Grundbedürfnis jedes Menschen ist und bedacht wird, dass dessen Nichtbefriedigung zu Krankheit führt, ist es insbesondere für Personen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung wenig Möglichkeit des sozialen Austauschs und der sozialen Teilhabe haben, von fundamentaler Bedeutung, soziale Kontakte zu ermöglichen. Aus diesem Grund sollte die ganzAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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heitliche Bewegungstherapie mit dem Einverständnis des Betroffenen in einem großen Übungsraum 77 und im Bewegungsbad stattfinden. Dort wird, wenn es der Zustand des Patienten zulässt, auch mit mehreren Personen partner- oder gruppenassoziiert gearbeitet. Dies bedeutet nicht, dass alle Patienten gleichzeitig dieselben Aufgaben durchzuführen haben, die ein einzelner Therapeut vorgibt. Vielmehr betreuen mehrere besonders qualifizierte Therapeuten die Patienten auf individuelle Weise entsprechend ihrer Beeinträchtigungen und ihrem Leistungsniveau. Jeder Patient befasst sich zunehmend selbstständig mit speziell auf ihn zugeschnittenen Bewegungsaufgaben. Hierbei ergibt sich im Laufe der Zeit die Kontaktaufnahme und ein Miteinander mit anderen Patienten. Der Therapeut oder die Therapeuten können dann in ihr Behandlungsprogramm aufgabenexterne und aufgabeninterne Schnittstellen einbauen. Eine aufgabenexterne Schnittstelle wird ermöglicht, wenn eigene Aufgaben ohne Bezugspunkt zueinander durchgeführt werden sollen, der Patient sich jedoch mit anderen Patienten und Therapeuten im selben Raum aufhält und so die Möglichkeit zur Kommunikation hat. Hier ist es die Aufgabe des Therapeuten, je nach Bewegungsaufgabe, Patientenkonstellation und Situation entweder die Kommunikation zu fördern oder die Teilnehmer anzuhalten, sich auf die eigene Aufgabe zu konzentrieren. Eine Folge sind hier u. a. Freundschaften, die zwischen den Patienten geschlossen oder intensiviert werden können. Darüber hinaus werden Pausen häufig gemeinsam und nicht separat eingelegt. Eine aufgabeninterne Schnittstelle liegt vor, wenn Übungen auf jeden einzelnen Patienten zugeschnitten werden, jedoch ein gemeinsames Ziel bzw. ein gemeinsamer Bezugspunkt innerhalb der jeweiligen Aufgaben eingefügt wurde: Eine Person mit Tetraplegie steht an einem Gehbarren und hält ein als Kreis zusammengebundenes Therapie-Gummiband in beiden Händen. Ihm gegenüber sitzt ein Patient mit Querschnittslähmung und hält ebenfalls das Therapie-Gummiband. Beide sollen nacheinander an dem Band ziehen und wieder loslassen. Der Rollstuhlfahrer trainiert so seine Rumpf- und Arm-

So ist im Institut für Ganzheitliche Bewegungstherapie ein großer Bewegungsraum ähnlich einer Sporthalle eingerichtet. Daneben stehen Einzelräume für Einzelbehandlungen gemäß den Einrichtungsrichtlinien für Physiotherapiepraxen zur Verfügung (Gemeinsame Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen gem. § 124 Abs. 4 SGB V in der Fassung vom 17. Januar 2005).

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muskulatur und der Stehende insbesondere seinen Gleichgewichtssinn und seine Rumpfstabilität. In einer solchen Situation bildet sich eine Kohärenz zwischen den beiden Personen. Während isolierte Aufgaben die Patienten eher zentripetal ausrichten, kommt es bei gruppenassoziierten Aufgaben zu einer zentrifugalen Ausrichtung. Der Einbezug phänomenologischer Gedanken rechtfertigt insbesondere den Einbezug von Ballspielen 78 auch und gerade bei sozial unsicheren Patienten. Mithilfe des Ballwurfes kommt es zur Leibverlängerung als intentionalem Faden bis zum Fangenden. Der Ball ist phänomenal kein eigenes Objekt, sondern ein Teil des Werfers als dessen Möglichkeit zur Fernwirkung, z. B. auf den Fänger, der auf den Werfer reagieren muss. Der Fänger verleibt sich seinerseits den Ball schon ein, bevor er ihn in seinen Händen hält. Es findet durch den Ball also ein Kontakt ohne Berührung statt, der den Charakter der mittelbaren Unmittelbarkeit innehat und der nach eigenem Wunsch verringert oder intensiviert werden kann (vorsichtiger oder stärker werfen, extra schwer erreichbar werfen etc.) sowie zeitlich verlängert oder verkürzt werden kann (nach dem Wurf schnell woanders hinschauen). Jede Übung mit aufgabeninterner Schnittstelle erfordert und fördert das Suchen nach einer gemeinsamen Lösung der Aufgabe, ein Kooperieren und das Sich-Einfügen in eine Gemeinschaft. Es ist das Ziel, den Patienten auch für Bereiche außerhalb der Therapie zu einer erhöhten Sozialkompetenz zu führen. Die Übungen mit anderen Patienten vermitteln ferner das Gefühl, dass auch andere Menschen gesundheitliche Probleme haben und dass man nicht allein betroffen ist. Eine solche Erkenntnis kann die Ich-Zentrierung und ein eventuell vorhandenes Selbstmitleid mindern, das Selbstbewusstsein verbessern sowie Zuversicht hervorbringen. Der Umstand, dass Patienten mit unterschiedlichen Charak-

Ein Ball ist als Wurf- und Fanggerät deshalb besonders geeignet, weil aufgrund seiner runden Form und der hiermit einhergehenden überall gleichmäßig gerundeten Oberfläche die Verletzungsgefahr beim Hantieren minimiert wird. Die gleichmäßige Oberfläche führt außerdem dazu, dass das Verhalten des Balls auch bei Zwischenberührung anderer Flächen (Boden/Wand) relativ gut vorausgesehen werden kann (z. B. Einfallswinkel = Ausfallswinkel). Deshalb sind eine verhältnismäßig kontrollierte Handhabung und Fernwirkung möglich. Eine solche eigene Fernwirkung als selbstbestimmte Handlung durch ein Wurfgerät wird insbesondere für mobilitätsbeeinträchtigte Personen, die nicht ohne Weiteres Distanzen überwinden können, häufig freudvoll erlebt.

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teren und unterschiedlich schweren Beeinträchtigungen miteinander interagieren, entspricht ferner dem Inklusionsgedanken. Auf der einen Seite haben Personen mit vermeintlich leichten Beeinträchtigungen wie Nackenverspannungen oder Sprunggelenksverletzungen die Möglichkeit, schwer- und mehrfachbehinderte Menschen kennenzulernen und z. B. zu erfahren, dass diese nicht automatisch auch geistig retardiert sind. Auf der anderen Seite wird den Schwerbeeinträchtigten die Möglichkeit gegeben, Kontakte mit leicht- oder nichtbeeinträchtigten Menschen zu finden und somit auch »Input« außerhalb ihres häufig begrenzten Lebens- und Erfahrungsraums zu erhalten.

3.5.2.9 Sportbezogene Aspekte Wie bereits erwähnt, ist die ganzheitliche Bewegungstherapie nicht mit einem Sportangebot gleichzusetzen, denn sie ist weder leistungsnoch wettkampforientiert. Allerdings stammen die wissenschaftstheoretischen Hintergründe für die praktische Tätigkeit maßgeblich aus der Sportwissenschaft und ihren Nachbardisziplinen. Dies hat seinen Grund darin, dass das Phänomen der alltäglichen Selbstbewegung, die in der Rehabilitation und der Prävention geübt wird, damit der Patient für die Belastungen des Alltags wieder gewappnet ist, in sportlichen Handlungen wie in einem Brennglas detailliert und deutlich zutage tritt. Durch die unterschiedlichen sportlichen Bewegungen lassen sich die verschiedenen Vorgänge im Menschen und Handlungen des Menschen beobachten und untersuchen. Es gibt keine Wissenschaft, die sich so umfassend und detailliert mit der menschlichen Bewegung und Wahrnehmung auseinandersetzt wie die Sportwissenschaft. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit Bestrebungen, den Begriff Sportwissenschaft in den passenderen Begriff Bewegungswissenschaft zu ändern (an der Marburger Universität wird übrigens die dort gelehrte Bewegungswissenschaft als Motologie bezeichnet). Sämtliche Teil- und Nachbardisziplinen, die in der Sportwissenschaft gelehrt werden, sind auch für Alltagsbewegungen und damit für therapeutische Maßnahmen fruchtbar: Sensomotorik, Psychomotorik, beschreibende und funktionelle Anatomie, Neurologie, Physiologie, Biomechanik, Didaktik, Pädagogik, Medizin, Ernährungswissenschaft, Trainingslehre (inkl. dem motorischen Lernen) usw. Wie in der Einleitung beschrieben, stellt die ganzheitlich orien238

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tierte Bewegungstherapie eine Symbiose aus Medizin, Sportwissenschaft und Philosophie dar. Außerdem sind Erkenntnisse aus Untersuchungen zu komplexen sportlichen Bewegungen deshalb in der Rehabilitation gewinnbringend, da es insbesondere für Menschen mit einer erworbenen schweren Beeinträchtigung zu einer veränderten Beziehungsstruktur zwischen sich und der Welt kommt. Zum Beispiel ist die vor einem Unfall problemlos durchgeführte physiologische Gehbewegung eine andere als die, die danach nur hölzern und unter großer Konzentration möglich ist. Es können jedoch nicht nur die von außen sichtbaren Bewegungsmerkmale verändert sein. Wichtiger ist der Umstand, dass das Gehen zum einen vom Betroffenen als anders empfunden wird; es handelt sich aus seiner Sicht um eine neuartige Bewegungsform. Zum anderen werden andere Strukturen für die Bewegungsleistungen genutzt als zuvor (Leistungsprinzip), weshalb es sich auch aus neurologischer Sicht um eine Neuschöpfung handelt (v. Weizsäcker 1990:548/III). Aufgrund dieses neuen leiblichen Zur-Welt-Seins wird die Gehbewegung nun als hochkomplexe Leistung erlebt. Somit ist aus einer wie von selbst ablaufenden Alltagsbewegung eine Bewegung geworden, die erst durch vielfältige Übungseinheiten angeeignet werden muss. Zur angemessenen Förderung dieser neuen Bewegungen ist das Wissen um didaktische Vorgehensweisen und um das motorische Lernen aus der Sportwissenschaft nötig. Ein weiterer Bezug zum Sport ist deshalb gegeben, weil häufig an und mit Geräten aus dem Sportbereich geübt wird. Außerdem können zur Motivation der Patienten auch Bewegungsaufgaben gestellt werden, in denen das Wetteifern Mittel und Ziel der therapeutischen Förderung ist. Durch dieses Wetteifern kommt es zu einer weltgerichteten Zentrierung, d. h. zu einer Ex-tase, in der unmittelbar die Gegenwart erlebt wird. Der sonst widerständliche Leib wird als leicht und tragend erfahren, und die eigenen Beschwerden des Alltags können in den Hintergrund treten (Prohl 2010:169 f., 302; vgl. Sukale 2004:41). In dieser Funktion spiegelt sich die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Sport wider: sich zerstreuen, sich vergnügen, ausgelassen sein (Pfeifer 2005:1330; Thiele 1990:301). Es ist jedoch wichtig, den Patienten dann zu bremsen, wenn er wegen der Ablenkung sein Leistungsniveau übersteigt. Aufgrund der Tatsache, dass Bewegungen nur als Bewegungsgestalten durchgeführt werden und somit verschiedene Aspekte im Sinne des mittelbar-abstrakten Bezugs zum Alltag berührt werden, fördern sportbezogene, aber nicht Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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direkt im Alltag durchgeführte Bewegungen die Rahmenbedingungen für diese Alltagsbewegungen. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Aufgaben mit leistungsvergleichendem Charakter findet sich unter psychosozialen Gesichtspunkten, denn hiermit kann bzw. muss auch der im Alltag vorkommende Misserfolg sowie das Anerkennen des Erfolges anderer gelernt werden.

3.6 Folgerung für eine ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie Mit der ganzheitlichen Bewegungstherapie wird danach gestrebt, die Möglichkeit des Patienten zur im Alltag erforderlichen Leibverfügung und Welthabe mithilfe von Bewegungs- und Wahrnehmungsübungen zu optimieren und so das Wohlbefinden des Patienten zu erhöhen. Um alltagsorientierte Bewegungsaufgaben stellen zu können, ist es nötig, alltägliche Lebensvollzüge im präreflexiven Erleben zu betrachten. Hierfür muss von allen vorstrukturierten Modellen objektiver Wissenschaften abgesehen und stattdessen das in die Überlegungen einbezogen werden, das tatsächlich im Handeln erlebt wird (siehe Kapitel 1.4.4). Ganzheitlich ist die Bewegungstherapie zum einen deshalb, weil sie den Menschen nicht nur in seiner naturwissenschaftlich erfassbaren Form betrachtet. Ähnlich wie der Hausarzt ist sie nicht auf einen einzelnen Aspekt des Menschen spezialisiert (z. B. Neurologie, Immunologie, Psychiatrie), was zu einer Orientierungsnot 79 im Lebensganzen führen kann, sondern sie strebt danach, den Menschen wissenschaftsdisziplinübergreifend zu erfassen und hierdurch Zusammenhänge zu ergründen, die mit einer spezialistischen und damit isolierten Betrachtung unerkannt blieben. Sie umfasst als umgreifende Therapie im Sinne des Gestaltkreises die somatischen, seelischen und sozialen Dimensionen. Es können drei Ordnungsstrukturen der Ganzheitlichkeit unterschieden werden, die sich in konzentrischen Horizonten zueinander befinden: 1. Körperliche Ganzheit: Die Strukturen des menschlichen Körpers werden nicht nur bedingt bzw. wirken nicht nur isoliert inner»Der spezialisierte Forscher befindet sich in einer Orientierungsnot, wie sie der Laie hat, sobald er über den engsten Bereich seines Arbeitsgebietes hinausblickt« (Gadamer 2010:20).

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halb kleiner Bereiche, sondern der Körper ist als Ganzes eine Gestalt, bei dem auch weit voneinander entfernte Strukturen miteinander verbunden sind. Eine Fußfehlhaltung kann z. B. zu Nackenschmerzen führen oder eine Schwächung der Rumpfmuskulatur beeinträchtigt die Gehbewegung. 2. Leib-Seelische Ganzheit als Gestaltkreis: Körper und Seele sind eine einheitliche Zweiheit. Die Beziehung zwischen beiden kann auf Kausalität, Ausdruck und Stellvertretung gründen. 3. Durch Wahrnehmung und Bewegung kommt es zu einem Gestaltkreis zwischen Mensch und materieller Welt sowie sozialer Welt. Innerhalb dieser letzten Ordnungsstruktur befindet sich auch das Verhältnis zwischen Patient und Therapeut. In der ganzheitlichen Bewegungstherapie werden beide komplementären Zugangsweisen und Problemursachen des Körperlichen und Seelischen in die Überlegungen und Maßnahmen mit einbezogen; sie steht jenseits einer Entweder-Oder-Dichotomie, d. h. eines rigiden Leib-Seele-Dualismus. Der Bewegungstherapeut ist sich bewusst, dass er den Gestaltkreis stetig neu durchschreiten muss und erkennt hierbei, dass Seelisches sich in Körpersprache und andererseits Körperliches sich im Seelischen ausdrückt (vgl. v. Weizsäcker 1987b:55/VII). Er berücksichtigt beide Aspekte und verfährt bei jeder gesundheitlichen Not in seinem Tun auf zweierlei Weise (siehe Drehtürprinzip). Auf der einen Seite untersucht er materielle Zusammenhänge und nutzt die physischen Kräfte, indem er den Patienten Bewegungsaufgaben lösen lässt. Auf der anderen Seite deutet er Aussagen und Verhaltensweisen des Patienten und benutzt das Wort als Einwirkungsmedium, durch das er auf seelische und soziale Belange des Patienten eingeht und diese beeinflusst. Es zeigen sich beispielhaft folgende Wirkzusammenhänge: 1. Die durch die Therapie verbesserte Leibverfügung (Körper) und das hierdurch verbesserte Wohlbefinden und Selbstbewusstsein (Seele) führt dazu, dass es dem Patienten möglich ist, einen Arbeitsplatz zu finden (Soziales). Die Arbeit ermöglicht die Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse, weshalb der Patient zufrieden ist. Diese Zufriedenheit wirkt sich wiederum positiv auf körperliche Aspekte aus. 2. Durch das therapeutische Gespräch wird der Patient über seine Beeinträchtigung und über gesundheitsfördernde Verhaltensweisen aufgeklärt. Hierdurch wird ein Gefühl der Hilflosigkeit reduziert und es entsteht eine selbstsicherere und gelassenere Haltung zu sich Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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und zu der gesundheitlichen Not. In der Folge steigert sich die Zufriedenheit und der Patient führt vermehrt physiologische Bewegungsaufgaben aus, wodurch körperliche Aspekte positiv beeinflusst werden. Beides kann zu einem vermehrten sozialen Mitsein führen, das auf das seelische und körperliche Befinden gesundheitsfördernd zurückwirkt. 3. Die sozialen Kontakte innerhalb der Bewegungstherapie führen zum Gefühl der sozialen Zugehörigkeit. Dieses Gefühl schlägt sich in einem seelischen Wohlbefinden nieder, das sich positiv auf den Körper auswirkt. Aus dem bisher beschriebenen Vorgehen der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie lässt sich die bewegungstherapeutische Trias 80 ableiten (siehe Abbildung 15). Erst ihre Berücksichtigung ermöglicht nachhaltige gesundheitsfördernde Effekte. In der Trias werden drei bisher beschriebene Aspekte der ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie besonders hervorgehoben, wobei ihre jeweilige Platzierung innerhalb des Dreiecks beliebig vorgenommen werden kann: a) gesundheitsfördernde Bewegungsaufgaben aus Kapitel 3.5.2; b) Aufklärung über gesundheitsfördernde Zusammenhänge aus Kapitel 3.4.1 und 3.4.2.; c) freudvolle therapeutische Intervention aus Kapitel 3.5.2.7. Die Tatsache, dass die therapeutische Intervention freudvoll sein muss, wurde innerhalb der neun Charakteristika der Bewegungsaufgaben aufgeführt. Sie ist hier eigenständig genannt, da besonders zu betonen ist, dass der gesamte Therapieerfolg in besonderem Maß von der Motivation und damit einhergehend der Compliance des Patienten abhängt. Alle drei zu berücksichtigenden Pole wirken aufeinander und bedingen sich gegenseitig: 1. Es müssen gesundheitsfördernde Bewegungsaufgaben gestellt werden. Einerseits muss der physiologische Trainingsreiz höher sein als der des Alltages, damit ein positiver Effekt erzielt wird. AndererAaron Antonovsky (1997:33 ff.) gelangt zu ähnlichen Gedanken, die er in seinem bekannten Salutogenese-Modell verdichtet hat. Er schreibt, dass a) das Selbstvertrauen und das Gefühl der Handhabbarkeit des eigenen Körpers und der Welt, b) die Verstehbarkeit der Zusammenhänge des eigenen Lebens sowie c) der Glaube an die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens zu einem gesundheitsfördernden Kohärenzgefühl führt. Kohärenz bezeichnet er als Vertrauen in die Stimmigkeit des eigenen Lebens in der Welt (vgl. Schüffel et al. 1998: 2 f.). Sie ist nicht mit der Kohärenz von v. Weizsäcker zu verwechseln, der hiermit die zerreißbare Einheit zwischen Subjekt und Umwelt beschreibt, die auf Wahrnehmen und Bewegen sowie auf deren mögliche gegenseitige Stellvertretung beruht (v. Weizsäcker 1997:110 ff./IV).

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gesundheitsfördernde Bewegungsaufgaben

Aufklärung über gesundheitsfördernde Aspekte der Bewegungsaufgaben

Freude während und nach der Therapie

Abbildung 15: Die bewegungstherapeutische Trias (Eigene Darstellung)

seits darf dieser Reiz nicht zu stark ausfallen, damit keine Schädigung hervorgerufen wird oder es zu häufig zu Frustrationserlebnissen kommt. Für eine optimale Konzeption der Maßnahmen sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse (z. B. Biomechanik, Herz-KreislaufAtemsystem) sowie alle oben beschriebenen Charakteristika zu berücksichtigen. Schließlich sind Bewegungsaufgaben so zu stellen, dass der Patient seine Selbstwirksamkeit spürt und erlebt, inwiefern er in der Lage ist, trotz seiner Beeinträchtigung, sein Leben möglichst selbstverantwortlich und aktiv zu gestalten. Hierdurch entsteht beim Patienten eine verbesserte Leib- und Welthabe, ein verstärktes Selbstvertrauen und das positive Gefühl, dass er nicht einer bedrohlichen Situation hilflos ausgeliefert ist. Der Zusammenhang mit den beiden anderen Polen ist wie folgt gegeben: Wenn der Patient die Verbesserung seines Gesundheitszustands erlebt, macht ihm die Therapie Freude und er ist offener und interessierter an den theoretischen Hintergründen seiner Bewegungsaufgaben. 2. Der Patient muss über grundlegende gesundheitsfördernde Aspekte für den Menschen aufgeklärt werden. Ihm ist die Sinnhaftigkeit der Übungen zu erläutern. Im Verlauf der Therapie soll der Patient befähigt werden, eigenständig ein für ihn gesundheitsförderndes Verhalten zu erkennen und zu verinnerlichen, sodass es im Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Alltag »automatisch« umgesetzt wird. Dem Patienten ist zu vermitteln, welche möglichen psychosomatischen Zusammenhänge vorhanden sein können. Hierfür muss das Subjekt in die Betrachtung eingeführt worden sein, d. h. subjektive Aspekte des Patienten und des Therapeuten selbst berücksichtigt werden. Das Verstehen von ganzheitlichen Wirkungsweisen kann bereits spürbar gesundheitsförderlich sein (z. B. Schmerzreduktion). Erkenntnisse um physiologische Zusammenhänge führen darüber hinaus dazu, dass Bewegungsaufgaben mit mehr Freude durchgeführt werden und so positiv wirken. 3. Die Therapie muss Freude bereiten: a) bereits während der Übungen, b) direkt nach der Therapie mit dem Wissen, etwas »Gutes« für sich geleistet zu haben und c) langfristig, weil nun alltägliche Belastungen im Beruf und im privaten Alltag erfolgreicher / beschwerdefreier möglich sind. Wenn die Therapie Freude bereitet, nimmt der Patient motivierter und konsequenter teil und fördert so weiter die Gesundheit. Außerdem ist er daran interessiert, wie die Übungen auf ihn wirken, sodass er sich vermehrt für die theoretischen Zusammenhänge interessiert. Das finale Ziel der ganzheitlichen Bewegungstherapie aus phänomenologischer Sicht ist es, den Patienten dahingehend zu unterstützen, dass sein Leib im Alltag wieder in den Hintergrund rückt und er sein intentionales Bewusstsein wieder auf die Welt lenken kann, so dass letztlich sein Wohlbefinden verbessert wird. Um dies zu erreichen, kann es notwendig sein, das Bewusstsein temporär auf den eigenen Leib zu lenken, um Fehlleistungen oder Fehlbelastungen, die den Leib weiter in den Vordergrund rücken würden, zu vermeiden. Hierfür sind naturwissenschaftliche Kenntnisse notwendig, die die materielle Beschaffenheit und physikalischen Gesetze des menschlichen Körpers und der Welt berücksichtigen. Die Bewegungstherapie soll zum einen die Voraussetzung zur Wiedereingliederung in den Alltag, d. h. auch in das Berufsleben, schaffen. Zum anderen muss sie es auch als ihre Aufgabe sehen, in Zusammenarbeit mit entsprechenden Betreuern, gesetzlichen Vertretern usw. diese Wiedereingliederung mit zu fördern und zu organisieren.

3.6.1 Der sich doppelt gegen den Strom bewegende Therapeut Es ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen der Wissenschaft, dem Wissenschaftler bzw. dem Anwender der Wissenschaft (hier der 244

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Folgerung für eine ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie

Bewegungstherapeut) und dem Menschen als Erkenntnisobjekt / betreutes Subjekt (hier der Patient). Der Therapeut stellt das Bindeglied zwischen der Theorie und der Praxis dar. Als Mitglied der Lebenswelt (siehe Kapitel 2) ist es ihm nicht möglich, ganz in seiner Wissenschaft aufzugehen. In der wissenschaftlich-abstrakten Einstellung thematisiert er z. B. gedanklich das gesundheitliche Problem des Patienten (siehe Kapitel 2.3). Er befindet sich dann in der Nähe zur Theoriewelt und betrachtet sein Erkenntnisobjekt durch die Brille seiner gewählten Wissenschaft. In der präreflexiven Einstellung befindet er sich, wenn er etwa den Patienten bereits gut kennt und sich mit ihm über alltägliche Dinge unterhält. Hier wird das gesundheitliche Problem nicht explizit reflektiert. Insbesondere im Umgang mit einem Patienten, der aufgrund seiner Beeinträchtigung ein wesentlich unterschiedliches Zur-Welt-Sein besitzt als der Therapeut, wird es dem Therapeuten erschwert, sich in den Patienten hineinzuversetzen. In diesem Fall ist der Therapeut gezwungen, sich in doppelter Hinsicht »gegen den Strom zu bewegen« (siehe Abbildung 16). Wenn der Patient sich für den Therapeuten nicht nachvollziehbar verhält, z. B. durch häufiges Thematisieren des Todes, besonders langsames Bewegen oder häufiges Einschlafen, muss der Bewegungstherapeut in die wissenschaftlich-konkrete Einstellung wechseln und anhand seiner Wissenschaft das Verhalten deuten. Ein solches Schwingen in diese reflexive Einstellung stellt im alltäglichen Umgang einen erhöhten »seelischen Aufwand« dar, denn der Therapeut muss nun seine eigene Wahrnehmung der Welt und die naiv-realistische Auffassung, nach der dieser eine Allgemeingültigkeit zukommt, suspendieren und sich per reflexiver Denktätigkeit in die präreflexive Lage und die Perspektive des Patienten hineinversetzen (siehe Abbildung 16 (a)). Wenn der Therapeut sich dagegen in der reflexiven wissenschaftlich-konkreten oder -abstrakten Einstellung befindet, ist er gezwungen, eindeutige Aussagen zu formulieren, rational Zusammenhänge zu ergründen sowie stringent eine Wissenschaft heranzuziehen und dennoch die Uneindeutigkeit, die Antilogik und das Leidenschaftliche bzw. Pathische des Patienten als wesentliche Elemente des Lebens zu berücksichtigen. Er darf nicht den Fehler der selbstreferenziellen Projektion begehen (siehe Abbildung 16 (b) und Kapitel 1.5.3):

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Die ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie (a) „Der Patient stört mit seinem sinnlosen Verhalten.“

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„Der Patient verhält sich aus seiner Sicht sinnvoll. Er kompensiert Probleme, die durch Immobilität entstanden.“

Therapeut (T) im alltäglichen Umgang innerhalb der ganzheitlichen Bewegungstherapie

(b) „Der Mensch ist antilogisch. Er kann sich widersprechen, ist pathisch und nicht nur ontisch.“

T

„Ich versuche logisch zu argumentieren. Es wird nach Stringenz gestrebt. Der Mensch ist also ebenso ontisch und widerspruchsfrei.“

Therapeut (T) während wissenschaftlicher Reflexion über den Patienten

Abbildung 16: Der sich gegen den Strom bewegende Therapeut (Eigene Darstellung)

Der Bewegungstherapeut muss also in unterschiedlichen Einstellungen solche Eigenschaften annehmen bzw. berücksichtigen, die wesentlich nicht Bestandteil der entsprechenden Erkenntnisquelle sind: In der reflexiven Einstellung, in der die theoretische Wissenschaft, mit der nach Stringenz, Konsistenz und Eindeutigkeit gestrebt wird, als Erkenntnisquelle dient, müssen die Ambiguität, Antilogik, Instringenz, der Widerspruch und das Pathische als Teil des Erkenntnisgegenstands Mensch berücksichtigt werden. In präreflexiver Einstellung, in der intuitiv mit den Mitmenschen gelebt wird und in der Widerspruch und Uneindeutigkeit etc. herrschen, muss auf rationale, stringente und konsistente Methoden der Wissenschaft zurückgegriffen werden. Es zeigt sich, dass theoretische Wissenschaft und Lebenswelt grundsätzlich unterschiedliche Eigenschaften besitzen, weshalb Descartes (in Fuchs 2006b:333 f.) schreibt: »Um ganz im Alltäglichen zu leben […], solle man sich des Studiums der Wissenschaften besser enthalten.«

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3.6.2 Die psychologische Dimension in der Bewegungstherapie Die Arbeit als Therapeut in der ganzheitlichen Bewegungstherapie setzt zwar keine langjährige Ausbildung etwa für die Psychoanalyse oder die Psychiatrie voraus, denn es werden keine tiefenpsychologischen Diagnosen gestellt oder Medikamente verabreicht. Es müssen jedoch psychologische Grundkenntnisse vorhanden sein. Insbesondere in der ganzheitlichen Bewegungstherapie ist ein solches Wissen deshalb erforderlich, weil der Therapeut stets aufgefordert ist, seinen Patienten angemessen, d. h. gesundheitsfördernd zu betreuen. Dies geht auch mit der Interpretation seines Verhaltens und seiner Empfindungen wie Angst, Abwehr, Scham oder Erschöpfung einher, um abschätzen zu können, ob eine Notwendigkeit zum Motivieren des Patienten besteht oder ob der Patient eher gebremst werden sollte. Die täglichen Anforderungen an den Therapeuten wie die Leistungsbeurteilung des Patienten werden allein über die Kenntnisse der Physiologie nur zum Teil gestützt. Blicke, Körperhaltungen, ablehnendes »genervtes« Verhalten, unverständliche Handlungen etc. sind nicht naturwissenschaftlich im Sinne des Ursache-Wirkungs-Prinzips erklärbar, sondern nur vor dem Hintergrund der aktuellen privaten oder beruflichen Situation zu verstehen bzw. zu deuten. Wer die Meinung vertritt, dass Psychologie nur von studierten Psychologen durchgeführt werden darf, verkennt die tägliche Arbeit in der Bewegungstherapie. Wenn etwa ein chronisch beeinträchtigter Patient die Frage stellt, ob er je wieder laufen kann oder warum alle Menschen ihn nicht mögen und der Therapeut darauf eine geeignete Antwort sucht, befindet er sich bereits tief in psychologischem Gebiet. Besonders im unmittelbaren Umgang mit dem Patienten fördert das Wissen um allgemeingültige psychische »Rahmenbedingungen« des Menschen wie die Grundbedürfnisse, die Wirkung des Unbewussten, psychische Abwehrmechanismen vor Angst, Schuld und Scham sowie die Berücksichtigung der Tatsache, dass jede Handlung und jedes Verhalten für den Akteur sinnvoll ist, Verständnis, Nachsichtigkeit und Sympathie (siehe Kapitel 3.3). Das Wissen, dass jedes Verhalten für das Subjekt sinnvoll ist (siehe Kapitel 1.4.2), führt zur Sinndeutung und damit zur Frage, welche allgemeingültigen psychischen Vorgehensweisen greifen. Die Erkenntnis, dass Verhaltensweisen zwar unterschiedlich sein können, jedoch aus intersubjektiv gültigen Motiven erwachsen, macht es möglich, sich mit dem Patienten trotz der vom Therapeuten eventuell als negativ empfundenen VerhaltensweiAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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sen zu identifizieren. Mit der Berücksichtigung psychologischer Sachverhalte wird jede therapeutische Maßnahme daher »wärmer, liebender und anerkennender in ihrem Verhältnis zum Menschen« (v. Weizsäcker 1987b:390/VII). Zur Erfüllung der vier in Kapitel 3.4.2.1 aufgeführten Funktionen des Patientengesprächs muss gewusst werden, welche Faktoren zur menschlichen Gesundheit beitragen und welche im Umkehrschluss hieraus pathogen wirken. Insbesondere für die dritte und vierte Gesprächsfunktion (Ergründung eventueller psychosozialer Konflikte; Aufklärung über eigene Verantwortung für Gesundheit) muss bekannt sein, dass das Unbewusste wirken kann und dass es Abwehrmechanismen gibt, die dem Abwehrenden zumeist nicht klar sind. Es muss bekannt sein, dass Seelisches sich im körperlichen Geschehen darstellen kann und dass sich Konflikte stellvertretend in körperlichen Symptomen zeigen können. So ist es z. B. wichtig zu wissen, dass es für einige Patienten einen Gewinn darstellen kann, krank zu sein; etwa in Form einer vermehrten Fürsorge seitens der Bezugspersonen, also auch des Bewegungstherapeuten. Das hierdurch hervorgerufene Krankheitsstreben kann sich dahingehend zeigen, dass der Patient, ohne es probiert zu haben, rasch erklärt, dass er eine ihm aufgetragene Aufgabe aufgrund der Beeinträchtigung nicht bewältigen kann. In diesem Fall muss der Therapeut den Patienten auch einmal etwas deutlicher motivieren, es zu versuchen, um ihn nicht in seinem Krankheitsstreben zu bestärken. Es kann sich darüber hinaus jedoch auch eine Neurose entwickelt haben, die sich in Schmerzempfindungen oder auch Lähmungserscheinungen zeigt. In diesem Fall ist unbedingt ein Psychologe zu Rate zu ziehen. Es muss nämlich dann u. a. die Frage geklärt werden, ob der Bewegungstherapeut besonders nachsichtig agieren muss, um dem Patienten ein verstehendes und respektvolles Miteinander zu bieten oder ob er bei ihm, wie v. Weizsäcker (1986b:472/VI; 1987a:275/V) zu bedenken gibt, mit dieser Nachsicht auch eine Krankheitsfixierung hervorrufen kann. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, ob eine strenge und fordernde Vorgehensweise seitens des Therapeuten den Patienten dazu bringt, seine Leibverfügung und Welthabe zu verbessern und er hierdurch seine Gesundheit fördert oder ob sie zu Frustration und Vertrauensverlust führt. In diesem Fall wäre es denkbar, dass sich der Patient vom Therapeuten unverstanden fühlt, sich von ihm und der Therapie abwendet und tiefer in seine vermeintlich rein somatische Krankheit flüchtet. 248

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Folgerung für eine ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie

Bei schwerwiegenden seelischen Problemen wie tiefe Niedergeschlagenheit oder eine bipolare Störung reichen die psychologischen Kompetenzen des Bewegungstherapeuten nicht aus. Hier ist unbedingt die Konsultation eines Fachmanns erforderlich. In Anlehnung an v. Weizsäcker (2005:292/X) lässt sich sagen, dass derjenige Therapeut besser ist, der verschiedene Zugänge zum Menschen kennt, »aber zugleich sich auf das zu beschränken weiß, was er kann.« Um den Besuch eines Psychologen anraten zu können bzw. einen solchen um Rat zu fragen, müssen zuerst grundsätzliche seelische Zusammenhänge be-kannt sein und er-kannt werden. Deshalb und aufgrund der in dieser Arbeit ausführlich beschriebenen grundsätzlichen Notwendigkeit, seelische und soziale Aspekte in die Menschen- und Krankheitsbetrachtung einzubeziehen, ist es uneingeschränkt notwendig, dass, wie auch Meyer-Abich (2010a:73) fordert, alle Mediziner und somit auch alle Bewegungstherapeuten zumindest ein Grundlagenwissen auf psychosomatischem bzw. anthropologischem Gebiet besitzen.

3.6.3 Die ganzheitliche Bewegungstherapie als allgemeine Therapie Im Sinne v. Weizsäckers, der seine Anthropologische Medizin nicht als Addition von Körpertechnik und Psychologie verstanden wissen wollte, sondern als neue, umfassende, einheitliche, d. h. allgemeine Medizin (z. B. v. Weizsäcker 1987b:160, 279/VII; 1988:487 ff./IX; 1997:92 f./IV), wird auch die Bewegungstherapie nicht als Summe verschiedener Einzeldisziplinen verstanden, sondern als allgemeine Therapie, die der Forderung nach der Einführung des Subjekts im nichtärztlichen Gesundheitsbereich entspricht. Die Einführung des Subjekts, die nicht mit der Ausklammerung des Menschen als Objekt einhergeht, sondern diesen mit einschließt, bedeutet: 1. Einbezug der Hermeneutik als Sinndeutung, d. h., die Betrachtung seelischer Aspekte verbleibt nicht bei einer erklärenden Psychologie als »Physik der Seele« (v. Weizsäcker 1987a:13/V). 2. Berücksichtigung des Betrachters bzw. Forschers als intentionales und perspektiv-behaftetes Subjekt, das seine Wahrnehmung durch die eigene Hinwendung im Sinne des Gestaltkreises aktiv mitgestaltet. Subjekt und Objekt sowie Innen und Außen sind nicht mehr klar zu trennen. 3. Berücksichtigung der individuellen Biographie und des individuellen Zur-Welt-Seins. Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Berücksichtigung des sozialen Mitseins und damit Einbezug des Menschen als Gemeinschaftswesen. 5. Berücksichtigung des Menschen als ganzes, nicht beliebig teilbares, pathisches Wesen mit seinem subjektiv-phänomenalen Erleben. Seine Krankheit ist nicht auf physiologische Dysfunktionen zu reduzieren, sondern umfasst auch »eine subjektive, persönliche oder geistige Instanz« (v. Weizsäcker 1987b:286/ VII). 6. Berücksichtigung der primordialen Einheit des Menschen. Zuerst ist der ganze Mensch. Seine einzelnen materiellen Strukturen und seelischen Aspekte treten erst im Nachhinein aufgrund analysierender Methoden hervor und machen deutlich, dass »alles mit allem zusammenhängt« (v. Weizsäcker 1987a:332/V). 7. Beachtung des Einflusses zwischen den bewussten und unbewussten seelischen Vorgängen und den körperlichen Prozessen. Selbst vermeintlich rein körperliche Prozesse wie Schmerzwahrnehmungen sind keine objektiven Vorgänge, sondern eine Zuwendung des Subjekts zur Welt. Der Mensch geht einen Gestaltkreis mit der Welt ein, weshalb eine klare Unterscheidung zwischen Innen und Außen nicht mehr möglich ist. Die ganzheitliche Bewegungstherapie kann in Anlehnung an den Allgemeinmediziner bzw. Hausarzt als allgemeine Therapie bezeichnet werden. Der Hausarzt gehörte in früheren Zeiten quasi mit zur Familie. Krankheiten wurden im Gefüge der häuslichen Lebensverhältnisse des Betroffenen betrachtet, um ihn zu seiner Bestimmung 81 führen zu können (vgl. Gadamer 2010a:161; vgl. Meyer-Abich 2010a:110). Um einen Patienten zu seiner Bestimmung führen und von krankheitsfördernden Situationen fernhalten zu können, muss der Therapeut seinen Patienten kennen. Dieses Kennen ist auf die Möglichkeit der Betrachtung des Menschen in seiner Lebensganzheit, die mit einer entsprechenden zeitlichen Dauer einhergeht, angewiesen. Heutzutage führt die große Anzahl von Überweisungen zu unterschiedlichen ärztlichen Spezialisten dazu, dass jede Krankheit zumeist aus dem Lebensumfeld isoliert erfasst wird (vgl. Gadamer 2010a:161). Ärzte haben in Deutschland durchschnittlich nur ca. acht Minuten pro Behandlungseinheit zur Verfügung (Koch et al. 2007:A2586). Die Bestimmung meint, wie bereits erwähnt, das, »wofür ein Mensch von sich aus gut ist oder worin sich sein Leben, wenn es gutgeht, in einem persönlichen Sinn erfüllen könnte« (Meyer-Abich 2010a:124).

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Folgerung für eine ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie

Der Bewegungstherapeut hat hingegen mindestens 20 Minuten, bei schwerer Beeinträchtigung auch weitaus mehr Minuten Zeit. Wenn darüber hinaus beachtet wird, dass ein Patient mehrmals die Bewegungstherapie aufsucht, der Arzt hingegen häufig nur einmal pro Gesundheitsbeschwerde zu Rate gezogen wird, wird ersichtlich, dass der Bewegungstherapeut in einem höheren Maße die Möglichkeit hat, mit dem Patienten in Kontakt zu treten und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Er hat in seiner Funktion als Therapeut die Aufgabe, den Blick nicht nur auf die Krankheitssymptome zu richten, sondern den Menschen in seiner Lebensganzheit mit seiner Biographie, seinem aktuellen Lebenswandel und seinen Wünschen, Sorgen, Ängsten und Zielen zu betrachten. Da die sozialen Verhältnisse maßgeblich die Gesundheit beeinflussen, muss es die Aufgabe einer ganzheitlichen Bewegungstherapie sein, den Patienten gegebenenfalls bei der Vermittlung einer für ihn angemessenen Arbeitsstelle oder Wohneinrichtung und bei der Wiedereingliederung in das alte oder neue Leben zu unterstützen (siehe Kapitel 3.4.2.2). In der ganzheitlichen Bewegungstherapie geht die Einführung des Subjekts und der Einbezug des Seelischen oberflächlich betrachtet mit einer Belastung sowohl des Therapeuten als auch des Patienten einher, denn der Mensch verliert die beruhigende Täuschung einer eindeutigen und rationalen Struktur des Lebens. Der Therapeut kann sich in seinem Handeln nicht mehr nur auf Naturgesetze berufen. Die Analyse des Symptoms verspricht nicht mehr die Aufdeckung und damit Beherrschung der Krankheitswurzel (Mitscherlich 1974:57 ff.). Darüber hinaus ist er nicht mehr ein unbeteiligter Beobachter, sondern er wird selbst durch den Umgang mit dem Patienten mit einbezogen. Dies kann nicht nur positive Selbsterkenntnisse mit sich bringen, sondern auch eigene verdrängte Konflikte berühren. Dieses Einbezogensein kann für den Therapeuten deshalb auch mit einer seelischen Belastung einhergehen. Auf der anderen Seite muss sich der Therapeut in seinem Handeln nicht mehr nur auf Messdaten und schulmäßige Behandlungsregeln beziehen. Die Bewegungstherapie wird nicht mehr – metaphorisch gesprochen – wie am Reißbrett mit Lineal, Zirkel und spitzem Stift in schwarz-weiß entworfen und als distanzierte Begegnung und Beobachtung rigide durchgeführt. Es findet stattdessen ein zum Teil spielerischer Umgang statt, in dem der Therapeut den Patienten immer wieder fordert, aber nicht überfordert. Er muss streng sein, aber auch als Freund auftreten. Der Therapeut beherrscht den Patienten nicht, sondern er lässt sich auch von Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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ihm prägen, nimmt Vorlieben auf und baut diese in die variantenreiche Therapiekonzeption mit ein. Allerdings darf sich umgekehrt auch der Therapeut nicht vom Patienten beherrschen lassen. Der Umgang zwischen Therapeut und Patient ist mit einem Paartanz zu vergleichen, bei dem der Therapeut zwar die Führung übernimmt, jedoch erst das gegenseitige Aufeinander-Einlassen ein harmonisches Miteinander ermöglicht. Weiterhin bedarf es der Kreativität des Therapeuten um mit den gegebenen Geräten und Materialien des Therapieraums für jeden Patienten angemessene Bewegungsaufgaben bereitzustellen. Es werden immer wieder neue Varianten als kreative Produkte des Bewegungstherapeuten hervorgebracht.

3.7 Der freie und selbstverantwortliche Patient Es ist ein Ziel dieses Buches, Selbstverständlichkeiten aufzudecken und zu reflektieren, die zumeist unbemerkt im Alltag der naturalistisch geprägten Mitglieder westlicher Industriegesellschaften bestehen, um aus den gewonnenen Einsichten eine ganzheitlich orientierte Bewegungstherapie zu begründen. Zu den zumeist unbemerkten Selbstverständlichkeiten zählt die Ansicht, dass das menschliche Wesen besser zu verstehen und zu beeinflussen ist, je detaillierter der Mensch physikalisch bestimmt werden kann. Es zeigt sich allerdings, dass diese Meinung einer eingehenden kritischen Reflexion nicht standhält. Diese Einsicht hat auch Folgen für die Bewertung des Stellenwerts der Naturwissenschaft als Humanwissenschaft, die nun nicht mehr sakrosankt ist, sondern als eine Wissenschaft, die zwar ausgesprochen wichtige Erkenntnisse über den Menschen liefert, die aber auf andere auch vorwissenschaftliche Erkenntnismethoden angewiesen bleibt. Innerhalb der ganzheitlichen Bewegungstherapie beeinflussen die aus der Beschäftigung mit theoretischen anthropologischen Themen gewonnenen Erkenntnisse 1. das Verhältnis zwischen dem Therapeuten und dem Patienten (siehe Kapitel 3.2 und 3.3), 2. das Verhältnis zwischen dem Patienten und seiner eigenen Krankheit (siehe insbesondere Kapitel 3.4.2) sowie 3. die Bewegungsaufgaben jeder Therapieeinheit (siehe Kapitel 3.5.2). Die Reflexion des Welt- und Menschenverständnisses und die hiermit einhergehende Betrachtung des situativen Menschenbilds verbleiben somit nicht in der abstrakten theoretischen Wissen252

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Der freie und selbstverantwortliche Patient

schaftswelt, sondern prägen maßgeblich das Zur-Welt-Sein jedes Menschen und seine konkrete praktische Handlungsmaxime. Die Notwendigkeit und der Inhalt der Aufklärung des Patienten wurden in Kapitel 3.4.1 und 3.4.2 umfassend aufgezeigt. Nicht nur für den Therapeuten, sondern auch für den Patienten scheint es zunächst, dass er durch die Einführung des Subjekts eine Verschlechterung seiner Situation zu verkraften hat, denn er ist plötzlich gezwungen, Krankheit auch als Kranksein zu akzeptieren. Er muss sie zu sich in Beziehung setzen und sie als Möglichkeit zur Selbstfindung verstehen. Dies kann einen großen seelischen Aufwand bedeuten. Weiterhin verliert er die klare Ordnung und Sicherheit, die der Naturalismus ermöglicht. Nun ist seine Gesundheit nicht mehr ausschließlich körperlich zu verstehen, sondern, ohne sich des Einflusses bewusst zu sein, kann auch er selbst unbewusst an Gesundheit und Krankheit beteiligt sein. Eine eindeutige »Defektfindung« ist im Falle einer Krankheit deshalb nicht mehr möglich. Die Entlastung und der große Gewinn der subjektbasierten Ansicht überwiegen jedoch die Nachteile: Die Lebenswelt, das praktische unmittelbare Erleben wird wieder als ursprüngliches Original anerkannt, weshalb Qualitäten, Ziele, Ängste, Wünsche, der freie Wille und der Sinn allen Lebens nicht nur als Illusion oder als sekundäre Aspekte des Physischen, sondern als Wirklichkeit anerkannt werden. Der Mensch, wie er sich und andere als Subjekt erlebt, wird wieder als Ganzes ernst genommen und nicht als (Über-)Summe der Materie. Der Patient wird aus dem Zwang des Maschinenvergleichs entlassen, der mit einer Forderung an sich selbst, stets gleichbleibende Leistung und immer perfekte Gesundheit vorzuweisen, einhergeht. Er wird von dem Kontrollzwang befreit, Normwerte exakt einzuhalten und kann stattdessen gelassener sein Leben gestalten. Gleichzeitig wird er in die Lage versetzt, sich selbst zu verstehen und Verantwortung für sein eigenes Leben zu übernehmen. Er erlebt nun nicht nur seine menschlichen Bedürfnisse als Subjekt, sondern er versteht sie und erkennt sie an. Menschsein (inklusive Krankheit) ist dadurch nicht mehr Schwäche gegenüber der Maschine (siehe »prometheische Scham« in Anders [2000:21 ff.]), sondern Stärke, denn nur aus dem verstehenden und verstandenen Menschsein kann der Mensch Mensch sein. Die naturwissenschaftliche und anthropologische Aufklärung soll dem Patienten helfen, seine Gesundheit selbst zu bewahren oder zu verbessern, um zukünftig (in Abhängigkeit der Schwere der Beeinträchtigung) einen Arztbesuch unnötig zu machen. Der Patient soll hierdurch als mündige, Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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wissende und selbstsichere Person die zukünftige eigene Gesundheit positiv beeinflussen. Es ist eine fundamentale Aufgabe des Therapeuten, dem Patienten Zuversicht und Optimismus zu vermitteln und ihm respektvoll und freundschaftlich auch mit Scherzen gegenüber zu treten (siehe Kapitel 3.5.2.7). Der Therapeut soll Lebensfreude vermitteln, denn es ist keine Maschine, die die Therapie aufsucht, sondern ein notleidender Mensch. Hierfür muss der Therapeut jedoch auch selbst das Leben bejahen. Er muss selbst den Menschen als Menschen mögen, fröhlicher Natur und optimistisch sein. Nur wer selbst zuversichtlich und positiv dem Leben als Leben (nicht als biologische Abfolge von Naturprozessen) gegenübersteht, kann den Patient dahin führen, dass dieser nicht ständig argwöhnisch und misstrauisch die Leistungen des eigenen Körpers beobachtet. Es soll ihm vermittelt werden, dass er nicht jeden Tag maschinell perfekte Leistungen zu erbringen hat, sondern dass er auch Missbefinden mit Gelassenheit hinnehmen darf. Das Ziel der Bewegungstherapie ist bei Patienten mit chronischer gesundheitlicher Beeinträchtigung, je nach Schwere, die Leibverfügung und Welthabe zu erhöhen, zu erhalten oder ihre Verminderung zu reduzieren. Bei einer Beeinträchtigung mit psychosozialem Hintergrund oder die aufgrund einer ungesunden Lebensweise entstanden ist oder bei der eine quasi vollständige Genesung möglich ist, ist es das Ziel, dass sich der Therapeut selbst entbehrlich macht. Bei allen Arten von Krankheiten ist es das Ziel, sich von dem Mensch-Maschinenvergleich zu lösen und sich als Lebewesen mit Wohl- und Missbefinden, Gelingen und Nicht-Gelingen zu akzeptieren und sich gleichzeitig – nach individuellem Vermögen – der Verantwortung zu stellen, auch das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Dem Patienten soll geholfen werden, sich für eine Lebenskunst zu öffnen, »die darin besteht, das Leben sowohl zu führen als auch sich selbst leben zu lassen. [Die hierzu notwendige] Dialektik von physis und techne […] ergibt sich aus einem bewußten Seinlassen auch angesichts von Eingriffsmöglichkeiten, aus einer Haltung der Gelassenheit« (Fuchs 2006b:349) – eine Gelassenheit im Sinne der serenitas: »Gefestigtheit, die nicht immer gleich wertet, Betrachtung, die auf Erregung verzichtet« (Horx 2014:73). Die Kunst des Bewegungstherapeuten besteht darin, zu erkennen, ob und wann dem Patienten geraten werden muss, sein Leben hinzunehmen oder es zu ändern. Hierfür existiert kein objektiv geltendes Raster. Daher bedarf es der Kenntnisse aus dem Bereich der Anthropologie inklusive der Phäno254

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Der freie und selbstverantwortliche Patient

menologie, der Psychologie inklusiver sozialer Zusammenhänge und der Naturwissenschaft. Es bedarf jedoch auch der Intuition, die auf einer vorwissenschaftlichen Lebenserfahrung aufbaut. Die Zeit in der Bewegungstherapie soll in allen Fällen zum Wohlbefinden des Patienten als pathisches Subjekt beitragen. »Die Reise ins Land des Subjekts eröffnet den Blick für veränderliches Wetter, buntere Farben […]. Das Schwere soll leicht werden. Durch Sympathie, und das ist schon eine Halbierung der Last. Durch nützliche Unterstützung, und das kann schon der Entlastung nahekommen. Und durch Abwerfen von Ballast, und damit kann der Ballon steigen. Es handelt sich nämlich bei der [Reise des Subjekts durch die lebensweltliche] Landschaft nicht ums Schwere, sondern ums Leichtere, nicht ums Grobe, sondern ums Feine, nicht um den Ernst, sondern ums Heitere« (frei nach v. Weizsäcker 1988:577 f./IX).

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4 Epilog: Der Naturalismus in der Gesellschaft

In den vorherigen Kapiteln wurde herausgearbeitet, dass es nicht genügt, den Menschen lediglich als vereinzelten Organismus zu betrachten. Stattdessen ist der Mensch primär als ein Gemeinschaftswesen zu verstehen. Weiterhin konnte dargestellt werden, dass eine theoretische Beschäftigung mit dem Menschen das praktische Handeln im Alltag jedes Einzelnen, aber auch das jeder therapeutischen Maßnahme maßgeblich verändern kann. Das Menschenbild und das damit einhergehende Krankheitsverständnis spannt sich über den einzelnen Menschen und den verschiedenen Gesellschaftsschichten hinaus und wird – zumeist unbemerkt – durch die herrschende Kultur weitergegeben. Die Ansicht etwa, dass der Mensch dem Kausalgesetz unterliegt und alle relevanten Aspekte mithilfe der Physik erfasst werden können, ist fest in der heutigen westlichen Industriegesellschaft verankert (vgl. Janich 2008:32; Störig 2011:321 f.). Dass die Ansichten der eigenen Kultur zumeist nicht hinterfragt werden und als wahr gehalten werden, liegt daran, dass die eigene Kultur für den Einzelnen so unspürbar und gleichzeitig so selbstverständlich ist wie die Luft, die er atmet. 82 Sie ist als die Matrix, zu der alles das, was ist und geschieht, relativ und dafür, dass alles, was ist und geschieht, seine Bedeutung und seinen Sinn erhält, lebensnotwendig (MeyerAbich 2010a:553). Der Mensch ist also stets als ein Teil seiner Kultur zu verstehen, die sich historisch entwickelt hat (Condrau 1962:21). Die strenge evidenzbasierte Wissenschaft sowie die Personen, die sich mit deren wissenschaftlichen Regeln und Bedingungen auskennen, sie beherrschen und anwenden können, genießen in der Gesellschaft ein hohes Ansehen: Ergebnisse, die nach den wissenschaftlichen Gütekriterien erzielt wurden, gelten als objektiv und wahr. Um z. B. den Menschen als Konsumenten der Nahrungsmittelindustrie, Die Kultur ist ebenso in ihrer Selbstverständlichkeit als Nullpunkt unsichtbar wie der eigene Leib (siehe Kapitel 1.4.1).

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Epilog: Der Naturalismus in der Gesellschaft

der Pharmaindustrie, der Kosmetikindustrie usw. vor gesundheitsgefährdenden Substanzen zu schützen, sind selbstverständlich evidenzbasierte Angaben notwendig. Auch in vielen anderen Bereichen des menschlichen Lebens sind vergleichbare wissenschaftlich hervorgebrachte Daten unabdingbar und zwar dann, wenn der Mensch als Organismus interessiert. Dass diese objektivierbare, von der Naturwissenschaft genutzte Vorgehensweise nicht uneingeschränkt auf den Menschen übertragen werden kann, wenn er als soziales Subjekt innerhalb seiner Lebenswelt betrachtet wird, wurde in den vorherigen Kapiteln dargelegt. Dennoch gibt es in der Medizin eine allgemeine Tendenz, den Menschen zu verdinglichen und ihn auf seine Materialität zu reduzieren. Die Voraussetzung hierfür liegt in der Ambiguität des Menschen, der sowohl sein Leib ist, der aber auch einen messbaren Körper besitzt, welcher seine Lebensvollzüge ermöglicht (siehe Kapitel 1.4.4). Nachfolgend wird zunächst herausgearbeitet, weshalb der naturalistische Grundgedanke in der westlichen Gesellschaft dominiert und welche Probleme dies aufwirft. Es wird außerdem dargestellt, warum das entsprechende Menschen- und Krankheitsbild keinen Anspruch auf eine letzte Wahrheit beanspruchen kann, sondern lediglich das Zwischenergebnis einer langen historischen Entwicklung darstellt. Es sollen Gründe aufgezeigt werden, warum es nötig sein kann, den Menschen in seine einzelnen Sphären aufzuspalten und Grenzen zu ziehen, die kein Bestandteil des phänomenal erlebten Lebens sind. Abschließend werden gesellschaftliche Bedürfnisse untersucht, um herauszufinden, ob der Glaube, die Naturwissenschaft könne die Welt und damit den Menschen lückenlos bestimmen, mit dem Streben, eigene metaphysische Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen, zu erklären ist. Um den Menschen als ein physikalisch zu beschreibendes Wesen darstellen zu können, muss er, da dem Menschen Sinn- und Bedeutungsaspekte immanent sind, in eine messbare, sinnfreie und eine deutbare, immaterielle Entität im Sinne des cartesianischen Dualismus aufgeteilt werden. Es werden daher nachfolgend die notwendigen Bedingungen der Spaltung des Menschen in die beiden unterschiedlichen Bereiche – Leib und Seele – aufgezeigt.

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4.1 Die Notwendigkeit der Leib-Seele-Spaltung Die Philosophie hat eine besondere Freiheit, die die tägliche medizinische Praxis nicht besitzt: Sie unterliegt nicht einem Formalisierungszwang oder, wie Thomas (1996:177) schreibt, dem »Druck der Praxis«. Sie hat sich der Wahrheit verschrieben, unabhängig von ihrer Vergänglichkeit, Einzigartigkeit und Unanschaulichkeit. Wenn das Leben und die Lebensvollzüge unanschaulich sind, dann können sie auch nicht anschaulich dargestellt werden 83 (vgl. v. Weizsäcker 1987a:185/V). Wenn das Leben keine klaren Grenzen kennt, so muss die Philosophie auch keine solchen ziehen. Im praktischen Miteinander, wie etwa in jeder Gesellschaft mit einem gemeinschaftlichen Gesundheitssystem, müssen dagegen notwendig künstliche Grenzen gezogen, d. h., es müssen hier Krankheitsdefinitionen formuliert werden. Ohne sie wäre es nicht möglich, Krankheiten zu differenzieren, zu klassifizieren und hierauf aufbauend Entscheidungen zu treffen, ob und in welchem Maß einem Menschen medizinische Hilfe zusteht oder nicht. Es ist eine wichtige Aufgabe des Arztes bzw. des Gutachters z. B. im Falle eines Verkehrsunfalls, einerseits den Schuldigen gegen eine überhöhte Forderung seitens des Geschädigten zu schützen, aber andererseits den Verletzten in angemessener Weise zu unterstützen. Hierfür sind die Verletzung bzw. die gesundheitliche Schädigung und die Schuld des Verursachers zu quantifizieren (vgl. ebd. 1986c:180/VIII). Allerdings ist bei sogenannten Unfallneurosen eine klare Beurteilung und deutliche Trennung zwischen seelischer und körperlicher Problematik häufig schwer zu erreichen, da es hier zu einer Verschlingung beider Bereiche bzw. zu unterschiedlichen Deutungen kommen kann 84 (ebd.: 178/VIII). Das Spannungsverhältnis zwischen philosophischer Wahrheit, Ein unüberwindliches Problem besteht allerdings in der phänomengerechten Darstellung einer Koinzidenz, da sowohl eine gesprochene als auch eine geschriebene Beschreibung notwendig in einem Nacheinander gestaltet wird. 84 Der Unfallverursacher behauptet, dass er nichts für die Neurose des Unfallopfers kann, die dazu führt, dass dieser Mensch nicht mehr arbeiten will. Er sei daher nicht verpflichtet, Geld zu zahlen. Der Anwalt des Unfallopfers entgegnet, dass der Unfall zur Willensschwäche geführt hat, die das Opfer daran hindert, zu arbeiten. Oder er behauptet, dass die Vorstellung, krank zu sein, durch den Gehirndefekt entstanden ist, der durch den Unfall verursacht wurde; das Unfallopfer kann daher aufgrund des Unfalls nicht mehr arbeiten wollen. Wer den monetären Ausfall durch Arbeitsverlust ersetzen muss, ist somit nicht ohne Weiteres entscheidbar (vgl. v. Weizsäcker 1986c:178/VIII). 83

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Die Notwendigkeit der Leib-Seele-Spaltung

nach der es keine eindeutige Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit gibt, und pragmatischer Notwendigkeit lässt sich durch den Beitrag von Klaes & Walthes (1995:237 ff.) verdeutlichen: Die Autorinnen begründen aus erkenntniskonstruktivistischer Sicht, dass eine Bewegungsstörung nicht die Störung des Beobachteten, sondern des Beobachters ist: Das gestörte Verhalten wird vom Beobachter als solches aufgefasst, da er es nicht in seine eigene Ordnung einfügen kann. Die Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass eine objektiv vorhandene Bewegungsstörung nicht existiert. Sollte jedoch, so eine mögliche Entgegnung, bei Menschen per se keine Störung festzustellen sein, wäre auch das Erfordernis einer therapeutischen Intervention nicht zu begründen. Es gäbe keine Bewegungsstörung und deshalb auch keine Indikation einer bewegungsfördernden Therapiemaßnahme. Die Notwendigkeit von künstlichen Grenzziehungen gründet somit auf dem Zwang der Operationalisierbarkeit und auf dem Zwang aus pragmatischen Gründen. Eine weitere Notwendigkeit ergibt sich im Alltag bei der Einschätzung des Verhaltens und gegebenenfalls der Schuldzuweisung anderer Personen. Wenn jemand auf einer Treppe von einem Passanten angestoßen wird, würde der Angestoßene vielleicht zunächst erbost sein. Erkennt er jedoch, dass die aus seiner Sicht rücksichtslose Person blind ist, entschuldigt die Behinderung diesen und der Angestoßene könnte sich dann fragen, ob nicht er selbst hätte aufmerksamer sein können (vgl. Wingert 2004: 199). Ähnlich verhält es sich mit jemandem, der am Tourette-Syndrom leidet. Wenn dieses Leiden nicht bekannt ist, wird der Beobachter den Schreienden verurteilen. Weiß er dagegen um die Krankheit, kann das Verhalten verstanden und entschuldigt werden. Aus »er wollte so handeln« folgt: »er musste so handeln«. Aus »er durfte nicht so handeln, weil er es nicht soll« folgt: »er durfte so handeln, weil er nicht anders kann und deshalb musste«. Gleiches gilt auch für geistig Beeinträchtigte: Wenn sich eine Person aus Sicht eines Beobachters ungebührlich verhält, ist er nachsichtiger, wenn er sie (aufgrund welcher Indizien auch immer) als geistig beeinträchtigt erfasst hat. Es kann somit bereits vor jeder wissenschaftlichen Reflexion ein latenter Dualismus festgestellt werden, allerdings nicht nur in der Fremdzuschreibung, sondern auch im Erleben des eigenen Selbst, also etwa zwischen dem, was jemand will, und dem, was er kann (siehe Kapitel 2.3.1): Dinge wie Vorstellungen und Wünsche entsprechen zumeist phänomenal dem Willen des Menschen, der Körper jedoch nicht immer (vgl. Plügge 1967:41; vgl. Waldenfels 1986:167 f.). Das Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Kind möchte die gleiche Leistung erbringen wie das erwachsene Vorbild; dies gelingt ihm jedoch nicht. Die querschnittsgelähmte Person möchte ihre vor dem Trauma gewohnten Alltagstätigkeiten wieder aufnehmen, schafft dies jedoch nicht. Es entsteht bei allen Beispielen eine subjektiv erlebbare Differenz zwischen seelischem »Wollen« und körperlichem »Können«. Buytendijk (1972:277) schreibt hierzu: »Der ›Wille‹ erscheint uns erst als etwas Selbständiges, wenn er von der Verwirklichung losgelöst ist, also einem ›unwilligen Leib‹ gegenübersteht.« Der phänomenale Leib-Seele-Dualismus begründet sich in der erlebten Dissonanz zwischen der Freiheit und Ungebundenheit des Wollens sowie der Begrenztheit und Gebundenheit des Könnens (z. B. Thomas 1996:115; Waldenfels 1986:167 ff.). Daher erscheint er aus dieser Perspektive als natürliche menschliche Empfindung, weshalb, so Mitscherlich (1974:64), »im Alltag […] Seelisches von Leiblichem getrennt [bleibt]«. Wenn die Wirklichkeit im ursprünglichen Sinne des Wortes verstanden wird, nämlich als das, was wirk-sam ist (vgl. Mutschler 2011:144), so sind sowohl der Körper als Materiekomplex als auch die Seele als nicht-messbare Sphäre Wirklichkeiten des Menschen. Bedeutung und Sinn sind zwar nicht physikalisch vorhanden (v. Weizsäcker 2005:405/X), aber sie sind wirk-lich, denn sie leiten die Handlungen des Menschen: Ich wende mich z. B. von einer Aufgabe ab, weil sie für mich Gefahr bedeutet (siehe Kapitel 1.1.1). Eine Trennung im Sinne des Dualismus ist auch in der täglichen Arbeit der Medizin notwendig, weil beide Wirklichkeiten unterschiedlichen Kategoriesystemen angehören und Gültigkeitskriterien unterliegen. Körperliche bzw. seelische Aspekte werden unterschiedlich erfasst (Messung vs. Gespräch und Deutung), unterschiedlich bewertet (organische Insuffizienz: Kausalnexus vs. moralischer Konflikt: SinnZiel-Bezug) und unterschiedlich verändert (Medikament, Substanz vs. Gespräch, Bedeutung). Das präreflexive Erleben lässt sich in dieser Hinsicht als originäre Wahrheit und die reflexive Betrachtung als sekundäre abstrakte Notwendigkeit begreifen. Die Wissenschaft muss das Leben zu Ungunsten der Wahrheit abstrahieren (vgl. Cho 2007:61; vgl. v. Weizsäcker 1987b:142/VII). Das Seelische bedarf einerseits der Materie, andererseits ist jeder Lebensvollzug bewusst und/oder unbewusst seelisch beeinflusst. So ist selbst die Magentätigkeit kein reiner physiko-chemischer Prozess, sondern auch abhängig vom Behagen, vom Befinden und von Bedeutungsbezügen sowie von Intentionen des Menschen (v. Weizsäcker 260

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Die Tendenz zum Naturalismus des Arztes und Therapeuten

1987a:240/V). Die Metapher vom Sonnenlicht, das erst in der Reflexion sein Farbspektrum offenbart (siehe Kapitel 1.5.5), macht deutlich, dass eine Veränderung des einen Aspekts immer auch den anderen tangiert. Die Wissenschaft kann also wirkliche Teile des Menschen erkennen, aber nie in seiner Integration (vgl. ebd.:177/V; 1997:24/IV), da er entweder als Einheit erlebt oder reflektiert und dadurch geteilt wird, weshalb der Untersucher entscheiden muss, welcher Teil genauer betrachtet werden soll. Es verhält sich so, wie wenn jemand den Sand greifen will und dieser ihm, je fester er ihn halten möchte, immer mehr durch die Finger rinnt. Die unterschiedlichen Wirklichkeiten ergeben sich also aus der durch Notwendigkeit aufgebrochenen Wahrheit. Zu großen Problemen kommt es allerdings, wenn der Mensch in Körper und Seele geteilt wird, jedoch »in dem Bestreben, ihren Zusammenhang wiederherzustellen, diese verhängnisvollen Identifizierungen wieder vorgenommen [werden]: man stellt sich die Seele vor wie einen Apparat, und man bildet sich ein, der Körper habe die Fähigkeiten der Seele« (ebd. 1987b:328/VII). Es wird dann ein einziger Teil – hier das Körperliche – als ausschließlich wirkender Faktor des Menschen anerkannt, weshalb geglaubt wird, dass die Somatomedizin auch die Psychologie als »Physik der Seele« (ebd. 1987a:13/V) umfasst und daher den ganzen Menschen erkennen kann. Die Tendenz zum Naturalismus, also der Glaube daran, dass die chemisch-physiologische oder die physikalische Behandlung allein ausreiche, um allen Arten von gesundheitlichen Beeinträchtigungen entgegenzutreten, findet sich sowohl beim Arzt bzw. Therapeuten als auch beim Patienten sowie in der Heilmittelindustrie (vgl. ebd. 1986b:463/VI).

4.2 Die Tendenz zum Naturalismus des Arztes und Therapeuten Wissenschaftliche Erklärungsmodelle haben die Tendenz, universalisiert zu werden, und ein Modell, das in einem bestimmten Problembereich erfolgreich war, wird häufig vorschnell überall angewandt (Merleau-Ponty 2003:276). Diese Aussage lässt sich auch auf den Naturalismus beziehen: Die unbezweifelbaren großen Erfolge der Naturwissenschaft führten zu der Annahme, dass alles auf der Welt, um sein Wesen zu ergründen und es zielgerichtet zu beeinflussen, durch eine immer detailliertere Beobachtung der materiellen SubAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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stanz zu erfassen ist. Der Naturalist glaubt, dass »alles nur eine Sache des immer genaueren ›Hinsehens‹« ist (Hartmann 2006:107). Es entstand hiermit verbunden die Meinung, dass, wenn die Einzelheiten bekannt sind, das Ganze als deren Summe absolut zu ergründen sei. Die Einführung des Subjekts als Einführung des beteiligten und sich entscheidenden Arztes 85 geht sowohl mit einer größeren Verantwortung als auch mit einer Degradierung einher: In der Reflexion betrachtet der objektivistisch eingestellte Naturwissenschaftler den Menschen als einen komplexen Vorgang, den er nach objektiven Gesetzmäßigkeiten untersuchen kann. Hierdurch werden dem Arzt allgemeine Regelmäßigkeiten an die Hand gegeben, nach denen er sich in seinem Tun richten kann (vgl. Gadamer 2010a:124 f.). Allerdings ist die Folge der Objektivierung eine Versachlichung 86 des Menschen, da sich ausschließlich auf seine Körperlichkeit konzentriert wird, wodurch die pathische Teilnahme am Schicksal desjenigen als erleidendes Subjekt erschwert wird (Dürr in Dürr et al. 1997:35; vgl. Fuchs 2011:272; vgl. v. Weizsäcker 1987a:237/V). Die neue Verantwortung liegt in der Tatsache begründet, dass der Arzt als Subjekt zuvor entschieden hat, welche Wissenschaft er anwendet. Er ist deshalb nun auch in der Lage sich zu irren, nämlich wenn – bezugnehmend auf die Prisma-Metapher aus Kapitel 1.5.5 – er die Farbe, die das Sonnenlicht verändert, nicht berücksichtigt, sondern ausschließlich die andere Farbe beeinflusst. Der Arzt als Entscheider kann sich nicht mehr auf vermeintlich absolut gültige Gesetzmäßigkeiten berufen und verlassen, denn zum einen wird anerkannt, dass der Mensch keinen ausschließlich natürlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt und zum anderen hätte der Arzt auch eine andere Sichtweise wählen können. Darüber hinaus kann nicht mehr behauptet werden, dass er – entsprechend dem naiven Realismus – die Welt und damit auch den Patienten so sieht, wie diese tatsächlich sind, nach der Devise »Erkenntnis erkennt Objektives« (v. Weizsäcker 1997:299/IV). Stattdessen sieht er nur einen Ausschnitt des Ganzen, der bewertet werden muss. Da Wie bereits im Vorwort beschrieben, steht der Arzt in diesem Buch auch stellvertretend für Menschen in therapeutischen und speziell in bewegungstherapeutischen Berufen. 86 Eine Versachlichung, d. h. ein Zuschneiden auf eine einzige, nämlich materielle und bedeutungsfreie Dimension des Menschen kann nie komplett gelingen, da sich der Arzt als Subjekt stets in der Lebenswelt befindet und daher immer um die Menschlichkeit des Menschen weiß. Versachlichung ist hier als zunehmend unparteiliche Beschreibung des Menschen gemeint (vgl. Habermas 2011:79). 85

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Die Tendenz zum Naturalismus des Arztes und Therapeuten

der Arzt als Subjekt dem Patienten begegnet, beide sich miteinander im Umgang befinden, beide sich gegenseitig beeinflussen und der Mensch sich im Verlauf einer Analyse deshalb stets umbildet, ist im Patienten immer ein Teil des Mediziners und umgekehrt enthalten: Aus »dein Ich im Du« wird ein transjektives Verstehen als »unser Ich im Du« (v. Weizsäcker 1987a:20 ff./V) (siehe Kapitel 2.3.2.1). Eben weil der Umgang »ein Werden zweier verbundener Menschen ist, eben darum ist Objektivität im Sinne des wissenschaftlichen Begriffes der Person des Menschen gegenüber weder Möglichkeit noch Aufgabe« (ebd.:122 f.). Das Vorgehen und die Wertung des Naturwissenschaftlers können nicht mehr als objektiv erachtet werden, weshalb er sich nicht mehr auf einem festen Boden befindet (z. B. vgl. Grassi & v. Uexküll 1950:147; v. Weizsäcker 1986b:453/VI; 1987a: 122/V; vgl. 1988:557/IX; 1997:299 f./IV). Dass diese Tatsache häufig negiert oder verdrängt wird, ist als Abwehr vor der Subjektivität und vor der Fehlbarkeit sowie der Verantwortung zu deuten (vgl. Janich 2009:178; vgl. v. Weizsäcker 1997:301/IV): Wer objektiv ist, kann sich nicht irren und hat immer recht, denn wer auf Objekte blickt, kann allgemeingültige Gesetze anwenden. Objektives bedeutet daher zwar Einseitigkeit und Teilwirklichkeit, aber auch Sicherheit und Einfachheit. Objektives und Subjektives bedeuten dagegen Wahrheit, aber auch Risiko und Komplexität. Die mit der Komplexität einhergehende Erschwerung der Problemlösung ist ein wichtiger Grund für den Widerstand des Arztes gegen den Einbezug psychischer und psychosozialer Aspekte (vgl. Mitscherlich 1974:57 f.; vgl. v. Weizsäcker 1987a:338/V), die sich auch – ganz pragmatisch betrachtet – in einem erhöhten Zeitaufwand pro Patient niederschlägt. Nun muss jeder Patient individuell betrachtet und in dessen sowie der eigenen Subjektivität mittels des gegenseitigen Umgangs bewertet werden (Lown 2012:102). Der Vorteil des Naturalismus aus Sicht des Arztes ist also eine verminderte Komplexität der menschlichen gesundheitlichen Not, die mit einem vermeintlich geringeren Risiko einer fehlerhaften Diagnose sowie einem geringeren Zeitaufwand einhergeht. Es muss nicht abwartend behutsam und damit auch zeitintensiv auf den Patienten eingegangen werden, sondern die Machbarkeit der Krankheitsbekämpfung kann unmittelbar und direkt erfolgen (Adler 2000:45; Lown 2012:102). Weiterhin stimmt der Arzt in seinem naturalistischen Denken mit dem Zeitgeist der Gesellschaft und damit mit den Erwartungen des Patienten (s. u.) sowie der Heilmittelindustrie überein (MitscherAuf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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lich 1974:54 f.; Unschuld 2014:79 ff.; v. Weizsäcker 1986b:463/VI; 1987b:270 ff./VII). Diese Korrespondenz führt einerseits zu einem hohen gesellschaftlichen Ansehen des Arztes, denn es wird davon ausgegangen, dass er allein die Fähigkeit besitzt, Gesundheitsprobleme zu lindern, weshalb es keines Psychologen, Seelsorgers etc. bedarf (Adler 2000:46; Meyer-Abich 2010a:414). Andererseits bedeutet der Naturalismus einen enormen finanziellen Vorteil, denn die Pharmaindustrie hat ein großes Interesse daran, dass ihre Produkte verschrieben, angewandt, d. h. entgeltlich erworben werden (MeyerAbich 2010a:82 ff., 256; Unschuld 2014:75 ff.). Saum-Aldehoff (2008: 55) bezieht sich auf Aussagen des Facharztes für psychosomatische Medizin Karl-Heinz Ladwig, wenn er schreibt, dass die Psychosomatik »wohl die ärmste aller medizinischen Disziplinen« sei, weil die Pharmaindustrie kein Interesse hat, sie finanziell zu unterstützen. Von Weizsäcker (1987b:270/VII) erkennt im Gesundheitswesen daher einen Zusammenhang, in dem Macht, Geld und Wissenschaft so zueinander stehen wie die drei Seiten eines Dreiecks: Es lässt sich keine Seite verändern, ohne die beiden anderen ebenfalls zu verändern. Wenn nun bedacht wird, dass Macht und Geld gleichbedeutend sind mit sozialer wie finanzieller Sicherheit, mit sozialer Anerkennung und mit einer verbesserten Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und weiterhin, dass diese drei Aspekte wichtige Bedürfnisse des Menschen darstellen, ist aus psychologischer Sicht das Festhalten des Arztes am Naturalismus nachvollziehbar. Adler (2000:46) beruft sich auf Erkenntnisse der Psychoanalyse, wenn er im Naturalismus des Arztes außerdem die Abwehr einer Belastung erkennt, die den Arzt treffen kann, wenn er sich empathisch in den Leidenden einfühlt und so selbst Gefühle wie Trauer, Angst, Hoffnungslosigkeit erlebt. Im therapeutisch günstigsten Fall erlebt der Arzt die Gefühle des Patienten »von gleicher Qualität, aber geringerer Quantität« (ebd.:62). Hierfür muss der Arzt allerdings in der Lage sein, auch seine eigenen Gefühle erleben zu können, ohne sie – insbesondere bei negativen Emotionen – zu verdrängen. Die Möglichkeit, die Gefühle des Patienten zu erfassen und ernst zu nehmen, hängt also auch vom Arzt ab und davon, inwieweit »seine eigenen Komplexe und inneren Widerstände es gestatten« (Freud in Laplanche & Pontalis 1998:164). Hinzu kommt, dass, wenn der Arzt leibseelische Zusammenhänge bei seinem Patienten für möglich hält, er diese Möglichkeit auch für sich zugeben muss. Die eigenen sich körperlich zeigenden Probleme ließen sich dann nicht mehr mit Medi264

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kamenten beheben, sondern der Arzt, der nun selbst Patient ist, müsste sich mit sich selbst beschäftigen. Wenn es aber das Wesen einer Verdrängung ist, Gefühle und Konflikte vom Bewusstsein fernzuhalten (v. Weizsäcker 1986b:407/VI), so ist nachzuvollziehen, wenn auch der Arzt einen grundsätzlichen Widerstand gegen psychische Deutungen erhebt. Naturalismus bedeutet also nicht nur die vermeintliche Möglichkeit der absoluten Kontrolle über die Gesundheit der Patienten, sondern auch die vermeintliche Möglichkeit der absoluten Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Leben (siehe hierzu Kapitel 4.5.2). Die Einführung des Subjekts verweist auf die Notwendigkeit, die Rolle des unbeteiligten Beobachters aufzugeben und sich selbst in den Gestaltkreis mit dem Patienten einzulassen und beinhaltet einen gewissen Macht- und Kontrollverlust über andere und sich selbst.

4.3 Die Tendenz zum Naturalismus des Patienten Eine einseitige naturwissenschaftliche Betrachtung des Menschen wird häufig auch vonseiten des Patienten geradezu eingefordert (v. Weizsäcker 1987a:307/V). Auch er neigt dazu, seine gesundheitliche Not ausschließlich dem Zufall oder dem in Relation zur Belastung zu schwachen Körper zuzuschreiben (Entralgo 1987:26; v. Weizsäcker 1988:576/IX) und wünscht, dass sich der Arzt darauf konzentriert (Meyer-Abich 2010a:26; v. Weizsäcker 1987a:307/V). Wenn nun der Betroffene darauf aufmerksam gemacht wird, dass seine Beeinträchtigung auch Aspekte des Psychischen und Sozialen umfasst, erregt der Arzt Verwunderung, Anstoß, Widerwille bis hin zum Protest (vgl. Egle & Zentgraf 2017:47, 84; v. Weizsäcker 1987b:184/VII). Die Abwehr gegen psychosoziale Zusammenhänge lässt sich nicht damit begründen, dass der physikalische Einfluss immer wieder erlebt wird oder gemessen werden kann: Ein Umknicken führt zu Schmerz und Schwellung. Insulin senkt den Blutzuckerspiegel. Im Alltag wird nämlich dem zuvor eingeforderten puren Kausalnexus widersprechend eine seelische Beeinflussung auf körperliche Vorgänge als selbstverständlich anerkannt (dieses Paradoxon ist ein Phänomen, das aufgrund der alltagsreflexiven Einstellung [siehe Kapitel 2.3.2.1] erklärt werden kann). So wird es unhinterfragt hingenommen, dass die Willkürbewegung ein körperliches Geschehen ist, das seelisch, d. h. willentlich hervorgerufen wurde (v. Weizsäcker 1987a:293/V). Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Auch Zusammenhänge zwischen Seele, Gemüt, Stimmung und körperlichen Prozessen, die nicht willentlich initiiert werden können, werden zum Teil akzeptiert: Dass Aufregung, Angst und Stress den Menschen schwächen können, so dass er für Krankheiten anfälliger ist, wird genauso akzeptiert wie die Tatsache, dass Stress ein Magengeschwür oder Angst Diarrhö hervorrufen kann. Aus dieser Sicht zeigen sich selbst die inneren Organe genauso »verstandesmäßig« wie die Hände, Finger etc. (v. Weizsäcker 1987b:260/VII). Der naturalistisch geprägte Patient verstrickt sich also in Widersprüche, wenn er zugibt, dass eine peinliche Situation dazu führen kann, dass er sich unbehaglich fühlt und dadurch Schwierigkeiten beim Schlucken hat (er hat dann umgangssprachlich einen Kloß im Hals), er aber heftig protestiert, sobald vom Arzt behauptet wird, dass sein Bronchialasthma ebenfalls ein Ausdruck eines seelischen Konflikts sein könnte, weil es möglich ist, dass die Bronchien beim Asthma etwas Ähnliches wie die sich unwillkürlich zusammenpressenden Kehlkopfmuskeln machen – eben nur »tiefer« (vgl. v. Weizsäcker 1988:513/IX). Wieso eine seelische Beeinflussung in einigen Fällen zugegeben wird und in anderen Fällen nicht, kann der Patient letztlich nicht begründen. Es scheint zunächst, als ob die Akzeptanz der seelischen Beeinflussung auf körperliche Funktionen rein willkürlich ist. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich jedoch Regelmäßigkeiten, die diese vermeintliche Willkür widerlegen. Der psychosomatische Zusammenhang wird immer dann akzeptiert, wenn die seelische Erregung bewusst erlebt wird, sie also auch phänomenal vorhanden ist. Bewusst erlebt wird ein psychosomatischer Zusammenhang z. B., wenn ein Ekel mit dem Erbrechen oder Angst mit Herzklopfen einhergeht. Mit v. Weizsäckers Worten handelt es sich hierbei um die Ausdrucksfunktion des Körpers. Bei Fällen wie dem Bronchialasthma oder auch bei chronischen Rückenschmerzen ist der Betroffene hingegen weit entfernt vom bewussten Erleben des seelisch-körperlichen Zusammenhangs (vgl. Fuchs 2006a:78; v. Weizsäcker 1988:513/IX). Aufgrund der Stellvertretungsfunktion zeigt sich dem Betroffenen erst gar nicht der seelische Konflikt. Stattdessen ist z. B. nur der Rückenschmerz erlebbar. Der Patient, der einen körperlichen Schmerz spürt, aber keine Angst empfindet, wird nicht einsehen, weshalb sein Problem statt im körperlichen ebenfalls im seelischen Bereich zu suchen ist. Die auch naturwissenschaftlich abbildbaren Zusammenhänge zwischen einer früheren Schmerzerfahrung und einem damit einhergehenden Bedrohungsgehalt sowie psychosozialen Faktoren auf der einen Seite 266

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und zentralnervösen Veränderungen auf der anderen Seite werden nicht gespürt (vgl. Egle & Zentgraf 2017:48; vgl. Tesarz 2018:36 ff.). Die eigentliche Ursache des sich körperlich zeigenden Symptoms wird also nicht bewusst erlebt und ist deshalb für den Betroffenen phänomenal nicht vorhanden. Die gewünschte Externalisierung des Körpers ist vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Aspekte, nämlich Schuld und Scham, am Beispiel zweier Krankheiten zu veranschaulichen – Depression und Burnout-Syndrom: Während eine Depression als seelisch bedingte Krankheit vehement verleugnet wird, wird das Burnout-Syndrom, das ebenfalls seelisch bedingt ist, nicht nur nicht verleugnet, sondern sogar mit Stolz anerkannt. Das Burnout-Syndrom ist erst seit 2019 ein eigener medizinischer Begriff. Zuvor war seine behandlungswürdige Form mit einer Depression identisch (Blech 2012:124 f.). Aus Sicht des Patienten und der Gesellschaft existierte das Burnout-Syndrom hingegen bereits seit langer Zeit als akzeptierte und eigene Krankheit und unterschied sich maßgeblich von der Depression (ebd.:125). Der an einer Depression Leidende gilt als schwach; er hat aufgegeben und verkriecht sich nun aus Scham. Würde er sich »zusammenreißen«, könnte er weiterhin seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen als Arbeitskraft nachkommen. Der Depressive klagt sich und andere an und hat seine Liebe zu den Menschen und zu sich verloren. Daher ruft er Unverständnis bei den Gesunden hervor. Da der Mensch in präreflexiver und alltagsreflexiver Einstellung davon ausgeht, dass die Welt so ist, wie er sie sieht (siehe Kapitel 2.3), bedeutet ein Nicht-Nachvollziehen-Können gleichzeitig die Abwertung des unverständlich Handelnden bzw. sich Verhaltenden: »Mit mir stimmt alles, ich sehe, wie alles tatsächlich ist, er denkt anders, er sieht nicht, wie alles tatsächlich ist, er ist schwach.« Die Angst vor der Entwertung durch die Gesellschaft ist demnach berechtigt. Der am Burnout-Syndrom Leidende hingegen hat selbstlos alles für die Gesellschaft gegeben, aber der Körper forderte seinen Tribut. An den persönlichen Mängeln haben unpersönliche Körpervorgänge Schuld. Während der Depressive nicht mehr will (tatsächlich nicht mehr wollen kann), wollte der Burnout-Leidende, konnte aber nicht mehr. Die Strenge zu sich und der dadurch interpretierte Altruismus wird von den Mitmenschen mit Respekt honoriert, so dass viele von ihnen die Burnout-Diagnose »wie ein stolzes Abzeichen vor sich her[tragen]« (Kissling in Blech 2012:129). Die Depression ist die Krankheit der Schwachen, »der Burnout ist die Krankheit der Erfolgsmenschen Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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und Peak-Performer« (Schmidt 2013:85). Für die vom Burnout-Syndrom Betroffenen besteht aus zweierlei Gründen keine Notwendigkeit, ihre Krankheit zu verheimlichen oder zu verdrängen: 1. Sie geraten in keinen moralischen Konflikt, empfinden keine Schuld und keine Scham und haben keine Angst vor der Entwertung durch die Gesellschaft. 2. Ein seelischer Grund für eine Funktionsuntüchtigkeit ist für den Betroffenen und die Gesellschaft gar nicht zu verzeichnen: Der nicht akzeptierte Depressive ist seelisch krank; er wollte bzw. will nicht mehr. Ob er der Leistungsgesellschaft jemals wieder genügen kann, ist nicht auszumachen, aufgrund seiner Unzuverlässigkeit aber eher unwahrscheinlich. Der respektierte Burnout-Erkrankte hingegen ist eigentlich seelisch gesund, nur sein Körper konnte nicht mehr. Er ist sogar so voller seelischer Gesundheit und Tatendrang, dass er beim Dienen für die Gesellschaft seinen eigenen Körper vernachlässigt hat. Dass dieser nun streikt, wird dem Fleißigen zugestanden, denn schließlich muss bei jedem der Akku 87 von Zeit zu Zeit wieder aufgeladen werden. Wenn nun dieser Akku komplett leer war, dauert die Ladezeit eben etwas länger. Die Gesellschaft ist ihm ob seiner Aufopferungsbereitschaft und seelischen (Wollens-)Zuverlässigkeit dankbar und unterstützt ihn, damit er schnellstmöglich wieder körperlich funktionieren kann. Es wird deutlich, dass jede Krankheit stets das Mitsein des Kranken als Teil der Gesellschaft darstellt und sie daher nur mit der Einführung des Subjekts und seinen pathischen Kategorien adäquat zu erfassen ist (vgl. Entralgo 1987:40).

4.4 Die Krankheit aus naturalistischer Sicht In der Krankheit drängt sich der Körper in das Bewusstsein des Menschen und zeigt sich als Gegenstand im Sinne einer Fremderfahrung, die einen Ausfall – ein Herausfallen aus den Lebensvollzügen wie Arbeit oder Mutter- bzw. Vater-Sein – provoziert und die verborgene »Harmonie von Wohlsein und Weggegebenheit an die Welt« verhin-

In solchen Überlegungen wird der für die materialistische Gesellschaft übliche Mensch-Maschinen-Vergleich sichtbar. Auch die perfekteste Maschine benötigt Energie, weshalb dieses Minimum an Unperfektheit auch dem Menschen zugestanden wird (siehe auch Kapitel 1.5.2, in dem der Einfluss der beschreibenden Begriffe auf das Verständnis des beschriebenen Phänomens aufgezeigt wird).

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dert (Gadamer 2010a:129; siehe auch Buytendijk 1967:72; Gadamer 2010a:126 ff.). Der selbstverständliche, selbstverborgene heim-liche Leib wird zum nicht-verfügbaren, nicht-einsehbaren und un-heimlichen Körper. Diese plötzlich in das Bewusstsein hineindrängende Dunkelheit des Unbekannten, die Fremdheit und Unzuverlässigkeit des Fundaments und der Ermöglichung der eigenen Existenz können bei dem Betroffenen eine tiefe Angst hervorrufen: »Die Unzulänglichkeit [meines eigenen Körpers, M. U.] enthüllt sich als Unsicherheit meines Lebens« (v. Weizsäcker 1987b:190/VII). Daher ist es für den Patienten besonders in der bedrohlichen Krankheit attraktiv, wenn der Arzt als Autorität mit seinem überlegenen Wissen herausfindet, was nicht in Ordnung ist, und dem Patienten durch die Erklärung und Begründung der Unordnung Sicherheit und Angstfreiheit gibt. Statt Uneindeutigkeiten, unzuverlässige persönliche Meinungen etc. wünscht er sich objektive Werte, die Vergleiche mit Normoder Solldaten zulassen, um den Vorgang des Körpers zu verstehen und den »Krankheitswert« zu quantifizieren. Die hierdurch ermöglichte Objektivität und Vergleichbarkeit beruhigen und sind dadurch wiederum sehr wirksame Heilfaktoren: Wenn der Arzt nichts findet, genesen die Betroffenen, denn nun haben sie ein Recht, sich gesund zu fühlen und die Bedrohlichkeit einer vermuteten gesundheitlichen Beeinträchtigung verschwindet. Wenn allerdings die Krankheit bleibt, wird eine klare Einsicht darüber erwartet, was nicht stimmt, und es werden eindeutige Handlungsrichtlinien gefordert, wie der »Defekt« behoben werden kann (vgl. Tesarz 2018:36 ff.; vgl. v. Weizsäcker 1987a:239/V). Auf den ersten Blick erscheint es, als könnte erst der Glaube an den Naturalismus eine sorglose Freiheit und Gesundheit ermöglichen. Allerdings beinhaltet der Glaube an eine ausschließlich auf physikalischen Erkenntnissen beruhenden Medizin Gefahren. Die naturwissenschaftliche Medizin hat in Gestalt einer ihrer Institutionen – der Weltgesundheitsorganisation 88 – notwendigerweise (siehe Kapitel 4.1) verschiedene Normwerte definiert und verbreitet, die einerseits Vergleiche mit den eigenen Körperwerten ermöglichen und

Nicht immer werden Normwerte von der WHO festgesetzt. Blech (2010:87) schreibt hierzu, dass 1974 die sogenannte Deutsche Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdruckes, die ein Interessenverbund von Mitarbeitern von Pharmafirmen und Ärzten darstellt, den Wert des Blutdrucks, der als behandlungswürdig gilt, von zuvor 160/100 mmHg auf 140/90 mmHg heruntersetzte.

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hierdurch Orientierung schaffen, aber auch die Furcht vor Abweichungen von diesen Normwerten hervorrufen. Daher ist Gadamer (2010a:138) der Meinung, dass diktierte Standardwerte einen Gesunden krank machen können, da es in dem Wesen der Gesundheit liegt, dass sie sich in ihren eigenen Maßen selbst erhält. Die Gesundheit und damit auch die Krankheit lassen sich deshalb nicht messen, weil sie ein Zustand der inneren Angemessenheit bzw. Unangemessenheit sowie der Übereinstimmung bzw. Nicht-Übereinstimmung mit sich selbst sind, die nicht durch eine andere Kontrolle überboten werden kann (ebd.:138 f.). Neben dem Gemessenen gibt es also auch das Angemessene, das seine Bedeutung darin trägt, dass es gerade nicht eindeutig definierbar ist. Das gesamte System der natürlichen Ausgleichsprozesse des Organismus und der eigenen sozialen Umwelt hat etwas von dieser Angemessenheit (ebd.:167 f.). Diese natürlichen Ausgleichsprozesse, die mit dem Fahrradfahren, bei dem sich um das Gleichgewicht in variablen Abständen bewegt wird (ebd.:105), vergleichbar sind, zeigen sich in einer rhythmisch schwankenden und eben nicht in einer starren gleichbleibenden Ordnung des Leibes und Lebens (Waldenfels 1998b:136). Daher sind auch Daten, die aus dem Lebensvollzug abstrahierbar und messbar sind (z. B. der Blutdruck), nicht gleichbleibend, sondern sie bewegen sich ebenfalls in einem physiologischen Rhythmus. Zwar lassen Messungen Erkenntnisse über Symptome (als Blutdruckwerte) in der Gegenwart zu, allerdings ist es so, dass das, was die Krankheit hervorbringt in verschiedenartigen Krisen in der Vergangenheit (körperlich und seelisch) wie auch in der Zukunft (seelisch) liegen kann. Das, was eine Hypertonie berührt, ist daher nicht nur die Blutdruckmanipulation durch das Medikament, sondern kann auch das Herausfinden und die Veränderung der psychosozialen Umstände, die die Hypertonie hervorbringen, sein. In Verbindung mit der Tatsache, dass psychosoziale Konflikte als Ursache körperlicher Symptome von der Naturwissenschaft ausgeblendet werden, ergibt sich eine Unzulänglichkeit oder, wie v. Weizsäcker (1990:629/III) schreibt, Falschheit: Im Falle eines psychischen Konflikts etwa, der sich durch Verdrängung stellvertretend als körperliches Symptom wie das der Hypertonie zeigt, wird der Betroffene ausschließlich auf seine körperlichen Messwerte hin untersucht und mit Standardwerten verglichen. Hierdurch ist es möglich, dass ein Übermaß an Aufmerksamkeit des Kranken auf sich und eine stete Angst vor einem Körperdefekt provoziert wird, das dann die Selbsttätigkeit des Organismus beeinträchtigt, weshalb sich zusätzlich wei270

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ter von den Normwerten entfernt wird (vgl. Fuchs 2006b:341). Nachfolgend soll am Beispiel des Bluthochdrucks aufgezeigt werden, wie unbewusst eine unterschwellige Angst in der Gesellschaft vor dem eigenen Körper erzeugt werden kann. In einem Gesundheits-Blatt der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (nachfolgend HAZ) vom 06. 07. 2012 erschien ein Bericht mit dem Titel »Verkanntes Risiko – Hypertonie« (Dobrinkat 2012). Zunächst wird in diesem Beitrag die Angst des Lesers geschürt, indem der Bluthochdruck als »eine tückische Krankheit« bezeichnet wird, die »die Organe schädigt[, die] der Patient [zunächst] gar nicht bemerkt [und die] laut Statistischem Bundesamt immer noch die häufigste Todesursache in Deutschland [ist]« (ebd.:2). Zwar wird zugegeben, dass die Ursache für Bluthochdruck »bis heute nicht ganz geklärt« ist. Im nachfolgenden Absatz wird dennoch der Eindruck erweckt, als sei es eine gesicherte Erkenntnis, dass jeder Mensch mit Hypertonie körperlich unheilbar krank ist: »Bluthochdruck ist nicht heilbar« (ebd.). Der nun immer mehr verängstigte Leser wird anschließend wieder beruhigt, indem ihm an erster Stelle Hilfe in Form von Medikamenten in Aussicht gestellt wird. An zweiter Stelle wird zusätzlich die Möglichkeit, durch eine gesunde Lebensweise positiv auf den Blutdruck wirken zu können, erwähnt (ebd.: 2 f.). Ein interviewter Arzt vermittelt insgesamt den Eindruck, dass die Hypertonie generell eine lebensverkürzende Krankheit darstellt, weshalb er Patienten dazu rät, selbst mit einem Blutdruckmessgerät regelmäßig den Blutdruck zu kontrollieren und gibt hierfür den Grenzwert der WHO von 130/90 mmHg an (ebd.:3). Weder wird im Beitrag erwähnt, dass erst eine Gefahr besteht, wenn der Blutdruck chronisch erhöht ist, noch wird dem Leser vermittelt, dass der Blutdruck stets individuell ist und dass Blutdruckschwankungen üblich und physiologisch sind (s. o.). Die Gefahr ist groß, dass sich ein Leser, der den gesellschaftlich üblichen Mensch-Maschine-Vergleich gewohnt ist, ängstigt, wenn er bei sich erhöhte und dazu noch schwankende Werte misst. Darüber hinaus wird in dem Artikel der Bluthochdruck nicht als Krankheit dargestellt, die ihre Ursache auch im gesellschaftlichen und psychischen Bereich haben kann, die also durch einen stressfreien und zufriedenen Lebenswandel behoben werden kann (dies wird im Artikel explizit verneint), sondern sie wird als eine rein körperliche Fehlregulation beschrieben (ebd.). Eine psychosoziale Deutung ist allerdings deshalb naheliegend, da der chronische Bluthochdruck

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bei Tieren nicht vorkommt 89 (vgl. Waldenfels 1998b:115). Diese Tatsache lässt den Schluss zu, dass die chronische Hypertonie auch psychisch-moralischen und kulturellen Faktoren unterliegt. Sie ist dann nicht nur als Feind, sondern im positiven Sinne als ein Hinwirken auf eine Veränderung des Lebens zu verstehen (Meyer-Abich 2010a: 72 ff.). Dass im Falle eines Bluthochdrucks der Betroffene sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode ängstigen kann, ist nachzuvollziehen, wenn berücksichtigt wird, welche generelle existenzbedrohliche Bedeutung ihm von Seiten der Medizin beigemessen wird. Der Artikel aus der HAZ vermittelt insgesamt den Eindruck, dass das Auftreten der Hypertonie nicht vorherzusehen sei und dass der Hypertoniker sich selbst nicht von seinem Leiden befreien könne, sondern sein Leben lang auf ärztliche Hilfe und die von ihm verordneten Medikamente angewiesen sei. Ein unaufgeregtes Leben ohne ständigen Blick auf den Körper, den der Mensch zum Leben benötigt, der aber jederzeit den Dienst durch seine Schwäche versagen kann, ist nun kaum noch möglich. Die ständige und misstrauische Beobachtung des Körpers und die Sorge um sein Funktionieren, das zur eigenen Existenz unerlässlich ist, kann bis zur Herzphobie und Hypochondrie führen (vgl. Fuchs 2006b:340; v. Weizsäcker 1986b:332/ VI). Hier wurde ein Funktionswandel beim Patienten provoziert, d. h., die Sinnesschwelle seiner Wahrnehmung auf den Körper wurde herabgesetzt: Die Körperfunktionen, die sonst in ihrer Selbstverständlichkeit im Verborgenen blieben, werden nun aufgemerkt und genau beobachtet (vgl. v. Weizsäcker 1990:626/III). Der grundsätzliche Fehler dieser Krankheitsauffassung soll am Beispiel eines Arbeitnehmers aufgezeigt werden, der einem seelischen Konflikt, nämlich der Angst vor den Arbeitskollegen, ausgesetzt ist: Er verdrängt diese Angst und kann sie deshalb nicht verarbeiten. Hierdurch kommt es im Sinne der Stellvertretung zu einer Blutdruckerhöhung. Der Glaube an das Kausalgesetz führt dazu, dass der naturalistische Arzt keine seelischen Aspekte berücksichtigt, sondern lediglich die BlutdruckAuch die Meinung, ein nur beim Menschen vorkommender in körperlicher Hinsicht ungesunder Lebensstil (z. B. übermäßige fett- und cholesterinreiche Ernährung in Verbindung mit ausgeprägtem Bewegungsmangel) sei ursächlich, teilt Lown (2012:55) nicht. Er beruft sich auf eine Umfrage unter Londoner Staatsbeamten, die zum Ergebnis hatte, dass Mitarbeiter, die niedrige Arbeit verrichteten, eine vierfach höhere Rate aufwiesen, an einer kartiovaskulären Krankheit zu sterben, als die Mitarbeiter der höchsten Hierarchie-Ebenen. Eine Korrektur der bekannten körperlich wirkenden Risikofaktoren änderte diesen auffallenden Unterschied nicht.

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werte mit Normwerten vergleicht und im Falle einer Abweichung diese als Fehlregulation erachtet. Dem Betroffenen wird nun die grundsätzliche Gefahr einer Hypertonie nahegelegt und es werden entsprechende Medikamente verordnet. Die Angst vor einer Erhöhung des Blutdrucks führt dazu, dass dieser verstärkt im Auge behalten wird und es zur Zwangsneurose oder einer Hypochondrie kommen kann. Die Furcht vor dem eigenen Körper führt wieder zu einem erneuten Blutdruckanstieg, der wiederum mit Medikamenten reguliert werden kann. »Es entsteht eine schwer anzuhaltende Spirale aus Eingriffswissen, Ängstlichkeit und zunehmendem Kontroll- und Optimierungsstreben« (Fuchs 2006b:341). Wird der Blutdruck medikamentös so stark beeinflusst, dass eine Hypertonie vermieden wird, ist ein Symptom bekämpft, jedoch nicht das eigentliche Problem, nämlich die ursprüngliche Angst vor den Kollegen. Zwar sind HerzKreislauf-Erkrankungen (im Sinne einer gemessenen Hypertonie) immer noch weit verbreitet, jedoch steigt die Zahl der Fälle psychischer Krankheiten, insbesondere der Depressionen, besonders stark an (Blech 2012:124; vgl. Meyer-Abich 2010a:29). Diese Entwicklung ist nachzuvollziehen, wenn die grundsätzliche Möglichkeit des Hin- und Herbewegens zwischen seelischem und körperlichem Symptom, also die gegenseitige Stellvertretung von Körper und Seele, weiter verfolgt wird: Da das körperliche Symptom in Form des erhöhten Blutdrucks behindert bzw. verhindert wurde, konnte die ursprüngliche Angst vor der Arbeitssituation nicht durchlebt und gegebenenfalls die Arbeitssituation verändert werden (vgl. v. Weizsäcker 1988:527 ff./IX). Stattdessen präsentiert sich die infolge der verdrängten Angst entstandene und nun ihrerseits durch Medikamente unterdrückte Hypertonie als seelische Krankheit in Form allgemeiner Niedergeschlagenheit, Traurigkeit usw., also als Depression. Die Depression wird nun wieder mit Medikamenten behandelt, so dass die eigentliche Bedeutung der Krankheit abermals nicht zum Vorschein kommt. Wenn also im Sinne des Nocebo-Effekts berücksichtigt wird, dass 1. ein Arzt durch seine Aussagen zusätzliche Angst erzeugen kann, 2. Angst zum Anstieg des Blutdrucks führt (z. B. Frick 2009: 103; vgl. Lown 2012:51; vgl. Schott 2013:113 ff.; vgl. v. Weizsäcker 1990:629/III) und 3. der Arzt mitteilt, dass er die Möglichkeit hat, den Blutdruck wieder zu senken, dann verhält es sich so, dass er den Teufel zunächst eintreibt, den er später wieder austreiben will. Es handelt sich bei diesem Verhalten jedoch ausdrücklich nicht um ein Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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strategisches und böswilliges Tun, denn »wer Arzt wird, will nicht zerstören, sondern bewahren – sonst wäre er kein Arzt« (v. Weizsäcker 1987a:301/V). Dennoch quittiert Lown (2012:95) ein angsteinflößendes Vorgehen seitens des Arztes mit einer scharfen Kritik: »Ein Arzt, der schwarzen Trauerflor aushängt, ist entweder ein Handelsvertreter oder ein Scharlatan, der niemals seinen infantilen Wunsch überwunden hat, den lieben Gott zu spielen.«

4.5 Metaphysische Bedürfnisse des Menschen und der Naturalismus Um die Traditionen der heutigen Zeit zu verstehen, muss der Blick auf die Vergangenheit gerichtet werden, da die Gegenwart das Ergebnis ihrer eigenen Geschichte ist. Nachfolgend wird daher untersucht, welchen Herausforderungen sich der Mensch vor der Neuzeit stellen musste und wie er ihnen begegnete. Hieraus sollen sich Schlussfolgerungen für die Gegenwart ergeben.

4.5.1 Die Krankheit im Mittelalter Das Mittelalter gilt als das Zeitalter der Angst überhaupt, denn die Menschen wurden zu jener Zeit besonders häufig von Naturkatastrophen, angreifenden Feinden und Krankheiten bedroht (Delumeau 1985a:39 ff.). Zunächst ist danach zu fragen, was Angst ist und welchen Nutzen diese hat. Die Angst ist aus existenzphilosophischer Sicht nicht nur als unmittelbarer Affekt im Angesicht der Gefahr zu verstehen, sondern als »Grundbefindlichkeit des Menschen« schlechthin (Gadamer 2010a: 191). Der Mensch ist ein Wesen, das ungeborgen und einsam vor dem Nichts in eine Welt geworfen wurde. Diese unverständliche, chaotische und absurde Welt führt zu einer wesentlichen Bestimmung des Menschen: die Ängstlichkeit (Quitmann 1996:64, 79). Diese drückt sich bereits in dem Geburtsschrei des Menschen aus, der, ohne gefragt zu werden, plötzlich ins Fremde ausgesetzt wird (vgl. Gadamer 2010a:190, 197). Während das Tier nur die unmittelbare Angst vor dem Gefressenwerden kennt (Delumeau 1985a:20), ist es dem Menschen möglich, sich vor dem Nichts zu ängstigen. Die Angst als existenzielle Angst ist die Voraussetzung zur Wahlfreiheit und 274

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Selbstständigkeit des Menschen (vgl. Gadamer 2010a:190 ff.; vgl. Heidegger 2006:186 ff.). Innerhalb der menschlichen Geworfenheit tut sich die Notwendigkeit des aktiven Sich-Verhaltens in Form der Wahl und der Entscheidung auf. Einerseits hat der Mensch einen Spielraum, innerhalb dessen Rahmen er entscheiden kann, ob er z. B. etwas tut oder nicht. Andererseits bedeutet das In-der-Welt-Sein die Verpflichtung, irgendeine Wahl zu treffen. In der Angst muss der Mensch wählen, ob er ihr begegnet oder vor ihr flieht. In der Entscheidung begegnet sich der Mensch selbst und wird aufgrund seiner Angst aus seinem unreflektierten Dasein gerissen (Quitmann 1996:79 f.). Die existenzielle Angst ist somit ein grundlegendes Wesensmerkmal des Menschen. Er ist sich Zeit seines reflektierten Lebens seiner Vergänglichkeit, seines »Sein[s] zum Tode« bewusst (Heidegger 2006:325). Die Krankheit ist aus dieser Sicht ein Vorbote des Nicht-mehr-Sein-Dürfens, weshalb sie nicht eine Furcht vor sich selbst als Krankheit auslöst, sondern vor ihrer möglichen Folge, nämlich dem Tod. Krankheitsangst ist deshalb immer unreflektierte Todesangst (Condrau 1962:76, 86). Die Todesgewissheit des Menschen und die dadurch entstehende Existenzangst führt letztlich zu dem Bedürfnis, den Ursprung des Lebens zu erkennen, ihm Ordnung und Struktur zu verleihen, um es verstehbar, vorhersehbar und beherrschbar zu machen. Das Mittelalter beschreibt eine Epoche, die aufgrund ihrer Dauer und der hiermit einhergehenden Entwicklungen sowie wegen der vielfältigen auf sie wirkenden Einflüsse keine Einheitlichkeit in Denken und Handeln aufweist (Flasch 2013:13 f.). Dennoch ist für das Mittelalter des Abendlandes charakteristisch, dass es von einer dogmatisch fixierten christlichen Religion geprägt war. 90 Die Menschen strebten nicht danach, die Materie zu ergründen, sondern fokussierten die Suche nach Gott und der Seele, denn die Bestimmung der Natur bestand darin, Gottes Wille zu repräsentieren. Die Menschen sahen in einer wissenschaftlich-physikalischen Durchdringung der Welt keinen Sinn, weil das Werk Gottes aus der damaligen Sicht nicht verbesserungswürdig, sondern lediglich deutungswürdig war. Physik galt daher im Abendland als die Lehre von Gott und seinen Leistungen (Gronemeyer 1996:41; Flasch 2013:130 f.; vgl. Friedell 2009: 118 ff.). Im Laufe des Mittelalters kam es immer mehr zur AushöhFlasch (2013:142 ff.) weist allerdings darauf hin, dass die christliche Religion, je nach mittelalterlicher Gesellschaft, unterschiedlich ausgelegt wurde.

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lung der kirchlichen Autorität und hiermit zu einer Distanzierung vom strengen kirchlichen Weltbild. Als einen Grund hierfür identifiziert Gronemeyer (1996:11) die immer wieder stattfindenden Streitigkeiten innerhalb der Kirche und die zunehmende Verweltlichung des Klerus. Der zuverlässige Halt und der unzweifelhafte Lebenssinn als Streben für das Jenseits wurden nun erschüttert. Die Individualisierung ging mit einer Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit und der Gewissheit, dass der Tod das endgültige Ende von allem ist, einher (ebd.:22 f.). Roger Bacon (1214–1292), den Rupert Lay (1992:21) als ersten Naturwissenschaftler im mittelalterlichen Denkraum bezeichnet, drückte öffentlich seine Verachtung für diejenigen aus, die das Experiment als verbotene, weil magische Praxis ablehnten. Er sah in der Mathematik die einzige Möglichkeit, sämtliche Dinge zu erfassen. Bacon war der Meinung, dass nur wer die Mathematik beherrsche, auch die Wissenschaft beherrschen könne (Lay 1992:30, 33). Störig (2011:317) sieht in Bacons Forderung, als Erkenntnisquelle nur die unmittelbare Erfahrung und Beobachtung zuzulassen, den »Fanfarenstoß, der das gewaltige Drama der Entfaltung moderner abendländischer Naturwissenschaft einleitet[e]«. Als Folge des gesellschaftlichen Umbruchs, der Veränderung des Weltbildes und der hiermit einhergehenden Unordnung, Unsicherheit und Angst interpretiert Friedell (2009:126) die große Pestpandemie von 1348–1353. Die Pest übertraf alle zuvor erlebten Schrecken und führte zum absoluten Zusammenbruch der äußeren und inneren Ordnung (Gronemeyer 1996:10). In den Zeiten dieses »Wahnsinns« hatte die Kirche eine besondere Bedeutung, denn sie versuchte, die völlig aus den Fugen geratene Ordnung wiederherzustellen und den Ängsten zu begegnen, die so vielseitig und intensiv auftraten und die Bevölkerung tief erschütterten (Delumeau 1985a:39). Neben den Ängsten, die ständig vorhanden waren, wie z. B. die Angst vor dem Meer, der Dunkelheit oder vor Gespenstern, und Ängsten, die zyklisch auftraten, etwa Hungersnöte, Seuchen oder Kriege, wurden vom Klerus überlegte Ängste verbreitet, die durch das Nachdenken über die möglichen Ursachen der Nöte entstanden (ebd.:37 f.). Durch die im Abendland besondere Ballung von Gefahren und die Grausamkeit der Schwarzen Pest wäre es zu einer Rückbildung des Denkens, zur Vermehrung von Phobien, zur tiefen Verzweiflung bis hin zur einer Auflösung des Ichs des Einzelnen gekommen, wenn es keine »Kanalisierung« der frei flottierenden Ängste in benannte Ängste gegeben hätte (ebd.:31, 39). Die christliche Kirche wehrte sich gegen die 276

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Machtlosigkeit und Mutlosigkeit angesichts des Todes, zeigte Hoffnung in Form von Gott auf und entlarvte den Gegner des Menschen als Satan bzw. als Teufel. Zwar war dieser Gegner vom Menschen nicht zu bändigen, aber seinen ebenfalls von der Kirche definierten vermeintlichen Handlangern wie Frauen (besonders Hexen), Ketzer, Türken und Juden konnte begegnet werden. Eine globale Todesangst wurde in einzelne Ängste zerlegt, die zwar alle für sich fürchterlich waren, denen man aber nicht mehr hilflos ausgeliefert war, denn die Kirche erklärte zum einen, wie man den definierten Feind erkennt (z. B. »Der Hexenhammer« von 1486), und präsentierte zum anderen, wenn der Feind entlarvt wurde, seine Vernichtung (z. B. Hexenverbrennung) (Delumeau 1985a:39 f., 75 f.; 1985b:511 ff.). Der zuvor durch Gefahren und Ängste ungeborgene Mensch erfuhr durch die christliche Religion eine geordnete Welt, die auch Widersacher enthielt, welchen nun begegnet werden konnte, und eine Ordnung, in der der Mensch selbst stand und durch die er sein Leben nach Zielen und Gesichtspunkten ausrichten konnte (vgl. Condrau 1962:98 f.). Trotz der Anstrengung der Kirche führten die Schrecken der Pest in Verbindung mit der Gewissheit eines grausamen Todes und dem Erleben seiner Unaufhaltsamkeit und Unbeeinflussbarkeit zur Mutlosigkeit. Der »stoische Gleichmut« entwickelte sich zum kollektiven Wahnsinn mit einem zügellosen Leben und der Abkehr vom unbedingten Glauben an die christliche Religion (Delumeau 1985a:165 ff.; Gronemeyer 1996:11 ff.). Die Schwarze Pest in Verbindung mit den anderen Katastrophen und die Einsicht, dass die Versuche der Kirche, wie z. B. Wallfahrten, Seelenmessen, Anrufe der Schutzheiligen, Stiftungen, Gebete, Besitz von Reliquien (Kühnel 1986:83, 92 ff.), gegen diese Angriffe nicht halfen, führten nach und nach zum Gefühl einer unerträglichen Unsicherheit. Die tödliche Bedrohung und die Machtlosigkeit der Kirche ließen daher die Bevölkerung das antike Verständnis nach einer eigengesetzlich agierenden Natur begierig aufnehmen. Der Sicherheitswunsch und der Wunsch zur Beherrschung der feindlichen und zerstörerischen Natur entstand also wegen der Ängste, die in letzter Konsequenz Todesängste sind und führten nach und nach zur Ablösung des kirchlichen Monopolanspruchs auf die Welterklärung und zur Hinwendung zur Naturwissenschaft (Gronemeyer 1996:27, 42 f.).

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4.5.2 Das Beherrschungsstreben des Menschen Die Sehnsucht des Menschen, die Welt zu verstehen und alles unheimliche Verborgene zu ent-decken, die in dem Wunsch nach Unveränderlichem, Allgemeinem und Stabilem mündet, d. h. letztendlich eine allgemeine Weltformel zu finden, resultiert also aus der nur dem Menschen möglichen Todesgewissheit – dem Wissen um die eigene Vergänglichkeit und die damit verbundene Angst vor Krankheit. Es ist daher, insbesondere seitdem der Tod nicht mehr als Übergang in das Jenseits, sondern als abruptes Ende allen Seins gilt (Gronemeyer 1996:23, 27), ein grundsätzliches menschliches metaphysisches Bedürfnis, das unwissende und ängstliche AusgeliefertSein in ein wissendes, selbstsicheres und beruhigtes (Welt-)Beherrschen umzuwandeln (vgl. Mutschler 2011:10, 51 f., 78; v. Weizsäcker 1987a:338/V). Die Todesfurcht und das Streben, den Tod aufzuhalten oder zumindest hinzuhalten 91 und die Krankheit als seine Vorboten sowie als Leidverursacher zu verhindern, führen dazu, dass der Mensch das Leben und somit auch die menschliche Existenz ergründen will. Sowohl die christliche Kirche als auch die moderne Naturwissenschaft sind danach bestrebt, den Menschen zu sich selbst zu führen, sich zu ergründen, sich zu sich rück-zubeziehen: Re-ligio (vgl. Meyer-Abich 2010a:431; vgl. v. Weizsäcker 1987c:21). Die Kenntnis des absoluten Ursprungs der Welt verheißt gleichzeitig die Erkenntnis der Weltformel und diese wiederum verheißt die absolute Herrschaft über die Natur, über Leben und Tod. So wie die christliche Kirche versucht auch die Naturwissenschaft, das Ursprüngliche des Kosmos zu erkennen. 92 Während der Ursprung des Lebens heute vornehmlich im Materiellen gesehen wird, war und ist dieses Materielle in der christlichen Religion nur sekundär. Die Wirklichkeit wurde und wird im Christentum in der Seele und Gott gesehen (vgl. Friedell 2009:121). Früher hat die Kirche erklärt, wie die Ordnung der Welt zu sehen ist. Dies tun nun die Wissenschaftler, insbesondere die Physi-

Dieses Streben drückt sich heutzutage z. B. in Schönheitsoperationen, Anti-AgingCremes, dem Körper-Kult etc. aus (Meyer-Abich 2010a:33). 92 Dass der Mensch noch immer das intensive Bedürfnis verspürt, die Welt und damit sich selbst zu verstehen und dass er der Überzeugung ist, dass die Physik dieses Bedürfnis befriedigen kann, erklärt das große gesellschaftliche Echo und die Euphorie, als am 04. Juli 2012 die Nachricht verbreitet wurde, dass das Higgs-Boson (auch bekannt unter dem Namen »Gottesteilchen«) gefunden wurde. 91

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ker und Naturwissenschaftler. 93 Es ist nicht mehr Gott, der die Ordnung hervorbringt, sondern es sind die Naturgesetze. Aufgrund der Tatsache, dass die Naturwissenschaft danach strebt, herauszufinden, was die Welt ist, welche Ordnung sie hat etc., ist sie entgegen ihrer eigenen Versicherung von Beginn an mit dem Gewicht des Wesenhaften und somit des Metaphysischen beladen (Mutschler 2011:10, 13, 29 ff.). Diese Aufgeladenheit metaphysischer Aspekte musste deshalb erfolgen, weil die allmähliche Ablösung der christlichen Kirche gleichzeitig das Verschwinden einer vertrauten Ordnung bedeutete. Wäre die Naturwissenschaft als neue, auch metaphysische Weltordnung nicht hinzugekommen, wäre es zu einem Erklärungs- und Manipulationsvakuum gekommen und hierdurch zu Orientierungslosigkeit, Unsicherheit, Angst und Verzweiflung (vgl. Gadamer 2010a:197). Die neuzeitliche Gesellschaft mit ihren physikalischen Paradigmen ist der Ansicht, dass sie zuvor im religiösen Zeitalter durch ihren Glauben – verstanden als subjektive feste Meinung von etwas – einer Täuschung unterlag und nur durch die objektive Wissenschaft eine verlässliche Wissensquelle über die Welt möglich ist. Die Naturwissenschaft führte somit zu einer Ent-Täuschung der zuvor Gläubigen. Der Mensch rückte im weiteren Geschichtsverlauf insbesondere durch die Renaissance und den Humanismus wieder in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Betrachtung und verdrängte die zuvor rein theologische Ausrichtung der wissenschaftlichen Lehre (Störig 2011:317 ff.). Der neuzeitliche Rationalismus ist der Ausdruck des Seelenzustandes der damaligen Gesellschaft: das unbedingte Vertrauen des Menschen auf sich und seine eigenen natürlichen Hilfsquellen (Friedell 2009:283). Die Abwendung vom geozentrischen hin zum heliozentrischen Weltbild rief nicht, wie Freud (2001:190) meinte, in erster Linie eine Kränkung hervor, sondern führte zu einer Erhöhung des Selbstwertgefühls und wurde als Befreiung des Menschen empfunden (vgl. Friedell 2009:299; Meyer-Abich & Pannenberg in Dürr et al. 1997:100 f.): Die Erde ist nun ein kleiner Punkt des großen Weltalls, aber sie ist jetzt berechenbar. Während das Weltgefühl des Mittelalters ganz im Außermenschlichen (Gott, Jenseits) aufging, ist es Neurologische Vertreter des radikalen Konstruktivismus versuchen, sich der Weltformel über die Erforschung des Gehirns zu nähern. Da sie behaupten, dass alles Illusion des Gehirns ist, bedeutet die Erforschung der Strukturen, die die Welt hervorbringen, das Wissen um die Welt im Ganzen.

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nun im Diesseits, in der Erfahrung, im Verstand und im eigenen Bewusstsein beheimatet. »Der Mensch, das Maß aller Dinge, tritt an die Stelle Gottes, die Erde an die Stelle des Himmels, das Weltbild, das bisher theozentrisch war, wird erst jetzt anthropozentrisch und geozentrisch« (Friedell 2009:319). Wissenschaftlich betrachtet ist die Erde nun ein unbedeutender Ort im Kosmos, phänomenal ist sie allerdings das alles beherrschende Zentrum und zum allein Relevanten, ausschließlich Wirksamen, allein Wahren und zum Mittelpunkt des Weltalls und des ganzen Lebens emporgestiegen (ebd.). Die Naturwissenschaft ist historisch betrachtet sowohl als Antithese zum mittelalterlichen Glauben an höhere Mächte als auch als Antithese zum im Mittelalter akzeptierten Subjekt im Allgemeinen zu verstehen. Der Mensch ist nun kein glaubendes, wünschendes, hoffendes Wesen, sondern ein Organismus, der physikalisch gemessen und in seiner hierdurch detailliert erfassbaren Materialität verändert werden kann. Die Naturwissenschaft abstrahiert das Leben von allen subjektiven und physikalisch nicht beweisbaren Aspekten, da diese den Menschen zuvor offensichtlich getäuscht haben (Glaube an Hexen). Sie ist daher die vertrauenswürdigere Methode, das Wesen des Lebens zu ergründen. Die Enttäuschung vom Glauben des Subjekts, die Gewissheit, dass Immaterielles keine Wirklichkeit ist und damit weder Krankheit noch Leben oder Tod beeinflussen kann, führte dazu, dass die Naturwissenschaft Erkenntnisse nur noch als gültig akzeptiert, wenn alles Subjektive entfernt wurde. Erkenntnis möchte die Welt nicht mehr als bloßen Hinweis, als bloßes Signal deuten, sondern als das Wirkliche selbst besitzen (v. Weizsäcker 1998:281 f./II). Es zeigt sich, dass der Mensch und sein Verständnis vom Leben und der Krankheit von der Gesellschaft und ihrer Geschichte sowie den weltlichen Umständen abhängt. Der Einzelmensch ist somit nicht welt- und gesellschaftsunabhängig, sondern in seinem Leben und Denken eng mit ihr verwoben. Die Emanzipation von den mittelalterlichen Dogmen war ein großer Gewinn für die Menschheit. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass die mittelalterlich-kirchlichen Ordnungsstrukturen dazu beitrugen, dass sich die Gesellschaft nicht auflöste und ihren Ängsten erlag, sondern dass sie sich gegen die zahlreichen Gefahren wehren konnte. Nach ihrer Ablösung wäre ein metaphysisches Erklärungs- und Manipulationsvakuum entstanden, wenn nicht die Naturwissenschaft die Rolle des allgemeinen Welterklärers übernommen hätte. Allerdings wird hier der Anspruch er280

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hoben, etwas über die ganze Welt sagen zu können. Sätze über Totalität des Existierenden sind jedoch stets metaphysisch und können empirisch nicht erfasst werden (Mutschler 2011:61 f.). Darüber hinaus kann die Naturwissenschaft dem Anspruch der Welterklärung nicht genügen, weil sie aus sich heraus nicht in der Lage ist, wirksame, aber nicht physikalisch messbare Aspekte wie Sinn, Bedeutung und Werte zu erfassen und deshalb auch keine normativen und moralische Vorgaben leisten kann. Da die Naturwissenschaft nicht in der Lage ist, die Person im Menschen zu erfassen, ihn stattdessen nur im Sinne der Spezies Mensch versteht, ist sie auf Hilfe anderer Erkenntnisquellen angewiesen. Von Weizsäcker (1987b:141/VII) schreibt diesbezüglich sinngemäß, dass die objektive Naturwissenschaft den Stand einer Ersatzreligion innehat (siehe auch Mitscherlich 1974:68; Schott 2011:12 f.). Allerdings reicht die Naturwissenschaft als Religionsersatz nicht aus, denn sie benötigt die helfende Unterstützung der Psychologie (v. Weizsäcker 1987b:380/VII) und mit ihr einhergehend, da der Mensch als moralisches Wesen primordial mit der Gesellschaft verflochten ist (ebd. 1987b:216/VII; 1997:316/IV; 2005:13/ X), der Soziologie und der Philosophie.

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Stichwortverzeichnis

Alltag vs. Lebenswelt 84 Ambiguität 93, 95, 98, 107, 109, 131, 179, 257 Angst 171, 186–187, 193, 266, 268– 271, 274–279 Anthropologische Medizin 81, 101, 249 –, und Phänomenologie 114 –, und Psychoanalyse 82 Antilogik 66, 105–107, 231, 234 Antipathie 174–178 Arbeit 196 Aufgabenexterne Schnittstelle 236 Aufgabeninterne Schnittstelle 236 Aufklärung 179, 184, 190, 195, 243 Ausdrucksfunktion 80, 266 Bedeutung 40–42, 51, 54, 56, 67, 87, 100, 129 Begegnung 65, 70–72, 113, 139, 162, 166, 175 Bergziegenphänomen 226 Bewegung 42–43, 74, 81, 100, 112 –, als Bewegungsgestalt 221–223 –, als Selbstbewegung 66, 216–219 –, Effekte auf den Körper 180 –, im Alltag 212 –, im Gestaltkreis 63, 65–70 –, in der Bewegungstherapie 161, 178, 183 –, in der Phänomenologie 88, 96 –, präreflexiv 225 –, und Evolution 180–181 –, und motorisches Lernen 206–209 Bewegungshandlungen 72 Bewegungstherapeutische Trias 242

Bewegungstherapie 27, 240 –, als Kompensation 217 –, und aufgabenexterne Schnittstelle 236 –, und aufgabeninterne Schnittstelle 236 –, und Aufklärung 179, 184, 190, 195, 243 –, und Bewegung 205 –, und Ergotherapie 14 –, und Ganzheitlichkeit 240 –, und Gespräch 187, 230, 241 –, und mittelbar-abstrakte Aufgabe 215, 223, 239 –, und Physiotherapie 14 –, und unmittelbar-abstrakte Aufgaben 215 –, und unmittelbar-konkrete Aufgabe 215, 223 –, und unmittelbar-konkrete Aufgaben 215 –, und Weltzentrierung 211, 225 Bewusstsein 43–45, 49, 108, 128, 134, 155, 244 –, gesellschaftliches 167 –, in der Phänomenologie 88 –, in verschiedenen Wissenschaften 98 –, und Neurobiologie 52 Biologischer Akt 63–74 Biophilie 182 biopsychosoziale Modell 53–61, 98, 101–102, 106 Burnout vs. Depression 267–268 Computervergleich 42–43, 50–51, 58, 102, 124

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Stichwortverzeichnis Darwinismus 104, 110 Depression 171, 197, 202 –, vs. Burnout 267–268 Determinismus 49, 74 Doppelaspekt 115–116 Drehtürprinzip 114, 173 Drehtürprinzip 77 Dritte-Person-Perspektive 44, 81 Einführung des Subjekts 58, 62, 67, 70–74 –, als Patient 253 –, als Therapeut 160 –, als Wissenschaftler 159 –, in der Bewegungstherapie 249 –, in der Heilkunde 195 –, in der Wissenschaft 262 –, und die Hermeneutik 81 Einstellung –, alltagsreflexive 126–127, 133–138, 141, 144, 158, 265 –, präreflexive 127–128, 128–132, 141–146, 157–158, 168, 176, 245 –, wissenschaftlich-abstrakt 126, 128, 138–141, 144–145, 157, 159, 245 –, wissenschaftlich-konkret 126, 128, 136–138, 141, 143, 166, 174, 245 Emergenz 56–58, 60–62 Epoché 89 Ergotherapie und Bewegungstherapie 14 Ersatzreligion 281 Erste-Person-Perspektive 45 Exzentrische Positionalität 31, 133, 214 Fallbeispiel/Studie –, Arbeitslosigkeit und Krankheit 199 –, Biophilie 182 –, Fledermaus 45 –, Glockenbeispiel 69 –, Katzen 67 –, Kauakt 93 –, leichtes Schädel-Hirntrauma 174 –, Nocebo-Effekt 188 –, Prismenbrille 66 –, Profifußballer 201–205

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–, Wertsachen I 143 –, Wertsachen II 166 –, Whitehall-Untersuchung 153 Fehlschluss –, 2. naturalistischer 46 –, Homunculus 46 –, mereologischer 45, 77 –, referenzieller 45 Freude 42, 145, 183, 229–235, 242–244 –, Arbeits… 197 –, Lebens… 254 Funktionswandel 72, 212, 224 Gegenwart –, erlebte 64, 69, 82, 103, 110 –, in der Physik 39, 64, 103 –, nach Bergson 64 –, und motorisches Lernen 209 –, und Phantomarm 92 Gespräch 187–195, 230, 241, 248 Gestaltkreis 63–83, 99–100, 119, 162, 173, 241, 250 –, therapeutischer 167, 189 –, und Drehtürprinzip 78 –, und Naturwissenschaft 76 –, und Phänomenologie 113–118 –, vs. Regelkreis 68 Grundbedürfnisse nach Maslow 194, 198, 218, 235 Grundbedürfnisse nach Maslow 75 Holismus 110 Intentionalität 41, 51, 86, 88, 132, 170 –, Fäden 202, 211, 237 –, und Bewegungstherapie 211, 230 Kategorienfehler 51, 54, 98 Kausalnexus 36, 74, 265 Kohärenz 65, 70–71, 109 Koinzidenz 64, 71 Konstruktivismus 50, 61, 68, 126 Kranksein 162, 171 Lebenswelt 84–86, 93, 97, 99–100, 110, 144, 157–161, 176 –, und Erkenntnis 123–127

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Stichwortverzeichnis –, und Gestaltkreis 81 –, und Reflexionsniveaus 127–128, 140 –, und situatives Menschenbild 119– 122 –, und Wissenschaft 122–123 –, vs. Alltag 84 –, vs. Naturwissenschaft 146–149, 155–157 Leib –, aktueller 92 –, als Medium 90, 93, 95, 191, 199, 210 –, als Nullpunkt 86, 97 –, habitueller 92 –, vs. Körper 92 Leib-Seele-Problem 26–26, 30–32, 59 Leibhaben / Leibsein 96, 206, 220, 226 Leistungsprinzip 72, 212 Mechanizismus 104, 143, 221 Mensch-Welt-Konzept 30, 34, 122, 139, 141, 151, 158 Menschenbild –, situatives 128–146, 155, 158–159, 173–174, 176, 252 –, subjektbasiert 101 –, subjektbasiert 107, 219, 253 –, substanzbasiert 99, 102, 104–105, 107 Menschenbildstreit 119 Metapher –, Gewächse 126 –, Haus und Naturwissenschaft 155 –, Münzen-Trüffel 152 –, Prisma 117 –, Zaun 105 Mittelalter 36, 274, 275, 280 Mittelbar-abstrakte Aufgabe 215, 223, 239 Modellplatonismus 46 Motorischer Dialog 220, 224 Naturalismus 25, 43–49, 98–99, 138, 253, 264 –, Definition 32, 47 –, des Arztes und Therapeuten 263– 265

–, und Krankheitsauffassung 151, 261, 263, 269 –, und Pharmaindustrie 264 –, und Weltauffassung 261 –, vs. Naturwissenschaft 44, 84 Natürliches Ich 87, 90, 97, 129, 133, 136 Naturwissenschaft 32, 34–50 –, als Technik 77, 151 –, Erfolge der … 37, 40, 102 –, Relevanz für Therapie 52, 111, 137, 153, 213 –, und Gestaltkreis 76 –, und Phänomenologie 115 –, und Wahrheit 77 –, vs. Naturalismus 44, 84 –, vs. Naturwissenschaftler als Subjekt 155–156 Naturwissenschaftler als Subjekt 155– 156 Nomophilie 224 Nomotropie Siehe Nomophilie Objektivismus 50, 67, 81, 84, 109 Ontische Kategorie 72 Optische Täuschung 66 Optische Täuschung als Lebensbedingung 66 Pathische Kategorien 73–73, 102, 111 –, Wollen vs. Können 95, 206, 259 –, Wollen vs. Sollen 111 Personales Ich 127, 129, 133 Phänomenologie, - und Naturwissenschaft 115 Phantomarm 91–92, 109 Philosophie 25, 30, 258 –, analytische 34, 47 –, und Therapie 28 Physiotherapie und Bewegungstherapie 14 Prolepsis 69, 112, 222 proleptische 112 Quantenphysik 78, 114 Reduktion, phänomenologische 89

Auf dem Weg zu einer ganzheitlich orientierten Bewegungstherapie

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Stichwortverzeichnis Regelkreis 42–43, 68 –, vs. Gestaltkreis 64, 76 Religion 276–277 Renaissance 150, 279 Scham 42, 49, 131, 214, 247 –, prometheischer 184 Schmerz 45, 92, 94, 250 –, in der Bewegungstherapie 185, 229 –, und Antilogik 234 –, und psychischer Konflikt 266 –, und syntopische Deckung 115 Schuld 48–50, 175, 258, 267 –, fähigkeit 232 –, und Beeinträchtigung 259 Schwindel 67, 172, 219 –, durch Kohärenzzereißung 65 Selbstbewegung, - als Bewegungshandlung 68 Selbstbewusstsein 186, 197, 241 Selbstreferenzielle Projektion 105– 107, 143, 151, 169, 245 Selbstwahrnehmung 109 Semiotik 57–59, 99 Sinn 39–40, 43, 111, 155, 164 –, frei 48 –, fundament der Wissenschaften 84 –, haft 48 –, in der Phänomenologie 86–88 –, krise 84 –, los 50 –, und Bewegungstherapie 243 –, und Hermeneutik 76 –, und Krankheit 196 –, und Leib 93 –, und präreflexive Einstellung 129 –, voll 50 Sinnesfundament und Lebenswelt 127 Sinnesschwelle 272 Sportwissenschaft 238 Stellvertretung 65, 77, 80, 152, 162, 171, 195, 241, 266, 272–273

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Sympathie 174–178, 247, 255 Systemtheorie 56–62, 99 Szientismus 81, 84, 97 Teilnehmerperspektive Siehe ZweitePerson-Perspektive 76 Umgang 9, 59, 67, 71, 77, 135, 164, 166–174, 183, 207, 214, 251, 263 –, als cyklomorphe Ordnung 72 Unmittelbar-abstrakte Aufgabe 215 Unmittelbar-konkrete Aufgabe 215, 223 Utilitarismus 104 Wahr-bekommen 65 Wahr-nehmen 65 Wahrheit 106, 155, 260 –, rationale 107 –, und Komplexität 263 –, und Methode 151 –, und naturwissenschaftliche Technik 38, 77 –, und Notwendigkeit 258 –, und Philosophie 258 –, und Wirklichkeit 261 Wahrnehmung 74, 81, 99, 114, 218, 228, 240 –, im Gestaltkreis 63–68 –, in der Phänomenologie 88, 90–91 Weltzentrierung 211, 225 Wertbewusstsein im Tun 69, 69–70, 208 –, in der Bewegungstherapie 209, 225 Willensfreiheit 46–50, 52, 74, 98 Willkürbewegung 26, 74, 138 Wissenschaftliches Menschenbild Siehe Mensch-Welt-Konzept 122 Zentrische Positionalität 31, 132, 226 Zweite-Person-Perspektive 44, 61, 76, 97

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