Philosophie der Macht: Paul Tillichs Verständnis der Macht im Kontext philosophischer Machttheorien im 20. Jahrhundert 9783110676754, 9783110674590

This book addresses the seldom addressed question of the meaning of the term “power” in theology and 20th century philos

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German Pages 360 Year 2020

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Teil 1: Zur Philosophie der Macht im zwanzigsten Jahrhundert – vier Versuche: Hannah Arendt, Michel Foucault, Helmuth Plessner und Karl Jaspers
Erstes Kapitel. Hannah Arendt oder die Frage nach der Entstehung der Macht
Zweites Kapitel. Michel Foucault oder die Frage nach dem Wie der Macht
Drittes Kapitel. Helmuth Plessners Anthropologie der Macht
Viertes Kapitel. Karl Jaspers oder: Macht als existenzielle Selbstverwirklichung
Fünftes Kapitel. Zwischenbilanz
Teil 2: „Sein ist die Macht zu sein“ Zum Machbegriff Paul Tillichs
Einführung
Erstes Kapitel. „Macht als sinnhafte Mächtigkeit“: Zum Machtverständnis im religiösen Sozialismus Tillich
Zweites Kapitel. Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich
Rückblick und Ausblick. Ontologie der Macht als Verstehenshorizont der Machtproblematik
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Philosophie der Macht: Paul Tillichs Verständnis der Macht im Kontext philosophischer Machttheorien im 20. Jahrhundert
 9783110676754, 9783110674590

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Boni Eriola Richard Atchadé Philosophie der Macht

Tillich Research

Tillich-Forschungen Recherches sur Tillich Edited by Christian Danz, Marc Dumas, Verna Ehret, and Werner Schüßler

Volume 20

Boni Eriola Richard Atchadé

Philosophie der Macht

Paul Tillichs Verständnis der Macht im Kontext philosophischer Machttheorien im 20. Jahrhundert

ISBN 978-3-11-067459-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067675-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067678-5 ISSN 2192-1938 Library of Congress Control Number: 2020932127 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

| Meinen Eltern: Marie-Marthe und Biaou Théophile

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 2019 von der Theologischen Fakultät Trier als Doktordissertation angenommen. Eine Untersuchung wie diese wäre ohne die Hilfe und Unterstützung einer Vielzahl von Menschen weder intellektuell noch materiell möglich gewesen. Zunächst gilt mein besonderer Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Dr. Werner Schüßler, Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier, der diese Forschung zur „Philosophie der Macht“ angeregt, mich von Anfang an auf meinem Qualifikationsweg fachlich und kritisch wohlwollend begleitet sowie das Erstgutachten erstellt hat. Zu aufrichtigem Dank bin ich auch Prof. Dr. Johannes Brantl für die Erstellung des Zweitgutachtens verpflichtet. Dankbar bin ich auch für die kritischen Fragen und Hinweise während des Entstehungsprozesses dieser Dissertation, wie ich sie auf den alljährlich stattfindenden Doktor-Kolloquien unter Leitung von Prof. Schüßler erfahren durfte. Hier war mir ganz besonders die sachdienliche Kritik von Pfr. Dr. Marc Röbel eine sehr große Hilfe. Einen ganz besonderen Dank schulde ich der Pfarreiengemeinschaft Schweich unter der Leitung von Dechant Dr. Ralph Hildesheim für die vielfältige Unterstützung. Insbesondere möchte ich hier den Mitgliedern des Pfarrgemeinderates Schweich für ihren Rückhalt in schwierigen Situationen danken. Für die Aufnahme dieser Arbeit in die Buchreihe „Tillich Research / TillichForschungen / Recherches sur Tillich“ habe ich den Herausgebern Prof. Dr. Christian Danz (Wien), Prof. Dr. Marc Dumas (Sherbrooke, Kanada), Prof. Dr. Dr. Werner Schüßler (Trier) und Prof. Dr. Verna Ehret (Erie, USA) sowie Dr. Albrecht Döhnert vom Verlag Walter de Gruyter (Berlin) zu danken. Meinem Heimatbistum Dassa-Zoumé in Benin sowie dem Bistum Trier danke ich von ganzem Herzen für die Ermöglichung eines philosophischen Promotionsstudiums an der Theologischen Fakultät Trier. Last but not least möchte ich Silvia und Prof. Dr. Hans-Josef Niederehe, Ursula und Thomas Becker mit Familie, Sabine und Wolfgang Bintz mit Familie sowie Carola und Paul Krämer für ihre ganz besondere Unterstützung danken. Schweich, im Mai 2020

https://doi.org/10.1515/9783110676754-201

Boni Eriola Richard Atchadé

Inhalt Einleitung | 1  1  1.1  1.2 

Problemhorizont | 1  Von der Allgegenwärtigkeit der Macht zur „an sich bösen Macht“ | 1  Die Heterogenität des Machtverständnisses und die Notwendigkeit einer philosophischen Fundierung | 7 



Tillichs Ontologie der Macht – zum Forschungsstand | 10 



Aufbau der Arbeit und methodisches Vorgehen | 12 

Teil 1:  Zur Philosophie der Macht im zwanzigsten Jahrhundert – vier Versuche: Hannah Arendt, Michel Foucault, Helmuth Plessner und Karl Jaspers  Erstes Kapitel. Hannah Arendt oder die Frage nach der Entstehung der Macht | 19  1 

Das politisch-philosophische Projekt Arendts als Schlüssel zum Verständnis ihres Machtbegriffs | 19 



Der kommunikative handlungstheoretische Begriff der Macht oder: Macht als Miteinander-Handeln und -Sprechen | 27  Macht als Schaffung und Sicherung des politischen Erscheinungsraums | 28  Macht als gemeinsames Handeln | 30 

2.1  2.2  3 

Der geistpolitische Begriff der Macht oder: Von der Macht des Urteilens | 37 

4  4.1  4.2 

Macht und Gewalt | 41  Macht und ihre Konkurrenzbegriffe | 42  Macht und Gewalt als Gegensätze | 44 



Kritische Zwischenbewertung von Arendts Machtbegriff | 46 

X | Inhalt

Zweites Kapitel: Michel Foucault oder die Frage nach dem Wie der Macht | 50  1 

Foucaults Grundansatz: Die produktive Funktion der Macht | 54 



Macht und Subjekt | 57 



Widerstand als Wesensaspekt der Macht | 61 

Drittes Kapitel. Helmuth Plessners Anthropologie der Macht | 65  1 

Von der exzentrischen Positionalität zum Prinzip der Unergründlichkeit: Ein Schlüssel zum Machtverständnis bei Plessner | 66 

2  2.1  2.2 

Der Mensch als Macht des Könnens | 74  Macht und menschliche Unbestimmtheit | 74  Der Mensch als Schöpfermacht | 76 



Das politische Moment der Macht in der Freund-Feind-Relation | 81 

Viertes Kapitel. Karl Jaspers oder: Macht als existenzielle Selbstverwirklichung | 88  1 

Macht als Verwirklichung der menschlichen Existenz im Durchstehen von Grenzsituationen | 90  1.1  Die Seinsweisen der menschlichen Existenz | 91  1.2  Die existenzielle Verwirklichung in den Grenzsituationen | 99  1.2.1  Die werdende Existenz und die Grenzsituationen | 99  1.2.2  Die werdende Existenz in den einzelnen Grenzsituationen | 104  1.2.2.1  Tod und Leid | 105  1.2.2.2  Kampf und Schuld | 109  2 

Macht als Verwirklichung des Selbstseins in existenzieller Kommunikation | 114 

Inhalt | XI

3  3.1  3.2  3.3  4 

4.1  4.2 

Die Relevanz der existentiellen Kommunikation für die Politik als Form kommunikativer Praxis | 122  Philosophie und Politik | 122  Macht und Gewalt im politischen Umgang | 124  Zur philosophischen und politischen Freiheit | 127  Macht als Wesensbestimmung des Seins und die Paradoxie des eigentlichen Seins: Zu Jaspers’ Rezeption des „Willens zur Macht“ bei Nietzsche | 132  Der „Wille zur Macht“ als Wesensbestimmung des immanenten Seins | 133  Der „Wille zur Macht“ und das transzendente Sein | 136 

Fünftes Kapitel. Zwischenbilanz | 139  Teil 2:  „Sein ist die Macht zu sein“ Zum Machbegriff Paul Tillichs  Einführung | 147  Erstes Kapitel. „Macht als sinnhafte Mächtigkeit“: Zum Machtverständnis im religiösen Sozialismus Tillich | 151  1  1.1  1.2  1.2.1  1.2.2  1.3  1.3.1  1.3.2 

Kurzer historisch-werkgeschichtlicher Überblick: Kontext und Entwicklung des Machtverständnisses Tillichs | 152  Die Fronterfahrung: Abgrund- und Schlüsselerlebnis | 153  Tillichs politisches Engagement in der krisengeschüttelten Weimarer Republik | 158  Die gesellschaftspolitische Lage der Nachkriegszeit | 159  Tillichs politische Stellungnahme: Auf der Grenze von Praxis und Theorie | 161  Die sozialistische Entscheidung oder Tillichs Antwort auf das Aufkommen des Nationalsozialismus | 173  Anthropologische Grundlagen des politischen Denkens | 174  Die Macht im Religiösen Sozialismus: Gerechtigkeit als Leitkriterium des Machtaufbaus | 175 

XII | Inhalt



2.5 

Systematische Perspektive: „Macht ist sinnerfüllte Mächtigkeit […] in der Begegnung“ – Zum sinntheoretischen Machtbegriff Tillichs | 177  Die geistphilosophisch-sinntheoretischen Grundlagen des Machtbegriffs Tillichs | 178  Sinntheoretische Auffassung der Seinsmächtigkeit der Dinge | 190  Die Forderung einer Wiederherstellung des Sinnes | 190  Zu einer Neubegründung des Eros- und Machtverhältnisses | 193  Macht als Mächtigkeit in der Sphäre der Freiheit ist sinnhafte Mächtigkeit oder: Das anthropologisch-sinntheoretische Moment der Macht | 197  Von der sinnerfüllten Gesellschaft oder: Der normative Machtbegriff Tillichs | 200  Die sinntheoretische Fassung des Begriffs der Gewalt | 204 

3  3.1  3.2 

Übergangsbetrachtung | 205  Vom Sinn zum Sein | 205  Vom Sinn des Seins | 208 

2.1  2.2  2.2.1  2.2.2  2.3 

2.4 

Zweites Kapitel. Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich | 211  1  1.1  1.1.1  1.1.2  1.2  1.2.1  1.2.2 

Zum Ontologieverständnis Tillichs | 212  Die Relevanz einer ontologischen Fassung der Macht | 213  Die Verwurzelung der Macht in der Natur des Seins | 213  Ontologie als geeigneter Zugang zur Macht | 215  Ontologische Schlüsselmotive des Machtbegriffs Tillichs | 221  Sein und Denken: Der aporetische Zustand der Ontologie | 221  Die ontologische Grundstruktur: Die Selbst-WeltKorrelation | 224  1.2.3  Die ontologischen Elemente | 227  1.2.3.1  Individualisation und Partizipation | 228  1.2.3.2  Dynamik und Form | 230  1.2.3.3  Freiheit und Schicksal | 232  1.2.4  Endlichkeit als das fundamentalste Charakteristikum des existentiellen Seins | 235  1.2.4.1  Sein und Nichtsein | 236  1.2.4.2  Die Struktur der Endlichkeit | 240  1.2.4.3  Essentielles und existentielles Sein | 242 

Inhalt | XIII

1.2.5 

Die Kategorien der Endlichkeit: Zeit, Raum, Kausalität und Substanz | 246 

2  2.1  2.1.1  2.1.2 

Tillichs Ontologie der Macht | 256  Sein ist Macht | 257  Von der Undefinierbarkeit des Seins | 258  Von der Seinsmächtigkeit der Dinge oder: Die Macht zu sein | 261  2.1.3  Im Anschluss an Nietzsche: Macht als Selbstbejahung des Lebens | 263  2.1.4  Die Macht des Nichtseins oder: Vom Nichtsein als Schlüssel zum Verständnis des Machtbegriffs | 272  2.2  Sein ist strukturell Seinsmächtigkeit im Begegnen | 275  2.2.1  Begegnung als Verortung der Seinsmächtigkeit | 275  2.2.2  Macht begriffen als Selbstmächtigkeit der Person in der Begegnung mit anderen Personen | 277  2.2.2.1  Die Seins-Mächtigkeit der Person in der Selbstbegegnung oder: Macht als Welt- und Selbstmächtigkeit | 277  2.2.2.2  Die Seins-Mächtigkeit der Person in der Ich-Du-Begegnung oder: Die anerkannte Macht | 279  3  3.1  3.2  3.2.1  3.2.2 

Ethik der Macht | 280  Das Verhältnis von Ontologie und Ethik | 280  Macht im Kontext von Gerechtigkeit und Liebe | 283  Die innere Einheit von Macht, Liebe und Gerechtigkeit | 283  „Macht bedarf der Gewalt“: Zum ontologischen Zusammenhang von Macht und Gewalt | 288  3.2.3  Gewalt und Liebe | 293  3.2.4  Gewalt und Gerechtigkeit | 296  3.2.4.1  Macht und Gerechtigkeit in zwischenmenschlichen Begegnungen | 297  3.2.4.2  Macht und Gerechtigkeit in der Begegnung innerhalb einer Gruppe | 300

XIV | Inhalt

Rückblick und Ausblick  Ontologie der Macht als Verstehenshorizont der Machtproblematik | 302  1 

Zur Aktualität Tillichs im gegenwärtigen Machtdiskurs | 302 



Entdämonisierung der Macht | 307 



Tillich im Gespräch mit Afrika? | 309 

Literaturverzeichnis | 316 Personenregister | 335 Sachregister | 339

Einleitung 1 Problemhorizont 1.1 Von der Allgegenwärtigkeit der Macht zur „an sich bösen Macht“ „Macht ist omnipräsent, eindringend in soziale Beziehungen jeden Gehalts; sie steckt überall drin.“1 Diese Aussage Heinrich Popitz’, eines der prominenten deutschen Soziologen des 20. Jahrhunderts, bringt zum Ausdruck, wie das Machtphänomen in allen Lebensbereichen begegnet. Macht ist allgegenwärtig. In alltäglichen Entscheidungssituationen, in jeder Form von Gruppe, sei es zuhause, im Beruf, in der Schule, in jeder Begegnung, auch mit der Natur, sowie in der persönlichen Existenz jedes Einzelnen ist man ständig mit dem Machtproblem konfrontiert. Zutreffend schreibt der protestantische Theologe und Philosoph Paul Tillich: „Es gibt keine Lebenssphäre, in der dieses Problem nicht aktuell und zentral wäre.“2 Vom Lehrer über Journalisten oder Polizisten bis hin zum Politiker, überall ist das Machtphänomen präsent, und es scheint selbstverständlich zu sein. Nun ist Macht in deskriptiv-analytischer Hinsicht ein Problem. Zunächst ist das Machtphänomen meistens negativ besetzt. Außerdem zeigt sich, dass je allgegenwärtiger das Machtphänomen ist, umso heterogener und kontroverser der Machtbegriff ist. Schließlich scheint die selbstverständliche Omnipräsenz des Machtphänomens so beherrschend zu sein, dass man kaum auf die Frage nach dem Wesen und der Einheit der Macht kommt, geschweige denn eine Antwort darauf wüsste. „Wie eine Insel der Selbstverständlichkeit liegt die Macht in einem Meer von Fragwürdigkeiten“3, schreibt Volker Gerhardt zutreffend. Bekanntlich ist die Macht in Verruf geraten. Sie „hat oft einen negativen Beigeschmack“4. In diesem Zusammenhang wird zumeist der Name des Schweizer Kulturhistorikers Jakob Burckhardt zitiert, dessen negative Einschätzung der „bösen Macht“ einen hohen Bekanntheitsgrad genießt. In seiner Vorlesung

|| 1 H. Popitz, Phänomenologie der Macht, Tübingen 1992, 20. 2 GW IX 205. 3 V. Gerhardt, Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretationen, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82) 193–221, hier 193. 4 R. Neumann, Die Macht der Macht, München 2012, 9. https://doi.org/10.1515/9783110676754-001

2 | Einleitung

„Über das Studium der Geschichte“5, die er im Wintersemester 1868, 1870/71 sowie 1878/83 an der Universität Basel hielt,6 vertritt Burckhardt die Meinung, dass „die Macht an sich böse“ sei, „gleichviel wer sie ausübt. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen.“7 Hinter der Aussage Burckhardts steht zwar die eigene „historische Erfahrung mit Macht“8, worauf Jan Bauke-Ruegg hinweist. Aber „daß seine Worte einige Jahre später in Politik und Geschichte Europas ihre traurige und grauenvolle Bestätigung finden sollten, ahnte er vermutlich kaum“9. Spätestens durch die Erfahrung der beiden Weltkriege und die damit verbundenen gesellschaftlich-politischen Zusammenbrüche ist die „böse Macht“

|| 5 Unter seinen Hörern war auch der junge Nietzsche, der hier deshalb zu erwähnen ist, weil sein Begriff des „Willens zur Macht“ Einfluss auf viele Machtheoretiker des 20. Jahrhunderts, wie Foucault, Jaspers und nicht zuletzt auch Tillich, ausgeübt hat. Der 26-jährige Professor Nietzsche hörte im Wintersemester1870/71 die Vorlesung Burckhardts, seines älteren Kollegen, „Über das Studium der Geschichte“ und ließ sich von ihm beeinflussen. So war auch er der Ansicht, dass die Natur der Macht „immer böse“ sei. (Vgl. F. Nietzsche, Der griechische Staat, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. I, München 1994, 278) Doch macht der späte Nietzsche den „Willen zur Macht“ (erstmal im „Zarathustra“ eingeführt als Wille zur Selbstüberwindung) zur universalen Grundlage des Lebens und somit der menschlichen Existenz (vgl. F. Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. III, München 1994, 415–927, hier 455 u. 552). Auch wenn Nietzsche in seinem Spätwerk in der Bewertung des „Willens zur Macht“ schwankt (vgl. dazu die Bemerkungen von Andreas Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 35 u. 39) und meint, dass die Macht „verdumme“ (F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. II, München 1994, 983) und er den „Grundtrieb nach Macht“ für das „furchtbarste […] Verlangen des Menschen“ hält (F. Nietzsche: Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. III, München 1994, 552 u. 857), so ist der „Wille zur Macht“ für ihn doch das Grundprinzip allen Lebens. 6 Vgl. A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 35 u. 144 Anm. 50. 7 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium, München 1978, 70. 8 J. Bauke-Ruegg, Die Allmacht Gottes. Systematisch-theologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie, Berlin / New York 1998, 32. Für Andreas Anter begründet Burckhardt „seine These zwar nicht, aber der unmittelbare Kontext lässt erkennen, dass er hier die politische Macht der neuen Großstaaten seiner Zeit im Auge hat. Zu diesen Großstaaten gehören vor allem das neu gegründete Italien und das im Januar 1871, also noch während des laufenden Wintersemesters 1870/71, gegründete Deutsche Reich sowie die USA, die zwar schon hundert Jahre zuvor gegründet worden waren, aber im amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) wenige Jahre zuvor ihr Auseinanderfallen erfolgreich abgewendet hatten.“ (A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 36) 9 J. Bauke-Ruegg, Die Allmacht Gottes. Systematisch-theologische Erwägungen zwischen Metaphysik, Postmoderne und Poesie, Berlin / New York 1998, 32.

1 Problemhorizont | 3

nämlich zu einem Grundthema der Machtdebatte im 20. Jahrhundert geworden. „Was Jahrhunderten und Generationen von Theologen, Juristen und Landesvätern unbestritten und unbekümmert als göttliche Gabe galt, als Macht von Gottes Gnaden, zumindest aber nicht einfach per se als böse, ist spätestens jetzt aber – nach Hitlers (aber auch Stalins) Gewalt- und Terrorregime – als das demaskiert und erkannt, was sie – so die verbreitete Behauptung – im Grunde immer schon war: schlecht, als Ausgeburt des Bösen, als ,dämonisch‘.“10 Zurecht schreibt Andreas Anter, dass die Einschätzung Burckhardts „aufgrund ihres apodiktischen Tonfalls zu einer gängigen Münze in der Machtkritik des 20. Jahrhunderts“11 wurde. Bei Literaten wie Elias Canetti sowie bei Historikern wie Gerhard Ritter wird das Motiv der „bösen Macht“ auch ins Wort gebracht. Für den Ersteren ist die Macht etwas „Schlechtes“: „Noch immer ist für mich die Macht das absolut Schlechte, nur als solches kann ich mich mit ihr befassen“12; Letzterer befasst sich mit dem Nationalsozialismus, kritisiert den totalen Staat und spricht von der „Dämonie der Macht“13. Entscheidend ist aber, dass Ritter die These der „an sich bösen Macht“ nicht undifferenziert rezipiert. „Wo immer in der Geschichte die Menschen etwas vom Dämonischen der Macht verspüren, brauchen sie diese nicht gleich als böse schlechthin (im Sinne J. Burckhardts […]) zu empfinden. Das Dämonische ist nicht reine Negation des Guten.“14 So grenzt er sich von Burckhardts

|| 10 Ebd. 11 A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 36. 12 E. Canetti, Nachträge aus Hampstead. Aus den Aufzeichnungen 1954–1971, Zürich 1994, 12. 13 Vgl. G. Ritter, Die Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit, München 1948. Ritter veröffentlichte die erste Auflage dieser Schrift 1940 unter dem Titel „Machtstaat und Utopie“. (Vgl. ders., Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus, München 1940) Nach dem Zweiten Weltkrieg tritt er mit demselben Buch aufs Neue an die Öffentlichkeit unter dem prägnanten Titel „Die Dämonie der Macht“ (1948). Die Perspektive der „Dämonisierung der Macht“ wird zwar in besonderer Weise im 20. Jahrhundert thematisiert, nicht zuletzt durch die Erfahrung der Weltkriege und der großen politisch-technischen neuzeitlichen Machtkomplexe. Aber es ist in der Tat historisch nichts Neues, worauf Volker Gerhardt aufmerksam macht, ist doch die Machterfahrung seit eh und je „mit dem Bewußtsein der Existenzgefährdung verbunden. Jede Macht erlebt sich a priori in Opposition zu einer anderen Macht und geht demnach zumindest mit der Antizipation möglicher Unterlegenheit und Vernichtung einher.“ (Ders., Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin 1996, 31) Gerhardt fährt fort: „Folglich ist nicht erst in der Neuzeit, sondern schon in der Antike die sogenannte ,Dämonie der Macht‘ nachweisbar“. (Ebd., 31f.) 14 G. Ritter, Die Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit, München 1948, 19.

4 | Einleitung

Aussage ab und orientiert sich ausdrücklich an Paul Tillichs Begriff des „Dämonischen“15, indem er „das Dämonische“ nicht als „die Sphäre des völligen Dunkels im Gegensatz zum Licht“, sondern als Sphäre „des Zwielichts, der Mehrdeutigkeit, des Ungewissen, des zutiefst Unheimlichen“16 definiert. Die „Dämonie der Macht“ sei eine „Besessenheit des Willens, ohne die kein großes Machtgebilde zustande kommt, die aber gefährlich-zerstörerische Kräfte in sich schließt“17. Macht ist also zweideutig; sie ist schöpferisch und zugleich zerstörerisch. In seiner Schrift „Über die Macht“ (1960) greift auch der lutherische Theologe Hans Asmussen kritisch das Thema der „an sich bösen Macht“ auf und gibt das „Nein, das wir zur Macht zu sprechen geneigt sind“18, zu bedenken. Für ihn ist zwar das „Nein zur Macht“ berechtigt, „denn unsere Generation hat den Missbrauch der Macht kennengelernt. Es ist wie ein Schock über uns gekommen“19. Aber dieses „Nein zur Macht“ ist ihm zufolge „instinkthaft“ und zu „einfach“,

|| 15 Vgl. ebd., 215 Anm. 2. – An dieser Stelle sei vermerkt, dass der Begriff des „Dämonischen“ (vgl. P. Tillich Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, Tübingen 1926, in: MW V 99–123), neben dem des „Kairos“ und der „Theonomie“, zu den „Großbegriffen“ Tillichs gehört und eine zentrale Rolle in seiner Geschichtsphilosophie spielt. Dabei hat „Tillich […] in der Tat das Dämonische in seiner Doppelfunktion von Formschöpfung und Formzerstörung vom Satanischen als dem eindeutig Zerstörerischen unterschieden. In diesem Sinne hat er vom ,dämonischen Machtwillen‘ des Sakralen, symbolisiert durch den ,Großinquisitor‘ Dostojewskis, von der ,Dämonie des Krieges‘ und der ‚politischen Dämonie‘ gesprochen […], nicht aber von der ,Dämonie der Macht‘.“ (E. Sturm, Macht und Gewalt im politischen Denken Tillichs, in: W. Schüßler / E. Sturm [Hg.], Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich [= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5], Münster 2005, 53–86, hier 85) Warum? Weil die Macht ontologisch dadurch ausgezeichnet ist, „dass sie Seinsmacht ist und das Sein vor dem Nichtsein bewahrt. Das Sein ist das Machtvolle, religiös gesprochen: Heilige, und als solches nicht dämonisch“ (ebd.). 16 G. Ritter, Die Dämonie der Macht, München 1948, 19; vgl. ders., Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus, München 1940, 9. Zum Begriff des „Dämonischen“ bei Tillich vgl. C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Das Dämonische. Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs (= Tillich Research, Bd. 15), Berlin / Boston 2018; C. Danz, Das Göttliche und das Dämonische. Paul Tillichs Deutung von Geschichte und Kultur, in: Ders. / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Philosophy of History (= International Yearbook of Tillich Research/Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung/Annales internationales de recherches sur Tillich, Vol. 8) Berlin / Boston 2013, 1–14; W. Schüßler, „Form der Form-Widrigkeit“. Zu Paul Tillichs Begriff des Dämonischen, in: Ders. / C. Görgen, Gott und die Frage nach dem Bösen. Philosophische Spurensuche: Augustin – Scheler – Jaspers – Jonas – Tillich – Frankl, Berlin 2011, 119–134. 17 G. Ritter, Die Dämonie der Macht, München 1948, 19; vgl. ders., Machtstaat und Utopie. Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavelli und Morus, München 1940, 9. 18 H. Asmussen, Über die Macht, Stuttgart 1960, 7. 19 Ebd.

1 Problemhorizont | 5

d.h. oberflächlich und undifferenziert. „Unser Nachdenken über die Macht ist sehr lückenhaft. Das Nein, das wir zur Macht zu sprechen geneigt sind, ist zu einfach. Es geht nicht aus Nachdenken hervor, geschweige dass ihm eine richtige Beobachtung voraufging.“20 Bereits in seinem 1953 gehaltenen und 1956 veröffentlichten Beitrag „Die Philosophie der Macht“21 macht Tillich darauf aufmerksam, dass es so aussieht, als ob „das Wort ‚Macht‘ […] eine Art negativer Magie auf viele Menschen ausübt: wenn sie es hören, eilen sie davon. Sie hören etwas Dämonisches aus dem Wort ,Macht‘ heraus“22. Diese Beobachtung mutet an, als sei sie der Gegenwart entnommen. Der Grund dafür ist, dass Macht sehr oft mit Zwang, Gewalt und Herrschaft verwechselt und deswegen abgelehnt wird. Dabei wird Zwang und Gewalt oft als „brutale Macht“ empfunden, sei es psychisch oder physisch. In diesem Sinne verweist Herrschaft sehr oft auf eine Art Ungleichheit zwischen den Menschen, auf Machtausübung über andere, und als solche scheint sie in der modernen Gesellschaftsstruktur für negativ gehalten zu werden.23 „Selbst dort, wo Über- und Unterordnung nicht zu leugnen sind, wie zum

|| 20 Ebd. 21 Vgl. GW IX 205–232. 22 GW IX 207; vgl. dazu W. Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230, hier 203f. 23 In seiner Schrift „Das Ende der Herrschaft?“ stellt Hubertus Niedermaier fest, dass die Herrschaft zu einem Signalbegriff geworden ist. Er weist darauf hin, dass der Herrschaftsbegriff bis in die Moderne hinein (über mehr als zwei Jahrtausende hinweg) eine bedeutende Kategorie der sozialen Ordnung war. Heutzutage sei dieser Begriff aber aus der Mode gekommen. An seine Stelle sei der Begriff „der gesellschaftlichen Differenzierung“ getreten. „Damit liegt die Soziologie durchaus im Trend der Zeit: Man herrscht heute nicht mehr. War die Vorstellung eines ,Hausherren‘, der die unangefochtene Befehlsgewalt in seinem Haushalt auszuüben hat, bis vor einigen Jahrzehnten noch verbreitet, so hat es damit mittlerweile ebenso ein Ende wie mit politischen Herrschern: Der Staat wird nicht mehr von Herrschern geführt, sondern von Politikern regiert.“ (Ders., Das Ende der Herrschaft? Perspektiven der Herrschaftssoziologie im Zeitalter der Globalisierung, Konstanz 2006, 7f.) Niedermaier spricht dabei kritisch von der „vorschnellen Verabschiedung“ des Herrschaftsbegriffs. In ähnlicher Weise sprechen Wolfang Bonß und Christoph Lau in ihrer Einleitung zu dem Sammelband „Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne“ von einem Strukturwandel von Macht zu Herrschaft in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens in der Moderne, „der übergreifend mit den Stichworten ,Entgrenzung‘ und ,Subjektivierung‘ charakterisiert werden kann“ (dies. [Hg.], Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne, Weilerswist 2011, 8).

6 | Einleitung

Beispiel in Unternehmen, geht man heutzutage dazu über, diese Hierarchien zumindest als ,flach‘ darzustellen.“24 Eine ähnliche Ansicht vertreten auch Wolfgang Bonß und Christoph Lau: „Als Mitglieder der Arbeitsgesellschaft lassen sich die Individuen heute nicht mehr unbedingt entlang der Grenze ,Arbeitnehmer‘ oder ,Arbeitgeber‘ einsortieren. Insbesondere in den qualifizierteren Segmenten erscheinen sie vielmehr zunehmend als UnternehmerInnen der eigenen Arbeitskraft, die weder dem einen noch dem anderen Lager eindeutig zugeordnet werden können, sondern die sich in ihrer Alltagspraxis als Arbeitnehmer und Selbständige gleichermaßen erfahren.“25 Die Macht wird also negativ gewertet, indem sie durch den Begriff der Herrschaftsstruktur ersetzt wird. Ist das nicht ein allzu simples Machtverständnis? Zwar wächst die einschlägige Literatur zum Thema Macht stetig an.26 Es herrscht dennoch immer noch eine große Verworrenheit darüber, was unter Macht genauerhin zu verstehen ist. Damit gelangen wir zu einem zweiten Punkt des Machtproblems, der nun behandelt werden soll.

|| 24 H. Niedermaier, Das Ende der Herrschaft? Perspektiven der Herrschaftssoziologie im Zeitalter der Globalisierung, Konstanz 2006, 8. 25 W. Bonß / C. Lau (Hg.), Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne, Weilerswist 2011, 10. 26 Vgl. für eine historisch-analytische Perspektive zur Thematik K. Röttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg / München 1990; für eine kompakte Darstellung klassischer Machttheorien vgl. ders., Macht, in: C. Bermes / U. Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2010, 221–233; für eine kritische Einführung in die klassischen theoretischen Linien (von Thukydides bis Niklas Luhmann) vgl. A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017; zu analytisch-systematischen Gesichtspunkten des Machtphänomens vgl. B.-C. Han, Was ist Macht?, Stuttgart 2005; für einen Gesamtüberblick über die Machttheorien vgl. G. Göhler, Macht, in: Ders. / M. Iser / I. Kerner (Hg.), Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 2011, 224–240; K. Inhetveen, Macht, in: N. Baur / H. Korte / M. Löw / M. Schroer (Hg.), Handbuch Soziologie, Wiesbaden 2008, 253–272; H. Treiber, Macht – ein soziologischer Grundbegriff, in: P. Gostmann / P.-U. Merz-Benz (Hg.), Macht und Herrschaft. Zur Revision zweier soziologischer Grundbegriffe, Wiesbaden 2007, 49–62; N. Ricken, Die Macht der Macht, in: Ders., Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung, Wiesbaden 2006, 31–149; R. Zimmerling, Influence and Power. Variations on a Messy Theme, Dordrecht 2005; P. Morriss, Power. A Philosophical Analysis, Manchester 2002; K. D. Bracher, Betrachtungen zum Problem der Macht, Opladen 1991; T. E. Wartenberg, The Forms of Power. From Domination to Transformation, Philadelphia 1990.

1 Problemhorizont | 7

1.2 Die Heterogenität des Machtverständnisses und die Notwendigkeit einer philosophischen Fundierung Macht ist aktuell, zentral und selbstverständlich in allen Lebensbereichen. Zugleich zeigt sich, dass je populärer das Machtphänomen ist, umso heterogener der Machtbegriff ist. Auf die Frage „Was ist Macht?“, fallen die Antworten keineswegs einheitlich aus. Die bunte Vielfalt der unterschiedlichsten Versuche, Macht definitorisch zu fassen, zeigt, wie umstritten, kontrovers und heterogen der Machtbegriff ist. Bereits in seinem Beitrag „Soziologie der Macht“ aus dem Jahre 1961 macht der Philosoph, Anthropologe und Soziologe Arnold Gehlen darauf aufmerksam, dass es keine Machttheorie gibt, „die als maßgebend gelten könnte“27. Mit dieser Einschätzung dürfte er nicht alleine stehen. Ulrich Weiß, für den es „keinen eindeutigen Begriff von Macht“28 gibt, spricht von einem „diffusen und komplexen Wortfeld von Macht“29 und Byung-Chul Han von einem „theoretischen Chaos“30. Han fährt fort: „Der Selbstverständlichkeit des Phänomens steht eine totale Unklarheit des Begriffs gegenüber.“31 Juristen, Politiker, Sozialwissenschaftler stehen in ihrer Machtdefinition einander gegenüber. Jeder versteht unter Macht etwas anderes. „Die Macht wird bald mit der Freiheit, bald mit dem Zwang in Verbindung gebracht. Für die einen beruht die Macht auf dem gemeinsamen Handeln. Für die anderen steht sie mit dem Kampf in Beziehung. Die einen grenzen die Macht von der Gewalt scharf ab. Für die anderen ist die Gewalt nichts anderes als eine intensivierte Form der Macht. Die Macht wird bald mit dem Recht, bald mit der Willkür assoziiert.“32 Die Machttheorienlandschaft ist also alles andere als einheitlich. Der Grund hierfür liegt nicht zuletzt darin, dass die prädisponierten Disziplinen, in denen Macht als klassisches Thema auftritt,33

|| 27 A. Gehlen, Soziologie der Macht, in: Ders., Gesamtausgabe, hg. v. K. S. Rehberg, Bd. 7, Frankfurt/M. 1978, 91; vgl. auch ders., Soziologie der Macht, in: E. von Beckerath (Hg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 7, Göttingen 1961, 77–81, hier 77. 28 U. Weiß, Macht, in: D. Nohlen (Hg.), Lexikon der Politik, Bd. I, München 1995, 305–315, hier 304. 29 Ebd., 305. 30 B.-C. Han, Was ist Macht?, Stuttgart 2005, 7. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Macht gilt meistens als klassisches Thema der Sozial- und Politikwissenschaft, so unter anderem der Sozialphilosophie, Politologie, Soziologie, Sozialpsychologie, aber auch der Anthropologie, Ethnologie, Semiologie sowie der Text- und diskurstheoretischen Forschung. (Vgl. dazu K. Röttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg / München 1990, 17; A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 9)

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sich voneinander abgrenzen. „Oft gehen die Theorien schon an der Wurzel auseinander“34, schreibt Andreas Anter. Ähnlich meint auch Kurt Röttgers: „Die Grenzen zwischen soziologisch-politologischen, sozialpsychologischen, historisch-anthropologischen und texttheoretischen Überlegungen zum Begriff und Problem der Macht erscheinen den Vertretern dieser Disziplinen als unüberschreitbar.“35 Zur Omnipräsenz des Machtphänomens auf der einen Seite und dem Mangel in Bezug auf die Frage nach Wesen und Einheit der Macht auf der anderen bemerkt Céline Spector36 in ihrem Sammelband „Le pouvoir“ von 1997 zurecht: „L’interrogation sur la nature du pouvoir est, semble-t-il, occultée aujourd’hui par son omniprésence. Paradoxe apparent qui n’a rien d’étonnant: à force de le voir partout, dans toutes les dimensions de notre vie quotidienne et sous les formes les plus diverses (du professeur au policier en passant par le journaliste, le nanti ou le député), on oublie que le concept peut avoir une unité qui transcende les formes empiriques par lesquelles il se rend sensible.“37 Indem man Macht alltäglich in allen Lebensbereichen erfährt, vergisst man, so Spector, dass sie eine Einheit hat, die alle ihre empirischen Formen transzendiert. Ähnlich meint auch Volker Gerhardt: „Die Machtbefangenheit ist so groß, daß man zum Begriff – und damit auch zum Phänomen der Macht – erst gar nicht in philosophische Distanz gelangt. Das Problem des Umgangs mit der Macht, die Debatte über Motive, Instanzen und Kriterien der großen Mächte sind so beherrschend, daß man zur Frage nach ihrem Ursprung gar nicht mehr kommt. Die Präokkupation aller Theorie durch die bedrohlichen Machtmonopole lenkt alle Aufmerksamkeit auf deren Organisation und Kontrolle; was Macht eigentlich bedeutet,

|| 34 A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 13; vgl. auch G. Göhler, Macht, in: Ders., u.a. (Hg.), Politische Theorie, Wiesbaden 22011, 224–240, hier 224; N. Ricken, Die Macht der Macht, in: Ders., Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung, Wiesbaden 2006, 31. 35 K. Röttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg / München 1990, 19. 36 Céline Spector ist Professorin für politische Philosophie an der Universität Paris-Sorbonne und Mitglied des „Institut Universitaire de France“ (IUF). 37 C. Spector, Le pouvoir, Paris 1997, 9.

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scheint dabei immer schon klar.“38 So bedauert es Gerhardt, dass die zeitgenössische Philosophie die eingehende Betrachtung über das Machtproblem den Politologen und Soziologen überlassen hat.39 Im Gegensatz zu Volker Gerhardt bestreitet Kurt Röttgers überhaupt die Möglichkeit einer einheitlichen Theorie der Macht und bezeichnet jedes philosophische Verfahren, „die Macht jenseits partikularer operationaler Definitionen und zugleich jenseits der Diffusität des Alltagsverständnisses ,eigentlich‘ zu definieren“40, als „Anspruch des Rechts überlegener Macht“41 des Philosophen. So schlägt Röttgers statt einer einheitlichen Theorie der Macht eine „Semiologie der Macht“42 vor, d.h. eine „Spurenkunde der Macht“, in der er den verschiedenen „theoretischen Linien“ des Machtbegriffs nachgeht.43 Aber allein dadurch, dass all diese Theorien, die schon an der Wurzel auseinander gehen, obwohl sie sich „auch gegenseitig durchkreuzen und beeinflussen, überlappen und mißverstehen“44, ein und dasselbe Wort „Macht“ gebrauchen, um das Phänomen zu beschreiben, muss man nach dem Warum fragen: Wieso? Gibt es nicht eine Tiefendimension, die alle empirischen Konstellationen, in denen Macht sichtbar wird, transzendiert? Dazu kommt, dass die meisten Machttheorien immer auch Bezug nehmen auf die Erscheinungsweise und Wirkung der Macht und von hier aus eine Theorie entwickeln. Das heißt, sie gehen vom Phänomen der Macht aus und versuchen, „die Vielschichtigkeit der Erscheinungsformen in eine Definition zu bannen“45, um mit Werner Schüßler zu sprechen. Greift dieses Verfahren nicht

|| 38 V. Gerhardt, Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretationen, in: Nietzsche-Studien (= Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung 10/11 [1981/82]), 193–221, hier 193. 39 Die „zeitgenössische Philosophie hat das Nachdenken über die Macht den Politologen und Soziologen überlassen. Die Anstöße aus den Grenzbereichen, aus politischer Theorie (z. B. von Hannah Arendt, L. Strauss oder C. Schmitt), soziologischer Anthropologie (H. Plessner, A. Gehlen, H. Schelsky, N. Luhmann) oder Theologie (K. Barth, J. B. Metz, F. Hammer) sind bisher nicht aufgenommen worden. Der philosophische Rang des Begriffes ist so gut wie vergessen.“ (V. Gerhardt, Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretationen, in: Nietzsche-Studien 10/11 [1981/82] 193–221, hier 194f.) 40 K. Röttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg / München 1990, 27. 41 Ebd. 42 Ebd., 5. 43 K. Röttgers, Macht, in: C. Bermes / U. Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2010, 221–233. 44 Ebd., 221. 45 W. Schüßler, Macht und Gewalt, in: Ders. / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 11– 37, hier 14.

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zu kurz? Wie ist Macht über die verschiedenen politisch-praktischen Machtkonzeptionen hinaus und angesichts der Unklarheit des Wortfeldes definitorisch zu fassen?46 Was ist Macht ihrem Wesen nach? Das ist der Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Arbeit. Und die Auseinandersetzung mit Tillichs „Ontologie der Macht“, so wird sich zeigen, bietet eine Chance, die philosophische Dimension der Macht und das mit dem Konzept verbundene Problemfeld bewusst zu machen.

2 Tillichs Ontologie der Macht – zum Forschungsstand Die ontologische Perspektive innerhalb der Machtdebatte des 20. Jahrhunderts begegnet nicht allein im Denken Paul Tillichs. In seiner Rezeption des „Willens zur Macht“ bei Nietzsche entwickelt auch Heidegger eine „Ontologie des Wollens“47. Und auch Karl Jaspers spricht in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche von dessen „Metaphysik des Willens zur Macht“48. Aber kaum ein anderer Machttheoretiker des 20. Jahrhunderts hat so intensiv und fruchtbar den Begriff der Macht im Rahmen der Ontologie erörtert wie Paul Tillich.49 Dieses Konzept hat er zum ersten Mal in seinem Beitrag „Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung“50 von 1931 in die Machtdebatte eingebracht, worauf Werner Schüßler hinweist.51 „Das Begründende des Machtbegriffs“, schreibt

|| 46 Vgl. K. Röttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg / München 1990, 27. 47 M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 257ff.; vgl. auch ders., Nietzsche I, Pfullingen 1961, 478. 48 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 309. 49 Vgl. W. Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230, 201. 50 GW II 193–208. Dieser Beitrag bezieht sich auf einen Vortrag über den Machtbegriff, den Tillich im Jahr 1929 vor der Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft in Stuttgart hielt und 1931 in der Zeitschrift „Neue Blätter für den Sozialismus“ 2 (1931) 157–170 veröffentlichte. 51 Vgl. W. Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230, hier 202.

2 Tillichs Ontologie der Macht – zum Forschungsstand | 11

Tillich, „liegt in der Struktur des Seins selbst“52. Weiter befasst sich Tillich ausführlich mit diesem Thema in seinem kleinen Beitrag „Love, Power, and Justice”53 von 1952, in seinem Buch „Love, Power, and Justice. Ontological Analyses and Ethical Applications”54 von 1954 sowie in der Schrift „Die Philosophie der Macht. Zwei Vorträge, gehalten an der Deutschen Hochschule für Politik“55 von 1956. Neben diesen vier von Tillich selbst veröffentlichten Schriften zur Machtproblematik spielt die ontologische Grundstruktur der Macht eine wichtige Rolle in den beiden posthum veröffentlichten Beiträgen Tillichs zum Machtthema, zum einen in der Schrift „Religion und Weltpolitik“56 von 1938/39, in der ein Abschnitt den Titel „Der politische Weltbegriff und das Problem der Macht“57 trägt, und zum anderen sein Beitrag „Shadow and Substance: A Theory of Power“ von 196558. „Seitdem wird der von Tillich […] geprägte und in die Diskussion eingebrachte Begriff einer ,Ontologie der Macht‘ von anderen Autoren immer wieder aufgegriffen, wobei der Name Tillichs in diesem Zusammenhang zumeist aber nicht mehr fällt.“59 So wunderte sich Werner Schüßler in seinem Beitrag „Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs“ von 1999 zurecht darüber, „daß Tillichs Überlegungen zu diesem Problem bisher weder in der Tillich-Forschung noch in der allgemeinen philosophisch-theologischen Diskussion die Anerkennung gefunden haben, die ihnen zustände“60. Seitdem wächst die einschlägige Literatur in der Tillich-Forschung stetig.61 Aber eine || 52 GW II 195. 53 P. Tillich, Love, Power, and Justice, in: The Listener 48 (1952) No. 1231, 544f. 54 GW XI 141–225. 55 GW IX 205–232. 56 GW IX 139–192. 57 GW IX 166–177. 58 P. Tillich, Political Expectation, hg. v. J. L. Adams, New York 1971, 115–124. 59 W. Schüßler, Macht und Gewalt, in: Ders. / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 11– 37, hier 16. 60 W. Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230, 203. 61 Zum Machtthema im Denken Paul Tillichs vgl. auch T. Junker, Paul Tillich: Une théorie du pouvoir pour le socialisme, in: Studies in Religion 12 (1983) 325–336, hier 327ff. (besonders zur Ontologie der Macht); J. Ringleben, Die Macht des Geistes in der Geschichte, in: W. Greive (Hg.), Die Macht der Religion in der Politik, Locum 1987, 55–79; K.-M. Kodalle, Auf der Grenze? Paul Tillichs Verhältnis zum Existentialismus, in: H. Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt/M. 1989, 301–334, bes. 306–313 u. 316–319; W. Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bedeutung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Zeitschrift für katholische Theologie 111/1 (1989) 1–25; jetzt auch in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“.

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eingehende Analyse des Machtbegriffs bei Paul Tillich steht noch aus. Es ist das Anliegen der vorliegenden Arbeit, dieses Desiderat zu schließen. Es wäre schon viel, wenn es in dieser Arbeit gelänge, mit Tillich die Macht von Missverständnissen und Ideologien zu befreien und die Konturen einer notwendig ontologischen Fundierung des ethisch-politischen Feldes sichtbar zu machen. Denn der „Wichtigkeit des Problems der Macht für die Existenz unserer Gesellschaft und jedes Einzelnen in ihr entspricht die Vielschichtigkeit jeder Analyse des Begriffes der Macht“62.

3 Aufbau der Arbeit und methodisches Vorgehen Es hat sich gezeigt, dass der philosophische Rang des Machtbegriffes in dem Gravitationsfeld eines dominant politisch-praktischen Verfahrens so gut wie vergessen ist und dass es darum die Zielsetzung dieser Arbeit ist, diesen Mangel in der Machtdebatte zumindest ausgehend von Tillichs „Ontologie der Macht“ her teilweise auszugleichen. Im ersten Teil dieser Arbeit mit dem Titel „Zur Philosophie

|| Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230; ders., Macht – Existential menschlichen Seins, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 140/1 (1992) 48–61; W. R. Wrege, Die Rechtstheologie Paul Tillichs, Tübingen 1996, 128– 145; W. Schüßler, „Die Schwierigkeit, ein Mensch zu sein.“ Philosophisch-theologische Überlegungen zum Wesen der Macht, in: Trierer Theologische Zeitschrift 106/2 (1997) 117–132; T. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, Tübingen 2003, 467–473; W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich, Münster 2005; W. Schüßler, Power and the Human Condition. Philosophico-Theological Reflections on the Nature of Power According to Tillich, Jaspers, and Rahner, in: C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Religion und Politik (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 4), Berlin / Wien 2009, 111–124; C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich (= Tillich-Studien 22), Münster 2010, bes. 201ff.; W. Schüßler, Zwang – das „fremde Werk“ der Liebe. Zu Paul Tillichs Ontologie der Macht, Gerechtigkeit und Liebe, in: J.-P. Ernst / M. Kehl / M. Thal / D. Groß (Hg.), Medizin – Zwang – Gesellschaft (= Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart), Berlin 2012, 19–34; C. Danz, „Sein [...] ist die Macht zu sein.“ Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice, in: Ders. / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Love, Power, and Justice (= International Yearbook for Tillich Research / Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung / Annales internationales de recherches sur Tillich, Vol. 9), Berlin / Boston 2014, 27–46; R. H. Stone, Tillich on Power in the Context of the American Empire, in: Ebd., 47–61. 62 GW IX 205.

3 Aufbau der Arbeit und methodisches Vorgehen | 13

der Macht im zwanzigsten Jahrhundert“ sollen vier verschiedene philosophische Deutungen der Macht im 20. Jahrhundert vorgestellt werden, um innerhalb dieses Horizontes Tillichs Konzeption einordnen und profilieren zu können. Dabei befasst sich das erste Kapitel mit dem Machtbegriff bei Hannah Arendt, deren Machtkonzeption als „Konsenstheorie der Macht“ verstanden werden kann. Macht ist nämlich für Arendt ein soziales Geschehen. Sie unterscheidet Macht als solche von der Handlungsfähigkeit des Menschen, die sie durch den Begriff der „Stärke“ zum Ausdruck bringt. „Stärke ist“, so Arendt, „was ein jeder Mensch von Natur in gewissem Ausmaße besitzt und wirklich sein eigen nennen kann; Macht aber besitzt niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen“63. Dabei wird sich zeigen, dass Arendts Machtkonzeption mit Katrin Meyer „im weitesten Sinn als Philosophie der Macht bezeichnet werden“64 kann. Dass sich aber Arendts Machtverständnis „einem ontologisch weiten Verständnis von Macht zuordnen“65 lässt, wie Meyer meint, erscheint mir doch sehr fraglich. Im zweiten Kapitel wird die Frage nach dem Wie der Macht bei Michel Foucault dargestellt. Für Foucault gibt es nämlich nicht „die“ Macht, sondern nur ein „offenes, mehr oder weniger [...] koordiniertes Bündel von Beziehungen“66. So sind denn auch die Machtbeschreibungen des französischen Philosophen alles andere als homogen, bringt er doch zu viele verschiedene Dinge mit der Macht in Beziehung.67 Aber so vielfältig die Machtbewertung Foucaults auch sein mag, so wird dabei doch der Frage nach dem Wie der Macht eine hohe Priorität eingeräumt: „Wie Wissen entsteht und Geltung erlangt“68, „wie Macht ausgeübt wird“ und wie „Subjekte konstituiert und diszipliniert werden“69 – zusammenfassend: Wie Macht produktiv wird70 – das ist die grundsätzliche Frage Foucaults. Damit

|| 63 VA 252. 64 K. Meyer, Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt, Basel 2016, 13. 65 Ebd., 15. 66 M. Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, 126. 67 Vgl. N. Fraser, Foucault über die moderne Macht: Empirische Einsichten und normative Unklarheiten, in: Dies., Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht, Frankfurt/M. 1994, 31–55, hier 52. 68 M. Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1998. 69 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294. 70 Vgl. dazu die Ausführungen von J. Bernardy, Warum Macht produktiv ist. Genealogische Blickschule mit Foucault, Nietzsche und Wittgenstein, Paderborn 2014, 13ff.

14 | Einleitung

schließt sich die Machttheorie Foucaults den handlungstheoretischen Ansätzen der Macht an. Im dritten Kapitel geht es um die anthropologische Deutung der Macht bei Helmuth Plessner. Seine Theorie des „Menschen als Macht“ entwickelt er ausgehend von seinen Begriffen der „exzentrischen Positionalität“ und der „Unergründlichkeit“ des Menschen. Entscheidend ist dabei, dass Plessner keine Metaphysik der menschlichen Macht oder des menschlichen Vermögens entwickelt, sondern von einem „Prinzip der offenen Immanenz“ spricht, von dem aus der Mensch sich als Macht versteht und sich selbst schafft, indem er seine eigene konkrete Geschichte gestaltet. Somit hat der Mensch ein lebendiges Verhältnis zu seiner eigenen Gewordenheit.71 Im vierten Kapitel des ersten Teiles werden wir uns mit dem Machtbegriff bei Karl Jaspers beschäftigen. Hier lässt sich Macht als Verwirklichung der menschlichen Existenz im Bestehen der Grenzsituationen und im Rahmen der existenziellen Kommunikation begreifen. In seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche deutet Jaspers den „Willen zur Macht“ als eine metaphysische Weltauslegung. Dabei sei aber „Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht […] von der Art früherer dogmatischer Metaphysik“72, da „diese Metaphysik einer radikalen Immanenz die Chiffre des Seins als Wille zur Macht lesen will ohne Transzendenz“73. Im Gegensatz zu Jaspers rezipiert Tillich den „Willen zur Macht“ Nietzsches weniger distanziert und macht ihn fruchtbar für seine eigene „Ontologie der Macht“, von der im zweiten Teil dieser Arbeit dann ausführlich die Rede sein wird. Schließlich bringt das fünfte Kapitel ein Zwischenergebnis hinsichtlich des Machtbegriffs bei Arendt, Foucault, Plessner und Jaspers, was den Blick auf die Ontologie der Macht bei Tillich eröffnet. Die Überschrift des zweiten Teils nimmt ein Zitat Tillichs auf: „Sein ist […] die Macht zu sein“74. Dieses Zitat fasst zutreffend die „Ontologie der Macht“ Tillichs zusammen. Zwei Aspekte sind hier näherhin in den Blick zu nehmen: Das Engagement des frühen Tillichs innerhalb des Religiösen Sozialismus der 1920er Jahre sowie die von ihm entwickelte „Existentialontologie“ in seiner amerikanischen

|| 71 Vgl. H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 190. 72 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 309. 73 Ebd., 317. 74 GW IX 207.

3 Aufbau der Arbeit und methodisches Vorgehen | 15

Zeit.75 Zum „politischen Bewusstsein eines Menschen, der wie Tillich aus dem 19. Jahrhundert kommt, beide Weltkriege, die Weimarer Republik und deren Scheitern und Übergang in den Nationalsozialismus erlebt hat und aus politischen Gründen verfolgt und zur Emigration gezwungen wurde“, gehört „die Wahrnehmung des Phänomens der Macht in Geschichte und Gegenwart“76. Diese Feststellung Erdmann Sturms erhellt zutreffend den Kontext, in dem sich von Tillich her die Machtfrage stellt. Das erste Kapitel des zweiten Teils soll kurz diesem Kontext nachgehen, aus dem sich das Engagement Tillichs für den Religiösen Sozialismus entwickelt hat, sowie der Frage, wie Tillich dabei seinem Machtverständnis eine sinntheoretische Wendung gegeben hat. Spätestens in seiner amerikanischen Zeit bringt er dann seine Überlegungen zur Macht mit dem Begriff des Seins in Zusammenhang und zieht daraus anthropologische, politische und ethische Konsequenzen. Diese Aspekte werden im zweiten Kapitel des zweiten Teils entfaltet, in dem die „Ontologie der Macht“ Tillichs systematisch dargestellt wird. Der Rückblick und Ausblick, der diese Arbeit beschließt, will thesenhaft auf die Relevanz, die Notwendigkeit und die Aktualität einer „Ontologie der Macht“ im Sinne Tillichs in unserer Zeit hinweisen. Dabei wird es nicht so sehr darum gehen, Tillich mit Arendt, Foucault, Plessner und Jaspers in Beziehung zu setzen, sondern darum, wie er uns helfen kann, von den Gesichtspunkten dieser Denker her zu einer Grundeinsicht in das Wesen der Macht zu gelangen.

|| 75 Vgl. W. Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230, hier 204. 76 E. Sturm, Macht und Gewalt im politischen Denken Tillichs, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 53–86, hier 53.

| Teil 1: Zur Philosophie der Macht im zwanzigsten Jahrhundert – vier Versuche: Hannah Arendt, Michel Foucault, Helmuth Plessner und Karl Jaspers

Erstes Kapitel Hannah Arendt oder die Frage nach der Entstehung der Macht 1 Das politisch-philosophische Projekt Arendts als Schlüssel zum Verständnis ihres Machtbegriffs Dass die deutsch-amerikanische Autorin Hannah Arendt (1906–1975) inzwischen als eine der bedeutendsten Denkerinnen der Politischen Philosophie im 20. Jahrhundert anerkannt wird, steht außer Zweifel. Für viele ihrer Interpreten erscheint sie als „Shooting Star der philosophisch-politikwissenschaftlichen Szene“1. Allerdings ist das politisch-philosophische Erbe Arendts nicht in einfacher Weise zu erfassen, zumal sie sich als undogmatische Denkerin zeigt, die sich nur schwer in eine akademische Fachdisziplin einordnen lässt.2 Zutreffend schreibt Frank Deppe: „Es ist […] nicht ganz einfach, sie einer akademischen Fachdisziplin zuzuordnen: Philosophie, politische Philosophie oder Politikwissenschaft.“3 Zudem wollte Arendt keine „Philosophin“ sein. Darüber hinaus wollte sie die Politik mit „von der Philosophie ungetrübten Augen“4 sehen. Zu Recht stellt Dag Javier Opstaele fest, „daß man von ,Politischer Philosophie‘ eigentlich nur dann sinnvoll reden kann, wenn man sowohl über einen Politikbegriff als auch über einen

|| 1 B. Neumann / H. Mahrdt / M. Frank (Hg.), Einleitung zu: „The angel of history is looking back“: Hannah Arendts Werk unter politischem, ästhetischem und historischem Aspekt. Texte des Trondheimer Arendt-Symposions vom Herbst 2000, Würzburg 2001, 8. 2 Die Verschiebungen im Denken Arendts können sich biographisch erklären lassen. Als Jüdin in Deutschland geboren, war sie Studentin u.a. bei Heidegger und Jaspers. Durch das Naziregime wurde sie heimatlos. Ursprünglich hatte sie sich ganz der Philosophie verschreiben wollen, um dann allerdings nach 1933 ihr politisch- philosophisches Projekt als Leitmotiv zu finden. 3 F. Deppe, Hannah Arendt und das politische Denken im 20. Jahrhundert, in: Utopie kreativ, H. 201/202 (Juli/August 2007), 681–697, hier 681. 4 H. Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. U. Ludz, München / Zürich 2005, 46. https://doi.org/10.1515/9783110676754-002

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Philosophiebegriff verfügt und beide Begriffe in ein bestimmtes Verhältnis zueinander setzt“5. Wenn Arendt sich nun nicht als Philosophin bezeichnet wissen möchte und ihre Arbeit als „politische Theorie“ beschreibt,6 würde es dann nicht problematisch erscheinen, ihr politisch-philosophisches geistiges Erbe als Beitrag zur Politischen Philosophie einzustufen? Auf diese Frage kann man sowohl mit einem Nein als auch mit einem Ja antworten. Das Nein lässt sich dadurch rechtfertigen, dass Arendt selbst die Bezeichnung „Politische Philosophie“ vermeidet, denn sie sieht diese durch die Tradition belastet. Im Jahre 1964 sagte sie im Fernsehgespräch mit Günther Gaus, der sie als politische Philosophin anspricht: „Der Ausdruck ,Politische Philosophie‘, den ich vermeide, […] ist außerordentlich vorbelastet durch die Tradition. Wenn ich

|| 5 D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 31. 6 Vgl. H. Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. U. Ludz, München / Zürich 2005, 46. Bereits in der Politikwissenschaft, wo Arendt spätestens anlässlich ihres 100. Geburtstags im Oktober 2006 von vielen Bewunderern „zur bedeutendsten politischen Theoretikerin des 20. Jahrhunderts geadelt“ wird (F. Deppe, Hannah Arendt und das politische Denken im 20. Jahrhundert, in: Utopie kreativ, H. 201/202 [Juli/August 2007], 681–697, hier 681) und wo man von einem „Rezeptionsboom“ Arendts sprechen kann (H. Kahlert / C. Lenz, Verstehen, Urteilen, Handeln. Impulse Hannah Arendts für die Neubestimmung des Politischen, in: Dies. [Hg.], Die Neubestimmung des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt, Königstein 2001, 7–43, hier 7), mahnen manche Interpreten zur Vorsicht. Hierzu schreibt Kurt Sontheimer: „Es ist ein unabhängiges Denken, ein Denken zwischen den Stühlen, d.h. zwischen den herrschenden geistigen Schulen und Strömungen ihrer Zeit.“ (Ders., Hannah Arendt. Der Weg einer großen Denkerin, München / Zürich 2005, 10; vgl. auch G. Schäfer, Der Denkweg Hannah Arendts, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Berlin, Bd. 19, H. 4, 1997, 129–159) Eine unabhängige Denkerin ist Arendt zeitlebens geblieben. Im Jahre 1972, drei Jahre vor ihrem Tod, sagte sie in einer Diskussion: „Sie fragen mich also, wo ich stehe. Ich stehe nirgendwo. Ich schwimme wirklich nicht im Strom des gegenwärtigen oder irgendeines anderen politischen Denkens. Allerdings nicht deshalb, weil ich besonders originell sein will – es hat sich vielmehr einfach so ergeben, dass ich nirgendwo richtig hineinpasse.“ (H. Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. U Ludz, München / Zürich 2005, 111) Hans Morgenthau, der Hannah Arendt auf einer Tagung 1972 in Toronto fragt: „What are you“?, gibt sie zur Antwort: „I don’t know. I really don’t know and I’ve never known. And I suppose that I never had any such position. You know the left think that I am conservative, and the conservatives sometimes think I am left or I am a maverick or God knows what. And I must say I couldn’t care less. I don’t think that the real questions of this century will get any kind of illumination by this kind of thing. I don’t belong to any group. You know the only group I ever belonged to were the Zionists.“ (H. Arendt, On Hannah Arendt, in: A. M. Hill [Hg.], Hannah Arendt, the Recovery of the Public World, New York 1979, 301–339, hier 333f., zit. nach K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt [= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12], Marburg 2009, 24)

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über diese Dinge spreche, akademisch oder nicht akademisch, so erwähne ich immer, daß zwischen Philosophie und Politik eine Spannung lebt. Nämlich zwischen dem Menschen, insofern er ein philosophierendes, und dem Menschen, insofern er ein handelndes Wesen ist.“7 Arendt lehnt also den Ausdruck „Politische Philosophie“ deswegen ab, weil sie die Spannung zwischen Philosophie und Politik, genauer, weil sie die feindselige Einstellung der Philosophie, traditionellerweise begriffen als rein betrachtende Theorie, gegenüber der Politik, die sie als Handlungstheorie versteht,8 nicht akzeptieren will. Im oben erwähnten Gespräch mit Günther Gaus fügt Arendt hinzu: „Der Philosoph steht der Natur gegenüber wie alle anderen Menschen auch. Wenn er darüber denkt, spricht er im Namen der ganzen Menschheit. Aber er steht nicht neutral der Politik gegenüber. Seit Plato nicht! […] Und so gibt es eine Art von Feindseligkeit gegen alle Politik bei den meisten Philosophen, ganz wenige ausgenommen. Kant ist ausgenommen. Eine Feindseligkeit, die für diesen ganzen Komplex außerordentlich wichtig ist, weil es keine Personalfrage ist. Es liegt im Wesen der Sache selber.“9 Arendt sieht also nicht nur eine Kluft zwischen dem traditionellen Verständnis der Philosophie als einer Welt des reinen Denkens und der politischen Reflexion im Sinne einer denkenden Tätigkeit,10 sondern sie sieht auch eine Feindseligkeit der Philosophie gegenüber der Politik, eine Feindseligkeit, an der sie nicht partizipieren

|| 7 H. Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. U. Ludz, München / Zürich 2005, 47. 8 Vgl. D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 21. 9 Zu diesem Thema der Feindseligkeit der Philosophie gegenüber der Politik bei Arendt macht Ernst Vollrath darauf aufmerksam, dass kein Zweifel möglich scheint, „daß Hannah Arendt die Erfahrung dieser Feindseligkeit auch in Bezug auf den ,Irrtum‘ Heideggers gemacht hat. Der Kant, auf den sie hier anspielt, ist im Übrigen nicht der Kant der praktischen Philosophie und Moralphilosophie, in der dieser seine Politische Philosophie untergebracht hat, sondern der Kant der Kritik der Urteilskraft.“ (E. Vollrath, Hannah Arendt und Martin Heidegger – erneut betrachtet, in: A. Großmann / C. Jamme [Hg.], Metaphysik der praktischen Welt: Perspektiven im Anschluss an Hegel und Heidegger. Festgabe für Otto Pöggeler, Amsterdam / Atlanta 2000, 194– 210, hier 208) 10 „Denn im wesentlichen war Philosophie von Plato bis Hegel ,nicht von dieser Welt‘, ob nun Plato den Philosophen als den Menschen hinstellt, der nur noch mit seinem Körper die Welt der Mitmenschen bewohnt, oder ob Hegel ausdrücklich versichert, daß vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes die Welt der Philosophie eine ,verkehrte Welt‘ ist.“ (H. Arendt, Tradition und die Neuzeit, in: U. Ludz [Hg.], Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München / Zürich 1994, 23–53, hier 31)

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möchte. Für Arendt lässt sich sogar „die Neigung zum Tyrannischen […] theoretisch bei fast allen großen Denkern nachweisen (Kant ist die große Ausnahme)“11. So kann sie in diesem Zusammenhang, wie schon erwähnt, die Etikettierung „Philosophin“ ablehnen und ihr Denken als „politische Theorie“ beschreiben. Arendt betont: „Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf – wenn man davon überhaupt sprechen kann – ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin.“12 Somit gedenkt sie, Politik zu sehen mit „von der Philosophie ungetrübten Augen“. Liest man aber diese Äußerung Arendts ohne weitere Differenzierung, d.h. ohne sich vor Augen zu führen, welchen Philosophiebegriff sie in diesem Zusammenhang kritisiert, kann dies zwangsläufig zu der Fehlinterpretation führen, dass Arendt Philosophie und Politik undifferenziert voneinander zu trennen sucht und somit den Ausdruck „Politische Philosophie“ für unmöglich hält, wie dies in der Literatur bei einigen Interpreten begegnet.13 Arendt weist zwar die „Politische Philosophie“ aufgrund ihrer Kritik an der Tradition zurück, aber Philosophie als solche verwirft sie nicht. Im Gegenteil: Sie hat sich immer wieder nicht nur mit der Frage des Verhältnisses zwischen Philosophie und Politik beschäftigt, sondern auch die Bedeutung der Philosophie für die Politik nahm in ihrer „politischen Theorie“ einen wichtigen Platz ein. Die Frage danach, „wie und unter welchen Bedingungen Philosophie als reine Theorie der Politik dienlich sein könnte“14, war in ihrem Denken zentral. „Philosophie hat mit Politik gemeinsam, daß sie alle angeht. Dies ist der Grund, daß sie in die Öffentlichkeit gehört, wo

|| 11 H. Arendt, Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt, in: Dies., Menschen in finsteren Zeiten, hg. v. U. Ludz, München 2001, 172–184, hier 184. 12 H. Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. U. Ludz, München / Zürich 2005, 46. 13 Heiner Bielefeldt meint, dass Hannah Arendt „eine ,politische Philosophie‘ geradezu als Unmöglichkeit auffaßt, da philosophisches Denken per se unpolitisch sei“. (Ders., Wiedergewinnung des Politischen. Eine Einführung in Hannah Arendts politisches Denken, Würzburg 1993, 89) Wolfgang Heuer wiederum spricht von Hannah Arendts „Zurückforderung des Lebens von der Philosophie“. (Ders., Citizen. Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts, Berlin 1992, 387) Ähnlich denkt KarlHeinz Breier, der von der Bemühung Arendts „zur Emanzipation des Politischen von der Philosophie“ spricht. (Ders., Hannah Arendt zur Einführung, Hamburg 1992, 78; vgl. D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 22ff.) 14 D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 22.

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nur die Person und ihre Bewährung zählen“15, sagt Hannah Arendt in ihrer Laudatio für Karl Jaspers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1958.16 Dieses Zitat macht deutlich, dass der Ausdruck „Politische Philosophie“ zur Charakterisierung für Arendts politikphilosophisches Denken geeignet ist. Aufgrund der ambivalenten Haltung Arendts gegenüber der Philosophie in ihrer reinen Gestalt ist es aber vielleicht angemessener, von einem politisch-philosophischen Projekt17 Arendts zu sprechen,18 insofern man in ihren politischen Überlegungen einen philosophischen Entwurf erkennt, mit dem sie sich von der traditionellen „Politischen Philosophie“ abzusetzen sucht.19 Was macht nun das politisch-philosophische Projekt Arendts aus? Um mit Paul Ricœur zu sprechen: „Qu’est-ce qui fait tenir ensemble la philosophie et le politique chez Hannah Arendt?“20 Die Antwort auf diese Frage, die gleichsam den

|| 15 K. Jaspers / H. Arendt, Wahrheit, Freiheit und Friede. Reden zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, München 1958, 33. 16 Auf diese Preisverleihung an Jaspers kommt Arendt auch in einem Brief vom Mai 1966 an Edward Levi zu sprechen, wo es um das Verhältnis von Philosophie und Politik im Denken Jaspers’ geht: „Jaspers ist in vieler Hinsicht einmalig; er ist heute der einzige große Europäer, der ohne Abhängigkeit von einer besonderen Partei oder Richtung über politische Probleme spricht. Seine politischen Überzeugungen sind die natürliche Konsequenz aus seiner Philosophie, und sie kreisen um Freiheit und Vernunft. Das sind wohl die zwei für seine Philosophie zentralen Begriffe. Ihn mit dem Friedensnobelpreis auszuzeichnen, hätte eine […] politische Bedeutung: Damit würde man anerkennen, wie wichtig die Philosophie für die Politik ist.“ (Zit. nach E. YoungBruehl, Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/M. 1991, 580) 17 Vgl. D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 21. 18 Hannah Arendt selbst schreibt weiter: „Ich habe keine politische Philosophie, die ich in einen Ismus fassen könnte.“ (Dies., Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. U Ludz, München / Zürich 2007, 124) Eine „politische Philosophie“ muss folglich aus den Werken Arendts rekonstruiert werden. 19 In diesem Sinne erweist sich ihre Arbeit als die Entdeckung des „eigentlichen Politischen“. Bhikhu Parekh spricht in diesem Zusammenhang von „a new political Philosophy“ Arendts (vgl. ders., Hannah Arendt and the Search for a New Political Philosophy, London 1981). Heiner Bielefeldt und Günter Magiera bezeichnen die „politische Theorie“ Arendts als „Wiedergewinnung des Politischen“ (vgl. H. Bielefeldt, Wiedergewinnung des Politischen. Eine Einführung in Hannah Arendts politisches Denken, Würzburg 1993; G. Magiera, Die Wiedergewinnung des Politischen. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit Platon und Heidegger, Frankfurt/M. 2007). Heike Kahlert und Claudia Lenz sprechen von einer „Neubestimmung des Politischen“ (vgl. dies., [Hg.], Die Neubestimmung des Politischen. Denkbewegungen im Dialog mit Hannah Arendt, Königstein 2001). 20 P. Ricœur, De la Philosophie au Politique, in: Les Cahiers de Philosophie, Hannah Arendt. Confrontations, Lille 1987, 199–203, hier 199, zit. nach D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 22.

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Schlüssel für das Verständnis der Machtproblematik bei Arendt bildet, ist nun näher zu erörtern. In einem Brief an Karl Jaspers vom 1. Juli 1956 schreibt Hannah Arendt: „Ich bin mitten in meiner ‚Vita Activa‘, und das Verhältnis von Philosophie und Politik, das mir eigentlich noch mehr am Herzen liegt, habe ich gerade gründlich vergessen müssen.“21 Dass Arendt hier sagt, dass für sie die Problematik des Verhältnisses von Philosophie und Politik eigentlich relevanter sei als das Thema von „Vita activa“22, ihrem bekanntlich „philosophischen Hauptwerk“23, ist bei genauerem Hinsehen ein Beweis dafür, dass sie das Verhältnis von Philosophie und Politik aufs Höchste schätzt.24 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass dieses Thema, wenn auch nicht systematisch, in „Vita Activa“ begegnet25 und später in einer systematischen Form „zur Entstehung der Abhandlung ,Vom Leben des Geistes‘ führen sollte“26. „Vita Activa“, erstmals auf Englisch unter dem Titel „The Human Condition“ 1958 publiziert und in der deutschen Fassung unter dem Titel „Vita activa oder Vom tätigen Leben“27 1960 erschienen, und „The Life of the Mind“ von 1971 – die deutsche Übersetzung erschien 1979 nach Arendts Tod unter dem Titel „Vom Leben des Geistes“28 – sind hier deswegen zu erwähnen, weil sie für das politisch-philosophische Projekt Arendts von Bedeutung und

|| 21 H. Arendt / K. Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. v. L. Köhler / H. Saner, München / Zürich 1987, 326. 22 H. Arendt, The Human Condition, Chicago 1958, zit. wird nach der deutschen Ausgabe: H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 182016. 23 J. Habermas, Hannah Arendts Begriff der Macht, in: A. Reif (Hg.), Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, Wien / München / Zürich 1979, 290. 24 Vgl. D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 24ff. 25 Vgl. E. Young-Bruehl, Hannah Arendt: Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/M. 1991, 407. 26 D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 27. 27 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 182016. 28 H. Arendt, The Life of the Mind, New York / London 1958, zit. wird nach der deutschen Ausgabe: H. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen, München / Zürich 1998. – Es muss an dieser Stelle gesagt werden, dass unter dem Titel „The Life of the Mind“ nur zwei Bände, „Das Denken“ und „Das Wollen“ von Arendt selber fertig gestellt wurden. Der dritte Teil der geplanten Trilogie mit dem Titel „Das Urteilen“ blieb Fragment und kam nicht zustande, da Arendt kurz nach der Fertigstellung des zweiten Teils starb. So wurde „Das Urteilen“, das auf Kants „Kritik der Urteilskraft“ beruhen sollte, posthum aus dem Nachlass in Form des Manuskripts einer Vorlesung über Kants politische Philosophie rekonstruiert und herausgegeben (vgl. H. Arendt, Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie, hg. v. R. Beiner, München 1998).

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besonders für die Orientierung und die Entwicklung der Machtproblematik bei Arendt erhellend sind, wie sich später zeigen wird.29 Im Rahmen ihres politisch-philosophischen Projekts entwickelt Arendt in „Vita activa“ eine politische Theorie, die sich als Handlungstheorie erweist. Auf der Basis der Kritik an der traditionellen Philosophie schließt sie aus, sich mit der höchsten und reinsten „Tätigkeit des Denkens“30 theoretisch zu beschäftigen. Der deutsche Titel dieser Schrift ist in dieser Hinsicht schon recht suggestiv, denn Arendt geht es hier darum, die Tätigkeiten des Menschen zunächst konkret von seinen körperlichen Betätigungen her, besonders hinsichtlich des Arbeitens, Herstellens und Handelns, zu untersuchen.31 Zurecht schreibt Katrin Kräuter: „Die philosophische Grundfrage ,Was ist der Mensch?‘ wird bei Hannah Arendt zu ,Was macht der Mensch?‘.“32 Dabei ist das Konzept einer „praktischen Philosophie“ im Gegensatz zu einer Philosophie als reiner Theorie erkennbar.33

|| 29 Hannah Arendt hat keine spezielle Schrift zur Machtproblematik als solcher herausgegeben. Diese begegnet in vielen ihrer Werke in unterschiedlichen Kontexten (vgl. K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt [= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12], Marburg 2009, 46). Bereits in ihrem Essay „On the Violence“ von 1970 geht es ihr um das Verhältnis von Macht und Gewalt, wie auch der deutsche Titel „Macht und Gewalt“ deutlich macht. Eine genaue Klärung des Themas Macht bei Arendt muss aus ihren Werken rekonstruiert werden. Allerdings sind „Vita activa“ und „Vom Leben des Geistes“ von höchster Bedeutung für die begriffsgeschichtliche Entwicklung der Macht bei Arendt. 30 VA 14. 31 Vgl. VA 22ff. Arendt legt dabei den Schwerpunkt auf das Handeln, das ihr zufolge zu jenen Fähigkeiten des Menschen gehört, durch die sich die Sphäre des Politischen überhaupt erst ausformt. 32 K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 32. 33 Hannah Arendt selbst hat an keiner Stelle ihres Werkes ausdrücklich von „praktischer Philosophie“ gesprochen. Bei genauerem Hinsehen kann man sich allerdings bei ihr einen Begriff der „praktischen Philosophie“ erschließen. So kann B. Parekh behaupten, dass Arendt die menschliche Existenz für das fundamentale Anliegen der Philosophie bzw. „the basic concern of philosophy“ hält und Philosophie auf praktische Philosophie reduziert: „Although she is right to argue that philosophy asks hermeneutic questions, she is wrong to maintain that these are the only questions it asks. She ignores the whole areas of metaphysics, epistemology, methodology and logic with which philosophers have been traditionally concerned, and considerably restricts the scope of philosophy […]. This means that she reduces philosophy to what the medieval philosophers called practical philosophy.“ (Ders., Hannah Arendt and the Search of a New Political Philosophy, London 1981, 78) Jürgen Habermas begreift seinerseits das Denken Arendts als „Praxisphilosophie“ (Ders., Hannah Arendts Begriff der Macht, in: A. Reif [Hg.], Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk, Wien / München / Zürich 1979, 291) und weist hin auf ihre „grundbegriffliche Einengung des Politischen auf das Praktische“ (ebd., 269).

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In „Life of the Mind“ dagegen stellt sich Arendt die Aufgabe, drei geistige Tätigkeiten des Menschen, das Denken, das Wollen und das Urteilen, zu untersuchen, wobei das Geistesvermögen des Urteilens eine Schlüsselrolle spielt, die ihr auch innerhalb der gesamten Philosophie Arendts zukommt.34 Auffallend ist, dass Arendt sich hier grundsätzlich mit der Philosophie als reiner Theorie bzw. als „Theorie des Geistesvermögens des Denkens und des Urteilens“35 beschäftigt, die sich nicht nur als konsequente Fortsetzung ihrer Handlungstheorie erweist,36 sondern auch in einem Wechselverhältnis zu dieser steht. Damit ist das politikphilosophische Projekt Arendts in seiner Gesamtheit zum Ausdruck gebracht. Zutreffend schreibt Opstaele: Das „komplexe Wechselverhältnis zwischen Arendts Politikbegriff (Handlungstheorie) und ihrem Philosophiebegriff (Theorie der Geistesvermögen des Denkens und Urteilens) läßt ihr politikphilosophisches Projekt in seiner Totalität erkennen und sichert ihm seinen einmaligen Platz und Rang im Rahmen der abendländlichen Politikbetrachtung.“37 Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass Arendt Macht handlungstheoretisch für eine kommunikative Einigung von vielen in Bezug auf einen gemeinsamen Kompromiss hält, wobei aber die Fähigkeit der Einzelnen, jede Situation und die Standpunkte der anderen zu beurteilen, vorausgesetzt wird. Damit werden die wichtigsten Aspekte des Machtbegriffs Arendts deutlich: Macht als gemeinsames Handeln (2) sowie Urteilen als die Macht zu einer bestimmten Handlung (3). Bekanntlich ist die Auseinandersetzung Arendts mit den Gewaltregimen des 20. Jahrhunderts der entscheidende Grund, der sie zur Beschäftigung mit dem Phänomen der Macht geführt hat. Dabei versucht Arendt, den Machtbegriff von seinen Konkurrenzbegriffen, nicht zuletzt vom Begriff der Gewalt, abzusetzen (4). Mit einer kurzen kritischen Analyse wird dieses Kapitel abgeschlossen (5).

 

|| 34 Vgl. D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 32. 35 Ebd., 21. 36 Vgl. ebd., 31. 37 Ebd., 21.

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2 Der kommunikative handlungstheoretische Begriff der Macht oder: Macht als MiteinanderHandeln und -Sprechen Wie schon erwähnt begegnet die Machtproblematik in vielen Schriften Arendts und in verschiedenen Kontexten ihres Werkes. Bereits in ihrem umfangreichen Buch „The Origin of Totalitarism“ von 1951, das 1955 auf Deutsch unter dem Titel „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“38 erschien, sind Begriffe wie „Machtergreifung“39, „Machtmonopol“40 oder „Machthaber“41 zu finden. Entscheidend ist dabei, dass die erwähnten Begriffe besonders im Kapitel „Die totalitäre Bewegung“42 begegnen, womit sie auf den „Machtbegriff der totalen Herrschaft“43 bzw. die „Macht in pervertierter Form“44 verweisen, von der Arendt sich abzusetzen sucht.45 Wenn Macht in der totalen Herrschaft dort beginnt, „wo die Öffentlichkeit aufhört“46, so steht dies im völligen Gegensatz zu der Auffassung von Arendt, der zufolge Macht gemeinschaftsbildend ist und folglich nicht von einem Einzelnen in Besitz genommen werden kann. Damit stoßen wir auf den spezifischen Machtbegriff Arendts, der sich in ihrem späteren Werk grundsätzlich als kommunikativer handlungstheoretischer Begriff zeigt. In „Vita activa“ schreibt Arendt: „Macht ist, was den öffentlichen Bereich, den potentiellen Erscheinungsraum zwischen Handelnden und Sprechenden, überhaupt ins Dasein ruft und am Dasein erhält […]. Macht aber besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und

|| 38 H. Arendt, The Origin of Totalitarism, New York 1951, zit. nach der deutschen Ausgabe: H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt / New York 1955. 39 EuU 582. 40 EuU 642. 41 EuU 752. 42 EuU 544f. 43 EuU 659. 44 A. Grunenberg, Macht kommt von möglich, in: Dies. / L. Probst (Hg.), Einschnitte. Hannah Arendts politisches Denken heute, Bremen 1995, 83–95, hier 87. 45 Zutreffend schreibt Katrin Kräuter: „Bei genauerer Betrachtung wird […] deutlich, dass man den Machtbegriff à la Arendt in diesem Werk vergeblich sucht, da es Arendt um einen ganz anderen im Titel verwendeten Begriff geht: Sie spricht von Herrschaft, und zwar von der ,totalen Herrschaft‘.“ (Dies., Der Machtbegriff bei Hannah Arendt [= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12], Marburg 2009, 31) 46 EuU 639.

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verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.“47 Ausgehend von diesem Zitat kann man zwei Momente der handlungstheoretischen Machtkonzeption Arendts herausstellen: Zum einen das Moment der Schaffung und Erhaltung des Erscheinungsraums und zum anderen das Moment des gemeinsamen Handelns, das in diesem Raum geschieht, so dass die Macht der Handelnden zugleich an den gemeinsamen Ort und an das Moment des gemeinsamen Zieles gebunden ist. So sind die Begriffe des öffentlichen Raums und des gemeinsamen Handelns, die wiederum mit anderen wichtigen Begriffen verzahnt sind, zwei entscheidende Schlüsselbegriffe für das Verständnis der handlungstheoretischen Machtkonzeption Arendts.

2.1 Macht als Schaffung und Sicherung des politischen Erscheinungsraums Der Begriff des „Erscheinungsraums“ ist für Arendts Machtkonzeption entscheidend, weil der öffentliche bzw. der politische Raum, den Arendt in der totalen Herrschaft als verschwunden ansieht,48 für sie der Ort ist, wo Macht entsteht und als solcher geschützt werden muss. Es ist die „menschliche Welt“, die erst entsteht, wenn Menschen zusammenkommen und miteinander kommunizierend handeln.49 Dabei unterscheidet Arendt den Begriff der Politik bzw. des Politischen von dem des Sozialen. Während das Soziale sowohl dem Menschen als auch anderen Lebewesen wie Herdentieren eigen ist, kennzeichnet das Politische

|| 47 VA 252 – Hierzu schreibt Phillip H. Roth: „Arendt hatte gewisse politische Ereignisse vor Augen, an denen sie ihren Begriff formuliert hat. So galt ihr die junge USA sowie Protestereignisse, wie der gewaltlose Widerstand Gandhis als Vorbilder, da politisches Handeln dort (noch) nicht an festgelegte institutionelle Verfahren gebunden war, sondern Spontanität und Kreativität im öffentlichen Raum und das Konstituieren einer neuen politischen Wirklichkeit ermöglichte. Sie präsentiert daher einen Machtbegriff, mit dem eine Ordnung hergestellt werden kann, die sich allein darin auszeichnet, dass die Beziehungen aller Beteiligten gleichermaßen als die Beziehungen einer politischen Gemeinschaft bestimmt werden.“ (Ders., Einleitung zu: Ders., [Hg.], Macht. Aktuelle Perspektiven aus Philosophie und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 2016, 5–28, hier 14) 48 Wie „die moderne Massengesellschaft – nach dem Ende der totalen Herrschaft – zum Verschwinden des politischen Raums beiträgt“, ist für Katrin Kräuter im Anschluss an Grunenberg die zentrale Frage von „Vita Activa“. (Dies., Der Machtbegriff bei Hannah Arendt [= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12], Marburg 2009, 24) 49 Vgl. VA 213ff.

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wesentlich den Menschen.50 Ausgehend von der Analyse der Zerstörung des öffentlichen Raums durch den Nationalsozialismus schlussfolgert Arendt, dass der Mensch zwar ein soziales Wesen, aber nicht von Natur aus ein politisches Wesen ist, und sie differenziert somit den aristotelischen Begriff des zoon politikon.51 Für Arendt ist der Mensch nämlich ein zur Politik begabtes Wesen, weil er mit Sprache begabt ist. „Wo immer es um die Relevanz der Sprache geht, kommt Politik notwendigerweise ins Spiel; denn Menschen sind nur darum zur Politik begabte Wesen, weil sie mit Sprache begabte Wesen sind.“52 Wäre der Mensch aber von Natur aus ein politisches Wesen, so könnte man nach Arendt „das Politische gar nicht zerstören, denn es wäre dem Mensch ja immer eigen“53. Da aber der Mensch nicht von Natur aus ein politisches Wesen sei, muss der öffentliche bzw. der politische Raum immer wieder neu geschaffen werden. Dies bringt Arendt unter anderem durch Ausdrücke wie „Geburt“54 oder „ins Dasein rufen“ zum Ausdruck, die für ihren Machtbegriff von Bedeutung ist. Das bedeutet für unseren Zusammenhang, dass Macht für Arendt zunächst ein Anfangen-Können55 im Sinne einer Potentialität ist.56 Ausgehend von dem

|| 50 Vgl. H. Arendt, Denktagebuch 1950–1973, Bd. 2, hg. v. U. Ludz / I. Nordmann, München / Zürich 2003, 548. 51 Vgl. VA 33–38; vgl. auch K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 36: „In dem Punkt, dass der Mensch ein ,zur Politik weil zur Sprache begabtes Wesen‘ […] sei, stimmt Arendt Aristoteles zu, jedoch widerspricht sie seiner Auffassung vom Menschen als zoon politikon, als einem von Natur aus politischen Lebewesen.“ Vgl. dazu auch ebd., 39. 52 VA 11 – Die Argumentation Arendts, dass der Mensch nicht von Natur aus, sondern weil er mit Sprache befähigt ist, ein zur Politik begabtes Wesen ist, scheint bei näherer Analyse trivial zu sein. Arendt argumentiert nämlich, als ob die Fähigkeit des Menschen zur Sprache nicht zu seiner Natur gehöre, sondern etwas ihm Fremdes sei, das später zum menschlichen Wesen hinzugekommen ist. Die Sprachfähigkeit ist aber konstitutiv und gehört strukturell, d.h. von Natur aus zum menschlichen Wesen. Sie hat einen ontologischen Charakter, um mit Paul Tillich zu sprechen (vgl. ST I 201ff.). Arendt kann man somit entgegenhalten: Wenn der Mensch darum ein zur Politik begabtes Wesen ist, weil er ein mit Sprache begabtes Wesen ist, so ist er von Natur aus ein zur Politik begabtes Wesen. 53 K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 36. 54 VA 215. 55 Vgl. dazu K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 60. 56 Vgl. VA 252.

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griechischen Wort δύναµις, dem lateinischen „potentia“ sowie dem deutschen „mögen“ bzw. „möglich“ weist Arendt darauf hin, dass das Wort selbst „deutlich auf den potentiellen Charakter des Phänomens“57 hinweist. Wenn Macht „den potentiellen Erscheinungsraum […] ins Dasein ruft und am Dasein erhält“, so hat sie desweiteren einen Erzeugungs- bzw. Schaffungs- und Erhaltungscharakter. „Was einen politischen Körper zusammenhält, ist sein jeweiliges Machtpotential, und woran politische Gemeinschaften zugrunde gehen, ist Machtverlust und schließlich Ohnmacht.“58 Zur Erhaltungsfunktion der Macht präzisiert Arendt: „Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat. [...] Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt. Dies ist, was Madison meinte, wenn er sagte, daß alle Regierungen letztlich auf ,Meinung‘ beruhen.“59 Wir haben bisher von den Machtfunktionen gesprochen. Sie bewirken, dass der potenzielle Erscheinungsraum ins Dasein tritt, und sie erhalten ihn am Dasein. Aber die „einzige, rein materiale, unerläßliche Vorbedingung der Machterzeugung ist das menschliche Zusammen selbst“60.

2.2 Macht als gemeinsames Handeln Für das Machtverständnis Arendts ist der Begriff des Handelns von entscheidender Bedeutung. Denn für sie ist gemeinsames Handeln Macht. Wie schon angedeutet erkennt sie in „Vita activa“ drei grundsätzliche menschliche Tätigkeiten:

|| 57 Ebd. Bezugnehmend auf diesen sprachlichen Hinweis von Arendt schreibt Katrin Meyer: „Bezogen auf die Terminologie von potentia und potestas lässt sich Arendts Machtverständnis einem ontologisch weiten Verständnis von Macht zuordnen.“ (Dies., Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt, Basel 2016, 15) Aber dieser Hinweis allein reicht nicht aus, um Arendts Machtkonzeption in die Kategorie einer „Ontologie der Macht“ einzuordnen. Denn wäre Macht für Arendt im Sein begründet, würde das Zusammenkommen von Menschen nicht ihren Anfang bedeuten, wie sie meint, sondern sie wäre eine Konsequenz des Seins, und Macht würde folglich nicht mit der Auflösung des gemeinschaftlichen Lebens aufhören. Denn Macht ist eine Einheit von Bleiben-in-Sich und Vorstoßen-über-sich-Hinaus, wie Tillich sagt (vgl. GW II 195). 58 VA 252. 59 MuG 42. 60 VA 253.

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Arbeiten, Herstellen und Handeln,61 wobei sie das Letztere von den beiden anderen Tätigkeitsformen abzugrenzen versucht. Was dabei das Handeln im Gegensatz zum Arbeiten und Herstellen auszeichnet, ist nach Arendt die ihm innewohnende Freiheit, etwas neu anzufangen. „Solange man handelt, ist man frei, nicht vorher und nicht nachher, weil Handeln und Freisein ein und dasselbe sind.“62 Wie Handeln als Freisein bzw. als Freiheit mit Macht zusammenhängt, ist nun in den Blick zu nehmen. Das Arbeiten als menschliche Tätigkeit dient laut Arendt dem Lebensunterhalt. Die Arbeit entspricht „dem biologischen Prozeß des menschlichen Körpers“63 und wird von der Grundbedingung des Lebens diktiert. Die Aufgaben der Arbeit gehen „allen anderen Aufgaben vor, weil von ihrer Erfüllung das Leben abhängt“64. Als arbeitendes Lebewesen ist der Mensch nichts anderes als ein animal laborans bzw. ein Arbeitstier. Und als arbeitendes Wesen ist er Sklave der Notwendigkeit und arbeitet nach Arendt nur, um seine Existenz als Körper aufrechtzuerhalten.65 Das heißt, die Grundtätigkeit des Arbeitens ist bei Arendt negativ konnotiert. In diesem Sinne lehnt sie es ab, dass der Mensch auf die reine Arbeitskraft reduziert wird, wie es der Fall in der modernen Bürokratie ist.66 In diesem Zusammenhang übt sie auch scharfe Kritik an Karl Marx,67 für den Macht ein Produkt der Arbeit sei und „gerechte oder ungerechte Macht […] sich fortan nach gerechter und ungerechter Verteilung der Arbeitsprodukte“68 richte. Als zweite Tätigkeit des tätigen Lebens zielt das Herstellen auf Gebrauchsgegenstände sowie Kulturgüter,69 die das bloß Lebensdienliche mehr oder weniger

|| 61 Vgl. VA 16ff. 62 H. Arendt, Freiheit und Politik, in: U. Ludz (Hg.), Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München / Zürich 1994, 201–226, hier 206. 63 VA 16. 64 VA 104; vgl. auch H. Arendt, Denktagebuch 1950–1973, Bd. 1, hg. v. U. Ludz / I. Nordmann, München / Zürich 2003, 366: „Jede Tätigkeit, die nur dem Lebensunterhalt dient, ist Arbeit. Sofern eine Tätigkeit auch dem Lebensunterhalt dient, ist sie auch Arbeit.“ 65 Vgl. VA 102. 66 Solch eine Reduzierung ist nach Arendt eine der Voraussetzungen, die zum Totalitarismus geführt haben. (Vgl. K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt [= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12], Marburg 2009, 35; vgl. auch S. Benhabib, Hannah Arendt – Die melancholische Denkerin, Hamburg 1998, 12f. u. 67) 67 Vgl. VA 135 u. 156. 68 H. Arendt, Denktagebuch 1950–1973, Bd. 1, hg. v. U. Ludz / I. Nordmann, München / Zürich 2003, 188. 69 Dies sind in erster Linie handwerkliche Gegenstände sowie Kunstwerke (vgl. VA 201ff.).

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transzendieren.70 Diese Produkte verweisen aufeinander und bilden ein relevantes Ganzes, das Arendt die physische Welt der Menschen nennt.71 Während die Arbeit nicht etwas objektiv Greifbares erzeugt, zumal ihr Resultat nach Arendt gleich wieder verzehrt wird, um den Lebensprozess weiterführen zu können, ist die Herstellung dazu bestimmt, Dinge hervorzubringen, die in der physischen Welt der Menschen überdauern.72 Das Herstellen ist also jene Tätigkeit, der es um die Verdinglichung geht.73 Der Mensch muss sich eine Welt herstellen, wo er zu Hause ist, weil er Arendt zufolge „von Natur in der Natur heimatlos ist“74. So ist er als heimatloses und zugleich herstellendes Wesen bzw. homo faber deswegen unfrei, weil seine Existenz „auf Gegenständlichkeit und Objektivität“75 angewiesen ist. Diese Unfreiheit beweist sich nach Arendt auch dadurch, dass sich alle herstellenden Tätigkeiten unter der Leitung eines Modells vollziehen, das dem Werkprozess vorausgeht und ihn auf eine ähnliche Weise bedingt, „wie der drängende Antrieb des Lebensprozesses im Arbeiter der eigentlichen Arbeit vorangeht und sie bedingt“76. Zusammenfassend sind Arbeiten und Herstellen bloße Mittel zum Leben und nicht dessen Ziel. Während das Arbeiten dem Überleben dient, produziert das Herstellen die menschliche Lebensumwelt, in der die Menschen miteinander handeln können. Damit sind wir zum Begriff des Handelns als dritter Tätigkeit des tätigen Lebens gelangt. Bei genauer Betrachtung ist zunächst bei Arendt ein allgemeiner Begriff des Handelns im Sinne einer Kausalität zu erkennen. Hier versteht sie das Handeln || 70 Vgl. VA 165ff. 71 „Das Werk unserer Hände, und nicht die Arbeit unseres Körper, Homo faber, der vorgegebenes Material bearbeitet zum Zwecke der Herstellung, und nicht das Animal laborans, das sich körperlich mit dem Material seiner Arbeit ,vermischt‘ und ihr Resultat sich einverleibt, verfertigt die schier endlose Vielfalt von Dingen, deren Gesamtsumme sich zu der von Menschen erbauten Welt zusammenfügt.“ (VA 161) 72 Ist aber nicht die Trennung zwischen Arbeiten und Herstellen in diesem Zusammenhang widersprüchlich, zumal ein Gebrauchsgegenstand, z.B. ein Tisch, zugleich Produkt der Arbeit und der Herstellung ist? Hierzu schreibt Hannes Bajohr zutreffend: „Je nach dem Aspekt, unter dem man sie betrachtet, kann man zu verschiedenen Ergebnissen gelangen, ohne in einen Widerspruch zu geraten; die Kategorien bleiben hierbei distinkt und werden nicht vermengt. Wird die Fabrikation eines Tisches unter dem Blickwinkel der Konstitution einer dauerhaften Welt betrachtet, so kann von Herstellen gesprochen werden; ist der Aspekt dagegen auf den Zyklus der Lebenserhaltung gerichtet, liegt hier Arbeit vor.“ (Ders., Dimensionen der Öffentlichkeit. Politik und Erkenntnis bei Hannah Arendt, Berlin 2011, 23) 73 Vgl. VA 165ff. 74 VA 16. 75 Ebd. „In dieser Dingwelt ist menschliches Leben zu Hause, das von Natur in der Natur heimatlos ist.“ (Ebd.) 76 VA 167.

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als das Vermögen, etwas zu tun bzw. aus sich heraus frei zu bewirken und etwas zu verursachen.77 In diesem Zusammenhang hält sich Arendt an die Definition des freien Willens bei Kant als das „Vermögen […], eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen“78. In einem besonderen Sinne, der für ihren Machtbegriff von Bedeutung ist, versteht Arendt das Handeln politikbezogen als die höchste Form der menschlichen Tätigkeit, die dem Politischen entspricht und sich somit wesentlich zwischen Menschen abspielt. Denn das Handeln ist für Arendt „nicht einmal vorstellbar außerhalb der Menschengesellschaft“79. So ist das Handeln die einzige der drei menschlichen Tätigkeiten, die nicht an Materie, Material oder Dingen ausgerichtet ist, sondern direkt in der zwischenmenschlichen Beziehung stattfindet.80 Damit ist der erste Aspekt in Arendts Verständnis des Handelns zum Ausdruck gebracht, und zwar der Aspekt der Pluralität. Das „Faktum der Pluralität“81 ist nämlich laut Arendt die „grundsätzliche Bedingung des Handelns wie des Sprechens“82. Handeln ist für Arendt immer ein kommunizierendes Handeln, denn der Mensch kann nur mit Anderen handeln bzw. politisch tätig sein, weil er sprechen kann.83 Das jedoch, was das Handeln im Unterschied und Gegensatz zu den beiden anderen Tätigkeiten des tätigen Lebens auszeichnet, ist, wie schon gesagt, dessen Freiheit. Den Begriff der Freiheit setzt Arendt mit der Fähigkeit gleich, etwas Neues ins Leben zu rufen. Es geht um die Freiheit, „etwas in die Wirklichkeit zu rufen, das es noch nicht gab, das nicht vorgegeben ist“84. Mit dem Begriff der Freiheit, etwas Neues ins Leben zu rufen,

|| 77 Vgl. VA 215ff. 78 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 448/B 476, zit. nach H. Bajohr, Dimensionen der Öffentlichkeit. Politik und Erkenntnis bei Hannah Arendt, Berlin 2011, 47; vgl. auch VLdG 248. 79 VA 33. 80 Vgl. VA 17. 81 Ebd. Diese Pluralität, die nur im öffentlichen Raum stattfindet, „manifestiert sich auf zweierlei Art, als Gleichheit und als Verschiedenheit“ (VA 213). Vgl. auch VA 17: „Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf merkwürdige Art und Weise, daß keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.“ Das MiteinanderKommunizieren setzt nämlich für Arendt eine Gleichheit voraus, d.h. eine gewisse Gemeinsamkeit wie z.B. eine Sprache, die die Kommunikation ermöglicht. Wären aber alle potentiell Kommunizierenden gleich, wäre auch keine Kommunikation nötig. Somit macht Arendt die Verschiedenheit zum Grund des Miteinander-Kommunizierens. „Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfte es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung“. (VA 213) 82 VA 213. 83 Vgl. VA 11. 84 H. Arendt, Freiheit und Politik, in: U. Ludz (Hg.), Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München / Zürich 1994, 201–226, hier 206.

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bringt Arendt einen neuen entscheidenden Aspekt in ihr Verständnis des Handelns: das Moment der Natalität. Hierzu bemerkt Katrin Kräuter zutreffend, dass der Begriff der Natalität zugleich „Voraussetzung und Wesenszug“85 des Begriffs des Handelns von Arendt ist. Für Hauke Brunkhorst ist das Motiv des „radikalen Neuanfangs“ eine „Schlüsselkategorie“86 von Arendts Handlungstheorie. Mit dem Begriff des gemeinsamen Handelns, der wiederum unter anderem mit den Begriffen Natalität und Pluralität zusammenhängt, lässt sich der Machtbegriff bei Arendt in seiner Totalität erfassen. Macht und Handeln sind nämlich bei Arendt als konvertible Begriffe zu verstehen.87 Dazu schreibt Arendt: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“88 Aus diesem Zitat geht hervor, dass Arendt das Handeln im allgemeinen Sinne, d.h. dasjenige Vermögen bzw. diejenige individuelle Eigenschaft des Menschen, etwas zu tun oder von selbst aus etwas anzufangen, mit der Macht in Verbindung bringt. Dies ist aber für sie nur eine vorpolitische Fähigkeit des Einzelnen, die im eigentlichen Sinne eher als Stärke zu bezeichnen ist und nicht als Macht.89 Denn „über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält“90. Damit ist das Entscheidende am Machtbegriff Arendts zum Ausdruck gebracht: Macht entsteht, wenn Menschen aus Freiheit91 in der Öffentlichkeit miteinander sprechen und zusammen handeln (und

|| 85 K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 37. 86 H. Brunkhorst, Hannah Arendt, München 1999, 28. 87 Vgl. K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 37; H. Brunkhorst, Hannah Arendt, München 1999, 58. 88 MuG 45. 89 Vgl. ebd. 90 Ebd. 91 Macht und Freiheit bringt Arendt sehr oft in Zusammenhang, und sie versucht, „diese beiden so oft als Gegensätze verwendeten Worte nahezu als Synonyme zu behandeln“ (ÜdR 195).

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einen Neuanfang setzen).92 Sie ist Resultat des pluralen Handelns und Kommunizierens.93 In seiner Dissertation über den transzendentalen Tätigkeitsbegriff bei Arendt spricht Martin Braun von der Macht als einem „Moment menschlicher Pluralität“94. Der Begriff der Macht ist nämlich bei Arendt grundsätzlich kommunikativ handlungstheoretisch konnotiert.95 In diesem Zusammenhang bedingen sich Macht und Erscheinungsraum gegenseitig. Denn Macht erzeugt den Erschei-

|| 92 Dies ist eine deutliche Kritik am Machtmonopol des Souveräns, wie wir es von Thomas Hobbes’ „Leviathan“ her kennen. Arendt wirft nämlich Hobbes vor, das Phänomen der Pluralität in die politische Philosophie der Neuzeit eingeführt zu haben, doch nur, um es sogleich auch wieder aus der Sphäre der Politik zu verbannen. (Vgl. H. Arendt, Denktagebuch 1950–1973, Bd. I, hg. v. U. Ludz / I. Nordmann, München / Zürich 2003, 81 u. 161) 93 Menschliches Handeln und Kommunizieren bilden nicht nur den Kern des Zusammenlebens, sondern sie erzeugen auch Macht. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass Arendt die Wurzeln ihres Kommunikationsbegriffs Karl Jaspers verdankt. In ihrer Auseinandersetzung mit der Philosophie von Jaspers in „Was ist Existenzphilosophie?“ von 1946 macht sie auf dessen Begriff der Kommunikation aufmerksam: „In dem Begriff der Kommunikation steckt im Grunde ein nicht voll entwickelter, aber im Ansatz neuer Begriff der Menschheit als der Bedingung für die Existenz des Menschen.“ (H. Arendt, Was ist Existenzphilosophie?, hg. v. A. Hain, Frankfurt/M. 1990, 47) In ihrer Ansprache anlässlich der öffentlichen Gedenkfeier der Universität Basel am 4. März 1969 schreibt sie: „Jaspers hat auf eine einmalige Weise die Verbindung von Freiheit, Vernunft und Kommunikation gewissermaßen an sich selbst exemplifiziert, in seinem Leben exemplarisch dargestellt“. (H. Arendt / K. Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hg. v. L. Köhler / H. Saner, München / Zürich 1987, 719) 94 M. Braun, Hannah Arendts transzendentaler Tätigkeitsbegriff, Frankfurt/M. 1993, 153. 95 Manche Autoren sprechen von der „Konsenstheorie der Macht“ bei Arendt (vgl. K. Röttgers, Macht, in: C. Bermes / U. Dierse [Hg.], Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2010, 221–233, hier 230), wobei andere Interpreten Arendt vorwerfen, dass sie erwarte, dass aus jeder Kommunikation ein Konsens bzw. ein Kompromiss von allen Beteiligten hervorgehe (vgl. K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt [= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12], Marburg 2009, 59). Das ist natürlich realitätsfern. Aber Macht besteht in der Tat für Arendt, wie manche Autoren betonen, „in der Zustimmung der Vielen und nicht unbedingt im Konsens aller“ Beteiligten (M. Becker, Die Eigensinnigkeit des Politischen. Hannah Arendt über Macht und Herrschaft, in: P. Imbusch [Hg.], Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptionen und Theorien, Opladen 1998, 167–181, hier 172). Arendt präzisiert: „Eine zahlenmäßig kleine, aber durchorganisierte Gruppe von Menschen kann auf unabsehbare Zeiten große Reiche und zahllose Menschen beherrschen […]. Die Macht der Wenigen kann sich wohl unter Umständen der Macht der Vielen als überlegen erweisen.“ (VA 253) Damit wird deutlich, dass Arendt zufolge ihr kommunikativ handlungstheoretischer Machtbegriff keine Konsenstheorie der Macht im Sinne einer Zustimmung von allen ist. Aber wie kann sich die Macht einer Gruppe den anderen gegenüber als überlegen erweisen, zumal Arendt Macht von Gewalt strikt abgrenzt? An diesem Punkt scheint die Handlungstheorie der Macht Arendts problematisch zu sein.

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nungsraum, worauf schon hingewiesen wurde, aber sie entsteht im Erscheinungsraum durch sprechendes Handeln. In jenem „Zwischen“96, das sich in der Begegnung von freien und gleichen Bürgern herstellt, kann laut Arendt legitime Macht entstehen. Außerdem hat die Macht bei Arendt einen dynamischen Charakter, weil Macht immer mit einem Anfangen-Können bzw. einer Natalität verbunden ist.97 Arendt spricht nämlich immer von der „Macht, etwas anzufangen“98. „Macht entspringt dem Zwischen der Pluralität […]. In der Pluralität, in deren Zwischen Macht entsteht, bewältigen die Menschen die Natur und errichten die Welt, oder sie beherrschen die Natur und errichten eine sich selbst vernichtende Welt […]. Mit dem Ursprung der Macht im Zwischen entsteht ein Anfang.“99 Menschen können etwas „anfangen“, weil sie existenziell dazu „bestimmt“ sind. Weil er als ein Anfang „gedacht“ ist, „kann der Mensch etwas Neues anfangen, also frei sein“, schreibt Arendt wiederholt in Anlehnung an Augustinus.100 Die Fähigkeit, etwas Neues anzufangen bzw. frei zu sein, ist also (konsequenterweise) mit der Tatsache der Geburt gegeben. Dazu Arendt: „Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen.“101 Zusammenfassend kann man sagen: Macht entsteht im öffentlichen

|| 96 H. Arendt, Denktagebuch 1950–1973, Bd. 1, hg. v. U. Ludz / I. Nordmann, München / Zürich 2003, 161. 97 Vgl. VA 216ff. 98 H. Arendt, Denktagebuch 1950–1973, Bd. 1, hg. v. U. Ludz / I. Nordmann, München / Zürich 2003, 28. 99 Ebd., 161. 100 Vgl. H. Arendt, Freiheit und Politik, in: U. Ludz (Hg.), Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München / Zürich 1994, 220. In Anlehnung an Arendt schreibt Stephan Kampowski zutreffend: „God created the human person in order to introduce novelty into his creation. Initium ut esset, creatus est homo. Since man is a new beginning, it is not surprising that he should also have a corresponding faculty of making new beginnings: the will is the spring of action. Freedom, the will’s capacity to initiate something new, is thus not so much a problem as a fact, a basic fact rooted in the human condition of natality.“ (Ders., Arendt, Augustine, and the New Beginning. The Action Theory and Moral Thought of Hannah Arendt in the Light of Her Dissertation on St. Augustine, Michigan / Cambridge, UK 2008, 226) Zur Arendts Augustinus-Rezeption des Begriffs der Natalität bzw. des Menschen als „a beginner and of action as a new beginning“ vgl. ebd., 47ff. 101 VA 215 – Arendt verdankt wichtige Elemente ihrer existentiellen Analyse der menschlichen Tätigkeit der deutschen Existenzphilosophie, nicht zuletzt dem Denken Heideggers und Jaspers’. So schreibt Seyla Benhabib, „daß Arendt durch die deutsche Existenzphilosophie der 20er Jahre und insbesondere durch das Denken Martin Heideggers zu einigen ihrer bekanntesten philosophischen Grundbegriffe, wie beispielsweise der Welt, des Handelns und der Pluralität, inspiriert

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Raum zwischen Menschen, wenn sie miteinander aus Freiheit handeln und sprechen. Die Fähigkeit, gemeinsam zu handeln, setzt aber eine geistige politische Fähigkeit voraus, die Arendt mit der Macht in Verbindung bringt.

3 Der geistpolitische Begriff der Macht oder: Von der Macht des Urteilens Macht hat sich bisher bei Arendt ausgehend von den Tätigkeiten des tätigen Lebens als ein politisches Geschehen gezeigt. Macht ist ein Phänomen, das erst im menschlichen Handeln zwischen Sprechenden entsteht und nur in diesem „Zwischen“ existiert. Dabei diagnostiziert Arendt aber nicht nur die vorpolitische grundtätige Fähigkeit des Einzelnen zum gemeinsamen Handeln, sondern auch die geistige Fähigkeit des Menschen zur Politik. So kommt sie dazu, ausgehend von den geistigen Tätigkeiten des Menschen von der „Macht des Geistes“102 zu sprechen. Arendt bezieht sich hier besonders auf das Vermögen des Urteilens, das ihr zufolge die grundsätzliche politische Tätigkeit des Geistes ist.103 Entscheidend ist dabei, dass die Macht des Geistes bei Arendt auch politisch orientiert ist. Dieser geistpolitische Machtbegriff soll nun näher behandelt werden. Die Schrift „Vom Leben des Geistes“, die dazu dient, das politikphilosophische Projekt Arendts zu erweitern, unterscheidet, wie schon erwähnt, drei geistige Tätigkeiten des Menschen, nämlich das Denken, das Wollen und das Urteilen. Anlass für die Auseinandersetzung Arendts mit dem Vermögen des Denkens ist die „Gedankenlosigkeit“, d.h. die Unfähigkeit, das Denkvermögen des Geistes über sich selbst auszuüben und somit das eigene Handeln zu reflektieren und zu beurteilen, was Arendt bei Eichmann während dessen Prozesses beobachtete.104

|| wurde.“ (Dies., Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998, 10) Vgl. A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 99. In einem Brief an Heidegger schreibt Arendt selbst, dass ihr Buch „Vita activa“ ihm „in jeder Hinsicht so ziemlich alles“ schulde. (Dies. / M. Heidegger, Briefe, 1925–1975, hg. v. U. Ludz, Frankfurt/M. 1999, 149) 102 VLdG 334. 103 Hierzu macht E. Young-Bruehl darauf aufmerksam, dass das „Urteilen“, der geplante dritte Band zu „Vom Leben des Geistes“, Arendts „philosophische Reflexionen mit der politischen Sphäre verknüpfen würde.“ (Dies., Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt/M. 1991, 616) 104 Vgl. VLdG 14; vgl. dazu auch K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 43; K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 221.

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Ausgehend von der Hypothese, dass die Fähigkeit, Gut und Böse, Recht und Unrecht zu unterscheiden, mit unserem Denkvermögen zusammenhängen könnte,105 setzt sich Arendt mit den Merkmalen des „denkenden Ichs“106 auseinander. In Anlehnung an Immanuel Kant unterscheidet Arendt den Begriff des Verstandes von dem der Vernunft. Während der erstere ein Erkenntnisvermögen des denkenden Ichs sei, habe der letztere für das „denkende Ich“ eine Sinnstiftungsfunktion.107 Helgard Mahrdt hält dabei die Vernunft für die eigentlich „politische Tugend“108 bei Arendt. Ein weiteres Merkmal des Denkvermögens des Geistes, das Arendt für ihre politische Analyse fruchtbar macht, ist die „Reflexivität“ des Denkens bzw. die Fähigkeit des denkenden Ichs, sich zu sich selbst zu verhalten,109 die für das Urteilen eine wichtige Rolle spielt.110 „Als Selbstreflexion ist das Denken die Voraussetzung für das Urteilen und das Urteilen wiederum beruht auf dem Gewissen, das vom Denken selber, d.h. der Urteilskraft, hervorgerufen wird.“111 Vom Denken, das immer intentional ist, d.h. immer auf Gegenstände in der Gegenwart gerichtet ist, unterscheidet Arendt die geistige Grundtätigkeit des Wollens, das ihr zufolge auf „Projekte“ in der Zukunft gerichtet ist. Das Wollen erweist sich nach Arendt als die innere Fähigkeit, anhand derer die Menschen sich als eine Persönlichkeit konstituieren, indem sie nämlich entscheiden, „wer sie sein werden, in welcher Gestalt sie sich in der Erscheinungswelt zeigen möchten“112. Dabei weiß sich der Mensch als ein „wollendes Ich“ kontingent, aber zugleich frei. Hannah Arendt definiert nämlich den „Willen“ als das

|| 105 „Hängt vielleicht das Problem von Gut und Böse, unsere Fähigkeit Recht und Unrecht zu unterscheiden, mit unserem Denkvermögen zusammen?“ (VLdG 15), fragt Arendt und schlussfolgert: „Wenn die Fähigkeit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, etwas mit dem Denkvermögen zu tun habe, dann müssten wir ihre Anwendung von jedem normalen Menschen ‚verlangen‘ können, gleichgültig, wie gebildet oder unwissend, intelligent oder dumm er zufällig ist.“ (VLdG 23) 106 VLdG 198. 107 Vgl. VLdG 75; vgl. auch K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 43ff.; K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 220ff. 108 H. Mahrdt, Phronēsis bei Aristoteles und Hannah Arendt. Von der Sorge um das Leben und das Selbst zur Sorge um die Welt, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/4 (2007) 587–604, hier 596. 109 Vgl. VLdG 41 u. 101f. 110 Vgl. VLdG 192. 111 K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 221. 112 VLdG 210.

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Organ der „radikalen Kontingenz“113, aber auch der „reinen Spontaneität“114. Damit ist der „Wille“ oder das „Wollen“ als das Geistesvermögen zu verstehen, das den Menschen dazu befähigt, alle Endlichkeit im Sinne des Determinismus oder der Kausalitätsabhängigkeit zu transzendieren, um einen neuen Anfang zu setzen.115 Und das genau bedeutet frei zu sein. Der Wille erweist sich mit anderen Worten bei Arendt als Verortung der menschlichen „Freiheit“, und das heißt für sie zunächst Freiheit des „politischen Handelns“116. „Ein Wille, der nicht frei ist, wäre ein Widerspruch in sich selbst.“117 Es muss an dieser Stelle herausgestellt werden, dass frei sein für den Willen nach Arendt heißt, „nicht zu wollen, was er nicht erreichen kann, und sich nicht mehr gegen das zu stemmen, was er nicht vermeiden kann – kurz, sich auf nichts einlassen, was nicht in seiner Macht steht.“118 So zeigt sich der Wille als eine Kombination von einem „Ich will“ und einem „Ich kann“. „Die Macht des Geistes ist nicht dem Verstand oder dem Gedächtnis zu verdanken, sondern allein dem Willen, der die Innerlichkeit des Geistes mit dem Äußeren verknüpft.“119 Die Freiheit des Wollens ist also der Ort, wo sich seine Macht erweist. Da Arendt aber immer in erster Linie die menschliche Freiheit für die Freiheit des politischen Handelns hält, stellt sich das Problem des Verhältnisses zwischen dieser subjektivistisch-voluntaristischen Freiheit und dem politischen Zusammen-Handeln. Im Zusammenhang mit diesem Problem, das Arendt als das „Problem des Anfangs“ oder als den „Abgrund der Freiheit“120 bezeichnet, tritt das Geistesvermögen des Urteilens auf den Plan. Ihren Begriff des Urteilens verdankt Arendt Immanuel Kant, dem zufolge ästhetische Urteile, d.h. Urteile über Schönheit und Hässlichkeit, nicht bloß Ausdruck von „subjektiven Empfindungen“ sind, sondern ein „menschliches Gemeinsames“121 reflektieren. Dies macht Arendt für ihr politisches Denken fruchtbar. Für sie kann das politische Zusammen-Handeln nämlich nicht allein

|| 113 VLdG 17. 114 Ebd. Vgl. auch 343, wo Arendt den „Willen“ mit der Spontaneität gleichsetzt: „Die Freiheit der Spontaneität ist fester Bestandteil der menschlichen Existenz. Ihr geistiges Organ ist der Wille.“ 115 Vgl. D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 234. 116 VLdG 12ff. 117 VLdG 253. 118 VLdG 312. 119 VLdG 334. 120 VLdG 197. 121 Vgl. K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 222.

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von dem Geistesvermögen des Wollens und der ihm entsprechenden „präpolitischen“122 Freiheit gedacht werden. Es ist vielmehr das Geistesvermögen des Urteilens, das ihr zufolge das „wollende Ich“ dazu befähigt, „die in Zukunft weisende ,Projekte‘ mit der Faktizität der Gegenwart“123 zu verbinden und somit „die ,philosophische‘ Freiheit des ,Ich will‘ mit der ,politischen Freiheit‘ des ,Ich kann‘ zu vermitteln“124. Darüber hinaus verbindet die Urteilskraft die präpolitische Freiheit des „wollenden Ichs“ mit den Zielen und Interessen der Mit-Handelnden. Die Urteilskraft ist also „jene geheimnisvolle Fähigkeit des Geistes, die das Allgemeine, das stets eine geistige Konstruktion ist, und das Besondere, das stets in der Sinneserfahrung gegeben ist, zusammenbringt“125. So erweist sich die Urteilskraft als die geistige Macht, die jeweilige Situation zu deuten und letztendlich zu handeln. Zurecht schreibt Katrin Kräuter: „Von Arendts Deutung des Begriffs Urteilen, die an Kant angelehnt ist […], ist die Hinführung zum Begriff der ,Macht‘ durch die Auffassung, dass Urteilen eine menschliche Fähigkeit sei, zu leisten. Die von Hannah Arendt postulierte Fähigkeit, zu urteilen oder allgemein etwas zu tun (nach der Beurteilung der jeweiligen Situation), ist der Ausgangspunkt zum Verständnis zur Arendt’schen ,Macht‘.“126 Ein wichtiger Aspekt der Auseinandersetzung Arendts mit der Macht der geistigen Tätigkeiten des Denkens, des Wollens und des Urteilens, der aber kaum bei den Interpreten Arendts begegnet, ist der Freiheitscharakter der geistigen Tätigkeit als Macht bzw. ihre Fähigkeit, die Bedingtheit der menschlichen Existenz oder der Welt zu transzendieren. Die menschlichen geistigen Fähigkeiten sind nämlich „nicht bedingt […]; keine der Bedingungen des Lebens oder der Welt entspricht ihnen unmittelbar“127. Ähnliche Ausführungen begegnen bei Tillich, der

|| 122 „Die Freiheit der Spontaneität, wiewohl ohne sie alle politische Freiheit ihren besten und tiefsten Sinn verlöre, ist selbst noch gleichsam präpolitisch; sie hängt von den Organisationsformen des Miteinander-Lebens nur insofern ab, als auch sie schließlich aus der Welt heraus werden kann. Weil sie aber letztlich aus dem Einzelnen entspringt, kann sie sich selbst unter sehr ungünstigen Umständen immer noch vor dem Zugriff z.B. einer Tyrannis retten.“ (H. Arendt, Was ist Politik?, in: U. Ludz [Hg.], Hannah Arendt, Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München / Zürich 2007, 51) 123 D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 234. 124 Ebd. 125 VLdG 75. 126 K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 47f. 127 VLdG 76.

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die geistige Fähigkeit des Menschen, sich selbst und die gegebene Welt zu transzendieren, in einen ontologischen Explikationsrahmen stellt. Er spricht dabei von der Unendlichkeit des Menschen im Sinne einer sich selbst grenzenlos transzendierenden Endlichkeit.128 Zu dieser ontologischen Fassung der geistigen Macht des Menschen dringt Arendt aber nicht vor. Sie macht nur die Fähigkeit der Einzelnen, die Standpunkte der Anderen im gemeinsam Handel zu beurteilen, für ihren Machtbegriff geltend. „Wenn Arendt Macht als eine Art kommunikative Einigung der Vielen zu einem gemeinsamen Kompromiss versteht, dann scheint die Fähigkeit der Einzelnen, die Standpunkte der anderen zu beurteilen, bereits intuitiv wichtig zu sein.“129 Entscheidend ist aber für das Machtverständnis Arendts nicht eine subjektive präpolitische Macht der menschlichen Tätigkeiten, seien diese geistiger Natur oder im Bereich der Vita activa angesiedelt, sondern das Moment des gemeinsamen Handelns im öffentlichen Raum. Zentral ist dabei die strikte Trennung von Macht und Gewalt in Arendts Machtkonzeption.

4 Macht und Gewalt Bekanntlich sind es die historischen politischen und ideengeschichtlichen Entwicklungen der Gewaltregime des 20. Jahrhunderts, welche nach Arendt Macht und Herrschaft im Sinne von Zwangsgewalt gleichsetzen, die sie dazu geführt haben, sich mit dem Phänomen der Macht zu beschäftigen. Wenn Arendt dabei ihren eigenen Machtbegriff formuliert, dann tut sie das nicht nur, um sich von der „totalen Macht“, die sich ihr zufolge ausschließlich aus Gewalt speist, abzusetzen, sondern ebenso von einer Reihe von Denkern wie Hobbes, Max Weber130 oder Paul Tillich, die die Ansicht vertreten, dass Gewalt ein Element der Macht ist. Ausgehend vom Verständnis der Macht als gemeinsames Kommunizieren und Handeln, grenzt sie das Machtphänomen von dem der Gewalt ab, die „stumm“131 und instrumental ist132 und somit von einem Einzelnen angewendet werden kann.

|| 128 Vgl. ST I 223; vgl. auch die „exzentrische Positionalität“ bei H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin / New York 1975, 292. 129 K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 33 Anm. 58. 130 Vgl. MuG 36f. 131 ÜdR 20. 132 Vgl. MuG 47.

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Dies betont sie in aller Deutlichkeit nicht zuletzt in ihrer Schrift „On the Violence“133 von 1970, die 1975 auf Deutsch unter dem Titel „Macht und Gewalt“ erschien.134 Dabei unterscheidet Arendt Macht nicht nur von der Gewalt, sondern auch von den Konkurrenzbegriffen wie Herrschaft, Autorität, Stärke oder Kraft.135 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass Arendt von einem kontrastiven Begriffsbestimmungsprinzip ausgeht und Macht als gemeinschaftsbildendes Prinzip ihren Konkurrenzbegriffen gegenüberstellt, die von einem subjektbezogenen Moment geprägt sind.

4.1 Macht und ihre Konkurrenzbegriffe Dass Arendts Machtbegriff sich von dem der „Herrschaft“ abgrenzt, liegt auf der Hand. Macht zeigt sich nämlich für sie nicht in der Ausübung über andere, sondern sie spielt sich zwischen gleichberechtigt freien und miteinander handelnden Menschen ab.136 Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Arendt ihr Machtkonzept der athenischen Polis und der römischen res publica oder civitas, der „Bürgervereinigung“ verdankt, und sie macht deutlich, dass der Machtund Gesetzesbegriff, den die Athener oder die Römer mit diesen Begriffen meinen, „nicht auf dem Verhältnis zwischen Befehlenden und Gehorchenden beruht und der Macht und Herrschaft […] nicht gleichzusetzen sind“137. So lehnt Arendt hierarchische bzw. asymmetrische Machtverhältnisse ab. Auch die Repräsentation einer Gruppe sollte nur als „scheinbare“ Ungleichheit angesehen werden. Denn Macht besitzt kein Einzelner, sondern immer nur die Gruppe. „Wenn wir

|| 133 H. Arendt, On the Violence, New York / London 1970, zit. nach der deutschen Ausgabe: H. Arendt, Macht und Gewalt, München / Zürich 262017. 134 Vgl. MuG 44ff. Neben „Vita activa“ und „Vom Leben des Geistes“ ist der Essay „On the Violence“ die dritte wichtige Monographie Arendts zur politischen Philosophie. Motiviert durch den Vietnam-Krieg, die Studentenunruhen der 1960er Jahre und die Rassenunruhen in den USA versucht Arendt, das Verhältnis von Macht und Gewalt und besonders ihre strikte Trennung voneinander zu untersuchen (vgl. K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt [= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12], Marburg 2009, 33). 135 Vgl. MuG 44ff. 136 Bezugnehmend auf die seit den 1970er Jahren in der politischen Theorie etablierte Differenzierung zwischen „power over“ und „power to“ bezeichnet Gerhard Göhler die Machtvorstellung Arendts als „power with“ (ders., Macht, in: Ders. / M. Iser / I. Kerner [Hg.], Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 22011, 224–261, hier 224f.), wobei diese Machtkonzeption Arendts für ihn aber nicht wirklich relevant für die Machtdebatte ist (vgl. ebd., 258). 137 MuG 41.

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von jemand sagen, er ,habe Macht‘, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln.“138 Jede asymmetrische Machtvorstellung ist abzulehnen, weil sie nach Arendt auf Zwang oder Gewalt angewiesen ist. Arendt unterscheidet weiterhin zwischen „Macht“ und „Autorität“. Unter Autorität versteht sie grundsätzlich das, was Tillich als „Autorität aus Prinzip“ oder auch als „hypostasierte Autorität“139 bezeichnet. So ist Autorität bei Arendt mit dem Ausdruck fragloser Akzeptation und Anerkennung von bestehenden Machtverhältnissen verbunden. Hierbei geht es Arendt zufolge nicht um Verhältnisse zwischen freien, handelnden Menschen, sondern zwischen Unterlegenen, denen Gehorsam abverlangt wird, und Überlegenen, denen Autorität aufgrund ihrer Position zuteil wird. In diesem Sinne kann Autorität sowohl „eine Eigenschaft einzelner Personen sein“140 als auch „einem Amt zugehören“141. Die „Stärke“ kommt als individuelle Eigenschaft immer einem Einzelnen zu und muss als solche nach Arendt auch von der Macht abgegrenzt werden. „Sie [sc. die Stärke] ist eine individuelle Eigenschaft, welche sich mit der gleichen Qualität in anderen Dingen oder Personen messen kann, aber als solche von ihnen unabhängig ist.“142 Man kann hier einen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Stärke bei Arendt und dem Begriff der „Mächtigkeit der Dinge“ bei Tillich herstellen. Zudem unterscheidet Arendt Macht von der „Kraft“, die sie grundsätzlich als Naturkraft versteht.143 Am wichtigsten für den Machtbegriff Arendts ist aber die strikte Trennung von Macht und Gewalt.

 

|| 138 MuG 45. 139 GW IX 222; vgl. GW XI 201. 140 Arendt spricht von „persönlicher Autorität“ und führt die Eltern ihren Kindern gegenüber oder die Lehrer ihren Schülern gegenüber als Beispiele an (vgl. MuG 46). 141 MuG 46. Zum Begriff der Autorität bei Arendt vgl. P. Ricœur, Pouvoir et violence, in: M. Abensour / C. Buci-Gluskmann / B. Cassin / F. Collin / M. Revault d’Allonnes (Hg.), Ontologie et Politique. Actes du Colloque Hannah Arendt, Paris 1989, 141–159. 142 MuG 45; vgl. VA 252: „Stärke ist, was ein jeder Mensch von Natur in gewissen Ausmaße besitzt und wirklich sein eigen nennen kann.“ 143 Vgl. MuG 46. Die Anwendung von Arendts Begriff der Kraft auf etwas rein Naturhaftes scheint widersprüchlich zu sein, zumal sie selbst diesen Begriff an anderer Stelle auch auf den Menschen anwendet: „Wäre Macht mehr als dies im Miteinander sich bildende Machtpotential, könnte man Macht wie Stärke besitzen oder Kraft anwenden.“ (VA 254)

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4.2 Macht und Gewalt als Gegensätze Die Abgrenzung von Macht und Gewalt ist ein Wesensmerkmal des Machtbegriffs Arendts. Ausgehend von verschiedenen Voraussetzungen und Gesetzmäßigkeiten, denen Macht und Gewalt unterliegen, unterscheidet sie zwischen der Macht, die grundsätzlich ein politisches Phänomen ist, und der Gewalt, die nicht im politischen Bereich auftreten sollte, will man nicht das Politische selbst gefährden. „Die Gewalt kann nie mehr, als die Grenzen des politischen Bereichs schützen. Wo die Gewalt in die Politik selbst eindringt, ist es um die Politik geschehen.“144 So tritt Arendt jenen Autoren entgegen, die behaupten, dass „Macht und Gewalt dasselbe sind, beziehungsweise daß Gewalt nichts weiter ist als die eklatanteste Manifestation von Macht“145. Arendt betont: „Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden.“146 Bei genauerem Hinsehen rechtfertigt sich die Abgrenzung von Macht und Gewalt zunächst nach Arendt dadurch, dass die Gewalt im Gegensatz zur Macht nicht aus einem gemeinsamen Kommunizieren hervorgeht. So schlussfolgert Arendt, dass „Gewalt selbst stumm ist, unfähig […], sich im Wort wirklich adäquat zu äußern“147. Gewalt ist letztlich für Arendt „im Wesen antipolitische Theorie“148. Desweiteren unterscheidet sich Macht von Gewalt für Arendt, weil Macht prinzipiell ein „Selbstzweck“149 sei, da sie dem Wesen aller menschlichen Gemeinschaft inhärent ist, und deshalb braucht sie auch keine Rechtfertigung. Die Gewalt dagegen hat wesentlich einen „instrumentalen“ bzw. „funktionellen“150 Charakter, d.h. sie ist auf Werkzeuge angewiesen, und sie bedarf somit eines Zwecks, um gerechtfertigt zu werden.151 „Zu den entscheidenden Unterschieden zwischen Macht und Gewalt gehört, daß Macht immer von Zahlen abhängt, während die Gewalt bis zu einem gewissen Grade von Zahlen unabhängig ist, weil sie sich auf Werkzeuge verläßt.“152 Einen weiteren Unterschied zwischen Macht und Gewalt verdeutlicht Arendt ausgehend von der Frage der Legitimität. Da Macht ein Ergebnis des kollektiven Kommunizierens und Handelns ist, fällt ihre Legitimität mit der Gründung der

|| 144 ÜdR 20. 145 MuG 36. 146 MuG 57. 147 ÜdR 20. 148 Ebd. 149 MuG 52. 150 MuG 47; vgl. auch 52. 151 Vgl. MuG 52f. 152 MuG 43.

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Gruppe zusammen. „Macht entsteht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln, ihre Legitimität beruht nicht auf den Zielen und Zwecken, die eine Gruppe sich jeweils setzt; sie stammt aus dem Machtursprung, der mit der Gründung der Gruppe zusammenfällt.“153 Arendt spricht von Machtverlust, wenn eine menschliche Gemeinschaft ihren Repräsentanten den Konsens entzieht. „Wenn von Machtverlust die Rede ist, dann bedeutet das, daß das Volk seinen Konsens zu dem, was die Machthaber, nämlich die Ermächtigten tun, entzieht.“154 Gewalt dagegen kann für Arendt nicht legitim sein, selbst wenn sie gerechtfertigt ist. „Ein Machtanspruch legitimiert sich durch Berufung auf die Vergangenheit, während die Rechtfertigung eines Mittels durch einen Zweck erfolgt, der in der Zukunft liegt. Gewalt kann gerechtfertigt, aber sie kann niemals legitim sein.“155 Die Ausführungen Arendts über den kategorialen Unterschied zwischen Macht und Gewalt kann man mit den folgenden Worten von Marco Walter so zusammenfassen: „Macht ist absolut, Gewalt instrumentell. Macht ist von Zahlen abhängig, Gewalt auf Mittel angewiesen. Macht entsteht im Zwischen-Raum der Vielen, Gewalt besitzt ein Einzelner. Macht beruft sich auf die Vergangenheit, Gewalt auf die Zukunft. Macht spricht, Gewalt ist stumm.“156 Aus ihrer explizierten Abgrenzung von Macht und Gewalt schlussfolgert Arendt: „Zwischen Macht und Gewalt gibt es keine quantitativen oder qualitativen Übergänge; man kann weder die Macht aus der Gewalt noch die Gewalt aus der Macht ableiten, weder die Macht als den sanften Modus der Gewalt noch die Gewalt als die eklatanteste Manifestation der Macht verstehen.“157 Dass Macht mit Gewalt nicht gleichzusetzen ist, steht außer Zweifel. Ist aber die strikte Trennung von Macht und Gewalt, wie Arendt das sieht, nicht „weniger eine Argumentation als ein Postulat“158, wie es Andreas Anter kritisch formuliert? Ist diese Trennung nicht realitätsfern, zumal Arendt selbst trotz des von ihr beschriebenen kategorialen Unterschiedes zwischen Macht und Gewalt zugesteht: „Obwohl Macht und Gewalt ganz verschieden sind, treten sie zumeist zusammen auf“159? Als Konfrontation von Macht und Gewalt nennt Arendt das Beispiel einer

|| 153 MuG 53. 154 MuG 126. 155 MuG 53. 156 M. Walter, Macht braucht Entscheidung. Eine Revitalisierung von Hannah Arendts Machtheorie, in: P. H. Roth (Hg.), Macht. Aktuelle Perspektiven aus Philosophie und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 2016, 89–107, hier 93. 157 MuG 58. 158 A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 97. 159 MuG 53; vgl. auch 48, 63ff., 78ff.

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„kriegerischen Auseinandersetzung“160, ohne jedoch weiter zu erklären, „wie in diesem Verhältnis die eher diffus beschriebene Macht als gemeinsames Handeln der Vielen der sehr konkreten und unmittelbaren Gewaltanwendung standhalten soll“161. Arendt hat sich in diesem Zusammenhang damit begnügt, zu sagen, dass die Konfrontation „mit feindlicher Besatzung endet“162. Mit anderen Worten: Die Gewalt wäre hier der Macht überlegen. Zerstört oder vernichtet die Gewalt wirklich in jeder Konfrontation immer die Macht, woran Arendt wiederholt keinen Zweifel lässt?163 Bedarf Macht nicht der Gewalt, um sich selbst zu verwirklichen, so dass Gewalt nicht völlig von der Macht abzugrenzen ist, sondern wesentlich zu ihr gehört, wie Tillich ontologisch gewendet sagt?164 Dies führt zu der Frage, inwiefern Arendts Machttheorie als philosophische Antwort auf die Machtfrage gelten kann.

5 Kritische Zwischenbewertung von Arendts Machtbegriff Die grundsätzliche Motivation für die vorliegende Arbeit ist, wie bereits gesagt, die Frage nach dem Was der Macht. Dabei geht es darum, sich dem Wesen der Macht philosophisch anzunähern. Mit anderen Worten: Es geht um eine Philosophie der Macht. Eine Machttheorie kann man als Philosophie der Macht beschreiben, insofern hier die Philosophie die Basis zum Verständnis der Macht abgibt. Das trifft grundsätzlich auf den Machtbegriff Arendts zu, so dass man sehr wohl von einem philosophischen Beitrag Arendts zur Machtdebatte sprechen kann. In ihrem politisch-philosophischen Projekt unterscheidet sie einen „praktischen“ und einen „theoretischen“ Philosophiebegriff, und konsequenterweise zwei Philosophie-Politik-Verhältnisse: das Verhältnis der „praktischen Philosophie“ zur Politik und das Verhältnis der rein betrachtenden „theoretischen Philosophie“ zur Politik. Opstaele spricht in seiner Untersuchung des Philosophiebegriffs bei

|| 160 MuG 53. 161 M. Walter, Macht braucht Entscheidung. Eine Revitalisierung von Hannah Arendts Machtheorie, in: P. H. Roth (Hg.), Macht. Aktuelle Perspektiven aus Philosophie und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 2016, 89–107, hier 93. 162 VA 53. 163 Vgl. MuG 54; VA 255; H. Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, hg. v. U. Ludz, München / Zürich 2005, 108. 164 Vgl. GW IX 212; GW XI 173.

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Arendts von der „politiktheoretischen Differenz des Arendtschen Denkens“165 und macht darauf aufmerksam, dass es dabei „keineswegs um einen Scheingegensatz, wie man leichthin meinen könnte, sondern um eine sachlich fundierte Unterscheidung zweier Politik-Philosophie-Verhältnisse“166 gehe. Diese Unterscheidung ließe sich nach Opstaele in relevanter Weise im Lichte der traditionellen Unterscheidung, wie wir sie von Aristoteles her kennen, zwischen der normativ orientierten „praktischen“ und der rein beschaulich orientierten „theoretischen Philosophie“ erklären.167 „Richtig ist es auch, die Philosophie Wissenschaft der Wahrheit zu nennen. Denn für die theoretische Philosophie ist die Wahrheit, für die praktische ist das Werk Ziel“168, so Aristoteles zu Anfang seiner „Metaphysik“. Demensprechend ist die Grundfrage der „praktischen Philosophie“ normativ-teleologisch orientiert, indem sie nach den Bedingungen fragt, unter denen sich die „gerechte Ordnung“ verwirklichen könnte. Ob sich der handlungstheoretische Machtbegriff Arendts normativ oder deskriptiv bestimmen lässt, scheint umstritten zu sein. Diese Frage können wir hier nicht entwickeln.169 Die Grundfrage der „theoretischen Philosophie“ dagegen sei demgegenüber rein beschaulich und auf das bloße Verstehen der Dinge hin orientiert. Sie fragt nach dem „Sein“ bzw. nach der „Wahrheit“ der Dinge. Die Auseinandersetzung mit Arendt hat allerdings erwiesen, dass ihr theoretischer Philosophiebegriff nicht am Sein orientiert, sondern um das Geistpolitische zentriert ist. Es geht Arendt dabei um die Urteilskraft bzw. um die geistige präpolitische Fähigkeit des Einzelnen, zu urteilen. || 165 D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 21ff. 166 Ebd., 22. 167 Vgl. ebd., 28ff. 168 Aristoteles, Metaphysik, II, 1, 993b; vgl. auch Nik. Ethik, X, 6–9, zit. nach D. J. Opstaele, Politik, Geist und Kritik: Eine hermeneutische Rekonstruktion von Hannah Arendts Philosophiebegriff, Würzburg 1999, 29. 169 Für Hilge Landweere beansprucht Arendt „keinen normativen Machtbegriff, sondern einen deskriptiven“. (Dies., Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchung zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999, 179) Bezugnehmend auf die Abgrenzung von Macht und Gewalt bei Arendt macht Landweer darauf aufmerksam, dass es dabei nicht um eine Bewertung oder moralische Verdammung der Gewalt geht: „Arendt setzt zwar Macht und Gewalt einander entgegen, aber dies impliziert keine Bewertung, etwa eine moralische Verdammung von Gewalt. Auch Gewalt kann unter bestimmten Bedingungen eine angemessene menschliche Reaktion sein“ (ebd., Anm. 28). Kathrin Meyer sieht dagegen im Machtdenken Arendts „politisch-ethische Gerechtigkeitspostulate“ (dies., Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt, Basel 2016, 16). Allein dadurch, dass das Politische für Arendt nicht mit der Staatsherrschaft gleichzusetzen ist, kann Arendts Machtdenken „den Ausgangspunkt bilden, um ein normatives Machtdenken zu entwickeln, dem es um die Sinnhaftigkeit gemeinsamer politischer Praxis geht“ (ebd.).

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So ist das Machtkonzept Arendts als eine politische Macht zu beschreiben, die die geistige Fähigkeit jedes Einzelnen, jede Situation zu beurteilen, voraussetzt, und die entsteht, wenn Menschen im öffentlichen Raum miteinander sprechen und handeln. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich, dass die Machtkonzeption Arendts eher eine Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Macht ist, d.h. sie ist eine Antwort auf die Frage nach dem Wo und dem Wie der Macht. Die Antwort, so haben wir gesehen, lautet darauf: Macht entsteht im öffentlichen Raum, wenn Menschen zusammen handeln. Als solche hilft uns die Machtkonzeption Arendts wenig bei der Frage, was das Wesen der Macht ist. Dies mag der Grund dafür sein, warum die Machttheorie Arendts sich in vieler Hinsicht als wenig hilfreich bzw. unklar erweist. Denn je tiefer man in das Wesen des Machtphänomens eindringt, desto eher kann man die Unklarheiten innerhalb der Machtdebatte beseitigen. Mit ihrer Machtkonzeption glaubt Arendt zwar, mehr Klarheit in die Machtdebatte zu bringen, indem sie Macht von den Konkurrenzbegriffen abzugrenzen versucht: „Es spricht, scheint mir, gegen den gegenwärtigen Stand der politischen Wissenschaft, daß unsere Fachsprache nicht unterscheidet zwischen Schlüsselbegriffen wie Macht, Stärke, Kraft, Autorität und schließlich Gewalt.“170 Allein durch die Unterscheidung von Macht und ihren Konkurrenzbegriffen, besonders durch die strikte Trennung von Macht und Gewalt, trägt sie dazu bei, das Machtphänomen zu entdämonisieren. Denn Macht ist bei Arendt absolut positiv besetzt.171 Allerdings verrät die strikte Trennung von Macht und Gewalt zugleich die Fraglichkeit ihrer Machtkonzeption. Zurecht schreibt Phillip H. Roth: „Auch wenn Arendt Macht zur Grundkategorie eines gemeinschaftlichen Handelns erklärt, lässt sich mit ihrer Theorie nur schwer eine beständige Form des Phänomens erfassen.“172 Noch kritischer schreibt Niklas Luhmann hierzu: „Würde Einverständnishandeln ausreichen, wären besondere Vorkehrungen für die Bildung und Reproduktion politischer Macht unnötig. Alle würden mitmachen. Macht entsteht als ein besonderes, symbolisch generalisiertes Medium nur, wenn und soweit Akzeptanz problematisch und nicht durch Vorverständigungen schon gesichert ist.“173 Luhmann geht hier von der Einsicht aus, dass ein möglicher und

|| 170 MuG 44. 171 Vgl. K. Kräuter, Der Machtbegriff bei Hannah Arendt (= Politik begreifen. Schriften zu theoretischen und empirischen Problemen der Politikwissenschaft, hg. v. J. Marx / A. Schmitt / V. Kunz, Bd. 12), Marburg 2009, 30; A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 98. 172 P. H. Roth, Einleitung zu: Ders. (Hg.), Macht. Aktuelle Perspektiven aus Philosophie und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 2016, 5–28, hier 14. 173 N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, hg. v. A. Kieserling, Frankfurt/M. 2000, 52.

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realer Dissens das Spezifikum des Politischen ist, und er will damit die Unvermeidbarkeit und die Aufeinander-Bezogenheit von Macht und Gewalt in der Politik zum Ausdruck bringen. Ob der Dissens das Spezifikum des Politischen bildet, darüber kann man geteilter Meinung sein. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass die Fraglichkeit der Machtvorstellung Arendts nicht zuletzt bezüglich der Abgrenzung von Macht und Gewalt das Bedürfnis weckt, über den Bereich des Politischen hinaus tiefer in das Machtphänomen einzugehen.

 

Zweites Kapitel Michel Foucault oder die Frage nach dem Wie der Macht In der Gedankenwelt des französischen Philosophen Michel Foucault (1926– 1984) nimmt der Machtbegriff eine Sonderstellung ein. Allein die Vielfalt seiner Schriften und Beiträge zur Machtproblematik ist hierfür ein eklatanter Beleg. Zu den wichtigsten zählen dabei seine Bücher „Überwachen und Strafen“1 von 1975 und „Der Wille zum Wissen“2 von 1976, in denen er die „Geschichte des Subjekts“3 im Bedingungskreis von Machttechniken und Wissensproduktion untersucht.4 Bald nach dem Erscheinen von „Der Wille zum Wissen“ führte Michel Foucault Ende 1978 ein Gespräch, in dem er rückblickend auf seine ersten zwei

|| 1 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994. 2 Vgl. M. Foucault, Der Wille zum Wissen (1976). Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1998. 3 M. Foucault, Die Rückkehr der Moral. Ein Interview mit Michel Foucault, in: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, hg. v. E. Erdmann / R. Forst / A. Honneth, Frankfurt/M. / New York 1990, 133–145, hier 133. 4 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, 37ff.; ders., Der Wille zum Wissen (1976). Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1998, 22ff. Zum Machtbegriff bei Foucault sind zudem die in den „Schriften in vier Bänden“ (vgl. M. Foucault, Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Frankfurt/M. 2001–2005) versammelten Interviews und Aufsätze, ebenso die Veröffentlichung seiner Vorlesungen aus dem Nachlass von großer Bedeutung. Vgl. M. Foucault, Die Intellektuellen und die Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. II (1970–1975), Frankfurt/M. 2002, 382–393; ders., Über die Natur des Menschen: Gerechtigkeit versus Macht, in: Ebd., 586–637; ders., Gefängnisse und Anstalten im Mechanismus der Macht, in: Ebd., 648– 653; ders., Wahnsinn, eine Frage der Macht, in: Ebd., 811–815; ders., Die psychiatrische Macht, in: Ebd., 829–843; ders., Macht und Körper, in: Ebd., 932–941; ders., Das Auge der Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. III (1976–1979), Frankfurt/M. 2003, 250–271; ders., Die Machtverhältnisse gehen in das Innere der Körper über (Gespräch), in: Ebd., 298–309; ders., Die Macht, ein großes Tier?, in: Ebd., 477–495; ders., Macht und Wissen, in: Ebd., 515–534; ders., Mächte und Strategien, in: Ebd., 538–550; ders., Gespräch über die Macht, in: Ebd., 594–608; ders., Sexualität und Macht, in: Ebd., 695–718; ders., Die „Gouvernementalität“, in: Ebd., 796–823; ders., Die Maschen der Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 224–244; ders., Subjekt und Macht, in: Ebd., 269–294; ders., Raum, Wissen und Macht, in: Ebd., 324–341; ders., Michel Foucault, ein Interview: Sex, Macht und die Politik der Identität, in: Ebd., 909–924; ders., Der Intellektuelle und die Mächte, in: Ebd., 924–931; ders., Wahrheit, Macht, Selbst, in: Ebd., 959–966. https://doi.org/10.1515/9783110676754-003

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größeren Schriften5 sagt: „Als ich Wahnsinn und Gesellschaft schrieb, als ich an der Geburt der Klinik arbeitete, glaubte ich eine genealogische Geschichte des Wissens zu schreiben. Aber der eigentliche rote Faden war dieses Problem der Macht.“6 Foucault fasst zusammen: „Im Grunde habe ich nichts anderes geschrieben als eine Geschichte der Macht.“7 Nicht zu Unrecht kann man also an dieser Stelle behaupten, dass der Machtbegriff als die grundsätzliche Motivation bzw. als ein Kernbegriff innerhalb des Werkes Foucaults gelten kann. Foucault betont: „Es handelt sich […] um eine Geschichte der Machtmechanismen und ihrer Entstehung. Ob mir diese Geschichte gelungen ist oder nicht, mögen andere entscheiden.“8 Innerhalb der Machtdebatte werden die entsprechenden Texte Foucaults viel rezipiert und kontrovers bewertet. Wer an klarer, rein analytischer Sprache interessiert ist, macht aber häufig einen großen Bogen um Foucault. Jörg Bernady bringt dies so auf den Punkt: „Foucault hat an keiner Stelle seines Werkes eine kohärente Theorie der Macht ausgearbeitet, so die beinahe einhellige Meinung der Forscher.“9 Für die Interpreten Foucaults wäre es nämlich ein Hindernislauf, würde man bei ihm eine klare und einheitliche Machtdefinition ansetzen wollen.10 „Das Problem darin besteht“, so die amerikanische Politologin Nancy Fraser, „daß Foucault zu viele Dinge Macht nennt“11. Dies macht gerade eine einheitliche Darstellung seiner Machttheorie zu einer großen Herausforderung. Foucault sieht sich selbst auch

|| 5 Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1973; ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt/M. 1988. 6 M. Foucault, Gespräch mit Ducio Trombadori, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 51–119, hier 102; vgl. auch ders., Macht und Wissen, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. III (1976–1979), Frankfurt/M. 2003, 515–534, hier 519f. 7 M. Foucault, Gespräch mit Ducio Trombadori, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 51–119, hier 102; vgl. auch ders., Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Frankfurt/M. 1996, 98. 8 M. Foucault, Macht und Wissen, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. III (1976–1979), Frankfurt/M. 2003, 515–534, hier 519. 9 J. Bernady, Warum Macht produktiv ist. Genealogische Blickschule mit Foucault, Nietzsche und Wittgenstein, Paderborn 2014, 13. 10 Vgl. A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 103. 11 N. Fraser, Foucault über die moderne Macht: Empirische Einsichten und normative Unklarheiten, in: Dies., Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht, Frankfurt/M. 1994, 31– 55, hier 52.

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nicht als einen Theoretiker der Macht, der eine allgemeine Machttheorie ausarbeiten wollte. „Ich besitze keinen globalen und allgemeinen Machtbegriff.“12 In seinem Vortrag „Sexualität und Macht“ vom April 1978 in Tokio bezeichnet er seine Ausführungen zur Macht als „partiell und fragmentarisch“ und fügt dezidiert hinzu: „Es geht überhaupt nicht darum, eine Theorie der Macht, eine allgemeine Theorie der Macht zu begründen, und auch nicht darum zu sagen, worin ihr Wesen und ihr Ursprung besteht. Diese Frage wurde im Westen seit Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden gestellt, und es steht nicht fest, dass die darauf gegebenen Antworten befriedigend waren.“13 Entscheidend ist für ihn nicht die Frage nach dem „Woher“ der Macht, sondern: „In welchen Zusammenhängen und wie tritt sie auf, was sind die Machtverhältnisse, wie kann man bestimmte Grundverhältnisse der Macht beschreiben, die in unserer Gesellschaft bestehen?“14 So unternimmt diese Arbeit nicht den Versuch, Foucaults Machtbegriff umfassend darzustellen oder eine einheitliche, kohärente Machttheorie Foucaults beschreiben zu wollen, sondern die wichtigsten Punkte seiner Machtausführungen fruchtbar zu machen für unseren Zusammenhang. Das vorstehende Kapitel über den Machtbegriff bei Hannah Arendt wurde beendet mit dem Hinweis, dass es nötig sei, tiefer in das Wesen der Macht einzudringen. Inwieweit hilft uns hier Foucaults Machtkonzeption? Wer so fragt, läuft vielleicht Gefahr, getäuscht zu werden, zumal Foucault ja auch selbst sagt, dass er nicht vorhabe, Grundlagen für eine Analyse der Machtphänomene zu bieten. Rückblickend auf seine frühere Auseinandersetzung mit dem Machtproblem schreibt Foucault in seinem Beitrag „The Subject and Power“15 von 1982: „Es ging mir nicht darum, Machtphänomene zu analysieren oder die Grundlagen für solche Analyse zu schaffen“16. Was er mit „Grundlagen“ genauerhin meint, erklärt er aber nicht weiter. Entscheidend ist jedoch, dass er

|| 12 M. Foucault, Macht und Wissen, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. III (1976–1979), Frankfurt/M. 2003, 515–534, hier 519. 13 M. Foucault, Sexualität und Macht, in: Ebd., 695–718, 714; vgl. ders., Macht und Wissen, in: Ebd., 515–534, hier 521f.; ders., Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 270. 14 M. Foucault, Sexualität und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. III (1976–1979), Frankfurt/M. 2003, 695–718, hier 714. 15 M. Foucault, The Subjekt and Power, in: H. Dreyfus / P. Rabinow (Hg.), Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago 1982, 208–226, zit. nach der deutschen Ausgabe: M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294. 16 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 269.

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im zweiten Teil seines Beitrags17 von „,Metaphysik‘ oder ,Ontologie‘ der Macht“18 spricht, wobei er hier aber ex negativo verfährt. „Wenn ich der Frage nach dem ,Wie‘ vorläufig den Vorzug gebe, so heißt das nicht, dass ich die Frage nach dem Was und Warum gar nicht stellen wollte. Ich will sie nur anders stellen. Ich möchte wissen, ob wir uns Macht als etwas vorstellen dürfen, das ein Was, ein Wie und ein Warum in sich vereint.“19 Foucault fährt fort: „Etwas zugespitzt könnte ich sagen, wenn ich die Analyse mit dem ,Wie‘ beginne, äußere ich damit den Verdacht, dass es Macht gar nicht gibt. Jedenfalls frage ich, was man eigentlich inhaltlich meint, wenn man diesen majestätischen, globalisierenden, substanzialisierenden Ausdruck gebraucht.“20 Für Foucault übersieht man nämlich „eine recht komplexe Realität“, „wenn man immer nur fragt: ,Was ist Macht? Woher kommt Macht?‘ Die kleine, platte, zur Erkundung des Terrains vorausgeschickte empirische Frage, wie denn Macht ausgeübt wird, soll keine falsche ,Metaphysik‘ oder ,Ontologie‘ der Macht, sondern eine kritische Erforschung des Themas Macht vorbereiten“21. Es wird sich also zeigen, dass Foucaults Machtvorstellung eine ontologische Auffassung nicht fremd ist, obwohl er dabei nicht ontologisch einsetzen will. Entscheidend ist bei Foucault ja die Frage nach dem Wie der Macht. Bei genauerer Untersuchung wird deutlich, dass, so vielfältig die Machtbewertung Foucaults sein mag, der Frage nach der produktiven Funktion der Macht eine hohe Priorität eingeräumt wird.22 So kann man behaupten, dass sein Grundansatz der Begriff der produktiven Macht ist (1). Den Begriff der Macht untersucht Foucault grundsätzlich in Form von Machtbeziehung, in der das Subjekt konstituiert wird (2). Entscheidend ist in den Machtbeziehungen Foucaults dabei das katalytische Verhältnis von Macht und Widerstand (3).

|| 17 „Subjekt und Macht“ besteht aus zwei Aufsätzen: „Was soll eine Erforschung der Macht? Die Frage nach dem Subjekt“ (vgl. M. Foucault, Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV [1980–1988], Frankfurt/M. 2005, 269–280) und „Wie wird Macht ausgeübt?“ (vgl. ebd., 281–294). 18 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ebd., 269–294, hier 281. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Vgl. dazu die Ausführungen von J. Bernardy, Warum Macht produktiv ist. Genealogische Blickschule mit Foucault, Nietzsche und Wittgenstein, Paderborn 2014, 13ff.

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1 Foucaults Grundansatz: Die produktive Funktion der Macht In „Überwachen und Strafen“ schreibt Foucault: „Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ,ausschließen‘, ,unterdrücken‘, ,verdrängen‘, ,zensieren‘, ,abstrahieren‘, ,maskieren‘, ,verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“23 Dieses Zitat ist aufschlussreich für das werkgeschichtliche Machtverständnis Foucaults. Zunächst fällt auf, dass Foucault ex negativo einsetzt, und er scheint sich dabei von einem alten Modell der Macht verabschieden zu wollen. Hierzu schreibt Bernady: „Foucault grenzt sich in den 1970er Jahren mehrfach von der ausschließenden und verknappenden Funktion von Macht ab, der er vor Überwachen und Strafen zu viel Raum und Bedeutung gegeben habe.“ 24 In „Subjekt und Macht“ von 1982 schreibt Foucault: „Macht dachte man entweder im Rahmen rechtlicher Modelle (Wodurch wird Macht legitimiert?) oder im Rahmen institutioneller Modelle (Was ist der Staat?).“25 Und er fügt hinzu: „Ich muss daher die Dimensionen einer Definition der Macht erweitern, wenn ich diese Definition für die Erforschung der Objektivierung des Subjekts benutzen wollte.“26 So setzt sich Foucault mit dem strategisch-produktiven Machtbegriff, der besonders in seinem Spätwerk zunehmend auftaucht, von den klassischen Konzepten und Vorstellungen von einem Souverän und juristischer sowie repressiver Macht ab. Foucault bezieht sich in diesem Zusammenhang auf das Machtverständnis der Psychoanalytiker (bes. Freud), Psychologen, Soziologen sowie der Ethnologen von Durkheim bis Lévi-Strauss,27 deren Machtvorstellung ihm zufolge von Regel, Gesetz oder Verbot kenngezeichnet ist. „Die Bedeutung von ,Macht‘, der zentrale Punkt, das, worin Macht besteht, ist für sie immer noch das Verbot, das Gesetz, das Neinsagen, die Formel ,Du darfst nicht‘. Für sie ist Macht ihrem Wesen nach die Instanz, die ,Du darfst nicht‘ sagt. Ich halte dieses Verständnis von Macht […] für eine || 23 M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, 250. 24 J. Bernady, Warum Macht produktiv ist. Genealogische Blickschule mit Foucault, Nietzsche und Wittgenstein, Paderborn 2014, 13. 25 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 270. 26 Ebd. 27 Vgl. M. Foucault, Die Maschen der Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 224–244, hier 224ff.

1 Foucaults Grundansatz: Die produktive Funktion der Macht | 55

vollkommen unzulängliche, rein juristische und formale Konzeption, die durch ein neues Verständnis von Macht ersetzt werden sollte.“28 Foucault betont: „Was wir brauchen ist eine politische Philosophie, die nicht um das Problem der Souveränität, also des Gesetzes, also der Untersagung herum aufgebaut ist; man muss dem König den Kopf abschlagen, und in der politischen Theorie hat man das noch nicht getan.“29 Wie bei Hannah Arendt ist also der Machtbegriff bei Foucault auch positiv besetzt und grenzt sich von dem Modell des „Leviathan“30 ab. Somit kann die Macht nicht ein Besitz bzw. eine Eigenschaft von einer Person oder einer Klasse sein, sondern sie ist ein relationales und plurales31 Phänomen. Verortet Arendt aber die Macht im zwischenmenschlichen Handeln und nur in diesem Zwischen, so ist sie für Foucault „niemals lokalisiert hier oder da, sie ist niemals in den Händen einiger, sie ist niemals angeeignet wie ein Reichtum oder ein Gut“32: Macht ist für Foucault auch nicht institutionell zu begreifen. „Die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur der Macht, ist nicht eine Mächtigkeit einiger.“33 Foucault präzisiert: „Ich bestreite nicht die Bedeutung der Institutionen bei der Verwaltung von Machtbeziehungen. Aber ich meine, man sollte Institutionen von den Machtbeziehungen her analysieren und nicht umgekehrt.“34 Damit ist aber das Entscheidende am Machtbegriff Foucaults noch nicht zum Ausdruck gebracht. Mit seiner Forderung einer Entstaatlichung des Machtbegriffs scheint er eine offene Tür einzurennen, zumal eine solche Forderung bereits im 19. Jahrhundert in der Literatur begegnet. Karl Marx sieht bekanntlich die Macht mit dem Kapital verbunden, und Nietzsche bezeichnet den Staat als „das

|| 28 Ebd., 225. 29 M. Foucault, Gespräch mit Michel Foucault, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. III (1976–1979), Frankfurt/M. 2003, 186–213, hier 200; vgl. auch ders., Gespräch mit Michel Foucault, in: D. Defert / F. Ewald (Hg.), Michel Foucault. Analytik der Macht, Frankfurt/M. 2005, 83–107, hier 95. 30 Vgl. M. Foucault, Vorlesung vom 14. Januar 1976, in: D. Defert / F. Ewald (Hg.), Michel Foucault. Analytik der Macht, Frankfurt/M. 2005, 108–125, hier 119. 31 Anders als Arendt betont Foucault die Pluralität der Macht, d.h. die Tatsache, dass die Gesellschaft aus verschiedenen lokalen und regionalen Mächten besteht. „Wenn wir eine Analyse der Macht unternehmen, dürfen wir darum nicht von Macht im Singular, sondern müssen wir von Mächten im Plural sprechen.“ (M. Foucault, Die Maschen der Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV [1980–1988], Frankfurt/M. 2005, 224–244, hier 228) 32 M. Foucault, Vorlesung vom 14. Januar 1976, in: D. Defert / F. Ewald (Hg.), Michel Foucault. Analytik der Macht, Frankfurt/M. 2005, 108–125, hier 114. 33 M. Foucault., Der Wille zum Wissen (1976). Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1998, 114. 34 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 288.

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kälteste aller kalten Ungeheuer“ und spricht vom „Willen zur Macht“. So kann Andreas Anter kritisch über Foucaults Forderung der Entstaatlichung schreiben: „Seine These, dass die Macht kein Besitz und keine Substanz sei; dass sie nicht bei einer ,zentralisierten Instanz‘ zu lokalisieren sei; dass nicht ,auf politische Macht reduziert‘ werden dürfte – all das gehörte seit einem Jahrhundert zum theoretischen Gemeingut.“35 Das spezifisch Neue, das als originärer Beitrag Foucaults anzusehen ist, ist sein Begriff der produktiven Funktion der Macht, die er anhand des Konzepts der „Technologie der Macht“36 bzw. der „Techniken der Macht“37 zum Ausdruck bringt. Foucault sieht sich nämlich veranlasst, den juristischen, rein negativen Machtbegriff anhand eines neuen positiven Konzepts, das er in Anlehnung an Pierre Clastres „Technologie der Macht“38 nennt, „von der Privilegierung der Regel und des Verbots zu emanzipieren“39. In seiner Analyse geht Foucault von den lokalen oder regionalen Formen der Macht, wie sie z.B. in einer Fabrik oder in der Armee begegnen, aus, die ihm zufolge nicht als eine Ableitung einer zentralen souveränen Macht verstanden werden dürfen und derer Funktion es ist, „Effizienz“, „Fähigkeiten“, „Produzenten eines Produkts“40 durch Machttechniken wie Hierarchie, Überwachung, zeitliche Kontrolle oder Arbeitsdisziplin herzustellen.41 Auffallend ist, dass Foucault im Zusammenhang des Begriffs der Machttechnik in Kategorien von „Produktion“ oder „Produktivität“ denkt. Wer produziert, der verursacht, und damit ist ein Wesenscharakter von Macht zum Ausdruck gebracht. Macht wird hier als ermöglichend und schöpferisch begriffen. So kann man sagen, dass Foucault durch die Frage nach dem Wie der Macht auch die nach dem Was beantwortet, auch wenn er ausschließt, dies systematisch zu tun, worauf bereits hingewiesen wurde.42 Ähnlich urteilt auch Petra Gehring, ausgehend von dem Funktionsbegriff bei Foucault: „Der Begriff der Technik

|| 35 A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 106. 36 M. Foucault, Die Maschen der Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 224–244, hier 225; vgl. auch 226. 37 Ebd., 230. 38 Ebd., 225. 39 Ebd., 226. 40 Ebd., 228ff. 41 Vgl. ebd., 230. 42 Vgl. M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ebd., 269–294, hier 281: „Wenn ich der Frage nach dem ,Wie‘ vorläufig den Vorzug gebe, so heißt das nicht, dass ich die Frage nach dem Was und Warum gar nicht stellen wollte. Ich will sie nur anders stellen. Ich möchte wissen, ob wir uns Macht als etwas vorstellen dürfen, das ein Was, ein Wie und ein Warum in sich vereint.“

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enthält die Vorentscheidung, die Formen, die sich in der Analyse zeigen, in Kategorien der Funktion zu denken, sie also von ihrem Wie her aufzuschlüsseln – denn in der Wirklichkeit ergibt die Frage nach dem Wie auch Antwort auf die Frage nach dem Was oder dem Warum.“43 Ist Macht durchaus produktiv, so macht sie Foucault zufolge den Einzelnen zu dem, was er ist: ein Individuum bzw. Subjekt.

2 Macht und Subjekt Wie schon gesagt, macht Foucault in seinem Beitrag „The Subject and Power“ von 1982 rückblickend auf seine Auseinandersetzung mit dem Machtproblem in den vorangegangenen zwanzig Jahren darauf aufmerksam, dass es ihm nicht darum gehe, Grundlagen für eine Machtanalyse zu bieten. „Vielmehr habe ich mich um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht“44, schreibt er. „Und zu diesem Zweck habe ich Objektivierungsformen untersucht, die den Menschen zum Subjekt machen.“45 Und er fasst zusammen: „Das umfassende Thema meiner Arbeit ist also nicht die Macht, sondern das Subjekt.“46 Das Subjekt lässt sich aber Foucault zufolge in den Machtbeziehungen besonders deutlich erkennen, doch geht er grundsätzlich davon aus, dass die Macht in der Form von Machtbeziehungen zu analysieren ist.47 Dabei ist er fasziniert von der Art und Weise, wie sich das Subjekt in den Machtsystemen konstituiert und individualisiert. Im Rückblick auf die „,pathologischen Formen‘ der Macht, den Faschismus und den Stalinismus“48, ist Foucault sich zwar bewusst, dass die Philosophie seit Kant die Aufgabe hat, „die überzogene Macht der politischen Rationalität zu überwachen“49. Er sieht aber die neue Topografie der Macht bzw. die „neue Ökonomie der Machtbeziehungen“50 nicht mehr in den vermeintlichen Machtzentren bzw. in den Königspalästen, sondern dezentral in den vielfältigen Beziehungen im gemeinschaftlichen Leben. „Die || 43 P. Gehring, Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt/M. / New York 2004, 124. 44 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 269. 45 Ebd. 46 Ebd., 270. 47 Vgl. M. Foucault, Das Spiel des Michel Foucault, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewaldt, Bd. III (1976–1979), Frankfurt/M. 2003, 391–429, hier 407. 48 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 271. 49 Ebd. 50 Ebd.

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Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.“51 Foucault problematisiert in diesem Zusammenhang eine Mikroperspektive der Macht. Er spricht von einer „Mikrophysik der Macht“52 und meint damit die Macht, die den gesamten sozialen Raum durch ein „System von Relais, Konnexionen, Transmissionen, Distributionen“53 durchzieht. Die „Mikrophysik der Macht“ wirkt durch kleinste Elemente wie ein Netz, das die Familien, Wohnverhältnisse, Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, selbst die Psychiatrien usw. umspannt. Dabei ist Foucault fokussiert auf die Wirkung des Disziplinarsystems auf das Subjekt besonders in den marginalen Bereichen, d.h. in den Kliniken, Gefängnissen und Psychiatrien.54 Hier lassen sich die Mechanismen der Macht besonders deutlich erkennen. Ausgehend von den Disziplinierungstechniken bzw. der „Disziplinartechnologie“55 durch Überwachung und Kontrolle in den Gefängnissen untersucht er in „Überwachen und Strafen“ die Entstehung einer „Disziplinarmacht“56, die die juristisch-souveräne Straf- und Verbotsmacht ablöst.57 Diesen neuen Machttypus verdeutlicht Foucault am Beispiel des Wandels der Strafpraktiken im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts. Er macht darauf aufmerksam, dass man vor der Revolution den Täter öffentlich in einem „Theater der Hölle“58 grausamer körperlicher Bestrafung unterwarf. Da das Gesetz den Willen des Souveräns repräsentierte, den der Straftäter gebrochen hatte, sollte der öffentliche Akt die Macht des Königs sichtbar machen und die souveräne Ordnung wiederherstellen.59 Aber der „Ort der Macht konnte leicht zum Ort der Unruhe, ja Revolte werden“60. So kritisierten die Reformjuristen die Grausam-

|| 51 M. Foucault., Der Wille zum Wissen (1976). Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1998, 114. 52 M. Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, 33; vgl. auch ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, 40, 178, 191 u. 207. 53 M. Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, 114. 54 Bereits die Titel seiner ersten Schriften verraten die veränderte Forschungsstrategie bei Foucault: „Wahnsinn und Gesellschaft“, „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ und „Die Geburt der Klinik“. 55 M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, 60. 56 Ebd., 241 u. 243. 57 Vgl. ebd., 241 u. 243; ders., Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, 123. 58 M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, 61. 59 Vgl. ebd., 65. 60 H. L. Dreyfus / P. Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt/M. 1987, 176.

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keit und Willkür der absolutistischen Strafmacht und forderten eine Humanisierung der Bestrafung. In der Moderne wird dagegen der vormalige Verbrecher zum „Menschen“, dessen „menschliche Natur“ respektiert werden muss.61 Durch Disziplinierungstechniken, nicht zuletzt durch das Überwachungssystem diszipliniert die moderne Strafmacht im Verborgenen; ihr Objekt ist nicht mehr der Körper, sondern die Seele, die durch subtile Zurichtung des Körpers diszipliniert wird.62 Somit lässt die ideale Gefängnisstruktur die Kontrolleure unsichtbar werden und unterwirft die Kontrollierten dem dauernden Blick der Macht. Dabei sieht Foucault die Machttechnik als „Prinzip der Vermenschlichung der Strafe“63 und zeigt die nutzbringenden „positiven Wirkungen“ von Strafmechanismen, die nicht bloß repressive Sanktionen, sondern politische Taktiken sind.64 Entscheidend ist, dass aus der unsichtbaren Kontrolle letztendlich Selbstkontrolle werden soll, so dass die sichtbare Macht ganz verschwinden kann. „Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer ,ideologischen‘ Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der ,Disziplin‘ produziert worden ist.“65 Foucault hat zwar bemerkenswerterweise auch dem Machtphänomen eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung sozialer Identitäten und Institutionen zugewiesen. Bereits in „Überwachen und Strafen“ spricht er von einer „Disziplinargesellschaft“66 und in seinen Vorlesungen und Texten seit Ende der 1970er Jahre von „Gouvernementalität“67, und er meint damit „je nach Verwendung das Stra-

|| 61 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, 94. 62 Vgl. H. L. Dreyfus / P. Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt/M. 1987, 179. 63 M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, 34. 64 Vgl. ebd. 65 Ebd., 249f. 66 Das Strafsystem in den Gefängnissen ist nach Foucault ein Abbild eines Disziplinarmechanismus, der sich über die ganze Gesellschaft ausgebreitet und sie in eine „Disziplinargesellschaft“ verwandelt hat. „Während sich auf der einen Seite die Disziplinarinstitutionen vervielfältigen, tendieren ihre Mechanismen dazu, sich über die Institutionen auszuweiten, sich zu ,desinstitutionalisieren‘, ihre geschlossenen Festungen zu verlassen und ,frei‘ zu wirken.“ (M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, 71) Auch hier erweist sich die Macht produktiv, da sie die gesellschaftliche Realität formt. 67 Den Neologismus „Gouvernementalität“ (gouvernementalité) führte Michel Foucault am 1. Februar 1978 in der vierten Sitzung der Vorlesungsreihe Sicherheit, Territorium, Bevölkerung ein, die er von Januar bis April 1978 am Collège de France hielt. (Vgl. ders., Die „Gouvernementalität“, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. III [1976– 1979], Frankfurt/M. 2003, 796–823; vgl. auch ders., Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in

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tegiefeld der Machtbeziehungen oder die spezifischen Merkmale der Regierungstätigkeit“68. Aber „Foucaults Theorie der Gouvernementalität als Kunst des Regierens bezieht sich unter anderem auf den Umgang mit sich selbst.“69 Dies verdeutlicht er in seiner Analyse der Machtbeziehungen anhand des Begriffs der „Führung“, der für ihn einen Doppelsinn hat. Führung heißt zum einen, „andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken“70, und zum anderen, „sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten“71. Zutreffend schreibt Marita Rainsborough dazu: „Gouvernementalität beinhaltet nicht nur regiert zu werden – Prozessen der Mikrophysik unterlegen zu sein –, sondern insbesondere selbst zu regieren und darüber hinaus primär das gute Regieren als angemessenes Führen des Anderen, das einen bewussten Umgang mit sich selbst voraussetzt – das Führen des Selbst.“72 Zusammenfassend kann man sagen: Macht ist produktiv, indem sie den Einzelnen zum Individuum bzw. „Sujet“ macht. Dabei unterstreicht die französische Sprache die Zweideutigkeit des modernen Begriffs der Individualität. „Sujet“

|| vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV [1980–1988], Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 291) 68 M. Sennelart, Situierung der Vorlesungen, in: Ders., Michel Foucault. Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt/M. 2004, 445–489, hier 482. Im Gegensatz zu ethischen Foucault-Interpreten im deutschsprachigen Raum, die das Wort „gouvernementalité“ durch die Zusammensetzung von „gouvernement“ (Regierung) und „mentalité“ (Denkweise), also mit „Regierungsmentalität“ übersetzen (vgl. T. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, 146), weist Michel Sennelart darauf hin, dass der französische Begriff „gouvernementalité“ von „gouvernemental“, also die „Regierung betreffend“, herkommt. Claus Dahlmanns macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass einige von den oben genannten Interpreten dem Hinweis Lennarts letztendlich zugestimmt haben (vgl. ders., Die Geschichte des modernen Subjekts: Michel Foucault und Norbert Elias im Vergleich, Münster 2008, 98 Anm. 105). 69 M. Rainsborough, Macht und Grenzen der Macht – Widerstand und Autonomie bei Michel Foucault, in: P. H. Roth (Hg.), Macht. Aktuelle Perspektiven aus Philosophie und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 2016, 109–129, hier 116. 70 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 286. 71 Ebd., 286; vgl. auch ders., Der Gebrauch der Lüste, Sexualität und Wahrheit II, Frankfurt/M. 1989, 178: Es geht dabei „um die Möglichkeit, sich selbst als Herr-Subjekt seines Verhaltens zu konstruieren, das heißt, sich […] zum geschickten und klugen Führer seiner selbst zu machen.“ 72 M. Rainsborough, Macht und Grenzen der Macht – Widerstand und Autonomie bei Michel Foucault, in: P. H. Roth (Hg.), Macht. Aktuelle Perspektiven aus Philosophie und Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 2016, 109–129, hier 116.

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lässt sich nämlich mit Untertan und mit Subjekt übersetzen.73 In diesem Zerreißfeld von Unterwerfung und Selbstgestaltung bzw. „Objekt werden“ und Selbstbestimmung verortet Foucault die Entstehung des modernen Subjekts. In diesem Zusammenhang versucht er aufs Neue, den Schleier der Macht mithilfe des Begriffs des Widerstandes zu lüften.

3 Widerstand als Wesensaspekt der Macht Im Marginalen das Wesentliche offenbaren, das ist Foucaults theoretische Intuition. Wie Krankheit und Gesundheit, Gesetzlichkeit und Gesetzlosigkeit, Ausnahme und Regel zusammenhängen, damit hat sich Foucault zeitlebens beschäftigt. „Will man […] verstehen, was die Gesellschaft unter geistiger Gesundheit versteht, muss man untersuchen, was auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten geschieht. Wenn wir wissen wollen, was wir mit Gesetzlichkeit meinen, müssen wir analysieren, was im Bereich der Gesetzlosigkeit geschieht.“74 Diese kategorial-gegensätzliche Vorgehensweise gilt auch und vor allem für seinen Forschungsansatz der Macht. Denn „wenn wir wissen möchten, was Machtbeziehungen sind, müssen wir vielleicht die Widerstände dagegen untersuchen und die Bemühungen, diese Beziehungen aufzulösen“75. So macht Foucault den Begriff des Widerstands zum Ausgangspunkt für seine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Macht.76 „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht“77. Dass der Widerstand für Foucault ein zentraler Aspekt der Macht ist, steht außer Zweifel. Aber wie lässt sich der Widerstand als wichtiges Element der Macht erklären? An dieser Stelle ist es sinnvoll, daran zu erinnern, dass Foucault Macht als Machtbeziehung analysiert. Dabei gehört die Macht „weniger in den Bereich der Auseinandersetzung zwischen Gegnern oder der Vereinnahmung des einen durch den anderen, sondern in den Bereich der ,Regierung‘ in dem weiten Sinne […]. In diesem Sinne heißt Regieren, das mögliche Handlungsfeld anderer zu

|| 73 Vgl. M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 275. 74 Ebd., 273. 75 Ebd. 76 Vgl. ebd. 77 M. Foucault, Der Wille zum Wissen (1976). Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1998, 116.

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strukturieren.“78 Macht existiert also für Foucault immer als Handlung und wird definiert durch eine „handelnde Einwirkung auf Handeln“79. Da aber Machtbeziehung zwischen handelnden Subjekten80 immer Machtausübung über Andere voraussetzt,81 beruht die Ausübung der Macht für Foucault auf der Anerkennung des Anderen sowohl als eines „handelnden Subjekts“82 als auch als eines „freien Subjekts“83. Damit schließt Foucault die Gewalt als Wesenselement der Machtausübung aus. Den Einsatz von Gewalt als „Mittel“ schließt er zwar nicht als Option der Macht aus, denn Macht benötigt zuweilen die Gewalt.84 Und doch gehört für ihn Gewalt nicht prinzipiell zur Machtausübung. „Gewaltbeziehungen wirken auf Körper und Dinge ein. Sie zwingen, beugen, brechen, zerstören. Sie schneiden alle Möglichkeiten ab. Sie kennen als Gegenpol nur die Passivität, und wenn sie auf Widerstand stoßen, haben sie keine andere Wahl als den Versuch, ihn zu brechen.“85 Zudem lehnt Foucault eine konsenstheoretische Machtinterpretation im Sinne von Freiheitsverzicht und Rechtsübertragung ab.86 „Macht kann nur über ,freie Subjekte‘ ausgeübt werden, insofern sie ,frei‘ sind.“87 Und er fasst zusammen: „Machtbeziehung und Widerspenstigkeit der Freiheit lassen sich also nicht voneinander trennen.“88 Der Widerstand als Aspekt der Macht lässt sich also durch das Moment der Freiheit in der Machtausübung rechtfertigen. „Macht und Freiheit schließen einander also nicht aus […]. Ihr Verhältnis ist weitaus komplexer. In diesem Verhältnis ist Freiheit die Voraussetzung für Macht (als Vorbedingung, insofern Freiheit vorhanden sein muss, damit Macht ausgeübt werden kann, und auch als dauerhafte Bedingung, denn wenn die Freiheit sich der über sie ausgeübten Macht entzöge, verschwände im selben Zuge die Macht und müsste bei reinem Zwang oder schlichter Gewalt Zuflucht suchen). Aber zugleich muss die Freiheit einer Machtausübung widerstehen, die letztlich danach trachtet, vollständig über sie zu bestimmen.“89 Es wurde darauf hingewiesen,

|| 78 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 286f. 79 Ebd., 285. 80 Vgl. ebd. 81 „Macht wird immer von den ,einen‘ über die ,anderen‘ ausgeübt.“ (Ebd.) 82 Ebd. 83 Ebd., 287. 84 Vgl. ebd., 286. 85 Ebd., 285. 86 Vgl. ebd. 87 Ebd., 287. 88 Ebd. 89 Ebd.

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dass Macht produktiv ist, indem sie das Individuum zum Subjekt im Sinne der Selbstgestaltung macht. In diesem Zusammenhang ist der Widerstand als Wesensaspekt der Macht die „Widerspenstigkeit der Freiheit“ gegen jede „Objektivierung“, d.h. jede Form oder Technik der Macht, die das Individuum zum Untertan bzw. Objekt macht.90 Aber in welchem Verhältnis steht der Widerstand zur Macht? Hier ist die Antwort Foucaults alles andere als einheitlich. Das Verhältnis von Macht und Widerstand im Sinne Foucaults ist nämlich nicht als ein dialektisches, aber offenbar doch als ein auf komplexe Weise miteinander verwobenes anzusehen. Der Widerstand „geht der Macht, die er bekämpft, nicht voraus. Er ist koextensiv und absolut gleichzeitig“91. Um überhaupt wirksam zu sein, muss der Widerstand wie die Macht sein: „genauso erfinderisch, genauso beweglich, genauso produktiv wie sie“92. Man könnte die Macht und den Widerstand im Sinne Foucaults anhand einer Medaille darstellen. Die eine Seite der Medaille repräsentiert die Macht, die andere dagegen den Widerstand gegen sie, so dass keine der beiden Seiten der Medaille ohne die jeweils andere Bestand haben kann, weil das eine sich aus dem anderen entwickelt. Die Machtverhältnisse „können nur kraft einer Vielfalt von Widerstandspunkten existieren, die in den Machtbeziehungen die Rolle von Gegnern“93 spielen. Diese Aussage Foucaults kann zu der Interpretation verleiten, dass er die Begriffe von Macht und Widerstand als polare Begriffe begreift und somit das Verhältnis von Macht und Widerstand in einem ontologischen Explikationsrahmen darstellt. Foucault lehnt aber eine ontologische Fassung bzw. einen „ontologischen Gegensatz zwischen Macht und Widerstand“94 ab. Er präzisiert, dass er den Widerstand wie eine Art Erkenntnisinstrument nutzt, ohne dass dieses aber aus der Macht resultiert. Er benutzt den Widerstand vielmehr „als chemischen Katalysator, der die Machtbeziehungen sichtbar macht und zeigt, wo sie zu finden sind, wo sie ansetzen und mit welchen Methoden sie arbeiten. Statt die Macht im Blick auf ihre innere Rationalität zu analysieren, möchte [… er] die Machtbeziehungen über das Wechselspiel gegensätzlicher Strategien untersuchen.“95

|| 90 Vgl. ebd., 275ff. 91 M. Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, 195. 92 Ebd. 93 M. Foucault, Der Wille zum Wissen (1976). Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1998, 117. 94 M. Foucault, Erläuterung zur Macht. Antwort auf einige Kritiker, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. III (1976–1979), Frankfurt/M. 2003, 784– 795, hier 792. 95 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 273.

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An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Motivation dieser Arbeit die Frage nach dem Was der Macht ist – eine Frage, die aber Foucault anscheinend nicht weiter interessiert. Ich „habe den Verdacht“, so Foucault, „dass man eine recht komplexe Realität außer Acht lässt, wenn man immer nur fragt: ,Was ist Macht? Woher kommt Macht?‘“96 So wählt Foucault als Gegenstand seiner Machtanalyse nicht das Was, sondern das Wie der Macht: Wie wird Macht produktiv? Wie wird Macht ausgeübt? „Wenn wir das Thema Macht über eine Analyse des ,Wie‘ angehen, verschieben wir die Fragestellung gegenüber der Annahme einer fundamentalen Macht in mehrfacher Weise. Wir wählen als Gegenstand der Analyse nicht Macht, sondern Machtbeziehungen“97. In seiner Auseinandersetzung mit den Machtbeziehungen verwendet aber Foucault Begriffe wie „Produktivität“, „Kampf“, „Widerstand“, die den Wesenscharakter der Macht herausstellen und mehr Licht ins Wesen der Macht bringen würden, wenn sie in einem ontologischen Explikationsrahmen dargestellt würden. Man hat den Eindruck, dass Foucault verschiedene Aspekte einer Einheit isoliert behandelt und dabei die Verbindungsstelle aus den Augen verliert. So kann der Eindruck entstehen, dass er zu viele verschiedene Dinge mit dem Begriff der Macht konnotiert, was ihm unter anderem auch Nancy Fraser zurecht vorwirft.98

|| 96 Ebd., 281. 97 Ebd., 284. 98 Vgl. N. Fraser, Foucault über die moderne Macht: Empirische Einsichten und normative Unklarheiten, in: Dies., Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht, Frankfurt/M. 1994, 31–55, hier 52.

Drittes Kapitel Helmuth Plessners Anthropologie der Macht Der deutsche Philosoph und Anthropologe Helmuth Plessner (1892–1985) ist neben Max Scheler und Arnold Gehlen einer der Begründer der modernen Philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Hier ist die Kategorie der „Exzentrizität“ bzw. der „exzentrischen Positionalität“, die er in seinem Hauptwerk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“1 von 1928 zur „Sonderstellung“ des Menschen unter den Lebewesen eingeführt hat, bekanntlich ein Kernstück seines Denkens. Auch in seiner Schrift „Macht und menschliche Natur“2 von 1931, wo er „das Prinzip der Unergründlichkeit“3 zur Kennzeichnung des Menschen einführt, geht es Plessner in erster Linie nicht um die Machtthematik, sondern um die Bestimmung des Menschseins. Dieses Buch von 1931, das sich, wie sein Untertitel schon sagt, als „ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“4 versteht, arbeitet „das Spezifikum des […] geschichtlichen Lebens“5 heraus und zielt auf eine „politische Anthropologie“6. Dabei versucht Plessner, aus „dem Geiste der Politik […] die Philosophie im Innersten zu bewegen, um die Politik in ihrer menschlichen Notwendigkeit zu begreifen“7. So ist das Hauptinteresse Plessners nicht auf die Machtfrage als solche, sondern auf die Frage nach dem

|| 1 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975. 2 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931), in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 135–234. 3 Vgl. ebd., 175–185; vgl. auch 160–165. 4 Ebd., 135. 5 G. Arlt, Der Mensch als Macht. Helmuth Plessner zum hundertsten Geburtstag, in: Philosophisches Jahrbuch 100 (1993) 114–130, hier 114. 6 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker , Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 139ff.; vgl. auch K. Röttgers, Macht, in: C. Bermes / U. Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2010, 221–233, hier 226; V. Schürmann, Unergründlichkeit und Kritik-Begriff. Plessners Politische Anthropologie als Absage an die Schulphilosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45/3 (2014) 345–362, hier 346. 7 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 142. https://doi.org/10.1515/9783110676754-004

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menschlichen Wesen gerichtet. „Wegen der Besonderheit des Ansatzes der Plessnerschen Anthropologie mit ihren Grundbegriffen der Exzentrizität und der Unergründlichkeit ist jedoch dieser Ansatz auch von erheblichem machttheoretischen Interesse.“8 Ausgehend von dem „Prinzip der Unergründlichkeit“, das er „dem Prinzip der Exzentrizität isosthenisch zugeordnet hat“9 und das sich als Schlüsselbegriff zu seinem Machtverständnis versteht, begreift Plessner den Menschen als Macht. Da für ihn Anthropologie immer schon politische Anthropologie ist und ausgehend von der Frage, inwieweit Politik als „der Kampf um Macht in den zwischenmenschlichen Beziehungen des einzelnen, der Gruppen und Verbände, der Völker und Staaten“10 immer schon zum Wesen des Menschen gehört, vertieft Plessner sein Machtverständnis um ein politisches Moment.

1 Von der exzentrischen Positionalität zum Prinzip der Unergründlichkeit: Ein Schlüssel zum Machtverständnis bei Plessner Wenn man sich Plessner mit Blick auf das Prinzip der Exzentrizität und der Unergründlichkeit zuwendet, so zeigt sich sofort, dass diese aufs engste mit seiner Frage nach dem Wesen des Menschen zusammenhängen. Im Mittelpunkt seines Denkens steht nämlich die Frage: Was ist der Mensch? Für unseren Zusammenhang ist hierzu die Hauptthese seiner Schrift „Macht und menschliche Natur“ von 1931 wichtig, die besagt, dass der Mensch als Macht zu verstehen ist.11 Der Ermöglichungsgrund der Fassung des Menschen als Macht liegt dabei für Plessner in dessen unergründlichen Natur. „Nur wenn und weil wir nicht wissen, wessen der Mensch noch fähig ist, hat es einen Sinn, das leidvolle Leben auf dieser Erde zu bestehen. Die Unergründlichkeit seiner selbst ist das um des Ernstes seiner Auf-

|| 8 K. Röttgers, Macht, in: C. Bermes / U. Dierse (Hg.), Schlüsselbegriffe der Philosophie des 20. Jahrhunderts, Hamburg 2010, 221–233, hier 226f. 9 V. Schürmann, Unergründlichkeit und Kritik-Begriff. Plessners Politische Anthropologie als Absage an die Schulphilosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45/3 (2014) 345–362, hier 346 Anm. 2. 10 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 139. 11 Vgl. ebd., 185ff.

1 Von der exzentrischen Positionalität zum Prinzip der Unergründlichkeit | 67

gaben willen verbindliche Prinzip seines Lebens und seines Lebensverständnisses.“12 Mit dem Prinzip der Unergründlichkeit der menschlichen Natur bringt Plessner, wenn nicht eine Korrektur, so doch einen wesenhaften neuen Aspekt in sein Verständnis der Kategorie der Exzentrizität, anhand dessen er die menschliche Natur in seiner Schrift „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ von 1928 zu bestimmen versucht. Zutreffend schreibt Gerhard Arlt dazu: „Die Wurzellosigkeit und Gleichgewichtlosigkeit der exzentrischen Lebensform verschärft sich hier zur grundsätzlichen Unbestimmbarkeit und Unergründlichkeit.“13 Damit zeigt sich, dass die Exzentrizität und die Unergründlichkeit den Menschen aus zwei verschiedenen Perspektiven bestimmen und diese somit zunächst als eigenständige Prinzipien zu verstehen und doch aufeinander bezogene Kategorien sind, „mit denen jeweils und zusammen ein Zugang zum Menschen erschlossen werden soll“14. Die Exzentrizität ist als Antwort auf eine philosophiegeschichtliche Lage zu begreifen und zu verorten in der Diskussion zwischen der idealistischen Fassung des Menschen einerseits, die jede Form von Zusammenhang mit der Natur als eine Leistung des erkennenden Subjekts begreift und folglich den Menschen vom Tierreich ablöst, und der biologischen Fassung andererseits, die ihn in die Reihe des Lebens einreiht.15 Als „Biologe, der über eine wissenschaftssoziologische Arbeit den Weg zur

|| 12 Ebd., 161. 13 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 130. 14 T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 194. 15 Zum besseren Verständnis der „exzentrischen Positionalität“ ist es an dieser Stelle hilfreich, kurz den philosophiegeschichtlichen Hintergrund zu skizzieren, in dem dieser Aspekt verortet ist. Als Reaktion auf die subjektivitätstheoretische Fundierung der Philosophie bei Kant und im Deutschen Idealismus entsteht seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine „Geschichte des ,Verdachts‘ gegen die Idealität, eine Geschichte ihrer ,Demaskierung‘“. (J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist 2016, 119) In dieser Krisengeschichte der Vernunft wird der Mensch philosophisch nunmehr „nicht als setzende, autonome Subjektivität, sondern als durch und durch leibverhaftetes sinnliches (Sensualität) und durch das konkrete ,Du‘ vermittelte Ich (Alterität) begriffen“ (ebd.). Ein Merkmal dieser mit der Selbstbestimmung und Selbstmächtigkeit des denkenden „Ichs“ brechende Bewegung ist, dass der Geist nicht mehr allgemein betrachtet wird, sondern auf die konkrete Existenz eines jeden Einzelnen verendlicht wird. „Im Gegenzug zum Idealismus, für den das menschliche Wesen des Einzelnen in seiner Vermitteltheit mit der allgemeinen Vernunft besteht, gilt der Mensch hier als ein durch und durch einziges Wesen (Existenzialität).“ (Ebd.) Mit dieser Existenzialität werden nicht zuletzt die Namen von Max Stirner und Sören Kierkegaard assoziiert. Die Kritik an der „Idealität des Ichs“ kommt auch in der Historischen Schule zum Ausdruck, wo Wilhelm Dilthey ein neues Fundament zu legen versucht, von dem aus die komplexe Welt des menschlichen Lebens in seiner ganzen Breite verstanden werden kann. Ausgehend von dem Gedanken, dass die Gegenstände der

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Philosophie gefunden hatte“16, und unter anderem ausgehend von dem durch den Lebens- und Kulturphilosophen Wilhelm Dilthey geprägten Lebensbegriff,17 versucht

|| Geisteswissenschaften nicht nur Objekte, sondern auch zugleich Subjekte sind, die sich selbst Ausdruck verleihen, bindet Dilthey den Menschen in den Geschichts- und Kulturzusammenhang bzw. Lebenszusammenhang ein, innerhalb dessen sich seine geistige Kreativität erweist und ausbildet. (Vgl. ders., Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, in: Ders., Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften [= Gesammelte Schriften, Bd. V], hg. v. G. Misch, Leipzig / Berlin 1924, 139–240, hier 152ff.; vgl. auch J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist 2016, 119ff.) Der Niedergang des Idealismus setzt sich fort, „als die Naturwissenschaften in Gestalt der avancierten Biologie mit ihren Erklärungen den Lebensprozess erreichen und durch ihn hindurch das Phänomen des Menschen“ (J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist 2016, 120). In diesem Zusammenhang bedeutet „Anthropologie die Lehre vom Menschen, welche aus den Forschungen der Anatomen, Prähistoriker, Rassen- und Vererbungsbiologen zu gewinnen ist“ (H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 144). Für Plessner kann aber Anthropologie als „Lehre vom Wesen des Menschen im ausdrücklichen Hinblick auf alle Seinsweisen und Darstellungsformen […] infolgedessen den zu engen Rahmen einer biologischen Disziplin unmöglich ertragen. Sie umfaßt das Psychische ebenso wie das Geistige, das Individuelle ebenso wie das Kollektive, das in einem beliebigen Zeitquerschnitt Koexistierende ebenso wie das Geschichtliche.“ (Ebd., 147) So bildete diese philosophiegeschichtliche Lage eine Herausforderung für einen Denker wie Helmuth Plessner dar, der zugleich von der Vernunft- und der Lebensphilosophie beeinflusst war und somit den Menschen von beiden Aspekten her zu erfassen versucht. „Im Entschluss, ,Geist‘ im ,Leben‘ aufzubauen, den Spieß des 19. Jahrhunderts mit seiner Leidenschaft des Abbauens, der Demaskierung, umzudrehen, wird der philosophiegeschichtliche Ort der Kategorie ,exzentrische Positionalität‘ kenntlich.“ (J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist 2016, 122) So nähert sich Plessner dem Menschen von zwei Seiten her: von der Biologie und von der Philosophie. Und mit dieser „philosophischen Biologie“ bzw. „Neuschöpfung der Philosophie“ versucht er, die Kontroverse zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu beseitigen. Dabei geht es ihm nicht darum, den komplexen „Doppelaspekt“ (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 81ff.) von Körperlichkeit (res extensa) und Innerlichkeit (res cogitans) zu überwinden, denn es gehört zur Natur bzw. zum Wesen des Menschen, in Form dieses „Doppelaspekts“ zu existieren, sondern die Radikalisierung einer Seite, wie es im „Alternativprinzip des Descartes“ (ebd., 72) der Fall ist, zu beseitigen. (Vgl. auch G. Arlt, Der Mensch als Macht. Helmuth Plessner zum hundertsten Geburtstag, in: Philosophisches Jahrbuch 100 [1993] 114–130, hier 116) 16 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 99. 17 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich Plessner, trotz „seiner philosophischen Anfänge bei Kant und Husserl“ (G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 99), stark von der Lebens- und Kulturphilosophie Diltheys beeinflussen lässt, wo das Konzept des Lebens nicht auf eine irrationale Triebmacht reduziert, sondern auf „Erleben und sinnlich-konkrete Erfahrung“ (ebd., 101) bezogen wird. (Vgl. H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch

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Plessner den Menschen „biophilosophisch“, d.h. von „unten“ her, in der Reihe des Lebendigen (angefangen von dem pflanzlichen über das tierische bis hin zum menschlichen Leben) und phänomenologisch von der „Seite“ her, d.h. vom Phänomen der Lebewesen-Umwelt-Korrelation her, zu verstehen.18 Mit dieser biophilosophischen Perspektive beabsichtigt er, „aus den leibkörperlichen Positionseigenschaften des Menschen, aus seinem leiblichen In-der-Welt-sein, alle weiteren Bestimmungen menschlicher Existenz zu entfalten“19. Die Pointe seiner Lehre des Lebendigen besteht in einer kategorialen Pflanze-Tier-Mensch-Stufung mit den folgenden entscheidenden Bauelementen: „Doppelaspekt“, „Grenze“, „Positionalität“ (sei es zentrische oder exzentrische). Zunächst versucht Plessner, in Anlehnung an den Biologen und Philosophen Hans Driesch, dessen Schüler er war, an Jakob von Uexküll und an Wolfgang Köhler 20 einen eigenen Begriff des Lebens, ausgehend von dem Begriff der „Doppelaspektivität“ des Lebendigen, zu konzipieren. Er spricht vom „Doppelaspekt in der Erscheinungsweise des gewöhnlichen Wahrnehmungsdinges“21. Plessner geht dabei von dem Problem der dualistischen Geist-Körper-Konzeption des Menschen in der Folge des „cartesianischen Alternativprinzips“22 aus. Für ihn gehört zum Wesen des lebendigen Organismus – im Unterschied zum Anorganischen bzw. zum unbelebten Körper –, dass er unter dem „Doppelaspekt“ von „Außen“ („Positionseigenschaften in Raum und Zeit“23) und „Innen“ („real nicht erfahrener innerer Substanzkern“24) erscheint.25 Dass die Doppelaspektivität zum Wesen des lebendigen Körpers gehört, || zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 165ff.) 18 Damit zielt Plessner auf eine „Neuschöpfung der Philosophie unter dem Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte. Die Etappen auf diesem Wege sind: Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik, Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte; und ein wesentliches Mittel (nicht das einzige), auf ihm weiterzukommen, ist die phänomenologische Deskription.“ (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 30) 19 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 100. 20 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 89ff.; vgl. auch G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 99 u. 101. 21 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 81. 22 Ebd., 72. 23 J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist 2016, 124. 24 Ebd. 25 Zutreffend schreibt Gerhard Arlt hierzu: „Es gehört zum Wesen des Menschen, im ,Doppelaspekt‘ zu existieren. Eine Reduktion in die eine oder andere Richtung, die Verabsolutierung

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stellt zugleich dessen Grenzcharakter dar, der sich in der realisierten Beziehung zwischen Innen und Außen erweist. Dabei schließt die „Grenze“ Inneres vom Äußeren ab und zugleich Inneres und Äußeres gegeneinander auf. So vermeidet Plessner auf die Frage, was einen lebendigen Körper von Unbelebtem wesentlich unterscheidet, sowohl die „gestalttheoretische Deutung“ Köhlers als auch die „ganzheitstheoretische“ Drieschs,26 indem er sich für eine „grenztheoretische“27 Deutung entscheidet. „Die Grenze gehört dem Körper selbst an, der Körper ist die Grenze seiner selbst und des Anderen und insofern sowohl ihm als dem Anderen entgegen.“28 Den Grenzbegriff Plessners kommentierend schreibt Joachim Fischer zutreffend: „Erst durch die ,Grenze‘ als Eigenschaft, als realisierte Beziehung zwischen Innen und Außen, durch diese Grenze, die nicht nur ein Rand ist, an dem das Ding aufhört, sondern konstitutiv zu ihm als Ding gehört, wird ein physischer Körper ,ganzheitlich‘ bzw. organisch und nimmt darin eine typische ,Gestalt‘, eine körperliche Ausprägung an.“29 Der Schlüsselbegriff, der die Stufentheorie des Lebens (Pflanze-Tier-Mensch)30 nicht evolutionär, sondern gestaffelt leitet, ist der Begriff der „Positionalität“ bzw. der „Gesetzt- oder Gestelltheit des lebendigen Körpers“31. Damit gewinnt das Konzept der menschlichen „exzentrischen Positionalität“ eine entscheidende Kontur. Mit der Positionalität ist zunächst die Beziehung des lebendigen Organismus zu seiner „Grenze“ zum Ausdruck gebracht. Bestimmt durch ein Moment des „Über-ihm-Hinaus“ und durch das „Ihm-Entgegen“32, und somit gesetzt bzw. positioniert gegen sein Umfeld, || einer Seite verstellt nicht nur das ,Bild‘ des Menschen, es verhindert einen zureichenden Begriff des Lebens, der Lebendigkeit. In dieser Entscheidung liegt der neuralgische Punkt des opus magnum. Der Doppelaspekt ist aus einer Grundposition zu begreifen.“ (Ders., Der Mensch als Macht. Helmuth Plessner zum hundertsten Geburtstag, in: Philosophisches Jahrbuch 100 [1993] 114–130, hier 116) 26 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 89ff.; vgl. J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist 2016, 125. 27 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 99ff. 28 Ebd., 127. 29 J. Fischer, Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner, Weilerswist 2016, 125. 30 Helmuth Plessner geht es um eine „Logik der lebendigen Form“ (ders., Selbstdarstellung, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. X, Frankfurt/M. 2003, 302–341, hier 325) und darüber hinaus um die „Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Menschen“ (ders., Autobiographische Einführung, in: Ders., Mit anderen Augen, Stuttgart 2000, 3–8, hier 6). 31 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 129. 32 In diesem Zusammenhang ist die Grenze die „Möglichkeitsbedingung des Überschreitens eines lebendigen Körpers als ,Über-ihm-Hinaus‘ und ,Ihm-Entgegen.“ (G. Arlt, Der Mensch als

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realisieren die lebendigen Körper bzw. die Pflanze, das Tier und der Mensch in jeweils spezifischer Weise ihre Grenzen. „In den spezifischen Weisen ,über ihm hinaus‘ und ,ihm entgegen‘ wird der Körper von ihm [sc. dem Körper selbst] angehoben und zu ihm in Beziehung gebracht, strenger gesagt: ist der Körper außerhalb und innerhalb seiner.“33 Die jeweilige Möglichkeit bzw. Weise, die Grenze zu überschreiten oder sich zu positionieren, entscheidet über den Rang des Organismus im Stufenmodell. Das heißt, die Selbstorganisation des Lebens entspricht der Weise der Grenzrealisierung als Pflanze, Tier und Mensch. „Leben realisiert sich in der Positionierung, im ,osmotischen‘ Austausch, in der Grenzverwirklichung und Selbstorganisation. Je komplexer das Lebewesen organisiert ist, desto vermittelter ist sein Verhältnis zum Umfeld, oder anders gewendet: desto vielfältiger erschließt sich ihm die Umwelt.“34 Arlt fährt fort: „Aber erst auf der tierischen Stufe, die die pflanzliche in sich birgt, und erst auf der menschlichen Stufe, die das tierische Leben in sich begreift, ist aufgrund eines ,Zentrums‘ Vermittlung und Rückvermittlung im eigentlichen Sinn möglich.“35 Mit dem Begriff des Zentrums bzw. der Mitte setzt Plessner einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Leben der Pflanze einerseits und dem des Tieres und des Menschen andererseits. Die Pflanze ist nämlich nicht um ein Zentrum organisiert und wird darum von Plessner im Anschluss an Hans Driesch als „offene Form“36 bezeichnet. Sie ist in der Welt positioniert, kann aber nicht wie der Mensch in Beziehung zu ihrer Positionalität stehen: Sie hat ein „geschlossenes Positionsfeld“37. Tier und Mensch sind über ein einheitliches Zentrum38 organisiert und deswegen nach Plessner als „geschlossene Form“39 zu begreifen. Da sie in Beziehung zur Positionalität gesetzt sind, haben sie ein „offenes Positionsfeld“40. Allerdings lebt das „Tier […] aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte herein, aber es lebt nicht als Mitte.“41 Es ist „zentrisch positioniert“. „Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die

|| Macht. Helmuth Plessner zum hundertsten Geburtstag, in: Philosophisches Jahrbuch 100 [1993] 114–130, hier 116) 33 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 129. 34 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 101. 35 G. Arlt, Der Mensch als Macht. Helmuth Plessner zum hundertsten Geburtstag, in: Philosophisches Jahrbuch 100 (1993) 114–130, hier 117. 36 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 219. 37 Ebd., 220ff. 38 Vgl. ebd., 249ff. 39 Ebd., 226. 40 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 113. 41 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 288.

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Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch.“42 Denn der „Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus“43. Wie das Tier ist also auch der Mensch über ein Zentrum, das Zentralnervensystem organisiert, aber für ihn ist es kennzeichnend, dass er zugleich außerhalb des Zentrums, d.h. distanziert, „exzentrisch positioniert“ ist.44 Er ist ein „Wesen ohne fixiertes Zentrum, ohne vorgegebenes identisches Selbst“45, weil er von seiner Mitte abgehoben ist und sich als Mitte ins Nichts seiner eigenen Grenze gestellt findet.46 Diese Sonderstellung des exzentrisch positionierten Menschen hat entscheidende Folgen für dessen Wesensbestimmung, weil sie zwar nicht jede Bestimmung, aber doch jede Festlegung des Menschseins unmöglich macht. Das ins Nichts-gestellt-Sein erlaubt keine eindeutige Fixierung der menschlichen Stellung. Denn dem Menschen ist es „nicht gegeben zu wissen, ,wo‘ er und die seiner Exzentrizität entsprechende Wirklichkeit steht“47. Im Gegensatz zum Tier, das aus seiner Mitte heraus und nicht als Mitte im Hier und Jetzt als ein „reines Mich“48 lebt, steht der Mensch als „Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, […] nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ,hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann. […] Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben.“49 Mit anderen Worten enthält das Exzentrisch-positioniert-Sein ein Moment

|| 42 Ebd., 291f. 43 Ebd., 291. 44 Plessners strukturanalytischer Vergleich der Organisationsformen Pflanze, Tier und Mensch fasst Thomas Bek wie folgt zusammen: „Pflanze, Tier und Mensch sind durch verschiedene Positionalitätsformen, der Komplexität des Organismus und seiner Interaktion mit dem Umfeld, charakterisiert. Die Art, wie sich das Leben zum Umfeld abklammert (offene oder geschlossene Organisationsform) und wie es sich als Einheit im Umgang mit seiner Umwelt organisiert (zentrische, exzentrische Positionalität), ermöglicht die Zuordnung zu den Stufen.“ (Ders., Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 53) 45 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 101. 46 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 292. 47 Ebd., 342. 48 Das heißt, das Zentrum, aus dem heraus ein Tier auf Reize aus seiner Umwelt reagiert und sein Leben gestaltet, bleibt ihm verborgen. Das Tier „hat nur seinen Leib und geht in der raumzeithaften Zentralität subjektiven Lebens auf, ohne es zu erleben, ist von ihm aus reines Mich, nicht Ich“. (Ebd., 271) 49 Ebd., 292.

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des Sich-Erlebens, des Selbstverhältnisses. Und dies setzt eine Distanznahme voraus, die „auf ein Immer-schon-eine-Position-vollzogen-Haben und auf ein Immer-schon-auch-anders-Können“50 verweist, so dass eine „fixe Definition des Mensch-seins […] nicht mehr möglich“51 ist. Damit ist das Mensch-Sein für den Menschen selbst und seine Mitmenschen prinzipiell verborgen bzw. wird zu einer „offenen Frage“52. Diese Verborgenheit bzw. Unbestimmtheit im Wissen über den Menschen bringt Plessner in seiner Schrift „Macht und menschliche Natur“ von 1931 mit dem Begriff der Unergründlichkeit53 bzw. der „offenen Immanenz“54, d.h. der Unabschließbarkeit der Frage nach dem Menschen, zum Ausdruck, und er spricht später vom „homo absconditus“55, dem verborgenen Menschen. Mit dem Prinzip der Unergründlichkeit kommt eine neue Qualität in Plessners Wesenslehre des Mensch-Seins. Bei näherem Hinschauen stellt dies keinen Bruch in seinem Denken dar, sondern die Unergründlichkeit ist als eine Weiterentwicklung der Exzentrizität zu verstehen.56 Denn versteht man den Menschen als exzentrisch, so ist die Verbindlichkeit der Unergründlichkeit als Spezifikum menschlicher Existenz immer schon vorausgesetzt.57 Schürmann unterscheidet dabei zwei Begründungsdimensionen: „Das Prinzip der Exzentrizität stellt das Prinzip der Ansprechbarkeit des Menschen als Menschen dar, während das Prinzip der Unergründlichkeit eine Behauptung zum Was-Sein des Menschen ist, nämlich von dessen prinzipieller historischer Relativität und damit Offenheit –

|| 50 T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 119. 51 Ebd. 52 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 175ff. 53 Vgl. ebd., 175ff. 54 Ebd., 190. 55 Vgl. H. Plessner, Homo absconditus, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. IV, Frankfurt/M. 1981. 56 Zurecht schreibt Volker Schürmann: „Plessners Arbeit von 1931 ist eine echte methodologische Weiterentwicklung gegenüber den Stufen von 1928“ (ders., Unergründlichkeit und KritikBegriff. Plessners Politische Anthropologie als Absage an die Schulphilosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45/3 [2014] 345–362, 352). In diesem Sinne versteht Gerhard Arlt das Prinzip der Unergründlichkeit in seinem Beitrag „Der Mensch als Macht“ von 1993 anlässlich des 100. Geburtstags Plessners als viertes anthropologisches Grundgesetz. (Vgl. ders., Der Mensch als Macht. Helmuth Plessner zum hundertsten Geburtstag, in: Philosophisches Jahrbuch 100 [1993] 114–130, hier 118) 57 Vgl. T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 194.

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die Essenz des Mensch-seins ist als ,offene Frage‘ bzw. als ,Macht‘ zu begreifen.“58 Das heißt, das ins Nichts-gestellt-Sein bringt eine Uneindeutigkeit des menschlichen Wesens und somit eine Ermöglichung bzw. eine „Er-Öffnung“ des Menschen zur Welt zum Ausdruck. Von hier aus lässt sich der Mensch für Plessner als Macht begreifen. Wie er aus dieser Konstellation die grundlegende Bedeutung des Was-Seins des Menschen als Macht herleitet bzw. wie die Macht als eigenständiger Zugang zu der Frage nach dem Menschen zu begreifen ist, ist nun in den Blick zu nehmen.

2 Der Mensch als Macht des Könnens 2.1 Macht und menschliche Unbestimmtheit Mit den Prinzipien der Exzentrizität und der Unergründlichkeit sucht Plessner einen Zugang zum Menschen zu erschließen. Aus der exzentrischen Positionalität ergibt sich eine Wesenslehre des Menschen als Exzentrum und Doppelgänger, d.h. dass der Mensch im Gegensatz zum Tier jederzeit in ein reflexives Verhältnis zu seinem Dasein und seinem Umfeld treten kann und zugleich um dieses Verhältnis weiß. Für Plessner ist dieses Selbstbewusstsein bzw. dieses Sich-selbst-präsent-Sein ein geistiges Phänomen, es hat aber zugleich auch biologische Wurzeln. Damit erweist sich der Mensch als ein Doppelwesen aus geistiger und leiblicher Existenz und steht somit, weil er distanzfähig ist, in einem Doppelverhältnis zu sich selbst: Als Körper ist er vom Zentrum abhängig, und durch die Distanzfähigkeit kommt er sich selbst in den Blick bzw. „zur Vergegenständlichung, zum Haben des eigenen Selbst“59. Als Exzentrum und Doppelgänger ist der Mensch immer in seinem Körper, den er aber gleichzeitig auch „hat“60. Dieses

|| 58 V. Schürmann, Unergründlichkeit und Kritik-Begriff. Plessners Politische Anthropologie als Absage an die Schulphilosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45/3 (2014) 345–362, 352; vgl. H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 152ff. 59 T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 58. 60 Das Tier „ist“ sein Körper. Es „hat“ ihn aber nicht, denn es hat kein Verhältnis zu seinem Körper. Der Mensch „ist“ zwar auch sein Körper, „hat“ ihn aber zugleich, indem er sich zu seinem Körper verhalten kann. Zu Körper und Leib beim Tier vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 230ff.; beim Menschen vgl. ebd., 294ff.

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Doppelverhältnis bringt Plessner mit dem Begriff vom „Köper-Sein und KörperHaben“61 bzw. „Leib-Sein und Leib-Haben“62 zum Ausdruck. Dieses „Haben-SeinVerhältnis, d.h. das Oszillieren zwischen den Seinsweisen Körper-Haben und Körper-Sein bestimmt den Lebensrhythmus der geschlossenen Organisationsform“63. In diesem Zusammenhang spricht Plessner noch nicht ausdrücklich vom Menschen als Macht, aber die Nähe zu dem Begriff des „Welt-Habens“ bei Tillich, wo die Rede von dem Menschen als Macht ist, ist unverkennbar. Für Tillich zeigen sich nämlich die „Formen und Stufen des Seins“ als „Formen und Stufen der ,Macht zu sein‘“64. Das Entscheidende ist dabei für ihn „der Unterschied der Mächtigkeit von Wesen, die zur Welt gehören, aber nicht Welt haben, und denen, die Selbst sind und Welt haben. Nur für die zweite Gruppe gilt das Wort ,Macht‘ im vollen Sinn.“65 Ähnlich argumentiert auch Plessner, und er versucht, den Begriff „Körper-Haben“ „für einen besonderen Fall auszusparen“66, und zwar für den Fall des Menschen. Aber sein Konzept des Menschen als Macht lässt sich nicht direkt von den Begriffen „Köper-Sein und Körper-Haben“ her erklären, sondern von der Unruhelage, der Wurzellosigkeit, der Unergründlichkeit der Welt und seiner selbst, in die das „Oszillieren zwischen zwei antagonistischen Seinslagen: ein Leib zu sein und einen Körper zu haben“67 den Menschen setzt. Das ins Nichts-gestellt-Sein, das aus diesem Oszillieren bzw. fortwährenden Wechsel von Insein und Außensein hervorgeht, so wurde deutlich, erlaubt keine endgültige Definition des Menschen. Diese Unfassbarkeit bzw. Nichtfestgestelltheit des menschlichen Lebens ist aber keine negative, sondern „eine sehr positive Haltung im Leben zum Leben, die um seiner selber willen die Unbestimmtheitsrelation zu sich einnimmt“68. Plessner erklärt dazu: „In dieser Relation der Unbestimmtheit zu sich faßt sich der Mensch als Macht und entdeckt sich für sein

|| 61 H. Plessner, Lachen und Weinen, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. VII, Frankfurt/M. 2003, 201–387, hier 242. 62 Der Mensch „ist […] Leib […] und hat diesen Leib als diesen Körper“ (ebd., 238). 63 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 114. 64 GW IX 169. 65 Ebd. 66 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 127. 67 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 102; vgl. T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 67ff. 68 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 188. https://doi.org/10.1515/9783110676754-004

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Leben, theoretisch und praktisch, als offene Frage.“69 Was sich der Mensch in der Unbestimmtheit versagt, „wächst ihm als Kraft des Könnens wieder zu“70. „Dem Menschen als Exzentrum und Doppelgänger tritt der ,Mensch als Macht und offene Frage‘ an die Seite“71, so dass im Sich-selber-präsent-Sein ein Bruch liegt, „die ,Stelle‘ möglichen Sich-von-sich-Unterscheidens, die dem Menschen im Zwang zur Wahl und als Macht des Könnens seine besondere Weise des Daseins, die wir exzentrisch genannt haben, anweist.“72 In seine Grenze gesetzt und deshalb über sie hinaus,73 zeigt sich der Mensch als ein unerschöpfliches Können74 und als Schöpfer nicht zuletzt im Horizont seiner geistigen Welt in der Kultur, der Geschichte und Gesellschaft. Dies dokumentiert sich in besonderer Weise in den drei „anthropologischen Grundgesetzen“, d.h. in Bezug auf die „natürliche Künstlichkeit“, die „vermittelte Unmittelbarkeit“ und den „utopischen Standort“75.

2.2 Der Mensch als Schöpfermacht Als exzentrisches bzw. selbstbezügliches und unergründliches Sein, d.h. als ein ins Nichts gestelltes und somit entsichertes Sein, muss der Mensch sein Leben gestalten. „In der Fassung seiner selbst als Macht fasst der Mensch sich als geschichtsbedingend und nicht nur als durch Geschichte bedingt […]. Solange er an dieser Konzeption seines Wesens als Macht festhält, hat er Macht und gibt es Entwicklung.“76 Von hier aus lässt sich der Mensch als Zurechnungssubjekt seiner selbst und seiner Geschichte bzw. als Schöpfermacht verstehen. Die Äußerung dieser Schöpfermacht findet Ausdruck in der Begegnung des Menschen mit der

|| 69 Ebd. 70 Ebd. 71 G. Arlt, Der Mensch als Macht. Helmuth Plessner zum hundertsten Geburtstag, in: Philosophisches Jahrbuch 100 (1993) 114–130, hier 122. 72 H. Plessner, Zur Anthropologie des Schauspielers, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. VII, Frankfurt/M. 2003, 399–418, hier 417. 73 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 292. 74 Vgl. H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 188. 75 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 309ff. 76 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 190.

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Kultur, der Geschichte sowie in der (Heimatlosigkeit und dem Bedürfnis nach) Gesellschaft, in der er lebt. Mit dem Grundgesetz der „natürlichen Künstlichkeit“77 greift Plessner den Prozess der Kultivierung des Menschen auf. Menschsein heißt nämlich für ihn, worauf Gerhart Arlt hinweist, „die ,Abhebung‘ des Lebendigseins vom Sein und den Vollzug dieser Abhebung“78. Dabei kann der Mensch entweder das zu Ende leben, „was er ist, oder macht er sich, gleichsam als Schöpfung ex nihilo, zu dem, was er ist“79. Als exzentrisches, ortloses und somit entsichertes Wesen muss sich aber der Mensch „zu dem, was er schon ist, erst machen“80. So ist der Mensch für Plessner von Natur aus künstlich.81 Er ist an der Schöpfung seiner selbst und seiner Welt mit beteiligt. Das Wissen von sich führt ihn über die Natur hinaus. Um sein eigenes Leben produktiv führen zu können, schafft er selbst Normen, Werte und Bedeutungen, obwohl keine Norm, kein Wert, keine Bedeutung ewig ist. Dank der Monopole der menschlichen Lebensform (Ich, Geist, Reflexion) und seiner instinktentbundenen Weltoffenheit hat er einen „Anlass“ zur Kultur. Zwar kann auch ein Tier Werkzeuge finden und benutzen. Aber es kann sie nicht „erfinden“. Das Tier bemerkt, wenn es ein Werkzeug gebraucht, den von ihm geschaffenen Sachverhalt nicht. Der Mensch aber „erfindet nichts, was er nicht entdeckt“82. So kann man den Menschen „als das Subjekt, als den Schöpfer und die produktive ,Stelle‘ des Hervorgangs einer Kultur“83 begreifen. Der Mensch als Kulturwesen setzt bei Plessner das menschliche bedürftige Wesen voraus, das nach Erfüllung sucht. Diese Bedürftigkeit und das Verlangen nach Erfüllung macht die unendliche Endlichkeit84 des Menschen aus bzw. seine „manifestierende Endlichkeit, die auf natürliche Weise künstlich ausgeglichen zu werden

|| 77 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 309–321. 78 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 121. 79 Ebd. 80 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 309. 81 Ähnlich argumentiert Arnold Gehlen, für den der „Mensch von Natur ein Kulturwesen“ ist (ders., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Frankfurt/M. 1962, 80). 82 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 321. 83 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 149. 84 Unverkennbar ist die Nähe zu Tillich, der den Menschen als „sich selbst grenzenlos transzendierende Endlichkeit“ (ST I 223) zu bestimmen versucht. Im Gegensatz zu Tillich aber, der ontologisch verfährt, vermeidet Plessner jede „Fixierung ontologischer Art“ (ders., Macht und

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verlangt. Deshalb ist der Mensch ,von Natur‘ künstlich und nie im Gleichgewicht. Aus diesem Grund kommt ihm jede Unmittelbarkeit nur in einer Vermittlung“85. Das zweite anthropologische Grundgesetz Plessners ist die menschliche „vermittelte Unmittelbarkeit“86. Der Mensch erweist sich für Plessner als ein Wesen, das sich vermitteln muss. Sich vermitteln heißt dabei, sich auszudrücken bzw. sich zu entäußern. Er hat ein Bedürfnis nach Ausdruck. Dabei ist sein schöpferischer Akt als eine „Ausdrucksleistung“87 zu verstehen. Nun steht der Mensch als Doppelaktivität bzw. als Zentrum und Exzentrum gleichzeitig in einer vermit-

|| menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 196) des Menschen. Das „Immer-Weiter-Müssen“ bzw. das „Können, das Mächtige sind nur Ausdrücke für die Unbestimmtheit, in der das Zurechnungssubjekt der Geschichte im Sinne eines lebensmäßigen, in der offenen Immanenz der verschränkten Perspektiven von Vergangenheit und Zukunft sich haltenden Denkens seine Bestimmtheit jeweils anders und immer neu erringt.“ (Ebd., 196) Eine Wesenslehre des Menschen soll weder empirisch noch apriorisch verfahren (vgl. ebd., 151ff.), sondern in „einer Verbindung apriorischer und empirischer Betrachtung nach dem Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen“ (ebd., 160). In diesem Sinne hält er auch die Daseinsanalyse Heideggers für ein „Beispiel der apriorischen Anthropologie“ (ebd., 155) und wirft ihm vor, der Ontologie den Vorrang vor der Ontik zu geben, und er spricht vom „Primat des Ontologischen vorm Ontischen“ (J. König / H. Plessner, Briefwechsel 1923–1933, hg. v. H.-U. Lessing / A. Mutzenbecher, Freiburg / München 1994, 176). Das Entscheidende seiner Kritik an der Ontologisierung menschlichen Wesens formuliert Plessner wie folgt: „Da der Mensch als Zurechnungssubjekt seiner Kultur, als Schöpfer im Horizont seiner Geschichte begriffen werden soll, der schöpferische Hervorgang aber aus dem Fundament, der Wurzel seines Menschtums vollzogen werden muß, wenn anders seine Produktivität etwas mit ihm ,selbst‘ zu tun hat – sonst ist er eben für sein Tun nicht restlos verantwortlich gemacht –‚ so schiebt sich von vornherein die Menschheitlichkeit ,die Menschheit in ihm‘‚ wie der deutsche Idealismus sagte, als zeugender Grund unter. Ein wenn auch nur methodisch gemeinter Apriorismus führt zwangsläufig zur universalistisch-rationalistischen Ontologisierung menschlichen Wesens.“ (Ders., Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 154; vgl. S. Edinger, Das Politische in der Ontologie der Person. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie im Verhältnis zu den Substanzontologien von Aristoteles und Edith Stein, Berlin / Boston 2017, 37ff.) 85 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 199. 86 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 321–341. 87 Ebd., 322.

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telten und unvermittelbaren Beziehung zu seiner Außenwelt. Als zentrisches Wesen steht er in einer direkten bzw. unmittelbaren Beziehung zu äußeren Dingen.88 Diese unmittelbare Beziehung zu der Außenwelt schreibt Plessner auch den Tieren zu, die ebenfalls ein Zentrum besitzen. Da aber der Mensch „von sich selbst weiß“ und sich bewusst ist, dass er selbst Vermittler zwischen sich und der Außenwelt ist, erfasst er das Ganze zugleich als direkte bzw. unmittelbare und indirekte bzw. mittelbare Beziehung. Plessner spricht von der Situation der „Bewusstseinsimmanenz“89 des Menschen. Aus dieser Beziehung zwischen dem Menschen und der Außenwelt geht für den Menschen eine Mitwelt,90 d.h. ein Drang nach Sozialität, hervor. Von hier aus lässt sich auch das Ausdrucksbedürfnis bzw. die Expressivität des Menschen begründen. An diesem Ausdrucksbedürfnis, das der exzentrischen Lebensform immanent ist, macht Plessner auch die Geschichtlichkeit fest: „Durch seine Expressivität ist er also ein Wesen, das selbst bei kontinuierlich sich erhaltender Intention nach immer anderer Verwirklichung drängt und so Geschichte hinter sich zurückläßt. Nur in der Expressivität liegt der innere Grund für den historischen Charakter seiner Existenz.“91 So gestaltet der Mensch als Macht seine eigene konkrete Geschichte und schafft sich selbst. Mit anderen Worten: Er hat ein dynamisches Verhältnis zu seiner Gewordenheit. Dilthey paraphrasierend schreibt Plessner: „Denken wir das ,offene Frage Sein‘, die Macht als Essenz im Menschen, dann kann ihre Wahrheit nur durch die Geschichte selber erhärtet werden. Dann gilt der Diltheysche Satz, daß der Mensch das, was er ist, nur durch die Geschichte erfahren könne, auch im praktischen Sinne.“92 Diese gesamte Geschichtlichkeit resultiert nach Plessner aus dem „utopischen Standort“93 des Menschen, der beweist, dass eine exakte Fixierung auf einen Standort aufgrund des Prinzips der Exzentrizität und der Unergründlichkeit nicht möglich ist. Der Mensch ist nämlich aufgrund seiner exzentrischen Position „hinter sich gekommen“, wie Plessner immer wieder betont, und ist zu einem

|| 88 Hier spricht Plessner von der Weltzugehörigkeit der exzentrischen Lebensform. Diese stellt sich dar als eine „ursprüngliche Begegnung des Menschen mit der Welt, die nicht zuvor verabredet ist“ (ebd., 336). 89 Ebd., 328. 90 Vgl. ebd., 293ff. 91 Ebd., 338. 92 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 191. 93 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 341.

80 | Helmuth Plessners Anthropologie der Macht utopischen, d.h. ortlosen (Utopie = ου֙◌ „nicht“ und τόπος „Ort“) Wesen geworden. Er ist wie aus jedem sicheren Ort geworfen und steht im Nichts. Er muss sich aber eine Heimat schaffen. So ist er eine „Aufgabe für sich selbst“ und versucht immer wieder, sich selbst zu übertreffen. Dabei überschreitet er immer wieder das Erreichte. Ihm gelingt es nicht, etwas Endgültiges zu schaffen.94 Diese Unmöglichkeit, in der Welt die eigene Position zu fixieren, gibt dem exzentrischen, heimatlosen und entsicherten Menschen das „Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit und korrelativ dazu der Nichtigkeit der Welt“95. Aus dieser Schwebelage, in der sich der Mensch findet, wagt Plessner die Verbindung zur Religion. Der Mensch als utopisches Wesen, das in sich keinen Halt hat, strebt nämlich immer danach, eine letzte Zuflucht zu finden. Dabei braucht er etwas, das ihm Orientierung und Halt verschafft. Dies erweckt in ihm nach Plessner das „Bewußtsein der absoluten Zufälligkeit des Daseins“96 und damit „die Idee des Weltgrundes, des in sich ruhenden notwendigen Seins, des Absoluten oder Gottes“97. So tritt dem „utopischen Standort“ ein „transzendentaler Ort“ an die Seite. Gleichzeitig aber bedingt das Prinzip der Exzentrizität und der Unergründlichkeit auch den Zweifel an einem solchen transzendentalen Ort bzw. an Gott. An dieser Stelle zeigt sich Plessner der Religion gegenüber kritisch, wenn er schreibt: „Dem menschlichen Standort liegt zwar das Absolute gegenüber, der Weltgrund bildet das einzige Gegengewicht gegen die Exzentrizität. Ihre Wahrheit, ein existentielles Paradoxon, verlangt jedoch gerade darum und mit gleichem inneren Recht die Ausgliederung aus dieser Relation des vollkommenen Gleichgewichts und somit die Leugnung des Absoluten, die Auflösung der Welt.“98 So verlangt die Exzentrizität als die Nicht-Festgelegtheit einerseits nach Stabilisierung durch ein Absolutes, und sie bedroht andererseits dieses gleichzeitig durch den Zweifel. Solange er glaubt, so Plessner, „geht der Mensch ,immer nach Hause‘ […]. Der Geist aber weist Mensch und Dinge von sich und über sich hinaus.“99 Entscheidend ist also für unseren Zusammenhang, dass der Mensch, trotz der Schwebelage, in der er sich befindet, sein Leben führen muss. So kann man ihn folglich als „Zurechnungssubjekt seiner Welt, als die ,Stelle‘ des Hervorgangs

|| 94 „Die Menschen erreichen zu jeder Zeit, was sie wollen. Und indem sie es erreichen, ist schon der unsichtbare Mensch in ihnen über sie hinweggeschritten. Seine konstitutive Wurzellosigkeit bezeugt die Realität der Weltgeschichte.“ (Ebd., 341) 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Ebd., 346. 99 Ebd.

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aller überzeitlichen Systeme“ begreifen, „aus denen seine Existenz Sinn empfängt“100. Dabei ist sich der Mensch als schöpferische Kraft unergründlich, eine offene Frage. Denn nur so kann er den Horizont der Zukunft offen halten, nur so „spannt er sich in die von ihm errungene Geschichte ein, setzt sich frei und setzt sich aus in einem riskanten, unabsehbar-offenen Prozess“101. Im Wissen um das Risiko in diesem unabsehbar-offenen Prozess, nicht zuletzt in der Begegnung bzw. im „Miteinander und Gegeneinander“102, wo der Mensch exponiert und gefährdet ist und seine Situation „den Charakter der Gewagtheit und Bedrohtheit“103 trägt, zieht Plessner politisch-praktische Folgerungen für die menschliche Lebenssituation.

3 Das politische Moment der Macht in der Freund-Feind-Relation Wie schon angedeutet, impliziert die philosophische Anthropologie für Plessner als „Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“ immer eine politische Dimension bzw. eine „politische Anthropologie“. Dabei beschränkt er das Politische aber nicht auf die spezifische Sphäre der Politik im klassischen Sinne, sondern er versucht, das Problem der Macht und der Politik bis in die feinsten Mikroverästelungen des Vergesellschaftungsprozesses zu berücksichtigen. Für ihn gibt es nämlich „Politik zwischen Mann und Frau, Herrschaft und Dienstboten, Lehrer und Schüler, Arzt und Patient, Künstler und Auftraggeber und welche privaten Beziehungen wir wollen“104. So meint Plessner mit Macht primär nicht die politische Macht, sondern die menschliche Macht, und er versteht Politik als die „selbstmächtige Gestaltung und Behauptung menschlicher Macht“105, nicht als „eine letzte, peripherste Anwendung philosophischer und anthropologischer

|| 100 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 148. 101 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 130. 102 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 196. 103 Ebd., 198. 104 Ebd., 194. 105 Ebd., 218.

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Erkenntnisse“106. Entscheidend ist also für Plessner, dass „ein Fundament für die Betrachtung politischer Dinge“107 gefunden und nicht die Entwicklung einer politischen Anthropologie im Sinne politischer Erkenntnisse vorgelegt wird, auch wenn Politik nicht nur „der Kampf um Macht in den zwischenmenschlichen Beziehungen des Einzelnen“, sondern auch „der Gruppen und Verbände, der Völker und Staaten“108 bedeutet. Dieses Fundament sieht er im Prinzip der Unergründlichkeit des Menschen und der Welt. Denn „Philosophie, Anthropologie, Politik gehören […] in einem […] zentralen Sinne zusammen. Sie schöpfen ihre Möglichkeiten aus derselben Quelle des Prinzips der Unergründlichkeit des Lebens und der Welt und jede sucht in selbständiger Weise dem offenen Mächtigkeitsgrunde, aus dem sie sich ermächtigt weiß, das an Möglichkeit zu entnehmen, was durch die Überlieferung, in die sie sich mit dem Prinzip eingliedert und zu deren Übernahme sie sich damit bereit gefunden hat, jeweils vorgezeichnet ist.“109 Dabei greift Plessner auf Carl Schmitts Begriff des Politischen, nicht zuletzt auf dessen Konzept der „Freund-Feind-Relation“110 zurück. Diese wendet er auf die Zweideutigkeit des Menschen an, die sich wiederum aus der Nicht-Festgelegtheit bzw. Unbestimmtheit des Menschseins ergibt.111 Der Ausgangspunkt seiner Betrachtungen besteht darin, „die Frage zu lösen, ob die politische Sphäre als solche, die mit der urwüchsigen Lebensbeziehung von Freund und Feind gegeben ist […], zur Bestimmung des Menschen oder nur zu seiner zufälligen, seinem Wesen äußerlichen physischen Daseinslage gehört; ob Politik nur der Ausdruck seiner Unvollkommenheit ist, deren Überwindung, wenn sie auch vielleicht nie faktisch gelingen wird, durch die Ideale einer wahren Humanität, einer ihn zu seinem eigentlichen Wesen entbindenden moralischen Erziehung gefordert ist; ob sie nur die Nachteile seiner Existenz bedeutet, der er als endliches Wesen verfallen, aber eben nur verfallen ist.“112 Mit dem „Prinzip der Unergründlichkeit“ treten dabei für Plessner „die ersten Umrisse der menschlichen Lebenssituation ins Licht“113. Für

|| 106 Ebd., 219. 107 Ebd., 142. 108 Ebd., 139. 109 Ebd., 202; vgl. auch 218 u. 220. 110 Ebd., 143. 111 Vgl. T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 164ff. 112 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 143. 113 Ebd., 191.

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ihn kann der Mensch nämlich in den zwischenmenschlichen Verhältnissen „von Natur“, d.h. „aus seinem Wesen kein klares Verhältnis zu seinem Mitmenschen finden. Er muß klare Verhältnisse schaffen. Ohne willkürliche Festlegung einer Ordnung, ohne Vergewaltigung des Lebens führt er kein Leben.“114 So wird „die Freund-Feind-Relation […] als zur Wesensverfassung des Menschen gehörig begriffen, und zwar gerade dadurch, daß eine konkrete Wesensbestimmung von ihm abgehalten, er als offene Frage oder Macht behandelt wird“115. Um die Freund-Feind-Relation als Wesensmerkmal des Menschen zu erklären, greift Plessner auf seinen Begriff der Mitwelt116 zurück, wobei sich der Mensch „nicht nur in seinem Hier, sondern auch im Dort des Anderen“117 sieht. Dabei ist „das Fremde […] das Eigene, Vertraute und Heimliche im Anderen und darum […] das Unheimliche“118. So stellt die Fremdheit für den Menschen eine Herausforderung für das Selbstverständnis der eigenen Existenz dar.119 „Mensch-Sein ist das Andere seiner selbst Sein. Erst seine Durchsichtigkeit in ein anderes Reich bezeugt ihn als offene Unergründlichkeit.“120 Zutreffend schreibt Thomas Bek hierzu: „Als mitweltliches Wesen, welches sich erst mit und in anderen findet, ist

|| 114 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 344. 115 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 192. Plessner fährt fort: „In seiner Unbestimmtheit zu sich gestaltet sich ihm der merkwürdige Horizont, innerhalb dessen ihm alles bekannt, vertraut und natürlich, seinem Wesen gemäß und notwendig, außerhalb dessen ihm alles unbekannt, fremdartig und unnatürlich, seinem Wesen widrig und unverständlich erscheint. Wo diese Horizontlinie läuft, kann er nicht vorausbestimmen und liegt nicht eher fest, als bis es durch ihn festgelegt wird. Die Festlegung durch ihn trägt jedoch (wiederum notwendig nach dem Prinzip der offenen Immanenz in der ,natürlichen‘ Daseinslage zwischen seiner Vergangenheit und seiner Zukunft) den Charakter eines Festhaltens an einer schon getroffenen Festlegung oder eines Revoltierens gegen sie, also geschichtlich relevanten Charakter.“ (Ebd.) 116 „Mitwelt ist die vom Menschen als Sphäre anderer Menschen erfaßte Form der eigenen Position.“ (H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 302) 117 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 193. Plessner fährt fort: „Die Sphäre der Vertrautheit ist also nicht von ,Natur‘ begrenzt und erstreckt sich (gleichsam außergeschichtlich) bis zu einer gewissen Grenze, sondern sie ist offen und erschließt ihm [sc. dem Menschen] dadurch die Unheimlichkeit des Anderen in der unbegreiflichen Verschränkung des Eigenen mit dem Anderen.“ (Ebd.) 118 Ebd. 119 Vgl. ebd. 120 Ebd., 225.

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er in die Öffentlichkeit gestellt.“121 Dabei kann Fremdheit als mögliche Bereicherung sowie als neutrales Anderssein oder aber auch als Bedrohung erlebt werden. Denn „das Unheimliche ist als solches nicht das Feindliche schlechthin. Es ist nur die Möglichkeit für das Feindliche oder die Spannung, aus der der Mensch unter immer anderen Formen in die Feindseligkeit gerät“122. Es gibt also keine Notwendigkeit, dass die Vertraut-fremd-Relation ins Bedrohliche bzw. zu einer Freund-Feind-Relation gesteigert wird. „Feind wird dem Menschen, was seinen Interessen abträglich ist.“123 In diesem Zusammenhang muss der Mensch sich selbst behaupten und seine Macht sichern bzw. mehren. Erweist er sich also in der Unbestimmtheitsrelation zu sich selbst als Macht, so zeigt er sich in der Freund-Feind-Relation immer als eine errungene Macht, und als solche ist er um die „Sicherung und Mehrung der eigenen Macht“ bedacht. „Der Mensch – in dieser Allgemeinheit auf das Menschliche hin gewagt, und ein Wagnis bleibt jede ihn in seinem formalen Charakter bestimmende Aussage – steht als Macht notwendig im Kampf um sie, d. h. in dem Gegensatz von Vertrautheit und Fremdheit, von Freund und Feind.“124 Als ein ins Nichts gestelltes und somit zweideutiges und erst im Bereich des Anderen bzw. in der Mitwelt Halt findendes Wesen versteht sich der Mensch nach Plessner als Macht auf der Basis einer Ohnmacht. „Macht ist erst Macht auf dem Hintergrunde von Ohnmacht; selbst Sein ist erst SelbstSein auf dem Grunde eines Nichtselbstseins.“125 Allerdings lehnt Plessner dabei jede ontologische Deutung ab, im Gegensatz zu Denkern wie Heidegger, Sartre oder Tillich,126 bei denen das Nichtsein in einem dialektischen Verhältnis zum Sein steht. „Ohne Nichtsein als Element des Seins wäre das Sein tot“127, schreibt Tillich. Er fährt fort: „Durch das Nichtsein, das es in sich birgt, wird das Sein lebendig, sonst wäre es verschlossen, es würde nicht irgend etwas sein. Das Nichtsein treibt das Sein aus sich heraus. Das Sein ohne Nichtsein wäre leere Unendlichkeit des Möglichen, nichts weiter. Das Nichtsein schafft das Endliche und

|| 121 T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 164. 122 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 195. 123 Ebd., 195. 124 Ebd., 191. 125 Ebd., 225. 126 Vgl. GW IX 209. 127 Ebd.

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darum das Wirkliche.“128 Für Plessner aber, für den Macht erst auf der Basis der Ohnmacht Macht ist, darf man „dieser Einsicht nicht die Form einer Fundierung geben, als ob das Ohnmächtige das Mächtige trüge oder gar aus sich hervorgehen ließe; dann wäre ja das Prinzip der Unentscheidbarkeit preisgegeben und ein Primat der (ontologischen) Philosophie anerkannt. Und schließlich, was ebenso auf den Primat einer Philosophie hinausliefe, Macht und Ohnmacht, Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit stehen nicht im dialektischen Verhältnis zueinander.“129 Aus der Konstellation, dass Macht und damit die Möglichkeit der „Freund-FeindRelation“ grundlegend mit personaler Vergesellschaftung eingeht, ergibt sich für Plessner die Notwendigkeit der Politik. „Jede wie immer gestaltete Art von Gesellung und Vergemeinschaftung zu Zwecken des Wohnens, Wirtschaftens, Liebens, der religiösen Betätigung, der Nachkommenschaft ist durch diese Freund-Feind-Relation bestimmt. Ein vertrauter Kreis setzt sich gegen eine unvertraute Fremde ab.“130 Wie schon darauf hingewiesen wurde, bedeutet die Freund-Feind-Relation nicht unbedingt eine spezifisch politische Relation, da sie für Plessner alle Verhältnisse des Menschen durchdringt. „Aber in ihr wurzelt als einer Konstante der menschlichen Situation das Politische in seiner expliziten Form eines zwischenmenschlichen Verhaltens, das auf Sicherung und Mehrung der eigenen Macht durch Einengung bzw. Vernichtung des fremden Machtbereichs gerichtet ist und wiederum auch in dieser expliziten Form, jedes Lebensgebiet in seinen Dienst stellen und ebenso von jedem Lebensgebiet seinen eigenen dienstbar gemacht werden kann.“131 Aus der schicksalsmäßigen „Notwendigkeit des Menschen, Vertrautheit und Fremdheit, Freundschaft und Feindschaft nicht überwinden zu können“132 aufgrund der Unbestimmtheit der menschlichen Lebenssituation, geht für Plessner die Notwendigkeit der Stiftung einer gerechten Ordnung hervor.133 So sieht er in jeder Satzung oder in den Machtorganisationen wie z.B. in einem Staat einen Ausgleichsversuch der wesenhaften Inkongruenz der menschlichen Lebenssituation. Das Rechte sei „ein Grundcharakter der menschlichen Situation, insofern alles an ihr auf Richtigkeit, Gerechtheit und Gerechtigkeit hin angesprochen werden kann“134. Die Betrachtung des Menschen als Macht bzw.

|| 128 Ebd. 129 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 225. 130 Ebd., 192. 131 Ebd., 194. 132 Ebd., 195. 133 Vgl. ebd., 199. 134 Ebd.

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offene Frage nach dem Prinzip der Unergründlichkeit oder offenen Immanenz ist somit für Plessner die einzige Garantie einer „gemeinsamen Basis der Menschlichkeit“135, auf der sich verschiedenste künstlich-gesellschaftliche Formen, die sich möglicherweise hinsichtlich ihrer sozialen Werte, ihrer Kulturbildungen und Naturen auf grundlegende Weise unterscheiden und einander als unverträglich erscheinen, begegnen können. Als ein unergründliches Wesen fasst sich der Mensch als Macht. Als mitweltliches Wesen, das sich seine Macht immer wieder neu in Auseinandersetzung mit Anderen erringen muss, weil er jedem seiner Mitmenschen begegnet als dem, „der Man selber (aber doch als ein Anderer) ist“136, weiß er sich verschränkt bzw. begrenzt und steht in einer ambivalenten Daseinslage. Diese Verschränkung macht für Plessner die menschliche Daseinslage erst zur „Situation“137, die den Charakter der „Gewagtheit und Bedrohtheit“ hat, wo jede Sicherheit in einer Unsicherheit errungen ist und neue Unsicherheit erzeugt.138 „In der Situation ist der Mensch auf ihre Erledigung angewiesen“139 und kann ihr somit nicht entkommen. Er ist der Situation ausgesetzt und muss sie bewältigen bzw. führen.140 Exponiert ist der Mensch dabei im „Miteinander und Gegeneinander“ der Situation, die von ihm Kampf und Entscheidungen verlangt,141 d.h. Verantwortung142 und somit die Möglichkeit der Schuld.143 Ein Vergleich mit Jaspers liegt damit nahe, dessen Machtverständnis sich aus seinem Begriff der Grenzsituationen nicht zuletzt von Kampf und Schuld verstehen lässt.144 In der Situation exponiert, fasst sich der Mensch nämlich sowohl bei Plessner als auch bei Jaspers als „Können“ bzw. als „Seinkönnen“145 auf. Allerdings erweist sich der Mensch als Können bei Plessner nicht außergeschichtlich,

|| 135 Ebd., 195. 136 Ebd., 196. 137 Ebd. 138 Vgl. ebd., 198. 139 Ebd., 196. 140 Vgl. T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 171. 141 Vgl. H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 196. 142 Mit dem Begriff der Entscheidung wird das Moment der Verantwortung zum Ausdruck gebracht (vgl. ebd., 154). 143 „Verantwortung heißt die Bereitschaft, die Schuld auf sich zu nehmen.“ (Ph II 248) 144 Vgl. W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 131ff. 145 Vgl. K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 57 u. 99.

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d.h. weder metaphysisch noch naturalistisch fixiert, sondern nur im Sinne der Unbestimmtheit und nur durch sich bestimmt und in seine eigene Entscheidung und Verantwortung gegeben,146 während sich der Mensch bei Jaspers als Seinkönnen, d.h. als mögliche Existenz in den Grenzsituationen immer schon auf die Transzendenz verwiesen weiß.147

|| 146 Vgl. H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 196; vgl. auch T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 165ff. 147 Vgl. Ph II 45 u. 265.

Viertes Kapitel Karl Jaspers oder: Macht als existenzielle Selbstverwirklichung Die Bereiche, zu denen der deutsche Psychiater, Psychologe und Philosoph Karl Theodor Jaspers (1883-1969) Wesentliches beigetragen hat, sind bekanntlich vielfältig und weit gespannt. Sei es in der Psychiatrie und der Psychologie, der Wissenschaft- und Erkenntnistheorie, der Lebens- und Existenzphilosophie oder der Vernunftphilosophie, über die Geschichts-, Moral- und Erziehungsphilosophie, die politische Philosophie bis hin zur Religionsphilosophie und Metaphysik, überall wirkt sein Denken nach.1 Zentriert sind „diese Anläufe alle auf die eine Frage: Was ist Philosophie?“2 Dabei sind für Jaspers die eigentlichen Gegenstände der Philosophie Existenz bzw. Freiheit und Transzendenz bzw. Gott.3 Im Zentrum seiner Überlegungen zur Existenz steht ein Begriff, dessen entscheidende Rolle in Jaspers’ Denken nicht geleugnet werden kann – und der dennoch bisher so gut wie unbeachtet geblieben ist; es handelt sich um den Begriff der Macht. In der modernen Machtdebatte fällt der Name Karl Jaspers nämlich zumeist nicht. Auch in der Jaspers-Forschung sowie in der allgemeinen philosophischen Diskussion finden Jaspers’ wichtige philosophische Ausführungen zum Machtthema kaum Anerkennung.4 Und dennoch verdanken wir dem Heidelber-

|| 1 Vgl. K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 106f. 2 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 8. 3 Vgl. ebd., 9. Bereits Jaspers’ Schrift „Psychologie der Weltanschauungen“ aus dem Jahre 1919, wo er „unter dem Etikett einer verstehenden Psychologie“ wichtige Themen seiner späteren Existenzphilosophie vorwegnimmt, „so vor allem die Grenzsituationen und die TranszendenzDimension der menschlichen Existenz“ (K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 104), kann als ein Übergang von der Psychologie zur Philosophie und als erstes Werk der modernen Existenzphilosophie verstanden werden. Als Karl Jaspers seine existenzphilosophische Schrift „Philosophie“ in drei Bänden (Bd. I: Philosophische Weltorientierung, Bd. II: Existenzerhellung, Bd. III: Metaphysik) 1932 veröffentlichte, wurde sein „Ruf begründet, neben Heidegger einer der beiden großen deutschen Existenzphilosophen zu sein“ (ebd.). 4 Wegweisend für den philosophischen Aspekt der Macht im Denken von Karl Jaspers ist der Beitrag von Werner Schüßler mit dem Titel „Power and the Human Condition: PhilosophicoTheological Reflections on the Nature of Power According to Tillich, Jaspers, and Rahner“, den https://doi.org/10.1515/9783110676754-005

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ger Philosophen, den das Erlebnis des Nationalsozialismus zu öffentlichen Stellungnahmen über die politische Lage seiner Zeit veranlasste,5 wichtige Anregungen über den Begriff der Macht. Die Auseinandersetzung mit Jaspers’ Denken bietet eine Chance, die Macht ihrem Wesen nach zu begreifen; und hier ist besonders an die philosophische Dimension des Machtbegriffs zu denken, wie er sie im Rahmen seiner sog. Grenzsituationen entwickelt hat. Wenn Jaspers vom Menschen als „möglicher Existenz“6 oder vom Existieren als „Aufschwung des Seins in mir“7 spricht, vom „Sprung“8 in die Existenz angesichts der Grenzsituationen, vom „Lebenswillen“9 angesichts der Grenzsituation des Todes oder vom „Willen zur Überwindung“10 des Leidens, von Schuld, die aus dem „Handeln“11 oder „Nichthandeln“12 resultiert, und die wiederum mit dem Begriff der „Verantwortung“13 verbunden ist, und vor allem von der Grenzsituation des „Kampfes“14, dann wird jedem aufmerksamen Leser klar, dass die Philosophie der Macht

|| er 2008 an der „Saint Paul School of Theology“ in Kansas City gehalten hat und dessen überarbeitete Fassung im Internationalen Jahrbuch für die Tillich-Forschung erschienen ist. (Vgl. ders., Power and the Human Condition: Philosophico-Theological Reflections on the Nature of Power According to Tillich, Jaspers, and Rahner, in: C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm [Hg.], Religion und Politik [= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 4], Berlin / Wien 2009, 111– 124; vgl. auch ders., Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 131–138) 5 Seine erste politische Schrift veröffentlicht Jaspers 1946 unter dem Titel „Die Schuldfrage“. Darin befasst er sich mit der Verantwortung Deutschlands sowie dem Schuldanteil einzelner Personen am Regime des Nationalsozialismus und bekämpft eine diskreditierende Kollektivschuldthese, durch die „alles stufenlos auf eine einzige Ebene gezogen wird, um es im großen Zufassen in der Weise eines schlechten Richters zu beurteilen“ (K. Jaspers, Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands, München 1987, 19). 1949 erscheint dann sein geschichtsphilosophisches Buch „Vom Ursprung und Ziel der Geschichte“, wo er unter anderem das Verhältnis zwischen Macht und politischer Freiheit diskutiert (vgl. UZG 149ff.). Sein wichtigstes politisches Werk – und hierzu ist der Untertitel „Politisches Bewußtsein in unserer Zeit“ von Relevanz – ist die Schrift „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“ von 1958, wo er sich mit dem Menschenbild im Atomzeitalter befasst. Entscheidend für unseren Zusammenhang sind die bemerkenswerten Ausführungen über die „politische Macht der sittlichen Idee“ (AZM 49f.), die „Gewalt als Grenzsituation“ (AZM 57ff.) sowie die Situation der Gewalt im politischen und im physischen Kampf (AZM 74f). 6 Ph II 204f.; 246f. 7 Ph II 204. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ph II 230. 11 Ph II 246. 12 Ph II 247. 13 Ebd. 14 Ph II 233ff.

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dabei eine entscheidende Rolle spielt. So lässt sich die Macht als Verwirklichung der menschlichen Existenz im Durchstehen von Grenzsituationen bzw. in der existenziellen Kommunikation begreifen. Davon überzeugt, dass Philosophie und Politik sich treffen sollten,15 dass Gewalt strukturell zur Macht gehört, aber immer auch zerstörerisch bzw. böse sein kann,16 und dass das Zusammenwirken Ordnung braucht, fragt sich Jaspers, wie die Gewalt an ihre rechte Stelle gebracht wird und wie sie ein Moment der Ordnung wird bis zu dem Punkt, wo sie fast nicht mehr gebraucht wird.17 In diesem Sinne befasst sich Jaspers mit dem Strukturverhältnis zwischen Macht und Gewalt nicht zuletzt angesichts der Polarität von existenzieller und politischer Freiheit. Entscheidend ist für unseren Zusammenhang, d.h. für die philosophische Wesensbestimmung der Macht, auch Jaspers’ Rezeption des „Willens zur Macht“, anhand dessen Nietzsche ihm zufolge versucht, das unergründliche Sein zu erhellen. Für Jaspers aber entzieht sich die Transzendenz, die mit dem Machtwillen nichts zu tun hat,18 dieser seinsmetaphysischen Auslegung.

1 Macht als Verwirklichung der menschlichen Existenz im Durchstehen von Grenzsituationen Bekanntlich spielt der Begriff der „Grenzsituation“ eine entscheidende Rolle im existenzphilosophischen Denken von Karl Jaspers. Bereits in seiner „Psychologie der Weltanschauungen“ von 1919 bilden die einzelnen Grenzsituationen die Grundlage für das Verständnis und die Abstufung der Geistestypen.19 Im zweiten Band seines dreibändigen frühen Hauptwerks „Philosophie“ (1932) spielen Grenzsituationen die Schlüsselrolle zur philosophischen Existenzerhellung.20 In seiner „Einführung in die Philosophie“ von 1949 gilt dann für Jaspers das Bewusstwerden der Grenzsituation neben dem Staunen und dem Zweifel als einer der Ursprünge der Philosophie.21 Die Bedeutung der „Grenzsituationen“ im

|| 15 Vgl. AZM 7. 16 Vgl. UZG 149; Ph II 242. 17 Vgl. UZG 149f.; Ph II 242. 18 Vgl. K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 317. 19 Vgl. PsW 229–280. 20 Vgl. Ph II 201–254. 21 Vgl. K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 18.

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Gesamtwerk Karl Jaspers’ ist schon viel rezipiert und unterschiedlich diskutiert geworden.22 Es soll an dieser Stelle genügen, das Konzept der Grenzsituationen so weit zu erörtern, wie es für unseren Zusammenhang von Relevanz erscheint.

1.1 Die Seinsweisen der menschlichen Existenz Wie schon gesagt, ist die Grundfrage des Denkens von Jaspers die Frage nach dem Wesen der Philosophie. Da aber Philosophie eine menschliche Angelegenheit ist, steht auch die Frage nach dem Wesen des Menschen im Zentrum seiner Überlegungen. Allerdings ist die „Frage nach dem Menschen […] letztlich eingebettet in die Frage: Was ist Philosophie?“23 So ist es an dieser Stelle sinnvoll, das philosophische Grundwissen von Jaspers kurz zu erörtern, um von hier aus seine Konzeption der menschlichen Existenz als Macht herauszustellen. Bei seinem philosophischen Grundwissen übernimmt Jaspers Denkmotive sowohl „aus der Tradition der spekulativen Seinsmetaphysik (Platon, Plotin, Cusanus, Schelling und Hegel), als auch aus der Lebensphilosophie (Nietzsche) und dem Existenzdenken des 19. Jahrhunderts (Kierkegaard)“24. Wenn die Grundfrage des Denkens von Jaspers die Frage nach dem „Was“ der Philosophie ist und wenn Philosophie mit der Frage nach dem „Was“ des eigentlichen Seins beginnt,25 so wird deutlich, dass für ihn die „Periechontologie“26, die Lehre des „Um-

|| 22 Vgl. hierzu das 4. Kapitel („Der Ursprung der Philosophie: Die Grenzsituationen“) in: W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 51–59; E. Latzel, Die Erhellung der Grenzsituationen, in: P. A Schilpp (Hg.), Karl Jaspers, Stuttgart 1957, 164–192; N. Motroschilowa, Die neue Aktualität von Karl Jaspers’ Begriffen „Grenzsituation“ und „philosophischer Glaube“, in: K. Salamun (Hg.), Karl Jaspers. Zur Aktualität seines Denkens, München 1991, 33–45; G. Marcel, Situation fondamentale et situations limites chez Karl Jaspers. Du refus à l’invocation, in: Recherches philosophiques 1932/33 (1940), 284–326. Wiederabgedruckt nach einer neuen Übersetzung von Hans Saner unter dem Titel „Grundsituation und Grenzsituationen bei Karl Jaspers“, in: Ders. (Hg.), Karl Jaspers in der Diskussion, München 1973, 155–180. 23 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 8. 24 K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 106. 25 Vgl. K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 24. 26 Damit ist die „Lehre vom Umgreifenden“ gemeint, die Jaspers zum ersten Mal in seinen Vorlesungen „Vernunft und Existenz“ von 1935 (vgl. ders., Schriften zur Existenzphilosophie, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. I/8, hg. v. D. Kaegi, Basel 2018, 1–98, hier 29–46) und „Existenzphilosophie“ von 1938 (vgl. ebd., 99–160, hier 111–118) entworfen (vgl. H. Saner, Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck bei Hamburg 1991, 82; W. Schüßler, Jaspers

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greifenden“, die Stelle der vormaligen Ontologie einnimmt. Damit ist der „Sinn eigentlich philosophischen Denkens“27 zum Ausdruck gebracht. Mit der Periechontologie bzw. der „Lehre des Umgreifenden“ versucht Jaspers nämlich, die Frage: Was ist das Sein? zu beantworten. Wenn er vom „Umgreifenden“ spricht, geht es ihm um das, „was alles zusammenhält, allem zugrunde liegt, aus dem alles, was ist, hervorgeht“28. Es geht um das eigentliche Sein.29 Und als solches kann das „Umgreifende“ nicht Gegenstand des „Wissens“ sein.30 Denn das, „was wir denken, von dem wir sprechen, ist stets ein anderes als wir, ist das, worauf wir, die Subjekte, als auf ein Gegenüberstehendes, die Objekte, gerichtet sind“31. So tritt für Jaspers das, „was mir Gegenstand wird, […] aus dem Umgreifenden an mich heran, und ich als Subjekt aus ihm heraus. Der Gegenstand ist ein bestimmtes Sein für das Ich. Das Umgreifende bleibt für mein Bewußtsein dunkel.“32 Das heißt, das Umgreifende kann Jaspers zufolge nicht erhellt, sondern nur berührt werden.33 Und dies geschieht durch eine Gedankenbewegung, die „eine Verwandlung unseres Seinsbewußtseins bewirken möchte“34, die die unendlichen Möglichkeiten der Erscheinung des Seienden für uns öffnet und „in uns die Fähigkeit erweckt, in Erscheinungen zu hören, was eigentlich ist“35. Diese Gedankenbewegung, die „über alles Seiende hinaus auf das Sein“36 zielt, nennt Karl Jaspers „philosophische Grundoperation“37. Dabei wird das Seiende „transparent“ auf das Umgreifende hin, indem es in ihm als Endlichem eine Weise der Erscheinung bekommt.38 Die || zur Einführung, Hamburg 1995, 101) und als Ausgangspunkt für die Klärung seines Wahrheitsbegriffs systematisch und ausführlich in seiner umfangreichen Schrift „Von der Wahrheit“ (1947) entwickelt hat (vgl. VdW 45–449). Seine „Lehre des Umgreifenden“ fasst Jaspers unter anderem in seiner „Einführung in die Philosophie“ von 1950 (vgl. ders., Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 24ff.), sowie in seiner Schrift „Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung“ von 1962 (vgl. PGO 111–122) zusammen. 27 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 24. 28 Ebd. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. ebd., 25. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Vgl. W. Schüßler, Karl Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 108. 34 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 25. 35 Ebd., 26. 36 H. Saner, Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck bei Hamburg 1991, 83. 37 Vgl. K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 26; VdW 37. 38 Vgl. H. Saner, Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck bei Hamburg 1991, 87.

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„philosophische Grundoperation“ verdeutlicht Jaspers am Beispiel der Mystik. Hier vermag „der Mensch […] die Subjekt-Objekt-Spaltung zu überschreiten zu einem völligen Einswerden von Subjekt und Objekt, unter Verschwinden aller Gegenständlichkeit und unter Erlöschen des Ich“39. Jaspers betont: „Da öffnet sich das eigentliche Sein“40 und bleibt zugleich verborgen. Mit der philosophischen Grundoperation wird das Hindenken zu dem Umgreifenden zwar erhellt, aber nicht das Sein des Umgreifenden selbst. „Vom Umgreifenden philosophieren“, würde zwar bedeuten, „einzudringen in das Sein selbst“41. Jaspers hat sich aber die Schwierigkeit eines solchen Unternehmens bewusst gemacht, denn bei dem Umgreifenden handelt es sich um etwas, das nicht Gegenstand ist. So kann das Eindringen in das Sein selbst nur indirekt geschehen. Denn das „Umgreifende ist […] das, was sich immer nur ankündigt […], das aber nie Gegenstand und Horizont wird. Es ist das, was nicht selbst, sondern worin uns alles andere vorkommt. Es wird nur indirekt gegenwärtig, indem wir in ihm auf jeden Horizont zuschreiten und ihn überschreiten.“42 Da das Denken notwendig intentional bzw. gegenständlich ist,43 aber das Umgreifende an sich nicht fassen kann, müssen wir folglich „durch gegenständliches Denken die Zeiger auf das Ungegenständliche des Umgreifenden gewinnen“44. Diese Zeiger bezeichnet Jaspers als „Weisen des Umgreifenden“45. Es sind „Horizonte, in denen alles Seiende gegenständlich zur Erscheinung kommt und wo das nicht-rationale Innewerden des ungegenständlichen, eigentlichen Seins erfolgt“46. Dabei unterscheidet Jaspers eine subjektive47 und eine objektive48 Weise des Umgreifenden. Denn das Umgreifende ist für uns „entweder das Sein, das alles ist, in dem und durch

|| 39 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 28. 40 Ebd. In diesem Zusammenhang zitiert Jaspers Plotin, den er als den größten der mystischen Philosophen des Abendlandes bezeichnet: „Oft wenn ich aus dem Schlummer des Leibes zu mir selbst erwache, schaue ich eine wundersame Schönheit: ich glaube dann am festesten an meine Zugehörigkeit zu einer besseren und höheren Welt, wirke kräftig in mir das herrlichste Leben und bin mit der Gottheit eins geworden.“ (Ebd.; vgl. PsW 181) 41 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 27. 42 VdW 38; vgl. K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 27. 43 Vgl. PGO 124. 44 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 27. 45 Ebd. 46 K. Salamun, Karl Jaspers, Würzburg 2006, 71. 47 Vgl. VdW 53ff. 48 Vgl. VdW 83ff.

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das wir sind. Oder es ist das Sein, das wir selbst sind, und worin uns jede bestimmte Seinsweise, auch alles Weltsein, vorkommt“49. Das Sein, das wir sind, entfaltet Jaspers in vier verschiedenen menschlichen Verwirklichungsdimensionen als Dasein, Bewußtsein überhaupt, Geist und Existenz. Mit dem Umgreifenden, das das Sein selbst ist, meint Jaspers das Sein an sich, das als Welt und als Transzendenz gedacht wird.50 Ich will mich hier auf die vier subjektiven Seinsweisen beschränken. Die objektiven Grundweisen des Umgreifenden werde ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels erörtern. Dasein: „Philosophie“, schreibt Jaspers, „begann mit der Frage: Was ist“?51 In Bezug auf seine „Periechontologie“ verwandelt sich diese in eine neue Grundfrage: Wie erscheint mir bzw. wie zeigt sich mir das Sein?52 Denn „alles […], was für uns ist und was wir sind, kommt nur in diesen Weisen des Umgreifenden oder durch sie uns zur Erscheinung“53. Die erste Grunderfahrung, die der Mensch von der Erscheinung des Seins macht, insofern er sich seiner selbst in der Welt bewusst wird, ist die fundamentale Erfahrung seiner selbst als Dasein. Entscheidend ist für unseren Zusammenhang, dass Jaspers mit dem Begriff des Daseins die vitalen Bereiche unseres Lebens als Selbsterhaltung und Machtsteigerung meint.54 „In der Welt wollen wir unser Dasein

|| 49 VdW 47. 50 Vgl. K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 28; vgl. auch VdW 47ff. u. 83ff. Hier kommt ein neues Element hinzu und zwar die Vernunft als „Band aller Weisen des Umgreifenden in uns“ (VdW 113). 51 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 24. 52 Vgl. H. Saner, Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck bei Hamburg 1991, 84. 53 VdW 124. 54 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Begriff „Dasein“ bei Jaspers mehrdeutig ist. „Dasein ist mein Dasein“; ist „Leben in seiner Welt“, „Entstehen und Vergehen“, „Begehren (Trieb, Drang; Wille)“, „Unruhe des Kampfes (Wille zum Dasein, Wille zur Macht)“, „die umgreifende Wirklichkeit“ (VdW 54). Alle diese Bedeutungen, die „nur mangelhaft voneinander abgehoben“ werden können (vgl. R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie [= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII], München 2002, 166–195, hier 385) fasst Thurnher in drei verschiedenen Punkten zusammen: (1) Dasein als „das Vorkommen in der Welt überhaupt“; (2) als „die empirisch zugänglichen Momente des Menschseins (das empirische Ich)“ und (3) als „die vitale, trieb- und instinktbedingte Ebene des Menschseins.“ (Ebd.) Thurnher erklärt zutreffend: „Wo Dasein nicht nur der ,Existenz‘ gegenübergestellt, sondern auch von ,Bewußtsein überhaupt‘ und ,Geist‘ abgehoben wird, ist es in der letztgenannten Bedeutung gemeint.“ (Ebd.) Auch Kurt Salamun kennt drei Bedeutungen des Daseinsbegriffes bei Jaspers: (1) das Dasein als „Weltsein“; (2) das Dasein als subjektives Menschsein; (3) das Dasein als Bezeichnung einer der Seinsweisen bzw. Verwirklichungsdimensionen neben „Bewußtsein überhaupt“, „Geist“ und „Existenz“. (Vgl. ders., Existenzverwirklichung in der Kommunikation,

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erhalten, indem wir es erweitern.“55 Als „bloßes Dasein“ ist der Mensch für Jaspers also auf egoistische Genuss- und Machtinteressen orientiert. Da herrscht nur „der rücksichtslose vitale Daseinswille. Mit engem Gesichtsfeld, das aber grade sichtbar macht, was Macht, Geltung und Genuß in der Welt verschafft – will er nur sich.“56 Auf dieser Stufe spricht Jaspers von dem Dasein des Menschen als „einem bloßen Leben in der Welt“57. Bedenkt man, dass Jaspers die Frage nach dem Sein, genauer nach der Erscheinung des Seins beantworten will, dann ist hier die Nähe zum „Willen zur Macht“ bei Nietzsche offensichtlich. „Nietzsche nennt das“, schreibt Jaspers, „was eigentlich ist und was alles ist, zunächst Leben. Dann findet er, daß, wo Leben ist, stets auch Wille zur Macht ist.“58 Aber auf dieser Stufe geht es Jaspers um das Dasein als bloßes Leben in der Welt, das wesentlich auf die Erfüllung körperlich-vitaler Funktionen orientiert ist, aber aus dem der Mensch „zu einem Erkenntnisdasein“59 erwacht. Bewußtsein überhaupt: Der Mensch ist nicht nur empirisches Dasein, das ein nur zu dienlichen Zwecken orientiertes Leben führt, sondern er kann zu einem allgemeinen logischen Denken aufsteigen und wird deswegen von Jaspers in Anlehnung an Kant60 auch als „Bewußtsein überhaupt“61 bezeichnet. Die Menschen „erkennen“ und verwirklichen sich nämlich als Verstandeswesen. Als solche „stehen wir faßbaren Dingen gegenüber und haben von ihnen, sobald es gelingt, zwingend allgemeingültige Erkenntnis, je von Gegenständen“62. Mit Bewußtsein überhaupt ist der Verstand als Medium der Wissenschaft gemeint,63 durch den die Menschen etwas identisch konzipieren und es als allgemeingültig akzeptieren können. „Wir sind Bewußtsein überhaupt als das in allen eine und gleiche Bewußtsein, mit dem wir auf das gegenständlich gewordene Sein, auf identische Weise es meinend,

|| in: J. Speck [Hg.], Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart V, Göttingen 1982, 9–47, hier 17f.; vgl. auch ders., Karl Jaspers, München / Würzburg 2006, 55ff.; T. Räber, Das Dasein in der „Philosophie“ von Karl Jaspers. Eine Untersuchung im Hinblick auf die Einheit und Realität der Welt im existentiellen Denken, Bern 1955) 55 Ph II 204. 56 Ph III 108. 57 Ph I 72. 58 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 298. 59 Ph I 72. 60 Vgl. K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 108. 61 Vgl. VdW 64ff.; vgl. auch K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 27. 62 Ebd. 63 Vgl. W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 107.

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wahrnehmend, fühlend, gerichtet sind derart, daß uns in jedem seiner Akte ein Allgemeingültiges aufleuchtet.“64 Geist: Ist das Bewusstsein überhaupt als Medium der Wissenschaft zu verstehen, so der Geist als dasjenige der Kultur.65 Über die Grunderfahrung meiner selbst als „Verstandes-Ich“ hinaus erfahre ich nämlich auch, dass ich eine Phantasie besitze und zur „geistigen Aktivität“ fähig bin. Durch den Geist als Ursprung und zugleich Prozess seiner Aktivität vermag der Mensch, eine sinnerfühlte Welt zu verwirklichen.66 „Geist versteht sich und die Welt im gegenständlich gewordenen Werk: im Werk des Gedankens, der Kunst, der Dichtung; in Institutionen, Gesetzen und Verfassungen; in Berufen; in Sitten und Lebensordnungen.“67 Der Geist als Umgreifendes ist also die gestaltende bzw. „durchdringende Macht“68 in uns, „die durch Phantasie im Denken, Fühlen und Tun jeweils ein Ganzes: eine Sinntotalität, einen Ganzheitsentwurf, ein Werkganzes hervorbringt“69. Er ist „der endlos offene Raum der Ideen, dem sowohl meine geistige Aktivität wie das Werk entspringt“70. Insofern meine Phantasie wirkt, bin ich dieser Raum. Aber die „Welt in ihrer Realität ist unter Ideen nicht vollendet zu denken oder zu gestalten“71. Mit anderen Worten: Es ist dem Menschen auf den Stufen der immanenten Seinsweisen unmöglich, die Welt unter Ideen ganz zu erfahren und zu durchdringen. Existenz: Die bisher beschriebenen Seinsweisen des Menschen haben eines gemeinsam: Ohne dass sie selbst als Umgreifendes im Sinn der Gegenständlichkeit genommen werden können, entspringt ihnen eine fassbare Wirklichkeit, so dass der Mensch als „empirisch-rational erfahrbares Wesen“72 verstanden wird. Indem der Mensch sich aber unmittelbar in seiner Bestimmtheit als Dasein beschlossen weiß, erfährt er seine Endlichkeit73 und stößt somit an die Grenze seines Daseins. Dabei

|| 64 VdW 65. 65 „Si le Sujet vital est ancré dans la vie singulière et la conscience en général dans la rationalité universelle, l’esprit, lui, se situe dans la sphère de la culture“. (J. Hersch, Karl Jaspers, Lausanne 1979, 48) 66 Vgl. PGO 114. 67 VdW 76. 68 VdW 71. 69 H. Saner, Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck bei Hamburg 1991, 88. 70 Ebd., 89. 71 VdW 619. 72 K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 109. 73 Vgl. Ph II 2; vgl. auch R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII), München 2002, 166–195, hier 180.

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weist die Grenze über mein Dasein hinaus, was bedeutet, dass ich mehr als mein „Dasein“ bin. Im Dasein bin ich „mögliche Existenz“74. Auch im Prozess bzw. im Vollzug allgemeiner Erkenntnis auf der Stufe des Bewusstseins überhaupt bin ich „nicht als Selbstsein beteiligt, sondern nur als überindividuelles und beliebig austauschbares ,reines Bewußtsein‘ involviert“75. Das heißt, im „Ichbewußtsein als ,Bewußtsein überhaupt‘ finde ich mich noch nicht“76, wie Werner Schüßler es zutreffend zum Ausdruck bringt. Und der „Geist ist auch nicht in seinen möglichen Formen schließbar. Er ist getragen von Existenz, welche jede Weise seines Ganzwerdens wieder durchbricht“77. So spricht Jaspers von der „Unbefriedigung möglicher Existenz im Weltdasein“78 und macht „jeweils das Ungenügen deutlich, welches der Mensch empfindet, wenn er sich nur in den Dimensionen des bloßen Daseins, des Bewußtseins überhaupt und des Geistes verwirklichen will. Dieses Ungenügen, dieses Nicht-Erfülltsein ist in sich der Verweis auf eine tiefere und ursprünglichere Möglichkeit des Menschseins. Das Ungenügen offenbart die Möglichkeit der Existenz.“79 Jaspers bezeichnet den Menschen – „in bewusster Anlehnung an Kierkegaard“80 – als Existenz, und d.h. als ein „Selbstverhältnis“. Darunter versteht er „das eigentliche Selbstsein“, das durch eine freie und unbedingte Entscheidung von jedem Menschen verwirklicht werden muss.81 „Ich prüfe […], was ich eigentlich bin, und sehe, daß es noch an mir selbst liegt. Ich bin das Sein, das sich um sich bekümmert und im Sichverhalten noch entscheidet, was es ist.“82 Als solches ist

|| 74 Ph II 2. 75 R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII), München 2002, 166–195, hier 181. 76 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 72f. 77 Ph I 180. 78 Ph II 4. Dabei ist die Unbefriedigung nicht „das Unvermögen des Wissens, nicht die Leere am Ende aller meiner Leistung in der Welt, wo ich vor dem Abgrund des Nichts stehe, sondern sie wird als Unzufriedenheit zum Stachel meines Werdens“ (Ph II 6). 79 R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII), München 2002, 166–195, hier 182. 80 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 75. 81 Vgl. R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII), München 2002, 166–195, hier 183. 82 Ph II 35.

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Existenz-Werden nicht vorgegeben und hat somit einen freien appellierenden Charakter. Der Sprung von den immanenten Seinsweisen83 des Menschen bzw. des IchSeins in die Existenz vollzieht sich im Sich-zu-sich-selbst-Verhalten84 als Selbstwahl durch Freiheit.85 Mit dem Element der Freiheit, das Jaspers hier ins Spiel bringt, erweist sich das Selbstverhältnis als „Ursprung des Selbstseins“86. Denn der eigentliche „Ort der Freiheit“ ist erst dort, wo ich „ich selbst bin“87, und zwar nicht mehr in einem gegenständlichen, sondern „in dem ursprünglichen Sinn“88. An diesem Ort der Freiheit zeigt sich die Existenz als Seinkönnen bzw. als Macht. Bereits in der Gegenüberstellung von bloßem Dasein und Existenz erweist sich der Aufschwung in die Existenz als Machtgewinn des Selbstseins über das Dasein. Zurecht schreibt Thurnher: „Als Dasein hat der Mensch all sein Handeln und Entscheiden immer schon nach zweckhaften Gesichtspunkten ausgerichtet: Es soll letztlich der Daseinserhaltung und Daseinssicherung sowie der Daseinserweiterung und Machtsteigerung dienen. Der Mensch ist dadurch in seinen Lebensbezügen bedingt und unfrei. Existenz hingegen fordert ein Handeln in Unbedingtheit und Freiheit, das ausschließlich von der Verantwortung für das eigene Selbst geleitet ist.“89 Aufgrund des Freiheitsmoments kann der Mensch

|| 83 „In den Seinsweisen Welt, Dasein, Bewußtsein überhaupt und Geist sind uns Wirklichkeiten auf solche Art zugänglich, daß sie zugleich von einzelnen Wissenschaften zum Gegenstand gemacht und erforscht werden können. Wenngleich diese Wirklichkeiten als ,umgreifende‘ immer ungleich reicher und ursprünglicher sind als das in den Wissenschaften als Erscheinung Darstellbare, sind sie dennoch allgemeiner Erfahrung zugänglich und objektivierbar. Jaspers hebt sie daher als die immanenten Weisen des Umgreifenden von einer transobjektiven und transzendenten Dimension der Wirklichkeit ab. ,Existenz‘ und die nur in Augenblicken des existenziellen Aufschwungs ,fühlbar‘ werdende ,Transzendenz‘ liegen als transzendente Weisen des Umgreifenden jenseits der Sphäre des Objektivierbaren.“ (R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie [= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII], München 2002, 166–195, hier 182) 84 Vgl. Ph II 36. 85 Vgl. Ph II 75ff. 86 Ph II 36. 87 Ph II 166. 88 Ebd. Zurecht kann man also die ganze Philosophie von Jaspers als eine „Philosophie der Freiheit“ bezeichnen, obwohl seine „Ausführungen in der Philosophie zur Freiheitsproblematik insgesamt nur 25 Seiten betragen“. (W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 82; vgl. dazu Y. Örnek, Karl Jaspers. Philosophie der Freiheit, München 1986; R. Lengert [Hg.], Philosophie der Freiheit. Karl Jaspers 23. Februar 1883 – 26. Februar 1969, Oldenburg 1983) 89 R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII), München 2002, 166–195, hier 183.

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aber auch die Verwirklichung seiner selbst verfehlen. Er steht „ständig in der Wahl […], zu sein oder nicht zu sein“90. Er kann immer wieder ins bloße Dasein absinken und muss deswegen für das Existenzwerden ständig kämpfen. Denn das, was „ich eigentlich bin, wird nie mein Besitz, sondern bleibt mein Seinkönnen. Wüßte ich es, so wäre ich es nicht mehr, da ich meiner selbst im Zeitdasein nur als Aufgegebensein inne werde.“91 Existenziell werden hat also in gewisser Weise einen Versuchscharakter. Es ist immer ein Prozess und muss als solcher immer in jeweils existenziellen Lebensvollzügen erlebt werden. Zwei existenzielle „Augenblicke“ sind dabei für Jaspers entscheidend für das existenzielle Selbstwerden des Menschen: das Moment des Durchgehens von Grenzsituationen und das Moment der Kommunikation zwischen Existenzen.

1.2 Die existenzielle Verwirklichung in den Grenzsituationen 1.2.1 Die werdende Existenz und die Grenzsituationen Für Jaspers ist das menschliche Dasein situationsgebunden. „Wir sind immer in Situation“92, so dass wir niemals aus einer Situation heraustreten können, ohne in eine neue zu geraten.93 Dabei bedeutet Situation keine bloße Konstellation, sondern Sinnzusammenhang, der für das Menschsein des Einzelnen als Subjekt von Relevanz ist.94 Es sind raumzeitliche Zusammenhänge, in denen sich das Subjekt als menschliches Dasein notwendig und ständig befindet, wo es sich mit anderen Subjekten und deren Interessen, mit soziologischen Machtverhältnissen oder gelegentlich mit augenblicklichen Kombinationen auseinandersetzen

|| 90 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 83. 91 VdW 621; K. Jaspers, Existenzphilosophie, Berlin 1964, 31. 92 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 18. 93 Vgl. Ph II 203. 94 Zurecht fasst Jaspers die „Situationserhellung als Ausgang des Philosophierens“ (Ph I 4) und macht die Situationsgebundenheit des menschlichen Lebens zum gedanklichen Ausgangspunkt seiner dreibändigen „Philosophie“: „Wenn ich Fragen stelle wie diese: was ist das Sein? – warum ist etwas, warum ist nicht nichts? – wer bin ich? – was will ich eigentlich? – so bin ich mit solchen Fragen nie am Anfang. Ich stelle sie aus einer Situation heraus, in der ich mich, herkommend aus einer Vergangenheit, finde.“ (Ph I 1f.) Erst für und durch das Subjekt bekommt eine bloße Konstellation Sinn und wird somit zur Situation. (Vgl. G. Díaz Díaz, Begriff und Problem der Situation. Eine Untersuchung im Rahmen des Jaspers’schen Denkens, Freiburg 1961; Y. Örnek, Existentielle Freiheit. Ihre Bedeutung im philosophischen und politischen Werk von Karl Jaspers, Mainz 1983, 4–9)

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muss.95 Jaspers spricht von sinnbezogener „Wirklichkeit für ein an ihr als Dasein interessiertes Subjekt, dem sie Einschränkung oder Spielraum bedeutet“96. Er betont: „Situation heißt eine nicht nur naturgesetzliche, vielmehr eine sinnbezogene Wirklichkeit, die weder psychisch noch physisch, sondern beides zugleich als die konkrete Wirklichkeit ist, die für mein Dasein Vorteil oder Schaden, Chance oder Schranke bedeutet.“97 Ein weiteres Charakteristikum der Situationen ist ihre Wandelbarkeit. Das „In-Situation-Sein“ kann der Mensch zwar nicht aufheben, doch er vermag, aktiv dabei zu handeln, die Situation zu beeinflussen und sie zu verändern. „Situationen bestehen, indem sie sich wandeln. Ich muß Situationen zwar erleiden als Gegebenheit, doch nicht schlechthin; es bleibt in ihnen eine Möglichkeit der Verwandlung auch in dem Sinne, daß ich berechnend Situationen herbeiführen kann, um in ihnen dann als nunmehr gegebenen zu handeln.“98 Entscheidend ist dabei für mein Selbstsein, aus welcher der Seinsweisen heraus ich handle und in die Situation eintrete. Je nachdem, ob ich die Situation aus der Sicht des bloßen „Daseins“, d.h. ausschließlich in Bezug auf den eigenen Vorteil betrachte, indem ich versuche, die eigenen Trieb- und Instinktinteressen durchzusetzen; oder ob ich die Situation aus dem Blickwinkel des „Bewusstseins überhaupt“ als „Erkenntnisdaseins“ durchschaue, indem ich anhand meiner Verstandesfähigkeit versuche, die Situation zu deuten und an dem daraus erworbenen Wissen mein Handeln zu orientieren; oder ob ich als „Geist“ die Situation auf ihren Sinngehalt hin beurteile und versuche, sie im Hinblick auf die „Ideen“ zu verändern; oder ob ich in der Situation aus möglicher Existenz „selbst zu sein wage dadurch, daß ich ergreife und entscheide“99 – je nach der Seinsstufe also, aus welcher heraus ich die Situation beurteile, erhält diese für mich einen besonderen Sinngehalt.100 Aber es gibt Situationen, die dem Rahmen der immanenten Seinsweisen entgehen und sich nur der Seinsstufe der möglichen Existenz zuordnen lassen. Jaspers nennt sie Grenzsituationen. „Die Grenzsituation gehört zur Existenz, wie die Situationen zum immanent bleibenden Bewußtsein.“101

|| 95 Vgl. Ph II 202. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Ebd.; vgl. auch K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 18: „Die Situationen wandeln sich, Gelegenheiten treten auf. Wenn sie versäumt werden, kehren sie nicht wieder. Ich kann selber an der Veränderung der Situation arbeiten.“ 99 Ph I 3. 100 Vgl. T. Baars, Der Arzt-Philosoph: wissenschaftstheoretische und philosophische Implikationen eines ärztlichen Berufsethos nach Karl Jaspers, Berlin / Münster 2007, 34. 101 Ph II 204.

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Im Gegensatz zu den Situationen sind die Grenzsituationen unwandelbar und unüberschaubar. Den Grenzsituationen können wir nie entkommen. „Situationen wie die, daß ich immer in Situationen bin, daß ich nicht ohne Kampf und ohne Leid leben kann, daß ich unvermeidlich Schuld auf mich nehme, daß ich sterben muß, nenne ich Grenzsituationen. Sie wandeln sich nicht, sondern nur in ihrer Erscheinung; sie sind, auf unser Dasein bezogen, endgültig. Sie sind nicht überschaubar; in unserem Dasein sehen wir hinter ihnen nichts anderes mehr. Sie sind wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern. Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem Anderen erklären und ableiten zu können. Sie sind mit dem Dasein selbst.“102 Der Unterschied zwischen Situation und Grenzsituation liegt für Jaspers im Begriff der Grenze. Dabei bedeutet Grenze, dass ich als „Dasein“, „Bewußtsein überhaupt“ oder „Geist“ weit entfernt davon bin, den Situationen wissend Herr zu werden, in denen ich stets bin und auf die ich versuche, Einfluss zu nehmen.103 Als solche wird die Grenze als Scheitern von Wissen auch als Ohnmacht und „Fragwürdigkeit allen Daseins“104 erfahren. Sie ermöglicht aber zugleich den Aufstieg des Seins des Menschen zu sich selbst im Akt der Selbstverwirklichung. Denn Grenze enthält auch für den Menschen ein Jenseits der Grenze. „Grenze drückt aus: es gibt ein anderes, aber zugleich: dies andere ist nicht für das Bewusstsein im Dasein.“105 Dies Andere ist die „Unbedingtheit der Existenz“106. Jaspers erklärt dazu: „Sofern wir Bewußtsein überhaupt sind, denken wir das zwingend Richtige, sofern wir Dasein sind, das Fördernde und Bedrohende, sofern wir Geist sind, das Ganzheit Bewirkende. Dies alles geschieht durch uns doch keineswegs mit der Sicherheit eines Naturgeschehens. Vielmehr geraten wir zumeist in die Verworrenheit eines Durcheinanders dieser Weisen der Wahrheit derart, daß jedem Wahrheitssinn Klarheit und Konsequenz ausbleiben. Es bedarf eines neuen Ursprungs‚ damit wir jeden Wahrheitssinn mit Entschiedenheit und dann zugleich mit dem Grenzbewußtsein jedes Sinns von

|| 102 Ph II 203; vgl. auch K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 18: Es „gibt Situationen, die in ihrem Wesen bleiben, auch wenn ihre augenblickliche Erscheinung anders wird und ihre überwältigende Macht sich in Schleier hüllt: ich muß sterben, ich muß leiden, ich muß kämpfen, ich bin dem Zufall unterworfen, ich verstricke mich unausweichlich in Schuld. Diese Grundsituationen unseres Daseins nennen wir Grenzsituationen. Das heißt, es sind Situationen, über die wir nicht hinaus können, die wir nicht ändern können. Das Bewußtwerden dieser Grenzsituationen ist nach dem Staunen und dem Zweifel der tiefere Ursprung der Philosophie.“ 103 Vgl. Ph II 202. 104 PsW 256. 105 Ph II 203. 106 Ph I 56.

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Wahrheit ergreifen. In der Tat gelingt uns das nur in dem Maße, als wir wir selbst sind.“107 In den immanenten Verwirklichungsdimensionen unseres Menschseins als Dasein, Bewußtsein überhaupt und Geist schaffen wir also nicht, uns diesem „Ursprung“ zu nähern. Solche Annäherung, genauer der Prozess der Selbsterhellung bzw. der Selbstverwirklichung vollzieht sich in den Grenzsituationen durch den „Aufschwung des Seins in mir“108, den Jaspers als einen dreifachen Sprung darstellt.109 Im ersten Sprung macht sich der Mensch offen für die Grenzsituationen. Es ist der Sprung „vom Weltdasein angesichts der Fragwürdigkeit von allem zur substantiellen Einsamkeit des universal Wissenden“110, d.h. der Übergang vom „bloßen Dasein“ zum „Bewusstsein überhaupt“. Dies geschieht – in einem Akt der Selbstdistanzierung111 – durch den Eintritt „in die Einsamkeit des Möglichen, vor der alles Weltdasein verschwindet“112. Von hier aus wird das einsame Selbstsein des Menschen zum Wissen, durch das er sich für die Grenzsituationen öffnet.113 In dieser „einsamen Punktualität des Außerhalbgetretenseins“ entdeckt sich der Mensch

|| 107 VdW 618. 108 Ph II 204. 109 Jaspers spricht von drei aneinander gebundenen Sprüngen, die jeweils unseren Seinsweisen als „Dasein“, „Bewußtsein überhaupt“ und „möglicher Existenz“ entsprechen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine „aufsteigende Reihe in nur einer Richtung, sondern sie treiben sich wechselweise hervor“ (Ph II 207). Von Relevanz ist die Nähe, die Jaspers in diesem Zusammenhang zwischen Existenz als Ur-sprung und dem Sprung als die Aktivität, durch die ich zu meinem Ursprung bzw. zu mir selbst komme, sieht. Existenz ist nämlich für Jaspers der „Ursprung, aus dem ich denke und handle“ (Ph I 15). Als solche ist Existenz nicht das Ziel, „sondern Ursprung des Philosophierens, das in ihr sich ergreift“ (Ph II 5). Zu diesem Ursprung gelange ich durch den existenziellen Sprung: „Ist also Existenz unzugänglich für den, der nach ihr im Medium des nur objektiven Verstandes fragt, bleibt sie dem dauernden Zweifel preisgegeben; kann aber kein Beweis mich zur Anerkennung des Seins der Existenz zwingen, so bin ich denkend doch noch nicht am Ende: über die Grenzen des gegenständlich Wißbaren hinaus gelange ich durch einen nicht mehr rational einsichtig zu machenden Sprung. Philosophieren beginnt und endet an einem Punkte, der durch diesen Sprung gewonnen ist.“ (Ebd.) Letztendlich bedeutet Existenz als Ursprung für Jaspers das „Sein als Freiheit, zu dem ich transzendiere, wenn ich im Nichtwissen philosophierend zu mir komme. Die Hilflosigkeit des Philosophierens im Zweifel am Ursprung ist der Ausdruck der Hilflosigkeit meines Selbstseins, die Wirklichkeit des Philosophierens der beginnende Aufschwung dieses Selbstseins.“ (Ebd.) 110 Ph II 207. 111 „In einer erstaunlichen, wenn auch leeren Unabhängigkeit setze ich mich selbst auch meinem eigenen Dasein wie einem fremden gegenüber.“ (Ph II 204) 112 Ph II 6; vgl. auch 205. 113 Vgl. Ph II 205.

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als „mögliche Existenz“ und macht „den zweiten Sprung zur Erhellung“114. Im zweiten Sprung vollzieht der Mensch nämlich den Übergang vom „Bewusstsein überhaupt“ zum Bewusstsein möglicher Existenz, indem er sich die Grenzsituationen als Möglichkeiten bewusst macht.115 Es ist der Sprung „vom Betrachten der Dinge angesichts meiner notwendigen Teilnahme an der Welt des Scheiterns zum Erhellen möglicher Existenz“116. Auffällig ist, dass Jaspers keinen Sprung vom „Bewußtsein überhaupt“ zum „Geist“ darstellt, sondern vom Sprung vom „Bewußtsein überhaupt“ zum Bewußtsein möglicher Existenz spricht. Die Seinstufe des Geistes hilft dem Menschen als „Universalität des Wissenwollens“ nämlich nicht weiter als die Stufe des „Bewußtseins überhaupt“. Auf der Seinstufe des Geistes bleiben ihm die Grenzsituationen weiterhin undurchsichtig. Wo ich aber die Situationen wissend nicht beherrsche, „kann ich sie nur existentiell ergreifen“117, indem ich mir meine Situation, d.h. hier die Hilflosigkeit meines Selbstseins, die aus der Hilflosigkeit des Philosophierens im Zweifel am Ursprung resultiert,118 zum Gegenstand mache.119 „Jetzt scheidet sich mir das Weltsein, das ich wissend verlassen kann als eine nur spezifische Dimension des Seins, von Existenz, aus der ich nicht, sie betrachtend, hinaus, sondern die ich nur sein oder nicht sein kann […]. Der Sprung aus der Einsamkeit wissenden Selbstseins in das Bewusstsein seiner möglichen Existenz geht, statt gültig zu wissen, in die Erhellung der undurchsichtigen Grenzsituationen.“120 Als mögliche Existenz bin ich aber noch nicht wirkliche Existenz. So bedarf es schließlich eines dritten und eigentlichen Sprunges „vom Dasein als möglicher Existenz zur wirklichen Existenz in Grenzsituationen“121. Hier hört man nach Jaspers auf zu philosophieren. Man ist. „Denn was ich weiß, bereitet vor, was ich sein kann, und ich weiß nur in Gewinnung punktueller Existenz, aber ich bin noch nicht, was ich philosophierend weiß.“122 Mit Nachdruck schreibt Jaspers: „Wirkliche Existenz

|| 114 Ebd. 115 Vgl. Ph II 205. 116 Ph II 207. 117 Ph II 205f. 118 Vgl. Ph II 5. 119 Vgl. Ph II 205: „Nach dem Versuch situationslosen Wissens mache ich mir also von neuem meine Situation zum Gegenstand, um zu erfahren, daß es Situationen gibt, aus denen ich in der Tat nicht heraus kann, und die mir als Ganzes nicht durchsichtig werden. Nur wo Situationen mir restlos durchsichtig sind, bin ich wissend aus ihnen heraus. Wo ich ihrer wissend nicht Herr werde, kann ich sie nur existentiell ergreifen.“ 120 Ph II 206. 121 Ph II 207. 122 Ph II 206.

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ist geschichtliche Wirklichkeit, die zu sprechen aufhört. Ihr Schweigen ist hinaus über Weltwissen und Philosophieren des Möglichen.“123 Das heißt, Existenz ist zwar der Ursprung, aus dem ich denke.124 Aber indem ich nur denke, „bin“ ich noch nicht. Ich bin unterwegs zu mir, bis die Selbstreflexion aufgehoben ist zum „faktischen Existieren“125. Dem cartesianischen cogito ergo sum würde Jaspers an dieser Stelle entgegenstellen: Denke ich, so bin ich noch nicht. Ich bin nur unterwegs zur mir, bis meine Selbstreflexion aufgehoben ist zum faktischen Existieren. Erst dann „bin“ ich. Zusammenfassend führt nach Jaspers der erste Sprung „zum Philosophieren in Weltbildern“126 und macht den Menschen offen für die Grenzsituationen; „der zweite zum Philosophieren als Existenzerhellung“127 und macht die Grenzsituationen zu Möglichkeiten; „der dritte zum philosophischen Leben der Existenz“128 in Grenzsituationen. Wie Jaspers dies in einzelnen Grenzsituationen verdeutlicht, ist nun in den Blick zu nehmen.

1.2.2 Die werdende Existenz in den einzelnen Grenzsituationen Es hat sich gezeigt, dass die Grenzsituationen für den existierenden Menschen keine Grenze im Sinne einer Mauer des Scheiterns bilden, sondern sie bieten ihm die Möglichkeit, er selbst zu werden. Dabei wird „Situation […] zur Grenzsituation, wenn sie das Subjekt durch radikale Erschütterung seines Daseins zur Existenz erweckt“129. Erweckung ist hier nicht passiv, sondern aktiv gemeint. „Auf Grenzsituationen reagieren wir daher sinnvoll nicht durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten […]. Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe.“130 Wie werde ich konkret Existenz in den einzelnen Grenzsituationen? Wie werde ich der Grenzsituationen Herr? Wie gewinne ich

|| 123 Ph II 208. 124 Vgl. Ph I 15. 125 Ph II 44. 126 Ph II 207. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ph I 56. 130 Ph II 204.

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Macht über sie? Wie geschieht diese Selbstschöpfung131 in den einzelnen Grenzsituationen? Ich werde mich im Folgenden auf die Grenzsituationen von Tod132 und Leiden,133 die ohne mein Mitwirken Grenzsituationen für mich sind, und die Grenzsituationen von Kampf134 und Schuld,135 in denen meine Mitwirkung verlangt wird,136 beschränken.137 1.2.2.1 Tod und Leid Die Grenzsituation des Todes: Jaspers unterscheidet zwischen dem Tod als „objektivem Faktum des Daseins“138 im Sinne des „radikalen Nichtseins“139 bzw. des Endes des bloßen Daseins – sei es der Tod des Nächsten oder der bevorstehende eigene Tod – und dem Tod im existentiellen Sinne als das „Dasein, das nicht eigentlich ist“140. Bekanntlich wird eine Situation für ihn zur Grenzsituation, wenn sie den Menschen durch radikale Erschütterung seines Daseins zur Existenz erweckt. So ist der Tod als „objektives Faktum des Daseins“ noch keine Grenzsituation.141 Doch die Daseinsangst, die angesichts des physischen Todes als Ende des sinnlichen Daseins erzeugt wird, nimmt Jaspers ernst. Es ist die Angst vor dem Nichts. Als nur Lebender, d.h. getragen von dem „unbeschränkten Lebenswillen“, leide ich zwar „an der Vernichtung realisierten Gutes“ oder am „Untergang geliebter Wesen“142. Aber ich lebe, indem ich versuche, das unausweichliche Ende zu vergessen143 oder

|| 131 Jaspers spricht von dem Akt der Freiheit als „Selbstschöpfung“ (vgl. Ph II 195). 132 Vgl. Ph II 220ff. 133 Vgl. Ph II 230ff. 134 Vgl. Ph II 233ff. 135 Vgl. Ph II 246ff. 136 Vgl. Ph II 233. 137 Zu den Grenzsituationen bei Jaspers vgl. auch W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 51ff. 138 Ph II 220. 139 Ph II 227. 140 Ebd. 141 „Der Tod als objektives Faktum des Daseins ist noch nicht Grenzsituation. Für das Tier, das nichts vom Tode weiß, ist sie nicht möglich. Der Mensch, der weiß, daß er sterben wird, hat dieses Wissen als Erwartung für einen unbestimmten Zeitpunkt; aber solange der Tod für ihn keine andere Rolle spielt als nur durch die Sorge, ihn zu meiden, solange ist auch für den Menschen der Tod nicht Grenzsituation.“ (Ph II 220) 142 Ebd. 143 Vgl. ebd.

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indem ich es durch „harte Ataraxie“144, „Weltverneinung“145 oder die „Vorstellung der sinnlichen, zeitlichen, Unsterblichkeit“146 zu überwinden suche. Das geschieht aber um den Preis der Grenzsituation. Alle diese Haltungen „scheinen zwar dem Tod ins Auge zu blicken, bewirken aber nur eine um so tiefere Vergeßlichkeit im Wesentlichen“147 und sind somit nicht imstande, die Angst vor dem Nichtsein aufzuheben.148 Nach Jaspers kann mir aber nur „aus diesem Nichts […] die Gewißheit der wahren Existenz werden, die in der Zeit erscheint, aber nicht zeitlich ist“149. Das bedeutet, dass mich die Erschütterung durch die Daseinsangst vor dem Nichtsein zur Existenz erweckt. Nehme ich also das Ende als Existierender wahr, d.h. „im geschichtlichen Bewußtsein meines Daseins als Erscheinung“ möglicher Existenz in der Zeit, so wird das „Leiden am Ende Vergewisserung der Existenz“150. Mit anderen Worten: Betrachte ich mein Ende vom Standpunkt der Existenz aus, so wird die Daseinsangst relativiert und der Tod in die Existenz aufgenommen als „Bewährung ihrer selbst und als Relativierung bloßen Daseins“151. Hier kann man mit Jaspers sagen: Ohne den Tod als Bewährung der Existenz ist keine Existenz möglich. Damit stellt sich der Tod für Jaspers nicht als etwas Allgemeines, sondern als persönliche Erfahrung dar, die dem Menschen eigentliche Existenz ermöglicht. „Was angesichts des Todes wesentlich bleibt, ist existierend getan; was hinfällig wird, ist bloß Dasein. Es ist wie Versinken der Existenz, wenn ich angesichts des Todes nichts mehr wichtig finden kann, sondern nihilistisch verzweifle; der Tod ist nicht mehr Grenzsituation, wenn er die objektive Vernichtung als das übermächtige Unglück ist.“152 So fordert Jaspers gegen die Haltungen, die den Tod bzw. „den Schrecken des Nichtseins“ um den Preis der Grenzsituation zu überwinden suchen, die Haltung der Tapferkeit. Sie ist „in der Grenzsituation die Haltung zum Tode als unbestimmte Möglichkeit des Selbstseins“153. Ich nehme den Tod tapfer auf mich, indem ich versuche, „wahrhaft zu sterben ohne Selbsttäuschungen“154.

|| 144 Die „harte Ataraxie“ entzieht sich der Grenzsituation, so Jaspers, „durch die Starre eines nicht mehr betroffenen Selbstseins“ (Ph II 223f.). 145 Es ist eine Haltung, die sich angesichts des Todes mit den Phantasmen eines anderen Lebens im Jenseits täuscht und tröstet (vgl. Ph II 224). 146 Ebd. 147 Ebd. 148 Vgl. Ph II 225. 149 Ph II 226. 150 Ph II 220. 151 Ph II 223. 152 Ebd. 153 Ph II 225. 154 Ebd.

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Die Existenz kennt eine Verzweiflung des Nichtseins, die Jaspers die „Angst existentiellen Nichtseins“155 nennt. Einen ähnlichen Gedanken hat auch Tillich mit dem Begriff der „ontologischen Angst“156, seiner Kategorie der Endlichkeit, sowie seiner Polarität von Sein und Nichtsein, Angst und Mut entwickelt.157 Es geht dabei um die Angst vor dem existentiellen Tod, d.h. die Angst „im Nichtsein der Existenz“ ein bloßes und sinnloses Leben führen zu müssen.158 „Das Dasein, das im Nichtsein doch ist, wird der Schrecken eines endlosen Lebens ohne Möglichkeit, ohne Wirken und Mitteilung. Ich bin gestorben und muss ewig so leben; ich lebe nicht und leide als mögliche Existenz die Qual des Nichtsterbenkönnens.“159 Dem existentiellen Tod gegenüber fordert Jaspers die Haltung einer „existentiellen Seinsgewißheit“160. Gemeint ist damit eine „augenblickliche Gegenwart […], wo existentielle Wirklichkeit dem Tode entgegenblickt in dem Bewußtsein eines Seins, das sich in der Zeit erscheint und von sich nur in der Zeit als Erscheinung wissen kann, sich aber darin eines Ursprungs gewiß ist, den es nicht weiß“161. Ähnliches gilt auch für die Grenzsituation des Leidens. Die Grenzsituation des Leidens: Im Leben begegnet uns das Leiden unausweichlich in vielfältiger Form,162 letztlich bedeutet es „Einschränkung des Daseins, Teilvernichtung“163. Entscheidend ist für Jaspers, wie ich mich zum Leiden verhalte. So kann ich das Leiden für etwas Vermeidbares oder für etwas Unabwendbares halten. „Verhalte ich mich, als ob Leiden nichts Endgültiges, sondern vermeidbar wäre, so stehe ich noch nicht in der Grenzsituation, sondern fasse ich Leiden als zwar endlos an Zahl, aber nicht als notwendig zum Dasein gehörend auf.“164 Für das „Dasein“ gibt es nach Jaspers zwei Wege, auf die Grenzsituation

|| 155 Ph II 226. 156 ST I 224; GW XI 33ff.; GW V 228. 157 Vgl. ST I 228. Was Jaspers hier mit Tapferkeit meint, scheint Tillich mit dem Begriff des Mutes zum Ausdruck zu bringen. 158 Vgl. Ph II 227. Für Jaspers relativiert die Lebensgier diese existentielle Angst, „vernichtet Existenz und bringt die ratlose Angst vor dem Tod hervor“. Aber aus „der Seinsgewißheit der Existenz ist es möglich, die Lebensgier zu beherrschen und die Ruhe vor dem Tod als Gelassenheit im Wissen des Endes zu finden“ (Ph II 226). 159 Ph II 227. 160 Ph II 226. „Die die existentielle Angst erfüllende Gewißheit der Existenz allein kann die Daseinsangst relativieren.“ (Ebd.) 161 Ebd. 162 Sei es in Form körperlicher oder geistiger Krankheit, altersbedingter Verkümmerung oder ohnmächtiger Anstrengung, oder sei es als Vernichtung durch die Macht anderer Menschen (vgl. Ph II 230). 163 Ebd. Hinter allem Leiden steht nach Jaspers letztlich der Tod (vgl. ebd.). 164 Ebd.

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des Leidens zu reagieren: Entweder bekämpfe ich es, oder ich weiche ihm aus. Die Bekämpfung des Leidens, die zu einer Daseinsbedingung des Menschen wird, dokumentiert sich für Jaspers beispielsweise im Erfolg der medizinischen Forschung. Allerdings ist dieser immer begrenzt; trotzdem wird das Leiden „als nicht notwendig zum Dasein als solchem gehörig in einer Utopie fortgedacht: Wenn nur Biologie und Medizin erst ihren Gipfel und die politische Kunst vollendete Gerechtigkeit erreicht haben, werden sie alle Schmerzen und Krankheit und alle beengende Abhängigkeit zu vermeiden lehren.“165 Schüßler fragt zurecht: „Ist unsere heutige Gesellschaft nicht auf dem Wege dorthin? Ist nicht die Gesundheit der einzige, noch allgemein anerkannte höchste Wert?“166 Ich kann die Grenzsituation auch vermeiden, indem ich das Leiden so auffasse, dass ich von ihm nicht existentiell betroffen werde und es nur passiv erleide. Dies ist der Fall, wenn ich z.B. nicht die Wahrheit über meine Krankheit wissen will.167 Angesichts dieser Fehlhaltungen fordert Jaspers, das Leiden in der Grenzsituation als etwas Unabwendbares anzunehmen. Erst hier „ergreife ich mein Leiden als das mir gewordene Teil, klage, leide wahrhaftig, verstecke es nicht vor mir selber, lebe in der Spannung des Jasagenwollens und des nie endgültig Jasagenkönnens, kämpfe gegen das Leiden, es einzuschränken, es aufzuschieben, aber habe es als ein mir fremdes doch als zu mir gehörig, und gewinne weder die Ruhe der Harmonie im passiven Dulden noch verfalle ich in der Wut im dunklen Nichtverstehen.“168 Jaspers fährt fort: „Jeder hat zu tragen und zu erfüllen, was ihn betrifft. Niemand kann es ihm abnehmen.“169 Interessant ist die Polarität von Glück und Unglück, die Jaspers in diesem Zusammenhang anführt. Das reine Glück wirke leer und bedrohe das eigentliche Sein. „Wäre nur Glück des Daseins, so bliebe mögliche Existenz im Schlummer.“170 Das Unglück sei wie ein Stachel, durch den ich zum Bewusstsein meiner selbst komme. Jaspers spricht von der Existenz, „die der Ohnmacht ihres Daseins Herr wird, wenn sie im Nicht noch eigentlich sein kann“171. Ohne das Unglück, das wie ein Stachel die mögliche Existenz erweckt, wäre also keine Existenz möglich.172 Während Tod und Leiden ohne meine Mitwirkung Grenzsituationen für mich sind, führe ich die Grenzsituationen von

|| 165 Ebd. 166 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 56f. 167 Vgl. Ph II 231. 168 Ebd. 169 Ebd. 170 Ebd. 171 Ph II 232. 172 „Der Mensch, leichter er selbst im Unglück als im Glück, muß paradoxerweise es wagen, glücklich zu sein. Die Tiefe des Seins, das im Glück zu erscheinen wagt, kann nicht schon als

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Kampf und Schuld mitwirkend herbei. Grenzsituationen sind sie darum, weil ich faktisch nicht sein kann, ohne sie mir zu bewirken. 1.2.2.2 Kampf und Schuld Die Grenzsituation des Kampfes: Der Begriff des Kampfes ist geeignet, um den Begriff der Macht bei Jaspers näher zu beschreiben. Jaspers unterscheidet hier zwischen dem „Kampf ums Dasein“173 und dem Kampf als „Ursprung der Offenbarung eigentlichen Selbstseins“174, sei es im geistigen oder existentiellen Leben. Alles Lebendige führt nach Jaspers einen Kampf ums Dasein. Allein die innere Begrenztheit der bloßen Daseinsverwirklichung, d.h. die materiellen Daseinsbedingungen, die das Dasein mit Vernichtung bedrohen, machen den Kampf unausweichlich. „Dasein kommt nur im Kampfe und in der Möglichkeit des Kampfes zur Wirklichkeit“175. Dabei nimmt mein „Dasein als solches […] anderen weg, wie andere mir wegnehmen.“176 Zugleich aber ist alles Dasein auf gegenseitige Hilfe angewiesen. „Ich verdanke mein Dasein der Fürsorge meiner Eltern; ich bin lebenslang auf Hilfe angewiesen und leiste sie meinerseits in dem Zusammenhang menschlicher Gemeinschaft.“177 Entscheidend aber ist nach Jaspers, dass die Hilfe und die friedliche Harmonie im Miteinanderleben nicht das letzte ist, „sondern Kampf und dann Ausbeutung durch die jeweils Siegenden“178. Jaspers nennt hier das prominente Beispiel von zwei Schiffbrüchigen, die nur einen Balken haben: „Wenn der Balken einen trägt, so müssen entweder beide umkommen, oder im Kampfe muß einer obsiegen, oder einer freiwillig auf das Leben verzichten“179. Alles Lebendige muss einen Kampf ums Dasein führen, sei es passiv „um bloßes Dasein in scheinbarer Ruhe des Bestehens“ oder „aktiv um Wachstum und Mehrwerden“180. Wenn ich diese faktische Realität des Kampfes als vermeidbar auffasse, dann verkenne

|| blühende Vitalität offenbar werden; erst wenn Existenz den Grund erreicht hat, der erfordert ist, um im Glück sich selbst zu bleiben, wird dieses zur Erscheinung des Seins, vor der das erweckende Leiden zurücktritt, um in seinem Schatten das Glück als die transzendente erfüllte Positivität des Daseins hervorgehen zu lassen.“ (Ebd.) 173 Ph II 233. 174 Ph II 234. 175 Ph II 371. 176 Ph II 235. 177 Ebd. 178 Ebd.; vgl. auch Ph II 236: „Wer die Ausbeutung aus der Welt schaffen will, muß auf die Wirklichkeit geistigen Lebens verzichten, das in der Kontinuität eines Bildungsprozesses je im einzelnen Menschen erwächst.“ 179 Ebd. 180 Ph II 233.

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ich den Kampf als Grenzsituation allen Daseins. „Die Grenzsituation tritt nur ein für den Klarheitswillen der Existenz, sofern sie in der Betroffenheit ihr Dasein mit seinen Bedingungen ergreift.“181 In der Grenzsituation des Kampfes gibt es aber die Gefahr einer zweifachen Scheinlösung. Ich kann zum einen versuchen, den utopischen Weg eines kampflosen Daseins zu gehen, indem ich glaube, auf jegliche Gewaltanwendung im menschlichen Zusammenleben verzichten zu können. Handle ich so, verzichte auf alle Daseinsbedingungen und gehe somit als Dasein zugrunde.182 Zum anderen kann ich die Macht als solche verherrlichen.183 In diesem Sinne bejahe ich den Kampf um des Kampfes Willen. Wer so handelt, sucht Jaspers zufolge „nicht Lust, sondern ein Mehr an Macht, und soll es tun. Die Größe seiner Macht ist zugleich der Rang seines Wertes. Glück ist das herrschend gewordene Gefühl der Macht […]. Kampf ist unablässig notwendig und ist als solcher Wahrheit und Wert des menschlichen Daseins. Auf die Frage, wozu die Macht sei, ist keine Antwort mehr zu geben.“184 Diese Faszination der Macht durch die Verherrlichung des Kampfes akzeptiert keinen Gegner und versucht, allen Widerstand zu vernichten.185 In diesen beiden Scheinlösungen ist zwar die Grenzsituation aufgehoben durch ein eindeutiges Ja oder Nein zur Macht.186 Wenn ich aber „nirgends auf Kosten anderen Lebens leben will, muß ich auf das Leben verzichten; die Gesinnung des Nichtwiderstehens bedeutet Selbstvernichtung, die nur durch zufällige Konstellationen oder durch Inkonsequenz aufgehalten werden kann. Die bloße Macht hingegen führt auf den Weg, an dessen Ende der Einsame stände, der alles vernichtet oder unterworfen hat.“187 Im Gegensatz zu den Scheinlösungen, d.h. zur Verwerfung der Macht als solcher und zum gewaltsamen Kampf um des Kampfes Willen, fordert Jaspers den liebenden Kampf um Existenz. Kommt das empirische Dasein nur im Kampf und in der Möglichkeit des Kampfes zur Wirklichkeit, so entspringt „die Gewissheit des Seins nur aus dem Kampfe um Offenbarkeit“188. Allein dadurch, dass Existenz immer nur mögliche Existenz ist, ist ein Kampf in der Liebe um Existenz erforderlich.189 Denn „Existenz ist dadurch, daß sich in der Grenzsituation offenbarenden Kampfes enthüllt, was

|| 181 Ph II 237. 182 Vgl. ebd. 183 Vgl. ebd. 184 Ebd. 185 Vgl. Ph II 239. 186 Vgl. Ph II 238; dazu W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 132. 187 Ph II 239. 188 Ph II 242. 189 Vgl. ebd.

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eigentlich ist“190. Das entscheidende Charakteristikum des Kampfes um Existenz ist also, dass er den „Ursprung“, d.h. das Offenbarwerden des eigentlichen Seins und dessen Verwirklichung sucht.191 Dieser Kampf realisiert sich aber immer nur „auf dem Weg über die Objektivitäten“192. Jaspers fährt fort: „Hier hat der Kampf nicht mehr den Charakter eines Faktums materiell bedingter Art, sondern wird im Dasein zum Ursprung der Offenbarung eigentlichen Selbstseins“193. Im geistigen Leben geht es nicht mehr um einen Kampf um Dasein und Vernichtung, sondern um einen tiefen „Kampf, der fördert, weil erweckt und hervortreibt“, und er wird auf diese Weise „zur Quelle der Schöpfungen“194. Im existentiellen Leben ist der Kampf um das Offenbarwerden des eigentlichen Selbstseins die Bedingung der Erscheinung und der Verwirklichung der Existenz. Hier erweist sich Existenz als „Tun“ bzw. als Freiheit, die in den augenblicklichen Situationen entscheidet, ob sie ist oder nicht.195 Als solche ist die Existenz bzw. der existentielle Kampf ein individueller Prozess des Selbstwerdens. „Existenz ist im Prozeß des Selbstwerdens, der ein Kampf mit sich ist. Ich knicke in mir Möglichkeiten, vergewaltige meine Antriebe, ich forme meine gegebenen Anlagen, stelle in Frage, was ich geworden bin, und bin mir bewußt, nur zu sein, wenn ich mein Sein nicht als Besitz anerkenne.“196 Jedoch ist der existentielle Kampf ein lebendiger und gewaltloser Prozess der Liebe. Jaspers spricht von liebendem Kampf oder kämpfender Liebe.197 Damit wird eine entscheidende normative Komponente des Kommunikationsbegriffs Jaspers’, auf den wir im nächsten Abschnitt näher eingehen werden, zum Ausdruck gebracht. Denn nur in Kommunikation verwirklicht sich die Existenz. „Existentielle Kommunikation ist als dieser Prozeß des Kämpfens aus der Sorge um eigentliches Sein die Verwirklichung dieses Seins.“198 Jaspers definiert den liebenden Kampf wie folgt näher: Erstens kennt er keine Gewalt. „Kampf in der Liebe ist ohne Gewalt, die Infragestellung ohne Siegeswillen mit dem ausschließlichen Willen zur Offenbarkeit“199. Im liebenden Kampf gibt es keinen Sieger und keinen Besiegten. Sieg und Niederlage gehören hier zusammen. „Sieg ist nicht

|| 190 Ph II 242f. 191 Vgl. Ph II 243. 192 Ebd. 193 Ph II 234. 194 Ebd. 195 Vgl. Ph II 242. 196 Ph II 234. 197 Vgl. Ph II 65ff. u. 242ff. 198 Ph II 243. 199 Ph II 235; vgl. auch 243: „Der liebende Kampf hört auf bei der geringsten Anwendung von Gewalt“.

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durch Überlegenheit, sondern durch gemeinschaftliche Eroberung im Offenbarwerden, Niederlage nicht durch Mangel an Kraft, sondern durch Ausweichen im Verstecken infolge der Unbereitschaft zur Krise des eigenen und anderen Wollens.“200 Dabei ist die Gewaltlosigkeit nicht mit der Kampflosigkeit zu verwechseln. Denn aus der Kampflosigkeit würde die Leere der Existenz hervorgehen. „Ich muß kämpfen mit mir selbst und der geliebten Existenz des Anderen zwar ohne Gewalt, aber in Frage gestellt und in Frage stellend.“201 Zweitens ist der liebende Kampf nur möglich auf der Basis einer Solidarität.202 Denn der liebende „Kampfe, statt zu trennen, ist der Weg der wahrhaften Verknüpfung der Existenzen“203. Der Solidarität liegt die Voraussetzung der möglichen Existenz in mir sowie im Anderen zugrunde. Ohne diese Voraussetzung wird der Kampf aufgebrochen.204 Die Voraussetzung möglicher Existenz in mir und im Anderen unterscheidet Jaspers von der bloßen Anerkennung, die sich nach ihm auf Objektivitäten und Rechte bezieht und „das Bedürfnis nach Geltung im Seinsbewußtsein eines sozialen Selbst“205 befriedigt. Hier droht Verwirrung der Existenz, so Jaspers, „wenn sich das Suchen nach existentieller Seinsgewißheit fälschlich versteht als Anspruch auf Anerkennung und Bejahung in dem Sinne, wie es das gesellige Zusammenleben mit sich bringt“206. Die existentielle Bejahung wurzelt vielmehr „in einer anderen Tiefe“207. Drittens ist der liebende Kampf durch Niveaugleichheit der „Kampfpartner“ gekennzeichnet.208 Damit wendet sich Jaspers gegen ein Abgleiten des liebenden Kampfes, in dem Niveauungleichheit entsteht, die das liebende Kämpfen ausschließt. Niveauungleichheit liegt vor „in der geistigen Überlegenheit, die sich als Gewalt auswirkt; in der Passivität bedingungslosen Sichunterwerfens; im beleidigten Sichinsichverschließen, wo das Nichtantworten als gewaltsames Kampfmittel benutzt wird; in den sophistischen Fragen und der Verschiebung ins rein objektive Gerede endloser Art; in der bloßen Ritterlichkeit des Sorgens und formenden Gestaltens; in der schweigenden Duldung; im Karitativen des Mitleids und der äußeren Hilfe.“209

|| 200 Ph II 243. 201 Ph II 244. 202 Vgl. Ph II 65; 243. 203 Ph II 67. 204 Vgl. Ph II 243f. 205 Ph II 244. 206 Ebd. 207 Ebd. 208 Vgl. Ph II 66; 245ff. 209 Ph II 245.

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Die Grenzsituation der Schuld: Fordert die Grenzsituation des liebenden Kampfes einen Partner, so ist die Grenzsituation der Schuld das Unvermeidbare im Selbstverhältnis. Bekanntlich ist der Schuldbegriff mit dem der Verantwortung verwoben. „Verantwortung heißt die Bereitschaft, die Schuld auf sich zu nehmen.“210 Dabei setzt Schuld immer Freiheit voraus. „Weil ich mich frei weiß, anerkenne ich mich als schuldig. Ich stehe ein für das, was ich tat. Da ich weiß, was ich tat, nehme ich es auf mich.“211 In der Regel ist Schuld der bewusste Verstoß gegen die sittlichen Normen aufgrund freier Entscheidung. Nach Jaspers kann ich aber niemals der Schuld entgehen, selbst wenn ich nicht bewusst „sündige“. Zurecht schreibt Werner Schüßler, dass Jaspers „ein extrem rigoroses Verständnis von Schuld“212 vertritt. Für Jaspers hat nämlich jede meiner Handlungen unabsehbare Folgen in der Welt. Dadurch werde ich schuldig. Dabei wäre der Verzicht auf das Handeln mit der Absicht, ich könnte dadurch der Schuld entrinnen, eine Scheinlösung. Denn das „Nichthandeln ist selbst ein Handeln, nämlich Unterlassen. Es hat Folgen: Konsequent und absolut festgehaltenes Nichthandeln würde notwendig zu schnellem Untergang führen; es wäre eine Form des Selbstmords […]. In meiner Situation trage ich die Verantwortung für das, was geschieht, weil ich nicht eingreife; kann ich etwas tun, und tue es nicht, so bin ich schuldig für die Folge meines Nichttuns. Also ob ich handle oder nicht handle, beides hat Folgen, in jedem Fall gerate ich unvermeidlich in Schuld.“213 Die Grenzsituation der Schuld kann ich mir in passiver Resignation verdecken, nach dem Motto: „Es ist nun einmal so; es ist doch nicht zu ändern; ich bin für das Dasein, wie es ist, nicht verantwortlich; wenn dieses die Schuld unvermeidbar macht, so ist das nicht meine Schuld; dann ist es gleichgültig, ob Schuld auf mich fällt, da ich im Prinzip doch schuldig ohne meine Schuld bin“214. Ich kann verweigern, die Realität zu erblicken, indem ich mich darauf verlasse, dass die Ausbeutung z.B. durch „abstrakte moralische Gradlinigkeit“ oder „rechtliche Ordnung“ beseitigt werde. Ich kann auch „jede Schuld als eine nur einzelne“ deuten, indem ich sie somit für etwas Vermeidbares halte.215 Handle ich auf diese Weise, so ignoriere ich meine Schuld. Ich nehme sie zwar als Gegebenheit wahr, aber ich setze mich nicht bewusst mit ihr auseinander. Im Gegensatz zu solchen „oberflächlichen Selbstrechtfertigungen, unkritischer Schuldzuschreibung an

|| 210 Ph II 248. 211 Ph II 196. 212 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 133. 213 Ph II 247. 214 Ph II 248. 215 Vgl. ebd.

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andere und zur Schuldverdrängung“216 appelliert Jaspers, um sich selbst in der Grenzsituation der Schuld zu verwirklichen, an die Tugend der persönlichen Verantwortung, seine Schuld bewusst auf sich zu nehmen.217 Um Existenz zu werden, so haben wir gesehen, muss ich in die Einsamkeit treten. „Nur wer absolut allein war, kann Existenz werden.“218 Zugleich aber lässt sich das eigentliche Selbstsein nicht in absoluter Einsamkeit gewinnen. Denn der Prozess des „Wirklichwerdens als Offenbarwerdens vollzieht sich nicht in isolierter Existenz, sondern nur mit den Anderen. Ich bin als Einzelner für mich weder offenbar noch wirklich.“219 Damit ist die entscheidende Rolle der Kommunikation im Prozess des Selbstwerdens zum Ausdruck gebracht.

2 Macht als Verwirklichung des Selbstseins in existenzieller Kommunikation Neben dem Erleben von Grenzsituationen ist die „existentielle Kommunikation“ für Jaspers die zweite Möglichkeit zum Aufschwung in die Existenz bzw. zum wahren Menschsein. Bekanntlich besteht das Existieren bei Descartes wesentlich im Denken, woraus er schließt, dass der Mensch als eine „res cogitans“ bzw. ein „denkendes Ding“ zu verstehen ist. „Cogito sum“: „Ich denke, ich bin“. Im Denkprozess konstituiert sich der Mensch als Existenz. „Ego sum, ego existo“: „Ich bin, ich existiere“.220 Spätestens seit Hegel aber hat die Frage nach dem Anderen im Prozess der Selbstfindung an Relevanz gewonnen. Bereits im Kapitel über „Herrschaft und Knechtschaft“ seiner „Phänomenologie des Geistes“221 beschäftigte er sich mit der Frage, wie man die Selbstwahrnehmung mit der Konstruktion und Abgrenzung zum Anderen in Zusammenhang bringen kann. Bei Heidegger

|| 216 K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 113. 217 Vgl. Ph II 248. 218 Ph II 207. 219 Ph II 65. 220 R. Descartes, Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hg. v. A. Buchenau, Hamburg 1992, 45. 221 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. v. H.-F. Wessels / H. Clairmont, Hamburg 2011, 127ff.

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erfährt sich das Dasein nicht im Sinne eines weltlosen, isolierten Subjekts, sondern ursprünglich und wesenhaft als Seinsverhältnis von Dasein zu Dasein.222 So kann Heidegger schreiben, dass „das Dasein wesenhaft an ihm selbst Mitsein ist“223. Dabei ist „das Mitsein für das In-der-Welt-sein existenzial konstitutiv“224. Das heißt, zum Dasein selbst gehört das Sein mit Anderen, so dass das „Mitsein“ gleichursprünglich mit dem Dasein und dem „In-der-Welt-sein“ ist. So hat für Heidegger die „phänomenologische Aussage: Dasein ist wesenhaft Mitsein […] einen existenzial-ontologischen Sinn“225. Auch im Denken Tillichs, so wird sich zeigen, nimmt der ontologische Charakter der Begegnung zwischen Seienden einen wichtigen Platz ein. „Person als das vollentwickelte individuelle Selbst ist unmöglich ohne andere vollentwickelte Selbste.“226 Zudem zeigt sich für Tillich die Seinsmächtigkeit des Selbst nur in der Begegnung mit Seinsmächtigkeiten.227 Auch bei Jaspers spielt die „existentielle Kommunikation“ eine entscheidende Rolle im Prozess des Selbstwerdens. Wie aber Mikel Dufrenne und Paul Ricœur zutreffend zum Ausdruck gebracht haben, zielt die „existentielle Kommunikation“ bei Jaspers nicht auf die ontologische Struktur der Existenz als solche, sondern auf das Offenbarwerden der Existenzen in der Kommunikation.228 Wenn der Sinn des Satzes: „Ich bin nur in Kommunikation mit dem Anderen“ existentiell gemeint ist, „so trifft er den in der Aussage Paradox werdenden Ursprung des Selbstseins, das aus sich selbst doch nicht aus sich und mit sich allein ist, was es eigentlich ist“229. Die anderen sind also nicht die Hölle, wie Jean-Paul Sartre

|| 222 Dabei ist zu beachten, dass Dasein bei Heidegger dem entspricht, was Jaspers als Existenz bezeichnet. 223 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 192006, 120. 224 Ebd., 121. 225 Ebd., 120. 226 ST I 208; vgl. ST II 146: „Es gibt kein personhaftes Leben ohne die Begegnung von Person zu Person“. 227 Vgl. GW IX 209. 228 „Jaspers ne suit pas […] Heidegger qui, pour affirmer la solidarité du moi et de l’autre, définit la réalité humaine comme un Mitsein. C’est qu’en effet, selon le vocabulaire de Heidegger, Jaspers ne cherche pas à déceler la structure ontologique de la réalité humaine, – l’idée même d’une structure de l’existence n’est pas viable dans sa philosophie –, mais la réalité ontique qui unit un moi concret à un toi.“ (M. Dufrenne / P. Ricœur, Karl Jaspers et la philosophie de l’existence, Paris 1947, 154) 229 Ph II 50f.

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meint,230 sondern die Chance für das Offenbarwerden der gegenseitigen möglichen Existenz. „Der Prozeß des Offenbarwerdens in der Kommunikation ist jener einzigartige Kampf, der als Kampf zugleich Liebe ist.“231 Es wurde bereits erwähnt, dass Jaspers vier Seinsweisen bzw. Verwirklichungsdimensionen des Menschen kennt: Dasein, Bewusstsein überhaupt, Geist und Existenz. Dementsprechend entwickelt er auch vier spezifische Formen der Kommunikation, die jeweils mit den verschiedenen Seinsweisen in Korrelation stehen. Dem bloßen Dasein entspricht die Kommunikationsform der „primitiven Gemeinschaftlichkeit“232, die sich vollzieht, wenn der Mensch als ein von Trieben und Instinkten geleitetes Wesen seine vitalen Bedürfnisse befriedigen, die eigenen Interessen durchsetzen, die „Selbstbehauptung und Daseinserweiterung“233 verfolgen will. Dabei zeigt sich die kommunikative Beziehung grundsätzlich als ein Mittel-Zweck-Verhältnis. Hier gilt „Verschweigen, List, Zweideutigkeit, es gilt Lüge und Täuschung, sofern all dieses der eigenen Daseinsbehauptung dient“234. Die Kommunikationspartner werden instrumentalisiert, und sie sind auch beliebig austauschbar. „Sobald ein vitales Bedürfnis, wie der Selbsterhaltungstrieb, Besitztrieb, Geschlechtstrieb, oder Wille zur Macht befriedigt ist, wird die Kommunikation abgebrochen.“235 Die Kommunikationsform des Bewusstseins überhaupt ist die „der sachlichen Zweckhaftigkeit und Rationalität“236. Beispielhaft hierfür ist die wissenschaftliche Kommunikation, die sich auf der Ebene des Verstandes vollzieht. Dabei treten die Kommunikationspartner selbst nicht in den Vordergrund. Es kommt allein auf die zwingende Allgemeingültigkeit und Richtigkeit des sachlichen Denkinhaltes an. Hier geht es um „ein Verstehen von Ich zu Ich durch gemeinsames Verstehen einer objektiven Sache als eines Denkinhaltes, in dem eine Richtigkeit als solche begriffen und anerkannt, oder das Tun, in dem ein Zweck mit den dazugehörenden Mitteln gemeinsam ergriffen wird.“237 Dabei ist die Diskussion rein sachlich, ohne „Einsatz des Selbstseins“, und sie steht somit in der Gefahr,

|| 230 „L’enfer, c’est les autres.“ (J.-P. Sartre, Huis clos, Paris 1947, 93) 231 Ph II 65. 232 Ph II 54. 233 VdW 548. 234 Ebd. 235 K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 114. 236 Ph II 54. 237 Ph II 52.

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das andere Ich zu versachlichen.238 Eine persönliche Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern findet auch hier nicht statt. Der Seinsstufe des Geistes korrespondiert eine Kommunikation der „ideenbestimmten Geistigkeit des Gehalts“239. Jaspers spricht hier auch von „gehaltvoller Kommunikation“240, denn dabei „geht es um die Mitteilung und das Verstehen aus einem Sinnzusammenhang, dem die Kommunizierenden durch gemeinsame Teilhabe an gleichen Ideen angehören“241. Im Vergleich zu den beiden bisher genannten Kommunikationsformen sind die Kommunikationspartner hier bemüht, an den Sinngehalten teilzunehmen, „die nicht mehr egoistischen Nützlichkeitsbedingungen unterliegen oder unpersönlichen Charakter haben“242. Dies ermöglicht zwar eine gewisse Nähe der Kommunikationspartner zueinander, aber nicht „eine absolute Nähe des ,ich selbst‘ mit dem anderen Selbst“243, so dass auch die Kommunikation auf der Ebene des Geistes nicht dazu führt, dass sich der Mensch verwirklichen kann. Diese drei Kommunikationsformen haben objektiven Charakter244 und sind in aufsteigender Reihenfolge als Vorstufen der „existenziellen Kommunikation“ zu verstehen. Denn „in ihnen wird die Richtung zur existentiellen Kommunikation artikuliert, diese selbst aber noch nicht getroffen“245. Entscheidend für den Aufschwung in die „existentielle Kommunikation“ ist nach Jaspers die „Erfahrung des Ungenügens“ in den drei immanenten Kommunikationsformen. „Erfahre ich in jeder Kommunikation spezifische Befriedigung, so doch in keiner eine absolute. Denn wenn ich der Partikularität meiner Kommunikation bewußt werde und damit an deren Grenzen stoße, befällt mich ein Ungenügen. Ich war nur in einer bestimmten Richtung, als bloßes Dasein, als Ich überhaupt, als Funktion eines ideellen Ganzen, als dieser Charakter engagiert, nicht als ich selbst.“246 Wie der Mensch als mögliche Existenz im Weltdasein begrenzt ist, so stoßen also auch diese drei Kommunikationsformen an Grenzen. Zugleich aber drängt das Erlebnis dieser Grenzerfahrung des Ungenügens zur

|| 238 Vgl. ebd. 239 Ph II 54. 240 Ph II 53. 241 K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 114ff. 242 T. Baars, Der Arzt-Philosoph: wissenschaftstheoretische und philosophische Implikationen eines ärztlichen Berufsethos nach Karl Jaspers, Berlin / Münster 2007, 36. 243 Ph II 54. 244 Vgl. Ph II 55. 245 Ph II 54. 246 Ph II 55.

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Aufnahme von persönlich gehaltvollem Austausch bzw. zur existentiellen Kommunikation. Diese Grenzerfahrung wird somit, wie das Scheitern in den Grenzsituationen, zum tragenden Impuls existentieller Selbsterhellung. „Das Ungenügen an Kommunikation ist daher ein Ursprung für den Durchbruch zur Existenz und für ein Philosophieren, das ihn zu erhellen sucht. Wie alles Philosophieren mit dem Staunen beginnt, das Weltwissen mit dem Zweifel, so die Existenzerhellung mit der Erfahrung des Ungenügens der Kommunikation. “247 Die existenzielle Kommunikation ist also eine Kommunikation, „durch die ich mich selbst getroffen weiß“, in der zugleich aber „der Andere nur dieser andere“ ist: „Die Einzigkeit ist Erscheinung der Substantialität dieses Seins“248. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass Jaspers in der existentiellen Kommunikation von einem Moment der Geburt des „Ich selbst“ bzw. von der „gegenseitigen Schöpfung“249 der Existenzen spricht. Denn „das existierende Sein des Ich ist nie vorher in […] Isolierung es selbst, sondern erst mit dem Anderen; die Kommunikation oder Kommunikationsbereitschaft wird der Geburtsmoment des ,Ich selbst‘ in der Erscheinung.“250 Um existentiell kommunizieren zu können, muss ich zugleich zur Einsamkeit fähig sein. Damit ist die erste Voraussetzung für die Erhellung und die Verwirklichung der existentiellen Kommunikation zum Ausdruck gebracht. „Denn nur wer er selbst ist – und in Einsamkeit bewähren kann – kann wahrhaft in Kommunikation treten.“251 Unter Einsamkeit versteht Jaspers nicht ein „bloßes soziologisches Isoliertsein“, sondern es geht darum, dass es für die Selbstverwirklichung in der Kommunikation eines Moments der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit bedarf. Dabei zeigt sich der Kommunizierende als Einheit von „Ichsein“ und „Mit-dem-Anderen-Sein“. Je mehr der Mensch imstande ist, mit dem Anderen zu sein, ohne sein „Ichsein“ zu verlieren, desto mehr wird er Existenz. Analog dazu würde man mit Tillich bezüglich der Philosophie der Begegnung bzw. der Macht sagen: „Alles Lebendige zeigt sich in der Begegnung mit ihm als Einheit von Bleiben in sich und Vorstoßen über sich hinaus […]. Je größer die Kraft ist, über sich

|| 247 Ebd. 248 Ph II 58. 249 „Allein in ihr [sc. der Kommunikation] ist das Selbst für das Selbst in gegenseitiger Schöpfung.“ (Ebd.) 250 Ph II 13; vgl. PGO 120: „Existenz ist nur in Kommunikation von Existenzen. Als sich isolierendes Fürsichsein ist Selbstsein nicht mehr es selbst. Es kommt zu sich nur, wenn, in der Kommunikation mit anderem Selbst, dieses zu sich kommt. Daher gehört zur Existenz die kämpfende Liebe. In ihr verzichtet der Mensch auf die bloße Selbstbehauptung, holt sich aus jedem Zorn wieder heraus, bändigt den Stolz des Verletztseins. Denn in keiner sich isolierenden Wahrheit ist noch Wahrheit.“ 251 PG 125.

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hinauszustoßen, ohne sich selbst zu verlieren, desto größer ist die Mächtigkeit, mit der ein Lebendiges begegnet.“252 In der Philosophie der Kommunikation von Jaspers heißt es: „Komme ich zu mir selbst, so liegt in dieser Kommunikation beides: Ichsein und Mit-dem-Anderen-Sein. Bin ich nicht auch als Eigenständiger unabhängig ich selbst, so verliere ich mich ganz im Anderen.“253 Und er fährt fort: „Kommunikation findet jeweils zwischen Zweien statt, die sich verbinden, aber zwei bleiben müssen – die zueinander kommen aus der Einsamkeit und doch nur Einsamkeit kennen, weil sie in Kommunikation stehen. Ich kann nicht selbst werden, ohne in Kommunikation zu treten und nicht in Kommunikation treten, ohne einsam zu sein […]. Ich muss die Einsamkeit wollen, wenn ich selbst aus eigenem Ursprung zu sein und darum in tiefste Kommunikation zu treten wage.“254 Eine weitere Voraussetzung für die zwischenmenschliche existentielle Kommunikation ist die vorbehaltlose gegenseitige „Offenbarkeit“. Ich trete nämlich in die Einsamkeit mit dem „existentiellen Willen zur Offenbarkeit“255. Offenbarwerden heißt dabei „Wirklichwerden des Ich als Selbst“256. Denn „Offenbarkeit und existentielle Wirklichkeit stehen in dem Verhältnis, daß sie in Gegenseitigkeit aus dem Nichts zu entstehen scheinen und sich selbst tragen“257. Und dies geschieht nur in der Kommunikation mit anderer Existenz. „In der Kommunikation werde ich mir mit dem Anderen offenbar.“258 Will ich meine Existenz verwirklichen, so muss ich mich aus meiner Einsamkeit heraus für die Kommunikation mit anderer Existenz offen halten. „Dieser Prozeß des Wirklichwerdens als Offenbarwerdens vollzieht sich nicht in isolierter Existenz, sondern nur mit dem Anderen. Ich bin als Einzelner für mich weder offenbar noch wirklich.“259 Dabei ist das Offenbarwerden aber nicht einseitig. „Ich kann nicht ich selbst werden, wenn nicht der Andere er selbst sein will; ich kann nicht frei sein, wenn nicht der Andere frei ist, meiner nicht gewiß sein, wenn ich nicht auch des Anderen gewiß bin. In der Kommunikation fühle ich mich nicht nur für mich, sondern auch für den Anderen verantwortlich, als ob er ich, ich er wäre.“260 Sich gegenseitig offenhalten für die existentielle Kommunikation heißt, in Kampf treten, aber in einen liebenden Kampf.

|| 252 GW II 195. 253 Ph II 61. 254 Ebd. 255 Ph II 64. 256 Ebd. 257 Ph II 65. 258 Ph II 64. 259 Ph II 65. 260 Ph II 57.

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Mit dem liebenden Kampf als eine weitere Voraussetzung für die existentielle Kommunikation ist die Bereitschaft gemeint, in der sich Menschen nicht egoistisch, sondern „restlos gegenseitig wagen in Frage zu stellen, um an ihre Ursprünge zu kommen dadurch, daß sie in unerbittlicher Durchleuchtung wahr werden“261. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der liebende Kampf durch Gewaltlosigkeit, Solidarität und Niveaugleichheit gekennzeichnet ist. Beide Kommunikationspartner ringen also auf der Basis von gegenseitigem Vertrauen um Offenbarkeit und Wahrheit, indem sie in Kommunikation auf gleichem Niveau um sich selbst und den Anderen kämpfen. So ist der liebende Kampf „der Kampf des Einzelnen um Existenz, welcher Kampf um die eigene und andere Existenz in einem ist. Während es im Daseinskampf die Nutzung aller Waffen gilt, List und Trug unvermeidbar werden und ein Verhalten gegen den Anderen als Feind – der nur das schlechthin Andere gleich der Widerstand leistenden Natur ist –, handelt es sich im Kampf um Existenz um ein davon unendlich Verschiedenes: um die restlose Offenheit, um die Ausschaltung der Macht und Überlegenheit, um das Selbstsein des Anderen so gut wie um das eigene.“262 Als liebender Kampf ist die existentielle Kommunikation immer ein Prozess, der sich in vielfältigen sozialen Beziehungen und Verhältnissen vollziehen kann. Hier werden von Karl Jaspers vier verschiedene kommunikative Situationen unterschieden, wo ein Sich-Treffen der Existenzen und somit die Möglichkeit des Zustandekommens einer existentiellen Kommunikation gegeben ist: im Herrschen und

|| 261 Ph II 234. 262 Ph II 65.

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Dienen,263 im geselligen Umgang,264 in der Diskussion265 und im politischen Umgang.266 Da das politische Moment der Macht von großer Bedeutung für unseren Zusammenhang ist, wird dieser letzte Aspekt nun näher in den Blick genommen.

|| 263 Das Verhältnis von „Herrschen und Dienen“ (vgl. Ph II 92ff.) ist die kommunikative Situation, in der „Macht […] Menschen in Beziehungen der Über- und Unterordnung“ (Ph II 92) bringt. Auf der einen Seite können sich Existenzen nicht gegenseitig erhellen, wenn die Kommunikation sich auf ungleichem Niveau bewegt. Als Beispiel nennt Jaspers das Machtverhältnis zwischen „Herr und Knecht“. Hier steht für Jaspers der Knecht nicht im „Machtverhältnis, sondern in der inneren Beziehungslosigkeit bloßer Gewalt“ (ebd.). Auf der anderen Seite aber entsteht ein lebendiges Machtverhältnis zwischen Herrn und Knecht, das zur existentiellen Kommunikation führen kann, wenn der Herr gut zu seinem Knecht ist und für ihn Verantwortung übernimmt, und der Knecht sich seinem Herrn gegenüber demütig und treu im Dienen zeigt. „Nicht die Wirklichkeit der Abhängigkeiten ist eine Gefahr für die existentielle Kommunikation, aber die Versuchung, in dem Gehalt der niveauungleichen Kommunikation die Erfüllung des Selbstseins zu finden.“ (Ph II 92f.) Das Beispiel von „Herr und Knecht“ geht bekanntlich auf Gottfried Wilhelm Friedrich Hegel zurück. Vgl. dazu F. Zander, Herrschaft und Knechtschaft. Die Genese des Selbstbewusstseins in Hegels „Phänomenologie des Geistes“. Ein Kommentar, München 2014. 264 Vgl. Ph II 95ff. Mit Geselligkeit ist das Zusammenkommen jeder Form geselliger Konventionen oder Beziehungen gemeint, die für Jaspers „Daseinsbedingung“ sind und zugleich den Rahmen für das Zustandekommen „existentieller Kommunikation in ihrer zeitlichen Entfaltung“ (Ph II 95) schaffen. Da der Mensch nicht jederzeit und nicht mit jeder Person in existentielle Kommunikation treten kann, steht er immer auch in geformten Beziehungen (vgl. Ph II 96). Dabei unterscheidet Jaspers zwei verschiedene Formen geselligen Umgangs: Einerseits die „Form der Berührung für gemeinsame Zwecke, gegenseitige Hilfe oder entgoltene Dienste“ (ebd.) (man kann hier die Geselligkeit durch Zugehörigkeit zu Gruppen wie Vereinen, Organisationen nennen), die aber auch zweckfrei, spielend und unverbindlich sein kann (z.B. Freundeskreis oder Treffen von Bekannten); andererseits kann man an gesellige Formen denken, die Menschen auffangen, die zu einer „substantiellen Verwirklichung“ nicht in der Lage sind. Man kann hier an sozial schwache Mitglieder einer Gesellschaft denken. 265 Vgl. Ph II 100ff. Mit Diskussion meint Jaspers die kommunikative Situation des Miteinandersprechens bzw. der Wechselrede, in der zwischen Beteiligten eine sachliche Verständigung bzw. ein Wahres durch Abwägen von Gründen und Gegengründen gefunden werden soll. Diskussion ist also auf ein Verständnis zwischen den Beteiligten bzw. auf einen gültigen Inhalt gerichtet. Als solche ist sie ein Mittel existentieller Kommunikation, aber „noch nicht ihre Erfüllung“ (Ph II 100). 266 Vgl. Ph II 102ff.

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3 Die Relevanz der existentiellen Kommunikation für die Politik als Form kommunikativer Praxis 3.1 Philosophie und Politik Von der Relevanz der existentiellen Kommunikation für die Politik als kommunikative Situation zu sprechen, heißt zunächst, die Bedeutung der Wechselbeziehung zwischen Philosophie und Politik herauszustellen. Hierzu ist die Stellungnahme Jaspers’ mehr als deutlich. Die Relevanz einer Philosophie zeigt sich wesentlich in ihrer Fähigkeit, einen Beitrag zum Politischen beizusteuern. Denn „Philosophie ist nicht ohne politische Konsequenzen [...]. Keine große Philosophie ist ohne politisches Denken [...]. Was eine Philosophie ist, zeigt sie in ihrer politischen Erscheinung. Das ist keine Beiläufigkeit, sondern von zentraler Bedeutung.“267 Über die kritische Haltung des Philosophen hinaus, der dem Politiker gegenüber versucht, das Faktische vom Sein-Sollenden zu unterscheiden,268 besteht der wesentliche Beitrag der Philosophie zum politischen Ethos darin, den Menschen zu helfen, „wahr zu sein“269 bzw. sie selbst zu sein. „Zuerst Mensch zu sein und dann aus diesem Ursprung einem Volke anzugehören, das schien mir das Wesentliche.“270 Dass aber der Mensch nur im Dasein, in den unumgänglichen empirischen Lebensweltbezügen mögliche Existenz bzw. Freiheit werden kann, betont Jaspers immer wieder mit Nachdruck. Aus eigener Erfahrung musste er feststellen: „Erst mit meinem Ergriffenwerden von der Politik gelangte meine Philosophie zu vollem Bewußtsein bis in den Grund auch der Metaphysik.“271 Die Bedeutung der Politik für die Freiheit bzw. für das Selbstwerden des Menschen ist Jaspers nämlich erst durch die Erfahrung der Terrorherrschaft des Nationalsozialismus klar geworden. „Die Politik ist eine Wirklichkeit, die uns auf den Nägeln brennt! Sie bestimmt unser Dasein. Wir sind von ihr abhängig. Das wurde mir erst deutlich mit dem Nationalsozialismus. Wohl habe ich schon in den zwanziger Jahren angefangen, mich mit Politik zu beschäftigen: in meiner

|| 267 PhW 365f. 268 Wenn der Politiker sich in der Öffentlichkeit äußert, dann Jaspers zufolge, „um für sich zu werben“, und er versucht dabei, seinen Willen durchzusetzen und sein Handeln zu rechtfertigen (vgl. ders., Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945–1965, München 1965, 367ff.). 269 Ebd., 370. 270 PhW 359. 271 PhW 366.

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,Geistigen Situation der Zeit‘ (1931). Aber entscheidend war doch die Nazizeit.“ 272 Nunmehr ging es für Jaspers darum, dass sich „Philosophie und Politik […] treffen“273. Denn geht es der Philosophie darum, den Menschen in Freiheit zur Selbstverwirklichung zu führen, so der Politik um deren gesellschaftliche Umsetzung. || 272 K. Jaspers, Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften, München 1967, 35. Obwohl Jaspers in einer Familie von Politikern geboren und aufgewachsen ist („Von Kind an hörte ich von Politik“, schreibt er, „Großvater, Vater, zwei Brüder meiner Mutter waren Landtagsabgeordnete in Oldenburg“ [PhW 340]), so war er bis zum Ersten Weltkrieg doch „apolitisch“ (vgl. PhW 343). Als einer, der lange Zeit hindurch die Freiheit für selbstverständlich hielt, musste Jaspers die Grunderfahrung der Unfreiheit erleben. In der Ära des Nationalsozialismus wurde er 1933 von der Universitätsverwaltung in Heidelberg ausgeschlossen; 1937 verlor er seine Professur, und ab 1938 durfte er nicht mehr veröffentlichen. Mit seiner jüdischen Frau lebte Jaspers während des Krieges in steigender Todesgefahr. Dass sie überlebt haben, ist den Amerikanern zu verdanken, die zwei Wochen vor dem Abtransporttermin Heidelberg besetzt haben (vgl. PhW 353). Jaspers fasst zusammen: „Die Grunderfahrung war der Verlust der Rechtsgarantie im eigenen Staat“ (ebd.). Aus dieser Erfahrung ist ihm klar geworden, dass es Politik nur in Freiheit gibt. Denn in einem Staat, wo man in ständiger Gefahr leben muss und „keine Handlung zu tun und kein Wort zu sagen“ hat, „die nicht zu verantworten wären“ (PhW 354), in einem Staat, wo die Menschen ihre Meinungen nicht äußern dürfen, da hat die Freiheit keine Chance, sich zu verwirklichen. „Nur bei Überwindung der Gewalt durch Recht kann sich Freiheit verwirklichen.“ (UZG 152) Um diese Überwindung zu erreichen, fordert Jaspers statt bloßen Verstandesdenkens in der Politik das „Vernunftdenken“, und d.h. Philosophie. (Vgl. UZG 155; dazu Y. Örnek, Karl Jaspers. Philosophie der Freiheit, München 1986, 101) Geleitet von der Überzeugung, dass sich Philosophie und Politik treffen sollten, wendet sich Jaspers in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auch konkreteren Fragen der Politik zu. 1946 erscheint seine viel Aufsehen erregende Schrift „Die Schuldfrage“, in der er sich mit der Schuldfrage der Deutschen in den politischen Ereignissen zwischen 1933 und 1945 befasst. (Vgl. ders., Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands, München 2012) 1958 veröffentlicht er die aus einem Rundfunkvortrag (1956) hervorgegangene Schrift „Die Atombombe und die Zukunft des Menschen“, die sich auf die ethisch-politischen Aspekten der Atombombe bezieht. In „Freiheit und Wiedervereinigung“ von 1960 beschäftigt er sich ausführlich mit der politischen Verfassung der Bundesrepublik. (Vgl. ders., Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik, München 1990) In „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ von 1966 (vgl. ders., Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1988) und „Antwort“ von 1967 (vgl. ders., Antwort zur Kritik meiner Schrift: Wohin treibt die Bundesrepublik, München 1967) führt Jaspers wichtige und konkrete ethischpolitische Analysen seiner Zeit durch. In der Zuwendung Jaspers’ zu konkreten ethisch-politischen Fragen seiner Zeit ist die Nähe zu Tillichs politischem Engagement in den Jahren der Weimarer Republik unverkennbar; mit einem Unterschied: Beide, Jaspers und Tillich, sind zwar Zeitgenossen, aber was Jaspers erst spät in den Jahren nach 1945 auf dem Boden der praktischen Philosophie bzw. der philosophischen Ethik vollzieht, das hat Tillich in Fragen der ethisch-politischen Neuorientierung aufgrund des religiös-politischen Sozialismus schon recht früh begonnen. (Vgl. P. Tillich, Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. R. Albrecht, Bd. II, Stuttgart 1962; für ausführliche Ausführungen hierzu vgl. Kapitel I zu Tillich)

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„Politik gibt es nur in der Freiheit. Wo diese vernichtet ist, bleibt das Privatleben, soweit es geduldet ist.“274 So drängt der ethische Impuls der Existenzphilosophie über die Existenzerhellung der Person hinaus zur Existenzerhellung der Gemeinschaft. Für Jaspers ist also die „Verknüpfung der Existenz-Philosophie mit der Zeit- und Situationsanalyse […] keine sekundäre oder nachträgliche Beziehung, sondern für die Konzeption der wesentlich konkreten Existenz-Philosophie konstitutiv.“275 Die gesellschaftliche Relevanz seines existenzphilosophischen Entwurfs sowie die Frage, wie existentielle Kommunikation im politischen Bereich am Beispiel der inneren Beziehung zwischen Macht und Gewalt und existentieller und politischer Freiheit relevant sein kann, ist nun kurz in den Blick zu nehmen.

3.2 Macht und Gewalt im politischen Umgang Bekanntlich definiert Max Weber Politik als „Streben nach Machtanteil oder Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“276. Der Staat ist für ihn ein „auf das Mittel der legitimen […] Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“277, dessen Zielsetzung es ist, Macht zu gewinnen. „Wer Politik treibt, erstrebt Macht: Macht entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele – idealer oder egoistischer –, oder Macht ,um ihrer selbst Willen‘: um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen.“278 Obwohl Jaspers zugesteht, dass das politische Denken Webers sein eigenes geprägt hat, 279 distanziert er sich von dieser rein formalen Definition, die unter anderem der physischen Gewaltsamkeit im politischen Umgang eine wichtige Rolle zuschreibt. „Es ist wohl wahr“, so Jaspers, „daß Macht erst Gehalt gewinnt

|| 273 AZM 7. 274 PhW 346. 275 H. Fahrenbach, Zeitanalyse, Politik und Philosophie der Vernunft im Werk von Karl Jaspers, in: D. Harth (Hg.), Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie, Stuttgart 1989, 139– 187, hier 141. 276 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 51985, 822. 277 Ebd. 278 Ebd. 279 „Das politische Denken Max Webers hat mein eigenes geprägt. Vielleicht bin ich in der Grundstimmung nie ganz einmütig mit ihm gewesen. […] Ich konnte ihn bewundern, aber nicht selbst verwirklichen und bewähren.“ (PhW 347) Im Jahre 1932 veröffentlichte Jaspers seine Schrift über Weber (vgl. ders., Max Weber, München 1988).

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durch Idee und Existenz, die in ihr sich verwirklichen“280. Für ihn ist nämlich das Endziel im politischen Umgang nicht die Machtgewinnung oder die Herrschaft über andere durch Gewaltanwendung, sondern eine bestimmte Willensentscheidung.281 Aber da „die Willensentscheidung des Anderen Bedingung für das Gelingen eigenen Wollens ist, bemühe ich mich, sie entweder zu meinen Gunsten zu bestimmen oder in ihrer Auswirkung zu lähmen“282. Daraus entsteht eine Kollision der Daseinsinteressen der Existenz, die aber das politische Medium nicht automatisch „unwahrhaftig“283 macht. Es wird dies aber, wenn die Machtentscheidung nicht zugleich zur Entscheidung der Wahrheit284 führt. „In dem Maße […], in welchem durch Macht sich für mich und meinen Gegner nicht zugleich Wahrheit entscheidet, wird auch das politische Medium selbst unwahrhaftig. Entweder werden beide Gegner unwahrhaftig, weil sie nichts wollen als Macht; oder der eine Gegner, welcher auch Wahrheit will, wird dem Anderen gegenüber ohnmächtig, wenn nicht die Wahrheit selbst zugleich Macht sein kann.“285 Wenn also die Beteiligten im politischen Umgang nicht mehr für die gegenseitige Wahrheit bzw. Seinsverwirklichung eintreten, sondern nur um die Verwirklichung von Machtinteressen kämpfen, dann „bleiben die vitalen Daseinstriebe unter der Decke des beruhigten und geordneten Daseins. Jeder gilt auf Gegenseitigkeit, nicht als er selbst. Es gibt keine Verehrung und Liebe, sondern nur die Form der geordneten, objektiven Macht- und Rangverhältnisse.“286 Demgegenüber fordert Jaspers auch im politischen Umgang die existentielle Kommunikation. Allerdings betont Werner Schüßler zurecht, dass Gewaltlosigkeit für Jaspers „kein politischer Weg“ ist.287 Für Jaspers ist nämlich nicht zu bestreiten, dass „kein menschliches Leben ohne die Realität der Gewalt besteht“288. Die Gewalt hält er nämlich für unvermeindlich.289 „Will ich leben, so muß ich Nutznießer einer Gewaltanwendung sein;

|| 280 Ph II 240. 281 „Während im politischen Verhandeln das Endziel eine bestimmte Willensentscheidung ist, ist sachliche Diskussion auf Verständnis oder Finden eines gültigen Inhalts gerichtet.“ (Ph II 100) Vgl. auch Ph I 119: „Wir nennen politisch das Handeln in bezug auf den Willen anderer Menschen, sofern deren Tun an der Hervorbringung unserer Welt relevant beteiligt ist. In diesem Handeln wird der Wille der Mitwirkenden erweckt und gebildet, und einem Gegner, d. h. einem Widerstand, der in einem Willen besteht, entgegengewirkt.“ 282 Ph II 102. 283 Ebd. 284 Dabei heißt Wahrheit für Jaspers die auf das Leben bzw. das Sein als Ganzes bezogene Wahrheit der Existenz als Lebens- bzw. Seinswirklichkeit. 285 Ph II 102. 286 Ph II 105. 287 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 138. 288 UZG 149. 289 Vgl. AZM 57ff.

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so muß ich selbst irgendwann Gewalt leiden“290. Entscheidend ist für das Zusammenleben: „Wie wird die Gewalt an ihre rechte Stelle gebracht, wie wird sie selber ein Moment der Ordnung bis zu dem Punkte, wo sie fast nicht mehr in Erscheinung zu treten braucht?“291 Für Jaspers braucht das Zusammenleben Ordnung, wo sich Gerechtigkeit und Freiheit erweisen. Dabei soll Macht „das Vehikel der Rechtsverwirklichung sein“292. In solch einem Rechtsstaat, in dem die Gesetze das Zusammenleben regieren, „klingt alles einfach, als ob, wenn die Menschen nur einsichtig und gutwillig wären, sie durch das Naturrecht und die aus ihm fließende Gesetzlichkeit in idealer Freiheit leben könnten“293. Jaspers macht aber darauf aufmerksam, dass die gesetzliche Ordnung begrenzt ist, weil das Recht immer konkret, geschichtlich und situationsgebunden ist,294 und die unberechenbare Gewalt, die ständig auf dem Sprung ist einzugreifen und das Gesetz zu brechen, muss gebändigt sein. „Daß die Macht der Grundgedanken des Rechts in unserem Dasein […] die Sicherheit ihrer Wirkung erst gewinnt durch ihre Verbindung mit Gewalt, über die sie verfügt, diese Grundsituation müssen träumende Menschen sich immer wieder einprägen. Der Rechtsgedanke ist als solcher nur durchzusetzen durch die Gewalt, mit der er ein Bündnis eingeht. Das Recht ist moralisch begründet, aber kraft der Gewalt wirklich.“295 Gewalt gehört also strukturell zum menschlichen Dasein.296 Jeder Mensch kommt nämlich „in die Lage, an der Grenze zu stehen, wo nicht jene Ordnung, sondern faktische Gewalt entscheidet, die er selbst erleidet oder deren Nutznießer er ist“297. Damit vertritt Jaspers aber weder die Verherrlichung noch die Verwerfung der Gewalt.298 Es kommt auf die entscheidende Frage an: „Wo eine

|| 290 Ph II 241. 291 UZG 149f.; vgl. Ph II 242. 292 Ph II 240. 293 UZG 150. 294 „Es ist noch immer vergeblich gewesen, ein richtiges Recht als allgemeingültig wißbares zur Anerkennung zu bringen. […] Das richtige Recht bleibt bloße Idee“. (Ph II 240) 295 AZM 60f. 296 Vgl. AZM 58: „Das Dasein jeder menschlichen Ordnung ist ihrer Wirklichkeit, nicht ihrem Sinn nach, begründet durch Gewalt. Die Erhaltung aller Staaten geschieht durch sie oder ihre Androhung. Sie ist unausweichlich gebunden an die Macht, die der Gewalt sich bedienen kann.“ 297 Ph II 240. 298 „Die Verherrlichung und die Verwerfung der Gewalt gegen andere oder gegen sich selbst lassen sich rational klar denken, denn sie sind außerhalb der Grenzsituationen. Ihre Konsequenzen in der Verwirklichung sind entweder Untergang durch Verzicht auf jede Nutznießung von Gewalt oder Entleerung zu gehaltlosem Dasein der Vergewaltigung.“ (Ph II 238ff.) Vgl. AZM 58: „Einsicht in diese Verschleierung bedeutet keineswegs die Verherrlichung der Gewalt, keines-

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Machtposition ergreifen und nutznießen, wo nachgeben und dulden, wo kämpfen und wagen?“299 Hier gibt es für Jaspers keine allgemeine und endgültige Antwort, sondern die Entscheidung erfolgt aus der geschichtlichen Lage der Existenz heraus. Zu vermeiden ist aber die alternative Scheinlösung: „Entweder gewaltlos leben, nach dem Satz ,nicht widerstehen dem Bösen‘, – bereit, alle Folgen auf sich zu nehmen, zu dulden und umzukommen ohne Kampf. Oder die Gewalt als faktische Daseinsbewältigung anerkennen, sie als Faktor in der Politik ergreifen, damit auch das Böse der Gewalt akzeptieren und die Unausweichlichkeiten der Politik bejahen.“300 Für Jaspers sind „die fixierten Einseitigkeiten ein Versagen“301. Er fährt fort: „Beide Positionen sind logisch eindeutig, scheinbar konsequent und doch am Maßstab der dem Menschen gestellten Aufgabe ein Ausweichen.“302 Das Wahre ist aber auch nicht eine synthetische Auffassung beider Positionen, „sondern die Freiheit des Wollens im offenen Raume der unendlich möglichen Weltverwirklichung. Wohl dürfen wir sagen, daß es ein Mangel in dem Geiste ist, der nicht Macht wird, und ein Mangel der Macht, die nicht mit der Tiefe des Menschseins sich verbindet. Der Geist wird ohnmächtig, die Macht böse. Aber in dieser Spannung ist es der geschichtlich unabschließbare Weg, die Macht zum Element des Rechts werden zu lassen, das Dasein zu begründen als Boden der Freiheit des Menschen.“303 Mit dem Begriff der Freiheit wirft Jaspers ein neues Licht in die gesellschaftliche Relevanz seines existenzphilosophischen Entwurfs. Denn der politisch Handelnde steht nicht nur in einem Strom objektiver Abfolge von Ereignissen, er wird im Letzten zugleich bestimmt durch „freie Entscheidungen“304.

3.3 Zur philosophischen und politischen Freiheit Der philosophische Kommunikationsbegriff Jaspers’ zielt auf eine Kommunikation zwischen Existenzen. Und Existenz heißt für Jaspers wesentlich Freiheit. Zwei freie Sich-Treffende können wahrhaftig kommunizieren. Die ganze Philosophie von Jaspers kann man mit Recht als eine „Philosophie der Freiheit“ beschreiben, obwohl

|| wegs die Neigung zu den Situationen der Gewaltanwendung, sondern nur die redliche Anerkennung der Härte dieses Tatbestandes und den Willen zur Entschleierung der Selbsttäuschungen, deren Folge ein Zustand allgemeiner Heuchelei ist.“ 299 Ph II 242. 300 UZG 161. 301 Ebd. 302 Ebd. 303 Ebd. 304 Ph I 120.

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„die Ausführungen in der Philosophie zur Freiheitsproblematik insgesamt nur 25 Seiten betragen“305, um mit Werner Schüßler zu sprechen. Dabei erweist sich der Freiheitsbegriff als ein Grenzbegriff. Denn „Freiheit ist kein Gegenstand [...]. Daher ist Freiheit nicht in einem definierten Begriff vor Augen zu stellen.“306 Für Jaspers ist die Frage, was Freiheit ist, oder der Versuch, Freiheit zu erkennen, vergeblich und unmöglich. Denn diese Frage, ob Freiheit sei, liegt nicht außerhalb des Fragenden als etwas, das definierbar wäre, sondern sie „hat ihren Ursprung in mir selbst, der ich will, dass sie sei“307. Damit will Jaspers zum Ausdruck bringen, dass die Frage nach der Freiheit einen existentiellen Charakter hat. Das Ziel der Freiheit ist das Existieren in ihr, nicht ein Wissen über die Freiheit. Sie vollzieht sich zwar „nicht ohne Wissen, nicht ohne sich einer Willkür als möglicher bewußt zu werden, die sich zunächst in der Erscheinung gesetzlicher Ordnung zur freien Wahl der Pflicht und zum Hören der Idee vertieft“308. Durch das Wissen entstehen mehrere Möglichkeiten.309 Eine der vielfachen Möglichkeiten wird willkürlich gewählt.310 Wissen und Willkür stellen aber für Jaspers nur eine formale Freiheit dar.311 Die Beliebigkeit der Willkür muss man aber vermeiden. Dafür wird der Willkür eine Grenze gesetzt durch das Gesetz.312 Jaspers spricht von „transzendentaler Freiheit“ als der „Selbstgewißheit im Gehorsam gegen ein evidentes Gesetz“313. Des Weiteren vertieft sich Freiheit im Hören der Idee als Ganzheit.314 Aber erst „in der existentiellen Freiheit, die schlechthin unbegreiflich, d.h. für keinen Begriff ist, erfüllt sich das Freiheitsbewußtsein“315. Diese objektiven Momente der Freiheit, die als Wissen, Willkür, Gesetz und Idee in die eigentliche Freiheit einbezogen werden, gelten nach Jaspers als „Voraussetzungen, damit diese tiefste, existentielle Freiheit sich zum Tage bringe“316. Denn „das Entscheidende meiner Freiheit liegt nach Jaspers nicht darin, dass ich etwas wähle, also Objektivitäten, sondern dass ich mich wähle.

|| 305 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 82. 306 UZG 149. 307 Ph II 175. 308 Ph II 185. 309 „Meine Wahl ist abhängig von der Weise meines Wissens, dessen Zustandekommen ich verfolgen kann.“ (Ph II 177) Mit anderen Worten: „Ich kann unter mehreren Möglichkeiten, die ich weiß, wählen.“ (W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 77) 310 „Wo mir mehreres möglich ist, ist meine Willkür Grund dessen, was geschieht.“ (Ph II 177) 311 Vgl. Ph II 185. 312 „Verstand und Willkür erfassen sich in ihrer wesentlichen Freiheit erst unter Gesetzen.“ (K. Jaspers, Nachlaß zur Philosophischen Logik, hg. v. H. Saner / M. Hänggi, München 1991, 276) 313 Ph II 185. 314 Vgl. Ph II 179. 315 Ph II 185. 316 Ph II 180.

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Wenn dieses Wählen auch nur durch die Objektivitäten hindurch realisiert werden kann: Ich wähle mich.“317 In dieser „existentiellen Wahl“318 geht es Jaspers um eine Selbstbestimmung, eine Selbstkommunikation. Es ist „die Selbstgewißheit geschichtlichen Ursprungs der Entscheidung“319. Jaspers betont: „Hier ist frei nur, wer sich entscheiden kann.“320 Und da ich und mein Entschluss nicht zweierlei sind, ist „Freiheit [...] die Wahl meines Selbst“321. Jaspers erklärt dazu: „Erst das helle Bewußtsein dieser Entscheidung macht die Wahl zu einer existentiellen. Damit wird jede Entscheidung ein neuer Grund in der Gestaltung meiner geschichtlichen Wirklichkeit. Nunmehr werde ich nicht gebunden durch das empirisch Wirkliche, das vermöge meines Handelns so wurde, sondern durch den Schritt, den ich als Selbstschöpfung im Augenblick der Wahl an mir selbst tat. Ich wurde so, wie ich mich gewollt habe.“322 So ist die Freiheit für ihn das eigentliche „Signum der Existenzerhellung“323. „Existentiell frei sein“ heißt also: „sich selbst hell zu werden als Existenz“324, und das aufgrund eines Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens.325 Allerdings verwirklicht sich Freiheit immer nur in Gemeinschaft. „Ich kann nur frei sein in dem Maße, wie die Anderen frei sind.“326 Das gilt auch im politischen Bereich. Die „politische Freiheit“ versteht sich so für Jaspers als eine Umsetzung der existentiellen Freiheit im Lebensvollzug des Menschen mitten in der Gemeinschaft bzw. der staatlich verfassten Gesellschaft.327 Nach der bitteren Erfahrung der Unfreiheit durch den Nationalsozialismus steht die politische Freiheit „bei Jaspers im Zeichen wacher Aufmerksamkeit für die Gefährdung des Menschen durch politisch und gesellschaftlich wirkmächtige Reduktionismen im Menschenbild“328. Wie es ihm in seiner Existenzphilosophie um die wahre und eigentliche Existenz geht, so geht es ihm in seinen politischen Ausführungen um die Erneuerung der gesellschaftlichen und politischen Existenz. Hier erweist sich Freiheit für ihn als ein gemeinsames Ziel von Philosophie und Politik. || 317 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 79. 318 Ph II 180. 319 Ph II 185. 320 UZG 148. 321 Ph II 182. 322 Ph II 195. 323 Ph II 176. 324 P. Batthyány, Karl Jaspers und die Freiheit, in: H. R. Yousefi / W. Schüßler / R. Schulz / U. Diehl (Hg.), Karl Jaspers. Grundbegriffe seines Denkens, Reinbeck 2011, 53–65, hier 55. 325 Vgl. Ph II 36; Y. Örnek, Karl Jaspers. Philosophie der Freiheit, München 1986, 35. 326 UZG 147. 327 Vgl. P. Batthyány, Karl Jaspers und die Freiheit, in: H. R. Yousefi / W. Schüßler / R. Schulz / U. Diehl (Hg.), Karl Jaspers. Grundbegriffe seines Denkens, Reinbeck 2011, 53–65, 55. 328 Ebd.

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Die conditio sine qua non der politischen Freiheit sieht Jaspers in einem Rechtsstaat in Form der Demokratie.329 In der „formalen Demokratie“330 hat zwar jeder Einzelne das freie, gleiche und geheime Wahlrecht. Aber für Jaspers ist sie als solche noch „keine Sicherung der Freiheit“331. Um die Freiheit bewahren zu können, muss der gelingenden Demokratie über die formale Absicherung durch demokratische Instanzen oder die Verfassung hinaus ein „zur selbstverständlichen Natur gewordenes Ethos gemeinschaftlichen Lebens“332 zugrunde liegen. So fordert Jaspers statt eines bloßen Rechtstaats eine „Gemeinschaft der Vernünftigen“333. Wenn die Herrschenden durch die Vernunft mit dem politischen Ethos des Volkes zuverlässig wirken, wenn die Einzelnen vernünftig in die demokratischen Zustände im Alltagsleben eindringen, dann entsteht eine solche vernünftige Gemeinschaft.334 In Bezug auf eine politische vernünftige Gemeinschaft spricht Jaspers nicht mehr vom Politiker als solchem, sondern vom „vernünftigen Staatsmann“335 als Inbegriff des echten Politikers, „der in der Wüste den Weg zeigt, wie Moses“336. Den entstandenen Geist, in dem jeder Einzelne ein „Ethos“ entwickeln kann, nennt er „das Überpolitische“337. Jaspers spricht in diesem Zusammenhang von der „überpolitischen Macht der sittlichen Idee“338. Eine der wichtigen Voraussetzungen der „vernünftigen Gemeinschaft“ ist dabei das „Miteinanderreden“. „Die Menschheit zur Freiheit zu bringen, das heißt, sie zum Miteinanderreden zu bringen.“339 Der politische Freiheitsbegriff Jaspers’ ist also eng an den der Kommunikation gebunden.

|| 329 „Demokratie bedeutet Zurgeltungkommen eines jeden nach seinem Können und Verdienst. Rechtsstaat bedeutet die Sicherung dieser Chance und damit die Notwendigkeit der Verwandlung dieser gesetzlichen Sicherung je nach Lage und Erfahrung, aber ohne Gewaltsamkeit, vielmehr in rechtlichen Formen.“ (UZG 156f.) 330 UZG 157. 331 Ebd. 332 UZG 156. 333 Vgl. AZM 301f. 334 Vgl. Y. Örnek, Karl Jaspers. Philosophie der Freiheit, München 1986, 106. 335 AZM 326. 336 AZM 333. 337 AZM 46ff.; Y. Örnek, Karl Jaspers. Philosophie der Freiheit, München 1986, 108; vgl. H. Fahrenbach, Zeitanalyse, Politik und Philosophie der Vernunft im Werk von Karl Jaspers, in: D. Harth (Hg.), Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie, Stuttgart 1989, 167ff. „Der Schritt von der überpolitischen Vernunft zur postulierten Vernunft in der Politik ist […] nur schwer nachzuvollziehen.“ (R. Koselleck, Jaspers, die Geschichte und das Überpolitische, in: J. Hersch / J. M. Lochmann / R. Wiehl [Hg], Karl Jaspers – Philosoph, Arzt, politischer Denker, Basel / Heidelberg / München / Zürich 1986, 300) 338 AZM 49. 339 UZG 149.

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der politische Freiheitsbegriff Jaspers’ innerhalb des existenzphilosophischen Freiheitsbegriffs bestimmt werden muss. „Der politische Begriff der Freiheit wird äußerlich und verkehrt, wenn er nicht fundiert bleibt in dem Sinn der Freiheit, die als das eigentliche Sein und Tun des Menschen gelten muß.“340 Für Jaspers ist nämlich der Wille des Menschen zur politischen Freiheit „selber ein Akt der existentiellen Freiheit“341. Als solche ist die existentielle Freiheit „vorpolitisch und überpolitisch. Sie ist die persönliche Freiheit des Selbstseins und scheint möglich auch in Zuständen politischer Unfreiheit.“342 Dagegen ist die politische Freiheit „nicht daseinsfähig ohne die Leidenschaft aus dem Ursprung existentieller Freiheit. Politische Freiheit wird substanzlos und verschwindet, wo sie nicht bezogen ist auf die tiefere Freiheit des Menschen als Menschen.“343 Wird die politische Freiheit substanzlos, so ist existentielle Freiheit „in ihrer Verwirklichung in der sichtbaren Erscheinung gefährdet oder schließlich vielleicht unmöglich, je mehr die politische Unfreiheit von der Art ist, daß sie den ganzen Menschen und die gesamte Bevölkerung in allem, was getan und gelebt wird, unter Zwang setzt“344. Nur wenn der Wille zur politischen Freiheit „als Daseinsbedingung des Selbstseinkönnens aus der existentiellen Freiheit gefaßt“345 ist, nur dann gewinnt die politische Freiheit an Bedeutung. Und wenn sie an existentiellem Gewicht gewinnt, wird die politische Realität zum Raum des Selbstwerdens, der Verwirklichung des Menschen. So kann Jaspers schreiben: „Politische Freiheit soll alle andere Freiheit des Menschen ermöglichen. Die Politik ist auf Zwecke der Daseinsordnung gerichtet als Grundlage.“346 Die Wechselbeziehung zwischen existenzieller und politischer Freiheit ist also für Jaspers von großer Bedeutung. Man kann hier von einer „Entwicklung der Existenzphilosophie zur politischen Philosophie“347 sprechen. Die Angewiesenheit der existentiellen Freiheit bzw. des Selbstseinkönnens des Einzelnen auf die politische Freiheit darf aber nicht als kausale Wirkungsbeziehung genommen werden. Denn nur der Einzelne kann aus sich selbst und in Akten der

|| 340 UZG 146. 341 AZM 296. 342 Ebd. 343 Ebd. 344 Ebd. 345 H. Fahrenbach, Zeitanalyse, Politik und Philosophie der Vernunft im Werk von Karl Jaspers, in: D. Harth (Hg.), Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie, Stuttgart 1989, 161. 346 UZG 154. 347 Vgl. H. Fahrenbach, Zeitanalyse, Politik und Philosophie der Vernunft im Werk von Karl Jaspers, in: D. Harth (Hg.), Denken zwischen Wissenschaft, Politik und Philosophie, Stuttgart 1989, 139–187, hier 162.

132 | Karl Jaspers oder: Macht als existenzielle Selbstverwirklichung

Selbstbestimmung die ursprüngliche Möglichkeit des Selbstseinkönnens verwirklichen.348 Nicht zu Unrecht kann man mit Yusuf Örnek sagen: „Wie seine existentielle Philosophie, so wächst auch die politische Philosophie von Jaspers auf dem Boden des Einzelnen.“349 Denn wenn auch Jaspers von der Gemeinschaft spricht, so will er doch den Einzelnen treffen. Damit ist aber die Paradoxie der Existenz nicht ausgelöscht: „Existenz ist nicht für sich allein und nicht alles; denn sie ist nur, wenn sie bezogen ist auf andere Existenz und auf Transzendenz, vor der als dem schlechthin Anderen sie sich bewußt wird, nicht durch sich selbst allein zu sein“350

4 Macht als Wesensbestimmung des Seins und die Paradoxie des eigentlichen Seins: Zu Jaspers’ Rezeption des „Willens zur Macht“ bei Nietzsche Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es Jaspers bei dem philosophischen Grundwissen nicht um objektive Seinsaussagen geht, sondern vielmehr um „die Eröffnung der Räume, in denen uns Sein entgegenkommt“351. Jaspers schreibt: „Das philosophische Erdenken des Umgreifenden […] ist ein Erhellen der Räume, aus denen uns das Ursprüngliche entgegentritt. Es sind Räume, in denen erst Wissen möglich ist, die aber selbst nicht gewußt werden.“352 Es wurde auch darauf aufmerksam gemacht, dass Jaspers die Weisen des Umgreifenden in zwei Grundweisen einteilt: das Umgreifende, das wir selbst sind und worin uns jede bestimmte Seinsweise vorkommt, also Dasein, Bewußtsein überhaupt, Geist und Existenz, und das Umgreifende, das das Sein selbst ist, gedacht als Welt und Transzendenz.353 Neben dieser Zweiteilung ist bei Jaspers noch eine andere Ein-

|| 348 Vgl. ebd. 349 Y. Örnek, Karl Jaspers: Philosophie der Freiheit, München 1986, 102. 350 Ph II 2. 351 W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 101. 352 VdW 158. 353 Vgl. K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 28; vgl. auch VdW 47ff. u. 83ff. Hier kommt ein neues Element hinzu und zwar die Vernunft als „Band aller Weisen des Umgreifenden in uns“ (VdW 48 u.113).

4 Macht als Wesensbestimmung des Seins | 133

teilung zu finden, und zwar die Einteilung in das immanente und das transzendente Sein.354 Das immanente Sein als Dasein, Bewußtsein überhaupt, Geist und Welt ist „allgemeiner Erfahrung und daher auch einer vergegenständlichend-wissenschaftlichen Behandlung zugänglich“355, während das transzendente Sein, also Existenz und Transzendenz, „sich jeder gegenständlichen Erfassung entzieht und nur in einem transzendierenden Sprung zu erreichen ist.“356 Nietzsches „Wille zur Macht“ versteht Jaspers als eine metaphysische Deutung des immanenten Seins.

4.1 Der „Wille zur Macht“ als Wesensbestimmung des immanenten Seins Es hat sich erwiesen, dass Jaspers viel Aufschlussreiches über den Machtbegriff bietet. Dies verdeutlicht sich nicht zuletzt durch Begriffe wie „mögliche Existenz“357 oder Existieren als „Sprung“358 bzw. „Aufschwung des Seins in mir“359, „Lebenswille“360 bzw. „Wille zur Überwindung“361, „Kampf“362, der in der Grenzsituation enthüllt, „was eigentlich ist“363, oder Kampf als „Ursprung der Offenbarung eigentlichen Selbstseins“.364 Alle diese Begriffe machen eine gewisse Nähe des Machtbegriffs bei Jaspers zum Begriff des „Willens zur Macht“ bei Nietzsche offensichtlich, anhand dessen Letzterer „das Wesen des Seins“365 bzw. „der Dinge begreifen will“366. Dies wird deutlicher in Jaspers’ Schrift über „Nietzsche“ von 1936, in der er sich unter anderem mit der Weltauslegung bei Nietzsche durch den Begriff des „Willens zur Macht“ befasst.367

|| 354 Vgl. VdW 50; PGO 122. 355 R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII), München 2002, 166–195, hier 177. 356 Ebd. 357 Vgl. Ph II 204ff. u. 246ff. 358 Vgl. Ph II 204f. 359 Ph II 204. 360 Vgl. Ph II 224f. 361 Ph II 230. 362 Vgl Ph II 233f. 363 Ph II 243. 364 Ph II 234. 365 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 305. 366 Ebd., 315. 367 Vgl. ebd., 297ff.

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Bekanntlich ist die Welt als Sein an sich für Jaspers nicht begreifbar. „Wir können von der Welt im Ganzen nicht sagen, was sie sei.“368 So würde jeder Versuch, das Sein bzw. die Welt als das Ganze zu erreichen, das wirkliche Sein verdunkeln und sich als „Schatten Gottes“369 erweisen. Nietzsche, der auch vor jeder Vorstellung des Ganzen als solchen warnt, nennt erstaunlicherweise, so Jaspers, „das, was eigentlich ist und was alles ist, […] Leben“370. Da aber das Leben nicht das Letzte ist, zumal es sich für die Macht opfert, wo die Gefahr des Untergangs droht, folgert Nietzsche, dass dort, wo Leben ist, auch der „Wille zur Macht“ ist. Nietzsche zitierend schreibt Jaspers: „Nun ist ,das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht‘“371. Dabei sind für Jaspers die Begriffe „Leben“ und „Wille zur Macht“ nicht biologisch oder psychologisch zu verstehen, sondern metaphysisch: „Was sie eigentlich seien, bleibt, da in ihnen das Sein selbst getroffen werden soll, ,unergründlich‘.“372 Das Sein ist uns also „nur durch Leben und Machtwillen zugänglich“373, genauerhin wird bei Nietzsche der Wille zur Macht „zum Wesen des Seins schlechthin“374. Ein wesentlicher Aspekt der Deutung des Lebens als „Willen zur Macht“ zeigt sich im Begriff des „Widerstreits“375. Hier hat auch der Begriff des Kampfes seinen Ort. Denn das Leben als Wille zur Macht äußert sich im Kampf mit Anderen und mit sich selbst.376 Es ist ein Kampf um „Mehrwerdenwollen“ bzw. um „Wachsenwollen“377, so dass das Leben ohne Widerstreit keinen Bestand

|| 368 Ebd., 297. 369 Ebd. 370 Ebd., 298. 371 Ebd. 372 Ebd. 373 Ebd. 374 Ebd., 302. 375 Ebd., 300. 376 Vgl. ebd. 377 Jaspers unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Nietzsche und Philosophen, die auch durch den Lebens- oder Willensbegriff das Sein zu bestimmen suchen. „Daß Leben Wille zur Macht‚ das heißt Mehrwerdenwollen, Steigerungswille, Kampf um sein Wachsen ist, tritt bei Nietzsche in Gegensatz zu anderen Bestimmungen, die zunächst verwandt erscheinen können. Gegen Spencer heißt es: ,Leben ist nicht Anpassung innerer Bedingungen an äußere, sondern Wille zur Macht, der von innen her immer mehr ‚Äußeres‘ sich unterwirft und einverleibt‘ […] nicht primär Reaktivität, sondern Aktivität […]; gegen Darwin: Leben ist nicht Kampf ums Dasein – das bezeichnet nur einen Ausnahmezustand – ‚ vielmehr Kampf um Macht, um Mehr und Besser […]; gegen Spinoza: Nicht Selbsterhaltung ist das Wesen des Lebens; es tut alles, nicht um sich zu erhalten, sondern um mehr zu werden […]; gegen Schopenhauer: Was er Wille nennt, ist nur ein leeres Wort; aus dem Charakter dieses Willens ist der Inhalt des Wohin weggestrichen […]. Wille zum Dasein gibt es nicht. ,Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen! Nur wo Leben ist, da ist auch Wille, aber

4 Macht als Wesensbestimmung des Seins | 135

haben kann. „Ohne Nichtsein als Element des Seins wäre das Sein tot“378, so hat Tillich es ontologisch formuliert „Da der Wille zur Macht, dieses letzte Grundfaktum des Seins, sich nur im Kampf äußern kann, so ,sucht er nach dem, was ihm widersteht.‘“379 Denn „Leben lebt […] ,immer auf Unkosten anderen Lebens‘.“380 Entscheidend ist für unseren Zusammenhang, dass für Jaspers die metaphysische Weltauslegung, wie sie Nietzsche durch den Lebensbegriff und den „Willen zur Macht“ durchführt, nicht als Erkennen des Seins zu verstehen ist. Denken kann man zwar nur in Bestimmungen, aber keine Bestimmung trifft als solche, zumal sie immer partikular ist.381 Allerdings wirft Jaspers Nietzsche vor, dass er in seiner Weltauslegung durch den „Willen zur Macht“ in eine metaphysische Gedankenform geraten ist, die, wie in den großen philosophischen Weltsystemen des 17. Jahrhunderts, zur Verabsolutierung eines „relativ universellen in der Welt vorkommenden Phänomens“382, genauer zur Substanzialisierung des Willens zur Macht führt. „Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht ist, so wie sie durchgeführt ist, […] von der Art früherer dogmatischer Metaphysik.“383 Nietzsche legt nämlich nach Jaspers die Welt als Erscheinung des Willens zur Macht aus. „Wo immer er zu ,dem Grunde der Dinge‘ kommt, ist dieser Wille das Letzte.“384 Kritisch schreibt Jaspers dazu: „Statt aus dem großen, befreienden Fragen, das keine allgemeine Antwort mehr findet, zurückzuweisen in die Geschichtlichkeit der je-

|| nicht Wille zum Leben, sondern Wille zur Macht‘.“ (K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 301) 378 GW IX 209. 379 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 300. 380 Ebd. – Jaspers bezieht sich hier auf ein Zitat von Nietzsche, das er nach eigenen Angaben im zweiten Band seiner „Philosophie“ zitiert, ohne aber den Namen von Nietzsche zu erwähnen: „Wenn ich nirgends auf Kosten anderen Lebens leben will, muß ich auf Leben verzichten.“ (Ph II 239) Das ist auch der Fall in Bezug auf den Begriff des Lebens als Kampf: „Haben und mehr haben, Wachstum – das ist das Leben selber“ (K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 300; vgl. Ph II 223), so zitiert Jaspers Nietzsche. Dementsprechend heißt es bei Jaspers in der „Philosophie“, dass alles Lebendige einen Kampf ums Dasein führen muss, passiv „um bloßes Dasein in scheinbarer Ruhe des Bestehens“ oder „aktiv um Wachstum und Mehrwerden“ (Ph II 223). An einer anderen Stelle der „Philosophie“ schreibt Jaspers: „Der Mensch sucht nicht Lust, sondern ein Mehr an Macht, und soll es tun. Die Größe seiner Macht ist zugleich der Rang seines Wertes.“ (Ph II 237) 381 Vgl. K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 299. 382 Ebd., 316. 383 Ebd., 309. 384 Ebd.

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weils gegenwärtigen, ursprünglichen Existenz, scheint er vielmehr doch eine allgemeine Antwort zu geben, wenn er das eigentliche Sein substantiiert zum Willen zur Macht.“385 Hier scheidet sich methodisch der Weg Jaspers’ von demjenigen Nietzsches.

4.2 Der „Wille zur Macht“ und das transzendente Sein Das Sein selbst bzw. das transzendente Sein, sei es die Existenz als „uneigentliche Transzendenz“ oder die „Transzendenz aller Transzendenzen“386, entgeht Jaspers zufolge der Weltauslegung des Willens zur Macht Nietzsches. Dies verdeutlicht er durch die „Paradoxie des Selbstseins“387. Das Selbstsein ist nämlich als „Selbstschöpfung“ und zugleich als „Erscheinung des ursprünglichen Seins“ zu verstehen. Im Prozess des Selbstseins als Selbstschöpfung bzw. als „Sichselbst-Finden in Existenz“388 spielt der Machtwille eine entscheidende Rolle. „Sage ich zu mir: ‚Ich bin frei‘, so heißt das: was ich werde, liegt auch an mir; ich werde, was ich bin, durch das, was ich in der Welt mit mir tue.“389 Die Konzeption des Selbstseins als Erscheinung des ursprünglichen Seins hat aber nach Jaspers mit einem Willen zur Macht nichts zu tun. Denn „ich werde in der Zeit, was ich ewig bin: dies ist die Paradoxie des Sprechens von dem, was als Erscheinung in der Zeit an sich schon ist, aber nur in der Zeit durch Freiheit zur Erscheinung kommt. Dies wird ausgesprochen durch den Spruch ,Werde, was du bist‘, wenn er bezogen ist auf das, was ich ewig bin und nie weiß.“390 So kann Jaspers bezüglich der Weltauslegung des Willens zur Macht Nietzsches schreiben: „Die Auslegung sieht in den menschlichen Schöpfungen zwar die Seite des Machtwillens, sieht die Möglichkeiten der Entartung aller Dinge zu Mitteln des Machtwillens, verfehlt aber in dem ursprünglichen Sein der menschlichen Existenz das, was mit einem Machtwillen schlechterdings nichts zu tun hat und selbst erst ohne ihn

|| 385 Ebd., 310. 386 Jaspers unterscheidet die (1) „universelle, uneigentliche Transzendenz“ und meint damit die „Transzendenz aller Weisen des Umgreifenden“ als Dasein, Bewußtsein überhaupt, Geist und Existenz, und die (2) „eigentliche Transzendenz“ bzw. „die Transzendenz aller Transzendenz“ (vgl. VdW 109). 387 Ph II 45. 388 R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII), München 2002, 166–195, hier 187. 389 PGO 354. 390 Ebd.

4 Macht als Wesensbestimmung des Seins | 137

eigentlich sichtbar wird. Es findet sich in ihm nicht wieder das Selbstsein, das sich für sich verantwortlich weiß.“391 Das ursprüngliche Sein der menschlichen Existenz vermag sich also vor der metaphysischen Auslegung des „Willens zur Macht“ zu behaupten. Des Weiteren denkt Jaspers dieses ursprüngliche Sein als „Sich-Geschenktwerden“392. Hier wird für ihn die „Paradoxie des Selbstseins“ am größten. „Ich bin für mich verantwortlich, weil ich mich selbst will, ich bin mir dieses Ursprünglichseins als Selbst gewiß; und ich werde mir doch nur geschenkt, weil dieses Sichselbstwollen noch eines Hinzukommenden bedarf.“393 Damit ist ein wichtiger Aspekt des Existenzbegriffs Jaspers’ zum Ausdruck gebracht und zwar die Abhängigkeit der Existenz von der Transzendenz im Akt des „Sich-selbst-Findens in Existenz“394. Im Akt des Existenzvollzugs erfährt der Existierende seine Bezogenheit auf die Transzendenz als den Grund seines Seins. Jaspers betont: „Komme ich zu mir selbst, so vollziehe ich mein eigentliches Seinsbewußtsein. Aber wenn ich mir nicht ausbleibe, so bin ich nicht selbstzufrieden. Denn gerade meine eigentliche Freiheit erfahre ich als transzendent gegeben.“395 Es brauchen an dieser Stelle Jaspers’ Begriffe der Transzendenz und der Chiffer nicht weiter erörtert zu werden.396 Entscheidend ist für unseren Zusammenhang, dass sich die Transzendenz aller Transzendenzen Jaspers zufolge einer metaphysischen Weltkonzeption, wie sie im Willen zur Macht zum Ausdruck kommt, verweigert. Sie ist das Sein, das über alle sinnliche bzw. immanente Erfahrung hinausgeht. Und so kommt Jaspers in Bezug auf Nietzsche zu dem Schluss: „Das Entscheidende ist, daß diese Metaphysik einer radikalen Immanenz die Chiffre des Seins als Wille zur Macht lesen will ohne Transzendenz. Was im Dasein sich vor der Transzendenz weiß, kann sich in dieser Metaphysik nicht als verwandt wiedererkennen. Gegen die Möglichkeit dieser Metaphysik steht kämpfend, ohne selbst wesentlich Kampf um Macht zu sein, ein Sein im Dasein, das sich dieser Auslegung

|| 391 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 317. 392 R. Thurnher, Karl Jaspers, in: Ders. / W. Röd / H. Schmidinger, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 3: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie (= Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. XIII), München 2002, 166–195, hier 187. 393 Ph II 45. 394 Vgl. dazu K. Salamun, Karl Jaspers, Würzburg 2006, 31. 395 Ph II 45. 396 Vgl. dazu W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg, 1995, 85ff.; ders., Chiffer oder Symbol? Die Stellung von Karl Jaspers und Paul Tillich zur Frage nach der „analogia entis“, in: C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 2), Wien / Berlin 2007, 135–152.

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verweigert. Dieses geht mit, soweit Nietzsche realistische und partikulare Erhellung in der Welt vollzieht, und versagt sich, wo damit das Sein selbst getroffen werden soll.“397 Weite und Sinn der Kritik Jaspers’ an der Weltkonzeption des „Willens zur Macht“ Nietzsches ist in diesen Sätzen klar getroffen.

|| 397 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 317.

Fünftes Kapitel Zwischenbilanz Am Ende des ersten Teiles der vorliegenden Arbeit soll eine kritische Zwischenbilanz zum Machtbegriff bei Arendt, Foucault, Plessner und Jaspers gezogen werden, um von hier aus die Konturen einer Ontologie der Macht bei Tillich sichtbar zu machen. Aus der Beschäftigung mit Hannah Arendt hat sich ergeben, dass ihr theoretischer Philosophiebegriff – Arendt unterscheidet ja einen praktischen und einen theoretischen Begriff der Philosophie – nicht am Sein orientiert, sondern um das Geistpolitische zentriert ist. Ihr geht es dabei um die Urteilskraft, die sie als die geistige präpolitische Urteilsfähigkeit des Einzelnen bezeichnet. Damit ist die Macht für Arendt, so hat sich gezeigt, als ein politisches Phänomen zu beschreiben, das die geistige Fähigkeit jedes Einzelnen, jede Situation zu beurteilen, voraussetzt, und das entsteht, wenn Menschen im öffentlichen Raum miteinander sprechen und handeln. Daraus folgt, dass die Machtkonzeption Arendts eher eine Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Macht ist, genauerhin eine Antwort auf die Frage danach, wie die Macht entsteht, wenn Menschen zusammen handeln. So hilft uns die Machtkonzeption Arendts nur wenig bei der Grundmotivation dieser Arbeit. Denn Ontologie fragt nicht danach, wie Macht entsteht, wie sich bei Tillich zeigen wird, sondern inwieweit Macht zum Sein gehört.1 Bekanntlich ist die Frage nach dem Was der Macht auch nicht das primäre Interesse Foucaults. Dahinter steht seine Auffassung: Wer nach dem Was der Macht fragt, der scheint „eine recht komplexe Realität außer Acht“2 zu lassen. So wählt der französische Philosoph als Gegenstand seiner Machtanalyse nicht die Macht als solche, sondern „Machtbeziehungen“3. Dabei geht es ihm um die Produktivität der Macht: Wie wird Macht produktiv bzw. ausgeübt? In seiner Auseinandersetzung mit den Machtbeziehungen rekurriert Foucault auf Begriffe wie „Produktivität“, „Kampf“ oder „Widerstand“, die auf den Wesenscharakter der Macht hinweisen. Dabei lehnt er aber jede ontologische Deutung dieser Begriffe ab.4 Ein interessantes Beispiel dafür ist seine Deutung des Begriffs „Widerstand“, den er für einen zentralen Aspekt der Macht hält, denn „wo es Macht gibt, gibt es

|| 1 Vgl. EW XI 234. 2 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 281. 3 Ebd. 4 Vgl. ebd. https://doi.org/10.1515/9783110676754-006

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Widerstand“5. Dieser Begriff geht bekanntlich auf Nietzsche zurück,6 dessen ontologische Deutung des Lebens als „Willen zur Macht“ sich im „Widerstreit“ erweist, worauf Jaspers zutreffend hinweist.7 Foucault sieht aber zwischen Macht und Widerstand kein dialektisches Verhältnis, und er hält den Widerstand nur für einen „chemischen Katalysator, der die Machtbeziehungen sichtbar macht“8. Im Gegensatz zu Foucault, so wird sich zeigen, sieht Tillich zwischen „Macht“ und „Widerstand“ eine ontologische Korrelation. Dies verdeutlicht er nicht zuletzt durch die Polarität von Sein und Nichtsein, wobei für ihn das Nichtsein zum Schlüssel für den Machtbegriff wird. Denn „daß etwas ist, zeigt es an dem Widerstand, den es leisten kann“9. Das zentrale Anliegen Plessners ist bekanntlich die Frage nach der Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen. Was macht den Menschen zum Menschen? Diese Frage beantwortet er anhand der Prinzipien der „exzentrischen Positionalität“ und der „Unergründlichkeit“ des Menschen. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch nämlich ein „Wesen ohne fixiertes Zentrum“10 und damit „ohne vorgegebenes identisches Selbst“11, denn er ist von seiner Mitte abgehoben, und er findet sich als Mitte somit ins Nichts seiner eigenen Grenze gestellt.12 Diese exzentrische Positioniertheit des Menschen enthält ein Moment des SichErlebens bzw. eines Selbstverhältnisses, das eine Selbstdistanzierung voraussetzt. Und diese verweist nach Plessner „auf ein Immer-schon-eine-Position-vollzogen-Haben und auf ein Immer-schon-auch-anders-Können“13, so dass keine fixe Definition des Menschseins möglich ist. Damit ist das Menschsein für den Menschen selbst prinzipiell verborgen. Der Mensch wird in diesem Sinne zu einer

|| 5 M. Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1998, 116. 6 Foucault verdankt „der Auseinandersetzung mit Nietzsche wesentliche Anregungen“ (V. Gerhardt, Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretationen, in: Nietzsche-Studien 10/11 [1981/82] 193–221, hier 194 Anm. 1). 7 Vgl. K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 300. 8 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 273. 9 GW IX 168. 10 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 101. 11 Ebd. 12 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 292. 13 T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 119.

Zwischenbilanz | 141

„offenen Frage“14. Das Oszillieren zwischen einem „Immer-schon-eine-Positionvollzogen-Haben“ und einem „Immer-schon-auch-anders-Können“ setzt den Menschen ins Nichts seiner eigenen Grenze und macht den unergründlichen Charakter des menschlichen Seins aus.15 Dieses Ins-Nichts-gestellt-Sein, so haben wir gesehen, erlaubt keine fixe Definition des Menschen. In der Relation zu seiner Unfassbarkeit „faßt sich der Mensch als Macht und entdeckt sich für sein Leben […] als offene Frage“16. In seine Grenze gesetzt und deshalb über diese hinaus, wie Plessner betont,17 zeigt sich der Mensch als ein unerschöpfliches Können.18 Mit anderen Worten: Was er sich in der Unbestimmtheit versagt, „wächst ihm als Kraft“ des unerschöpflichen Könnens wieder zu.19 Das bedeutet nach Plessner auch, dass Macht erst Macht ist auf der Basis von Ohnmacht, denn „selbst Sein ist erst Selbst-Sein auf dem Grunde eines Nichtselbstseins“20. Allerdings lehnt Plessner dabei jede ontologische Auslegung des Menschen als Macht ab. Dass Macht erst Macht ist auf dem Hintergrund der Ohnmacht, ist für Plessner nicht so zu verstehen, „als ob das Ohnmächtige das Mächtige trüge oder gar aus sich hervorgehen ließe“21, wie es sich bei Tillich zeigen wird.22 Wenn man das meinte, so wäre nach Plessner „das Prinzip der Unentscheidbarkeit preisgegeben und ein Primat der (ontologischen) Philosophie“23 bestätigt. „Und schließlich, was ebenso auf den Primat einer Philosophie hinausliefe, Macht und Ohnmacht, Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit stehen nicht im dialektischen Verhältnis zueinander.“24 Plessner hat zwar den Menschen als Macht verstanden, aber seine Absicht war nicht die Herkunft und die Bedeutung des Machtbegriffs

|| 14 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 175ff. 15 Vgl. ebd. 16 Ebd., 188. 17 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 292. 18 Vgl. H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 188. 19 Vgl. ebd. 20 Ebd., 225. 21 Ebd. 22 Vgl. GW IX 209. 23 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 225. 24 Ebd.

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aufzuhellen. Ihm war es wichtig, das Phänomen der Macht in anthropologischer Perspektive zu analysieren. Damit scheint er aber das Wesen der Macht nicht entschlüsselt zu haben. Hierzu verdanken wir aber Jaspers, darauf wurde hingewiesen, wesentliche Anregungen nicht zuletzt in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche. Es wurde bereits erklärt, dass die Grundfrage des Denkens von Jaspers die Frage nach dem „Was“ der Philosophie ist und dass dabei die Frage nach der Bestimmung des Menschen letztlich auch integriert ist in diese Frage nach dem Was der Philosophie.25 Dabei wurde auch dargelegt, wie sich der Begriff der Macht bei Jaspers als Verwirklichung der menschlichen Existenz im Durchstehen der Grenzsituationen und in der existenziellen Kommunikation begreifen lässt. Auch seine Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Willens zur Macht“ wurde erörtert. Dabei erkennt Jaspers im „Willen zur Macht“ zwar eine metaphysische Weltauslegung, aber Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht bezeichnet er als „Metaphysik einer radikalen Immanenz“, die „die Chiffre des Seins als Wille zur Macht lesen will ohne Transzendenz“26. Transzendenz bedeutet bekanntlich für Jaspers sowohl die eigentliche Transzendenz bzw. der absolut verborgene Gott als auch die uneigentliche Transzendenz bzw. die menschliche Existenz. Im „Willen zur Macht“ sieht Jaspers zwar ein Zeichen der menschlichen Selbstschöpfung, aber das ursprüngliche Sein der menschlichen Existenz hat „mit einem Machtwillen schlechterdings nichts zu tun“ und wird „selbst erst ohne ihn eigentlich sichtbar“27. Denn „ich werde in der Zeit, was ich ewig bin […] und nie weiß“28. Das ursprüngliche Sein der menschlichen Existenz vermag sich also, wie die eigentliche Transzendenz, vor der metaphysischen Auslegung des Willens zur Macht zu behaupten. Da uns aber das Sein nur dann zur Wirklichkeit wird, wenn es zur Sprache kommt,29 ist die Chiffre nach Jaspers „das Sein, das Transzendenz zur Gegenwart bringt“30. Nicht also der „Wille zur Macht“ bringt ihm zufolge das Sein ans Licht, sondern die Chiffre. Und sie tut dies, ohne dass dabei „Transzendenz Sein als Objektsein und Existenz Sein als Subjektsein werden müßten“31. An dieser Stelle kann man die Funktion der Chiffern bei Jaspers mit derjenigen der Transzendentalien vergleichen, die darin besteht, das Verhältnis des Seins zur

|| 25 Vgl. W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 8. 26 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 317. 27 Ebd. 28 PGO 354. 29 Vgl. Ph III 136. 30 Ph III 137. 31 Ebd.

Zwischenbilanz | 143

Welt darzustellen. Und da auch Tillich dem Machtbegriff den Rang eines transzendentalen Begriffs zuschreibt, mag es nicht ganz unzutreffend sein, eine gewisse Nähe der Chiffernlehre von Jaspers zur Machttheorie von Tillich zu sehen.

| Teil 2: „Sein ist die Macht zu sein“ Zum Machbegriff Paul Tillichs

Einführung „Philosophie kann als Wissenschaft von den konstituierenden Principien der Wirklichkeit definiert werden.“1 Tillich erklärt dazu: „Nicht nur Lehre von den Sinnprincipien, wie ich im ,System der Wissenschaften‘ behaupte, sondern von den Seins- und Sinnprincipien. Darin liegt die Preisgabe der idealistischen Voraussetzung, daß die theoretische Sphäre vom Sinn (oder Wert) statt gleichzeitig vom Sein und Sinn her zu verstehen wäre.“2 Dieses Zitat aus dem von Tillich 1927 verfassten „System der religiösen Erkenntnis“ ist aus mehreren Gründen für die Entwicklung von Tillichs Denken aufschlussreich. Es stellt nicht nur die Bedeutung, die der Sinn- und der Seinsbegriff in seinem Werk einnehmen, heraus, sondern es sagt auch etwas über die werkgeschichtliche Entwicklung seines Denkens aus. „Sinn“ und „Sein“ sind nämlich beide, wenn nicht die bedeutendsten Begriffe im Werk Tillichs, so doch zwei Begriffe, die zentral für sein philosophisch-theologischen System sind. Bekanntlich ist für Tillich in der Trennung von Kultur und Religion der Hauptgrund für die Sinnkrise der Moderne zu suchen, die zugleich auch eine Seinskrise darstellt. Dies „ist nach Tillich nicht nur für die einander widerstreitenden Weisen, in denen der menschliche Geist der Wirklichkeit Sinn zuschreibt, symptomatisch, sondern, grundsätzlicher noch, für den allgemeinen ontologischen Zustand des Menschen“3. Der Mensch findet sich nicht nur in einer „sinnlosen Welt“, sondern auch in der Situation einer Spaltung im Verständnis von sich selbst und seiner Welt.4 Mit anderen Worten, der moderne Mensch, wie Tillich ihn versteht, hat (aufgrund der Trennung von Religion und Kultur) sich selbst, seine Welt und Gott verloren. Dieser Trennung liegt ein zweifacher Konflikt zugrunde: einer im Bereich des Sinns und einer im Bereich des Seins.5 Wie diese Konflikte im jeweiligen Bereich überwunden werden können, damit beschäftigt sich Tillich zeitlebens und dies zunächst im Rahmen seiner geistphilosophisch orientierten Theorie des Sinnes, die sein Frühwerk prägt. In diesem Sinn versteht er in seinem 1923 verfassten „System der Wissenschaften“ Philosophie als „Lehre von den Sinnprincipien“6.

|| 1 EW XI 91. 2 Ebd., Anm. c. 3 M. Palmer, Paul Tillichs Theologie der Kultur, in: MW II 33–67, hier 33. 4 Vgl. GW XI 107. 5 Vgl. M. Palmer, Paul Tillichs Theologie der Kultur, in: MW II 33–67, hier 34. 6 GW I 232 u. 306. https://doi.org/10.1515/9783110676754-007

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Seit dem Ende der 1920er Jahre, nicht zuletzt unter dem Einfluss von Martin Heidegger7 sowie von Max Scheler und Nicolai Hartmann,8 vertieft Tillich sein

|| 7 In seinen autobiographischen Ausführungen „Auf der Grenze“ weist Tillich darauf hin, wie seine Begegnung Mitte der 1920er Jahre mit Heidegger und dessen Denkmethode später sein eigenes Denken beeinflusst hat (vgl. GW XII 69). Gegen die mechanistische Naturwissenschaft und die materialistische Ontologie, denen die Deutung der Natur und des Menschen nach dem Zusammenbruch des hegelschen Systems überlassen wurde (vgl. GW XI 189), hat bekanntlich Heidegger die Seinsfrage im 20. Jahrhundert erneuert und sie mit seiner „ontologischen Differenz“ (der Differenz zwischen Sein und Seiendem; vgl. dazu M. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 24, hg. v. F.-W. von Hermann, Frankfurt/M. 21989, 322ff.) bestimmt. Dementsprechend unterscheidet er bereits in seiner Schrift „Sein und Zeit“ die ontologische Frage, „die Frage nach dem Sinn von Sein“, von der metaphysischen Frage, der Frage nach dem Sein. (Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 182001, 1f.) Dass Tillich die Frage nach dem Sinn von Sein stellt, geht sicherlich auf Heideggers Einfluss zurück. Tillich unterscheidet nämlich auch die ontologische Frage nach dem „Sinn des Seins“ von der theologischen Frage bzw. der Frage nach dem „Jenseits des Seins“ (vgl. EW XIV 435–440). Für ihn sowie für Heidegger kommt der Sinn des Seins im menschlichen Sein zur Anschauung. „Die Frage nach dem Sinn des Seins, die der Mensch an sein eigenes Sein stellt, treibt sinngemäß zu der Frage nach dem Jenseits von Sein und Sinn. Antwort auf diese Frage wäre die religiöse Erkenntnis; aber solche Antwort liegt nicht im menschlichen Sein, nicht im Sein überhaupt. Sie ist nicht Gegenstand eines ontologischen, sondern, wenn überhaupt, eines prophetischen Zeugnisses. Der Ontologie bleibt die Aufgabe, bis an diesen Punkt heranzuführen, wo möglicherweise prophetisches Zeugnis und damit religiöse Erkenntnis entspringt. Sie soll die Anschauung des vorgegenständlichen menschlichen Seins bis zu der Stelle treiben, an der das menschliche Sein über sich hinausweist, die ontologische Frage zur theologischen wird.“ (EW XIV 439; zum Bezug von Tillichs Ontologiebegriff zu Heidegger vgl. P. R. Scharlemann, Ontologie: Zur Begriffsbestimmung bei Tillich in den zwanziger Jahren, in: G. Hummel [Hg.], God and Being / Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich / Das Problem der Ontologie in der Philosophischen Theologie Paul Tillichs. Contributions made to the II. International Paul Tillich Symposium held in Frankfurt 1988 / Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988 [TBT 47], Berlin / New York 1989, 100–107) 8 In seinem Beitrag „Ist eine Wissenschaft von den Werten möglich?“ von 1957 (vgl. GW III 100– 106) weist Tillich darauf hin, dass Scheler und Hartmann die Wertphilosophie bis zu einem Punkt getrieben haben, an dem die Ontologie unvermeidlich wird (vgl. GW III 102). Dass Tillich von Nicolai Hartmann beeinflusst ist, zeigt sich auch darin, dass er den Begriff der „Schicht“ („Schicht des Seins“, GW VII 112; „Seinsschichten“ GW II 122; „Schicht eines Dinges“ GW IV 91), den er später durch den der „Dimension“ ersetzt, von diesem übernommen hat (vgl. dazu G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, 350f. Anm. 293). Zu Tillichs Präferenz des Begriffs der Dimension gegenüber dem der Schicht vgl. E Rolinck, Geschichte und Reich Gottes. Philosophie und Theologie der Geschichte bei Paul Tillich, München / Paderborn / Wien 1976, 119: „Nicht nur in der Lebensphilosophie will Tillich die Metapher ,Schicht‘ vermeiden, sondern auch in der theologischen Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch; darin wird deutlich, daß die Überwindung des hierarchischen Denkens bei Tillich eng mit seiner

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Philosophieverständnis um eine bedeutende Komponente und spricht nun von „den konstituierenden Prinzipien der Wirklichkeit“ bzw. von „Seins- und Sinnprincipien“9. Nun erweitert Tillich seinen bis dahin dominanten geistphilosophischen Sinnbegriff durch Formeln wie Sinn des Seins einerseits und Jenseits des Seins10 sowie Jenseits von Sein und Sinn11 andererseits. Der Sinn des Seins kommt jedoch erst im menschlichen Sein zur Anschauung: „Die Frage nach dem Sinn des Seins, die der Mensch an sein eigenes Sein stellt, treibt sinngemäß zu der Frage nach dem Jenseits von Sein und Sinn“12, schreibt Tillich in dem Prolog zu seiner geplanten Schrift „Die Gestalt der religiösen Erkenntnis“ von 1928. Damit wird deutlich, dass der Seinsbegriff allmählich den Begriff des Sinns zu überlagern beginnt. Zutreffend schreibt Karsten Höpting: „Der Sinnbegriff bildet das

|| Ablehnung des Supranaturalismus zusammenhängt. Der supranaturalistische Dualismus teilt die Wirklichkeit auf in eine übernatürlich-göttliche und eine natürlich-menschliche Schicht.“ 9 Erhellend für diese „Selbstkorrektur“ Tillichs, um mit Neugebauer zu sprechen (vgl. G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie: Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, 351), ist, dass nun neben dem Sinnbegriff auch der Seinsbegriff akzentuiert wird. Tillich wirft nämlich den Wertphilosophen, Lotze und seinen Anhängern, vor, dass sie Wert und Sein bzw. Sollen und Sein strikt voneinander trennen: „Für sie haben Sein und Wert nichts gemein: Wert hat kein Sein, und Sein ist kein Wert“ (GW III 100). Für Tillich verwirklichen sich demgegenüber Werte in und durch die Existenz. Aber „wie ist das möglich, wenn es keinerlei ontologische Partizipation der Werte an der Existenz gibt und eine unüberbrückbare Kluft Existenz und Werte trennt? Wie kann ein von jenseits der Existenz kommendes Gebot irgendeinen Einfluss auf sie haben?“ (GW XI 190; vgl. dazu auch C. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 380 Anm. 59) Genau an diesem Punkt macht sich für Tillich eine Ontologie unentbehrlich. Vgl. zu Tillichs Auseinandersetzung mit der Wertphilosophie: GW XI 189ff.; GW III 100–106; GW IV 91ff. Bereits in seiner Geistphilosophie der frühen Nachkriegszeit zeigt sich der Seinsbegriff, neben dem des Denkens, als Aufbauelement des Geistes. Der Geist, wie er diesen in seinem „System der Wissenschaften“ von 1923 erörtert, beruht auf der Dialektik von „Denken und Sein“, wobei Tillich den Geist als existierendes Denken beschreibt (GW I 120). Somit steht die Ontologie Tillichs im Einklang mit seiner sinntheoretischen Geistphilosophie der frühen 1920er Jahre und zeigt sich als ihre Weiterführung. 10 Vgl. GW II 191. 11 Vgl. EW XIV 273; vgl. dazu auch C. Danz, „Sein [...] ist die Macht zu sein.“ Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice, in: Ders. / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Justice, Power, and Love (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9), Berlin / Boston 2014, 27–45, hier 31. 12 EW XIV 439.

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gedankliche Zentrum der Arbeiten von etwa 1918 bis 1933. Für das Spätwerk Tillichs […] liegt der gedankliche Fokus […] auf der Ontologie.“13 Dies kann auch exemplarisch an der Entwicklung des Machtbegriffs Tillichs aufgezeigt werden. In der Konstellation der „Suche nach Sinn“ im Kontext seines religiösen Sozialismus14 und seiner damit verbundenen Theologie der Kultur einerseits und der „Suche nach Sein“ andererseits nimmt der Machtbegriff in Tillichs Denken eine Schlüsselrolle ein. Dabei wird sich zeigen, dass dieser sowohl eine Antwort auf die Sinnfrage als auch auf die Seinsfrage darstellt. Denn Macht ist nach Tillich einerseits Sinnerfüllung, „sinnerfüllte Mächtigkeit“15, und andererseits bilden Macht und Sein eine lebendige Einheit, die darin besteht, der Situation der Sinnlosigkeit, ontologisch ausgedrückt: der Drohung des Seins durch das Nichtsein zu widerstehen.16 Damit sind die entscheidenden Aspekte benannt, welche es in diesem Teil zu bearbeiten gilt. Meine Überlegungen sind von der These getragen, dass der Machtbegriff des frühen Tillichs im Rahmen seines „religiösen Sozialismus“ und dessen Entwicklung sinntheoretisch vermittelt ist, während der Machtbegriff in seiner Spätphase eine ontologische Deutung erhält. Das schließt aber nicht aus, dass sinntheoretische Ausführungen zum Machtthema im Spätwerk Tillichs zu finden sind und ontologische Überlegungen im Frühwerk zuweilen schon vorweggenommen werden.

|| 13 K. Höpting, Der Mythosbegriff bei Paul Tillich, in: P. Haigis / I. Nord (Hg.), Theologie der Liebe im Anschluss an Paul Tillich (= Tillich-Preview 2013, Bd. 4), Münster 2013, 43f. 14 Seinen religiösen Sozialismus versteht Tillich als Lösungsversuch für das Sinnproblem. „Der Sozialismus“, schreibt er, „ist ja in seiner Tiefe Wille zur Gestalt gegenüber der Gestaltlosigkeit und Wille zum Lebenssinn gegenüber der Sinnlosigkeit“ (GW II 123). 15 „Macht ist sinnerfüllte Mächtigkeit“ (EW XI 240) sowohl im persönlichen Bereich, denn Macht ist „Mächtigkeit auf dem Boden der Freiheit“ (ebd.), und „Freiheit ist nur als Gebundenheit an das Gesetz des Sinnes“ (EW XI 238) sowie in der Begegnung mit dem anderen Menschen: Macht heißt hier nach Tillich „sinnerfüllte, anerkannte Mächtigkeit“, „Hingabe an den Sinn des Anderen“ (EW XI 244). 16 Macht und Sein, so Tillich, gehen zusammen im Begriff der Seinsmächtigkeit, die darin besteht, dem Nichtsein zu widerstehen (vgl. ST I 273, 289; ST III 437; vgl. dazu auch J. Ringleben, Gott denken. Studien zur Theologie Paul Tillichs [= Tillich-Studien, Bd. 8], Münster 2003, 50).

Erstes Kapitel „Macht als sinnhafte Mächtigkeit“: Zum Machtverständnis im religiösen Sozialismus Tillich Aus der Zahl der Schriften des frühen Tillichs zum Machtbegriff ist zunächst sein 1931 in der Zeitschrift „Neue Blätter für den Sozialismus“ veröffentlichter Beitrag mit dem Titel „Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung“1 zu nennen. Bereits 1929 ging er dem Machtbegriff in seinem Vortrag „Zwang und Freiheit im sozialen Leben (Philosophie der Macht)“2 vor der Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft in Stuttgart nach. Diese beiden Abhandlungen sind exemplarisch für Tillichs Machtverständnis im Zusammenhang seines religiösen Sozialismus. Das Thema Macht erschöpft sich im Frühwerk Tillichs freilich nicht in diesen beiden Beiträgen. Durch sein ganzes Frühwerk hindurch (wie auch durch sein Spätwerk, wie wir sehen werden) sind immer wieder Überlegungen zum Machtthema zu finden. Zum besseren Verständnis des Machtbegriffs Tillichs ist es hilfreich, die Situation zu skizzieren, in der Tillich seinen Machtbegriff entwickelt hat, d.h. den zeitgeschichtlichen und kulturellen Hintergrund aufzuhellen. Dabei wird klar, dass der Machtbegriff Tillichs kein starrer, sondern ein dynamischer Begriff ist, der sich entwickelt und verändert, je nach der „Gesellschafts- und Geisteslage, aus der er geboren ist“3. Vom deutschen Kaiserreich, von der Erfahrung Tillichs

|| 1 P. Tillich, Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung, in: Neue Blätter für den Sozialismus 2 (1931) 157–170; jetzt in: GW II 193–208; MW III 250–268. Der Machtbegriff des frühen Tillichs ist im Zusammenhang mit seinem nach dem ersten Weltkrieg entwickelten Religiösen Sozialismus (und mit der damit verbundenen Theologie der Kultur) zu sehen. Vgl. dazu W. Schüßler, Die Berliner Jahre (1919–1924), in: R. Albrecht / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillich – Sein Werk, Düsseldorf 1986, 38–54. 2 EW XI 233–247. 3 MW III 194. Für Tillich bestimmten die Begriffe Wandel und Neubau die innere Stimmung der frühen Nachkriegszeit bis etwa 1925 (vgl. GW X 113). Das Jahr 1926 deutet er im Sinne eines Einschnitts, was er besonders deutlich macht in seinem Beitrag „Die geistige Welt im Jahre 1926“ (vgl. GW X 94–99), wo es heißt: „Denn das Jahr 1926, es ist im Geistigen ein Jahr der Beruhigung, der Müdigkeit, der Resignation und – des Atemholens, der verborgenen Schöpfung.“ (GW X 99) Auch in seiner Kairosschrift von 1926 (vgl. „Kairos II“, in: GW VI 29–41) schreibt Tillich: „Es ist, als ob ein Reif gefallen wäre auf all die Dinge, von denen hier gesprochen ist, heißen sie Jugendbewegung oder Lebensphilosophie, heißen sie Expressionismus oder religiöser Sozialismus! War nicht doch alles Romantik, Rausch, Utopie?“ (GW VI 41) Ähnlichen Gedanken geht Tillich https://doi.org/10.1515/9783110676754-008

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als Feldgeistlicher an der Westfront während des Ersten Weltkriegs bis hin zum Heraufkommen des Nationalsozialismus sind ganz deutlich Schwerpunktverschiebungen in Tillichs Machtverständnis erkennbar.4

1 Kurzer historisch-werkgeschichtlicher Überblick: Kontext und Entwicklung des Machtverständnisses Tillichs „Eine neue Theologie oder Philosophie fällt nicht zufällig vom Himmel, sondern wird durch die Geschichte vorbereitet, und zwar durch soziologische und politische Entwicklungen ebenso wie durch theologische und philosophische Bewegungen.“5 Damit stoßen wir auf die Zeitbezogenheit von Tillichs Denken. Denn

|| später auch in seinem Beitrag „Die Geisteslage der Gegenwart: Rückblick und Ausblick“ (vgl. GW X 108–120, hier 109) nach. Dort ist er der Ansicht, dass der Einschnitt nicht nur oberflächlich, sondern deutlich erkennbar ist. So schreibt Tillich: „Eine Zeitperiode verstehen heißt, ihren Rhythmus verstehen, und auch die kurze Periode der letzten zehn Jahre hat schon ihren Rhythmus. Der Einschnitt liegt in der Mitte. In den ersten fünf Jahren die mächtigen Wellen der weltgeschichtlichen Ereignisse, die am Anfang des Jahrzehnts stehen, Kriegsausgang und Revolution, in den zweiten fünf Jahren Beruhigung, Verfestigung, Rückwendung in allen Gebieten. Natürlich liegt dieser Einschnitt nicht grob an der Oberfläche, aber dem Auge, das tiefer blickt, ist er deutlich erkennbar.“ (GW X 109; vgl. dazu J. Kubik, Paul Tillich und die Religionspädagogik: Religion, Korrelation, Symbol und Protestantisches Prinzip, Göttingen 2011, 296f.) 4 Es hat sich gezeigt, dass der Erste Weltkrieg eine entscheidende dynamische Phase sowie ein maßgeblicher Wendepunkt in der Biographie Tillichs ist. Sein Engagement für den religiösen Sozialismus sieht er als konsequente Reaktion auf die geschichtliche Situation des Ersten Weltkrieges. Konstitutiv für dieses Engagement im religiösen Sozialismus ist sein Verständnis von Geschichte bzw. Geschichtsphilosophie, wo die Hauptthemen Theonomie, Kairos und das Dämonische heißen. (Vgl. E. Sturm, Tillichs religiöser Sozialismus im Rahmen seines theologischen und philosophischen Denkens, in: C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm [Hg.], Religion und Politik [= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 4], Berlin / Wien 2009, 15–34, hier 19) Tillich bringt hier den Machtbegriff in Zusammenhang mit diesen Hauptbegriffen, besonders mit dem der Theonomie und dem des Dämonischen, und er spricht hier vom „theonomen Staat“ (basierend auf der Bejahung des Anarcho-Föderalismus mit der Ablehnung des „Machtgedankens“) sowie vom „dämonischen Machtwillen“. Gegen Ende der 1920er Jahre gewinnt das Wesen des Menschen einen wichtigen Rahmen in der Gedankenwelt Tillichs. Nun verlangt er vom Sozialismus, ausgehend von den anthropologischen Wurzeln politischen Denkens, ein positives Verhältnis zur Macht. Der Sozialismus, so Tillich, „muß sich zu einem positiven Verständnis der Macht durchringen und von da aus zu einer neuen Theorie des Staates“ (GW II 342). 5 EW II 125.

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„hinter der Theorie“, um mit Werner Schüßler zu sprechen, „steht ja nicht selten die Praxis, hinter Einsichten nicht selten die Biographie“6. Dies gilt auch für die Entwicklung von Tillichs Machtbegriff. Das Machtverständnis des frühen Tillichs entsteht und entwickelt sich im sozialen und politischen Zusammenhang dreier Hauptperioden deutscher Geschichte: erstens der Kriegsjahre, zweitens der „Revolution“ und der Weimarer Republik sowie drittens des Erfolgs des Nationalsozialismus. An dieser Stelle soll ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Machtverständnisses Tillichs im Horizont seines „religiösen Sozialismus“ in diesen drei Perioden geboten werden.

1.1 Die Fronterfahrung: Abgrund- und Schlüsselerlebnis Vor dem Ersten Weltkrieg stand Tillich, wie auch viele andere deutsche Intellektuelle, der Politik indifferent gegenüber, wie er selbst zugesteht. Es war der Erste Weltkrieg und besonders die Revolution von 1918, die ihm den Zugang zu sozialen und politischen Problemen eröffneten.7 Geprägt von dem damalig vertretenen lutherischen Obrigkeitsverständnis,8 voller Begeisterung und aus

|| 6 W. Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht.“ Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230, hier 204. 7 Vgl. GW XII 23. 8 In seinen „Autobiographischen Betrachtungen“ beschreibt Tillich, wie autoritär die Struktur der preußischen Gesellschaft in Ostdeutschland vor dem Ersten Weltkrieg war und wie er selbst von dieser Struktur geprägt war. Diese strenge Struktur machte den preußischen König, der zugleich auch der deutsche Kaiser war, zur Spitze der ganzen Hierarchie. „Zum Patriotismus“, schreibt Tillich, „gehörte vor allem Ergebenheit gegenüber dem König“ (GW XII 62). Überdies taucht immer wieder in seinen Feldpredigten, in denen er versucht, dem Krieg einen religiösen Grund zu geben und die Soldaten zu ermutigen und zum Opfer zu bewegen (vgl. E. Sturm, Macht und Gewalt im politischen Denken Tillichs, in: W. Schüßler / E. Sturm [Hg.], Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich [= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5], Münster 2005, 53–86, hier 54f.; A. Rössler, Der Erste Weltkrieg [1914–1918], in: R. Albrecht / W. Schüßler [Hg.], Paul Tillich – Sein Werk, Düsseldorf 1986, 28–37, hier 30), das Verständnis von der Obrigkeit im damaligen deutschen Luthertum auf, dem zufolge deren Legitimität von Gott kommt. Bereits in einer seiner frühen Predigten, die er in Lichtenrade/Mahlow am 13. Juni 1909 gehalten hat, stellte er die Frage: „Trägt nicht die Obrigkeit das Schwert, zu strafen und Recht zu schaffen?“ (EW VII 115) In seiner Predigt über den Text von Psalm 29,10f. zum Geburtstag des Kaisers am 27. Januar 1917 heißt es: „Es ist ein Stück göttlichen Rechtes, das der Obrigkeit gehört.“ (EW VII 536) Das Bündnis von „Thron und Altar“ in der damals vom deutschen Luthertum vertretenen Lehre der Obrigkeit ist ja positiv besetzt. Dass Tillich auf den Ruf des Kaisers antwortete und sich zum Militärdienst meldete,

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Patriotismus9 meldete sich Paul Tillich bei Ausbruch des Krieges freiwillig zum Militärdienst. An der Westfront in Frankreich wirkte er als Feldgeistlicher von Oktober 1914 bis zum 31. August 1918.10 Das vierjährige Kriegserlebnis beschreibt er als „Abgrunderlebnis“11. Allerdings war die Fronterfahrung für Tillich zugleich ein Schlüsselerlebnis. Das Abgrunderlebnis lag zunächst für Tillich in der Konfrontation mit der Fragilität menschlichen Daseins12 sowie der absoluten Sinnlosigkeit des Lebens13 in Form des Leidens und des Todes. Sein dienstlicher Bericht über die Monate November und Dezember 191514 sowie seine Berichte an die Familie über die Schlachten bei Tahure15 und bei Verdun16 stellen unter anderem eine Spiegelung dieses Abgrunderlebnisses dar. Aus seinen Predigten an der Front geht auch diese Stimmung des Abgrundes hervor.17 Bekanntlich beschreibt Tillich das

|| mag also nicht nur seinem Patriotismus geschuldet sein, sondern auch seinem damaligen Obrigkeitsverständnis, das sich auf die lutherische Lehre von der Obrigkeit berief. (Vgl. E. Sturm, Macht und Gewalt im politischen Denken Tillichs, in: W. Schüßler / E. Sturm [Hg.], Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich [= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5], Münster 2005, 53–86, hier 55) In seinem 1926 veröffentlichen Beitrag „Die religiöse Lage der Gegenwart“, geht Tillich kritisch dieser Koppelung von „Thron und Alter“ nach: „Das Luthertum […] geriet […] über das Staatskirchentum und die Heiligsprechung des nationalstaatlichen Machtwillens in fast noch größere Abhängigkeit von ihm.“ (GW X 16) 9 „Als Vaterlandskämpfer sind wir in den Krieg gezogen, und die Krone, die wir erringen wollen, ist der Sieg unserer deutschen Waffen. Die Siegeskrone wollen wir erstreiten gegen eine Welt von Feinden. Deutschland soll größer werden; Deutschlands Größe ist der Kranz, den jedes deutsche Haupt zieren soll“ (EW VII 359), heißt es in einer seiner Predigten zu Anfang seines Militärdienstes im Oktober 1914. 10 Vgl. GW XII 67. 11 In einem späteren Rückblick auf den Ersten Weltkrieg fasst Tillich seine Fronterfahrung im Begriff des Abgrundes zusammen: „Das vierjährige Erleben des Krieges riß den Abgrund für mich und meine ganze Generation so auf, dass er sich nie mehr schließen konnte.“ (GW XII 34) Aber diese „Abgrundstimmung“ begegnet auch schon in seinen Feldpredigten. So heißt es 1916, nach der Schlacht bei Verdun, in einer Predigt: „Nun sind wir alle aufs Tiefste erschrocken vor dem Abgrund, der sich uns geöffnet hat.“ (EW VII 498) 12 In einem Brief an seinen Vater vom 19. Dezember 1915 schreibt Tillich, dass es „der menschlichen Natur nicht möglich ist, dauernd auf die Abgründe zu starren, von denen sie umgeben ist“ (EW VII 96). 13 In einem Brief vom 10. Juli 1918 an Maria Klein schreibt Tillich, „daß uns eine Welt zerbrochen ist, daß wir uns nicht mehr als Lebende in vollem Sinne fühlen“ (EW VII 122). 14 Vgl. GW XIII 77–79. 15 Vgl. EW V 91ff.; auch 115f. 16 Vgl. EW V 99ff.; 118ff. 17 „Wir haben uns alle ausnahmslos getäuscht in der Welt und dem, was sie uns geben kann. […] Nun sind wir alle aufs Tiefste erschreckt, vor dem Abgrund, der sich uns geöffnet hat. […]

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Kriegserleben auch als persönlichen Zusammenbruch.18 Nicht selten spricht er von „innerem Grimm“19, und er gibt zu, dass er „innerlich zerbrochen“20 ist. Über die Schlacht bei Verdun im Mai und Juni 1916, wo er unter schrecklichen Umständen den Verwundeten und Sterbenden beistand, berichtete er: „Noch manche Bilder des Schreckens stehen vor meiner Seele und werden in ihr bleiben, solange ich lebe. Wir alle, Ärzte und Pfarrer, empfinden diese Tage […] als einen Wendepunkt unseres Kriegslebens.“21 Dass Tillich im April 1918 aufgrund der vielfältigen Schwierigkeiten an der Front einen psychischen Zusammenbruch erlitt und infolgedessen aus dem Militärdienst entlassen wurde,22 wird von daher verständlich. Aus dem Krieg kehrte Tillich nicht so zurück, wie er vier Jahre zuvor in diesen hineinging. Der Krieg hinterließ in seinem Leben Spuren, wie es bei vielen anderen seiner Zeitgenossen auch der Fall war: „Körperlich und seelisch können wir nicht mehr das werden, was wir vorher waren.“23 Und das betraf auch die geistige Ebene; die verheerenden Kriegserlebnisse und Massenvernichtungen an der Front veränderten nämlich drastisch Tillichs philosophische, theologische und politische Auffassungen. Aber noch tiefer als das persönliche Abgrunderlebnis war für Tillich die Kriegserfahrung im Sinne eines „Verhängnisses der europäischen Kultur und ein ,Ende‘ schlechthin“24. Es ist ein Verhängnis, dessen Wurzeln bis in die Tiefen des

|| Was anders als die Hölle auf Erden! Zerbrochen ist unser Glaube an die Welt, zerbrochen unser Glaube an die Kultur, zerbrochen unser Glaube an die Menschheit. Seht, das ist es, was unsere Seelen bewegt, das ist die ungeheure Last, an der wir jetzt alle tragen, das ist der tiefe Schmerz, von dem alle anderen Schmerzen, um unsere Toten, um das Leiden, das die Wunden bereiten, um das Elend derer, die in der Heimat weinen, nur ein Teil sind. Der Schmerz über das Leben selbst, das ist das Tiefste in allem Leiden und Mitleiden.“ (EW VII 498f.) 18 Das macht Tillich deutlich in dem Brief an seinen Vater vom 9. März 1915: „Ich möchte jetzt nirgends anders sein als an der Front, aber daß wir den Schmerz des Krieges in dieser Zeit so real an uns selbst erleben wie irgendeiner in Wunden und Krankheit – das glaubt nur!“ (EW V 88) 19 GW XIII 78. 20 Ebd. 21 EW V 101. 22 Vgl. S. S. Jäger, Glaube und Religiöse Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus: Eine religionshermeneutische Studie, Berlin 2011, 175 Anm. 10; auch M. Wolbold, Reden über Deutschland. Die Rundfunkreden Thomas Manns, Paul Tillichs und Sir Robert Vansittarts aus dem Zweiten Weltkrieg (= Tillich-Studien, Bd. 17), Münster 2005, 242. 23 EW V 101. 24 EW V 143. Das 19. Jahrhundert und sein „geistiges Haus“ endet für Tillich mit dem Kriegsausbruch am 1. August 1914. Rückblickend schreibt er in seinen „Autobiographischen Betrachtungen“ von 1952: „Als der Erste Weltkrieg begann, war meine Ausbildung vollendet.“ (GW XII 67)

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„geistigen Hauses“25 der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hinabreichen, wie Tillich metaphorisch sagt, ein Haus, „das ein Haus des Menschentums werden sollte und das ein Haus der Unterjochung des Menschen unter die Wirtschaft geworden war“26. Dieser Gedanken taucht an mehreren Stellen der zeitanalytischen Beiträge Tillichs auf.27 Hierzu sind zwei dieser Beiträge besonders erwähnenswert: seine Schrift „Die religiöse Lage der Gegenwart“28 von 1926 sowie das Manuskript „Die Geisteslage der Gegenwart: Rückblick und Ausblick“29 von 1930. In diesen Beiträgen rückt Tillich den „Geist der bürgerlichen Gesellschaft“30 in den Mittelpunkt und versucht, die Fundamente ihrer geistigen Schöpfungen und deren Wirkungen im gesellschaftlichen Leben zu verdeutlichen. Seiner Diagnose nach ist die bürgerliche Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts eine (sich von dem Ewigen abwendende und somit) in sich und ihrer Endlichkeit ruhende Kultur: „Wir kommen aus einer Zeit des auf sich selbst gerichteten Daseins, der in sich selbst ruhenden und dem Ewigen gegenüber sich absperrenden Lebensformen.“31 Dieses ist gekennzeichnet durch die Herrschaft der drei großen Mächte: die mathematische Naturwissenschaft, die Technik und die Wirtschaft.32 Auch im staatlichen Leben stehen, so Tillich, Recht und Macht des Staates „der kapitalistischen Schicht gegen die von ihr beherrschten proletarischen Massen zur Verfügung“33. Das Fundament der bürgerlichen Gesellschaft, und zwar der Humanismus bzw. der Glaube an die Kraft des menschlichen Wesens, sieht Tillich schon || 25 GW X 109. 26 GW X 113. 27 Die zeitanalytischen Beiträge Tillichs (vgl. GW X) kann man in drei Kategorien einteilen: Die ersten sechs beschäftigen sich mit der „lebendigen, verantwortlichen Teilnahme an der Gegenwart und ihren Problemen“ (GW X 9). Dazu zählen: Die religiöse Lage der Gegenwart (1926); Die geistige Welt im Jahre 1926 (1926); Das Christentum und die moderne Gesellschaft (1928); Die Geisteslage der Gegenwart: Rückblick und Ausblick (1930); Der totale Staat und der Anspruch der Kirchen (1934); Die Kirche und der Kommunismus (1937). Die zweite Gruppe der Schriften sind sinntheoretisch orientiert und gehen dem Thema der Existenz nach: Geschichte als das Problem unserer Zeit (1939); Die europäische Lage: Religion und Christentum (1939); Freiheit im Zeitalter des Umbruchs (1940); Der Zerfall unserer Welt (1941); Die Botschaft der Religion an den heutigen Menschen (1948); Stürme unserer Zeit (1942). Die dritte Gruppe der Beiträge enthält die zeitanalytischen Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg: Die gegenwärtige Weltsituation (1945); Die Auflösung der Gesellschaft in den christlichen Ländern (1948); Angst-reduzierende Kräfte in unserer Kultur (1950); Religion und die freie Gesellschaft (1958). 28 Vgl. GW X 9–99. 29 Vgl. GW X 108–120. 30 GW X 9. 31 GW X 19. 32 Vgl. GW X 15f. 33 GW X 16.

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in der Renaissance grundgelegt. Die Aufklärung baute auf diesem Fundament weiter, und die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vollendete den Bau.34 Man „glaubte an eine Entwicklung der Menschheit, in der das Wesen Mensch fortschreitend vollkommener wird. Fortschrittsglaube, Hoffnung auf eine allmähliche Erziehung des Menschengeschlechts, langsame, aber im ganzen geradlinige Entwicklung nach oben, das waren die Glaubensgrundlagen jener Geisteslage.“35 Doch wird die in sich selbst ruhende Endlichkeit der bürgerlichen Kultur aus ihrer Ruhe gebracht. „Die durchgängige Vernünftigkeit der drei großen Mächte Wissenschaft, Technik, Wirtschaft beginnt zweifelhaft zu werden; überall tun sich Abgründe auf, und überall ringt die Seele um Erfüllungen, die aus tieferen Schichten des Lebens hervorbrechen sollen.“36 Bereits vor dem Ersten Weltkrieg wurden einige prophetische Stimmen laut, die einen inneren Kampf gegen den Geist der bürgerlichen Gesellschaft führten. Tillich nennt in diesem Zusammenhang u.a. Karl Marx und Friedrich Nietzsche.37 Im Kampf um die Gerechtigkeit38 rüttelte der Erstere „an den gesellschaftlichen Fundamenten“ und zeigte, „daß das Ideal der freien Menschlichkeit für Millionen untermenschliches, leibliches und seelisches Zerstampftwerden zur Folge gehabt hat“39. Und der Letztere rüttelte im Kampf um „das schöpferische Leben“40 „an den seelischen Fundamenten“ und zeigte, „daß das Ideal der Vernunft dem Menschen seine schöpferische Kraft, seine Leidenschaft, sein Übermenschliches raubt und einen entleerten, glatt gewalzten Durchschnitt erzeugt“41. Seit der Jahrhundertwende kamen neue Angriffe, die entweder die Zielrichtung Nietzsches verfolgten oder den von Marx begonnenen Kampf weiterführten. Eine Stelle aus dem Beitrag „Kairos II“ von 1926 ist hierzu suggestiv: „Auf der einen Seite von Nietzsche her die Lebensphilosophie, die expressionistische Literatur und Kunst, die Jugendbewegung, der Kampf gegen die bürgerliche Konvention, die Wertung der aristokratischen Zucht, Stefan George und seine Schule. Auf der anderen Seite von Marx her die Geschichtsphilosophie, die leidenschaftliche zukunftsgerichtete Spannung, der Kampf gegen das bürgerliche Ethos, gegen Kapitalismus und Imperialismus, die Idee der Gemeinschaftskultur und der Protest gegen das

|| 34 Vgl. GW X 109ff. 35 GW X 110f. 36 GW X 20. 37 Vgl. GW X 17; GW VI 31. 38 Vgl. GW VI 31. 39 GW X 111. 40 GW VI 31. 41 GW X 111.

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Bündnis der Kirchen mit dem kapitalistischen Machtstaat.“42 Schließlich brach der Krieg herein aus den Tiefen und führt zum Einsturz des „geistigen Hauses“. Für Tillich hat zwar der Erste Weltkrieg eine Generation ins Nichts geworfen. Doch dieses Abgrunderlebnis war zugleich ein Schlüsselerlebnis. „Ein halbes Jahrzehnt stand das Todesschicksal über einer ganzen Generation und schmolz ihre Seelen um und riss ihren Geist los von dem Geist der Älteren und warf sie ins Nichts und ließ sie neu hervorgehen aus dem Nichts. Wer dieses erfahren hat, für den ist der Bau des neunzehnten Jahrhunderts zusammengebrochen, unwiederbringlich, für ihn gibt es nur Wandel und Neubau.“43 Zusammenfassend versteht Tillich die Kriegsjahre als ein Übergangszeitalter. Eine alte Kultur geht zu Ende. Wir stehen vor einer Zeitenwende, einem Kairos, wie Tillich sagt. „Wandel und Neubau“44 sind nun nach Tillich die Begriffe, die die innere Stimmung der frühen Nachkriegszeit kennzeichneten. „Die romantische Periode der Jugendbewegung war vorüber, die aktiv-politische begann.“45 Was war Tillichs politisches Engagement in der frühen Nachkriegszeit? Damit ist das Thema angeschlagen, das in dem nächsten Punkt behandelt wird.

1.2 Tillichs politisches Engagement in der krisengeschüttelten Weimarer Republik Aus dem Krieg zurückgekehrt wandelte sich Tillich „vom begeisterten und patriotischen Befürworter des Krieges zum kritischen und glühenden klassenbewussten Sozialisten“46. Seine Auseinandersetzung mit den politischen Problemen in

|| 42 GW VI 31f. 43 GW X 113. 44 Ebd. 45 GW X 114. 46 A. J. Reimer, Emmanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, Berlin u. a. 1995, 37. Es muss hier betont werden, dass der Weg Tillichs zum Sozialismus von vornherein nicht selbstverständlich war, zumal das Luthertum, zu dem er sich bekannte, auf jegliche öffentliche politische Kritik verzichtete. „Es ist verhältnismäßig leicht, vom Calvinismus aus, vor allem in seinen mehr säkularisierten Formen, zum Sozialismus vorzustoßen. Es ist außerordentlich schwer, diesen Weg vom Luthertum aus zu finden. Zum Luthertum aber gehöre ich durch Geburt, Erziehung, religiöses Erleben und theologisches Nachdenken“, schreibt Tillich in seiner Autobiographie „Auf der Grenze“ von 1936 (GW XII 45). Die lutherischen Soziallehren erlauben nämlich keine Einmischung in die Politik und keine öffentliche politische Kritik. Tillich macht darauf aufmerksam, dass die herrschenden Mächte für Luther sogar „im Recht“ seien, „auch wenn sie böse sind, weil sie durch Gottes Vorsehung zustandegekommen sind. Auflehnung gegen sie ist nicht erlaubt, denn das ist Verneinung des Prinzips der Ordnung“ (GW VII

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der Nachkriegszeit hängt zum einen zusammen mit seiner Kriegserfahrung und zum anderen mit der Revolution, die zum Zusammenbruch der kaiserlichen Monarchie führte. Bereits in seinem Beitrag zu einem Wingolfrundbrief vom September 191947 sowie in seiner Autobiographie „Auf der Grenze“ von 1936 und seinen „Autobiographischen Betrachtungen“ von 1952 bekennt Tillich, dass ihm gegen Kriegsende sowie in den Monaten des Zusammenbruchs und der Revolution die „politischen Hintergründe des Weltkriegs, der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Imperialismus, die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft, die Tatsache der Klassenspaltung usw.“48 sichtbar wurden und wie ihn dies „zur politischen Stellungnahme“ zwang und dazu veranlasste, theoretisch und praktisch „für eine neue sozialistisch aufgebaute Gesellschaftsordnung“ Stellung zu nehmen.49 Ohne die Kenntnis der gesellschaftspolitischen Lage der Nachkriegszeit kann diese Stellungnahme und deren Weiterentwicklung nicht richtig verstanden werden.

1.2.1 Die gesellschaftspolitische Lage der Nachkriegszeit An dieser Stelle müssen zwei Ereignisse erwähnt werden, die für den politischen Kontext der Nachkriegszeit prägend waren: Am 19. Januar 1919 finden freie Wahlen statt; eine parlamentarische Demokratie, die sogenannte Weimarer Republik, wurde ins Leben gerufen, die am 31. Juli 1919 den alten monarchischen Obrigkeitsstaat verabschiedete und ein „Staatsvolk“ installierte. Die Macht sollte nun beim „Staatsvolk“ und seinen demokratisch gewählten Vertretern liegen. Das zweite Ereignis ist die Unterzeichnung des Waffenstillstandes von Versailles durch die neue deutsche Regierung am 28. Juni 1919.50

|| 212). Im Gegensatz zum Luthertum, zu dem sich Tillich, der vor dem Krieg Distanz zur Politik hielt, bekennt, ist der Calvinismus offener gegenüber politischen und gesellschaftlichen Problemen und hat „wirkungsgeschichtlich ein positives Verhältnis zur politischen Idee des demokratischen Verfassungsstaats entwickeln können“ (W. R. Wrege, Die Rechtstheologie Paul Tillichs, [= Jus Ecclesiasticum, Bd. 56], Tübingen 1996, 12). In einer seiner politischen Reden vom 27. April 1942, also während des Zweiten Weltkriegs, moniert Tillich: „Es ist eine der Lasten, die das deutsche Luthertum aus der Vergangenheit mitschleppt, daß es auf die prophetische Kritik des Staates verzichtet hat. Hätte es das nicht, vielleicht wäre es der gegenwärtigen Tyrannei nie möglich gewesen, mit Hilfe unzähliger Rechtsbrüche zur Macht zu kommen und – einmal an der Macht – dem Rechtsbewußtsein das Rückgrat zu brechen.“ (EW III 33; vgl. dazu auch GW X 135) 47 Vgl. EW V 142ff. 48 GW XII 23; vgl. 67. 49 Vgl. EW V 143. 50 Vgl. EW XII 1; dazu A. J. Reimer, Emmanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, Berlin u. a. 1995, 187ff.

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Doch die Geburtsstunde der ersten deutschen Republik war von vornherein krisengeschüttelt. Das deutsche Heer sei im Ersten Weltkrieg „im Felde unbesiegt“ geblieben und der verlorene Krieg wird den Unterzeichnern, d.h. der Weimarer Regierung, so die ehemalige kaiserliche Reichsleitung, angelastet. Die Mehrheit der deutschen Durchschnittsbürger zeigte, „dass sie ihren ursprünglichen Enthusiasmus und ihre Unterstützung für die gemäßigten demokratischen Koalitionsparteien aufgegeben hatte, dass sie zunehmend enttäuscht war von der Demokratie und den Glauben an die Möglichkeit, das Land demokratisch zu regieren, verloren hatte“51. Daraus ergibt sich eine Vielfalt sehr unterschiedlicher politischer Richtungen, „deren Vorstellungen über die politische Zukunft Deutschlands sich nur geringfügig voneinander unterscheiden“52. Wir können im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter hierauf eingehen.53 Es sei nur auf die politischen Hauptströmungen hingewiesen, um die politische Stellungnahme Tillichs besser einordnen zu können. Der Haltung der parlamentarischen Demokratie gegenüber sind drei solcher politischen Hauptströmungen zu unterscheiden.54 Flankiert von Kaisertreuen wollten die gemäßigten Parteien der Mitte, die Konservativen, die Vorkriegsverhältnisse wiederherstellen. Demgegenüber strebten die radikalen Rechten eine Diktatur an, und die radikalen Linken, die eine starke Affinität zum Marxismus hatten, wollten in Deutschland eine Räterepublik ausrufen.55 Es herrschte, wenn nicht eine völlige Ablehnung, so doch eine weit verbreitete Geringschätzung der parlamentarischen Demokratie. Hinzu kommt, dass zwischen den Parteien eine schädliche Konkurrenz herrschte. „Während die eine Richtung einer politischen Strömung bereit war, pragmatische Politik zu betreiben und Kompromisse einzugehen, suchte die andere sich häufig durch Prinzipientreue in den Augen der Wähler zu profilieren.“56 Zwischen 1918 und den frühen 1930er Jahren befand sich die deutsche Politik in einer tiefen Krise. Im Schatten || 51 A. J. Reimer, Emmanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, Berlin u. a. 1995, 188. 52 Ebd., 189. 53 Vgl. dazu näher P. Lösche / F. Walter, Die SPD: Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992. 54 Wobei hier eine Gruppierung der Parteien nach Struktur oder Zielsetzung, um nur einige Kriterien zu nennen, alles andere als eindeutig ist. (Vgl. dazu J. R. Winkler, Sozialstruktur, politische Traditionen und Liberalismus. Eine empirische Längsschnittstudie zur Wahlentwicklung in Deutschland 1871–1933, Opladen 1995, 58ff.) 55 Zum Weimarer Parteiensystem ist die Studie von S. Neumann, Die Partei der Weimarer Republik, Stuttgart 51986, empfehlenswert; vgl. auch U. von Alemann, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 22001, bes. 32ff. 56 A. Wirsching, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte 58), München 2000 (2. erweiterte Aufl. 2008), 17.

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der Weltwirtschaftskrise in den späten Jahren der Weimarer Republik nutzen die Nationalsozialisten die Schwäche der Regierung zu ihrem Vorteil aus und gewannen an Boden. 1933 kam Hitler an die Macht. Zusammenfassend befand sich die politische und die gesellschaftliche Lage der Nachkriegszeit Tillich zufolge in „einem schöpferischen Chaos“57, das den Nährboden für eine lebendige Teilnahme an der Geschichte anbot. Damit kommen wir auch schon zu Tillichs politischem Engagement, das sich als ein solches auf der Grenze von Theorie und Praxis erweist.

1.2.2 Tillichs politische Stellungnahme: Auf der Grenze von Praxis und Theorie Gestimmt hat Tillich für die SPD,58 eine der drei Parteien der sogenannten „Weimarer Koalition“. Doch war seine politische Stellungnahme in den 1920er Jahren kein direktes parteipolitisches Engagement.59 Sein Engagement für eine neue sozialistisch aufgebaute Gesellschaftsordnung, deren Konturen er anhand seines „religiösen Sozialismus“ und seiner „Theologie der Kultur“ erörtert hat, sprengt die Grenze einer Partei. „Was ich will“, so schreibt er programmatisch in dem schon erwähnten Brief vom September 1919 an Freunde des Wingolf, „ist eine neue aus dem Geist der christlichen Liebe und des Sozialismus geborene Gesell-

|| 57 „Die politischen Probleme“, so schreibt Tillich 1952 rückblickend auf die Jahre der Nachkriegszeit in seinen „Autobiographischen Betrachtungen“, „bestimmten unsere ganze Existenz, auch nach der Revolution und Inflation waren sie für uns eine Frage von Leben und Tod. Die soziale Struktur befand sich in einem Zustand der Auflösung. Die menschlichen Beziehungen – Autorität, Erziehung, Familie, Sexus, Freundschaft und Vergnügen – befanden sich in einem schöpferischen Chaos. Die revolutionäre Kunst trat immer mehr in den Vordergrund, von der Republik unterstützt, von der Mehrheit des Volkes angegriffen. Psychoanalytische Ideen breiteten sich aus und hoben Wirklichkeiten ins Bewußtsein, die von früheren Generationen sorgsam unterdrückt worden waren.“ (GW XII 68f.) 58 In seinem schon zitierten Beitrag zum Wingolfrundbrief vom September 1919 heißt es: „Ich habe, ohne einer Partei anzugehören, für die SPD gestimmt.“ (EW V 143) 59 Dass Tillich für die SPD stimmt, ist ein Zeichen dafür, dass er zwar Hoffnungen in das Experiment der Weimarer Republik setzte (vgl. A. J. Reimer, Emmanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, Berlin u. a. 1995, 191), doch ist seine Abstimmung wie auch sein späteres Eintreten in die SPD im Jahr 1929 nicht undifferenziert. Tillich schreibt: „Meine Bejahung des Sozialismus und meine Stellungnahme in der Wahl für gewisse Parteien bedeutet nicht, dass ich diese Parteien in ihrem empirischen Bestande bejahen könnte. Da habe ich meine schärfste Kritik, auch gegen die Unabhängigen mit ihrer üblen Methode der Agitation, aber ich sehe hier die meiste sozialistische Energie und die meiste Umgestaltungsmöglichkeit für die Zukunft.“ (EW V 143)

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schaftsordnung, in der Kapitalismus und Nationalismus grundsätzlich überwunden sind“60. 1929 ist Tillich auf Druck des Emporkommens des Nationalsozialismus in die SPD eintreten. „Nur schwer und nur unter dem Zwang der politischen Situation konnte ich mich darum entschließen, einer so verbürgerlichten Partei wie der deutschen Sozialdemokratie beizutreten“61, so Tillich 1936 über diese Entscheidung. Für ihn obliegt jeder geistesgeschichtlichen Haltung eine bestimmte Sicht der historischen Lage. Die Entwicklung seiner theoretischen Auseinandersetzung mit den sozialen, politischen und kulturellen Problemen ist demnach nicht von dem Verlauf der Geisteslage seiner Zeit zu trennen. Hierbei setzt das Jahr 1926, so Tillich, einen Einschnitt in den Rhythmus der Geisteslage des ersten Jahrzehnts der Nachkriegszeit.62 Bestimmten für ihn, wie schon erwähnt, Begriffe wie „Wandel“ und „Neubau“ die innere Stimmung der frühen Nachkriegszeit bis etwa 1925, so diagnostiziert er ab 1926 einen Einschnitt. „Beruhigung“, „Müdigkeit“, „Resignation“, „Atemholen“ sind die Begriffe, die nun die Geisteslage der nächsten Jahre prägen.63 Jeder Geisteslage entsprechend sind auch Schwerpunktverschiebungen in Tillichs Denken, vor allem in Bezug auf sein Machtverständnis erkennbar. Die theoretische Auseinandersetzung Tillichs mit den sozialen und politischen Problemen in der frühen Nachkriegszeit zeigt sich sowohl in seiner akademischen Lehrtätigkeit, die er 1919 in Berlin aufnahm, als auch außerhalb der Universität, und hier ist besonders an seine Beteiligung unmittelbar nach dem Krieg an der Gründung des sogenannten „Kairos-Kreises“ oder „Berliner-Kreises“ zusammen mit Freunden zu denken,64 wo über die Geisteslage, die religiöse Lage

|| 60 EW V 144. 61 GW XII 17. 62 Vgl. GW X 94. 63 Vgl. GW X 109. Es muss hier in aller Deutlichkeit gesagt werden, dass es sich für Tillich um einen kritischen Einschnitt handelt. Denn für ihn kennt der Geist keine Grenze, und er ist wesentlich durch Beunruhigung gekennzeichnet (vgl. GW X 96). „Niemand wird behaupten“, so schreibt Tillich, „daß die Kalendergrenze, die ein Jahr von dem anderen trennt, für den Geist eine Grenze ist – auch nicht die Jahrhundertgrenze“ (GW X 94). Mit „Einschnitt“ meint also Tillich „Atempause“, ein „Sich-weiter-Entfernen“ des Geistes von den Spannungen der Jahrhundertwende (vgl. ebd.). 64 Den Kern des Kairos-Kreises bildeten neben Tillich Adolf Löwe, Eduard Heimann, Carl Mennicke, Alexander Rüstow und Arnold Wolfers (vgl. EW V 153). Weiter zählten auch Karl Ludwig Schmidt und die Pastoren Hans Hartmann, Wilhelm Loew und Günther Dehn dazu. (Vgl. Brief von Prof. Dr. Eduard Heimann, in: E. Amelung, Die Gestalt der Liebe. Paul Tillichs Theologie der Kultur, Gütersloh 1972, 215–217; zit. nach J. Richard, Introduction au Tillich socialiste, in: P. Tillich, Christianisme et socialisme. Écrits socialistes allemands 1919–1931 [= Œuvres de Paul Tillich, vol. II], hg. v. A. Gounelle / J. Richard, Paris / Genève / Québec 1992, XIX)

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sowie die politischen Bewegungen theoretisiert wurde,65 und dessen Ziel es war, „christliche Theologie und sozialistisches Denken miteinander zu versöhnen“66. Durch seine zahlreichen Veröffentlichungen sowohl in dem politisch eher bedeutungslosen, von 1920–1927 erschienenen Organ des „Kairos-Kreises“67, den „Blättern für den religiösen Sozialismus“, das von Carl Mennicke herausgegeben wurde,68 als auch in anderen Organen wird Tillich in diesen Jahren in der Öffentlichkeit zunehmend wahrgenommen.69 Aus der großen Zahl der Schriften über den religiösen Sozialismus ist besonders sein Beitrag „Grundlinien des Religiösen Sozialismus“ von 1923 zu nennen, der später kurz analysiert werden soll. Auch seine Vorlesungen an der Berliner Universität (1919–1924) zeigen, in welchem Ausmaß er, neben seiner Beschäftigung mit religionsphilosophischen, kulturtheologischen und wissenschaftssystematischen Fragen, mit den sozialen und politischen Problemen befasst war. So hielt Tillich im Sommersemester 1919 seine erste akademische Vorlesung über „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“, die er ein zweites Mal im darauffolgenden Zwischensemester unter anderem „für Soldaten, die aus dem Krieg heimgekehrt waren“, unter dem Titel „Die religiösen und philosophischen Grundlagen der politischen Parteien“ vortrug,70 und ein drittes Mal im Sommersemester 1922 nun unter dem

|| 65 Vgl. W. Schüßler / E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 11. 66 A. J. Reimer, Emmanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, Berlin u. a. 1995, 37. 67 W. Schüßler / E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 11. 68 Vgl. H. Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik: Die Vermittlung von Gott und Welt im Frühwerk Paul Tillichs, Berlin / New York 1989, 337. 69 Unter den frühen Schriften Tillichs zu den sozialen und politischen Fragen sind besonders zu nennen: Der Sozialismus als Kirchenfrage, Berlin 1919; jetzt in: GW II 13–20; Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Religionsphilosophie der Kultur, Berlin 1919; jetzt in: GW IX 13– 31; Christentum und Sozialismus (I), in: Das neue Deutschland 8 (1919), 106–110; jetzt in: GW II 21–28; Christentum und Sozialismus (II), in: Freideutsche Jugend 6 (I920), 167–170; jetzt in: GW II 29–33; Masse und Persönlichkeit, in: Die Verhandlungen des 27. und 28. Evangelisch-Sozialen Kongresses, Göttingen 1920; jetzt in: GW II 36–56; Masse und Religion, in: Blätter für den Religiösen Sozialismus 2 (1921), 1–3, 5–7, 9–12; jetzt in: GW VI 35–90; Kairos (I), in: Die Tat 14 (1922), 330–350; jetzt in: GW VI 9–28; Grundlinien des Religiösen Sozialismus. Ein systemischer Entwurf, in: Blätter für den Religiösen Sozialismus 4, 8–10 (1923), 1–24; jetzt in: GW II 91–119; Kirche und Kultur, Tübingen 1924; jetzt in: GW IX 32–46; Christentum, Sozialismus und Nationalismus, in: WingoIf-Blätter 53 (1924), 78–80; jetzt in: GW XIII 161–166. 70 Vgl. dazu den Editorischen Bericht zu EW XII, in dem der Herausgeber Erdmann Sturm darauf aufmerksam macht, dass Tillich das Manuskript der Vorlesung vom Sommersemester 1919 auch für die 2. und 3. „Lesung“ benutzt hat. Der Anfang der späteren Vorlesungen, so Sturm, sei allerdings neu formuliert und mit der Überschrift „2. Lesung“ bzw. ,,3. Lesung (1922)“ in die freien Seiten des Manuskripts von 1919 eingetragen worden. Nach Sturm könnte es sein, dass

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Titel „Der religiöse Gehalt der Staats- und wirtschaftspolitischen Richtungen“71. In dieser Vorlesung macht Tillich eine kulturtheologisch und geschichtsphilosophisch dokumentierte Analyse der politischen Richtungen der Nachkriegszeit. Es ist aber in diesen Vorlesungen noch kein Versuch Tillichs erkennbar, den Machtbegriff systematisch aufzuhellen. Dabei spricht er zwar von „Machtgedanken“ oder vom „Prinzip der Autorität“72, diese Begriffe sind hier aber noch recht negativ konnotiert. Tillich lehnt das „Autoritätsprinzip“ bzw. das „Machtprinzip“ in den politischen Machtbeziehungen ab, da er sich hier für den „anarchischen Föderalismus“ Landauers73 ausspricht, mit der Begründung, dieser versuche, „die Form der Demokratie unter völliger Ausschaltung des Machtgedankens auch in der Mechanik der Majoritäten zur Grundlage zu machen und sie innerlich zu erfüllen mit dem Gehalt des Konservatismus unter völliger Ausschaltung des Princips der Autorität“74. Tillich zielt hier auf einen theonomen Staat, den er als „Kirche“ bezeichnet und nur im paradoxen Sinne „Staat“ nennt: „die universelle, aus Geistesgemeinschaften aufgebaute, alle Kulturfunktionen und ihren religiösen Gehalt in sich tragende Menschengemeinschaft, deren Lehrer die großen schöpferischen Philosophen, deren Priester die Künstler, deren Propheten die Seher einer neuen Ethik der Person und der Gemeinschaft, deren Bischöfe die Führer zu neuen Zielen der Gemeinschaft, deren Diakonen und Armenpfleger die Leiter und Neuschöpfer des wirtschaftlichen Prozesses sind.“75 In seinen „Grundlinien des Religiösen Sozialismus“ von 1923 macht Tillich die Liebe bzw. den „Trieb zur Einswerdung mit dem Seienden“ oder den „Willen zur Hingabe“ und Macht bzw. den „Trieb zur Erhebung über das Seiende“ oder den „Willen zur Selbstbehauptung“ zu polaren, „und doch in den Wurzeln identischen Urstoffen aller schöpferischen Formgebung“76. Als solche sind sie „Träger der göttlichen und dämonischen Ekstase“77. Aber „nicht Erhebung des Machtwillens und der Eroskräfte an sich ist Dämonie, sondern ihr ekstatisches, geistgetra-

|| Tillich später von der ursprünglichen Fassung durch Kürzungen und Erweiterungen mehr oder weniger stark abgewichen ist. 71 EW XII VII; vgl. GW XIV 297. 72 EW XII 165. 73 Vgl. EW II 195ff. 74 EW II 197. 75 GW IX 26. 76 GW II 100. 77 Ebd.

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genes, geistzwingendes und geistzerstörendes Hervorbrechen. Es ist der Abgrundcharakter, das unbedingt Übermächtige, die Besessenheit, das auch die soziale Dämonie charakterisiert.“78 Das, was Tillich in den erwähnten Berliner Vorlesungen mit den Begriffen „Machtgedanken“ oder „Machtprinzip“ (Verzerrung und Selbstverabsolutierung der Macht, Herrschaftswillen) meint, bringt er nun zum Ausdruck durch den Begriff des „subjektiven Eros- und Machtwillens“79, der die Dinge, die Persönlichkeit und die Massen „dem Schicksal der Entleerung“80 bzw. der „Seinsberaubung und Sinnentleerung“81 aussetzt. Als solcher ist der „subjektive Eros- und Machtwille“, der sich in Form der Dämonie zeigt, zu bekämpfen, und dies nicht nur im politischen Bereich, sondern in allen Bereichen des geistigen und persönlich-sozialen Lebens, theoretisch in den Gebieten der Wissenschaft und Kunst und praktisch in den Gebieten der Wirtschaft, des Rechts, des Staats und der Gemeinschaft.82 Wie wir sahen, diagnostiziert Tillich ab dem Jahre 1926 eine Veränderung in der Geisteslage des ersten Jahrzehnts der Nachkriegszeit. Hierzu schreibt er rückblickend in seinem Beitrag „Die Geisteslage der Gegenwart“ von 1930: „Der Einschnitt liegt in der Mitte. In den ersten fünf Jahren die mächtigen Wellen der weltgeschichtlichen Ereignisse, die am Anfang des Jahrzehnts stehen, Kriegsausgang und Revolution, in den zweiten fünf Jahren Beruhigung, Verfestigung, Rückwendung in allen Gebieten.“83 Damit bringt Tillich zum Ausdruck, dass die Begriffe „Beruhigung“, „Verfestigung“ und „Rückwendung“ nun die innere Stimmung der Geisteslage bestimmen. Unter „Beruhigung“ versteht er das Müdigkeitsgefühl, die Resignation und die Sehnsucht nach einer Atempause, nach einer Pause in der Ruhelosigkeit der Leidenschaften und Spannungen, die die frühe Nachkriegszeit kennzeichneten.84 Bereits in seiner Kairosschrift von 192685 stellt er fest: „Es ist, als ob ein Reif gefallen wäre auf all die Dinge, von denen hier gesprochen ist, heißen sie Jugendbewegung oder Lebensphilosophie, heißen sie Expressio-

|| 78 GW VI 51. 79 GW II 103, 104, 106, 109, 110, 113 u. 115. 80 GW II 102. 81 GW VI 49. 82 Vgl. GW II 105. 83 GW X 109. 84 Vgl. GW X 94ff. Überall in den Völkern, in der Außen- wie in der Innenpolitik, herrscht die Tendenz zur Beruhigung. Auch das „theologische Denken befaßte sich nicht mehr mit den kulturellen Problemen“ (GW XII 69). Tillich fährt fort: „Und politische Gedanken [wurden] aus der theologischen Diskussion verbannt“ (ebd.). 85 Vgl. GW VI 29–41.

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nismus oder religiöser Sozialismus! War nicht doch alles Romantik, Rausch, Utopie?“86 Zusammenfassend heißt es dann: „Der Geist der bürgerlichen Gesellschaft ist viel zu stark, als daß er durch Romantik, Sehnsucht und Revolution überwunden werden könnte. Seine dämonische Kraft ist viel zu groß.“87 Aber der Kampf gegen die Dämonien der Zeit ist nach Tillich eine Pflicht.88 Gegen die „in sich ruhende Endlichkeit“89 und den „technisch-ökonomischen Realismus“90, die für ihn symbolisch den Geist „der bürgerlichen Gesellschaft“ kennzeichnen, entwickelt er nun eine neue Haltung anhand seines Begriffes des „gläubigen Realismus“91, dessen Zielsetzung es ist, von der Wirklichkeit her in die Tiefe der Dinge || 86 GW VI 41. 87 Ebd. 88 Vgl. GW VI 67. In seiner Schrift „Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte“ von 1926 (vgl. GW VI 42–71), die er in seiner Dresdener Zeit veröffentlichte, greift Tillich das Thema des Dämonischen ausführlicher auf und macht darauf aufmerksam, dass „ein Bewußtsein um das Dämonische in der sozialen Sphäre“ am allerwenigsten zu finden ist. Hier spricht Tillich nun vom „dämonischen Machtwillen“ (GW VI 44), unterscheidet die „geistigen Dämonien“, den „Intellektualismus“ und den „Ästhetizismus“ (GW VI 68f.; vgl. dazu auch GW II 101ff.), von den „sozialen Dämonien“: „dem Kapitalismus“ oder der „Dämonie der autonomen Wirtschaft“ und „dem Nationalismus“ oder der „Dämonie des souveränes Volkes“ (GW VI 69; vgl. dazu auch GW II 112). Der Letzteren widmet sich Tillich unter anderem in seiner Schrift „Die sozialistische Entscheidung“ von 1932. Vom Kampf gegen den Kapitalismus ist überwiegend die Rede in Tillichs Schrift „Die religiöse Lage der Gegenwart“ von 1926 (vgl. GW X 9–93). Hier versucht Tillich durch eine Analyse der verschiedenen politischen, sozialen, religiösen und künstlerischen Phänomene der Moderne, „die Hohlheit des ,Geistes des Kapitalismus‘“ zu verstehen und zu entlarven, wie es A. J. Reimer zutreffend zum Ausdruck bringt (vgl. ders., Emmanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, Berlin u. a. 1995, 39). Für Tillich gilt die „in sich ruhende Endlichkeit“ als charakterliches Symbol für den Geist „der bürgerlichen Gesellschaft“ (GW X 18, 41, 46; vgl. auch GW VI 36). In der praktischen Sphäre der Wirtschaft und der Politik sowie in der theoretischen Sphäre des Geisteslebens (in Wissenschaft, Kunst und Metaphysik; vgl. GW X 20) werden die Machtbeziehungen sowie das Verhältnis zu den Dingen, zu der Person und der Masse „eroslos, gemeinschaftlos, herrschaftlich“ (GW X 41). Daraus folgt eine Entleerung der Dinge, der Persönlichkeit sowie der Massen (vgl. GW X 43). In den 1920er Jahren veröffentlichte Tillich Beiträge, in denen er versucht, neben dem Kampf gegen das „bürgerliche Prinzip“ den Kampf um die Lebenserhaltung der Masse bzw. des Proletariats und um die „Überwindung des Persönlichkeitsideals“ zu führen. In diesem Zusammenhang taucht der Begriff des „Dämonischen“ auf, und Tillich spricht von der „Dämonie des bürgerlichen Geistes“ (vgl. GW X 43 u. 49). 89 GW X 18, 41, 46; vgl. auch GW VI 36. 90 GW IV 90ff. 91 Seinen „gläubigen Realismus“ erörtert Tillich in zwei Beiträgen: Gläubiger Realismus, in: Theologenrundbrief für den Bund deutscher Jugendvereine 2 (November 1927), 3–13; auch als: Gläubiger Realismus (I), in: GW IV 77–87; vgl. auch MW IV 183–192; und: Über gläubigen Realismus, in: Theologische Blätter 7 (1928) 109–118; auch als: Gläubiger Realismus (II), in: GW IV 88–

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einzudringen, die auf die Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt hinweist.92 „Der Realismus des neunzehnten Jahrhunderts hatte die Wirklichkeit ihrer symbolischen Mächtigkeit beraubt, der Expressionismus hatte versucht, diese Mächtigkeit durch die Zerstörung der Oberfläche der Wirklichkeit wiederherzustellen. Der neue Realismus versucht durch die Verwendung der gegebenen Formen, auf den Sinngehalt des Wirklichen hinzudeuten.“93 Charakterisiert ist der „gläubige Realismus“ für Tillich näherhin durch zwei Elemente: das „Wirkliche“ und „die transzendierende Macht des Glaubens“.94 In diesem Zusammenhang spricht Tillich nun zum einen von der „Seinsmächtigkeit der Dinge oder des Seienden“95 (statt von „Eroskraft“ und der „Mächtigkeit der Dinge“, wie es in den „Grundlinien“ von 1923 noch der Fall war) und dem historisch „,wahrhaft Wirklichen‘ (ousia)“96, zum anderen von „unbedingter Seinsmächtigkeit“97 oder der „Macht des Unbedingten“98, vom „Unbedingt-Mächtigen“99, das in die Gegenwärtigkeit,100 im „Hier und Jetzt“101 der bedingten Mächtigkeit des Seienden einbricht,102 mit anderen Worten in unsere geschichtlich konkrete Existenz, persönlich || 106; vgl. auch MW IV 193–211. Tillich entwickelt die Idee des „gläubigen Realismus“ im Gegensatz einerseits zum „mystischen Realismus“ (überwiegend etwa im Neuplatonismus), der die Macht des Seins in dem sucht, was jenseits des Seienden, d.h. jenseits von Geschichte und Zeit ist; andererseits zum positivistischen, empiristischen und „technischen Realismus“, der sich als „Unterwerfung unter menschliche Zwecke“ (GW IV 101) erweist und für den sich die Macht des Seins ausschließlich im Menschen als Träger des Seins eröffnet (vgl. GW IV 80). Der „gläubige Realismus“ verlagert seinerseits den Schwerpunkt sowohl auf das konkrete historische „Wirkliche“ als auch auf den unbedingten Sinn und Grund dieser geschichtlichen Wirklichkeit. (Vgl. GW IV 89; dazu auch A. J. Reimer, Emmanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, Berlin u. a. 1995, 250) 92 Vgl. GW X 120. 93 GW IV 89. 94 Ebd. Hier wird sein Verständnis von „Religionsphilosophie“ deutlich: „Durch die Analyse des Sinnbewusstseins stößt die Philosophie auf den unbedingten Sinn.“ (W. Schüßler / E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 12) 95 GW IV 91 u. 93. 96 GW IV 92 u. 99. Das „wahrhaft Wirkliche“ ist das „wahrhaft Mächtige“, da es mit Macht erfüllt ist, zu sein (vgl. GW IV 78). Diesen Aspekt bringt Tillich an anderen Stellen mit Begriffen wie: Ernsthaftigkeit des Seins der Dinge, Unentrinnbarkeit des „Ist“ zum Ausdruck (vgl. GW VI 74). 97 GW IV 99 u. 102. Tillich spricht auch von „letzter Macht des Seins“ (GW IV 99), von „Unbedingt-Wirklichem“ oder „Letzt-Wirklichem“ (GW IV 84), von der „Transzendenz selbst“ (ebd.). 98 GW IV 99. 99 GW IV 84 u. 99. 100 „Gegenwärtigkeit“ meint bei Tillich die „Erfassung der Macht in der Tiefe unserer historischen Situation“ (GW IV 95). 101 Ebd. 102 Vgl. GW IV 85.

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wie gesellschaftlich,103 und ihr ihren unbedingten Sinn gibt.104 „Gläubiger Realismus“, schreibt Tillich, „ist verbunden mit dem Bewußtsein der Gegenwärtigkeit. Die letzte Seinsmächtigkeit, der Grund der Wirklichkeit bricht in einem besonderen Augenblick, in einer konkreten Situation herein und offenbart die unendliche Tiefe und den ewigen Sinn der Gegenwart.“105 Entscheidend ist an dieser Stelle der Bezug der ontologischen Deutung der Macht auf das Sein des Menschen. Für Tillich ist nämlich „nichts als Macht des Seins anzuerkennen, was nicht auch Macht unseres eigenen Seins, was nicht im Hier und Jetzt unser Schicksal ist“106. Die Macht des Seins in der Gegenwärtigkeit suchen, bedeutet demnach, dass diese einen Bezug zur Macht unseres Seins hat.107 Die Zuspitzung dieser ontologisch-anthropologischen Deutung des Machtbegriffs wird noch deutlicher in den Schriften der Frankfurter Zeit108 und ist dabei, sinntheoretisch orientiert, das Rückgrat seiner politischen Theorie.109

|| 103 Vgl. GW IV 83 u. 93. 104 Die Begriffe „Mächtigkeit der Dinge“, „seinsmächtig“ bzw. erfüllt mit Macht zu sein (vgl. GW IV 78), die auf eine vorausgesetzte Ontologie hinweisen, können hier nur andeutungsweise eingeführt werden. Ihre systematische Entfaltung findet sich im 2. Kapitel des zweiten Teiles über die Ontologie der Macht. 105 GW IV 101. 106 GW IV 83. Ähnlich argumentiert Tillich in dem Beitrag „Über gläubigen Realismus“, wo es heißt: „Der historische Realismus strebt danach, die Seinsmächtigkeit oder das wahrhaft Wirkliche in einer konkreten Situation zu erfassen.“ (GW IV 99) 107 Vgl. dazu die Beobachtungen von E. Sturm, Macht und Gewalt im politischen Denken Tillichs, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 53–86, hier 55. 108 Bereits in dem Prolog zu dem geplanten Buch „Die Gestalt der religiösen Erkenntnis“ von 1928 spricht Tillich von einer „ontologischen Anthropologie“ neben der wissenschaftlichen, und er meint damit die Erfassung des menschlichen Seins im Hinblick auf das Sein-selbst: „Damit […] erhebt sich eine neue Möglichkeit, den Menschen zu betrachten, eine Anthropologie ungegenständlicher Art, ein Versuch das menschliche Sein zu erfassen, nicht wie ein Seiendes unter anderem Seiendem [sic!], sondern im Hinblick auf das Sein selbst, als eine, ja als die Antwort auf die Frage nach dem Sein. Eine solche Anthropologie könnte man als ontologische Anthropologie neben die wissenschaftliche stellen. Sie fragt: Was ist das Sein des Menschen im Hinblick auf den Sinn des Seins? Wie kommt im Menschen der Sinn des Seins zur Anschauung seiner selbst?“ (EW XIV 437) Vgl. zur existenzphilosophischen und anthropologischen Wende Tillichs in seiner Frankfurter Zeit W. Schüßler, Der Mensch und die Philosophie. Zur Existenzphilosophischen und anthropologischen Wende Paul Tillichs in seiner Frankfurter Zeit, in: G. Schreiber / H. Schulz (Hg.), Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt (1929–1933), Boston / Berlin 2015, 215–249, hier 224ff. 109 Diese Verschiebung von der sinntheoretischen Deutung der Macht hin zu einer ontologischen ist bereits greifbar in dem Beitrag Tillichs „Eschatologie und Geschichte“ von 1927 (vgl. GW VI 72–82). Hier heißt es wiederholt, dass das Sein im Sinn zur Erfüllung kommt (vgl. GW VI 79ff.).

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Von bleibender Bedeutung für Tillichs politisches Engagement sowie für die Vertiefung seines Machtbegriffs waren die Frankfurter Jahre.110 Auch hier ist die Zeitbezogenheit seines Denkens auffallend. Im Schatten der Weltwirtschaftskrise in der Endphase der Weimarer Republik nutzten die Nationalsozialisten die Schwäche der Regierung zu ihrem Vorteil aus und gewannen an Boden.111 Nun hieß es für Tillich, dem Nationalsozialismus gegenüber seine „sozialistische Entscheidung“ zu verteidigen, praktisch wie auch theoretisch. „Der Sozialismus muß neu gewagt werden.“112 Er hat nämlich bisher ein widersprüchliches Verhältnis zur Macht.113 Nun soll er Tillich zufolge zu einem positiven Machtverständnis kommen.114 Sein kritisches Plädoyer für den Sozialismus, seine deutliche Stellungnahme zu der politischen Situation gerade im Hinblick auf das Machtproblem bringt Tillich in seiner 1932 verfassten und 1933 veröffentlichen Schrift „Die sozialistische Entscheidung“ zum Ausdruck wie auch in seinem Beitrag „Das Problem der Macht“ von 1932. Letzterem soll im systematischen Teil dieser Arbeit eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Aufgrund ihrer historischen Bedeutung soll die „Sozialistische Entscheidung“ im nächsten Abschnitt dieser kurzen werkgeschichtlichen Untersuchung zum Machtbegriff behandelt werden. Freilich erschöpfen sich die Forderung eines „neugewagten Sozialismus“ und die Notwendigkeit eines positiven Verhältnisses zur Macht nicht in diesen beiden Beiträgen. Ausführungen zum Machtthema begegnen in verschiedenen Veröffentlichungen und Vorlesungen der Frankfurter Zeit. Auf das Eintreten Tillichs in die SPD im Jahre 1929, bedingt durch das Emporkommen des Nationalsozialismus, wurde schon hingewiesen. Zu seinen öffentlichen politischen Stellungnahmen in der gleichen Zeit zählt auch seine Beteiligung an der Gründung

|| 110 Von 1929 bis April 1933 war Tillich Professor für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt. 111 In seinen „Betrachtungen zum Problem der Macht“ von 1991 sieht Karl Dietrich Bracher die Auflösung der Weimarer Republik als ein Beispiel politisch-ökonomischer Machtprobleme (vgl. ders., Betrachtungen zum Problem der Macht, Opladen 1991, 30ff.). Zu weiteren Beobachtungen über politische Probleme, die in den späten Jahren der Weimarer Republik zur Krise der Macht mit der Triade „Machtverlust“ des demokratischen Systems, „Machtvakuum“ und „Machtergreifung Hitlers“ und seines diktatorischen Apparats führten, vgl. ders., Demokratie und Machtvakuum: Zum Problem des Parteienstaates in der Auflösung der Weimarer Republik, in: K.-D. Erdmann / H. Schulze (Hg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, Düsseldorf 1980, 109–134. 112 GW II 140. 113 Vgl. dazu die Beobachtungen von W. Schüßler, Paul Tillich (= Beck`sche Reihe Denker, hg. v. O. Höffe, Bd. 540), München 1997, 102. 114 Vgl. GW II 342.

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und Herausgabe der „Neuen Blätter für den Sozialismus“115 zusammen mit Freunden ab 1930.116 Die zahlreichen Schriften, die Tillich vornehmlich in den „Neuen Blättern“, aber auch in anderen Organen veröffentlichte, zeigen, wie sehr er mit sozialen und politischen Fragen befasst war.117 Entscheidend dabei ist, dass Tillich seinen Begriff der „ontologischen Anthropologie“ als Rückgrat seiner politischen Theorie sinntheoretisch darstellt.118

|| 115 Nach den eigenen Angaben in seiner Autobiographie „Auf der Grenze“ von 1936 sieht Tillich sein Mitwirken bei den „Neuen Blättern für den Sozialismus“ im Sinne eines politischen Aktes. Seine Abneigung, sich in einer politischen Partei zu beteiligen, ist bekannt. Er sei zwar in die Sozialdemokratische Partei eingetreten, um durch theoretische Ausgestaltung auf sie wirken zu können, seine Seele aber sei draußen geblieben (vgl. GW XII 24). „Zu diesem Zwecke“, sagt Tillich, „gründete ich mit den Freunden der religiös-sozialistischen Arbeitsgemeinschaft und mit einer Gruppe jüngerer Sozialisten die Zeitschrift ,Neue Blatter für den Sozialismus‘. Wir hofften, auf diesem Wege die starr gewordene Ideologie des deutschen Sozialismus aufzulockern und von religiöser und philosophischer Besinnung aus umzubilden.“ (Ebd.) 116 Dies sind August Rathmann, Eduard Heimann und Fritz Klatt (vgl. E. Rolinck, Die Frankfurter Jahre [1929–1933], in: R. Albrecht / W. Schüßler [Hg.], Paul Tillich – Sein Werk, Düsseldorf, 1986, 74–87, 77). 117 Erwähnenswert sind hier u. a.: seine Antrittsvorlesung mit dem Titel „Philosophie und Schicksal“, in: Kant-Studien 34 (1929) 300–311; jetzt in: GW IV 23–35; Sozialismus, in: Blätter für den Sozialismus l (1930) 1–12; jetzt in: GW II 139–150; Religiöser Sozialismus, in: Neue Blätter für den Sozialismus l (1930) 396–403; jetzt in: GW II 151–158; Religiöse Verwirklichung, Berlin 1930; Protestantisches Prinzip und proletarische Situation, Bonn 1931; jetzt in: GW VII 84–104; Sozialismus II. Religiöser Sozialismus, in: H. Gunkel / L. Zscharnack (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen, 1931, Sp. 637–648, jetzt in: GW II 159–174; Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung, in: Neue Blätter für den Sozialismus 2 (1931) 157–170; jetzt in: GW II 193–208; Kirche und humanistische Gesellschaft, in: Neuwerk 13 (1931) 4–18; jetzt in: GW IX 47–61; Zehn Thesen, in: L. Klotz (Hg.), Die Kirche und das Dritte Reich. Fragen und Forderungen deutscher Theologen, Gotha 1932, 126–128; jetzt in: GW XIII 177–179; Der Sozialismus und die geistige Lage der Gegenwart, in: Neue Blätter für den Sozialismus 3 (1932) 14–16; Protestantismus und politische Romantik, in: Neue Blätter für den Sozialismus 3 (1932) 413–422; jetzt in: GW II 209–218; Die Sozialistische Entscheidung, Potsdam 1933; jetzt in: GW II 219–365; Das Wohnen, der Raum und die Zeit, in: Die Form 8 (1933) 11–12; jetzt in: GW IX 328–332. 118 Bemerkenswert an dieser Stelle ist, dass Tillich den Naturrechtsbegriff, den er Ernst Troeltsch verdankt, zum „Rückgrat seiner Deutung der politischen Richtungen“ in seinen Berliner Vorlesungen macht, worauf Erdmann Sturm aufmerksam macht (vgl. ders., Tillich liest Troeltschs ,Soziallehren‘, in: U. Barth / C. Danz / F. W. Graf / W. Gräb [Hg.], Aufgeklärte Religion und ihre Probleme: Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, Berlin / Boston 2013, 271–290, hier 274ff.). „In meinem Kolleg“, so Tillich, „hatte ich mir ein weites Programm gesteckt, bin aber faktisch nur zu einer Besprechung der religiösen und philosophischen Grundlagen der politischen Parteien gediehen. […]. Ich habe versucht, die Demokratie als Konsequenz des säkularisierten Naturrechts des ,Urstandes‘, gegründet auf reine Rationalität, aufzufassen, das Konservative als irrationales Naturrecht des ,Sündenstandes‘, endlich habe ich den theoretischen Anarchismus zu

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In seinem Einführungsartikel der „Neuen Blätter für den Sozialismus“ mit dem Titel „Sozialismus“119 von 1930 stellt er diesen als ein Wagnis, als einen Lebensprozess dar. „Wo Leben ist, ist eine Spannung zwischen ‚Einssein mit sich‘ und ‚Sichtrennen von sich‘. Wer diese Spannung nicht hat, wer nur eins ist mit sich, der ist tot. Und eine geschichtliche Bewegung, die nur eins ist mit sich, die sich nicht trennen kann von sich, die nicht hinausbrechen kann über sich, ist tot.“120 Tillich fährt fort: „Das Wagnis hört nicht auf, solange Leben sein soll. Denn Leben heißt vorstoßen ins Unbestimmte.“121 Damit lehnt Tillich jede Orthodoxie und Erstarrung des Sozialismus ab. „Der Begriffsinhalt wechselt, muß wechseln, mit der Gesellschafts- und Geisteslage, aus der er geboren ist. Das Letzt-Gemeinte, nie Fassbare wechselt nicht, oder besser, es ist dem Gegensatz von Wechsel und Erstarrung enthoben.“122 Statt von „klassenloser Gesellschaft“, um die Karl Marx rang,123 spricht Tillich von „sinnerfüllter Gesellschaft“, „in der es jedem Einzelnen und jeder Gruppe möglich ist, ihren Lebenssinn zu erfüllen“124, bzw. einer Gesellschaft, „in der die Lebensmächtigkeit eines jeden Einzelnen und jeder Gruppe sich verwirklichen kann, und die selbst als Ganzes ihre Macht und ihren Sinn erfüllt“125. Damit greift Tillich auf die sinntheoretische Geistphilosophie der 1920er Jahre zurück, formt diese aber nun gleichzeitig anthropologisch um, um mit Danz zu sprechen.126 Diese Sinnerfüllung sieht Tillich bedroht und prekär im Proletariat, der Klasse, die von ihrem Lebenssinn durch das kapitalistische System abgeschnitten ist.127 Die kapitalistische Klassenspaltung zu über-

|| einem System des demokratischen Föderalismus weiter zu entwickeln versucht, in dem das Rationale, Demokratische, Zentralistische die allgemeine, leichte Form, das Irrationale, die Sozietäten (z. B. die ,Räte‘) den wirklichen Gehalt des politischen Lebens bilden.“ (EW V 144) 119 Vgl. GW II 139–150. 120 GW II 139. 121 GW II 140. 122 GW II 142. 123 Vgl. GW II 147. 124 GW II 143. 125 GW II 148. 126 Vgl. C. Danz, „Sein [...] ist die Macht zu sein.“ Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice, in: Ders. / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Justice, Power, and Love (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9), Berlin / Boston 2014, 27–45, hier, 31; vgl. dazu auch E. Sturm, Tillichs religiöser Sozialismus im Rahmen seines theologischen und philosophischen Denkens, in: C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Religion und Politik (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 4), Berlin / Wien 2009, 15–34, hier 25–34. 127 Vgl. GW II 148.

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winden, heißt nunmehr für Tillich, den Kapitalismus auf dem Boden seiner Auffassung vom Wesen des Menschen her zu bekämpfen. Denn alles hängt letztlich von der Auffassung vom Menschen ab, besonders in Bezug auf das Problem der Macht im Aufbau der Gesellschaft: „An der Auffassung vom Menschen hängt die Beantwortung aller Fragen nach dem Sinn der Wirtschaft und ihrer Stellung im Ganzen, nach dem, was produziert werden soll und für wen, nach dem Sinn und den Grenzen jedes Machtaufbaus in Staat und Gesellschaft, und darüber hinaus nach dem Ziel und den Wegen der Erziehung, nach der Formung des Rechts, nach dem Rhythmus von Arbeit und Freude, nach den Symbolen der Kunst und Religion.“128 Hier nimmt Tillich seinen lebensphilosophischen Machtbegriff vorweg,129 dem er, ausgehend von der Lebensphilosophie Schopenhauers und besonders vom Begriff des „Willens zur Macht“ Nietzsches, in seinem Spätwerk eine ontologische Deutung gibt.130 Tillich lehnt nun jede egalitäre und anarchische Theorie des Gesellschaftsaufbaus ab, spricht von „Spannungen der Mächtigkeit des Seienden, das sich dynamisch verwirklicht“131, greift zurück auf die Polarität von „Macht und Liebe“132 und macht sie zum Fundament des Miteinanders in der Gesellschaft: „Macht als Selbstverwirklichung des Einzelnen wie der Gruppe, Liebe als Hingabe an den Sinn fremder Selbstverwirklichung.“133 In dieser Kons-

|| 128 Ebd. 129 Das menschliche Sein sieht Tillich in seinem Beitrag „Sozialismus und Klassenkampf“ von 1928 in der Polarität von Getragenheit und Bedrohtheit (vgl. GW II 176). Gemeint ist mit der Getragenheit die Erhebung des Seins in den Sinn und mit der Bedrohtheit die Möglichkeit der Nichterfüllung oder Verfehlung, ontologisch gesprochen die Bedrohung durch das Nicht-Sein (vgl. ebd.). Die Bedrohtheit zeigt sich nach Tillich in der Erfahrung der „Ungesichertheit“, der „Ausgestoßenheit“, der „Hoffnungslosigkeit“, der „Sinnlosigkeit“ (vgl. GW II 182f). Bereits in seinem Beitrag „Eschatologie und Geschichte“ von 1927 spricht er ähnlich von der „Ernsthaftigkeit“ und „Ungesichertheit“, der „Unentrinnbarkeit des ‚Ist‘“ und dem „Verrinnenwollen des ‚Ist‘“ (vgl. GW VI 74; dazu auch EW XI 179). 130 Einschlägig für die Verknüpfung von Macht- und Lebensbegriff ist Tillichs Beitrag „Die Philosophie der Macht“ von 1953/1956 (vgl. GW IX 205–232), sowie seine Schrift „Love, Power, and Justice“ von 1954 (GW XI 143–235 bes. 165ff.), wo Macht als „Selbstbejahung des Lebens“ (GW XI 166) verstanden wird. Diese Reflexionen zum Machtbegriff auf der Basis des Lebensbegriffs sind bereits in der in Marburg und Dresden gehaltenen Dogmatik-Vorlesung Tillichs greifbar (vgl. P. Tillich, Dogmatik-Vorlesung [Dresden 1925–1927], in: EW XIV 131–138). Noch deutlicher ist dieser Zusammenhang von Macht- und Lebensbegriff in den explizit dem Machtbegriff gewidmeten Schriften, zum einen in dem Vortrag „Macht und Zwang im sozialen Kontext“ und zum anderen vor allem dem Beitrag „Das Problem der Macht“ von 1932. 131 GW II 170. 132 Vgl. GW II 100ff. 133 GW II 170.

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tellation nimmt der Begriff der „Begegnung“, den Tillich zum ersten Mal ausführlich in der im Wintersemester 1929/30 in Frankfurt gehaltenen Vorlesung über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik erörtert hat, einen entscheidenden Platz ein.134 Die Begegnungsanalyse Tillichs gilt dabei als „Versuch, das Begegnen zum Ausgangspunkt des philosophischen Aufbaues zu machen“135.

1.3 Die sozialistische Entscheidung oder Tillichs Antwort auf das Aufkommen des Nationalsozialismus Wie schon angedeutet, bildet der Erfolg des Nationalsozialismus den dritten Faktor, neben den Kriegsjahren einerseits und der „Revolution“ und der Weimarer Republik andererseits, der für die Entwicklung des Machtbegriffs beim frühen Tillich von entscheidender Bedeutung war.136 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Nationalismus oder die „Dämonie des souveränen Volkes“ (neben dem Kapitalismus oder der „Dämonie der autonomen Wirtschaft“) für Tillich als entscheidende Dämonie der Gegenwart137 gilt und als solche bekämpft werden muss. Seine „Zehn Thesen“138 von 1932 bringen zwar eine klare Ablehnung gegenüber dem Nationalsozialismus zum Ausdruck, doch soll hier seine 1933 erschienene Schrift „Die sozialistische Entscheidung“139, die ein entscheidender Grund für seine Beurlaubung als Hochschullehrer im Jahr 1933 war, als Grundlage zur Erarbeitung seiner dementsprechenden Position dienen.140 „Die sozialistische Entscheidung“ ist zugleich eine kritische Kampfschrift für und um den Sozialismus141 und eine deutliche Stellungnahme zu der politischen Situation, die sowohl die Entwicklung der Weimarer

|| 134 Vg. EW XV 9ff. 135 EW XV 9. 136 Sein Beitrag „Das Problem der Macht“ von 1931 entstand im Kontext des Emporkommens des Nationalsozialismus (vgl. dazu E. Sturm, Einleitung in Paul Tillichs sozialphilosophische und ethische Schriften, in: MW III 1–15, hier 7). Vgl. dazu A. von Scheliha, Die politische Ethik Paul Tillichs, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Ethics and Eschatology (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 10), Berlin / Boston 2015, 143–166, hier 157ff. 137 Vgl. GW VI 69; GW II 112. 138 Vgl. GW XIII 177–179. 139 GW II 219–365. 140 Vgl. dazu die Beobachtungen von Jean Richard in seiner Einleitung zu: P. Tillich, Écrits contre les nazis (1932–1935), in: A. Gounelle / J. Richard (Hg.), Œuvres de Paul Tillich, vol. III, Paris / Genève / Québec 1994, XXXVII. 141 Vgl. GW II 220.

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Zeit beachtet als auch die kommende nationalsozialistische Diktatur vor Augen hat.142 In ihr findet sich Tillichs Stellung zum religiösen Sozialismus am ausführlichsten und umfassendsten. Die Absicht dieser Schrift ist es, die Dringlichkeit der Parteinahme für den Sozialismus aufzuzeigen, dessen Wesen zu beschreiben und zu legitimieren.143 An dieser Stelle geht es nicht darum, eine ausführliche Analyse der „Sozialistischen Entscheidung“ vorzulegen, sondern einen kurzen Überblick über seine politische Stellungnahme angesichts des Heraufkommens des Nationalsozialismus zu verschaffen und die Entwicklung seines Machtbegriffs in diesem Zusammenhang herauszustellen.

1.3.1 Anthropologische Grundlagen des politischen Denkens Die zentralen Kategorien, auf die Tillichs Definition des Sozialismus hier aufbaut, sind „die politische Romantik“144, „das bürgerliche Prinzip“145 und „das sozialistische Prinzip“146. Zunächst gilt es, die anthropologischen Grundlagen zu erkennen, denn sie bilden die Wurzeln des politischen Denkens: „Ohne eine Lehre vom Menschen kann es keine Lehre von den politischen Richtungen geben.“147 Zentrale Bedeutung kommt hier nach Tillich dem „Ursprungsmythos“ zu. Dabei definiert er das Wesen des Menschen als „Sein, das in sich zu selbstbewußtem Sein gedoppelt ist“148, mit anderen Worten, der Mensch ist Sein und Bewusstsein. „Richtiges Bewußtsein aber ist seinsentspringendes und zugleich seinsbestimmendes Bewußtsein.“149 Das heißt, beide Elemente, existieren in sich selbst und existieren sich selbst gegenüber, bilden eine Einheit. Der Kreislauf von Geburt und Tod soll durch ein Tun des Neuen mit der Frage nach dem „Woher“ und „Wozu“, nach dem „Ursprung“ und der „Erwartung“, durchbrochen werden. Und dies hat für Tillich Folgen für jede politische Analyse.

|| 142 Hierzu schreibt Tillich: „Entscheidend für Impuls und Durchführung der Schrift waren die politischen Ereignisse der letzten Jahre, der Rückgang des politischen Einflusses der Sozialdemokratie, die anscheinend endgültige Spaltung der proletarischen Arbeiterschaft, der Siegeslauf des Nationalsozialismus, die Konsolidierung der spätkapitalistischen Mächte auf militärischer Grundlage, die wachsende Gefährdung der außenpolitischen Lage.“ (GW II 220) 143 Vgl. GW II 219ff. 144 GW II 234–264. 145 GW II 264–305. 146 GW II 306–365. 147 GW II 225. 148 GW II 226. 149 GW II 227.

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Ausgehend von seinem Bild des menschlichen Wesens unterscheidet Tillich zwei Wurzeln des politischen Denkens. Zum einen ist das „ursprungsmythische Bewußtsein […] die Wurzel alles konservativen und romantischen Denkens in der Politik“150. Konservatives und romantisch-politisches Denken legt also Wert auf den im Sein gründenden Ursprungsmythos, d.h. auf das „Woher“ der Existenz, das menschliche Gebundensein an Geburt, Entwicklung und Tod. Zum anderen ist die „Brechung des Ursprungsmythos durch die unbedingte Forderung […] die Wurzel des liberalen, demokratischen und sozialistischen Denkens in der Politik“151. Liberales, demokratisches und sozialistisch-politisches Denken treten also ein für das Ausbrechen aus dem Kreislauf von Geburt und Tod, legen Wert auf das „Wozu“ der menschlichen Existenz, das „Gesollte“ und die unbedingte Forderung nach Neuem. Der Sozialismus bejaht für Tillich eine kritische Einheit dieser beiden Elemente, von Sein und Bewusstsein. Denn die Forderung, die Frage nach dem „Wozu“, ist zwar unbedingt, aber sie ist dem Menschen nicht fremd. Sie trifft ihn, indem sie ihm sein „eigenes Wesen als Forderung hinstellt“152. Das „Wozu“ ist also dem „Woher“ nicht fremd. Doch Tillich legt mehr Wert auf die unbedingte Forderung, ist doch „das Wozu des Menschen […] das, worin sich sein Woher erfüllt“153. Diese unbedingte Forderung erfährt man aber nur vom anderen Menschen her. Hier erhebt sich die Notwendigkeit der Gerechtigkeit im Sinne einer Anerkennung des „Du“ mit gleicher Würde, wie das Ich sie auch besitzt. Damit gelangen wir zum Machtbegriff Tillichs in der „Sozialistischen Entscheidung“.

1.3.2 Die Macht im Religiösen Sozialismus: Gerechtigkeit als Leitkriterium des Machtaufbaus Der Begriff der Macht ist in der „Sozialistischen Entscheidung“ normativ zu verstehen. Tillichs Kritik am demokratischen System entzündet sich daran, dass aus dem demokratischen Staat wieder ein Klassenstaat zwischen Majorität und Minorität erwachsen kann, wenn die machttragende Gruppe nur ihre eigenen Interessen verfolgt. Damit sieht Tillich dem Machtprinzip Tür und Tor geöffnet. Bereits in seinen Schriften aus den 1920er Jahren charakterisierte er die Demokratie als „Übergangserscheinung“154, in der der ausgesprochene Wille nicht immer der

|| 150 GW II 227f. 151 GW II 228. 152 Ebd. 153 GW II 229. 154 EW XII 148.

176 | „Macht als sinnhafte Mächtigkeit“

wahre Wille ist.155 Tillich setzt sich mit dem Sozialismus für eine gerechte Machtausübung ein, in der die Forderung nach Gerechtigkeit erfüllt wird und somit nicht mehr die Klasseninteressen das Leitbild der politischen Umsetzung bilden. Der Sozialismus fördert einen einheitlichen gesellschaftlichen Willen, auf dem sich die gesellschaftliche Macht aufbaut, denn zu einer bestehenden Macht gehört die Zustimmung derer, die ihr unterworfen sind. „Hört die Zustimmung auf, so hört die Macht auf, und es beginnt der Kampf um ihre Neubegründung.“156 Da die Demokratie nach Tillich zu einem Klassenstaat führen kann, kann das Proletariat ihr nicht zustimmen. Sobald aber eine übergreifende Gerechtigkeit das Leitkriterium der Machtausübung wird, kommt es zu einer verwirklichten gesellschaftlichen Einheit. Im Sozialismus wird das „Soll“ zur Erfüllung des Seins. Damit ist die Gerechtigkeit kein abstraktes Ideal, das über dem Sein steht, sondern Erfüllung des ursprünglichen Seins.157 Der religiöse Sozialismus Tillichs steht somit im Grunde genommen der Demokratie sehr kritisch gegenüber. Diese kann für ihn immer nur ein Korrektiv, eine „Übergangserscheinung“, aber kein Konstitutiv sein.158 „In der Spannung zwischen Ursprungskräften, die den Aufbau der Gesellschaft tragen, und dem demokratischen Korrektiv, das sie unter die Forderung der Gerechtigkeit stellt, muß sich der Aufbau des Staates vollziehen.“159 So zeigt sich die Demokratie für Tillich ungeeignet zur Durchsetzung des sozialistischen Prinzips.

|| 155 Vgl. EW XII 143. 156 GW II 343. 157 Vgl. GW II 345. 158 Bereits in seiner Schrift „Die religiöse Lage der Gegenwart“ von 1926 beschreibt Tillich in seinen Ausführungen zu „Staat und Verfassung“ (vgl. GW X 9–93, 49–53) die Weimarer Demokratie nicht zuletzt als Vollendung der bürgerlichen Staatsvorstellung. „Die bürgerliche Staatsauffassung kann als die vollendete Profanisierung des Staates bezeichnet werden. Infolge der Auflösung der Gemeinschaft und der geistigen und religiösen Substanz erhält er lediglich die Aufgabe, den Rechtsschutz der Wirtschaft zu garantieren.“ (GW X 49f.; vgl. A. von Scheliha, Die politische Ethik Paul Tillichs, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm [Hg.], Ethics and Eschatology [= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 10], Berlin / Boston 2015, 143–166, hier 153ff. bes. 156) 159 GW II 347.

2 Systematische Perspektive | 177

2 Systematische Perspektive: „Macht ist sinnerfüllte Mächtigkeit […] in der Begegnung“ – Zum sinntheoretischen Machtbegriff Tillichs Es wurde deutlich, dass Ausführungen zum Machtthema immer wieder in den Schriften Tillichs zu finden sind. Wie sich sein Machtverständnis im Schatten des Religiösen Sozialismus zeitbezogen entwickelt, darauf ist bereits hingewiesen worden. Ein erster Versuch, den Machtbegriff systematisch aufzuhellen, stellt sein Aufsatz „Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung“160 von 1931 dar. Tillich versucht hier, sowohl gegenüber dem Aufkommen des Nationalsozialismus als auch gegenüber der aufklärerisch-bürgerlichen AntiMacht-Ideologie, in der er den Sozialismus befangen sieht, und ausgehend von einer ontologischen Deutung des Machtbegriffs, die Verwechselung von Macht und Gewalt zu entwirren161 und auf die Probleme aufmerksam zu machen, die damit verbunden sind, wenn der Sozialismus völlig auf Macht verzichtet.162 Damit könnte der Eindruck entstehen, dass sich im Machtverständnis Tillichs eine völlige Kehrtwendung vollzogen hat.163 Doch erläutert Tillich bereits in seinem 1929 vor der Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft in Stuttgart gehaltenen Vortrag „Zwang und Freiheit im sozialen Leben (Philosophie der Macht)“164 genauer, was er unter Anarchismus versteht. „Herrschaft ist nicht wie Macht ontologisch ursprünglich. Darum kann es sinnvoll einen Anarchismus, eine Theorie der Herrschaftslosigkeit geben, niemals aber einen Akratismus, eine Theorie der Machtlosigkeit. Herrschaft ist die durch Übertragung auf einzelne sich verwirklichende Macht einer umschließenden

|| 160 P. Tillich, Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung, in: Neue Blätter für den Sozialismus 2 (1931) 157–170; jetzt in: GW II 193–208 = MW III 250–268. 161 „Das Begründende des Machtbegriffs“, so Tillich, „liegt in der Struktur des Seins.“ (GW II 195) Von daher schließt zwar Macht die Gewalt ein, aber Gewalt begründet nicht die Macht, sondern folgt aus ihr. 162 „Wenn Mächtigkeit ,Sein überhaupt‘, Macht ,gesellschaftliches Sein überhaupt‘ ist, so ist das Fehlen von Mächtigkeit Aufhebung des Seins, das Fehlen von Macht Aufhebung des gesellschaftlichen Seins.“ (GW II 204) 163 Vgl. E. Sturm, Macht und Gewalt im politischen Denken Paul Tillichs, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 53–86, hier 65. 164 Vgl. EW XI 233–247.

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Gruppe.“165 Hier wird deutlich, dass die neue Haltung Tillichs eher eine terminologische Präzision ist und weniger eine Kehrtwendung und dass die ontologische Fassung des Machtbegriffs einen neuen Aspekt in die Entwicklung des Machtverständnisses bringt. In seinem Einführungsartikel der „Neuen Blätter für den Sozialismus“ mit dem Titel „Sozialismus“166 von 1930, in dem Tillich den Sozialismus als ein Wagnis, als Lebensprozess darstellt, verbindet er die Machtfrage mit der Sinnfrage. Auch in seinen Frankfurter Vorlesungen versucht er, Macht nicht nur mit dem Sinnbegriff, sondern grundsätzlich mit dem Begriff der Begegnung in Zusammenhang zu bringen. In all diesen Überlegungen ist für das Machtverständnis Tillichs ein Gedanke von Bedeutung: Die Einheit von Macht und Lebenssinn. Um zu klären, welche Verhältnisbestimmung von Macht und Sinn Tillich im Rahmen des Religiösen Sozialismus vornimmt, gilt es zunächst, mit den sinntheoretischen Grundlagen seines Machtbegriffs einzusetzen. Diese Verhältnisbestimmung von Macht und Sinn wird dann differenziert in Bezug auf die Natur, den Menschen und die Gesellschaft. Schließlich wird das Verhältnis von Macht und Gewalt unter sinntheoretischer Perspektive beleuchtet.

2.1 Die geistphilosophisch-sinntheoretischen Grundlagen des Machtbegriffs Tillichs „Der Situation einer unsicher gewordenen jungen Generation entsprach Tillichs Verständnis des Glaubens als eines unbedingten Suchens, eines mit letztem Ernst nach dem Sinn des Lebens Fragens. Daß Tillich in seinen Reden immer wieder die Sinnfrage stellte und dass seine Ausführungen immer wieder ein Ringen um Antwort auf diese Frage waren, eben dies fesselte seine jungen Hörer.“167 Diese Worte Walter Leibrechts in seinem Bericht über „Paul Tillich während seiner Harvard-Jahre“168 verweisen zutreffend darauf, dass Tillich sich zeitlebens mit dem Sinnproblem auseinandergesetzt hat. Der Auslöser für Tillichs Beschäftigung mit der Sinnfrage ist zunächst in seiner Biographie begründet und zeitdiagnostisch motiviert. Dass er den Ersten Weltkrieg persönlich als tiefe existentielle Erschütterung erfuhr, darauf ist oft hingewiesen worden. Erinnert sei nur diesbezüglich an die Hinweise Tillichs in seinem Bericht an den Feldprobst über

|| 165 EW XI 243. 166 Vgl. GW II 139–150. 167 GW XIII 578. 168 Vgl. GW XIII 576–580.

2 Systematische Perspektive | 179

die Monate November/Dezember 1915169 sowie an den Brief an seinen Vater vom 19. Dezember 1915170 oder auch an seinen Brief an Maria Klein vom 27. November 1916.171 In all diesen Briefen taucht bei dem jungen Feldprediger Tillich die Stimmung einer Sinnlosigkeit des Lebens auf. So nimmt auch in seiner zeitanalytischen Diagnose der Neuzeit die Sinnfrage einen wichtigen Platz ein. Dabei ist der Sinnbegriff keine Kategorie neben anderen, sondern die alle anderen beherrschende. Das Urteil lautet: Sinnentleerung, Sinnverlust, Sinnkrise, Sinnleere der Moderne. Für Claas Cordemann spielt zwar der Sinnbegriff eine untergeordnete Rolle in den frühen Schriften Tillichs etwa von 1919-1922. Doch, so Cordemann, Begriffe wie „stumpfmachende Arbeitssklaverei“172 oder „Entleerung und Entgeistigung“173, die in Tillichs 1919 publizierter Broschüre „Der Sozialismus als Kirchenfrage“174 begegnen, oder auch Begriffe wie „Diesseitsstimmung“175, die in seinem Beitrag „Christentum und Sozialismus I“176 aus demselben Jahr auftauchen, zielen bereits auf diese Sinnkrise der Moderne.177 Dies gilt auch für die Ausdrücke „Profanisierung“ und „Entleerung“178, die in seinem ersten Vortrag als junger Privatdozent vor der Kant-Gesellschaft am 16. April 1919 „Über die Idee einer Theologie der Kultur“179 begegnen. Besonders deutlich ist das Sinnproblem in Tillichs Schrift „Die religiöse Lage der Gegenwart“ von 1926. Darin hält er, wie schon angedeutet, den „Geist der bürgerlichen Gesellschaft“180 mit den Fundamenten ihrer geistigen Schöpfungen wie Wissenschaft, Technik und Wirtschaft181 und derer Wirkungen im gesellschaftlichen Leben für verantwortlich für die Sinnleere der Moderne. Dabei sieht Tillich die Ursache der Sinnleere in der Abwendung vom Ewigen182 und somit in

|| 169 Vgl. EW XIII 78. 170 Vgl. EW V 96. 171 Vgl. EW V 118ff. 172 GW II 16. 173 GW II 17. 174 Vgl. GW II 13–20. 175 GW II 27. 176 Vgl. GW II 21–28. 177 Vgl. C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 94–127, hier 96. 178 GW IX 31. 179 Vgl. GW IX 13–31. 180 Vgl. GW X 9f. 181 Vgl. GW X 15. 182 Im Kontext seiner Sinntheorie überrascht es nicht, dass der Gottesbegriff im Frühwerk Tillichs auch sinntheoretisch verankert ist. So begegnen in seinen frühen Schriften für Gott Begriffe

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der Profanität.183 So charakterisiert er die bürgerliche Kultur des 18. und 19. Jh. als eine (sich von dem Ewigen abwendende und somit) in sich und ihrer Endlichkeit ruhende Kultur,184 und hält den „Geist des Kapitalismus“ für das „stärkste Symbol“ dieser „in sich ruhenden Endlichkeit“185. Auch nach seiner Emigration in die USA im Jahre 1933 hat ihn die Auseinandersetzung mit der Sinnfrage weiter intensiv beschäftigt, nicht zuletzt bedingt durch den Zweiten Weltkrieg.186 Allerdings ist hier nicht mehr der sinntheoretische Horizont bestimmend, sondern derjenige der Ontologie. Seine Schrift „Der Mut zum Sein“ von 1952 gibt ein beredtes Zeugnis davon. Darin bringt Tillich die Begriffe der „Leere“ und der „Sinnlosigkeit“ in Zusammenhang mit dem des „Nichtseins“, und er versteht darunter ontologisch gewendet die Bedrohung der geistigen Selbstbejahung des Menschen. „Das Nichtsein bedroht die geistige Selbstbejahung des Menschen, relativ in Form der Leere, absolut in Form der Sinnlosigkeit.“187 Dies führt zu der entscheidenden Frage der Situation des modernen Menschen im Kontext der Sinnkrise. In dem im März 1928 von Tillich gehaltenen Vortrag „Die protestantische Verkündigung und der Mensch der Gegenwart“188 heißt es: „Sehen wir näher zu, welche Merkmale den Menschen der unmittelbaren Gegenwart von innen her charakterisieren, so müssen wir sagen: Es ist der autonome Mensch, der in seiner Autonomie unsicher geworden ist. Bezeichnend für das Unsicherwerden der Autonomie ist die Tatsache, daß der Mensch der Gegenwart keine Weltanschauung || wie „der unbedingte Sinngrund“ und „Sinnabgrund“ (GW IX 34). In seinem Artikel „Kirche und Kultur“ von 1924 schreibt Tillich: „Der unbedingte Sinn aber, auf den jeder Sinnakt in schweigendem Glauben gerichtet ist und der das Ganze trägt, der es vor dem Sturz in das Nichts der Sinnleere schützt, ist in sich doppelseitig: er trägt den Sinn jedes einzelnen Sinnes sowie den Sinn des Ganzen. Das heißt: er ist der Sinngrund. Aber er ist nie in irgendeinem Sinnakt als solcher erfaßbar. Er ist jedem einzelnen Sinn gegenüber transzendent. Wir können darum von dem Unbedingten zugleich als Sinngrund und als Sinnabgrund reden. Wir nennen dieses Objekt des schweigenden Glaubens an die Sinnhaftigkeit alles Sinnes, diesen alles Faßbare, Einreihbare übersteigenden Grund und Abgrund des Sinnes Gott.“ (GW IX 34) In seinem Spätwerk hat Tillich dagegen seinem Gottesbegriff eine deutlich ontologische Fassung gegeben. So bezeichnet er Gott nunmehr als das „Sein-Selbst“, der „Grund und Abgrund des Seins“ (ST I 273), als „die Macht des Seins“ (GW V 218). 183 Vgl. GW X 19. 184 Vgl. GW X 22. 185 GW X 46; vgl. auch 53 u. 88. 186 Vgl. W. Schüßler, Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie. Zur Kulturtheologie des späten Tillich, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 152–168, hier 164. 187 GW XI 39. 188 Vgl. GW VII 70–83.

2 Systematische Perspektive | 181

mehr hat.“189 Anders gewendet: Der autonome, unsicher gewordene Mensch ist in solch eine Leere geraten, dass er der Welt keinen Sinn mehr zuzuschreiben vermag. „Wenn die Frage in ihm auftaucht, was der Sinn seines Seins ist, dann tut sich ein Abgrund vor ihm auf, in den zu blicken nur der Mutigste wagt: der Abgrund der Sinnlosigkeit“190, schreibt Tillich in seinem Beitrag „Das christliche Menschenbild im 20. Jahrhundert“191 von 1952. Der moderne Mensch hat also den Sinn in Bezug auf sich selbst, die Welt und auch Gott verloren. Zusammenfassend schreibt Tillich: „Der Mensch des 20. Jahrhunderts hat eine sinnvolle Welt verloren und ein Selbst, das aus einem geistigen Zentrum in Sinnbezügen lebt. Die vom Menschen geschaffene Welt der Dinge hat den, der sie schuf, verschlungen, er hat in ihr seine Subjektivität verloren. Er ist das Opfer seiner eigenen Geschöpfe.“192 Nunmehr steht er vor der menschlich entscheidenden Frage: der Frage nach dem Sinn193: „Wie kann ich einen Sinn in dieser sinnlosen Welt finden?“194 Bei näherer Untersuchung der Machttheorie Tillichs wird deutlich, dass diese eine Lösung des Sinnproblems darstellt. Dass Tillich die Abwendung vom Ewigen bzw. die Trennung von Religion und Kultur für verantwortlich hält für die Probleme der modernen Kultur, besonders für die moderne Sinnkrise, ist bekannt. So macht er unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg den Kulturbegriff zur systematischen Leitkategorie und bietet seine Theologie der Kultur als Versuch an, die Kluft zwischen Religion und Kultur zu überwinden.195 „Offenbar“, schreibt Cordemann, „waren die Gedanken zur systematischen Leistungskraft der Begriffe ‚Sinn‘ und ‚Geist‘ noch nicht weit gediehen, dass er damit an die Öffentlichkeit treten wollte“196. Für Christian Danz

|| 189 GW VII 70. 190 GW III 183. 191 Vgl. GW III 181–184. 192 GW XI 107. 193 Vgl. GW IX 307. 194 ST III 262. 195 Vgl. GW IX 31. Bekanntlich hat Tillich die Grundzüge dieser Kulturtheologie in seinem Berliner Vortrag „Über die Idee einer Theologie der Kultur“ (vgl. GW IX 13–31) von 1919 sowie in seinen Berliner Vorlesungen über „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“ (vgl. EW XII 27–211) aus demselben Jahr ausführlich ausgearbeitet (vgl. E. Sturm, Die Genese von Tillichs Kulturtheologie in seinen frühesten Texten, in: C. Danz / W. Schüßler [Hg.], Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 64– 93, hier 83). 196 C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, hier 100.

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ist Tillich „zu dieser Zeit noch nicht in der Lage, seine Sinntheorie mit einer Geistphilosophie zu verbinden“197. Allerdings wird der Sinnbegriff bereits in den „frühen Texten […] als ein solches Einheitsprinzip von Tillich verwendet, welches die ausdifferenzierte moderne Kultur integrieren soll“198. Denn die Kulturtheologie Tillichs zielt im Kern auf die Lösung „des kulturphilosophischen Zentralproblems: nämlich der Frage nach dem letzten Sinn und der letzten Realität der Wirklichkeit“199, wie es Tillich in seinem am 25. Januar 1922 vor der Berliner Sektion der Kant-Gesellschaft gehaltenen Vortrag „Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie“200 zu verstehen gibt. So gilt der Sinnbegriff in den frühen Texten Tillichs als Grundsatz bzw. als „Einheitsprinzip“, von dem aus sich alle anderen Elemente ergeben. „Sinn ist das gemeinsame Merkmal und die letzte Einheit von

|| 197 C. Danz, Die Religion in der Kultur. Karl Barth und Paul Tillich über die Grundlagen einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 211–227, hier 215. Es überrascht also nicht, dass Tillich Begriffe wie Autonomie, Heteronomie, Theonomie, Form, Gehalt – um nur die wichtigsten zu nennen –, die im Zentrum seiner Kulturtheologie stehen, auch für sein politisches Denken fruchtbar gemacht hat. So konnte er, wie schon erwähnt, von einem theonomen Staat sprechen (vgl. GW IX 26; MW II 80f.). Von besonderer Relevanz ist für die politische Gedankenwelt Tillichs das für seine Kulturtheologie signifikante und „aus der aristotelischen Philosophie stammende Form-Gehalt-Schema“ (C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler [Hg.], Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, hier 101). Das Verhältnis von Form und Gehalt hat Tillich im Rahmen seines politischen Denkens in unterschiedlichen Perspektiven thematisiert. In seinen Berliner Vorlesungen von 1919 sowie in seinen „Grundlinien des Religiösen Sozialismus“ spricht er von der Polarität von Form und Gehalt, bringt diese in Zusammenhang mit der Deutung der politischen Richtungen dieser Zeit und schreibt zusammenfassend, dass die Form im Demokratischen überwiegt, der irrationale Gehalt im Konservativen. Im anarchischen Föderalismus dagegen kommen Form und Gehalt zusammen. (Vgl. dazu E. Sturm, Tillich liest Troeltschs ,Soziallehren‘, in: U. Barth / C. Danz / F. W. Graf / W. Gräb [Hg.], Aufgeklärte Religion und ihre Probleme: Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, Berlin / Boston 2013, 271–290, hier 275) 198 C. Danz, Die Religion in der Kultur. Karl Barth und Paul Tillich über die Grundlagen einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 211–227, hier 215. 199 GW I 385. 200 Vgl. GW I 365–388. Für Claas Cordemann dient die Kulturtheologie Tillichs als Lösung des Sinnproblems. Vgl. dazu seine Ausführungen in seinem schon zitierten Beitrag, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler [Hg.], Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, hier 100f.

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theoretischer und praktischer Geistessphäre, von wissenschaftlichem und künstlerischem, von rechtlichem und sozialem Gestalten.“201 Auch in der Auseinandersetzung des frühen Tillichs mit der Machtfrage lassen sich die Aufbauelemente seiner Machttheorie am besten im Ausgang von seiner geistphilosophischen Sinntheorie rekonstruieren. Hierzu schreibt Christian Danz: „Die Theorie der Macht, wie sie Tillich in den 1930er Jahren ausführt […], zielt auf einen normativen Begriff der Macht. Mit dieser Problemfassung des Machtbegriffs knüpft Tillich an seine sinntheoretische Geistphilosophie der 1920er Jahre an.“202 Dementsprechend kann Tillich Macht als „sinnerfüllte Mächtigkeit“ definieren, von der Macht als Freiheit bzw. Erhebung in den Sinn mit möglicher Sinnverfehlung sprechen und die Idee einer sinnerfüllten Gemeinschaft auf der Basis der Korrelate des normativen Machtbegriffs, der Sinnforderung und der Anerkennung des Sinnes des Anderen aufgreifen. Der geistphilosophisch orientierte Sinnbegriff von Tillich ist also der Schlüssel zu dessen Machtverständnis. Dieses geistphilosophisch-sinntheoretische Fundament, auf dem seine Machttheorie aufbaut, ist nun etwas näher in den Blick zu nehmen. Der erste Versuch Tillichs, eine geistphilosophische Sinntheorie zu entwickeln, findet sich schon in seinem frühen Briefwechsel mit Emmanuel Hirsch aus den Jahren 1917/18.203 Vor dem durch den Krieg erzeugten aktiven Nihilismus204 und angesichts der nachkantischen philosophischen Strömungen im 19. und 20. Jahrhundert mit ihrer Tendenz zum Positivismus205 geht es Tillich in diesem Briefwechsel vornehmlich darum, einen angemessen Gottesbegriff zu formulieren, d.h. um die Frage: Wie kann sinnvoll von Gott gesprochen werden? Anders ausgedrückt, es geht Tillich darum, einen Gottesbegriff zu formulieren, „der über einer gegenständlichen Fassung Gottes

|| 201 GW I 318. 202 C. Danz, „Sein [...] ist die Macht zu sein.“ Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Justice, Power, and Love (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9), Berlin / Boston 2014, 27–45, hier 35. 203 Vgl. EW VI 95–218. 204 „Es ist eine Katastrophe, was ich da sah! Ein hemmungsloses Negieren und Niederreißen mitten in den treusten Kreisen, wo nur Energie des Geistes und Nietzsches Hauch hinweht [...]. Was soll werden? Der Krieg hat nur destruktiv gewirkt! Wo sind die Gegenkräfte? Ist es vielleicht wirklich ein ,Ende‘, an dem wir stehen?“ (EW VI 97) 205 Vgl. A. Diemer, Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaft im 19. Jahrhundert – die Wissenschaftstheorie zwischen klassischer und moderner Wissenschaftskonzeption, in: Ders., (Hg.), Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhunden, Meisenheim am Glan 1968, 3, zit. nach J. Eisfeld, Erkenntnis, Rechtserzeugung und Staat bei Kant und Fichte, Tübingen 2015, 37.

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als einer ontischen Entität steht“206. Dazu stützt er sich auf die moderne Philosophie, die er schon während des Krieges ausgiebig studiert hat.207 Und hier sind besonders Autoren zu nennen, die „zu den führenden Vertretern der sinntheoretischen Debatten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts“208 gehören. Tillich nennt in diesem Zusammenhang u. a. selbst Hermann Lotze aus dem 19. Jahrhundert, Edmund Husserl und Max Scheler als Vertreter der Phänomenologie, den Lebensphilosophen Georg Simmel sowie die Neukantianer Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband und Emil Lask.209 In frühen Formulierungen bringt Tillich den Gottesbegriff in Anlehnung an Georg Simmel durch Begriffe wie „Tiefe“ und „Sinn“210 zum Ausdruck. In einem Brief vom 9. Mai 1918 heißt es dazu: „Das Göttliche ist Sinn.“211 „Das Gerichtetsein auf Sinn“ tritt somit bei Tillich „systematisch gesehen an die Stelle des Religionsbegriffes“212. Den Sinnbegriff führt Tillich über den des Wertes ein, den er der neukantischen Philosophie der Südwestdeutschen Schule verdankt213: „,Wert‘ und ‚Sinn‘“, so Tillich, „ergeben sich bei tieferer Analyse als identische Begriffe.“214 Wobei für Tillich der Geist als der Ort gilt, an dem der Sinn Bedeutung gewinnt.215 „Geistiges Leben ist Leben im Sinn oder unablässige schöpferische Sinngebung.“216 Tillich unterscheidet näherhin drei Sphären bzw. Haltungen des Geistes gegenüber der Wirklichkeit: die Sphäre des Tatsächlichen bzw. des Seins, die des Sinnes oder des Wertes und die des Religiösen oder

|| 206 C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, hier 98. 207 Vgl. EW VI 98f. 208 Einleitung der Herausgeber, in: Paul Tillich. Ausgewählte Texte, C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Berlin 2008, 9–24, hier 13. 209 Vgl. EW VI 99; dazu auch C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, hier 98. 210 EW VI 97. 211 EW VI 126. 212 J. Kubik, Paul Tillich und die Religionspädagogik: Religion, Korrelation, Symbol und Protestantisches Prinzip, Göttingen 2011, 255. 213 Vgl. C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, hier 99. 214 EW VI 125. 215 Vgl. C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, hier 99f. 216 EW VI 125.

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Unendlichen oder Numinosen bzw. des Überseienden.217 Während der Geist, der am Sinn orientiert ist, sich am Sein realisiert, weiß er sich selbst vom Überseienden realisiert.218 „So begrenzt sich der Sinn durch das Sein und das Überseiende! Beide aber sind Sinn-Setzungen […]. Ich lehre also den Monismus des Sinnes“, schreibt Tillich zusammenfassend. Mit anderen Worten: Das Sich-durch-dasSein-Realisieren des Geistes und das Sich-verdankt-Wissen vom Überseienden sind „Einstellungen des sinnsetzenden Bewußtseins“219. Diese geistphilosophische Sinntheorie wird von Tillich systematisch weiter entfaltet in seiner Schrift „Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden“ aus dem Jahre 1923 und in der „Religionsphilosophie“ von 1925. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass die Sinntheorie bei Tillich zur Überwindung der erkenntnistheoretischen Alternative von realistischen und idealistischen Modellen dient.220 Bekanntlich kann „eine Lösung bei Tillich weder in einer Neben- oder

|| 217 Vgl. EW VI 125f. 218 Vgl. EW VI 126f. 219 C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, hier 99. 220 Im „System der Wissenschaften“ schreibt Tillich: „Die Sinnfunktion ist weder Sinngebung, wie es der Idealismus, noch Sinnerfassung, wie es der Realismus will. Weder gibt der Geist den Dingen Gesetze, noch geben die Dinge dem Geiste Gesetze. Der Idealismus hat Unrecht, weil er nicht zeigen kann, wie die Sinnformen zu den Dingen kommen; der Realismus, weil er nicht zeigen kann, wie die Dinge zu den Sinnformen kommen. Wir haben das Verhältnis von Dingen und Sinnformen bestimmt als Sinnerfüllung. Der Begriff besagt, daß die Dinge in der Richtung auf die unbedingte Form stehen und daß diese Richtung ihre Erfüllung findet in den geistigen Schöpfungen. Nicht ideale Normen, die jenseits des Seins stehen, aber auch nicht eine dem Geist gegenüberstehende sinngeformte Wirklichkeit ist Trägerin des Sinnes. Der Sinn ist überhaupt nicht gegeben, weder real noch ideal, sondern er ist intendiert, und er kommt im Geiste zur Erfüllung.“ (GW I 233) Ähnliche Gedanken finden sich auch in der „Religionsphilosophie“ (vgl. GW I 307). Vom sinntheoretischen Standpunkt aus betrachtet, ist also sowohl der Idealismus als auch der Realismus eine einseitige Abstraktion des Sachverhalts. Dieser kann nicht erklären, wie die Natur dem Geist die Gesetze geben kann, jener nicht, wie ein an sich formloser Stoff Gesetze annehmen kann. So bleibt nur die synthetische Lösung, die für Tillich in der Sinnerfahrung als Sinnerfüllung erlebt wird (vgl. C. Danz, Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer, in: D. Korsch / E. Rudolph [Hg.], Die Prägnanz der Religion in der Kultur, Tübingen 2000, 201–228, hier 203–207; ders., Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 307ff.). In jedem Erlebnis von Sinn sind nämlich Tillich zufolge Form und Gehalt enthalten und bilden eine Einheit, und „aus den korrelativen Strukturmomenten Sinnform und Sinngehalt“ entspringt der Sinn. Also „nicht im Ding-an-sich und auch nicht am Phänomen Bewusstsein selbst […], sondern an dem Wechselverhältnis beider in der apriorischen Synthesis, die als drittes Relat dem Subjekt-Objekt-Schema hinzuzufügen ist“, entspringt der Sinn (K.

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Überordnung noch in der Auflösung eines der Konfliktpartner“221 liegen. Tillich legt Wert auf eine „synthetische Lösung“222. In seiner geistphilosophischen Sinntheorie kommt es daher „zu einer produktiven Synthese idealistischer, neukantischer und phänomenologischer Einsichten“223. Wer einen Blick auf diese zuletzt genannten Schriften wirft, dem fällt auch auf, dass Tillich „Sinn“ und „Geist“ in einem engen Zusammenhang bringt.224 Im „System der Wissenschaften“ macht Tillich die Triade Denken, Sein und Geist zur Grundlage seiner Darlegungen.225 Der Wissensakt beruht ihm zufolge auf der Dialektik von Denken und Sein, von Meinen und Gemeintem: „In jedem Wissensakt ist ein Doppeltes enthalten, eben der Akt, und das, worauf er sich richtet, das Meinen und das Gemeinte.“226 Ist dabei das Denken der Akt des Bewusstseins, mit dem es sich auf das Sein richtet, so ist dieses Sein, das Tillich im Anschluss an Husserl als das „Gemeinte“ bezeichnet,227 nicht gleichzusetzen mit der Vorstellung eines „seienden Dinges“ oder einer „seienden Substanz“228, mit anderen Worten, dem Sein eines bloßen Gegenstandes. Es ist vielmehr das Sein, auf das

|| Höpting, Der Mythosbegriff bei Paul Tillich, in: P. Haigis / I. Nord [Hg.], Theologie der Liebe im Anschluss an Paul Tillich [= Tillich-Preview 2013, Bd. 4], Münster 2013, 44). Der Sinnbegriff Tillichs baut sich also auf drei Momenten auf: Form, Gehalt und Synthesis (und daraus ergeben sich in diesem Zusammenhang Denkwissenschaften, Seinswissenschaften, Geisteswissenschaften). Diese Überwindung der erkenntnistheoretischen Alternative von Realismus und Idealismus durch ihre sinntheoretische Synthesis hat für Tillich Konsequenzen in Bezug auf unser Verhältnis zu den Dingen, die vom modernen Menschen entmächtigt werden. Sie soll zu einer Neubegründung des Eros- und Machtverhältnisses zwischen Person und Ding führen. 221 C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, 111f. 222 GW I 299. 223 C. Cordemann, Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 9–127, 111f. 224 Dabei führt Tillich den Geistbegriff über den der Macht ein und definiert den „Geist als Koinzidenz von Macht und Sinn“ (GW I 288); Geist bildet dann nach Tillich den inneren Zusammenhang von Macht und Sinn (vgl. ebd.; dazu auch J. Ringleben, Gott denken. Studien zur Theologie Paul Tillichs [= Tillich-Studien, Bd. 8], Münster 2003, 49f.). 225 Vgl. GW I 118ff. 226 GW I 118. 227 Vgl. J. Kubik, Paul Tillich und die Religionspädagogik: Religion, Korrelation, Symbol und Protestantisches Prinzip, Göttingen 2011, 184. 228 GW I 118.

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der Denkakt sich richtet.229 Die beiden Grundelemente Denken und Sein lassen sich also wechselseitig bestimmen,230 und ihre Wechselbeziehung geschieht nach Tillich durch den Geist,231 den er in Anlehnung an Fichte als „Selbstbestimmung des Denkens im Sein“ bzw. „die Form des seienden Denkens“232, oder auch als „das existierende, lebendige Denken“ beschreibt.233 Dementsprechend grenzt Tillich drei mögliche Denkrichtungen voneinander ab: die Denkwissenschaften, die Seinswissenschaften und die Geisteswissenschaften.234 Begründet das Denken die Denkwissenschaften (Logik, Mathematik) und das Sein die Seinswissenschaften (d.h. die empirischen Wissenschaften), so beziehen und entwickeln sich nach Tillich die Geisteswissenschaften auf beide Grundelemente und sind nicht auf nur eines der zwei Grundelemente reduzierbar. Dabei sieht Tillich die Tätigkeit der Geisteswissenschaften im Schaffen von Sinn: „Das Erkenntnisziel der Geisteswissenschaften“, schreibt er, „ist der Sinnbegriff.“235 Und er fügt hinzu: „Im Geist erfüllt sich der Sinn des Seins.“236 In der „Religionsphilosophie“ formuliert Tillich das enge Verhältnis von Geist und Sinn wie folgt: „Jeder geistige Akt ist || 229 Die Nähe zur Formel der „ontisch-ontologischen Differenz“ Heideggers ist hier unverkennbar. (Vgl. dazu J. Kubik, Paul Tillich und die Religionspädagogik: Religion, Korrelation, Symbol und Protestantisches Prinzip, Göttingen 2011, 184) 230 „Wir können […] das Denken gar nicht anders bestimmen, als daß wir es als den Akt definieren, der auf das Sein gerichtet ist, und wir können das Sein nicht anders definieren, als das vom Denken Gemeinte, das, worauf der Denkakt gerichtet ist. […] Es ist infolgedessen auch keine eigentliche Definition möglich, sondern nur ein wechselseitiges Anschauen des einen vom anderen her.“ (GW I 118) 231 In diesem Zusammenhang fasst Tillich das Verhältnis von Denken und Sein in drei Aussagen zusammen: „1. Das Sein ist im Denken gesetzt als das Umfaßte, Begriffene, als Denkbestimmung. 2. Das Sein ist vom Denken gesucht als das Fremde, Unfaßbare, dem Denken Widerstrebende. 3. Das Denken ist sich selbst gegenwärtig im Denkakt; es ist auf sich selbst gerichtet und macht sich selbst zu einem Seienden“ (GW I 118). 232 GW I 210. 233 Ebd. Mit diesem Urteil steht Tillich in der Tradition der klassischen deutschen Philosophie (bzw. des deutschen Idealismus), besonders in der Wissenschaftslehre Fichtes. In seiner „Wissenschaftslehre“ vertritt Fichte eine Selbstreflexion des Wissens. Ihm zufolge ist in jedem Menschen der Grund echter Selbsterkenntnis (und damit auch Gotteserkenntnis) gelegt. „Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses bloßen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist, und es setzt sein Seyn, vermöge seines bloßen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Produkt der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird; Handlung, und That sind Eins und dasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruck einer Thathandlung.“ (J. G. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre [1794], Hamburg 1988, 16) 234 Vgl. GW I 120f. 235 GW I 222. 236 Ebd.

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ein Sinnakt; ganz gleich ob die realistische Erkenntnistheorie von einem sinnempfangenden oder die idealistische von einem sinngebenden oder die metalogische von einem sinnerfüllenden Akt spricht, ganz gleich also, wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt im geistigen Akt gedacht ist, immer ist Geist Sinnvollzug und das im Geist Gemeinte Sinnzusammenhang.“237 Der zitierten Passage zufolge ist die Tätigkeit des Geistes sinnschöpferisch orientiert. „Die Akte der geisttragenden Gestalt sind sinngebende Akte. […] Im Geist erfüllt sich der Sinn des Seins.“238 So formuliert, bleibt diese „Sinnerfüllung im Geist“ erklärungsbedürftig. Denn die Prägnanz der Formel „Im Geist erfüllt sich der Sinn des Seins“ kann dazu führen, die Sinnerfüllung so zu verstehen, als ob das Seiende seinen Sinn nur dem sinngebenden Akt des Subjekts verdankt, was eine konstitutionsidealistische Auffassung wäre.239 Was versteht Tillich also genauer unter Geist? Und wie lässt sich der innere Zusammenhang von Geist und Sinn erklären? Jede geistige Schöpfung setzt nach Tillich Geist voraus.240 Zunächst kennt der Geist keinen außergeschichtlichen Moment bzw. keinen Zeitpunkt, wo man sagen kann: Hier fängt Geist an. Voraussetzung des Geistes ist die Freiheit.241 Aus dem bisher Gesagten hat sich ergeben, dass der Geistbegriff für das Denken steht, „das sich nicht nur auf das Sein richtet, sondern auf sich selbst, daß er sich gewissermaßen zuschaut, während er denkt“242. Mit anderen Worten entsteht der Geist dort, wo das Denken sich zum Gegenstand macht. Aber mit diesem reflexiven Charakter des Geistes ist Tillichs Verständnis des Geistes noch nicht vollständig beschrieben. Hinzu kommt eine weitere wichtige Komponente der Struktur des Geistes, und zwar die Freiheit: Geist setzt nach Tillich nämlich immer Freiheit voraus.243 Jaspers spricht im Anschluss an Kierkegaard von einem Selbstverhältnis, dass der Mensch sich zu sich selbst verhalten kann. In der Selbstreflexion ist das Denken, so Tillich, kein bloßer Beobachter, sondern aktiver Mitspieler. Wenn

|| 237 GW I 318. 238 GW I 222. 239 Vgl. EW X 335. 240 Vgl. GW I 217. 241 Vgl. GW I 210. 242 GW I 119. 243 Wobei Tillich „endliche Freiheit“ und „Willensfreiheit“ unterscheidet. Die Erstere besteht darin, die Situation der „bedingten Reflexe“ zu durchbrechen; sie ist die Fähigkeit des Menschen, die Natur zu erkennen und zu beherrschen durch Sprache bzw. Begriffe in den Grenzen seiner Endlichkeit. Dies macht für Tillich den Menschen zum Menschen; der Letzteren, die für Tillich auf das Rationale eingeschränkt ist, wird in seinem Denken kein Platz eingeräumt (vgl. GW XIII 485).

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das Denken nämlich über sich selbst denkt, dann schaut es sich nicht bloß zu, wie allem anderen Sein, sondern es bestimmt, kritisiert und gibt sich selbst zugleich Normen.244 Und das, was den Geist dazu befähigt, sich selbst zu bestimmen und zu kritisieren sowie sich Normen zu geben, ist nach Tillich möglich aufgrund der Freiheit. Jeder geistige Akt setzt also Freiheit voraus. „In der geisttragenden Gestalt […] reißt sich das Denken los von seiner Bedingtheit, Unmittelbarkeit; es tritt allen Seinsformen gegenüber mit der Unbedingtheit seiner Forderung, es tritt dem Sein gegenüber als Geltung. Voraussetzung der Geistverwirklichung ist also die vollkommene Loslösung eines Seienden von der unmittelbaren Gebundenheit an seine endliche Form. Voraussetzung des Geistes ist die Freiheit.“245 Entscheidend in der zitierten Stelle ist, dass Tillich auf dem Boden der Freiheit den Sinnbegriff über den der „Geltung“ einführt. Während die bloße Gestalt ihren Strukturgesetzen unterworfen ist, ist der Geist der Geltung bzw. dem Sinngesetz unterworfen, und als solcher begegnet er dem Sein. „Geist ist erst da wirklich, wo in individuellen Gestalten, die als solche ihren Grundstrukturgesetzen unterworfen sind, Geltungen erfasst werden, die allein ihrem Sinngesetz unterworfen sind.“246 Unter dieser Perspektive ist der Geist Träger von Sinn und schreibt bestimmten Aspekten der Existenz Sinn zu. „Im Geist erfüllt sich der Sinn des Seins.“247 Sinnschöpferisch orientiert, stößt er somit über sich hinaus, bleibt aber zugleich immer bei sich. Allerdings richtet sich der sinngebende Akt des Geistes keineswegs auf eine „sinnlose Wirklichkeit“248. Denn jedem Seienden, so Tillich, wohnt ein Sinn inne, der sich nach Erfüllung sehnt und sich im Geistigen verwirklicht. Die „sinngebenden Akte“ sind in diesem Zusammenhang „sinnerfüllende Akte“. „Der dem Seienden in all seinen Formen innewohnende Sinn kommt in den geistigen Akten zu sich selbst, der Sinn der Wirklichkeit verwirklicht sich im Geistigen.“249 Mit

|| 244 Vgl. GW I 121; dazu auch die Begriff der „Selbstobjektivierung“ bei Scheler oder der „Selbstdistanzierung“ bei V. Frankl. 245 GW I 210. 246 GW I 121. 247 GW I 222. 248 „Die Akte der geisttragenden Gestalt sind sinngebende Akte. Das ist nicht so zu verstehen, als ob eine an sich sinnlose Wirklichkeit durch die Akte der geisttragenden Gestalten sinnvoll würde.“ (GW I 222) 249 Ebd.; vgl. auch EW X 335: „Jeder geistige Akt ist ein Akt der Sinnerfüllung, d.h. ein Akt, in dem das nicht sinnlose, aber sinnunbestimmte und nach Sinnbestimmung drängende Wirkliche einen Sinn erhält.“ Zum Begriff der „Sinnerfüllung“ bei Tillich vgl. G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie: Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hinter-

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anderen Worten, die Erfüllungssehnsucht des Seienden verwirklicht sich in der sinngebenden Tätigkeit des Geistes bzw. im Geistigen. Den dem Seienden innewohnenden und nach Erfüllung strebenden Sinn, der nach Tillich den Dingen nie ganz abgestreift werden kann, nicht einmal dem Atom,250 bringt er zum Ausdruck mit Begriffen wie „Qualität der Dinge“, „Mächtigkeit“ oder „Sachmächtigkeit“251. Gegen die rational-gegenständliche Auffassung der Natur bzw. die moderne Vergegenständlichung von wissenschaftlicher Seite schreibt Tillich: „Die Mächtigkeit und der Sinn der Natur müssen in ihr und durch ihre gegenständlichen physikalischen Strukturen gesucht werden. Mächtigkeit und Sachlichkeit, Sinn und gegenständliche Struktur fallen nicht auseinander. Wir können nicht das Wort der mathematischen Naturwissenschaften als das letzte Wort über die Natur anerkennen, wenn wir auch nicht ableugnen, daß sie das erste Wort haben.“252 Gerade auf diesem Weg in die „Tiefe“ der Natur erweist sich der Machtbegriff im Frühwerk Tillichs als Kampfbegriff, als die Forderung einer Wiederherstellung des Sinnes (der Dinge, des Einzelnen sowie der Massen). Unter Aufnahme der Aufbauelemente seiner geistesphilosophischen Sinntheorie entwickelt Tillich nun auch seine Machttheorie.

2.2 Sinntheoretische Auffassung der Seinsmächtigkeit der Dinge 2.2.1 Die Forderung einer Wiederherstellung des Sinnes Dass der Begriff der „Seinsmächtigkeit“253 in Tillichs später Existenz-Ontologie eine zentrale Stellung einnimmt, ist in der Tillich-Forschung ein viel diskutiertes Thema. Liegt dabei im Ausdruck „Seinsmächtigkeit der Dinge“ der Akzent auf dem Begriff der Mächtigkeit, die dem Ding bzw. dem Seienden ermöglicht, zu sein und am Sein teil zu haben (Partizipationsbegriff), so scheint die Pointe im Früh-

|| grund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, 311ff.; W. Schüßler, Der philosophische Gottesgedanke im Frühwerk Paul Tillichs (1910–1933). Darstellung und Interpretation seiner Gedanken und Quellen, Würzburg 1986, 36ff. 250 „Die Qualitäten der Dinge lassen sich nie ganz abstreifen. Selbst in der Struktur des Atoms findet sich Urgegebenes, Gestalt und Selbstmächtigkeit.“ (GW VII 111; vgl. dazu auch GW II 122) 251 EW XI 213; GW VII 112. 252 GW VII 112. 253 EW XI 234.

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werk Tillichs darin zu liegen, dass er angesichts der Bedrohung der „Entmächtigung“254 bzw. der „ sinnlosen Notwendigkeit“ und des sinnlosen „Zufalls“255, denen die Dinge ausgesetzt sind, den Sinn der „inneren Erfülltheit“256 der Dinge geltend zu machen versucht. So zeigt sich in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung Tillichs mit dem Begriff der „Seinsmächtigkeit der Dinge“ als Kampfbegriff um die Wiederherstellung des Sinnes der Dinge257 sowie des Menschen und der Gesellschaft. Dies dokumentiert sich nicht nur deutlich in seinen sinntheoretischen Schriften, sondern in seinem ganzen Frühwerk. Sei es in seinen Schriften über den religiösen Sozialismus,258 den er immer auch als Kampf gegen die Sinnlosigkeit versteht,259 und seiner damit verbundenen Theologie der Kultur, oder sei es in seinen Beiträgen über den Gläubigen Realismus, die Symboltheorie,260 die Sakramententheorie,261 um nur einige Aspekte zu nennen. Überall spricht Tillich hier der Natur eine aus ihrer Tiefe

|| 254 EW XI 236. 255 „Zufälligkeit auf der einen, rationale Notwendigkeit auf der anderen Seite: Das sind die beiden Begriffe, in denen sich mit besonderer Deutlichkeit die Sinnleere des in sich selbst ruhenden Weltbildes der vergangenen Epoche zeigen konnte.“ (GW X 22; vgl. auch GW II 102ff.) 256 EW XI 234. 257 Vgl. MW I 266. 258 In seinen „Grundlinien des Religiösen Sozialismus“ von 1923 schreibt Tillich: „Die Dinge haben mythische, innere, speziell sakramentale Bedeutsamkeit. Sie sind nicht eigentlich Dinge, sie sind Wesen von eigener Mächtigkeit und eigener Eroskraft, und durch Eros und Machtwille tritt Geist mit ihrem innersten Kern in Beziehung.“ (GW II 101; vgl. auch MW III 115) 259 In seinem Beitrag „Die religiöse und philosophische Weiterbildung des Sozialismus“ von 1924 (vgl. GW II 121–131) versteht Tillich den religiösen Sozialismus „in seiner Tiefe [als] Wille zur Gestalt gegenüber der Gestaltlosigkeit und [als] Wille zum Lebenssinn gegenüber der Sinnlosigkeit“ (GW II 123). Dabei führt Tillich einen Gestaltbegriff ein, dessen Zielsetzung es ist, gegen den naturwissenschaftlichen Materialismus, der keine eigene Anschauung des Seins geben kann, „das Wesen der Natur und des Menschen und der Gesellschaft“ (GW II 122) zum Ausdruck zu bringen. Denn „Gestalt [ist] Wesen, Gestaltlosigkeit Wesenswidrigkeit“ (GW II 123). Gestalt und Sinn gehören zusammen (vgl. GW II 123). Bereits in den „Grundlinien“ von 1923 vertritt er eine ähnliche Auffassung: „Als Vorkämpfer der Gerechtigkeit im Sozialen muß der religiöse Sozialismus auch im Theoretischen den Dingen die Gerechtigkeit geben, die in der Bejahung ihrer Eigenformen, ihrer rationalen, logischen oder ästhetischen Zusammenhänge beschlossen liegt.“ (GW II 102) Entscheidend ist in dieser zitierten Stelle die Analogie, die Tillich zwischen der Gerechtigkeit im Sozialen und der Gerechtigkeit den Dingen gegenüber sieht. Gerechtigkeit im Sozialen heißt nämlich für Tillich die Anerkennung des Sinnes des Anderen. So fordert er auf der gleichen Linie, den Dingen gegenüber gerecht zu sein, indem man ihren inneren Sinn anerkennt. Vgl. GW IV 78: „Seinsmächtigkeit in abgestufter Größe dringt aus jedem Ding, aus jeder Person auf uns ein und zwingt uns, dessen unauflösliche Wirklichkeit anzuerkennen.“ 260 Vgl. GW V 196–212. Hier spricht Tillich von der Selbstmächtigkeit des Symbols. „Sie besagt, daß das Symbol eine in ihm selbst innewohnende Macht hat.“ (GW V 196) 261 Vgl. GW VII 105–123.

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kommende Mächtigkeit zu. In Auseinandersetzung mit verschiedenen Naturauffassungen und angesichts einer mathematischen und technischen Haltung gegenüber der Natur262 versucht Tillich deutlich zu machen, dass eine in sich ruhende Welt sinnlos ist, dass die Dinge nicht bloß Dinge sind, sondern „Wesen von eigener Mächtigkeit“, und dass sie als solche in Beziehung zu ihrem letztgültig-ewigen Sinngrund wahrgenommen werden müssen.263 Allerdings darf die der Natur innewohnende Mächtigkeit nicht jenseits der Zeit, also jenseits ihrer „gegenständlichen physikalischen Struktur“ gesucht werden, wie es z.B. bei Platon der Fall ist, wo die Idee Ausdruck von höchster Seinsmächtigkeit ist.264 In Anlehnung an Denker wie Schelling, Goethe und Rilke vertritt Tillich mit seinem Begriff eines „neuen Realismus“ eine synthetische Naturauffassung, in der der cartesianische Dualismus, also die Trennung von Geistigkeit (res cogitans) und reiner Körperlichkeit (res extensa) überwunden ist. „Mächtigkeit und Sachlichkeit, Sinn und gegenständliche Struktur fallen nicht auseinander.“265 In diesem Zusammenhang ist der Einfluss Schellings unverkennbar, der mit seinem Vernunftsystem die dualistische Erkenntnistheorie Kants bzw. die Kluft, die er zwischen der transzendentalen Vernunft und dem „Ding an sich“ in der Erkenntnistheorie eingeführt hat, zurückzunehmen versucht.266 Im Folgenden ist das komplexe Wechselverhältnis zwischen Gegenständlichkeit und Geistigkeit näher in den Blick zu nehmen.

|| 262 Vgl. GW VII 110ff. 263 Dabei bezieht sich Tillich hier auf ein umfassendes und vielfältiges geistiges Material. Er nennt in diesem Zusammenhang selbst u.a. die Maler Paul Cézanne und Vincent van Gogh sowie die Vertreter des „Brücke-Kreises“ wie Karl Schmidt-Rottluff, Emil Nolde, Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel (vgl. GW X 34), Literaten wie den Naturalisten Émile Zola, den Dramatiker Henrik Ibsen (vgl. GW X 37), den Lyriker Rainer Maria Rilke oder den Dichter Richard Dehmel (vgl. GW X 38), aber auch Lebensphilosophen wie Friedrich Nietzsche, Henry Bergson, Georg Simmel oder Wilhelm Dilthey, die dem Seienden eine schöpferische und zugleich unerschöpfliche Tiefe zuschreiben (vgl. GW X 21ff.); ebenso bezieht er sich auf Psychologen wie Wilhelm Wundt, Wolfgang Köhler, Max Wertheimer, Eduard Spranger oder Sigmund Freud, aber auch auf den Kulturphilosophen Ernst Troeltsch; Tillich glaubt hier überall Belege zu finden gegen eine in sich ruhende Welt, indem hier „die Einheit von schöpferischer Freiheit und sinnvoller Form den Hinweis des Daseins auf den ewigen Sinngrund zum Ausdruck bringt“ (GW X 22). So sind die Dinge in diesem Zusammenhang nicht als der sinnlosen Zufälligkeit und der rationalen Notwendigkeit ausgeliefert wahrzunehmen, sondern in ihrer Beziehung zu ihrem ewigen Sinngrund. 264 Vgl. GW IV 78. 265 GW VII 112. 266 Vgl. W. R. Wrege, Die Rechtstheologie Paul Tillichs (= Jus Ecclesiasticum, Bd. 56), Tübingen 1996, 13; vgl. zu Tillichs Interpretation der Kritik Schellings an Kants „Ding an sich“ R. Mokrosch,

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2.2.2 Zu einer Neubegründung des Eros- und Machtverhältnisses267 Mit den Ausdrücken wie „Seinsentleerung“, „Sinnentleerung“ und „Entmächtigung“ könnte der Eindruck entstehen, dass der Geist die Wirklichkeit so spaltet, dass er ihr völlig ihre Qualität nimmt. Diesem Missverständnis widerspricht aber Tillich, indem er von einer „relativen Ohnmacht“268 der Wirklichkeit spricht. Jedes Wirkliche impliziert nämlich nach Tillich eine gewisse Macht, mit der es dem Geist widersteht. „Wenn der Geist die wahre Wirklichkeit, die wahre Macht des Seins finden will, so muß er durchbrechen durch die Schichten relativer Ohnmacht – relativer, nicht völliger Ohnmacht.“269 Mit anderen Worten, wie der Geist sich nicht auf eine sinnlose Wirklichkeit richtet,270 so kann er auch den Dingen ihre Qualität nie ganz abstreifen.271 „Diese Entmächtigung ist nicht radikal, ist nicht annihilatio. […] Das Entmächtigte behält die Macht, Basis sein zu können.“272 Das, was eine radikale Entmächtigung unmöglich macht, ist nach Tillich der Relationscharakter des Seins. Denn Sein hat den Charakter des Sich-Abhebens, Mit-Sein zu sein. Entgegengesetzt zu der idealistischen Auffassung Platons,

|| Warum Tillich sich nicht auf Schelling berufen kann, aber dennoch ohne Schelling nicht denkbar ist, in: C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Religion und Politik (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 4), Berlin / Wien 2009, 139–147. 267 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass der Machtbegriff im Frühwerk Tillichs in einem sozialphilosophischen Kontext entwickelt wird. Angesichts der entscheidenden Wandlungen, in denen die Natur- und Menschenauffassung in den späten 1920er Jahren begriffen ist, sieht Tillich die Dringlichkeit der Beschäftigung mit dem Machtproblem darin, „die gesellschaftlichen Strukturwandlungen aufzudecken, mit denen die Begriffswandlungen zusammenhängen“. Tillich fährt fort: „Das Problem der Macht hat Eigenschaften, die es für eine derartige Untersuchung als besonders geeignet erscheinen lassen. Es ist zugleich aktuell und grundsätzlich; es betrifft ebenso die Auffassung der Gesellschaft wie die des Menschen und der Natur. Die Stellung zu ihm enthüllt mit großer Klarheit sowohl den Horizont eines Weltbildes wie die politische Situation einer Gruppe.“ (GW II 194) Bekanntlich erweist sich die Sozialphilosophie Tillichs als Kritik des kapitalistischen Systems. Dabei tritt das Gesellschaftsproblem (das Karl Marx mit dem Wirtschaftsproblem gleichsetzt) in zwei Formen auf: als Person-Ding-Verhältnis und als Person-Person-Verhältnis. (Vgl. dazu W. R. Wrege, Die Rechtstheologie Paul Tillichs [= Jus Ecclesiasticum, Bd. 56], Tübingen 1996, 69f.) 268 GW IV 78. 269 Ebd. 270 Vgl. GW I 222. 271 Vgl. GW VII 111. Selbst in der Struktur der Kristalle, der Moleküle und schließlich der Atome mit ihrer spannungsreichen Polarität von Atomkern und umkreisenden Elektronen findet sich, so Tillich, Seinsmächtigkeit (vgl. GW X 22). 272 EW XI 236f.

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für den die Seinsmacht in der Idee steckt, verwirklicht sich Sein nach Tillich korrelativ zum Mit-Sein. „Sein ist Seinserhebung über“273. Aber da die Mächtigkeit sich in abgestufter Weise darstellt,274 besteht die Gefahr, zu einem bloßen MitSein zu verkommen, wo die Relation einseitig wird und die Entmächtigung des Seienden durch ein bestimmtes Seiendes sich absolut setzt.275 Die Möglichkeit der Entmächtigung der Dinge durch den „subjektiven Eros- und Machtwillen“, was Tillich als „Eroslosigkeit des Dingverhältnisses“276 bezeichnet und was schließlich auch zu einer „Entleerung“ des Menschen führt, macht er an den Beispielen von Wissenschaft und Kunst, Technik und Wirtschaft deutlich. In Bezug auf die Wissenschaft und die Kunst moniert Tillich jeweils eine rationale Haltung, die er mit dem Begriff des „Intellektualismus“ zum Ausdruck bringt, und die „künstlerische Formfindung“, die er „Ästhetizismus“ nennt.277 Mit Intellektualismus ist jene Stellung des Geistes zur Wirklichkeit gemeint, in der die Gesamtwirklichkeit von dem rationalen Subjekt vergewaltigt wird. Eros bzw. der „Trieb zur Einswerdung mit dem Seienden“ oder der „Wille zur Hingabe“ und Macht bzw. der „Trieb zur Erhebung über das Seiende“ oder der „Wille zur Selbstbehauptung“ sind bekanntlich nach Tillich die beiden Polaritäten aller schöpferischen Formgebung. Der rein autonome menschliche Geist, der die bürgerliche geistige Lage charakterisiert, tritt den Dingen gegenüber mit Herrschaftswillen auf und löst sie in ihre Elemente auf. So entsteht ein unendliches Fortschreiten mit dem Glauben „an die sinnlose Notwendigkeit oder an die sinnlose Willkür als Kern der Dinge“278. In diesem Zusammenhang spricht Tillich auch von einer „Hybris des Rationalen“, jener „Eros- und Machtbeziehung zu den Dingen“, in der sich das erkennende Subjekt das Objekt zu unterwerfen sucht, statt es zu erkennen. Solch eine „rationale Hybris“, die sich rein auf den Nutzen der zugänglichen Form der Dinge stützt, dient nach Tillich allein der Technik.279 Hier

|| 273 EW XI 236. 274 Vgl. EW XI 235. Tillich spricht auch von dem „Grade“ der Mächtigkeit: „Jede Begegnung mit Dingen und Menschen zeugt von ihrer Macht, zu sein und von dem Grade dieser Macht.“ (GW IV 78) 275 „Es führte zu der radikalen Erhebung des Subjekts, zur Objektivierung der Dinge und schließlich im Kritizismus zu ihrer Auflösung. Hier wurde das Sein zu einer Kategorie, die keine Stufen zuläßt. Denn nicht nach ihrer Mächtigkeitsstufe kamen die Dinge in Betracht, sondern nach ihrem rein zweckhaften Mit-Charakter.“ (EW XI 237) 276 GW X 42. 277 Vgl. GW VI 68f.; vgl. dazu auch GW II 101ff. 278 GW II 102. Zur Überwindung der Alternative von Zufall und Notwendigkeit durch den Freiheitsbegriff im Spätwerk Tillichs vgl. C. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 158ff. 279 Als Denkrichtungen, in denen die Erkenntnishaltung von dem „subjektiven Eros- und Machtwillen“ abhängt, hat Tillich in diesem Zusammenhang nicht nur die großen Systeme von

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kann man mit Stefan Vogt schon eine Antizipation der These sehen, die Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ entfalten.280 Die Auflösung der Selbstmächtigkeit der Dinge hat andererseits ein erosloses Person-Ding-Verhältnis zur Folge. Zwischen Erkennendem und Erkanntem wird das Gemeinschaftsverhältnis zerstört, weil es einseitig geworden ist.281 Auch die rein ästhetische Wirklichkeitsbetrachtung, die nach Tillich sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft und darüber hinaus auch in der Metaphysik den Intellektualismus zu überwinden sucht, sieht Tillich in derselben Gefahr der eroslosen Beziehung zu den Dingen gefangen. Denn die grenzenlose Einfühlungsfähigkeit des Ästheten, so Tillich, löst jede Grenze in der Seinsbeziehung auf und führt damit zur Entwurzelung und Entleerung des Seins. „Die Distanz, die mit der Einfühlung verbunden ist, hebt das echte Erosverhältnis auf und führt zu einer herrschaftlich-erotischen Subjektivität, die die Dinge nicht minder vergewaltigt wie der Intellektualismus.“282 Das Gegenstück zur autonomen Wissenschaft in der praktischen Sphäre, was die gleichen Konsequenzen für das Dingund Gemeinschaftsverhältnis hat, ist die autonome Wirtschaft. Tillich analysiert die „Entmächtigung“ in der praktischen Ebene der Wirtschaft unter zwei Aspekten: zum einen vom Person-Ding-Verhältnis und zum andren vom Person-Person-Verhältnis her. In Bezug auf das Person-Ding-Verhältnis ist das Problem dasselbe wie in der rationalen Wissenschaft.283 Getragen von dem bloßen Genusswillen und dem unendlichen Herrschaftswillen unterwirft sich das rein autonome Subjekt die Dinge und macht sie zu Waren, zu bloßen „Gegenständen, deren Sinn es ist, durch Kauf und Verkauf Profit zu schaffen, nicht aber, den Umkreis des persönlichen Lebens zu erweitern“284. Hier wird die

|| der Renaissance bis hin zur Aufklärung im Blick, die die Macht des Seins in den menschlichen Geist verlagert sehen (vgl. GW IV 78), sondern auch die rein pragmatischen Naturauffassungen, für die jede theoretische Erkenntnis vom praktischen Umgang mit den Dingen ausgeht und die Wahrheit als eine Funktion des Nutzens verstanden wird (vgl. GW II 102f.). 280 Vgl. S. Vogt, Die Sozialistische Entscheidung. Paul Tillich und die sozialdemokratische Junge Rechte in der Weimarer Republik, in: C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Religion und Politik, (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 4), Berlin / Wien 2009, 35–52, hier 41. 281 Vgl. GW VI 68; GW II 102f. 282 GW VI 69; vgl. dazu auch GW II 103f. 283 „Der freie Markt, die Regulierung der Produktion durch Angebot und Nachfrage, die unendliche Möglichkeit von Profit und Kapitalbildung, das alles sind Dinge, in denen sich die autonome Wirtschaft auswirkt. Sie entsprechen den rationalen Erkenntnismethoden in der Wissenschaft und haben die gleichen Folgen für das Ding- und Gemeinschaftsverhältnis.“ (GW X 41) 284 Ebd.

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Relation zu den Dingen nicht nur einseitig. Entscheidend dabei ist, dass der subjektive Machtwille nicht ohne Schaden bleibt. Diese Rückwirkung beschreibt Tillich wie folgt: „Der rational geleitete, subjektive Machtwille hat keine Grenzen; aber er muß, um das Grenzenlose beherrschen zu können, sich selbst seines inneren Gehaltes begeben, ihn der leeren unendlichen Aktivität opfern. Was er den Dingen nahm, verliert er selbst und wird zu einer Sache in dem gewaltigen Sachprozess der unendlichen Wirtschaft.“285 Noch wichtiger ist für Tillich die Einwirkung des eroslosen Person-PersonVerhältnisses. Die liberale Wirtschaftsform erzeugt nämlich den freien Markt, der den Kampf aller gegen alle zum Prinzip hat. Dies führt zum Klassengegensatz und darüber hinaus auch zum Klassenkampf, dessen Schilderung bekanntlich von Karl Marx vielfach zum Ausdruck gebracht wird. Als auffälligstes Opfer der liberalen Wirtschaft wird von Tillich das Beispiel der proletarischen Massen angeführt. Im Proletariat, der Klasse, die von ihrem Lebenssinn durch das kapitalistische System abgeschnitten ist,286 sieht Tillich besonders die Sinnerfüllung bedroht und prekär. Damit ist in diesem Kontext der Punkt erreicht, an dem die sinntheoretisch orientierte Machttheorie Tillichs sich als Lösungsversuch für das Sinnproblem anbietet. Wie schon angedeutet, ist für Tillich das Wirtschaftsproblem im Sinne von Karl Marx, worauf Wrege hinweist, letztlich ein Gesellschaftsproblem, das sich auf zwei Arten darstellt: als Person-Ding-Verhältnis und als Person-Person-Verhältnis.287 Dabei hat sich gezeigt, dass dieses Verhältnis auf dem Glauben an die Notwendigkeit und den Zufall beruht. Diesem Glauben an die Notwendigkeit und den Zufall liegt ein ganz bestimmtes Weltbild zugrunde, „eine eigentümliche Dialektik der großen, die soziale Wirklichkeit tagenden Mächte“288. Nur wenn diese Dialektik richtig analysiert wird, ist nach Tillich eine grundsätzlich richtige Haltung im Sozialen möglich. Es hat sich gezeigt, dass die technisch-wirtschaftliche Entmächtigung der Dinge in der rationalen Vergegenständlichung verwurzelt ist.289 In diesem Zusammenhang erweist sich die Überwindung der erkenntnistheoretischen Alternative von Realismus und Idealismus durch ihre sinntheoretische Synthesis als Grundlage für die Machttheorie Tillichs, in der den Dingen eine innewohnende sinnhafte Mächtigkeit beigemessen wird. Somit bietet sich

|| 285 GW II 106. 286 Vgl. GW II 148. 287 Vgl. W. R. Wrege, Die Rechtstheologie Paul Tillichs, (= Jus Ecclesiasticum, Bd. 56), Tübingen 1996, 70. 288 GW VI 67. 289 Vgl. EW XI 237.

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der Machtbegriff Tillichs geradezu als Lösungsversuch für das Sinnproblem an. Die Dinge sind nicht bloße Dinge, sondern immer schon „Wesen von eigener Mächtigkeit“. Sie sind nicht der sinnlosen Zufälligkeit und der rationalen Notwendigkeit ausgeliefert, sondern besitzen eine Beziehung zu ihrem letztgültigewigen Sinngrund, und das gilt es nach Tillich wahrzunehmen.

2.3 Macht als Mächtigkeit in der Sphäre der Freiheit ist sinnhafte Mächtigkeit oder: Das anthropologischsinntheoretische Moment der Macht Aus dem bisher Gesagten ist klar geworden, dass jedem Seienden eine Mächtigkeit innewohnt, die ihm unmittelbar gegeben ist.290 Es hat sich auch gezeigt, dass Entmächtigung möglich ist, weil sich die Mächtigkeit in abgestufter Größe darstellt, so dass das Seiende mit größerer Mächtigkeit sich des Anderen bemächtigen kann.291 In diesem Zusammenhang spricht Tillich auch vom „Rang“292 oder „Grade“ der Mächtigkeit: „Jede Begegnung mit Dingen und Menschen zeugt von ihrer Macht, zu sein und von dem Grade dieser Macht.“293 Was aber unterscheidet z.B. die Mächtigkeit eines Tieres von der eines Menschen? Ist da nur ein gradueller Unterschied oder auch ein Wesensunterschied, wie Max Scheler meint, obwohl er Tieren auch „intelligente“ Handlungen zugesteht?294 Tillich beantwortet diese Frage, indem er den Freiheitsbegriff für den Menschen als konstitutiv ansieht und darin die „Überleitung von Sphäre der Mächtigkeit zur Sphäre der Macht“295 erblickt. Den Menschen beschreibt er in diesem Sinne als „das seiner selbst mächtige Seiende“296 bzw. „das Seiende, das frei ist“297. Die relevanten Aspekte dieser Aussage sind nun näher in den Blick zu nehmen.

|| 290 Vgl. GW III 83. 291 Vgl. EW XI 235f. 292 GW III 83. 293 GW IV 78. 294 Vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 2010, 27. 295 EW XI 237. 296 Ebd.; vgl. auch EW XI 38. 297 GW III 83.

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Zunächst ist Mächtigkeit auf dem Boden der Freiheit Selbstmächtigkeit.298 Wie bereits dargestellt, bedeutet Mächtigkeit, die Macht zu sein. In diesem Zusammenhang bringt Tillich die Mächtigkeit in Verbindung mit dem Lebensbegriff und beschreibt sie als ein Grundelement des Lebens, das sich realisiert durch zwei Aspekte: durch das „Sich-Abheben“ und durch das „Mit-Sein“. „Alles Lebendige zeigt sich in der Begegnung mit ihm als Einheit von Bleiben in sich und Vorstoßen über sich hinaus.“299 Das Vorstoßen über sich hinaus bezeichnet den Vollzugscharakter des Lebens. Und dieses realisiert sich in der Begegnung mit anderen Mächtigkeiten. Hier steht die Mächtigkeit für die Selbsterhaltung des Lebens im Kampf um das Dasein. „Je größer die Kraft ist, über sich hinauszustoßen, ohne sich selbst zu verlieren, desto größer ist die Mächtigkeit, mit der ein Lebendiges begegnet.“300 Dabei ist der ontologisch gedachte „Wille zur Macht“, den Tillich der Lebensphilosophie Schopenhauers und besonders Nietzsches301 verdankt und den er zur Beschreibung eines dynamischen Seinsbegriffs einführt, vorweggenommen. Im Anschluss an Schopenhauer und Nietzsche versteht nämlich Tillich den „Willen zur Macht“ als „dynamische Selbstbejahung des Lebens“, das „über sich hinausdrängt und dabei inneren und äußeren Widerstand überwindet“302. Aber auf der Ebene des menschlichen Lebens kommt eine neue Qualität hinzu: Der Mensch ist nicht nur mächtig, er ist selbstmächtig. Die Grundstruktur seines Seins besteht darin, dass er dazu fähig ist, sich nicht nur über sich selbst, über seine Unterworfenheit zu erheben,303 sondern auch grundsätzlich von sich selbst abzuheben. „Freiheit heißt: Sich erheben über sich selbst, sich abheben von sich selbst, seiner selbst mächtig sein. Damit ist eine eigentümliche, neue Macht des Seins erreicht, die zwar allem Sein als Element innewohnt: das aktive

|| 298 Vgl. dazu die Ausführungen von W. Schüßler, in: Ders., Macht und Gewalt. Versuch einer philosophisch-theologischen Annäherung, in: Ders. / E. Strum (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 11–37, hier 19. 299 GW II 195. 300 Ebd. 301 Vgl. GW XI 165f. Den Machbegriff entnimmt Tillich nicht nur der Lebensphilosophie, sondern auch der aristotelischen und augustinischen Tradition. (Vgl. dazu S. S. Jäger, Glaube und Religiöse Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus: Eine religionshermeneutische Studie, Berlin 2011, 59) 302 GW XI 166. Im nächsten Kapitel wird dieser ontologische Aspekt des Machtbegriffs ausführlich ausgearbeitet. 303 Vgl. GW III 83.

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Über-sich-Hinaus, aber doch hier durch Radikalisierung eine neue Qualität geschaffen hat.“304 Genau hier, also auf dem Boden der Freiheit, versteht Tillich die menschliche Mächtigkeit als Selbstmächtigkeit bzw. als Macht. „Die Mächtigkeit in der Relation der Freiheit ist Macht.“305 Um diese „Unbedingtheit im Selbstverhältnis“ zu beschreiben, greift Tillich auf seine sinntheoretische Geistesphilosophie der 1920er Jahre zurück und verwendet in nahezu konvertibler Weise „Geist“ und „Macht“. „Geist ist Macht immer nur in Einheit mit Leben.“306 Bereits im Kontext seiner sinntheoretischen Geistphilosophie begegnen Ausführungen, in denen der Begriff der Macht zur Beschreibung der Unbedingtheit im Selbstverhältnis dient.307 „Es ist die Selbstheit, die Macht und Eros als Individuelles darstellt. [...] Die Wirklichkeit ist ein System von dynamisch sich ändernden Mächtigkeiten; in jedem Geistesakt sind Macht- und Erosbeziehung und nur dadurch blutvoll.“308 Das Sich-Abheben des seiner selbst mächtigen Seins ist für Tillich „der Vorstoß […] in den Sinn seiner selbst“309. Mit dem Sinnbegriff kann Tillich den Zusammenhang von Macht und Freiheit auf eine weitere Weise erklären. Das seiner selbst mächtige Seiende nennt Tillich auch „Persönlichkeit“310. Mit dem Persönlichkeitsbegriff macht er deutlich, dass die Grundelemente der Mächtigkeit, das „Sich-Abheben“ und das „Mit-Sein“, auf dem Boden der menschlichen Freiheit in einem dynamischen Prozess zueinander stehen. Als solche ist ihr Verhältnis „kein naturhaft gegebenes“311, um mit Danz zu sprechen, sondern es muss vom || 304 EW XI 238. 305 EW XI 239. 306 GW II 201. Im Spätwerk heißt es: „Geist ist die Macht, durch die der Sinn lebt, und er ist der Sinn, der der Macht Richtung gibt.“ (ST I 288) 307 Vgl. hierzu C. Danz, „Sein [...] ist die Macht zu sein.“ Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Justice, Power, and Love (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9), Berlin / Boston 2014, 27–45, hier 36f. 308 EW X 374. 309 EW XI 238. 310 In Anlehnung an Max Scheler und dessen Begriffe der Weltoffenheit und Selbstobjektivierung, (vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 2010, 28–34) bringt Tillich in diesem Rahmen den Weltbegriff in Korrelation zum Persönlichkeitsbegriff (vgl. GW III 83ff.; EW XI 238). Als Mikrokosmos gehört der Mensch zwar zur Welt, aber er „hat“ die Welt, indem er sich von seiner Unmittelbarkeit losreißen kann, alles Seiende sich gegenüberstellen und sich auf sich selbst stellen kann (vgl. GW III 84). 311 C. Danz, „Sein [...] ist die Macht zu sein.“ Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Justice, Power, and Love (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9), Berlin / Boston 2014, 27–45, hier 38.

200 | „Macht als sinnhafte Mächtigkeit“

Menschen in einem Akt der Selbstbemächtigung verwirklicht werden. „Persönlichkeit ist […] Verwirklichung dessen, was in der Person und nur in ihr möglich ist: Daß das Seiende seiner selbst mächtig werde.“312 Freiheit ist dementsprechend möglich durch einen Akt der Selbstbemächtigung, durch die die Persönlichkeit sich konstituiert, indem sie ihr unmittelbares Sein zum Sinn bringt. Aber mit der Loslösung des „gebrochenen Seins“313, wie Tillich das menschliche Sein auch beschreibt, d.h. der Fähigkeit, sich von sich selbst abzuheben, also mit der Freiheit, besteht immer auch gleichzeitig die Möglichkeit und damit die Gefahr einer „Sinnverfehlung“. Denn Existenz ist immer nur ein „Seinkönnen“314, um mit Jaspers zu sprechen. Diese Gefahr der Seinsverfehlung bedeutet somit zugleich eine Bedrohtheit für das menschliche Sein.315 Der Mensch „ist das Wesen, das mit Nicht-Sein bedroht ist, mit einem Nicht-Sein, das in einer ganz anderen, viel tieferen Schicht liegt als das leibliche Nicht-Sein, als der Tod“316. Menschliches Sein bedeutet aber nicht nur Bedrohtheit, sondern auch Getragenheit317. „Das Sein des Menschen ist Sein im Sinn.“318 Das Machtverständnis Tillichs steht also in enger Verbindung mit der Sinnfrage, und hier ist die Nähe zu Nietzsche unverkennbar. Die Frage nach dem Lebenssinn ist für Tillich in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Nietzsche die „tiefste Frage“. Macht und Lebenssinn koinzidieren, und dies gilt für den Einzelnen wie auch für die Gruppe.

2.4 Von der sinnerfüllten Gesellschaft oder: Der normative Machtbegriff Tillichs Allem Sein wohnt eine Mächtigkeit inne, die sich als „Einheit von Bleiben in sich und Vorstoßen über sich hinaus“ darstellt. Das Sein ist von daher wechselnder „Ausgleich von Mächtigkeiten in der Begegnung“319, und dies gilt nach Tillich ebenso für das gesellschaftliche Sein. Über eine allgemeine Charakterisierung des Urphänomens des Begegnens versucht er, sich somit auch dem gesellschaftlichen Machtphänomen anzunähern.

|| 312 GW III 83. 313 GW II 176. 314 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 57 u. 99. 315 Vgl. GW II 165ff. 316 MW III 170. 317 Vgl. GW II 165. 318 Ebd. 319 GW II 195.

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Den Machtbegriff auf der Ebene der Gesellschaft entwickelt Tillich zunächst ausgehend vom Begriff der Begegnung, mit dem er sich zum ersten Mal in der im Wintersemester 1929/30 in Frankfurt gehaltenen Vorlesung über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik auseinandergesetzt hat.320 Die Begegnung ist für ihn „das ursprüngliche Sein der Dinge“321, der „phänomenale Urcharakter“322 der Dinge in der Natur.323 Die Mächtigkeit der Dinge ist also die Urform ihres Begegnens.324 In der Sphäre der menschlichen Gesellschaft aber gewinnt die Begegnung eine neue Qualität. Sie vollzieht sich auf dem Boden des „Willens“325. Sei es zwischen zwei Individuen, zwischen einem Individuum und einer Gruppe oder zwischen zwei Gruppen, überall zeigt sich die Mächtigkeit in der Gesellschaft als Spannung zwischen einem Willen, der einem anderen gegenübersteht. Dabei ereignet sich ein Doppeltes: das „Gegen“ und das „Begegnen“326. Diese beiden Elemente stellen das dialektische Verhältnis in der Begegnung dar. Tillich verdeutlicht das am Beispiel des Gebrauchs des deutschen Wortes „Begegnen“. Dabei geht es einerseits um ein „Entgegentreten“, denn jeder der beiden Willen im Begegnungsprozess verfügt über eine Mächtigkeit und fordert das Gegenüber heraus, und andererseits geht es um ein „Sich-Begegnen“ im Sinne von „sich einigen“, „der gleichen Meinung sein“. Die Begegnung, so Tillich, ist ein „Stoßen auf ein Anderes, das als Anderes auf uns stößt. Zugleich aber gibt sich dieses andere, das auf uns stößt, als ein Zugehöriges“327. Aus dieser Spannung können sich nach Tillich drei Möglichkeiten in der Begegnung ergeben: die des „losen Verbindens“, die eines „völligen Einswerdens“ und darüber hinaus die des „Aneignens“, in || 320 Vgl. EW XV 292–344. 321 GW II 196. 322 EW XV 293. 323 „Mächtigkeit als allgemeine, Natur und Mensch umfassende Bestimmung begegnet ebenso in der Wucht einer ins Land einreißenden und zurückweichenden Meereswoge wie in der Entfaltungskraft eines Baumes, der andere überschattet, bis er selbst vielleicht überschattet wird, wie in der überragenden Stellung eines Tieres in der Herde, die ihm vielleicht bald ein anderes strittig macht, wie in dem Eindruck des Erwachsenen auf das kleine Kind und der gleichzeitigen Abhängigkeit des Erwachsenen von diesem. Mächtigkeit hat jedes Ding, das auf uns vorstößt, das sich Geltung verschafft, das eindringlich ist – vielleicht, um im nächsten Augenblick zurückzuweichen und einem eindringlicheren Platz zu machen.“ (GW II 195f.) 324 Vgl. EW XI 229. 325 GW II 196. In diesem neuen Moment sieht Tillich eine Überleitung von der Mächtigkeit zur Macht. „Macht ist Mächtigkeit in der Ebene des gesellschaftlichen Daseins“. (GW II 195) Vgl. auch EW XV 238: „In der gesamten animalischen Begegnungssphäre gibt es keine Macht, sondern bloße Mächtigkeit. Mächtigkeit ist Macht in einer von der wirklichen Macht losgelösten allgemeinen Fassung, ist das Mächtige überhaupt, das in der Macht erst zur Gestaltung kommt.“ 326 „Im Begegnen ein Doppeltes: das Gegen und das Begegnen. Das Gegen ist zunächst das Gegenüber.“ (EW XV 294) 327 EW XV 294.

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dem die Mächtigkeitsspannung sich ausgleicht.328 An diesem Punkt des Ausgleichs der Mächtigkeitsspannungen in der Gesellschaft zeigt sich der Machtbegriff Tillichs als normativ, wenn er die Sinnforderung und Anerkennung als dessen Korrelate versteht.329 Die Polaritäten der Sinnforderung und der Anerkennung ergeben sich aus der antinomischen Struktur der Freiheit. Wie schon angedeutet, konstruiert sich die Persönlichkeit, das seiner selbst mächtige Seiende, durch den Akt der Selbstbemächtigung als Erhebung in den Sinn. In der Begegnung aber besteht die Gefahr, dass man sich entweder des Seins des Anderen bemächtigt oder durch den Anderen entmächtigt wird. Nun geht aber der Persönlichkeit ihr eigenes Wesen nur an der fremden Persönlichkeit auf, wie Tillich es in Anlehnung an Buber verdeutlicht. „Nur in der Gemeinschaft von Ich und Du kann Persönlichkeit werden.“330 Aus diesem Grund muss die Persönlichkeit dem Begegnenden gegenübertreten mit der Forderung der Gerechtigkeit, mit anderen Worten mit der Forderung der Anerkennung des Du mit gleicher Würde wie das Ich,331 d.h. der Anerkennung des Sinns des Anderen. Tillich spricht von „Hingabe an den Sinn des Anderen“332 bzw. von „Achtung vor der Menschwürde“333 und antizipiert damit seine spätere „Ich-Du-Philosophie“, auf die er bei der Untersuchung der ethischen Funktion der Begriffe Gerechtigkeit und Liebe im Bereich persönlicher Begegnungen rekurriert.334 Diese Bestimmungen der Sinnforderung und Anerkennung sind auch für den Machtaufbau in der Gesellschaft konstitutiv. Denn auch in ihr gibt es „Spannungen der Mächtigkeit des Seienden, das sich dynamisch verwirklicht, Gewalt übt und Gewalt erfährt“335. „Ist Sein überhaupt Ausgleich von Mächtigkeitsspannungen, so ist gesellschaftliches Sein Ausgleich von Machtspannungen. Denn Macht ist Mächtigkeit in der Ebene des gesellschaftlichen Daseins.“336 Die Gesellschaft hat ein Sein, eine Mächtigkeit, in der sie sich als Gruppe, als Einheit konstruiert. Da aber die gesellschaftliche

|| 328 Vgl. EW XV 295ff. u. 298ff.; dazu auch U. G. Schmoll, „Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.“ Grundlegung eines fächerverbindenden Arbeitens mit dem Evangelischen Religionsunterricht am Gymnasium aus der Perspektive von Tillichs Theologie, Berlin 1993, 184ff. 329 Vgl. GW II 198. 330 GW III 91. 331 Vgl. GW II 229. 332 GW II 170. 333 EW XII 206. 334 Vgl. GW XI 195. 335 GW II 170. 336 GW II 195.

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Gruppe in Untergruppen zerfällt, die ein gemeinsames Interesse337 und wiederum eine gewisse Macht haben, braucht die Gesamtgruppe eine Machtposition, in der sie „ihre Mächtigkeit anschauen kann“338. Hier liegt für Tillich die Zweideutigkeit der Macht: Sie ist zugleich Ausdruck des Gesamtwillens bzw. der Mächtigkeit der Gesamtgruppe wie auch der der Untergruppe.339 Folglich muss die machttragende Untergruppe der Gesamtgruppe gegenüber fordernd auftreten, aber gleichzeitig auch von der Gesamtgruppe als bestmöglicher Ausdruck ihrer Mächtigkeit anerkannt werden.340 In diesem Punkt, von dem aus Tillich seine Staatstheorie entfaltet,341 distanziert er sich vom Unterwerfungsvertrag Hobbesscher Prägung, den er noch während des Krieges verteidigt hat,342 und stimmt dem Herrschaftsvertrag Rousseaus zu, wonach die Souveränität beim Staatsbürger bleibt, indem dieser die Legitimität der Herrschaft343 der machttragenden Gruppe kontrolliert.344 In diesem Zusammenhang entwickelt Tillich

|| 337 Interesse ist in diesem Zusammenhang nicht rein ökonomisch gemeint, sondern sinntheoretisch-ontologisch. Es geht Tillich um Sinnerfüllung des Seins. „Interesse ist gemeint als Spannung auf höhere Seinserfüllung in jedem Sinn.“ (GW II 199) 338 GW II 197. 339 Vgl. ebd. 340 Hier wird von Tillich das Beispiel der komplexen Wechselbeziehung zwischen der machttragenden Gruppe und der loyalen Opposition im demokratischen System angeführt. An dieser Stelle muss aber gesagt werden, dass er zu dieser Zeit noch ein sehr kritischer Befürworter der Demokratie, in gewisser Weise sogar ein „Demokratieverächter“ ist, um mit C. Danz zu sprechen. (Vgl. C. Danz, Religion und Politik. Einführung in das Thema, in: C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Religion und Politik (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 4), Berlin / Wien 20097–13, hier 12) 341 Entscheidend in seiner Staatstheorie ist die Unterscheidung zwischen dem Staatlichen und dem Staat. Ersteres geht Letzterem voraus und zeigt sich als die Form der Macht der Gesellschaft bzw. als Ausdruck des existentiellen Seins der Gesellschaft, wo Gruppen sich unter der Polarität von Anerkennung und Sinnforderung verwirklichen. Der Staat ist dagegen eine Sonderfunktion der sozialen Macht, die durch die Gruppenmächtigkeit eine legitimierte Eigenmächtigkeit erhält (vgl. EW XI 242). 342 In seiner Predigt zum Geburtstag des Kaisers 1917 fragt Tillich: „Warum schließen sich Menschen zu Völkern und Staaten zusammen, warum setzen sie sich eine Obrigkeit, die das Schwert führt gegen jeden einzelnen und Gewalt über ihn hat mit Leib und Leben?“ Und er gibt hierauf zur Antwort: „Weil […] jeder von Natur nur an sich denkt und sein Glück und seine Macht, so brauchen wir die Obrigkeit, die Frieden schafft, den Bösen straft und Gerechtigkeit ausübt.“ (EW VII 535) Aber wie schon gesagt, kam Tillich aus dem Krieg als Befürworter des Sozialismus zurück. 343 Ontologisch gewendet unterscheidet Tillich in seinem Beitrag „Zwang und Freiheit im sozialen Leben“ Macht von Herrschaft. Erstere ist ursprünglich ontologisch, wie schon erläutert wurde, Letztere ist funktionell. Herrschaft ist „Gruppen-Macht“ in den Händen derer, die sie gesondert repräsentieren (vgl. EW XI 242f.). 344 Vgl. W. R. Wrege, Die Rechtstheologie Paul Tillichs, (= Jus Ecclesiasticum, Bd. 56), Tübingen 1996, 162.

204 | „Macht als sinnhafte Mächtigkeit“

aufs Neue den Begriff der „Gemeinschaft“345 und greift zurück auf die Sinnfrage. Er spricht von der Forderung einer Gesellschaft, in der es jedem Einzelnen und jeder Gruppe möglich ist, ihren Lebenssinn zu erfüllen. „Die Forderung geht dahin, daß die Machtposition der tragenden Gruppe Lebenssinn und Seinsmächtigkeit der Gesamtgruppe zum Ausdruck bringe.“346

2.5 Die sinntheoretische Fassung des Begriffs der Gewalt Dass sich Macht in der Polarität von Anerkennung und Sinnforderung bewegt, hat auch Konsequenzen für ihren Konkurrenzbegriff, nämlich die Gewalt. Nicht selten werden Macht und Gewalt entweder als Gegensätze behandelt oder miteinander gleichgesetzt. Wie sich zeigen wird, gehört Tillich zu den Denkern, die zwar Macht und Gewalt nicht gleichsetzen,347 aber doch der Ansicht sind, dass Macht und Gewalt voneinander nicht grundsätzlich zu trennen sind. Entscheidend ist hier auch, dass Tillichs Analyse am Sinnbegriff orientiert ist. So spricht er von „sinnhafter“ und „sinnwidriger Gewalt“. Erstere gehört zur Macht und wird in ihr mit anerkannt, während Letztere sich von der Macht, deren Funktion sie sein soll, isoliert. 348 Wie wir oben bereits gesehen haben, verschafft sich im Aufbau der Gesellschaft die Gesamtgruppe eine anerkannte Machtposition, in der sie ihre Mächtigkeit anschaut und durch die sie zur Einheit eines konkreten Rechtes kommen und mögliche politische Aktionen unternehmen kann.349 Allerdings ist dabei keine Homogenität zu erwarten, wenn es stimmt, dass alles Lebendige die Einheit von Bleiben-in-Sich und Vorstoßen-über-Sich bedeutet.350 In diesem Prozess ist die Einheit der Gesellschaft durch entgegengesetzte Tendenzen des Einzelnen sowie der Untergruppen bedroht. Aus diesem Grund plädiert Tillich für eine rechtstragende Macht, die, wenn nötig, zur Durchsetzung des Rechts auch Gewalt einsetzt. Hier zeigt sich die Macht als der Ort, an dem Gewalt bzw. Zwang und Freiheit in Spannung stehen.351 Denn die Gewalt, die nicht von sinnhafter Macht

|| 345 „Wie wird aus der Masse Gemeinschaft?“ (GW II 128) 346 GW II 198. 347 Vgl. GW II 194ff. 348 Vgl. GW II 202; EW XI 244ff.; vgl. dazu auch die späteren Werke: „Philosophie der Macht“ (1956), in: GW XI 205ff., und „Liebe, Macht, Gerechtigkeit“ (1954), in: GW XI 143ff. 349 Vgl. GW II 201. 350 Vgl. GW II 199. 351 Vgl. EW XI 234.

3 Übergangsbetrachtung | 205

getragen ist, wird sinnwidrig. Sie negiert ihren eigenen Sinn. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass Tillich jetzt auf Distanz geht zum Anarcho-Föderalismus Landauers und er sich für einen Rechtsstaat ausspricht, der die Anerkennung der Macht durch sinnhafte Gewalt geltend macht. „Der religiöse Sozialismus lehnt den mystischen wie den naturalistischen Anarchismus ab. Er steht auf der Form des Rechts und bejaht damit die Gewalt, die das Recht durchsetzt.“352

3 Übergangsbetrachtung Aus den vorstehenden Ausführungen wird deutlich, dass der Machtbegriff des frühen Tillich am Sinnbegriff orientiert ist. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass, der Wende Tillichs von der Sinntheorie zur Ontologie entsprechend, sein Machtverständnis ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre einen ontologischen Charakter annimmt. Wie sich der Übergang von der Sinntheorie zur Ontologie erklärt, ist nun kurz in den Blick zu nehmen. Dabei wird deutlich, dass der späte Tillich sein sinntheoretisches Konzept der frühen Jahre nicht aufgibt, sondern es in seine ontologische Auffassung integriert.

3.1 Vom Sinn zum Sein Dass in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre das ganze System Tillichs allmählich einen ontologischen Charakter annimmt, kommt nicht von ungefähr. Wie schon angedeutet, war Tillich 1925 bis 1929 Professor für Religionswissenschaft an der Dresdner Technischen Hochschule und von 1929 bis April 1933 Professor für Philosophie und Soziologie, einschließlich Sozialpädagogik, in Frankfurt am Main. Diese Periode gilt bekanntlich bei Tillich als Übergangsperiode von der Sinntheorie zur Ontologie.353 Der Grund für diesen Übergang liegt nach Werner Schüßler nicht zuletzt in Tillichs Rezeption der Philosophischen Anthropologie und Existenzphilosophie in dieser Zeit.354 An dieser Stelle muss betont werden, dass das

|| 352 GW II 114. 353 Vgl. S. Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 449 Anm. 23. 354 Vgl. W. Schüßler, Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie. Zur Kulturtheologie des späten Tillich, in: C. Danz / W. Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven, Berlin / Boston 2011, 152–168; ders., Tillichs „existentialistic turn“. Seine Wende von der Transzendentalphilosophie zur Existenzphilosophie in der Zeit des Übergangs von

206 | „Macht als sinnhafte Mächtigkeit“

Seinsproblem bzw. die ontologischen Fragestellungen dem Denken Tillichs nie fremd war. So weist Ulrike Murmann darauf hin, dass „die Zuspitzung aller Philosophie auf die Ontologie […] sicherlich […] auf Schelling zurückzuführen“ ist, dessen „Spätphilosophie durch die Behauptung der Priorität des Seins vor dem Denken zur Wiederentdeckung der Ontologie entscheidend beigetragen“355 hat. Ähnlicher Meinung ist auch Georg Neugebauer, wenn er behauptet, dass die sich ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre herausbildende und im Spätwerk Tillichs fest installierte ontologische Fragestellung an die Schelling-Dissertation anknüpft.356 Murmann verweist in diesem Zusammenhang auf den Einfluss Martin Heideggers.357 Allerdings hatte, wie gesagt, Schelling hierfür schon den Boden bereitet. Hierzu schreibt Neugebauer zutreffend: „Dass sich in der spezifischen Entfaltung der Ontologie der Einfluss der aufkommenden Existentialphilosophie geltend macht, darf […] keinesfalls ausgeblendet werden. Doch stellt sie für Tillich insofern keine Neuheit dar, als er sie von den Systemvoraussetzungen her zu integrieren vermag.“358 Dies dokumentiert sich nachdrücklich in Tillichs Vortrag „Schelling und Anfänge des existentialistischen Protestes“359 von 1955, in dem zu zeigen er versucht, dass die Spätphilosophie Schellings der Existentialphilosophie zugrunde liegt.360

|| Deutschland in die USA, in: Ders. / C. Danz (Hg.), Paul Tillich im Exil (= Tillich Research / TillichForschungen / Recherches sur Tillich, Vol. 12), Berlin / Boston 2017, 323–345. 355 U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 114. 356 Vgl. G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, 353. 357 Vgl. U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 115; G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, 353. 358 G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, 353. 359 Vgl. GW IV 133–144. 360 Bereits die radikale Frage, die Tillich im ersten Band seiner „Systematischen Theologie“ von 1951 stellt: „Warum ist etwas, warum ist nicht nichts?“ (ST I 193) erinnert an die „verzweiflungsvolle“ Frage Schellings in seiner Schrift „Philosophie der Offenbarung“ von 1842: „Warum ist überhaupt etwas, Warum ist nicht nichts?“ (F.W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung, Sämtliche Werke, Bd. 13, hg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart / Augsburg 1858, 7) Diese Frage wird bekanntlich in der neueren Philosophie mit dem Namen von Leibniz in Verbindung gebracht: „Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien?“ („Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“), so heißt es schon bei ihm (G. W. Leibniz, Principes de la nature et de la grâce fondés en raison, Paris 1954, 45) Allerdings ist diese Frage bei Leibniz nicht „existenzialistisch“, sondern noch recht „rationalistisch“ zu verstehen, während sie bei Schelling „existenzial“ gemeint ist. „Schelling asked the same question nearly 130 years later, but his question was not

3 Übergangsbetrachtung | 207

Obwohl die ontologische Fragestellung in den frühesten Werken Tillichs allein Gegenstand der Schelling-Dissertation von 1910 ist,361 begegnet im Buch „Das System der Wissenschaften“ von 1923 sowie in der Schrift „Die Religiöse Lage der Gegenwart“ von 1926 die Notwendigkeit einer metaphysischen Haltung.362 In den frühen 1920er Jahren erscheint, so Tillich, „die Tiefe der Geschichte […] dem Bewußtsein wichtiger als die Tiefe des Seins“363, nicht zuletzt aufgrund der historischen Gesamtlage der abendländischen Kultur.364 „Während die Ontologie sich noch mit einer gewissen Unsicherheit hervorwagt“, schreibt Tillich, „wird die Notwendigkeit und das Recht einer Geschichtsmetaphysik kaum mehr bestritten“365. In diesem Zusammenhang sind aber für Tillich die drei Grundfragen, die

|| rationalistic in the sense that Leibniz’s was. Schelling asks ‘Why is there anything at all, why is there not nothing?’ This, says a recent American commentator on Schelling, is ‘the existential question of him who has experienced the shock of non-being’.“ (A. Thatcher, The Ontology of Paul Tillich, Oxford 1978, zit. nach C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich [= Tillich-Studien 22], Münster 2010, 88) Gerade an diesem existentialen Aspekt der Frage bei Schelling knüpft Tillich an, wenn er meint, dass darin der „ontologische Schock“ (ST I 137) bzw. der „metaphysische Schock“, d.h. der Schock des möglichen Nichtseins seinen Ausdruck findet: „Die Seinsfrage wird erzeugt durch den ,Schock des Nichtseins‘“. (ST I 193) Hier ist die Nähe Tillichs zu Martin Heidegger unverkennbar, der dieselbe Frage mit einer anderen Formulierung aufnahm: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ (Ders., Was ist Metaphysik, Frankfurt/M. 51949, 38) Und er bezeichnet diese Frage mit Recht als die „Grundfrage der Metaphysik, die das Nichts selbst erzwingt“ (ebd.). Die Nähe zwischen Tillich und Heidegger ist auch biographisch bedingt, waren doch beide zur gleichen Zeit (1924/25) in Marburg tätig. Für Heidegger, der die Stimmung der Angst als Erfahrung des Nichts, das diese Frage erzwingt, beschreibt, ist die Verständlichkeit des Seins bzw. die Frage nach dem Sinn von Sein aber nur auf dem Grunde des Nichts denkbar. „Nur wenn ich das Nichts verstehe oder die Angst, habe ich die Möglichkeit, Sein zu verstehen. Sein ist unverständlich, wenn das Nichts unverständlich ist.“ (Ders., Kant und das Problem der Metaphysik, in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 3, hg. v. F.-W. von Hermann, Frankfurt/M. 22010, 283f.; vgl. dazu G. Davoli, Heidegger und die Frage nach dem Sinn von Sein: das Dasein und das Nichts, Berlin 2013, 13) 361 Vgl. G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, 353. 362 Vgl. GW I 251ff.; GW X 31ff. 363 GW X 32. 364 Vgl. GW I 252. 365 GW I 252. In „Die religiöse Lage der Gegenwart“ schreibt Tillich: „Überhaupt kann beobachtet werden, daß die Metaphysik des Seins zur Zeit weniger entwickelt ist als die Metaphysik der Geschichte.“ (GW X 31)

208 | „Macht als sinnhafte Mächtigkeit“

die Metaphysik beantworten soll,366 noch keine Seinsfragen, sondern Sinnfragen. „Echte Metaphysik ist Sinnmetaphysik.“367 Ab etwa dem Jahr 1927 wird aber neben dem Sinnbegriff auch der des Seins akzentuiert und allmählich zum umfassenden Begriff gemacht. Zurecht schreibt Georg Neugebauer: „Hier deutet sich die erste Vorhut an, mit welcher der fließende Übergang zum systematischen Leitbegriff des Spätwerks – dem Begriff des Seins – einsetzt.“368 So scheint Tillich in seinen Schriften gegen Ende der 1920er Jahre auf eine Korrektur seiner sinntheoretischen Ausführungen zu weisen. In seinem Vortrag „Gläubiger Realismus II“ von 1927 fragt er, „ob Werte nicht eine ontologische Begründung haben müssen und ob nicht die Erfassung von Seinsmächtigkeit der Weg dazu ist, den Werten eine solche Begründung zu geben“369. Kommt nun im Spätwerk Tillichs sein ontologischer Ansatz zum Tragen, so fällt auf, dass die Sinntheorie doch auch weiterhin von Bedeutung ist.

3.2 Vom Sinn des Seins Bezüglich der Berliner Vorlesung über „Ontologie“, die Tillich im Sommersemester 1951 gehalten hat, schreibt Werner Schüßler: „Hier ist es nicht mehr so sehr der Sinnbegriff, der nun im Mittelpunkt seines Interesses steht, sondern der

|| 366 Tillich schreibt der Metaphysik drei Grundfragen zu, die sie beantworten soll. Auf die erste Frage, die „nach dem Verhältnis des Unbedingten zum Seienden“ (GW I 255), antwortet die Ontologie bzw. die Seinsmetaphysik. Ihre Aufgabe besteht nach Tillich nicht darin, „ein Seiendes hinter dem Erscheinenden zu erkennen, sondern […] den Aufbau alles Seienden und seine Einheit als Ausdruck des reinen Sinnes zur Darstellung zu bringen.“ (Ebd.) Die zweite Frage nach dem „Verhältnis des Unbedingten zum schöpferischen Geistesprozess“ (ebd.) ist Tillich zufolge Aufgabe der Geschichtsmetaphysik, deren Zielsetzung es ist, den Geistesprozess vom unbedingten Sinn her zu deuten. Ontologie und Geschichtsmetaphysik schließen sich nach Tillich zusammen in der „Metaphysik der absoluten Idee“ (GW I 256), der er die dritte Grundfrage zuweist: die Frage nach der Sinneinheit von Seinsprozess und Geistprozess (vgl. GW I 255; vgl. dazu auch P. R. Scharlemann, Ontologie: Zur Begriffsbestimmung bei Tillich in den zwanziger Jahren, in: G. Hummel [Hg.], God and Being / Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich / Das Problem der Ontologie in der Philosophischen Theologie Paul Tillichs. Contributions made to the II. International Paul Tillich Symposium held in Frankfurt 1988 / Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988 [TBT 47], Berlin / New York 1989, 103). 367 GW I 255. 368 G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin 2007, 349. 369 GW IV 91. In seinem Spätwerk, nicht zuletzt in der Schrift „Liebe, Macht, Gerechtigkeit“ von 1954, unternimmt Tillich den Versuch, ethische Grundbegriffe ontologisch zu klären.

3 Übergangsbetrachtung | 209

Seinsbegriff, wobei der Sinnbegriff dadurch aber nicht verabschiedet wird, sondern weiterhin mitschwingt.“370 Damit macht Schüßler deutlich, dass die Sinntheorie nun in die Ontologie integriert wird. Bereits in einer Vorarbeit zu seiner geplanten, aber nie erschienenen Schrift „Die Gestalt der religiösen Erkenntnis“, die aus dem Jahre 1928 stammen dürfte, definiert Tillich Ontologie als Zeugnis bzw. als ein „Sich-Aussprechen des Seins über seinen Sinn“371. Ontologie beschäftigt sich also mit der Frage nach dem Sinn des Seins.372 Wenn Ontologie auf den Sinn des Seins zielt, so kann man vielleicht statt von einem Übergang der Sinntheorie zur Ontologie eher von der Integration der Sinntheorie in die Ontologie sprechen. In vielen Passagen im Spätwerk Tillichs deutet sich diese Frage nach dem Sinn des Seins an. So heißt es in dem Aufsatz „Biblische Religion und die Frage nach dem Sein“373 von 1955: „Die Frage nach dem Sein ist nicht die Frage nach irgendeinem einzelnen Seienden, seiner Existenz und seinem Wesen, sondern es ist die Frage danach, was es bedeutet zu sein. Es ist die einfachste, tiefste und absolut unerschöpfliche Frage – die Frage, was es bedeutet, wenn man sagt, daß etwas ist.“374 Auch an mehreren Stellen der „Systematischen Theologie“ werden Sein und Sinn in Zusammenhang gebracht. So spricht Tillich vom „letzten Sein und Sinn“375, „Grund und Sinn des Seins“376, „Sinn des Seins“377 und nennt Gott als „Grund von Sein und Sinn“378. Dabei parallelisiert er auch die „Angst der Sinnlosigkeit“ und die höchste Steigerungsform der ontologischen Angst, die Angst vor dem Nichtsein. „Die Angst der Sinnlosigkeit ist die typisch menschliche Form der ontologischen Angst.“379 Entscheidend ist für unseren Zusammenhang, dass Tillich den ontologischen Machtbegriff geistphilosophisch mit dem Sinnbegriff in Zusammenhang bringt. Ohne eine ausführliche Systematisierung an dieser

|| 370 W. Schüßler, Der Mensch und die Philosophie. Zur existenzphilosophischen und anthropologischen Wende Paul Tillichs in seiner Frankfurter Zeit, in: G. Schreiber / H. Schulz (Hg.), Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt (1929–1933), Boston / Berlin 2015, 215–249, hier 237. 371 EW XIV 437. 372 Vgl. EW XIV 439. 373 Vgl. GW V 138–184. 374 GW V 140f. 375 ST I 16. 376 ST I 157. 377 ST I 235. 378 ST I 274 u. 311. 379 ST I 244. In seiner Schrift „Der Mut zum Sein“ von 1952 geht Tillich diesen Gedanken ausführlicher nach (vgl. GW XI 39ff.).

210 | „Macht als sinnhafte Mächtigkeit“

Stelle vornehmen zu wollen,380 sei auf einige Passagen verwiesen, die auch diese geistphilosophische Kombination von Macht und Sinn im Spätwerk Tillichs belegen. So definiert er den Geist als „Koinzidenz von Macht und Sinn“381 oder als „Einheit von Seins-Macht und Seins-Sinn“382. Und er schreibt: „Geist kann definiert werden als Aktualisierung von Macht und Sinn in ihrer Einheit.“383 Oder: „Geist ist die Macht, durch die der Sinn lebt, und er ist der Sinn, der der Macht Richtung“384 gibt.

|| 380 Vgl. dazu die Ausführungen von J. Ringleben, Gott denken: Studien zur Theologie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 8), Münster 2003, 49f. 381 ST I 288; ST III 134; 138. 382 ST III 134. 383 Ebd. 384 ST I 288.

Zweites Kapitel Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich Im vorherigen Kapitel hat sich gezeigt, dass Tillichs Machtverständnis spätestens ab Ende der 1920er Jahre einen ontologischen Charakter annimmt, obwohl es immer noch stark mit der Sinntheorie verbunden bleibt. Im Spätwerk Tillichs stellt aber ohne Zweifel die „Ontologie der Macht“ den übergeordneten Explikationsrahmen dar. Bereits in den Beiträgen „Zwang und Freiheit im sozialen Leben“ von 1929 und „Das Problem der Macht. Versuch einer philosophischen Grundlegung“ von 1931 bringt Tillich das Sein und die Macht in einen engen Zusammenhang, und er spricht hier auch schon explizit von einer „Ontologie der Macht“1: „Wir treiben, wenn wir Philosophie der Macht treiben, Seinslehre, Ontologie der Macht.“2 Ähnlich formuliert er es auch noch 25 Jahre später in den 1956 in Berlin gehaltenen beiden Vorträgen über „Die Philosophie der Macht“3: „Die Frage nach der Macht führt unvermeidlich zu der ontologischen Frage, zu der Frage nach der Natur des Seins selbst. Wenn man nach Macht fragt, fragt man nach der Natur des Seins selbst.“4 Will man sich nun mit dem befassen, was Tillich unter „Ontologie der Macht“ versteht, sollte man zunächst die Frage beantworten, warum die Seins-Analyse für Tillich zum Thema geworden ist und warum er nun diesen ontologischen Zugang wählt. Erst dann können die ethischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, im Kontext von „Liebe“ und „Gerechtigkeit“ in den Blick genommen werden. Denn Macht, Gerechtigkeit und Liebe bilden für Tillich eine innere Einheit, und es „ist schwer, den Begriff der Macht aus der Einheit herauszulösen, in der er mit den beiden anderen Begriffen steht“5. Als Textgrundlage werden in erster Linie Tillichs Schrift „Liebe, Macht, und Gerechtigkeit“6 von 1954, sein Beitrag „Philosophie der Macht“7 von 1956, seine Berliner Vorlesung über Ontologie von 19518 sowie seine ontologischen Ausführungen im ersten

|| 1 GW II 206; vgl. EW XI 234. 2 EW XI 234. 3 Vgl. GW IX 205–232. 4 GW IX 206. 5 Ebd. 6 Vgl. GW XI 141–225. 7 Vgl. GW IX 205–232. 8 Vgl. EW XVI 1–168. https://doi.org/10.1515/9783110676754-009

212 | Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich

Band der „Systematischen Theologie“9 herangezogen. Dabei werden auch die beiden weiteren posthum veröffentlichten Beiträge Tillichs zum Machtthema, zum einen die Schrift „Religion und Weltpolitik“10 von 1938/39, in der ein Abschnitt den Titel „Der politische Weltbegriff und das Problem der Macht“11 trägt, und zum anderen sein Beitrag „Shadow and Substance: A Theory of Power“, von 196512 in den Blick genommen.

1 Zum Ontologieverständnis Tillichs Die Machttheorie Tillichs ist nicht nur eng mit der Seinsanalyse verbunden, sondern diese ist für sein Machtverständnis geradezu grundlegend. So ist es sinnvoll, dass wir uns zuerst das ontologische Modell Tillichs vergegenwärtigen. Dabei geht es nicht darum, seine Ontologie systematisch und vollständig zu erörtern,13 sondern darum, bestimmte ontologische Grundeinsichten herauszustellen, insofern sie uns helfen, mehr Klarheit in die Problematik der Macht zu bringen.

|| 9 Vgl. ST I 193–238. 10 Vgl. GW IX 139–192. 11 GW IX 166–177. 12 P. Tillich, Political Expectation, hg. v. J. L. Adams, New York 1971, 115–124. 13 Auch wenn Christian Danz meint, dass das, was Tillich unter Ontologie versteht, nicht deutlich ist (vgl. ders., „Sein [...] ist die Macht zu sein.“ Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm [Hg.], Justice, Power, and Love [= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9], Berlin / Boston 2014, 27–45, hier 30), ist nicht zu bestreiten, dass Ontologie für Tillich der geeignete Zugang zur Macht ist. Eine ausführliche Erörterung von Tillichs Ontologiebegriff liegt hier nicht vor. Hier ist auf ältere Arbeiten zu verweisen. (Vgl. A. Thatcher, The Ontology of Paul Tillich, Oxford University Press 1978; aus problemgeschichtlicher Perspektive vgl. I. A. Thompson, Being and Meaning. Paul Tillich’s Theory of Meaning, Truth and Logic, Edinburgh 1981; J. H. Randall Jr., The Ontology of Paul Tillich, in: C. W. Kegley / R. W. Bretall [Hg.], The Theology of Paul Tillich, New York 1952, 132–161; J. M. Rüssel, Tillich’s Implicit Ontological Argment, in: Sophia 32 [1993] 1–16; zur Ontologie Tillichs siehe auch den Sammelband von G. Hummel [Hg.], God and Being / Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich / Das Problem der Ontologie in der Philosophischen Theologie Paul Tillichs. Contributions made to the II. International Paul Tillich Symposium held in Frankfurt 1988 / Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988 [TBT 47], Berlin / New York 1989. Als wichtigste Arbeit, die auch erstmalig Tillichs Ontologiebegriff in EW XVI auswertet vgl. C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich [= Tillich-Studien 22], Münster 2010, 43ff.)

1 Zum Ontologieverständnis Tillichs | 213

1.1 Die Relevanz einer ontologischen Fassung der Macht 1.1.1 Die Verwurzelung der Macht in der Natur des Seins Der Machtbegriff gilt meistens als „Fundamentalbegriff“ der Gesellschafts-14 bzw. Sozialwissenschaft.15 Daneben begegnet der Begriff auch in der Psychologie, in der Ethik und Rechtswissenschaft wie auch in der Politikwissenschaft und Pädagogik.16 Wie aber kommt Tillich dazu, das Problem der Macht mit der Ontologie in Verbindung zu bringen? Dass Macht primär ein sozialethisches und politisches Problem darstellt, steht natürlich außer Frage. Aber für Tillich ist es falsch, das Ethisch-Politische der Ontologie gegenüberzustellen; vielmehr ist es „im Sein selbst verwurzelt“ – und es „schwebt nicht in der Luft eines abstrakten Werte-Himmels“17. Tillich betont: „Wenn man nach Macht fragt, fragt man nach der Natur des Seins selbst.“18 Zutreffend schreibt Norbert Ernst im Anschluss an Werner Schüßler: „Sein und Macht sind konvertibel und koextensiv.“19 Für Tillich ist also zunächst die Seins-Analyse für den Machtbegriff von Relevanz, weil Macht in der Natur des Seins tief verwurzelt ist. Sie hat ontologische Wurzeln20 bzw. „ontologische Würde.“21 Mit anderen Worten: Das Sein-Selbst ist der Boden, auf dem Macht ihre Wurzeln schlägt und erwächst.22 Bemerkenswert ist für Tillich in diesem Zusammenhang, dass frühe Philosophen wie Heraklit, Plato oder Aristoteles (und in der Moderne am bemerkenswertesten Nietzsche23) bei ihrem Versuch, die „letzte Wirklichkeit“24 (bzw. das Sein) begrifflich zu definieren,

|| 14 Bereits in den 1930er Jahren hält der britische Philosoph Bertrand Russel die Macht für eine „soziale Energie“, und er vertritt die Ansicht, „dass der Fundamentalbegriff in der Gesellschaftswissenschaft Macht heißt, im gleichen Sinne, in dem die Energie den Fundamentalbegriff in der Physik darstellt“ (B. Russell, Macht. Eine sozialkritische Studie, Hamburg 2001, 10). 15 Vgl. A. Anter, Theorien der Macht zur Einführung, Hamburg 32017, 9. 16 Vgl. GW XI 143. 17 GW IX 218. 18 GW IX 206. 19 N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52, hier 44; vgl. auch W. Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= TillichStudien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230, hier 208. 20 Vgl. GW IX 206 u. 217; GW XI 154. 21 GW XI 156. 22 Vgl. GW IX 217. 23 Vgl. GW XI 156 u. 165. 24 GW XI 165.

214 | Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich

auf Begriffe rekurrierten, die ein Element der Macht enthalten.25 So sei der „logos des Seins“ bei Heraklit die Macht, die die Welt in Bewegung setzt.26 Eros sei bei Plato die Macht, „die zur Einigung mit dem Wahren und Guten an sich treibt“27. Auch in der aristotelischen Bewegungslehre und der damit verbundenen Lehre vom weltumfassenden eros, „der alles Seiende zu seiner höchsten Vollendung“28 treibe, begegnet neben dem Begriff der entelechia das Begriffspaar Potentialität (dynamis) und Aktualität (energeia), das für die Auffassung der Macht von großer Bedeutung ist. Dabei sei die Bewegung bzw. Veränderung der Übergang von der Potentialität (dynamis, Möglichkeit) in die Aktualität (energeia, Wirklichkeit).29 Macht hat also eine grundlegende ontologische Dimension, und Tillich ist davon überzeugt, dass man sich philosophisch dem Thema nur angemessen nähern kann, wenn man dies in den Blick nimmt.30 In diesem Sinne ist Ontologie nach Tillich der Weg, der uns die Grundbedeutung der Macht erschließt und somit den Machtbegriff von „Missverständnissen“31 befreit, die Widersprüche in seinem Strukturverhältnis zu den verwandten Begriffen Liebe und Gerechtigkeit32 beseitigt und seine Bedeutung im Verhältnis zu dem Konkurrenzbegriff Gewalt bzw. Zwang,33 nicht zuletzt innerhalb des sozialen Bereichs, von den Zweideutigkeiten entlastet. Damit sind wir zu einem weiteren Aspekt gelangt, warum die ontologische Untersuchung für Tillich von Bedeutung für die Machttheorie ist.

|| 25 Dies sind neben dem Machtbegriff die verwandten Begriffe „Liebe“, „Gerechtigkeit“ und ihre Synonyme. (Vgl. GW XI 156 u. 165) 26 Vgl. GW XI 156. 27 GW XI 156; vgl. auch ST I 273: „Plato wußte, daß Sein auf die Macht hindeutet, die allem Sein innewohnt, nämlich auf die Macht, dem Nichtsein Widerstand zu leisten.“ 28 GW XI 156. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. GW IX 217. 31 Tillich beschäftigt sich mit verschiedenen Missverständnissen der Macht, so u.a. mit „der naturwissenschaftlichen sowie der sozialwissenschaftlichen Bedeutung von Macht im Sinne von ,Kraft‘ bzw. ,Gewalt‘ und […] der politischen Dimension des Machtbegriffs, wie sie sich im Verhältnis zum Element des Zwanges zeigt“ (P. Haigis, Diesseits des Seins. Wie die Ontologie den Blick auf sozialethische Debatten verstellen kann, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm [Hg.], Justice, Power, and Love [= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9], Berlin / Boston 2014, 1–26, hier 8). 32 „Wenn man nicht an die ontologische Wurzel dieser Begriffe geht – man kann es bei jeder öffentlichen Diskussion über diese Begriffe feststellen –, dann sieht man Widersprüche zum Beispiel zwischen Macht und Gerechtigkeit, zwischen Macht und Liebe, zwischen Liebe und Gerechtigkeit, und man ist durch diese Widersprüche gezwungen, das eine für das andere zu opfern oder, was meistens geschieht, das eine durch das andere verstümmeln zu lassen.“ (GW IX 217) 33 Vgl. GW XI 147; GW IX 212.

1 Zum Ontologieverständnis Tillichs | 215

1.1.2 Ontologie als geeigneter Zugang zur Macht Tillich versteht Ontologie unter anderem als geeigneten Zugang zum Problem der Macht: „Ontology is the way in which the root meaning of all principles and also of the three concepts of our subject [sc. love, power, and justice] can be found.“34 Mit seinem Verständnis der Ontologie ist ein analytisch-deskriptives Vorgehen verbunden, das die Grundstrukturen des Seins, die jeder Wirklichkeit zugrundeliegen, herauszustellen versucht. Von großer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die Ausdrücke „genau beobachten“, „auf etwas hinsehen“ sowie „in die Sache hineingucken“ 35, die uns in seinen Ausführungen über Ontologie begegnen. Es geht darum, so Stefan Dienstbeck im Anschluss an Tillich, „Seiendes einer genauen Betrachtung zu unterziehen“36. Erklärungsbedürftig ist hier allerdings, was es bei Tillich heißt: „auf etwas hinsehen“. Diese Formel bedeutet zunächst für ihn so viel wie das lateinische Wort speculari, das die Wurzel des Begriffs „Spekulation“37 bildet. Aber da der Spekulationsbegriff mit der „Beschimpfung der Metaphysik“38 assoziiert wird, wird er gleicherweise wie der Metaphysikbegriff abgelehnt.39 Man spricht von „metaphysischer

|| 34 MW III 586. Bezugnehmend auf dieses englische Zitat Tillichs schreibt Danz: „Ontologie ist die Methode, um die eigentliche Bedeutung des Begriffs der Macht zu bestimmen.“ (Ders., „Sein [...] ist die Macht zu sein.“ Beobachtungen zu Paul Tillichs ontologischem Begriff der Macht in Love, Power, and Justice, in: Ders. / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm [Hg.], Justice, Power, and Love [= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9], Berlin / Boston 2014, 27–45, 27) Dabei scheint sich Danz auf die deutsche Übersetzung in den „Gesammelten Werken“ Tillichs zu beziehen: „Ontologie ist die Methode, mit deren Hilfe sich die Grundbedeutung aller Prinzipien und somit auch der drei Begriffe unserer Untersuchung bestimmen läßt.“ (GW XI 143) Allerdings scheint mir die Übersetzung des englischen Begriffs „way“ durch „Methode“ nicht geeignet zu sein. Ontologie ist für Tillich nämlich keine Methode. Sie ist der „Weg“ bzw. der „Zugang“, um den Machtbegriff zu erschließen. 35 EW XVI 5; GW V 141; dazu auch die Anmerkung von Stefan Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 371 Anm. 5. 36 S. Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 371. An dieser Stelle muss gesagt werden, dass der Gegenstand der Ontologie bzw. der Metaphysik Seiendes als Seiendes ist, insofern es Erscheinung dessen ist, was in ihm wirksam ist, nämlich das Sein selbst. Ontologie beschäftigt sich mit der Struktur des Seins selbst (vgl. EW XVI 9; GW XI 155). 37 EW XVI 5; GW V 141. 38 EW XVI 5. 39 Vgl. EW XVI 5; GW V 141f.; vgl. dazu auch die Ausführungen von Stefan Dienstbeck: „Der Spekulationsbegriff wird ob seiner Korruptheit, die ihm im Laufe seiner Verwendung zugekommen sei, in gleicher Weise abgelehnt, wie der Begriff der Metaphysik.“ (Ders., Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 371 Anm. 6)

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Spekulation“40 und meint damit unglücklicherweise, so Tillich, die „Statuierung einer Hinterwelt“41. Um „,die schwarze Magie‘ von Worten wie ,metaphysische Spekulation‘ zu vermeiden“42, spricht Tillich „von ontologischer Analysis […], um zu zeigen, daß man auf die Dinge schauen muß, wie sie uns gegeben sind, wenn man die Prinzipien, die Strukturen und die Natur des Seins entdecken will, das in allem, was ist, sich verkörpert“43. Dieses Zitat ist gleich aus mehreren Gründen aufschlussreich für das Ontologieverständnis Tillichs. Zum einen macht es deutlich, dass Tillich aufgrund dieser möglichen Missverständnisse den Ontologiebegriff dem der Metaphysik vorzieht. Aber wie er an anderer Stelle zu verstehen gibt, sieht er keinen „sachlichen Unterschied“ zwischen „Ontologie“ und „Metaphysik“44. Aber damit ist das Verständnis Tillichs von der Verhältnisbestimmung zwischen Metaphysik und Ontologie noch nicht eindeutig geklärt.45

|| 40 GW V 141. 41 EW XVI 4; vgl. auch GW V 141: „Dieser Name [sc. „Metaphysik“] war und ist unglücklich, weil er das Mißverständnis weiterträgt, daß die Ontologie sich mit überempirischen Wirklichkeiten beschäftigt, mit einer Welt hinter der Welt, die nur in spekulativer Einbildung existiert.“ 42 GW V 142. 43 Ebd.; vgl. dazu auch ST I 28: „Die Ontologie ist kein spekulativer oder phantastischer Versuch, eine Welt hinter der Welt aufzubauen; sie ist die Analyse jener Strukturen des Seins, die wir in jeder Begegnung mit der Wirklichkeit vorfinden.“ Ontologie fragt nach den „Strukturen, die allem Seienden, allem, das am Sein teilhat, zugrundeliegen“ (GW XI 155), und beschreibt „die Strukturen, die in jeder Begegnung mit der Wirklichkeit vorausgesetzt sind“ (GW XI 157). 44 In seiner Berliner Vorlesung über Ontologie von 1951, in der Tillich Heidegger vorwirft, eine Unterscheidung zwischen Ontologie und Metaphysik vorzunehmen, heißt es: „Weiter habe ich […] gelernt, dass das Wort ,Metaphysik‘ […] nicht mehr das rote Tuch ist, das es noch vor zwanzig Jahren war, und dass infolgedessen ich mich nicht zu scheuen brauche, mich gelegentlich zu versprechen und statt ,Ontologie‘ ,Metaphysik‘ zu sagen, weil ich nicht glaube, dass ein sachlicher Unterschied besteht“. (EW XVI 11) 45 Bei Tillich scheint nämlich die Verhältnisbestimmung zwischen Metaphysik und Ontologie alles andere als deutlich zu sein. Zunächst fällt auf, wie schon angedeutet, dass er keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Metaphysik und Ontologie macht. In seiner Berliner Vorlesung über Ontologie sowie in der „Systematischen Theologie“ versteht Tillich sowohl unter Ontologie als auch unter Metaphysik „erste Philosophie“ (EW XVI 4; ST I 193) und meint damit im Anschluss an Aristoteles die Grundfrage der Philosophie, die Frage nach dem Sein als solchem. Es überrascht in diesem Zusammenhang nicht, dass Tillich die Begriffe Ontologie und Metaphysik fast austauschbar gebraucht. Vgl. EW XVI 9: „Metaphysik beschäftigt sich mit allem, aber nicht mit allem als solchem, sondern mit allem als Manifestation dessen, was in allem erscheint, nämlich mit der grundlegenden Struktur der Wirklichkeit, mit der Struktur von Sein selbst. Esse ipsum, wie es die Scholastiker genannt haben. Darum kann man auch sagen, Ontologie bemüht sich um Dinge, die nicht weniger Gegenstand der Erfahrung sind als andere, sondern mehr, es sind nämlich diejenigen Elemente, die Erfahrung möglich machen. Ich könnte es in einem etwas

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|| paradoxen Ausdruck so nennen, dass Ontologie begründet ist auf der Erfahrung, mit der die Erfahrung sich selbst erfährt. Immer ist es nicht ein Gegenstand, den die Erfahrung erfährt, sondern die Erfahrung erfährt sich selbst, und das macht Ontologie möglich.“ Entscheidend ist in dieser zitierten Passage, dass die Thematik dieselbe geblieben ist, obwohl die Begriffe Metaphysik und Ontologie konvertibel gebraucht werden. Allerdings bevorzugt Tillich den Ontologiebegriff, „um die falschen Konnotationen zu vermeiden, die die griechische Vorsilbe ,meta‘ durchscheinen lässt“ (W. Schüßler / E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 32f.). „Die Frage nach dem Sein als Sein ist ‚Erste Philosophie‘, oder wenn dieses Wort noch gebraucht werden könnte, ‚Metaphysik‘. Da aber falsche Nebenbedeutungen das Wort ,Metaphysik‘ belasten, ist das Wort ,Ontologie‘ vorzuziehen.“ (ST I 193) Vgl. auch EW XVI 4: „Man hat nämlich Metaphysik mit der Statuierung einer Hinterwelt identifiziert, einfach mit ,Supranaturalismus‘ übersetzt und also auf diese Weise das ,meta‘ aufgefasst als die Konstruktion einer Welt, die sich der Erfahrung entzieht und die jenseits der erfahrungsgegebenen Welt liegt.“ So schlägt Tillich vor, da das Wort Metaphysik missverständlich ist, dafür den Begriff ‚Ontologie‘ zu verwenden. Hierzu schreibt Scharlemann: „Es gehe […] nur um das Wort, und das Wort ,Ontologie‘ sei vorzuziehen, weil es nicht so sehr von irreführenden Nebenbedeutungen belastet sei.“ (Ders., Ontologie: Zur Begriffsbestimmung bei Tillich in den zwanziger Jahren, in: G. Hummel [Hg.], God and Being / Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich / Das Problem der Ontologie in der Philosophischen Theologie Paul Tillichs. Contributions made to the II. International Paul Tillich Symposium held in Frankfurt 1988 / Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988 [TBT 47], Berlin / New York 1989, 100–107, hier 101) Tillich scheint jedoch an anderer Stelle wiederum auch einen Unterschied zwischen Metaphysik und Ontologie vorzunehmen. So heißt es in „Love, Power, and Justice“ von 1954: „Nun erhebt sich die methodische Frage: Wie unterscheidet sich die Ontologie von dem, was man Metaphysik nennt? Die Antwort darauf lautet, daß die Ontologie die Grundlage der Metaphysik, aber daß sie selbst nicht Metaphysik ist.“ (GW XI 157) Was Tillich unter Ontologie als Grundlage der Metaphysik versteht und worin der Unterschied zwischen Metaphysik und Ontologie besteht, wird hier nicht ganz deutlich. Aber wenn Tillich hier von der „methodischen Frage“ spricht und in diesem Zusammenhang Ontologie als Grundlage der Metaphysik bezeichnet, scheint er sich auf die Bedeutung der Metaphysik von ihrem Ursprung her als Seinsund Gotteslehre zu beziehen, wie das bereits auch in einem methodischen Zugang in dem Prolog zu der geplanten Schrift „Die Gestalt der religiösen Erkenntnis“ von 1928 auffällt. Dort, wo Tillich zwei Grundfragen unterscheidet: Die Frage nach dem Sinn des Seins, die die Ontologie beantworten soll, und die Frage nach dem Jenseits des Seins und des Sinnes, mit der sich die philosophische Theologie beschäftigt, heißt es: „Die Frage nach dem Sinn des Seins […] treibt sinngemäß zu der Frage nach dem Jenseits von Sein und Sinn. […] Der Ontologie bleibt die Aufgabe, bis an diesen Punkt heranzuführen, wo möglicherweise prophetisches Zeugnis und damit religiöse Erkenntnis entspringt. Sie soll die Anschauung des vorgegenständlichen menschlichen Seins bis zu der Stelle treiben, an der das menschliche Sein über sich hinausweist, die ontologische Frage zur theologischen wird.“ (EW XIV 439) Die ontologische Frage führt also in diesem Zusammenhang zur theologischen. Grundlegend ist aber, dass Tillich „den Terminus Ontologie nicht abgegrenzt wissen möchte von Metaphysik, letzteren Begriff jedoch nur ob dessen – seines Erachtens vorhandener – Unbrauchbarkeit in der Moderne vermeidet“, um mit Dienstbeck zu sprechen (vgl. ders., Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs,

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Zum anderen setzt die Wendung „auf die Dinge schauen […], wie sie uns gegeben sind“ oder „hineingucken, wie Dinge sich benehmen“46, wie es an anderer Stelle heißt, ein Verhältnis zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten voraus, in dem das Subjekt nicht von dem Objekt getrennt ist, sondern teilhat an dem Ding, das es beobachtet. Dies bringt Tillich durch den Begriff der Intuition zum Ausdruck, der – wie der Begriff der Spekulation – so viel bedeutet wie „auf etwas hinsehen“, aber der darüber hinaus auch einen Aspekt der Teilhabe an dem, was beobachtet wird, mit sich bringt.47 Aber das betrachtende Subjekt ist immer auch zugleich von dem Betrachteten getrennt, damit es dieses betrachten kann. Somit sind das Dazugehören und das Getrenntsein, so Tillich, die Charakteristika der Verhältnisbestimmung zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten. „Aus diesem Konflikt heraus ergibt sich die Möglichkeit der Frage der Ontologie nach dem Sein.“48 Da wir uns in den folgenden Abschnitten noch ausführlicher dem Gedanken der ontologischen Selbst-Welt-Grundstruktur und

|| Göttingen 2011, 370; vgl. dazu auch A. Horstmann-Schneider, Sein und menschliche Existenz: Zu Tillichs philosophischer Anthropologie im Horizont von Theologie und Humanwissenschaft, Würzburg 1995, 42). Dass Tillich aber dem Begriff der Ontologie den der Metaphysik vorzieht und dafür als Begründung angibt, dass das „meta“ zu einer falschen Deutung des Begriffs der Metaphysik führt, greift nach Werner Schüßler zu kurz. Es muss hier, so Schüßler, auch sachliche Interessen geben. „Wenn Tillich in seinem späteren Denken lieber von Ontologie als von ,Metaphysik‘ sprechen möchte, so ist das nicht allein darin begründet, daß das Wort ,Metaphysik‘ zu Missverständnissen Anlaß gibt, wie Tillich meint, sondern dahinter stehen letztlich Sachgründe. Denn der Begriff der Ontologie wird dem eigentlichen Anliegen Tillichs eher gerecht, da die Metaphysik als Gotteslehre für ihn ja keine Rolle mehr spielt.“ (W. Schüßler, Metaphysik und Theologie. Zu Paul Tillichs „Umwendung“ der Metaphysik in der „Dogmatik“ von 1925, in: Ders, „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs [= TillichStudien, Bd. 1], Münster 42015, 175–186, hier 182; vgl. dazu auch ders., „Als protestantischer Theologe in philosophischem Material.“ Tillich, Frankfurt und die Philosophie, in: Ebd., 185–199, hier 198) Tillich lehnt nämlich Metaphysik als Gotteslehre ab und reduziert sie auf Seinslehre bzw. auf Ontologie. Damit lehnt er jede theologia naturalis und auch die analogia entis ab, wenn es um einen erkenntnismäßigen Zugang zu Gott geht. (Zur Verhältnisbestimmung zwischen Metaphysik und Ontologie bei Tillich vgl. auch C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich [= Tillich-Studien 22], Münster 2010, 66ff.) 46 EW XVI 5. 47 Vgl. ebd. 48 EW XVI 16; vgl. dazu auch GW V 144: „Wenn der Mensch das Seiende ist, das die Frage nach dem Sein stellt, so hat er das Sein, nach dem er fragt, und hat es nicht. Er ist von ihm getrennt, obwohl er zu ihm gehört. Sicherlich gehören wir zum Sein – seine Macht ist in uns –, sonst würden wir nicht sein. Aber wir sind auch getrennt von ihm; wir besitzen es nicht vollständig. Unsere Macht zu sein, ist begrenzt.“

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den ontologischen Polaritäten (unter anderem von Individualisation und Partizipation) widmen wollen, können wir es an dieser Stelle bei diesen wenigen Andeutungen belassen. Es zeigt sich auch in der oben zitierten Stelle, dass Ontologie versucht, die Struktur des Seins, die in der Begegnung mit der Wirklichkeit wirksam ist, aufzuzeigen. Mit anderen Worten: Ontologie beschäftigt sich mit dem Seienden, insofern sich in ihm das Sein manifestiert.49 Dabei ist ein Doppeltes festzustellen: Erstens ist das Sein nicht „jenseits des Seienden“ zu suchen, sondern es muss „mitten im Seienden selber“ gesucht werden.50 Zweitens ist das Sein trotzt dieser Verknüpfung mit dem Seienden „der erste und fundamentalste“51 Begriff. Dementsprechend ist für Tillich jede erkenntnistheoretische Frage sekundär, „weil episteme, Erkennen, Wissen, Wissenschaft Vorgänge innerhalb der Sphäre des Seins sind, so dass also, was immer man über sie aussagt, man zunächst einmal etwas aussagen muss über das Sein selbst, von dem sie ein Teil sind“52. Aus alldem ergibt sich, dass die ontologische Analyse ein Versuch ist, die Gegenwart des Seins und seiner Strukturen „in den verschiedenen Bereichen des Seienden aufzuzeigen“53. Allerdings ist die Hauptbeschäftigung der Philosophie „das Auffinden der konstitutiven Prinzipien des Seins-Selbst, dessen, was immer gegenwärtig ist, wenn ein Ding teilhat an der Macht zu sein und an der Macht, dem Nicht-Sein zu widerstehen“54. Mit den Begriffen des „Seins-Selbst“, der Teilhabe der Dinge an der „Macht zu sein“ und dem zu überwindenden „Nicht-Sein“ sind wichtigste Aspekte des Machtbegriffs bei Tillich vorweggenommen, denen es in den folgenden Ausführungen näher nachzugehen gilt. Es sei aber an dieser Stelle betont, dass die ontologische Analyse des Machtbegriffs bzw. der Versuch, vom Sein her ins Wesen der Macht vorzudringen, um sie ins Licht der Erkenntnis zu führen, für Tillich der einzige Weg ist,55 um den Machtbegriff von Unklarheiten zu befreien.56 Denn je tiefer wir in die Seinswurzel des Machtphänomens eindringen, so Tillich, desto realistischer werden wir,

|| 49 Vgl. EW XVI 9. 50 Vgl. EW XVI 13. 51 EW XVI 4. 52 EW XVI 13. 53 GW V 142. 54 Ebd. 55 Vgl. GW XI 153. 56 Tillich spricht auch vom „Dschungel der Zweideutigkeiten“, vom „Dschungel von Problemen und Missverständnissen“, der sich aus dem Mangel an begrifflicher Klarheit auf dem Boden der Macht ergeben hat (vgl. GW XI 144).

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„weil wir in die unzähligen Konfusionen, Ideologien und Gegenideologien, die sich in bezug auf den Begriff der Macht in unser Bewußtsein eingeschlichen haben, unterminieren, um die Möglichkeit für eine neue, positive Lösung zu finden“57. Ontologie fragt nämlich nicht „nach Sternen und Pflanzen, Tieren und Menschen. Sie fragt auch nicht nach Ereignissen und nicht nach denen, die in diesen Ereignissen handelnd auftreten. Das ist die Aufgabe naturwissenschaftlicher Forschung und der Geschichtsschreibung.“58 Ontologie geht aber hinsichtlich der Prinzipien allen anderen Wissenschaften voraus.59 Sie fragt nicht nach dem „Woher‘“, wie es z.B. der Fall bei einer psychologischen Betrachtungsweise ist;60 auch nicht teleologisch nach dem „Wozu“ oder phänomenologisch nach dem „Wie der Macht“61, wie das etwa Foucault tut, der durch die Frage nach dem Wie, wie es in seinem 1982 verfassten Aufsatz unter dem Titel „Wie wird Macht ausgeübt?“62 heißt, die Macht zu demaskieren versucht; oder wie das bei Hannah Arendt der Fall ist, die sich für die Entstehung der Macht interessiert und sie an den Vorgang politischen Handelns bindet.63 Ontologie fragt vielmehr nach dem

|| 57 GW IX 217. 58 GW XI 155. 59 „Die Ontologie geht jedem anderen Versuch voraus, die Wirklichkeit erkennend zu erfassen. Sie geht allen Wissenschaften voraus, nicht immer im Sinne des zeitlichen Ablaufs, aber stets an logischem Gewicht und grundlegender Bedeutung. Man braucht sich nicht vergangenen Jahrhunderten oder entlegenen Gegenden der Welt zuzuwenden, um den Vorrang der ontologischen Frage bestätigt zu finden. Die beste Methode, sich dieses Vorranges heute bewußt zu werden, ist eine sorgfältige Analyse der Schriften führender anti-ontologischer Philosophen oder anti-philosophischer Naturwissenschaftler und Historiker. Man wird dann leicht entdecken, daß diese Männer fast auf jeder Seite ihrer Schriften eine ganze Reihe grundlegender ontologischer Begriffe verwenden, aber nicht offen, und darum oft fälschlich. Man kann der Ontologie nicht ausweichen, wenn es um Erkenntnis geht. Denn erkennen heißt, etwas als Seiendes zu erfassen. Das Sein aber ist ein unendlich verwickeltes Gewebe, dessen Beschreibung die niemals endende Aufgabe der Ontologie ist.“ (GW XI 155; vgl. auch EW XVI 7) 60 Vgl. W. Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230, hier 205. 61 Ebd., 205. 62 Wie schon erwähnt gibt Foucault gleich zu Beginn seines Beitrags zu bedenken, dass seine Überlegungen gar nicht die Funktion haben, eine Metaphysik bzw. eine Ontologie der Macht einzuschmuggeln, sondern dazu dienen, eine kritische Analyse der Machtthematik anzugehen. (Vgl. M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV [1980–1988], Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 281) 63 Es wurde deutlich, dass Macht für Hannah Arendt keine persönliche Eigenschaft, sondern ein gemeinschaftliches Geschehen ist. Denn „sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen“ (VA 252; vgl. dazu die

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Was der Macht. Sie fragt nicht: „Wie entsteht die Macht?, sondern wesenhaft: Inwiefern gehört zu unserem Sein oder […] zum Sein überhaupt Macht?“64 Wie Macht in der Natur des Seins verwurzelt ist,65 soll nun Schritt für Schritt bedacht und erschlossen werden. Dabei geht Tillich von bestimmten ontologischen Grundeinsichten aus, die zuerst in den Blick zu nehmen sind.

1.2 Ontologische Schlüsselmotive des Machtbegriffs Tillichs 1.2.1 Sein und Denken: Der aporetische Zustand der Ontologie In der Erkenntnissphäre setzt jeder Erkenntnisakt ein Subjekt voraus, das erkennt, und ein Objekt, auf das sich der Erkenntnisakt richtet. Diese Subjekt-Objekt-Struktur bildet bei Tillich den Horizont der ontologischen Fragestellung. „Die ontologische Frage setzt voraus ein fragendes Subjekt und ein Objekt, nach dem die Frage gestellt wird, sie setzt voraus die Subjekt-Objekt-Struktur des Seins.“66 Nun stellt sich die Frage, in welcher Beziehung das Sein selbst zu diesem Subjekt-Objekt-Schema steht. Hierbei ist mit Tillich zweierlei zu unterscheiden: dass das Denken im Sein begründet ist67 und dass das Sein selbst dieser SubjektObjekt-Struktur nicht unterstellt ist.68 Nach Tillich beginnt das Denken mit dem Sein. Diese Aussage, die aber alles andere als selbstverständlich ist, muss verständlich gemacht werden.69 Die ontologische Frage wird nach Tillich durch den „ontologischen Schock“, den Schock „des möglichen Nichtseins“70 erzeugt. Auf die erkennende Funktion bezogen, kommt dieser Schock durch die Frage „Warum ist etwas, warum ist nicht nichts?“71 zum Ausdruck. Aber wenn man fragt, „warum nicht nichts ist“, schreibt man dann dem

|| Ausführungen von Arndt Sinn, in: Ders., Straffreistellung aufgrund von Drittverhalten, Tübingen 2007, 58). 64 EW XI 234. 65 Vgl. GW XI 149. 66 ST I 195. 67 Vgl. ST I 194f. 68 Vgl. ST I 202f. 69 Vgl. W. Schüßler, Die Vernunft und die Frage nach der Offenbarung, in: C. Danz (Hg.), Paul Tillichs „Systematische Theologie“. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar, Berlin / Boston 2017, 35–64, hier 39–49. 70 ST I 193 u. 218. 71 ST I 193.

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Nichtsein nicht doch ein Sein zu, worauf Tillich im Anschluss an Parmenides aufmerksam macht?72 Das Denken gründet also letztlich im Sein. „Sein ist prärational, Bedingung des Denkens“73, um mit Ulrike Murmann zu sprechen. Jede Antwort auf die Frage nach dem Nichts wäre also „wieder Gegenstand der gleichen Frage in unendlicher Regression“74. Zudem ist nach Tillich eine definitive Antwort auf die Frage „Was ist Sein?“ unmöglich. Denn das Sein kann nicht ins Wort gefasst werden. „Der Grund dafür ist offenbar: Man kann Sein nicht definieren; denn um etwas zu definieren, müsste man ja einen höheren Begriff haben, von dem das Sein ein Unterbegriff wäre, und das ist offenbar unmöglich. Jede Definition setzt etwas voraus, aber Sein kann ja nichts voraussetzen, denn dies Vorausgesetzte wäre ja dann ein anderes Seiendes, und die Frage würde wiederholt werden ins Unendliche.“75 Ontologie scheint also für die Tautologie zu stehen, „daß Sein Sein ist“76. Unser Denken befindet sich somit in einer wesenhaften Not bzw. in einer Ratlosigkeit über die Natur des Seins,77 so dass Ontologie immer in einer „Aporie“ bzw. einer Weglosigkeit zu enden scheint.78 Da wir uns in den folgenden Abschnitten noch ausführlicher dem Gedanken der Unbegreiflichkeit der Natur des Seins widmen wollen, können wir es an dieser Stelle bei diesen kurzen Bemerkungen belassen. Aber wenn das Sein nicht ins Wort gefasst werden kann, wie ist dann Ontologie überhaupt möglich, zumal sie sich als „das Wort vom Sein, das Wort, das das Sein ergreift, seine Natur offenbar macht und es aus seiner Verborgenheit ins Licht der Erkenntnis führt“79, versteht? Für Tillich kann das Sein zwar nicht definiert werden, weil der Seinsbegriff der Allgemeinste ist und somit keine Gattung darstellt, wie es in der Regel bei anderen Begriffen der Fall ist,80 aber Sein lässt sich beschreiben. Das Denken kann ja das „Wesen und die Struktur des Seins,

|| 72 Vgl. ST I 194, 219; EW XVI 89. 73 U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 124. 74 ST I 193f. 75 EW XVI 14; vgl. dazu auch EW XVI 9 u. 19; GW V 141. 76 ST I 194. 77 Vgl. EW XVI 9. 78 Vgl. GW V 141. 79 GW V 141. 80 Vgl. P. R. Scharlemann, Ontologie: Zur Begriffsbestimmung bei Tillich in den zwanziger Jahren, in: G. Hummel (Hg.), God and Being / Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich / Das Problem der Ontologie in der Philosophischen Theologie Paul Tillichs. Contributions made to the II. International Paul Tillich Symposium held in Frankfurt 1988 / Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988 (TBT 47), Berlin / New York 1989, 100–107, hier 101.

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das allem Seienden die Macht gibt, dem Nichtsein zu widerstehen“81, beschreiben. Diese Beschreibung der Struktur des Seins wird ermöglicht durch bestimmte „letzte Begriffe“82, die „Prinzipien“83 oder „Kategorien“84 genannt werden. Es sind dies Begriffe, die weniger allgemein oder universal sind als der Seinsbegriff, und doch wiederum auch allgemeiner bzw. universaler sind als ontische Begriffe, mit anderen Worten allgemeiner als Begriffe, die Regionen oder Sphären des Seienden bezeichnen.85 Ontologie ist also möglich, weil es solche mittleren Begriffe gibt, die es uns ermöglichen, „eine gegliederte Seinsstruktur auszuarbeiten, um das Sein als solches zu beschreiben“86. Diese ontologischen Begriffe unterteilt Tillich in vier Schichten.87 Er beginnt mit der „Selbst-Welt-Struktur“ des Seins als ontologische Grundstruktur, die das Fundament und die Voraussetzung aller ontologischen Fragen ist. Die ontologische Grundstruktur entwickelt er sodann in einem zweiten Schritt anhand von drei ontologischen Begriffspaaren („Individualisation-Partizipation“, „FreiheitSchicksal“, „Dynamik-Form“), die polar zueinander stehen und deren erstes Element jeweils die Selbstbezogenheit des Seienden bzw. „seine Macht, etwas für sich zu sein“88, zum Ausdruck bringt, das zweite das Verhältnis des Selbst zur Welt. In einem dritten Schritt erfasst Tillich schließlich die Möglichkeit der Existenz mit Hilfe von ontologischen Begriffen, die er Charakteristika des Seins nennt. Hier fokussiert er sich auf das Begriffspaar Essenz-Existenz, das wiederum mit anderen Begriffen wie dem des Seins und Nichtseins, der Endlichkeit und Unendlichkeit, der Potentialität und Aktualität verzahnt ist.89 In einem vierten Schritt setzt sich Tillich schlussendlich mit den Kategorien des Seins bzw. den Grundformen des Denkens über das Sein auseinander – d.h. mit den Bedingungen der Erkenntnis des Seins („Zeit“, „Raum“, „Kausalität“, „Substanz“). Ohne eine Systematisierung dieser vier Schichten ontologischer Begriffe unternehmen zu || 81 ST I 194. 82 Ebd. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Vgl. ebd.; vgl. auch P. R. Scharlemann, Ontologie: Zur Begriffsbestimmung bei Tillich in den zwanziger Jahren, in: G. Hummel (Hg.), God and Being / Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich / Das Problem der Ontologie in der Philosophischen Theologie Paul Tillichs. Contributions made to the II. International Paul Tillich Symposium held in Frankfurt 1988 / Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposions in Frankfurt 1988 (TBT 47), Berlin / New York 1989, 100–107, hier 101. 86 Ebd. 87 Vgl. ST I 194–245. 88 ST I 194. 89 Vgl. ST I 196.

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wollen,90 gilt es an dieser Stelle, deren wichtigste Aspekte herauszustellen, die für das Machtverständnis Tillichs erhellend sind.

1.2.2 Die ontologische Grundstruktur: Die Selbst-Welt-Korrelation91 Bei der Bestimmung seiner Ontologie geht Tillich von einer Korrelation von „Selbst“ und „Welt“ aus.92 Wie schon angedeutet, setzt die ontologische Frage ein fragendes Subjekt und ein Objekt, nach dem gefragt wird, voraus. Diese „Subjekt-Objekt-Struktur“ ist nach Tillich „die kognitive Seite einer allumfassenden Polarität – jener von Selbst und Welt“93. Die seinsmäßige Basis der Subjekt-Objekt-Struktur ist somit für Tillich die Selbst-Welt-Struktur.94 Im Gegensatz zu einem Denker wie Fichte, der nach Tillich vom Selbst ausgeht und es auf „das handelnde, erkenntnistheoretische und ethische Ich“95 reduziert und die Welt daraus abzuleiten versucht, oder zum mechanistischen Materialismus eines Hobbes, der ausgehend von einer Erkenntnispsychologie das

|| 90 Vgl. dazu U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 123–135; A. Horstmann-Schneider, Sein und menschliche Existenz: Zu Tillichs philosophischer Anthropologie im Horizont von Theologie und Humanwissenschaft, Würzburg 1995, 41–48; S. Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 380–398; C. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 26ff. 91 Vgl. C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich (= Tillich-Studien 22), Münster 2010, 101ff. 92 Bereits in seinem Vortrag „Die Überwindung des Persönlichkeitsideals“ von 1926 (vgl. GW III 83–100) lassen sich die Grundzüge einer Polarität von Selbst und Welt erkennen. Dort beschäftigt sich Tillich mit dem Begriff der Persönlichkeit, die er als das „Seiende, das seiner selbst mächtig ist“, beschreibt (ebd., 83). In diesem Zusammenhang macht er den Persönlichkeitsbegriff zum Korrelat des Weltbegriffs, wenn es hier heißt: „Der Weltbegriff ist das notwendige Korrelat zum Persönlichkeitsbegriff. Dadurch daß das Seiende als universale Form dem Einzelnen gegenübertritt, wird dieser seiner selbst mächtig. Der die Welt setzende Akt ist die Tat, in der das Seiende sich von seiner Unmittelbarkeit losreißt, in der es sich auf sich selbst stellt und alles Seiende sich gegenüberstellt.“ (Ebd., 84) In seiner Schrift „Religion und Weltpolitik“ von 1938/39 sowie in den späteren Schriften zur Ontologie kommt dann deutlich der Begriff der „Selbst-Welt-Struktur“ (GW IX 146) oder der „Korrelation von Selbst und Welt“ (EW XVI 23ff.) zum Ausdruck. 93 GW IV 107. 94 Vgl. ST I 195. 95 EW XVI 35

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Selbst aus der Welt abzuleiten versucht,96 stellt Tillich „weder das Subjekt über das Objekt, noch das Objekt über das Subjekt, sondern macht die Polarität von beiden [zur] […] Grundlage“97 der Ontologie. In der dialektischen Beziehung zwischen Selbst und Welt ist das Selbst von der Welt getrennt und steht allem gegenüber, und zugleich gehört es zur Welt bzw. ist es eines unter anderen. Diesen Doppelcharakter des Selbst thematisiert Tillich mit dem Ausdruck „Selbst-Welt-Korrelation“98. „Selbst sein heißt, von allem anderen getrennt sein, alles andere sich selbst gegenüber haben, es sehen können und auf es hin handeln können. Zugleich ist jedoch dieses Selbst gewahr, daß es zu dem gehört, auf das es blickt.“99 Entscheidend ist dabei für Tillich, dass in dem setzenden Akt, in dem sich das Selbst von der Welt unterscheidet und zugleich auf sie bezieht, sich Selbst und Welt wechselseitig konstruieren, so dass „das Selbst ohne Welt“ leer und „die Welt ohne Selbst“ tot ist.100 Die Selbstbezüglichkeit, die für das Selbst konstitutiv ist, vollzieht sich also für Tillich nicht auf reflexive Weise, sondern im unterscheidenden Bezug auf etwas Anderes, sei es auf sich selbst als Objekt der Erfahrung oder auf die äußere Welt.101 Zutreffend schreibt Christian Danz im Anschluss an Tillich: „Ein Selbst konstruiert sich durch Aneignung von Anderem am Orte des Selbst.“102 Und Tillich betont: „Es gibt kein Selbstbewußtsein ohne Weltbewußtsein‚ aber auch das Umgekehrte gilt.“103 Allerdings ist Weltbewusstsein nach Tillich „nur möglich auf der Basis eines vollentwickelten Selbstbewußtseins. Der Mensch muß von seiner Welt völlig getrennt sein, um auf sie als Welt zu blicken.“104 Jede Erfahrung setzt also

|| 96 Vgl. ebd. 97 U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 130; vgl. auch EW XVI 25: „Wenn wir uns fragen: Wie können wir erreichen, dass eine Analyse des Seins als Sein weder bei den Dingen noch bei dem sie anschauenden Subjekt beginnt, sondern bei etwas, das tiefer liegt als die beiden, dann glaube ich, dass eine fundamentale Korrelation dasjenige ist, auf das wir blicken müssen.“ 98 ST I 202; GW IV 107. 99 ST I 201. 100 Vgl. ST I 202: „Wenn der Mensch auf seine Welt blickt, blickt er auf sich als einen unendlich kleinen Teil seiner Welt. Obgleich er das Zentrum der Perspektive ist, ist er auch ein Teil dessen, was in ihm zentriert ist, ein Teil des Universums. Diese Struktur ermöglicht es dem Menschen, sich selbst zu begegnen. Ohne seine Welt wäre das Selbst eine leere Form.“ 101 Vgl. U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 129. 102 C. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 29. 103 ST I 202. 104 Ebd.

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Selbstbezogenheit voraus.105 Wie sich das Selbst erfährt, ist nun weiter in den Blick zu nehmen. Den „Selbst-Begriff“ unterscheidet Tillich von dem des „Ichs“, welches im Sinne des cartesianischen cogito mit dem Selbstbewusstsein zu identifizieren ist.106 Das Wort „Selbst“ dagegen ist nach Tillich umfassender. „Er enthält sowohl die unterbewußte und die unbewußte Basis des seiner selbst bewußten Ichs als auch das Selbstbewußtsein (cogitatio im cartesianischen Sinn).“107 So kann nach Tillich „allen Lebewesen in gewissem Maße Selbstheit oder Selbstzentriertheit zugestanden werden und analog auch allen individuellen Gestalten, sogar im anorganischen Bereich“108. Aber für den Menschen als das „voll entwickelte und völlig zentrierte Selbst“109 gebraucht Tillich den Ausdruck „Ich-Selbst“110. Ist das „Ich“ die selbst-bewusste Form der Selbstbezogenheit, so ist das „Ich-Selbst“ das seiner selbst bewusste Selbst.111 Als solches hat der Mensch nicht nur eine Umgebung112 wie jedes andere Selbst auch, sondern auch eine Welt, in der er lebt und zu der er zugleich gehört. „Da der Mensch ein Ich-Selbst hat, transzendiert er jede mögliche Umgebung […]. Der Mensch hat Welt, wenn er auch zugleich in ihr ist.“113 Den Doppelcharakter der Bezogenheit des Menschen, des sich bewussten Selbst zur Welt, nennt Tillich einerseits „Welt-Haben“ und anderseits „welthaften Charakter haben“ oder „zur Welt gehören“114. Zum einen steht er der Welt gegenüber, er „hat“ sie, kann sie anhand der Sprache transzendieren und in Begriffen erfassen.115 Zum anderen ist der Mensch aber auch ein Teil der Welt, gehört zu

|| 105 Vgl. ST I 200: „In jeder Erfahrung ist die Selbstbezogenheit implizit enthalten.“ 106 Vgl. EW XVI 26. 107 ST I 200. 108 Ebd. 109 ST I 201. 110 EW XVI 26; vgl. ST I 201. 111 Vgl. U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 129. 112 Vgl. ST I 201: „Alle Dinge haben eine Umgebung, die ihre Umgebung ist. Nicht alles, was in dem Raum gefunden wird, in dem ein Tier lebt, gehört zu seiner Umgebung. Seine Umgebung besteht aus denjenigen Dingen, zu denen es eine handelnde Beziehung hat. Verschiedene Wesen innerhalb desselben gleichen Raumes haben verschiedene Umgebungen. Jedes Seiende hat eine Umgebung, obwohl es auch zu dieser Umgebung gehört.“ (Vgl. dazu auch EW XVI 26) Es ist hier etwas missverständlich, wenn Tillich von „Umgebung“ spricht; besser wäre es, von „Umwelt“ zu sprechen, die Tillich sachlich auch meint. (Vgl. dazu den Begriff der „Weltoffenheit“ bei Max Scheler, in: Ders., Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 2010, 28–34) 113 ST I 201. 114 GW IX 145f. 115 Vgl. ST I 201f.; ST II 199.

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ihr, ist in ihr und partizipiert somit an ihrem universalen Schicksal. Zum ZurWelt-Gehören stellt Tillich ein Dreifaches fest: erstens, dass die Welt „eine universale Einheit für ein geschlossenes Selbst ist“116; zweitens, dass die Welt eine „sinnhafte Struktur für ein bewußtes Selbst ist“117, und drittens, dass die Welt eine „Unendlichkeit für ein freies Selbst hat“118. Mit dem Begriff „Welt“ meint Tillich also nicht die Summe alles Seienden, sondern eine durch Vernunft „strukturierte Einheit“119 bzw. ein strukturiertes Ganzes im Gegenüber zum Selbst.120 Das Selbst strukturiert sich die Welt, die ihm wiederum aus seiner Perspektive entgegentritt, so wie es sie sich strukturiert hat. Von Interesse für die Machtproblematik bei Tillich ist der Unterschied, den er zwischen der „Seins-Mächtigkeit“ von Wesen, die Teil der Welt sind, aber die Welt nicht „haben“, und der „Seins-Mächtigkeit“ von denjenigen, die zur Welt gehören und sie zugleich „haben“, macht. Nur für die zweite Gruppe reserviert Tillich das „Wort ,Macht‘ im vollen Sinn“121. Aus dem Gesagten geht hervor, dass nur ein Ich-Selbst die Differenz zwischen Selbst und Welt zu setzen vermag. Diese Polarität zwischen Selbst und Welt umfasst nach Tillich noch weitere Elemente, die er als „ontologische Elemente“122 oder auch als „polare Elemente“123 bezeichnet.

1.2.3 Die ontologischen Elemente Drei aufeinander bezogene Elementenpaare konstituieren näherhin nach Tillich die ontologische Grundstruktur: „Individualisation und Partizipation“, „Dynamik und Form“, „Freiheit und Schicksal“124. Es sind dies die aus der Grundstruktur abgeleiteten Bedingungen der Erfahrung. Treffend schreibt Murmann: „Die drei Elementenpaare beschreiben das, was in jeder Selbst- oder Welterfahrung

|| 116 GW IX 148. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 GW IX 146. 120 Vgl. ST I 201. 121 GW IX 168. 122 ST I 206. 123 EW XVI 48. 124 Vgl. ST I 195 u. 200; EW XVI 48. Für Stefan Dienstbeck sind die ontologischen Polaritäten potentiell erweiterbar und nicht auf die drei von Tillich genannten Elementenpaare zu reduzieren (vgl. ders., Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 388). Tillich beansprucht hier auch keine Vollständigkeit.

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vorausgesetzt werden muss.“125 Im Anschluss an Kant bezeichnet Tillich die ontologischen Elemente als Begriffe a priori, denn sie „bestimmen das Wesen der Erfahrung“126, mit anderen Worten: Sie machen im Erfahrungs- und Erkenntnisakt das deutlich, was die Grundstruktur in sich einschließt. Wie schon an anderer Stelle erläutert, so drückt der jeweils erste Pol der Elementenpaare die Selbstbezogenheit bzw. die Macht des Selbst aus, etwas für sich zu sein, wohingegen der zweite Pol den Blick auf die Beziehung des Selbst zur Welt eröffnet.127 1.2.3.1 Individualisation und Partizipation Obwohl eine hierarchische Reihenfolge der Elementenpaare keine Rolle spielt, zumal „alle gleichsam ursprünglich und konstitutiv für das real vorfindliche Sein sind“128, um mit Dienstbeck zu sprechen, führt Tillich als Erstes die Polarität von „Individualisation und Partizipation“ an. Bezugnehmend auf das Wort individuitas, die lateinische Herkunft des Begriffs der Individualisation, die auf die Unteilbarkeit des Individuums hinweist,129 macht Tillich darauf aufmerksam, dass „Individualisation“ zunächst „Selbstzentriertheit“ meint.130 „Individualität ist begründet in Selbstbezogenheit, Selbstzentriertheit, Relation zu sich selbst. […] Was selbst-zentriert ist, kann zerschlagen werden, aber nicht geteilt werden. Denn das Zentrum ist ein Punkt, der nicht geteilt werden kann. Es ist unmöglich, das, was ein Zentrum in sich selbst hat, zu teilen, und darum kann man sagen, Selbstheit ist notwendig Individualisation, und Selbstheit ist möglich nur, weil das Element der Individualisation vorliegt. Die beiden sind wechselseitig von einander abhängig.“131 Die Selbstheit des Selbst macht also seine Individualisation aus. „Als Selbst-zentriertes widerstrebt es der Verschmelzung in das Universale.“132 Begegnet die Individualisation nach Tillich auch in allen untermenschlichen Wesen und kann man in einem analogen Sinne diesen Begriff sogar hinsichtlich des Anorganischen verwenden (z.B. Atomkern – Atome), so erreicht sie im Menschen als Person ihre vollkommene Form.133 Denn der „Mensch ist nicht nur das || 125 U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 129. 126 ST I 196. 127 Vgl. ebd. 128 S. Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 388. 129 Vgl. EW XVI 50; ST I 206. 130 Vgl. ebd.; GW IV 107. 131 EW XVI 50. 132 GW IV 107. 133 Vgl. ST I 206ff.; EW XVI 50ff.

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völlig selbstzentrierte Wesen, er ist auch das völlig individualisierte Wesen“134. Je mehr ein Wesen selbst-zentriert ist, desto fähiger ist es, seine eigene Identität in den Begegnungen mit anderen Wesen zu bewahren.135 Dies führt uns zu dem polaren Begriff der Partizipation, die auf die Wechselbeziehung des Selbst mit seiner Umgebung oder, im Fall des Menschen, auf die Wechselbeziehung des IchSelbst mit seiner Welt aufmerksam macht.136 Hierzu sind drei Aspekte von Relevanz. Die Partizipation des individuellen Selbst an seiner Umgebung oder an seiner Welt weist zunächst auf die Gegenwärtigkeit des Universalen im Individuellen hin. Tillich bezeichnet daher den Menschen in Anlehnung an Cusanus und Leibniz als Mikrokosmos.137 Denn im Menschen ist die Welt nicht nur unbewusst gegenwärtig, sondern er begegnet der Welt auch ganz bewusst. Er „partizipiert am Universum durch die rationale Struktur des Geistes und der Wirklichkeit“138. Damit stoßen wir auf den zweiten Aspekt der Partizipation, nämlich den der Erkenntnis als Partizipation. Erkenntnis ist nur möglich unter der Voraussetzung, dass die Strukturen von Denken und Sein übereinstimmen. Sie ist Einung und wurzelt in dem eros, „der die Elemente wiedervereint, die wesensmäßig zu einander gehören“139. Der Erkennende partizipiert also am Erkannten. Der dritte Aspekt der Partizipation besagt, dass sie in Polarität mit der Individualisation „die Basis für die Kategorie der Beziehung als ontologischem Grundelement“140 darstellt. Tillich fährt fort: „Ohne Individualisation existiert nichts, das in Beziehung sein kann. Ohne Partizipation hätte die Kategorie der Beziehung keine Basis in der Realität.“141 Er knüpft hier an die Einsicht an, dass es keine Person ohne Begegnung mit anderen Personen geben kann und dass sich in dieser Begegnung erst die Person als Person konstituiert. Denn die „Person als das vollentwickelte individuelle Selbst ist unmöglich ohne andere vollentwickelte Selbste“142. Am Widerstand der anderen Personen nehmen wir uns wahr und werden so „wir selbst“. Dabei ist nach Tillich von Interesse, dass das Indivi-

|| 134 ST I 206. 135 Vgl. GW IV 107. 136 Vgl. ST I 207. 137 Vgl. EW XVI 52; vgl. dazu auch ST I 207: „In dem Seienden gibt es mikrokosmische Qualitäten, aber nur der Mensch ist ein Mikrokosmos.“ 138 ST I 208. 139 Ebd. 140 ST I 209. 141 Ebd. 142 ST I 208.

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duum zwar „die ganze Welt der Objekte erobern“ kann, aber „es kann keine andere Person erobern, ohne sie als Person zu zerstören“143. Will es die andere Person nicht zerstören, muss das Individuum also lernen, in Gemeinschaft mit ihr zu treten.144 Die Bedeutung der Polarität von Individualisation und Partizipation für das Machtproblem wird deutlich, wenn Tillich in Anlehnung an Nietzsches „Willen zur Macht“ die Macht als mögliche Selbstbejahung trotz des Nichtseins bezeichnet.145 Dabei ist nach Tillich zum einen die Selbstbejahung des Selbst als einzelnes sich selbst bestimmendes Selbst zugleich Bejahung der Seinsmächtigkeit der Gruppe, an der es partizipiert.146 Zum anderen zeigt sich die Seinsmächtigkeit des Selbst nur in der Begegnung mit anderen Seinsmächtigkeiten.147 1.2.3.2 Dynamik und Form Wie das Begriffspaar „Individualisation“ und „Partizipation“, so stehen auch die Elemente „Dynamik“ und „Form“ in einer gegenseitigen Abhängigkeit und sind nur aus diesem polaren Verhältnis heraus zu erfassen. Ausgehend von der ontologischen Annahme, dass ein Ding „ist“, weil es eine Form hat und somit sein Sein verliert, wenn es seine Form verliert,148 versteht Tillich unter der Form eines Dinges seine essentia bzw. seine „bestimmte Seinsmächtigkeit“149. In diesem Zusammenhang greift er auf seinen kulturtheologischen Inhaltsbegriff der zwanziger Jahre zurück und identifiziert „Form“ mit „Inhalt“. „Die Form, die ein Ding zu dem macht, was es ist, ist gerade der Inhalt dieses Dinges, ist seine Essenz, sein Wesen, ist das, was ihm die Macht des Seins gibt […]. Form und Inhalt können nicht getrennt werden, weil die Form einer Sache ihr Inhalt ist.“150 „Dynamik“ dagegen beinhaltet ein Moment zwischen Sein und Nichtsein. Tillich begreift sie als ein me on bzw. als „Potentialität des Seins“. Diese ist einerseits ein relatives Nichtsein bzw. ein Noch-nicht-Sein, weil sie keine Form hat –

|| 143 Ebd. 144 „Gemeinschaft ist Partizipation an einem anderen vollständig selbstzentrierten und vollständig individualisierten Selbst.“ (ST I 208) 145 Vgl. GW IX 208f. 146 Vgl. GW XI 72. 147 Vgl. GW IX 209. 148 Vgl. ST I 210; EW XVI 58. 149 ST I 210. 150 EW XVI 58; vgl. auch ST I 210: „Die Form, die ein Ding zu dem macht, was es ist, ist sein Inhalt, seine bestimmte Seinsmächtigkeit.“

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im Gegensatz zu Dingen, die eine Form haben –, andererseits trägt sie die „Möglichkeit aller Form in sich“151. Die Seinsmächtigkeit steht im Gegensatz zum ouk on, dem absoluten Nichtsein.152 Tillich weist in diesem Zusammenhang auf die Verwandtschaft des Dynamikbegriffs mit dem Begriff des „élan vital“ bei Bergson, dem des „Willens“ bei Schopenhauer und Schelling, dem des „Willens zur Macht“ bei Nietzsche oder dem des „Drangs“ etwa bei Scheler und C. G. Jung hin, um nur einige Denker zu nennen.153 Alle diese Begriffe enthalten ein Element der Dynamik bzw. der Macht, die dem Prozess des Über-sich-Hinausgehens und des In-sich-Beharrens (bzw. der Selbsttranszendenz und der Selbstbewahrung) zugrunde liegt,154 ein Prozess, „in dem eine geformte Wirklichkeit über sich hinaus zu einer anderen Form hintreibt, die die ursprüngliche Wirklichkeit in sich gleichzeitig bewahrt und verändert“155. Der dynamische Charakter des Seins treibt also zur Selbsttranszendenz und zur Schaffung neuer Formen. Zugleich drängt alles zur Bewahrung der eigenen Form. Durch die Einführung der Polarität von „Vitalität“ und „Intentionalität“ vertieft Tillich die polaren Elemente von Dynamik und Form156 um eine bedeutende Komponente, nämlich die Erfahrung des Menschen bzw. des Bewusstseins mit sich selbst. Christian Danz spricht hier von einem Perspektivenwechseln in der Analyse Tillichs, wenn er schreibt: „Galten die Überlegungen zu Dynamik und Form dem Seienden für ein begegnendes Bewußtsein, so geht es nun um die Erfahrung des Bewußtseins mit sich selbst.“157 Um sich selbst erfassen zu können, muss der Mensch sich von sich selbst unterscheiden. Dies geschieht nach Tillich, so Danz, in der Wechselbeziehung von „Vitalität“ und „Intentionalität“.158 Bezeichnet Tillich dabei Vitalität als „Lebensmacht“, jene „Macht, sich zu transzendieren, ohne sich zu verlieren“159, so versteht er die Intentionalität rückblickend auf seine sinntheoretischen Ausführungen in der Frühphase als „Ausrichtung

|| 151 EW XVI 61. 152 Vgl. ST I 211; EW XVI 61. 153 Vgl. ST I 211; EW XVI 62f. 154 Vgl. EW XVI 68. 155 ST III 64; vgl. auch ST I 213. 156 Vgl. EW XVI 66; ST I 212. 157 C. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 43. 158 Ebd. 159 GW XI 66; vgl. auch ST I 212: „Vitalität ist die Macht, die ein lebendiges Wesen am Leben erhält und wachsen läßt. Élan vital ist das schöpferische Drängen der lebendigen Substanz in allem, was lebt, zu neuen Formen.“

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auf Sinngehalte.“160 Der Mensch als Selbstbewusstsein erfährt seine Vitalität bzw. seinen a priori unbegrenzten schöpferischen Drang aufgrund seiner Intentionalität,161 die dabei eine sinnorientierte Führung übernimmt. In diesem Zusammenhang ist die Intentionalität, wie die Vitalität, nicht gegeben, sondern sie hat einen Vollzugscharakter. Tillich unterscheidet die „Intentionalität“ von der „Rationalität“. Während die Rationalität „Vernunft haben“162 bedeutet, bedeutet die Intentionalität „Vernunft aktualisieren“163 und weist somit „auf den Akt der Anwendung der Vernunft“164 hin. Ist Intentionalität Ausrichtung auf Sinnbezüge, so ist nach Tillich die Quelle der menschlichen Vitalität bzw. der Erfahrung des Bewusstseins mit sich selbst die Freiheit,165 die polar zum Schicksal eine zentrale Rolle in seinem Machtverständnis einnimmt. 1.2.3.3 Freiheit und Schicksal Als dritte Polarität der ontologischen Elemente führt Tillich das ontologische Begriffspaar von „Freiheit“ und „Schicksal“ an, das von großer Bedeutung für unseren Zusammenhang ist. Denn die ontologische Verortung der Macht sieht Tillich in der endlichen Freiheit. „Die Mächtigkeit in der Relation der Freiheit ist Macht. Erst hier hat der Begriff der Macht seinen ontologischen Ort.“166

|| 160 GW XI 66. Vgl. auch ST I 212: „Die Dynamik des Menschen, seine schöpferische Vitalität ist nicht richtungslose, chaotische, in sich eingeschlossene Aktivität. Sie ist gerichtet, geformt, sie transzendiert sich selbst in Richtung auf sinnvolle Inhalte.“ Für Peter Cornelius Mayer-Tasch kann „dieser elan vital […] nicht zuletzt als Machtpotential […] gedeutet werden“ (ders., Kleine Philosophie der Macht, Stuttgart 2018, 36). 161 Vgl. ST I 212: „Es gibt keine Vitalität als solche und keine Intentionalität als solche. Sie sind voneinander abhängig wie die anderen polaren Elemente.“ 162 ST I 212. 163 Ebd. 164 EW XVI 67. 165 Vgl. GW XI 67: „In jeder Begegnung mit der Wirklichkeit ist der Mensch schon über diese Begegnung hinaus. Er weiß von ihr, er vergleicht sie mit anderen, er wird durch andere Möglichkeiten versucht, er nimmt die Zukunft voraus und er erinnert sich der Vergangenheit. Das ist seine Freiheit, und in dieser Freiheit besteht die Macht seines Lebens. Sie ist die Quelle seiner Vitalität.“ Die Erfahrung des Bewußtseins mit sich selbst beschreibt Tillich wie folgt: „Das Selbstbewußtsein erreicht sich erst dann, wenn [es] die Freiheit von seiner vitalen Basis erreicht hat, wenn es für sich, als Erlebnis, sich selbst bewiesen hat, daß es nicht versenkt ist in die Ausbreitung des Lebens. Freiheit ist das Bewußtsein, das in uns nichts ist, was nicht verschwindendes Moment ist [...]. Freiheit = Selbsterfassung des Selbstbewußtseins als das, was für sich ist, was nicht an ein Moment des Seienden gebunden ist und darum auch nicht von einem solchen Moment vernichtet werden kann.“ (EW VIII 480) 166 EW XI 239.

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Wie die beiden vorangegangenen Polaritäten, so macht auch die Polarität von „Freiheit“ und „Schicksal“ die Struktur des Seins ansichtig. Allerdings hebt sie sich von den anderen insofern ab, als sie den Übergang des essentiellen menschlichen Seins in die Existenz herausstellt. „In dem Augenblick, wo wir von der Freiheit reden, sind wir zwar auch noch im Wesen des Menschen, aber an der Grenze, am Wendepunkt, wo das Wesen des Menschen übergehen kann in die Existenz“167, schreibt Tillich. Von dieser Übergangsperspektive vom Wesen zur Existenz aus versucht Tillich, seinen Freiheitsbegriff zu erfassen. So kann für ihn Freiheit „definiert werden als die Möglichkeit eines Wesens, aus seinem Wesen überzugehen in seine Existenz“168. Aber Freiheit ist nach Tillich nicht nur konstitutiv für das Menschsein des Menschen unter Existenzbedingungen, sondern sie betrifft den Menschen auch wesenhaft, denn sie fasst seine Seinsstruktur so, dass „jeder Teil und jede Funktion, die den Menschen als persönliches Selbst konstituieren, an seiner Freiheit partizipiert“169. Tillich fasst zusammen: „Der Mensch ist Mensch, weil er endliche Freiheit ist.“170 Aber Freiheit „ist“ oder „hat“171 der Mensch nur im polaren Verhältnis zum Schicksal.

|| 167 EW XVI 72. 168 Ebd.; vgl. auch ST I 196: „Endliche Freiheit ist der Wendepunkt vom Sein zur Existenz.“ 169 ST I 214. Tillich grenzt seinen Freiheitsbegriff von dem der Willensfreiheit ab und erhebt dadurch den Anspruch, die Determinismus-Indeterminismus-Debatte zu überwinden, in der ihm zufolge die beiden gegensätzlichen Positionen von falschen Voraussetzungen ausgehen, „daß es ein Ding unter anderen Dingen gibt, das ,Wille‘ genannt wird, das die Qualität der Freiheit haben kann oder nicht“ (ST I 215; vgl. auch EW XVI 73). Für Tillich aber ist „Freiheit […] nicht die Freiheit einer Funktion (des ,Willens‘), sondern des Menschen, das heißt desjenigen Seienden, das kein Ding, sondern ein vollendetes Selbst und rationale Person ist.“ (ST II 215; vgl. dazu auch EW XVI 74; GW XIII 485) Damit will Tillich auch jede dualistische Anthropologie vermeiden, etwa im cartesianischen Sinne, der nur dem Geist Freiheit zuschreibt und sie dem Körper entzieht, wodurch man aber, so Tillich, nie zum Menschen kommt. Für Tillich ist „nichts in uns, weder das Körperliche, noch das Seelische, noch das Geistige von dieser Freiheit ausgenommen […]. Die Freiheit ist die Zentriertheit, die Ganzheit aller Elemente des menschlichen Seins.“ (EW XVI 74f.) 170 EW XVI 72. 171 In ST I 214 heißt es: „Der Mensch ist Mensch, weil er Freiheit hat.“ (Vgl. auch EW XVI 73) In diesem Sinne sei, so S. Dienstbeck, der Mensch, der Freiheit „hat“ – was ich „habe“, zu dem kann ich mich verhalten; der Freiheit kann ich mich aber nicht „entziehen“ –, identisch mit dem, der Freiheit „ist“. (Vgl. ders., Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011, 392 Anm. 70) Aber in Verbindung mit dem Begriff der Endlichkeit bevorzugt Tillich den Ausdruck mit dem Verb „sein“: „Der Mensch ist Mensch, weil er endliche Freiheit ist. Das ist besser, als zu sagen: weil er Freiheit hat. Man kann das natürlich auch sagen, muss sich dann aber klar sein, dass, wenn man ihn in seinem innersten Wesen definieren will, man sagen muss, dass er Freiheit ist, aber mit dem Zusatz: endliche Freiheit. Das ist, was den

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Unter dem Vorzeichen des Schicksals bezeichnet Tillich Freiheit als „Erwägung, Entscheidung und Verantwortung“172. Dabei soll Schicksal darauf hinweisen, dass der Mensch der Welt gegenübersteht und zugleich zur Welt gehört. Obwohl er frei entscheiden kann, sind somit seine Entscheidungen von der bestimmten Konstitution beeinflusst, die sein persönliches Sein prägt, sei es körperlich, psychisch oder sozial. Hierbei ist Schicksal nicht als Gegensatz zur Freiheit zu sehen, sondern als ihre Bedingung und Grenze.173 Entscheidend ist aber für Tillich in diesem Zusammenhang, dass Schicksal dem menschlichen Sein nicht etwas Fremdes ist, das später hinzugekommen ist, sondern es gehört strukturell zu ihm, es ist konstitutiv. Es hat einen ontologischen Charakter.174 Damit ist Schicksal, „die unbestimmt breite Basis unseres selbstzentrierten Selbst, es ist die Konkretheit unseres Seins, die all unsere Entscheidungen zu unseren Entscheidungen macht“175. Jede Entscheidung wird durch das eigene Schicksal bestimmt. Freiheit basiert auf dem Schicksal und partizipiert an ihm. „Nur wo Freiheit ist,

|| Menschen zum Menschen macht.“ (EW XVI 72; bezüglich des Menschen als „endlicher Freiheit“ vgl. GW XI 46 u. 115; ST I 294; ST II 14f., 50, 69, 141; GW IV 158; GW VII 73f.) Mit „Endlichkeit“ meint Tillich in diesem Zusammenhang die Begrenzung der Freiheit durch das Schicksal. „Endlichkeit bedeutet […] immer Begrenztheit, Bedingtheit, Abhängigkeit. Die Freiheit des Menschen als endliche Freiheit ist eine, die in ihrem Ausmaß einer Grenze unterliegt, sie ist – wie der Begriff deutlich macht – zeitlich limitiert, endlich. Endliche Freiheit bedeutet aber noch mehr. Mit der Endlichkeit des Menschen ist ihm nicht nur eine Grenze in der Zeit, sondern die Begrenztheit innerhalb der Selbst-Welt-Struktur gegeben.“ (S. Dienstbeck, Die Existenz und die Erwartung des Christus, in: C. Danz [Hg.], Paul Tillichs „Systematische Theologie“. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar, Berlin / Boston 2017, 143–169, hier 157) Zusammenfassend kann man zum einen sagen, dass der Mensch Freiheit hat im Gegensatz zu den nichtmenschlichen Lebewesen, und zum anderen, dass er endliche Freiheit ist, weil die Potentialitäten, die seine Freiheit konstituieren, durch sein Schicksal begrenzt sind (vgl. ST II 38ff.). 172 ST I 216; EW XVI 76. Hierzu schreibt Ulrike Murmann: „[Tillich] will damit die Elemente zusammenfassen, die einen freiheitlichen Akt ausmachen: Das Abwägen der Motive, die Entscheidung als Folge dieses Abwägens, die gleichsam die Festlegung auf eine Möglichkeit und das Ausscheiden anderer realer Möglichkeiten bedeutet, und als drittes die Verantwortung für die vollzogene Entscheidung, durch die die Entscheidung nochmal an das zentrierte Selbst zurückgebunden wird.“ (Dies., Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 131) Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der Prozess, in dem die Person Motive abwägt, sich entscheidet und Verantwortung für die Entscheidung trägt, eine Selbstbestimmung der Person voraussetzt. „Die Person, die wägt, steht über den Motiven. Solange sie wägt, ist sie nicht mit irgendeinem der Motive identisch, sondern von ihnen frei.“ (ST I 216) 173 Vgl. ST I 217. 174 Vgl. ebd.: „Schicksal ist nicht eine fremde Macht, die determiniert, was mir geschehen soll. Ich bin es selbst, und zwar geformt durch Natur, Geschichte und mich selbst.“ 175 ST I 217.

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ist Schicksal.“176 Und da die untermenschlichen Wesen keine Freiheit haben, haben sie auch kein Schicksal in dem von Tillich gemeinten Sinn.177 Wie schon angedeutet, ist die Polarität von Freiheit und Schicksal entscheidend bei der Betrachtung des Übergangs von der Essenz zur Existenz. In der dritten Schicht der ontologischen Begriffe befasst sich Tillich mit der Möglichkeit der Existenz bzw. damit, wie sich das existentielle Sein von dem essentiellen unterscheidet.

1.2.4 Endlichkeit als das fundamentalste Charakteristikum des existentiellen Seins Für Tillich ist der vollkommenste Ausdruck der menschlichen Freiheit die „Möglichkeit des Sich-selbst-Widersprechens“178, d.h. die Möglichkeit, dass der Mensch seiner eigenen Existenz bzw. seinem eigenen Wesen widersprechen kann.179 In dieser Möglichkeit unterscheidet sich Existenz von Essenz. Dabei zeigt sich die Existenz grundsätzlich als endlich. „Der Fundamentalbegriff von Existenz ist Endlichkeit.“180 Um den Begriff der Endlichkeit kreisen alle anderen Begriffe, anhand derer das existierende Sein charakterisiert wird. „Endliche Freiheit ist der Wendepunkt vom Sein zur Existenz. Deshalb ist es die Aufgabe der Ontologie in der dritten Schicht, Endlichkeit in ihrer Polarität mit dem Unendlichen und in ihrer Beziehung zu Freiheit und Schicksal, zu Sein und Nichtsein, zu Essenz und Existenz zu analysieren.“181 Damit sind die wichtigen Begriffe genannt, mit denen Tillich versucht, das existierende Sein zu charakterisieren, und die wiederum für

|| 176 EW XVI 78. 177 Tillich schreibt zwar den Dingen ein gewisses Schicksal zu, aber nur metaphorisch. Statt von Freiheit und Schicksal spricht er bezüglich der nichtmenschlichen Natur von Spontaneität und Gesetz. „Was im Menschen Freiheit ist, ist vorbereitet in der Natur als Spontaneität. Was im Menschen Schicksal ist, ist vorbereitet in der nichtmenschlichen Natur als Gesetz oder Struktur.“ (EW XVI 78f.; vgl. dazu auch ST I 217) 178 EW XVI 88. Die Möglichkeit des Sich-selbst-Widersprechens erinnert an den Begriff der Entfremdung bei Tillich. Hierzu schreibt Ulrike Murmann: „Der im Sinne Tillichs verwendete Begriff der Entfremdung bringt überdies zum Ausdruck, dass wirkliche Existenz nie und nimmer Ausdruck ihres Wesens sein kann, sondern überhaupt nur existiert, weil sie ihm widerspricht.“ (Dies., Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 153) 179 Vgl. dazu C. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 56. 180 EW XVI 88. 181 ST I 196.

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unseren Zusammenhang von großer Bedeutung sind: Sein und Nichtsein, Endlichkeit und Unendlichkeit, essentielles Sein und existentielles Sein. 1.2.4.1 Sein und Nichtsein Endlich sein heißt für Tillich, gemischt sein mit Sein und Nichtsein. „Wir sind eine Mischung von Sein und Nichtsein. Das ist genau das, was gemeint ist, wenn wir sagen, daß wir endlich sind.“182 Bekanntlich ist die Unterscheidung von Sein und Nichtsein bzw. ihre enge gegenseitige Abhängigkeit von zentraler Bedeutung im ontologischen Verständnis Tillichs. Philosophisches Denken geht nämlich nach Tillich aus der Spannung zwischen Sein und Nichtsein hervor. „Wir philosophieren, weil wir endlich sind, und weil wir wissen, daß wir endlich sind. […] Weil wir zwischen Sein und Nicht-Sein stehen und nach einer Seinsform verlangen, die über das Nicht-Sein in uns selbst und in unserer Welt triumphiert, darum philosophieren wir.“183 Ausgelöst wird das Philosophieren bzw. die Frage nach dem Sein durch die Erfahrung des möglichen Nichtseins, die Tillich bekanntlich als „ontologischen Schock“184, „metaphysischen Schock“ oder als den „Schock des Nichtseins“185 bezeichnet und die in der Frage „Warum ist etwas, warum ist nicht nichts?“186 zum Ausdruck kommt. Das bedeutet zum einen, dass die ontologische Frage aus einer existentiellen Situation des Menschen entspringt. Weil er erschüttert ist von der Möglichkeit des Nichtseins, weil er sein eigenes Sein und jede gegebene Wirklichkeit transzendieren kann, stellt der Mensch die ontologische Frage.187 In diesem Zusammenhang unterscheidet Tillich das Sein, das bedroht ist vom Nichtsein, vom Sein-Selbst. Jenes ist das endliche, das menschliche Sein, während dieses der „Anfang ohne Anfang, das Ende ohne Ende“188 ist. Tillich fährt fort: „Es ist sein eigener Anfang und sein eigenes Ende, die Ursprungsmacht in allem, was ist.“189 Das bedeutet für unseren Zusammenhang, dass die menschliche Macht zu sein endlich ist, während die des SeinSelbst, an der der Mensch partizipiert, unendlich ist. „Unsere Macht zu sein ist

|| 182 GW V 144. 183 GW V 154. 184 ST I 137, 193, 218. 185 EW XVI 88. 186 ST I 193. 187 Vgl. EW XVI 88ff. u. ST I 218ff. 188 ST I 222. 189 Ebd. An dieser Stelle soll kurz darauf hingewiesen werden, dass in Tillichs Denken die Begriffe „Sein-Selbst“ als ontologischer Begriff und „Gott“ als religiöser bzw. theologischer Begriff z.T. synonym gebraucht werden.

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begrenzt […]. Der Mensch in seiner Endlichkeit stellt die Frage nach dem Sein. Wer unendlich ist, stellt die Frage nach dem Sein nicht; denn als unendliches Wesen hat er die vollkommene Macht des Seins. Er ist mit ihm identisch, er ist Gott.“190 Die durch den Schock des Nichtseins ausgelöste ontologische Frage bedeutet zum anderen, dass die Frage nach dem Sein immer mit der Frage nach dem Nichtsein verbunden ist. Denn nur vom Nichtsein aus kann der Mensch auf das Sein blicken.191 Die Frage nach dem Sein ist nach Tillich auch schon im mythologischen und kosmologischen Denken mit der Frage nach dem Nichtsein verbunden.192 Es gilt nun, das Verhältnis zwischen Sein und Nichtsein systematisch in den Blick zu nehmen. Hierzu müssen zwei Fragen beantwortet werden. Zum einen muss die Frage nach dem Nichtsein geklärt werden. Was ist das Nichts bzw. gibt es überhaupt das Nichtsein? Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Nichtsein das voraussetzt, was im Begriff negiert wird, also das Sein, so dass dem Nichts eine Art des Seins zuzukommen scheint. Daraus resultiert die zweite Frage: Welche Art von Sein kann das Nichts haben? Diesen Fragen entsprechend sind zwei Aussagen Tillichs herauszustellen: zum einen, dass das Nichtsein ontologisch ebenso grundlegend ist wie das Sein,193 zum anderen, dass das Nichtsein keine Realität hat außer in seiner Beziehung zum Sein.194 Dass das Nichtsein einer der schwersten und umstrittensten Begriffe ist, ist Tillich klar.195 Der Grund dafür mag darin liegen, dass unser Denken grundsätzlich intentional, d.h. immer auf ein Objekt bzw. einen Gegenstand gerichtet ist.196 In diesem Sinn kann das Nichtsein nicht gedacht werden, „weil es wegen des gänzlichen Fehlens von Sein kein Gegenstand des Denkens sein kann“197. So leugnen die Logiker den Begriff des Nichtseins und halten ihn für ein negatives Urteil bzw. für „die logische Verneinung einer Behauptung, die mit der Wirklichkeit || 190 GW V 144. 191 Vgl. EW XVI 89; vgl. auch EW XVI 95: Der „Blick ins Nichts [ist] dasjenige […], woraus die Philosophie nicht nur das Problem des Nichts ableitet, sondern eben dadurch zum Problem des Seins kommt.“ 192 Vgl. EW XVI 89; ST I 219. 193 Vgl. GW XI 33. 194 Vgl. EW XVI 96; ST I 222; GW XI 34. 195 Vgl. GW XI 33; EW XVI 88. 196 Ähnlich argumentiert Jaspers, wenn er im Anschluss an Schopenhauer schreibt: „Es gibt […] kein Objekt ohne Subjekt und kein Subjekt ohne Objekt.“ (K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 25) 197 N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52, hier 48.

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nicht übereinstimmt“198. Bereits Parmenides, wie oben schon angedeutet, schloss das Nichtsein von allem strengen rationalen Denken aus und dies aus dem Grund, weil so dem Nichtsein eine Art von Sein zugeschrieben würde, was dem Begriff des Nichtseins als Negation des Seins aber widerspräche.199 „Aber indem er [sc. Parmenides] das tat“, so Tillich, „machte er das Reich des Werdens unverständlich […]. Was für eine Art von Sein müssen wir dem Nichtsein beilegen? Diese Frage hat niemals aufgehört, den philosophischen Geist zu faszinieren und zur Verzweiflung zu treiben.“200 Sei es bei den Atomisten, die (gegen Parmenides) im Anschluss an Demokrit das Nichtsein für den „leeren Raum“ halten, „um die Bewegung denkbar zu machen“201, oder bei Plato, für den der Gegensatz zwischen Existenz und Essenz ohne das Nichtsein unverständlich wäre; sei es bei Aristoteles, wo die Unterscheidung von Materie und Form das Nichtsein voraussetzt, oder bei Leibniz und Kant, deren Beschäftigung mit dem Endlichkeitsbegriff das Nichtsein impliziert; sei es in der Philosophie Schellings, Schopenhauers oder Nietzsches, wo der Willensbegriff als ontologische Grundkategorie gilt, „weil er die Macht hat, sich zu negieren, ohne sich zu verlieren“202, oder im Existenzialismus Heideggers und Sartres, wo dem Nichtsein ein zentraler Platz im ontologischen Denken eingeräumt wird,203 überall gibt die Geschichte der Philosophie hinreichend Zeugnis dafür, dass das Nichtsein bei weitem mehr ist als nur ein logisches Urteil. Den Logikern, die das Nichtsein für ein negatives Urteil halten, hält Tillich entgegen, dass die Tatsache, dass der Mensch etwas verneinen kann, eine ontologische Voraussetzung impliziert: Dies weise letztlich hin auf den ontologischen Charakter des Nichtseins.204 Denn „das logische negative Urteil ist immer zugleich ein Anzeichen von etwas Ontologischem, nämlich von dem ontologischen Grund, dass der Mensch die Möglichkeit hat, vom Sein getrennt zu sein, und er hat sie, weil er teilnimmt nicht nur am Sein, sondern auch am Nichtsein“205. Um zu verdeutlichen, dass der Mensch zugleich am Sein und Nichtsein partizipiert, rekurriert Tillich auch hier auf die Unterscheidung zwischen zwei Arten des „Nichtseins“: das

|| 198 EW XVI 90. 199 Vgl. GW XI 33; ST I 219. 200 ST I 219. 201 GW XI 33; vgl. auch ST I 219. 202 GW XI 34. 203 Vgl. GW XI 33ff. 204 Tillich behauptet nämlich, „daß jede logische Struktur, die mehr ist als bloß ein Spiel mit möglichen Beziehungen, in einer ontologischen Struktur wurzelt […]. Deshalb eben beweist die Struktur, die negative Urteile ermöglicht, den ontologischen Charakter des Nichtseins.“ (ST I 219f.) 205 EW XVI 90. Vgl. auch GW XI 34.

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ouk on, das absolute Nichtsein, und das me on, das relative Nichtsein,206 eine Unterscheidung, die schon bei der Polarität und Form begegnet ist. Unter dem ouk on versteht Tillich das undialektische Nichtsein, das überhaupt keine Beziehung zum Sein aufweist. Es ist das totale Nichts, aus dem heraus Gott die Welt geschaffen hat. Als Geschöpf trägt der Mensch dieses „Erbteil des Nichtseins“207 als sein Schicksal in sich. In diesem Sinne ist das ouk on einschlägig für die Endlichkeit des Menschen: Er kommt vom Nichts (ex nihilo) und geht zum Nichts.208 Aber gleichzeitig „ist“ er auch, weil er an der Macht des Seins partizipiert und sich durch seine Freiheit verwirklichen kann. An dieser Stelle führt Tillich den Begriff des me on an. Dieses ist das relative Nichtsein, das eine dialektische Beziehung zum Sein aufweist. In diesem Sinne ist es die „Macht zu sein“ bzw. die Möglichkeit, dass Sein, das noch nicht wirklich ist, wirklich werden kann. Es ist potentielles Sein. Am me on partizipiert der Mensch durch seine Freiheit209 und erfährt wiederum die Bedrohung des Nichtseins in Form des Gewahrwerdens seiner Endlichkeit bzw. der Angst.210 Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, dass das Nichtsein ebenso ontologisch grundlegend ist wie das Sein und dass der Mensch endlich ist, weil er eine Mischung von Sein und Nichtsein ist. Aber damit ist noch nicht das Verhältnis zwischen Sein und Nichtsein expliziert. Erst vom Nichts aus kann der Mensch den Blick auf das Sein werfen, allerdings kann das Nichtsein ohne Beziehung zum Sein keinen ontologischen Charakter haben. Mit anderen Worten: „Nichtsein hat keine Realität außer in Beziehung zu Sein. Sein geht dem Nichtsein ontologisch voraus, obgleich die Frage nach dem Sein möglich ist, nur weil Nichtsein erkenntnismäßig dem Sein voraus geht.“211 Ontologisch gewendet hat also das Sein Priorität vor dem Nichtsein und schließt alles ein, was ist, auch das Nichtsein. „Auf die Frage: Was ist das Verhältnis von Sein und Nichtsein? kann man nur in Metaphern antworten: Das Sein schließt sich selbst und das Nichtsein ein.“212 Damit geht Tillich auf eine gewisse Distanz zu den Existentialisten, etwa zu Heidegger mit seinem „nichtenden Nichts“213 oder zu Sartre mit seiner Konzeption der Drohung der Sinnlosigkeit, die Tillich zufolge das Nichtsein nicht nur

|| 206 Vgl. ST I 220ff.; EW XVI 91ff. 207 ST I 292. 208 Vgl. dazu Vgl. U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 125. 209 Vgl. ST I 292. 210 Vgl. EW XVI 88; GW XI 35, 39. 211 EW XVI 96. 212 GW XI 34. 213 ST I 221.

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dem Sein übergeordnet haben,214 sondern auch keine Lösung zur Überwindung der Drohung des Nichtseins bieten.215 Sie haben, so Tillich, „dem Nichtsein eine Positivität gegeben und eine Mächtigkeit, die dem eigentlichen Sinn des Wortes zuwider ist“216. Tillich schreibt zwar dem Nichtsein auch eine gewisse Mächtigkeit zu, durch die es dem Sein Widerstand leisten und die Macht des Seins enthüllen kann.217 Aber dass dem Sein das Nichtsein übergeordnet wird, davon grenzt er sich dezidiert ab. Er hält das Nichtsein für den „Verstehenshorizont des Seins“218, um mit Norbert Ernst zu sprechen, aber nicht „so, als ob der Seinsbegriff aus dem Nichtsein gewonnen würde, was unmöglich ist, weil das Sein dem Nichtsein vorangeht, wie schon das Wort ‚Nicht-Sein‘ selbst anzeigt, sondern so, daß am Nichtsein abgelesen werden kann, was Sein bedeutet.“219 Tillich versteht also das Nichtsein als Strukturelement des Seins, als „dasjenige, das das Sein in sich selbst überwinden muss, um aus sich selbst sein zu können“220. Im Gegensatz zu den Existentialisten, denen er vorwirft, keinen Weg zur Überwindung der Drohung des Nichtseins angeboten zu haben, sieht Tillich diese Überwindung im Akt des Mutes gegeben, der diese Bedrohung auf sich nimmt.221 Entscheidend ist für die Machtproblematik Tillichs, dass er an diesem Punkt das Sein als die Macht bezeichnet, die das Nichtsein überwindet.222 1.2.4.2 Die Struktur der Endlichkeit „Die Endlichkeit des Menschen oder seine Geschöpflichkeit ist ohne den Begriff des dialektischen Nichtseins unverständlich.“223 Damit weist Tillich dem dialektischen Nichtsein die Aufgabe zu, den Begriff der Endlichkeit zu bestimmen.

|| 214 Vgl. ST I 221f. EW XVI 94. 215 Vgl. ST I 22. 216 EW XVI 94ff; vgl. ST I 221. 217 „Die ontologische Bedeutung des Nichtseins besteht für Tillich in der Enthüllung der Macht des Seins.“ (N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm [Hg.], Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich [= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5], Münster 2005, 39–52, hier 49) 218 Ebd. 219 N. Ernst, Die Tiefe des Seins: Eine Untersuchung zum Ort der analogia entis im Denken Paul Tillichs, St. Ottilien 1988, 80. 220 U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 124. 221 Vgl. ST I 222. 222 Vgl. GW IX 209. 223 ST I 222.

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Denn „Sein durch Nichtsein begrenzt ist Endlichkeit“224. Dabei stellt das Nichtsein als „das Noch nicht“ des Seins und „das Nicht mehr“ des Seins225 die Endlichkeit des Seins heraus. „Es kommt vom Nichts, und es geht zum Nichts. Es ist endlich.“226 Damit ist allerdings die Struktur der Endlichkeit noch nicht erreicht, die es nun zu erörtern gilt. Grundlegend ist dabei der Begriff der Selbsttranszendenz. Zurecht schreibt Christian Danz: „Tillich orientiert die Explikation der Endlichkeit an dem Begriff der Selbsttranszendenz des Menschen.“227 Das Nichtsein bedroht nämlich alles, was ist und an der Macht des Seins partizipiert mit dem Ende des Seins. Aber der Mensch ist das einzige Lebewesen, das dieses Ende vorwegnehmen kann. Er kann gewahr werden, dass er endlich ist, indem er „vom Standpunkt einer potentiellen Unendlichkeit auf sich selbst“228 blickt. Tut er dies, dann zeigt er sich als unendlich bzw. als „sich selbst grenzenlos transzendierende Endlichkeit“229. Der Mensch wird also seiner Endlichkeit bewusst, indem er sie unendlich transzendiert. „Alle Strukturen der Endlichkeit zwingen das endliche Sein, sich selbst zu transzendieren und aus eben diesem Grund seiner selbst als endlich gewahr zu werden.“230 Der Begriff der Selbsttranszendenz, wie Tillich ihn in diesem Zusammenhang konzipiert, ist ambivalent. Es ist zunächst ein Gewahrwerden „seiner potentiellen Unendlichkeit“231. Tillich spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zunehmen […] der Seinsmächtigkeit“232. Der Mensch wird sich seiner Endlichkeit bewusst, weil er sie und alles Gegebene transzendieren kann.233 Selbsttranszendenz

|| 224 Ebd. 225 Vgl. ebd. 226 Ebd. 227 C. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 60. 228 ST I 222f. 229 ST I 223. 230 Ebd. 231 ST I 240. 232 ST I 222. 233 In dem Fragment Religion und Weltpolitik spricht Tillich von einer Analogie zwischen dem Begriff der Unendlichkeit der Welt und dem der Unendlichkeit der menschlichen Freiheit und bringt sie in Zusammenhang mit dem Begriff der Selbsttranszendenz: „Die Unendlichkeit der Welt ist die Möglichkeit des unendlichen Hinausgehens über jedes welthaft Gegebene […]. Die Freiheit des geschlossenen Selbst von sich selbst, die Freiheit, sich selbst zum Objekt zu machen, löst das Selbst aus jeder Gebundenheit an eine bestimmte Situation und macht es fähig zu ,transzendieren‘. Und diesem Transzendieren sind keine Grenzen gesetzt. Die Unendlichkeit der Welt ist identisch mit der Unendlichkeit der menschlichen Freiheit, über das Gegebene hinauszugehen.“ (GW IX 147)

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ist aber zugleich, so Tillich, ein Gewahrwerden „seiner aktuellen Endlichkeit“234. Hier spricht er vom „Abnehmen der Seinsmächtigkeit“235. In diesem Kontext führt Tillich auch den Begriff der Angst an. „Endlichkeit, wenn sie ihrer selbst gewahr wird, ist Angst.“236 Der Mensch erfährt nämlich existentiell seine Endlichkeit als Drohung des Nichtseins, die Angst erzeugt. Er ist sich bewusst, dass er endlich ist, und hat deswegen Angst.237 Diese ontologische Angst, die allgegenwärtig ist wie die Endlichkeit und abhängig ist von der Drohung des Nichtseins,238 kann nicht überwunden werden.239 Man kann sie nur in einen Akt des Mutes hineinnehmen,240 in der Gewissheit, dass das Sein das Nichtsein einschließt und es überwinden kann.241 Das heißt für unseren Zusammenhang, „daß die Macht des Sein-Selbst dem Nichtsein überlegen ist“242. Die Angst, wie Tillich sie konzipiert als Zustand des Gewahrwerdens des möglichen Nichtseins,243 steht in einer Wechselbeziehung zur Furcht. Die Angst unterscheidet sich von der Furcht, indem sie kein bestimmtes Objekt hat wie die Furcht und unabhängig ist von bestimmten Angstzuständen; sie ist Angst vor dem Nichts.244 Angst und Furcht dürfen aber nicht getrennt werden. Beide „haben die gleiche ontologische Wurzel“245 und „sind einander immanent: Der Stachel der Furcht ist Angst, und die Angst strebt zur Furcht“246. 1.2.4.3 Essentielles und existentielles Sein In der Unterscheidung zwischen essentiellem und existentiellem Sein sowie ihrer Beziehung zueinander (und zum Sein-Selbst) kulminiert Tillichs Darlegung der Charakteristika des existierenden Seins. Die Begriffe „Essenz“ und „Existenz“

|| 234 ST I 240. 235 ST I 222. 236 ST I 224. Vgl. auch GW X 35ff., GW V 228. 237 „Der Mensch ist nicht nur endlich wie jede Kreatur, sondern er ist sich auch seiner Endlichkeit bewußt. Und dieses Bewußtsein ist ,Angst‘.“ (ST II 41) 238 Vgl. ST I 224. 239 „Kein endliches Wesen kann seine Angst überwinden.“ (EW XVI 102) 240 Mut wird hier verstanden im Anschluss an Philosophen wie Spinoza als „Selbstbejahung eines Seienden im Gegensatz zu dem Nichtsein, mit dem es verbunden ist.“ (EW XVI 105) 241 Vgl. EW XVI 106. 242 ST II 78. 243 Vgl. GW XI 35. 244 In diesem Sinne ist Angst nach Tillich ontologisch und Furcht psychologisch (vgl. ST I 224; vgl. GW XI 35f.). 245 GW XI 35. 246 GW XI 36.

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nehmen bei ihm eine Schlüsselrolle ein. Diese Unterscheidung ist ihm zufolge nämlich „das Rückgrat des ganzen theologischen Denkgebäudes“247. Im Folgenden geht es mir nicht um Vollständigkeit, sondern darum, die Struktur der Essenz und Existenz bei der Beschreibung der Endlichkeit des Seins herauszustellen und sie für unsere Fragestellung geltend zu machen. Die Polarität von Essenz und Existenz, wie sie bei Tillich wie auch in der philosophischen Tradition vorkommt, derer er sich verpflichtet weiß, weist grundsätzlich auf einen Zwiespalt der Wirklichkeit bzw. des Seins hin. „Diese Spaltung in der Wirklichkeit […] ist eine der frühsten Entdeckungen des menschlichen Denkens. Schon lange vor Plato entdeckte das vorphilosophische und philosophische Denken zwei Ebenen der Wirklichkeit. Wir können sie die essentielle und die existentielle Ebene nennen.“248 Für Tillich sind Essenz und Existenz zweideutige Begriffe.249 Essenz hat für ihn einen empirischen und einen wertenden Sinn. Denn sie „gibt dem, was existiert, Sein und richtet es zugleich. Sie gibt allem Seinsmächtigkeit, und zugleich steht sie dagegen als forderndes Gesetz.“250 Empirisch kann Essenz begriffen werden als das „Wesen eines Dinges“, als das, „was ein Ding zu dem macht, was es ist (ousia)“251. In diesem Sinne wäre Essenz „das Sosein eines Dinges, dem die Existenz als das schlichte Dasein, das einfache ,ist‘ des Dinges gegenübersteht“252. Essenz kann aber auch einen wertenden Charakter haben und somit als Norm begriffen werden, der die Existenz entspricht oder auch nicht entspricht. In diesem Zusammenhang versteht Tillich Existenz als Verzerrung essentiellen Seins.253 „Essenz als das, was in einer unvollkommenen und verzerrten Weise in einem Ding erscheint, trägt den Stempel des Wertes.“254 Existenz ist ebenfalls zweideutig, worauf Tillich in Anlehnung an die lateinische Wortherkunft existere hinweist. „Existieren“ bedeutet nämlich „herausstehen“ aus dem Nichtsein. „,Die Dinge existieren‘, das bedeutet: Die Dinge haben

|| 247 ST I 218. 248 ST II 27; dazu auch ST I 195: „In unserer Erfahrung wie in unserer Reflexion manifestiert sich das Sein in der Doppelheit von essentiellem und existentiellem Sein. Es gibt keine Ontologie, die diese zwei Aspekte ignorieren kann.“ 249 Vgl. ST I 236. 250 ST I 237. 251 Ebd. 252 N. Ernst, Die Tiefe des Seins: Eine Untersuchung zum Ort der analogia entis im Denken Paul Tillichs, St. Ottilien 1988, 56. 253 Vgl. ST I 236. 254 ST I 237.

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Sein, sie stehen heraus aus dem Nichts.“255 Wie schon angedeutet kann Nichtsein in zweierlei Weise verstanden werden: als ouk on bzw. als absolutes Nichtsein und als me on, d.h. als relatives Nichtsein.256 Da das „Herausstehen“ für Tillich immer ein „Darinstehen“ impliziert,257 hat Existenz einen Bezug zu beiden Bedeutungen von Nichtsein. Folglich kann auch der Begriff der Existenz in doppelter Hinsicht interpretiert werden. Wenn etwas aus dem absoluten Nichtsein heraussteht, aus dem „,Nichts‘, das überhaupt keine Beziehung zum Sein hat“, dann steht es gleichzeitig im Sein und Nichtsein. Es ist dann „ein Endliches, eine Mischung von Sein und Nichtsein“. Existieren bedeutet hier „endlich sein“. Existieren bedeutet aber auch für Tillich „herausstehen aus dem eigenen Nichtsein“258. Und dies hängt mit der zweiten Bestimmung des Nichtseins als me on zusammen. Tillich rekurriert hier auf die aristotelischen Modalkategorien Potentialität und Aktualität,259 um die Teilnahme des Menschen am Sein und Nichtsein zu verdeutlichen. Relatives Nichtsein ist „Noch-nicht-Seiendes“260, aber es ist nicht Nichts, sondern Potentialität, d.h. das, „was noch kein Sein hat, aber Sein werden kann“261. „Potentialität ist die ,Macht zu sein‘, die […] diese Macht noch nicht ausgeübt hat.“262 Wenn etwas aus dieser Macht zu sein heraussteht, wird es aktuell. Existieren bedeutet also, den Zustand der reinen Potentialität verlassen zu haben und aktuell sein. In diesem Sinne kann das me on verstanden werden als aktuelles Nichtsein bzw. als potentielles Sein.263 Zusammenfassend meint „existieren“ die „Seinsweise alles endlichen Seienden“264. In diesem Sinne bedeutet das „Existieren“ „mehr“, als im essentiellen Zustand reiner Potentialität zu sein. „Existieren“ kann aber auch „die entstellte Seinsweise desselben“265 meinen. Hier meint dann „existieren“ „weniger“ als der essentielle Seinszustand. Damit ist die Zweideutigkeit des Begriffs der Existenz

|| 255 ST II 26. 256 Vgl. ebd. 257 Vgl. ebd. 258 Ebd. 259 Vgl. ST I 26ff.; dazu auch GW XIII 482. 260 ST II 26. 261 ST I 220. 262 ST II 26. 263 Das ouk on als das „Noch nicht“ des Seins und das „Nicht mehr“ des Seins wäre dann aktuelles und potentielles Nichtsein (vgl. dazu U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 126). 264 N. Ernst, N. Ernst, Die Tiefe des Seins: Eine Untersuchung zum Ort der analogia entis im Denken Paul Tillichs, St. Ottilien 1988, 57. 265 Ebd.

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zum Ausdruck gebracht. Denn was „immer existiert, d.h. aus der bloßen Potentialität ,heraussteht‘, ist mehr, als es im Stadium der bloßen Potentialität wäre, und weniger, als es in der Macht seines essentiellen Wesens sein könnte“266. An dieser Stelle sollen einige Aspekte herausgestellt werden, die für unseren Zusammenhang relevant sind. (1) Da Existenz „die Aktualität dessen bedeuten [kann], was in der Sphäre der Essenzen potentiell ist“267, entspricht die Spaltung des Seienden in Potentialität und Aktualität der Unterscheidung von Essenz und Existenz. Insofern kann das endliche Sein im essentiellen Seinszustand identifiziert werden mit allen Möglichkeiten, die in seinem Sein angelegt sind.268 (2) Da Existenz strukturell durch den Bruch der Essenz gekennzeichnet ist, steht das

|| 266 ST I 237. In diesem Zusammenhang macht Tillich darauf aufmerksam, dass Existenz in der Philosophie unterschiedlich aufgefasst wird, je nachdem ob sie als Ausdruck des Wesens oder Abfall vom Wesen verstanden wird. So wird Existenz Tillich zufolge bei Plato negativ beurteilt („Das Gute ist identisch mit dem Essentiellen, und die Existenz fügt nichts hinzu.“ [ST I 237]), während sie bei Philosophen wie Ockham positiv besetzt ist („Alle Realität existiert, und das Essentielle ist nicht mehr als der Reflex der Existenz im menschlichen Geist. Das Gute ist der Selbstausdruck des höchsten Existierenden – Gottes –, und es wird den anderen Existierenden von außen auferlegt.“ [ST I 237]). Diese Auffassung von Existenz und Essenz ist maßgeblich für die Unterscheidung zwischen Essentialismus und Existentialismus. „Unter Essentialismus verstehe ich eine Philosophie, die auf das Wesen der Dinge, ihr ,Was‘, platonisch gesprochen auf ihr eidos, ihr ewiges Bild, christlich gesprochen auf ihre schöpfungsmäßige Natur gerichtet ist […]. Unter Existentialismus verstehe ich eine Philosophie, die auf die Existenz der Dinge, sofern sie im Widerspruch zu ihrem Wesen stehen, platonisch und christlich gesprochen, auf die Dinge in ihrem Abfall von sich selbst, gerichtet ist.“ (GW IV 134) Obwohl sich für Tillich der „Existentialismus als Protest“ (GW XI 104) gegen das essentialistische System der Renaissance und Aufklärung (vgl. ST II 29ff.), nicht zuletzt gegen das System Hegels (vgl. GW XI 102), darstellt, und Existenz im Sinne von Abfall und Entfremdung somit im Vordergrund des Interesses steht („Die Welt ist nicht versöhnt, weder im Individuum – wie Kierkegaard zeigt – noch in der Gesellschaft – wie Marx zeigt – noch im Leben als solchem – wie Schopenhauer und Nietzsche zeigen. Existenz ist Entfremdung und nicht Versöhnung“ [ST II 31]), versucht er doch, Essenz und Existenz in einer lebendigen Einheit darzustellen. (Vgl. K. Glöckner, Personsein als Telos der Schöpfung. Eine Darstellung der Theologie Paul Tillichs aus der Perspektive seines Verständnisses des Menschen als Person, Münster 2005, 42) 267 ST I 237. 268 Der essentielle Zustand des endlichen Seins ist in diesem Sinne identisch mit dem „Zustand der reinen Potentialität“ (ST II 26). Hier darf man nicht aus den Augen verlieren, dass endliches Sein eine Mischung von Sein und Nichtsein ist, die in der „Macht des Seins“ bzw. im Sein-Selbst wurzelt. In diesem Sinn bedeutet Essenz für Tillich der „Zustand des endlichen Seins, in dem Sein und Nichtsein in essentieller Einheit gegeben sind, einer Einheit, die ihrerseits in der essentiellen Einheit des endlichen Seins mit dem Sein-Selbst begründet ist.“ (K. Glöckner, Personsein als Telos der Schöpfung. Eine Darstellung der Theologie Paul Tillichs aus der Perspektive seines Verständnisses des Menschen als Person, Münster 2005, 39)

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endliche Sein im existentiellen Zustand außerhalb seiner essentiellen Einheit mit der Macht des Seins-Selbst269 und somit, als Einheit von Sein und Nichtsein, unter der Vormacht des Nichtseins. Aber da das Nichtsein dem Sein untergeordnet ist und als solches das endliche Sein nicht begründen kann, partizipiert das endliche Sein selbst im existentiellen Zustand an der Macht des Seins-Selbst,270 obwohl es „eine verzerrte […] Seinsgestalt bekommen“271 hat, um mit Konrad Glöckner zu sprechen. (3) In der Beziehung von Essenz und Existenz nimmt der Begriff der Aktualität eine zentrale Rolle ein. So ist endliches Sein im aktuellen Seinszustand identisch mit der Existenz im Sinne existentieller Entfremdung des endlichen Seins vom essentiellen Seinszustand. In diesem Sinne stellt es auch die Zerstörung essentiellen Seins dar.272 Zurecht schreibt Glöckner: „Endliches Sein, sofern es aktuell ist, ist in zweideutiger Weise von essentiell-schöpferischen und von existentiell-zerstörerischen Kräften geprägt. Die Kategorie, mit der Tillich die Aktualität in dieser zweiten, Essenz und Existenz zugleich umfassenden Weise beschreibt, ist der Begriff ,Leben‘.“273 So bezeichnet Tillich, ausgehend von aristotelischen Gedanken, das Leben als „Aktualisierung des Seins“274. Dieser ontologische Begriff des Lebens ist grundlegend für den Machtbegriff Tillichs, der im Anschluss an Nietzsche Sein und Leben als dynamisches Machtverhältnis versteht.275

1.2.5 Die Kategorien der Endlichkeit: Zeit, Raum, Kausalität und Substanz276 In der vierten Schicht seiner Ontologie befasst sich Tillich mit den Kategorien, die er als „Grundformen des Denkens und des Seins“277 bezeichnet. Es sind die Formen, in denen der menschliche Geist dem Gegebenen begegnet und es vernünftig

|| 269 „Im Zustand der Entfremdung geht die Teilnahme an der Macht des Seins-Selbst verloren.“ (ST II 78) 270 „Alles Aktuelle steht heraus aus der Potentialität, aber es bleibt auch darin. Niemals läßt es seine Macht des Seins völlig in den Zustand der Existenz hineinströmen.“ (ST II 27) 271 K. Glöckner, Personsein als Telos der Schöpfung. Eine Darstellung der Theologie Paul Tillichs aus der Perspektive seines Verständnisses des Menschen als Person, Münster 2005, 40. 272 Vgl. ST II 69. 273 K. Glöckner, Personsein als Telos der Schöpfung. Eine Darstellung der Theologie Paul Tillichs aus der Perspektive seines Verständnisses des Menschen als Person, Münster 2005, 41f. 274 ST III 21. 275 Vgl. GW XI 166; GW IX 208. 276 Vgl. C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich (= Tillich-Studien 22), Münster 2010, 190ff. 277 ST I 196.

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erfasst. Als Formen des Denkens bzw. Sprechens278 sind sie Ausdruck eines notwendigen Elements in unserer Bewusstseinsstruktur. Als Formen des Seins weisen sie auf ein notwendiges Element in der Wirklichkeitsstruktur hin.279 Somit sind die Kategorien für Tillich Ausdruck der „Begegnung von Bewußtsein und Wirklichkeit […]. Kategorien beschreiben die Strukturen des Wirklichen sowohl in subjektiver als auch in objektiver Beziehung.“280 Die Beziehung bzw. die Begegnung zwischen unserem Bewusstsein und der Wirklichkeit nennt Tillich auch „Erfahrung“, und er definiert folglich die Kategorien als „diejenigen Strukturen […], die Erfahrung konstituieren“281. Tillich macht in diesem Zusammenhang im Anschluss an Kant darauf aufmerksam, dass Kategorien apriorischer Natur sind, d.h. sie sind Ausdruck der Strukturen, die jeder Erfahrung als Voraussetzung zugrundliegen und zugleich von ihr abhängig und in der sie immer gegenwärtig sind.282 Im Gegensatz zu Kant sind die Kategorien für Tillich aber immer auch Ausdruck der Strukturen der Wirklichkeit.283 Tillich unterscheidet dabei die kategorialen Formen von den logischen Formen. Während für ihn die letzteren formal sind, indem sie nur die Rede bestimmen und somit auf die Wirklichkeit nur indirekt bezogen sind, bestimmen die Kategorien das Gegebene inhaltlich.284 Diese Unterscheidung hat aber für Tillich keinen endgültigen Charakter, zumal jede Logik als Form der Rede nur einen Sinn bekommt, wenn sie im Sein verwurzelt ist.285 Es wurde darauf hingewiesen, dass der menschliche Geist dazu fähig ist, die Erfahrungswirklichkeit zu transzendieren. Allerdings bleibt die Erfahrung an den Menschen gebunden, insofern er endlich ist. „Der Mensch erfährt die Endlichkeit

|| 278 Vgl. ST I 225. 279 Vgl. EW XVI 108. 280 Ebd. 281 Ebd. 282 Vgl. EW XVI 109: „Sagte ich mit Kant, dass die Kategorien a priori sind‚ so bedeutet das, dass die Kategorien Strukturen ausdrücken, die in jeder Erfahrung gegenwärtig sind als Voraussetzung der Erfahrung‚ in der die Erfahrung sich selbst erfährt.“ 283 Vgl. W. Schüßler, Die Vernunft und die Frage nach der Offenbarung, in: C. Danz (Hg.), Paul Tillichs „Systematische Theologie“. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar, Berlin / Boston 2017, 35–64, hier 39–49. 284 Vgl. ST I 25. 285 Der „Doppelsinn des Wortes ‚Kategorie‘ bewirkt, dass Kategorien unterschieden werden müssen von logischen Regeln, aber auch diese Unterscheidung ist nicht letztlich, denn eine Logik, die nicht der Ausdruck einer Wirklichkeitsstruktur ist, ist ein willkürliches Spiel mit willkürlich gesuchten Elementen der Wirklichkeit und nicht ein Spiegelbild des Verhältnisses von Rede und Realität […]. In anderen Worten: Auch die logischen und semantischen Analysen, d.h. Sprachanalysen, müssen schließlich auf die ontologische Wurzel führen, d.h. auf das Sein, das diese Art Rede sinnvoll macht, wenn wir die Wirklichkeit im Wort greifen wollen.“ (EW XVI 109)

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als Grenze seines Denkens, das Tillich in Anlehnung an Kant von kategorialen Formen bestimmt sieht.“286 So sind die „Kategorien […] Formen der Endlichkeit“287. Sie partizipieren „am Wesen der Endlichkeit“ und können „Strukturen des endlichen Seins“288 genannt werden. Als solche haben sie zugleich Beziehung zum Sein und zum Nichtsein. Durch diese doppelte Beziehung „enthüllen die Kategorien ihren ontologischen Charakter“289. Bekanntlich bezeichnet Tillich Endlichkeit, die sich ihrer selbst gewahr wird, strukturell als Angst.290 Wie wir sahen, kann diese ontologische Angst, d.h. die „Angst vor dem letzten Nichtsein“291, nach Tillich nicht überwunden werden. Sie kann nur in einen Akt des Mutes hineingenommen werden. Dieser Mut wurzelt in der Selbstbejahung des Seins und ist gleich ursprünglich wie die Angst.292 Mit Hilfe der Kategorien versucht nun Tillich, die Qualität von Angst und Mut zu verdeutlichen.293 Die kategorialen Formen, so hat sich gezeigt, sind nach Tillich somit einerseits „von außen“ bzw. „in Beziehung zur Welt“ betrachtet Ausdruck der Einheit von Sein und Nichtsein und anderseits „von innen“ bzw. in „Beziehung zum Selbst“ betrachtet Ausdruck der Einheit von Angst und Mut.294 So versucht Tillich, die ontologische Qualität der Kategorien in ihrer Beziehung zur Welt und zum Selbst aufzuzeigen.295 Ohne jedoch eine Systematisierung oder auch eine Vollständigkeit der Kategorien entwickeln zu wollen,296 greift er vier Kategorien heraus, die für seine weiteren Überlegungen wichtig sind. Mit ihnen versucht er, die || 286 A. Horstmann-Schneider, Sein und menschliche Existenz: Zu Tillichs philosophischer Anthropologie im Horizont von Theologie und Humanwissenschaft, Würzburg 1995, 53; vgl. auch GW XIII 482f. 287 ST I 226. 288 ST I 196. 289 ST I 226. 290 Vgl. GW IV 161. 291 ST I 224. 292 Vgl. EW XVI 117. 293 Vgl. A. Horstmann-Schneider, Sein und menschliche Existenz: Zu Tillichs philosophischer Anthropologie im Horizont von Theologie und Humanwissenschaft, Würzburg 1995, 54. 294 „Wenn wir die vier Hauptkategorien behandeln – Zeit, Raum, Kausalität, Substanz –, müssen wir in jedem Fall nicht nur das positive und negative Element ,von außen‘, nämlich in Beziehung zur Welt, betrachten, sondern müssen sie auch ,von innen‘, nämlich in Beziehung zum Selbst, betrachten. Jede Kategorie drückt nicht nur eine Einheit von Sein und Nichtsein, sondern auch eine Einheit von Angst und Mut aus.“ (ST I 226) 295 Vgl. EW XVI 110. 296 Solch ein Unternehmen blieb bisher ohne Erfolg, angefangen bei Aristoteles, der den Begriff der Kategorie in die philosophische Diskussion eingeführt und zehn Kategorien aufgezählt hat und dessen Kategorienlehre bis in die Neuzeit vertreten wurde (vgl. H. M. Baumgartner u.a., Art.: Kategorie, Kategorienlehre, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter / K.

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Identität von Sein und Nichtsein, von Angst und Mut aufzuweisen. Es sind dies die Kategorien Zeit, Raum, Kausalität und Substanz. Die erste und zentrale kategoriale Form der Endlichkeit ist Tillich zufolge die Zeit. Die Zeitkategorie, wie alle anderen Kategorien auch, drückt zugleich einen positiven (das Sein) und einen negativen Aspekt (das Nichtsein) aus. Dementsprechend wird sie in der philosophischen Tradition unterschiedlich erfasst. Während die einen im Anschluss an Heraklit297 den vergänglichen Charakter der Zeit in den Vordergrund ihrer Zeitanalyse stellen und die Gegenwart für illusorisch halten,298 betonen die anderen den „schöpferischen Charakter des Zeitprozesses“, das „Neue, das in ihm ,gezeitigt‘ wird“299. Zwischen diesen beiden konträren Zeitanalysen versucht Tillich, ein ontologisches Gleichgewicht herzustellen. Denn in der Zeit begegnet etwas, das aus ihrem Begriff nicht abgezogen werden kann. Tillich spricht in diesem Zusammenhang von dem „Ewigen in der Zeit“ bzw. von dem „ewigen Jetzt“300. So kann ihm zufolge „eine Entscheidung hinsichtlich des Sinnes der Zeit“ nicht „aus einer Analyse der Zeit“301 abgeleitet werden. Weit davon entfernt, ein „Flussbett“ zu sein, in dem sich die Dinge fortbewegen, steht die Zeit für Tillich polar zu den Strukturen des Seienden. Die Angst, die von der Zeitlichkeit hinsichtlich der Vergänglichkeit verursacht wird, ist nämlich nach Tillich ontologischer Natur.302 Sie „wurzelt in der Seinsstruktur und nicht in einer Verzerrung dieser Struktur“ und enthüllt „den ontologischen Charakter der Zeit“303. Es ist die „Angst des Sterbenmüssens“, die „potentiell gegenwärtig in jedem Augenblick“304 ist. So hält Tillich jenen Denkern, die negativ

|| Gründer, Bd. 4, Basel 1976, Sp. 714–725), über Kant, der eine Neufassung des Kategorienbegriffs unternahm (vgl. ebd., Sp. 727ff.), bis hin zu Nicolai Hartmann, dessen Kategorienlehre „in bisher einzigartiger Weise die gesamte philosophische Tradition des Kategorien-Problems in ihre Erörterungen mit aufnimmt“ (ebd., Sp. 762), da „die Begegnung mit der Wirklichkeit in sich unendlich ist und unendlich neue Voraussetzungen sichtbar macht und unendlich kritisch diese Voraussetzungen von den Inhalten der Erfahrung scheiden muss“ (EW XVI 109). 297 Vgl. EW XVI 114. 298 „Sie [sc. einige Philosophen] weisen hin auf die Bewegung der Zeit aus einer Vergangenheit, die nicht mehr ist, auf eine Zukunft, die noch nicht ist, durch eine Gegenwart, die nichts ist als die sich verschiebende Grenzlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft.“ (ST I 226) 299 ST I 226. 300 EW XVI 115. 301 ST I 226. 302 Tillich spricht vom „melancholischen Gewahrwerden der Richtung des Seins zum Nichtsein“, und diese „gehört zum geschöpflichen Charakter des Seins und ist keine Folge der Entfremdung“ (ST I 227). 303 ST I 227. 304 Ebd.

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den vorübergehenden Charakter der Zeit betonen, entgegen, dass Sein „gegenwärtig sein“ bedeutet. Und er fährt fort: „Aber wenn die Gegenwart eine Illusion ist, dann wird das Sein vom Nichtsein besiegt.“305 Das ist aber für Tillich unmöglich, denn das Sein geht dem Nichtsein voraus und schließt es mit ein. Auch gegenüber der positiven Auffassung der Zeit gibt Tillich zu bedenken, „daß das Neue alt wird und verschwindet und die schöpferische Entwicklung in jedem Augenblick von zerstörerischem Verfall begleitet ist“306. Folglich soll ihm zufolge die ontologische Angst, die den vergänglichen Charakter der Zeit erzeugt, durch die mutige Selbstbejahung der Gegenwart ertragen werden. „Diese Angst, die von unserer Zeitlichkeit verursacht ist, kann nur ertragen werden, weil sie ausgeglichen wird durch den Mut, der die Zeitlichkeit bejaht.“307 Gegenwart bejahen, geschieht nach Tillich nur im Raum308 und damit ist die zweite Kategorie genannt, mit der sich Tillich befasst. Wie die Zeit vereint auch der Raum, als Kategorie der Endlichkeit, „Sein mit Nichtsein, Angst mit Mut“309. Sein bedeutet nämlich für Tillich „Raum haben“ und „keinen Raum haben heißt: nicht sein“. So strebt jedes Sein danach, Raum für sich zu schaffen, und dieses „Streben nach Raum“ ist Tillich zufolge ontologisch, folglich auch eine „Wesensquälität des Menschen“310. Das Streben nach Raum ist aber auch ontischer Natur, und als solches hängt es von bestimmten zeitlichen und psychologischen Bedingungen ab, die einen endgültigen Raum unmöglich machen.311 Da sich also kein endliches Sein einen endgültigen Raum verschaffen kann, ist die Raumkategorie immer auch schon vom Nichtsein bedroht. „Endlichkeit heißt: keinen bestimmten Ort haben, es heißt: jeden Ort

|| 305 ST I 226. Weiter heißt es dazu: „Es ist unmöglich, die Gegenwart eine Illusion zu nennen, denn nur in der Macht einer erfahrenen Gegenwart können Vergangenheit und Zukunft und die Bewegung von der einen zur anderen gemessen werden.“ (Ebd.) 306 Ebd. 307 ST I 227; vgl. auch EW XVI 116f. 308 In einer 1933 gehaltenen Rede mit dem Titel „Das Wohnen, der Raum und die Zeit“ (vgl. GW IX 328–332) schreibt Tillich: „Die Zeit gewinnt Gegenwart nur im Raum, Gegenwart ist der raumnahe Modus der Zeit. In der Gegenwart, und nur in der Gegenwart, einen sich Raum und Zeit.“ (GW IX 331) Ähnlich argumentiert er in seinem Beitrag „Der Widerstand von Zeit und Raum“ von 1959, wo er Zeit und Raum als „Hauptstrukturen der Existenz bezeichnet“, denen alles Endliche unterworfen ist. „Raum und Zeit sind die Mächte der Existenz schlechthin […]. Raum und Zeit gehören zusammen: nur durch den Raum können wir die Zeit und nur innerhalb der Zeit den Raum messen.“ (GW VI 140; vgl. EW XVI 117f.) 309 ST I 228. 310 Ebd. 311 Vgl. EW XVI 124f.

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schließlich verlieren und damit sein Sein verlieren.“312 Es heißt letztlich „Unsicherheit“, eine Unsicherheit, die Angst erzeugt.313 Um Sicherheit zu gewinnen, muss der Mensch die ontologische Unsicherheit auf sich nehmen.314 So „ist die Angst des Menschen, seinen Raum zu verlieren, durch den Mut ausgeglichen, mit dem er die Gegenwart bejaht und mit ihr den Raum“315. Auch die Kausalität, wie Zeit und Raum, ist nach Tillich zweideutig. „Es ist die Bejahung der Macht des Seins und es ist die Bejahung der Ohnmacht des Seins“316. Sie bringt auch die Einheit von Sein und Nichtsein einerseits und die

|| 312 ST I 228. 313 In diesem Sinne ist die Nähe des Begriffs der „Unsicherheit“ bei Tillich zu dem der „Ungesichertheit“ bzw. der insecuritas bei Peter Wust offensichtlich. Bekanntlich ist die zentrale Frage der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts (nicht zuletzt aufgrund der Evolutionslehre Darwins und der zunehmenden Bedeutung der „exakten“ Naturwissenschaften wie der Mathematik) sowie der modernen Existenzphilosophie (besonders angesichts der kulturellen und gesellschaftlichen Krisenstimmung aufgrund der Kriegserlebnisse und Massenvernichtungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wobei die „Krise“ nicht nur als Phänomen der Epoche, sondern grundsätzlich symptomatisch für die Fragilität des menschlichen Daseins steht. Vgl. dazu M. Röbel, Staunen und Ehrfurcht. Eine werkgeschichtliche Untersuchung zum philosophischen Denken Peter Wusts [= Edition Peter Wust. Schriftenreihe der Peter-Wust-Gesellschaft, hg. v. H. Hoffmann / W. Schüßler, Bd. 3], Berlin 2009, 82ff.) die Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht. Für Wust macht nicht die „exzentrische Positionalität“ oder die „Unergründlichkeit“ (Plessner) oder die „Weltoffenheit“ (Scheler) die Sonderstellung des Menschen aus, sondern die „insecuritas“. In seinem Hauptwerk „Ungewißheit und Wagnis“ von 1937 (vgl. P. Wust, Ungewißheit und Wagnis, neu hg. im Auftrag der Peter-Wust-Gesellschaft v. W. Schüßler / F. W. Veauthier. Einleitung und Anmerkungen von W. Schüßler [= Edition Peter Wust. Schriftenreihe der Peter-Wust-Gesellschaft, hg. v. H. Hoffmann / W. Schüßler, Bd. 1], Berlin 42014) geht Wust von der unaufhebbaren Polarität von „Geborgenheit“ und „Ungeborgenheit“ im menschlichen Leben aus und versucht, die grundlegende anthropologische These zu überprüfen, die den Menschen als animal insecurum bestimmt. (Vgl. W. Schüßler, „Geborgen in der Ungeborgenheit.“ Einführung in Leben und Werk des Philosophen Peter Wust [1884–1940] [= Edition Peter Wust. Schriftenreihe der Peter-Wust-Gesellschaft. Abt. Beihefte, hg. v. H. Hoffmann / W. Schüßler, Bd. 2], Münster 2008, 53ff.) Zum Wesen des Menschen gehört die „insecuritas“, die bleibende Ungewißheit in der Gewißheit. (Vgl. P. Wust, Ungewißheit und Wagnis, neu hg. im Auftrag der Peter-Wust-Gesellschaft v. W. Schüßler / F. W. Veauthier. Einleitung und Anmerkungen von W. Schüßler [= Edition Peter Wust. Schriftenreihe der Peter-Wust-Gesellschaft, hg. v. H. Hoffmann / W. Schüßler, Bd. 1], Berlin 42014, 43ff.) Die „Ungewißheit“ wird dabei nicht grundsätzlich negativ gedeutet. Im Gegenteil: Sie macht den Menschen menschlich und ist Voraussetzung der menschlichen Freiheit. 314 „Er akzeptiert diese Unsicherheit, und die einzige Sicherung, die er gewinnt, ist, dass er die Unsicherheit akzeptiert.“ (EW XVI 125) 315 ST I 229. 316 EW XVI 132.

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Einheit von Angst und Mut andererseits zum Ausdruck. Dies bestimmt Tillich näherhin durch den Begriff der Kontingenz. Etwas kausal erklären, heißt nämlich nach Tillich, seine Realität zu bejahen und die „Macht seines Widerstandes gegen das Nichtsein“317 aufzuzeigen. „Wenn wir auf Ursachen sehen, dann sehen wir auf die Macht, die ein Ding hat zu sein. Das ist die affirmative Bedeutung der Kausalität.“318 Das heißt aber auch, dass das Endliche keine „Aseität“319 bzw. „keine eigene Macht besitzt, ins Sein zu kommen“320. Bezugnehmend auf den Begriff der „Geworfenheit“ bei Heidegger schreibt Tillich: „Endliche Dinge sind nicht selbstverursacht, sie sind ins Sein ,geworfen‘“321. Theologisch gewendet ist der Mensch ein Geschöpf.322 Denn er könnte auch nicht sein, d.h. er ist nicht notwendig, sondern kontingent. Er „hat ein Element letzter Zufälligkeit in sich“323. Kausalität drückt also die Unfähigkeit jedes Dings aus, eigene Ursache zu sein; sie ist der „Abgrund des Nichtseins“ in jedem endlichen Ding. Man wird dieser Situation gewahr in Form der Angst hinsichtlich der „Nichtnotwendigkeit des Seins“324. Auch hier geht es Tillich zufolge nur um das mutige Auf-sich-Nehmen der Angst, die durch unsere Kontingenz erzeugt wird. „Courage accepts derivedness. […] Courage ignores the causal dependence of everything finite.“325 Denn ohne dieses mutige Auf-sich-Nehmen unserer kausalen Abhängigkeit ist kein Leben möglich.326 Die vierte Kategorie, die wie Zeit, Raum und Kausalität die Verflochtenheit von Sein und Nichtsein in allem Endlichen deutlich macht, ist nach Tillich die Kategorie der Substanz. Ihre Untersuchung ist die Hauptaufgabe der Metaphysik.327 In der phi-

|| 317 ST I 229. 318 EW XVI 132. 319 D.h. kein „Durch-sich-selbst-Sein“ (EW XVI 134). 320 ST I 229. Vgl. auch EW XVI 132. 321 ST I 229. 322 Vgl. ST I 230. 323 EW XVI 134. 324 Ebd. 325 P. Tillich, Systematic Theology, Bd. I, Chicago 1951, 197. Die englische Auflage ist hier vorzuziehen, weil die deutsche Übersetzung zur Fehlinterpretation führen kann. Dort heißt es: „Der Mut nimmt die ,Geworfenheit‘, die Kontingenz auf sich. […] Der Mut überwindet die Angst über die kausale Abhängigkeit alles Endlichen.“ (ST I 230) Das Verb „überwinden“ ist hier nämlich irreführend, zumal die ontologische Angst Tillich zufolge nicht überwunden werden kann. „Kein endliches Wesen kann seine Angst überwinden.“ (EW XVI 102) 326 Vgl. EW XVI 134; ST I 230. 327 „In Anlehnung an Aristoteles schreibt Thomas, daß die Hauptaufgabe (principalis intentio) der Metaphysik die Untersuchung der Substanz ist.“ (L. J. Elders, Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive, Tl. 1: Das ens commune, Salzburg 1985, 193)

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losophischen Tradition wird der Begriff der Substanz in verschiedenen Bedeutungen gebraucht. Während Substanz z.B. bei Aristoteles „das von sich her bestehende Ding“ (quasi per se subsistens)328 oder bei Thomas von Aquin „das Seindurch-sich“ (esse per se)329 bedeutet, das „zum tragenden Zentrum der Wirklichkeit“330 gemacht wird, wird sie von anderen wie z.B. den Prozessphilosophen unter dem Einfluss von Locke und Hume abgelehnt, da ihnen zufolge Substanz kein Erfahrungsgegenstand sein kann.331 Diese Ablehnung des Substanzbegriff wirkt, worauf Tillich aufmerksam macht, bis in die moderne Wissenschaft hinein,332 und hier ist besonders die Psychologie zu nennen.333 Gegenüber der Prozessphilosophie lenkt Tillich den Blick auf das, was jedem Prozess zugrunde liegt und sich dabei jeder Veränderung widersetzt. „Immer muss man fragen: Was ist das, das im Wechsel bleibt, so dass der Wechsel als Wechsel gemessen werden kann? Ohne relativen Nicht-Wechsel könnte das ja nicht geschehen. In dem Sinne muss man sagen, dass Substanz eine Kategorie ist, die in der Begegnung von Geist und Wirklichkeit immer da ist.“334 Dieses Zitat weist darauf hin, dass Tillich die Substanz als etwas versteht, das relativ unwandelbar und Grund der Wirklichkeit ist. „Im Gegensatz zur Kausalität weist Substanz auf etwas, das dem Fluß der Erscheinung zugrunde liegt, etwas, das relativ statisch und in sich selbst gegründet ist.“335 Als solche ist sie aber nicht unserer sinnlichen Wahrnehmung zugänglich. Sie „ist kein Ding, das man vorfinden kann, sondern die Möglichkeit, dass es || 328 Vgl. ebd., 196. 329 Vgl. ebd. 330 Ebd. 331 Vgl. EW XVI 135. Vgl. auch hierzu die Ausführungen von Leo Elders: „Während Locke noch bereit ist zuzugeben, daß es so etwas wie eine Substanz geben muß, um die verschiedenen Eigenschaften, die wir wahrnehmen, zusammenzubinden und zu tragen, lehnt Hume dieses Substrat ab und akzeptiert nur ,eine Zusammenstellung und Aufeinanderfolge von sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten in der Zeit.‘“ (L. J. Elders, Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive, Tl. 1: Das ens commune, Salzburg 1985, 198) 332 Hierzu schreibt Leo Elders: „Man hat häufig den folgenden Einwand gegen den Substanzbegriff vorgebracht: das sogenannte Sein von sich her, das der Substanz eigen sein soll, hat keinen Wert und keine Bedeutung in der Naturwissenschaft, die die Dinge als aufeinander bezogen und damit als ein System von Relationen betrachtet. – Die Antwort auf diesen Einwand ist aber eindeutig: es ist tatsächlich richtig, daß einige Aspekte der physischen Dinge diesen Charakter der Beziehung aufweisen, wie etwa die Energie, aber ontologisch müssen von sich her seiende Subjekte bestehen, denen die oben erwähnten Beziehungen zukommen, auch wenn dieses Seindurch-sich in der Physik keine Bedeutung hat.“ (Ebd., 201) 333 Hiernach besitzt die Seele keinen Substanzcharakter, sondern besteht nur aus Funktionen und Prozessen (vgl. EW XVI 135). 334 EW XVI 136. 335 ST I 230; vgl. auch EW XVI 135.

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Dinge gibt“336. Sie „ist die Struktur des Seins, die ein Ding möglich macht, was ihm tatsächlich eine gewisse Gleichheit erhält“337. Da sie in der Begegnung von Geist und Wirklichkeit immer gegenwärtig ist, wird die Substanz in gewissem Sinne „miterfahren“ in den Akzidentien bzw. den zufallenden Bestimmungen,338 die nach Tillich zur Substanz gehören und nur in und durch die Substanz bestehen und erkannt werden können. Die Substanz wird z.B. in der Farbe, die wir sehen, miterfahren, denn es „gibt kein Grün an sich, sondern nur Grün an etwas, das dann diese Substanz ist“339. Besteht die Substanz auch von sich aus und aus sich, so ist sie nach Tillich doch nichts ohne die Akzidentien, in denen sie Ausdruck findet. Aber gleichzeitig erhalten die Akzidentien ihren ontologischen Charakter nur durch die Substanz, von der sie getragen sind. Zurecht schreibt Tillich: „Substanz hat Nichtsein ohne Akzidentien, Akzidentien haben Nichtsein ohne Substanz.“340 Damit ist die Substanz als Kategorie der Endlichkeit gekennzeichnet. Die Substanz ist nämlich, wie die anderen Kategorien auch, eine Mischung von Sein und Nichtsein.341 Als solche ist sie, von innen her betrachtet, „Angst und Mut in Balance“342. Es geht um die Angst, durch den beständigen Charakter des Wechsels die Identität mit sich selbst zu verlieren, und um die Macht, das eigene Selbst zu erhalten, sei es als Einzelner oder als Gruppe.343 Denn „die veränderliche Realität entbehrt der Substantialität, der Seinsmächtigkeit, des Widerstandes gegen das Nichtsein“344. Diese Angst, die ihren Ausdruck in der Frage nach dem Unwandelbaren in unserem Sein und im Sein-Selbst findet, erreicht nach Tillich „ihre radikalste Form in der Vorwegnahme des endgültigen Verlustes der Substanz und damit auch der Akzidentien“345. Auch hier gibt es Tillich zufolge keinen anderen Weg, die Angst zu bewältigen, als den der mutigen Bejahung des Endli-

|| 336 EW XVI 136. 337 Ebd. 338 Vgl. L. J. Elders, Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive, Tl. 1: Das ens commune, Salzburg 1985, 196 u. 201. 339 EW XVI 135. 340 Ebd. 341 Vgl. ST I 230; EW XVI 135f. 342 EW XVI 136; vgl. auch 139. 343 „In allen großen Wandlungen des persönlichen und sozialen Lebens, die eine Art von individuellem oder sozialem Schwindel erzeugen, zeigt sich ein Gefühl dafür, daß der Grund, auf dem die Person oder die Gruppe stand, schwindet, daß die Identität der Gruppe oder des Selbst im Schwinden ist.“ (ST I 231) 344 ST I 231. 345 Ebd.

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chen, in dem man seine eigene Angst auf sich nimmt. „Der Mut nimmt die Drohung auf sich, die individuelle Substanz und die Substanz des Seins im allgemeinen zu verlieren.“346 Aus den obigen Darlegungen ergibt sich, dass Ontologie „jene Strukturen, Kategorien und Begriffe erforscht, die beim erkennenden Begegnen mit jedem Bereich der Wirklichkeit vorausgesetzt werden“347. Dabei hat die Ontologie den Schichten entsprechend eine vierfache Aufgabe. Erstens die der Analyse der Grundstruktur des Seins und ihrer Bestimmung durch die Polarität von Selbst und Welt bzw. Subjekt und Objekt. Zweitens die einer Untersuchung der ontologischen Elemente, die diese polare Struktur konstituieren – Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal. Drittens die einer Untersuchung der Charakteristika des existierenden Seins – Sein und Nichtsein, Endlichkeit und Unendlichkeit, Essenz und Existenz. Viertens die der Analyse der Kategorien des Seins, die gleichzeitig Bedingungen der Erkenntnis des Seins sind – Zeit, Raum, Kausalität, Substanz.348 Ob die Ausführungen Tillichs zu dieser von ihm herausgearbeiteten inneren Gliederung seiner Ontologie überzeugend sind, dazu kann man geteilter Meinung sein. Für Murmann ist die innere Gliederung der Ontologie Tillichs349 mithilfe verschiedener Begriffs-„Schichten“ nicht überzeugend, da es ihm letztlich nicht gelinge, „die verschiedenen Begriffsebenen in ein klares Verhältnis zueinander zu setzen. Dieses ist nur hinsichtlich der Grundstruktur und der diese Grundstruktur konstituierende Elemente beschrieben. Wie sich aber die Charakteristika des Seins zu den Kategorien des Seins und des Erkennens verhalten, und wie beide zur Grundstruktur gehören oder dieser entspringen, wird von Tillich nicht näher erläutert.“350 Anjuta Horstmann-Schneider meint ihrerseits, dass die kategoriale Analyse Tillichs zur Demonstration der ontologischen Elemente Angst und Mut nur für die Kategorie der Zeit gelingt. Der Aufweis des negativen Elementes bei den anderen Kategorien sei nicht schlüssig.351 Demgegenüber sind wir davon überzeugt, dass Tillichs Ontologie ein starkes Erklärungspotential aufweist – und das besonders in Bezug auf den Begriff der Macht. Und wie Tillich

|| 346 Ebd.; vgl. EW XVI 138. 347 ST I 26. 348 Vgl. U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 122. 349 Vgl. ST I 199–238. 350 U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart / Berlin / Köln 2000, 122 Anm. 224. 351 Vgl. A. Horstmann-Schneider, Sein und menschliche Existenz: Zu Tillichs philosophischer Anthropologie im Horizont von Theologie und Humanwissenschaft, Würzburg 1995, 54f.

256 | Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich

selbst meint, bemisst sich der Wert einer Ontologie danach, wieviel Erklärungspotential sie besitzt. Bereits am Ende jeder kategorialen Analyse, wo herausgestellt wird, dass Sein und Nichtsein, Angst und Mut in Balance sind, stellt Tillich die Frage, wie solch ein Mut möglich ist, der die Angst bzw. die Bedrohung des Nichtseins ertragen kann. „Wieso verliert in der Balance von Angst und Mut nicht der Mut gegen die Angst, wo doch der Prozess der Endlichkeit notwendig zu einem Punkt führt, wo das Nichtsein über das Sein triumphiert?“352 Diese Frage führt nach Tillich zu der Frage nach dem Sein-Selbst als dem Grund allen Mutes.353 Das bedeutet, dass die Ontologie letztlich nicht auf Schichten zielt, sondern auf den Grund aller Schichten, auf das Sein-Selbst bzw. auf die Macht des Seins in allem, was ist. „Bei unserer Suche nach dem ,wirklich Wirklichen‘ werden wir von einer Schicht zur anderen getrieben bis zu einem Punkt, wo man überhaupt nicht mehr von Schicht sprechen, wo wir nach dem fragen müssen, was der Grund aller Schichten ist – der Grund, der ihnen Struktur und Macht zu sein gibt. Das Suchen nach letzter Wirklichkeit jenseits von allem Seienden, das wirklich zu sein scheint, ist das Suchen nach dem Sein-Selbst, nach der Macht des Seins in allem, was ist.“354 Wenn Ontologie nicht auf Schichten zielt, sondern auf das Sein-Selbst bzw. auf die Macht des Seins in allem, was ist, dann stellt sich die Frage, ob die Ontologie in der Lage ist, das Sein-Selbst zu erreichen. Oder anders formuliert: Kann man „etwas Grundlegenderes über das Sein sagen, als nur die Kategorien und Polaritäten herauszuarbeiten, die seine Struktur bestimmen“355? Damit stoßen wir auf die ontologische Bestimmung der Macht bei Tillich.

2 Tillichs Ontologie der Macht Zum ontologischen Machtbegriff Tillichs356 sind zwei Aussagen von zentraler Bedeutung: Dass Sein und Macht konvertible Begriffe sind und dass die Seinsmächtigkeit eines Wesens sich in der Begegnung mit anderen Seinsmächtigkeiten zeigt

|| 352 EW XVI 139; vgl. ST I 232. 353 Vgl. EW XVI 125, 135, 139f. 354 GW V 145. 355 GW XI 165. 356 Die wichtigsten Beiträge zur Ontologie der Macht bei Tillich verdanken wir Werner Schüßler. Vgl. ders., Macht und Gewalt. Versuch einer philosophisch-theologischen Annäherung, in: Ders. / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 11–37; ders., Zwang – das „fremde Werk“ der Liebe. Zu Paul Tillichs Ontologie der Macht, Gerechtigkeit und Liebe, in: J.-P. Ernst /

2 Tillichs Ontologie der Macht | 257

und verwirklicht.357 Die hier angestellten Machtbetrachtungen stützen sich auf die Ergebnisse der vorstehenden ontologischen Schlüsselmotive, ohne deren Beweisführung zu wiederholen.

2.1 Sein ist Macht Auf die Frage, ob man nicht etwas Grundlegenderes über das Sein sagen kann, als nur die seine Struktur bestimmenden Kategorien und Polaritäten hervorzuheben, ist Tillichs Antwort zweifacher Natur: zunächst ein Nein, und damit bringt er das uralte ontologische Problem der Undefinierbarkeit des Seins zum Ausdruck. Und dann ein Ja, und damit ist sein entscheidender Befund über das Problem der Macht, nicht zuletzt in Anlehnung an die Lebensphilosophie Nietzsches, zum Ausdruck gebracht: „Sein […] ist die Macht zu sein.“358

|| M. Kehl / M. Thal / D. Groß (Hg.), Medizin – Zwang – Gesellschaft (= Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart, hg. von D. Groß), Berlin 2012, 19–34; ders., „Die Schwierigkeit, ein Mensch zu sein“. Philosophisch-theologische Überlegungen zum Wesen der Macht, in: Trierer Theologische Zeitschrift 106/2 (1997) 117–132; ders., Macht – Existential menschlichen Seins, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 140/1 (1992) 48–61; ders., Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs. Renate Albrecht zum 80. Geburtstag, in: Zeitschrift für katholische Theologie 111/1 (1989) 1–25 (auch in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs [= Tillich-Studien, Bd. 1], Münster 42015, 201–230); ders., Le pouvoir, existential de l’être humain, in: Laval théologique et philosophique 47/1 (1991) 23–37; ders., Power and the Human Condition. Philosophico-Theological Reflections on the Nature of Power According to Tillich, Jaspers, and Rahner, in: C. Danz / W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Religion und Politik (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 4), Wien / Berlin 2009, 111–124; vgl. darüber hinaus auch N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52; E. Sturm, Macht und Gewalt im politischen Denken Paul Tillichs, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 53–86, hier 78ff. 357 Hierzu schreibt Werner Schüßler: „Zwei grundlegende Aussagen macht die Ontologie über die Macht. Erstens: Sein und Macht sind konvertible, also austauschbare Begriffe; und zweitens: Die Mächtigkeit der Dinge ist die Urform des Begegnens.“ (Ders., Macht und Gewalt. Versuch einer philosophisch-theologischen Annäherung, in: Ders., / E. Sturm [Hg.], Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich [= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5], Münster 2005, 11–37, hier 17) 358 GW IX 207; GW XI 166.

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2.1.1 Von der Undefinierbarkeit des Seins „Philosophie begann mit der Frage: Was ist?“359 Diese Frage nach dem Wesen des Seins, die Urfrage der Philosophie, hat alle Philosophen beschäftigt. „Was ist […] das eigentliche Sein, das heißt das Sein, das alles zusammenhält, allem zugrunde liegt, aus dem alles, was ist, hervorgeht?“360, fragt Jaspers und macht darauf aufmerksam, dass trotz vieler Versuche in der Geschichte der Philosophie, diese Frage zu beantworten,361 keiner es vermag, eine befriedigende Antwort zu geben. „In allen Fällen wurde die Antwort auf die Frage, was eigentlich das Sein sei, gegeben durch Hinweis auf ein in der Welt vorkommendes Seiendes“362. Jeder Versuch sagt zwar „etwas Wahres“ aus über ein bestimmtes Seiendes, über eine ganz besondere Realität der Welt. Aber alles Seiende in der Erkenntnis ist „Sein-für-uns“ und nicht „Sein-an-sich“363. Aus diesem Grund beschreibt Jaspers das Sein als „das Umgreifende“364, und er deutet damit an, dass das Sein sich der Subjekt-Objekt-Spaltung entzieht und nicht als ein mir gegenüberstehendes Objekt erfasst werden kann. In seiner Schrift „Sein und Zeit“ hebt Martin Heidegger diese Unmöglichkeit, das Sein zu definieren, hervor, auch wenn das „Sein“ der selbstverständlichste Begriff zu sein scheint, wie es in jeder Rede der Art „Das ist so und so“ deutlich wird und als verstanden vorausgesetzt wird. „Das ontisch Nächste und Bekannte“, sagt Heidegger, „ist das ontologisch Fernste, Unbekannte“365. Damit bringt er zum Ausdruck, dass das, „was wir durchschaut zu haben glauben in unserer alltäglichen Rede […], doch der schwierigste Gegenstand für unser nachdenkliches Fragen“366 ist. In ähnlicher Weise sieht Maurice Merleau-Ponty

|| 359 K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 24. 360 Ebd. 361 Mögliche Antworten lauteten: Alles ist Wasser oder aus Wasser (Thales) oder Feuer oder Luft (Empedokles) oder Materie oder Atome (Demokrit) oder Energie oder Naturgesetz. Für den Materialismus ist alles Stoff und naturmechanisches Geschehen; der Spiritualismus behauptet: Alles ist Geist, und der Hylozoismus: Alles ist eine seelisch lebendige Materie. (Vgl. K. Jaspers, Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003, 24) 362 Ebd. 363 Ebd. – Alle diese Anschauungen „erfassen das Sein als etwas, das mir als Gegenstand gegenübersteht, auf das ich als auf ein mir gegenüberstehendes Objekt, es meinend, gerichtet bin“ (ebd., 25). 364 Ebd., 24ff.; vgl. dazu auch W. Schüßler / E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 36. 365 M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 192006, 311; vgl. dazu auch Heideggers Einleitung zu: Was ist Metaphysik? (1929), in: Ders., Wegmarken, Frankfurt/M. 1967, 198f. 366 N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52, 40.

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eine „unüberbrückbare Kluft“ zwischen der „Wirklichkeit“ (la chose) und unserem Denken.367 Für den französischen Philosophen und Phänomenologen würde eine Sache in dem Moment aufhören, als eine Sache zu existieren, in dem man glaubt, sie zu besitzen. Denn „ce qui fait la ,réalité‘ de la chose est […] justement ce qui la dérobe à notre possession“368. Auch für Tillich ist das Sein ein Mysterium369 und kann nicht definiert werden. „Sein als solches, esse ipsum, Sein-selbst […] kann nicht definiert werden, weil es in jeder Definition vorausgesetzt wird.“370 Eine Definition erfolgt in der Regel durch Angabe der nächsthöheren Gattung (genus proximum) und der artspezifischen Differenz (differentia specifica). Ein Beispiel hierfür ist die Definition des Menschen als animal rationale – der Mensch ist ein vernünftiges Lebewesen. In Bezug auf das Sein resultiert daraus das folgende Problem: Wie soll man Sein definieren, zumal es keine höhere Gattung gibt und jede artspezifische Differenz auch Sein ist? Dies macht die Undefinierbarkeit des Seins deutlich.371 Unser Denken befindet sich in einer wesenhaften Not bzw. in einer Ratlosigkeit über die Natur des Seins, so dass letztlich Ontologie immer in einer „Aporie“ bzw. einer Weglosigkeit endet,372 worauf auch Heidegger hingewiesen hat.373 Aber das Sein kann nach Tillich „metaphorisch umschrieben werden, und es kommt darauf an, daß die Metapher, die gebraucht wird, angemessen ist. Nun glaube ich“, schreibt er, „daß kein Bild so geeignet ist, metaphorisch für ,Sein‘ gebraucht zu werden, wie der Begriff der Macht“374. Was will Tillich genauer damit sagen? Auf das Problem der Unmöglichkeit, das Sein zu definieren und die Frage, ob man nicht etwas Grundlegenderes über das Sein sagen kann, als nur die Kategorien und Polaritäten herauszuarbeiten, die seine Struktur bestimmen, hat die klassische Metaphysik mit den sog. Transzendentalien geantwortet, wonach die Begriffe unum, verum, bonum – manchmal auch noch pulchrum – mit

|| 367 Vgl. L. J. Elders, Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive, Tl. 1: Das ens commune, Salzburg, 18f. 368 „Das, was die Realität der Sache ausmacht, ist gerade das, was sie unserem Besitz entzieht.“ (M. Merleau-Ponty, Phénoménologie de la perception, Paris 1945, 270) 369 Vgl. EW XVI 88; vgl. auch ST II 17. 370 GW IX 207; vgl. auch GW XI 165. Diese Undefinierbarkeit hat man im Mittelalter die „Transzendentalität des Seins“ genannt. (Vgl. Vgl. L. J. Elders, Die Metaphysik des Thomas von Aquin in historischer Perspektive, Tl. 1: Das ens commune, Salzburg 1985, 51f.) 371 Vgl. EW XVI 14; vgl. dazu auch 9 u. 19; GW V 141. 372 Vgl. GW V 141; EW XVI 9. 373 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen / Niemeyer 192006, 311f. 374 GW IX 207.

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dem Seinsbegriff austauchbar sind.375 Es sind Seinsbestimmungen bzw. Selbstauslegungen des Seins, die deswegen Transzendentalien genannt werden, weil sie wie das Sein selbst alle begrenzten Teilbereiche der Wirklichkeit bzw. alle Regionen des Seins überschreiten, so dass sie mit dem Sein konvertibel sind.376 Die Funktion der Transzendentalien besteht also darin, das Verhältnis des Seins zur Welt darzustellen. In diesem Sinne sind sie nur das, was das Sein von sich zu erkennen gibt. So wird auch das, was wir daher nicht erkennen können, auch nicht unter den Transzendentalien aufgelistet, zumal man darüber nichts aussagen kann. Tillich ist zwar kein Vertreter der klassischen Transzendentalienlehre, aber er vertritt einen ähnlichen Gedanken, indem er dem Machtbegriff den Rang eines transzendentalen Begriffs zuschreibt. Zurecht schreibt Werner Schüßler, dass man Tillichs Auffassung des Seins als „Seinsmächtigkeit“ als eine „interessante Neuinterpretation dieser klassischen Transzendentalienlehre“377 verstehen kann. In diesem Sinne versteht Tillich die Macht als eine Qualität des Seins, die mit dem Sein selber gegeben ist und nicht nachträglich erst hinzugekommen ist,378 so dass Sein und Macht austauchbare Begriffe sind. „Wenn ich gefragt werde, was ,Sein‘ ist, so antworte ich: Sein ist Seinsmächtigkeit. Es ist die Macht, zu sein. […] Mit dem Machtbegriff erschließen wir das Sein, und das Sein gibt dem Machtbegriff die Tiefendimension.“379 Die Urfrage der Philosophie beantwortet Tillich also metaphorisch: Sein ist Macht. „Das ist keine Definition, aber es ist eine metaphorische Umschreibung.“380 Ob in diesem Zusammenhang der Begriff der Metapher angemessen ist, sei einmal dahingestellt, da diese keine enge Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem impliziert. Jedenfalls will Tillich mit den Ausdrücken „Sein ist Macht“, oder „Macht des Seins“ den Machtcharakter am Sein in den Fokus rücken. Was das heißt, dass das Sein Macht ist, soll nun näher bedacht und erschlossen werden. || 375 Vgl. W. Schüßler, Ontologie der Macht, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 201–230, hier 207. 376 Vgl. N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52, hier 44ff. 377 W. Schüßler / E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 37. 378 Bereits im Beitrag „Zwang und Freiheit im sozialen Leben“ von 1929 heißt es: „Wir rechnen wenigstens mit der Möglichkeit, daß die Macht nicht gleichsam etwas später Hinzukommendes ist, wie das Zeitungswesen oder das Radio später hinzugekommen sind, und auch das Meer und die Wolken und auch die Pflanzen und Tiere später hinzugekommen sind ..., sondern wir rechnen mit der Möglichkeit, daß, wenn wir das Sein ganz rein denken, bloß als Sein, wir dann Macht mitdenken müssen.“ (EW XI 234) 379 GW IX 207. 380 Ebd.

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2.1.2 Von der Seinsmächtigkeit der Dinge oder: Die Macht zu sein Es wurde bereits gezeigt, dass der Machtcharakter des Seins mit dem Sein als solchem gegeben ist und nicht etwas nachträglich Hinzukommendes ist, so dass, „wenn wir das Sein rein denken, das heißt bloß als Sein, dann müssen wir nach Tillich Macht mitdenken“381. Aber wie hängt diese Machtqualität des Seins mit dem endlichen Sein zusammen? Freilich kommt dem endlichen Seienden, insofern es endlich ist, das Sein zu, weil es sich einer Kausalität außerhalb seiner selbst verdankt. Das endliche Sein ist zwar kontingent. Aber sobald es ist, erwirkt es sich selbst durch sein Sein. Dieses Sich-selbst-Erwirken des Seienden bzw. die Ausübung eigenen Seins bringt Heinrich Beck zutreffend zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Das Seiende wird nicht ,geseint‘, sondern ist, tut Sein; seine ,Seinstätigkeit‘ ist das, womit es erst ein Seiendes ist.“382 In dieser „Seinstätigkeit“, mit der Beck das zu verdeutlichen sucht, was man in der scholastischen Philosophie nicht zuletzt mit Thomas von Aquin den „Akt-Charakter des Seins“ nennt,383 erscheint der Machtcharakter am Sein. Hier zeigt sich die Nähe zu dem, was Tillich mit Seinsmacht oder Seins-Mächtigkeit der Dinge meint. Aber die Seinsmächtigkeit bei Tillich unterscheidet sich von dem „Akt-Charakter des Seins“ bei Thomas durch das Element des Nichtseins, das Tillich hier mit dem Sein in Zusammenhang bringt. „Thomas von Aquin sagte noch, das Seiende stehe durch sich selbst im Sein (ens per se subsistens) und darin erweise es sich mächtig. Tillich erklärt, Seiendes sei insofern mächtig, als es sich gegen das Nichtsein behaupte.“384 Jedes Ding hat nämlich nach Tillich, indem es ist, eine bestimmte Mächtigkeit. Es übt sein Sein aus und hat somit eine Wirkung. Mit der Aussage z.B. „Die Eiche ist“ ist ihr Da-sein gemeint bzw. ihr reales Sein und damit ihr Vermögen, einen Raum zu beanspruchen, den kein anderes Seiende besetzen kann. „Auf diese Weise ist Sein und Macht ursprünglich verknüpft. Sein zeigt sich als seiend

|| 381 W. Schüßler, Macht und Gewalt. Versuch einer philosophisch-theologischen Annäherung, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 11–37, hier 17. 382 H. Beck, Der Akt-Charakter des Seins. Eine spekulative Weiterführung der Seinslehre Thomas von Aquins aus einer Anregung durch das dialektische Prinzip Hegels, Frankfurt/M. u.a. 2 2001, 53. 383 Vgl. N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52, hier 41ff. 384 Ebd., 47.

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durch seine ,Macht‘ zu sein.“385 Ähnlich argumentiert Bernard Welte, wenn er schreibt: „Sein (im Sinne von: Dasein eines Seienden) und Macht sind untrennbare Bestimmungen. Ja, wir müssen schließlich sagen: Sein (in dem genannten Sinn) ist Macht.“386 Tillich versucht auch über eine Analyse der Sprache deutlich zu machen, dass Macht mit dem Sein verbunden ist, indem er auf die griechische und lateinische Sprache verweist. Der griechische Begriff dynamis sowie der lateinische potentia drücken ihm zufolge aus, dass „das wahre Sein die Möglichkeit hat zu sein, auch wenn es noch nicht energeia, actualitas, Verwirklichung ist. Es ist nicht einfach nichts, aber es ist noch nicht wirklich, es hat die Macht, zu sein.“387 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass verschiedene Philosophen bei ihrem Versuch, das Sein bzw. die letzte Wirklichkeit begrifflich zu definieren, auf Begriffe rekurrieren, die ein Element der Macht enthalten.388 Von Plato bis Schelling über Aristoteles, Augustin, Luther oder Böhme, überall begegnen Überlegungen, anhand derer Tillichs Verständnis vom Sein als Macht zu sein plausibel gemacht werden kann. Aber als Kronzeugen für seine Bestimmung des Verhältnisses von Sein und Macht beruft sich Tillich auf Nietzsche.389 Entscheidend ist dabei Nietzsches Begriff vom „Willen zur Macht“390, der zum ersten Mal in „Also

|| 385 GW IX 169. 386 B. Welte, Über das Wesen und den rechten Gebrauch der Macht. Eine philosophische Untersuchung und eine theologische These dazu, Freiburg / Br. 21965, 11. 387 GW IX 206. 388 Vgl. GW XI 156 u. 165. 389 „Man kann nicht gut über die Philosophie der Macht reden, ohne ein paar Worte über Nietzsches Begriff des Willens zur Macht zu sagen.“ (GW IX 207f.; vgl. auch GW XI 156, 165) Ähnlich argumentiert auch Volker Gerhardt, wenn er schreibt: „Die Auseinandersetzung mit Nietzsches Denken, insbesondere die Reflexion des von ihm so selbstverständlich ins Zentrum gerückten Machtbegriffs, bietet […] eine Chance, diesen [sc. philosophischen] Rang […] bewußt zu machen.“ (Ders., Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretationen, in: Nietzsche-Studien 10/11 [1981/82] 193–221, hier 194) In seiner Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Sein und Macht im Anschluss an Nietzsche fühlt sich Tillich auch bestätigt durch Heideggers ontologische Auffassung der Macht nicht zuletzt in dessen Schrift „Holzwege“, ohne jedoch in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen zu haben, was genau Heidegger damit gemeint hat (vgl. GW XI 165). 390 Zu Nietzsches „Willen zur Macht“ gelten besonders als richtungsweisende Überlegungen die Ausführungen Martin Heideggers zur Ontologie der Macht im zweiten Band seines NietzscheBuches (vgl. ders., Nietzsche II, Pfullingen 1961, 257ff.). Vgl. dazu weiter die Überlegungen von Frederick Malcolm Aitken über Analogien zwischen dem Substanz- und Machtbegriff in seiner Dissertation von 1970 (vgl. ders., The Concept of Power in Nietzsche’s Ethics, Missouri 1970) sowie Wolfang Müller-Lauters gegen Heidegger gerichtete anti-substantialistische und plurale Interpretation des Machtbegriffs bei Nietzsche (vgl. ders., Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin / New York 1971; ders., Nietzsches Lehre

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sprach Zarathustra“ auftaucht, aber erst ab Herbst 1882 systematisch dargelegt wird.391

2.1.3 Im Anschluss an Nietzsche: Macht als Selbstbejahung des Lebens Ein Vorläufer dafür, dass das Sein als Seinsmächtigkeit bzw. als Macht zu sein bezeichnet werden kann, findet sich nach Tillich in Nietzsches Begriff des „Willens zur Macht“392. Entscheidend ist dabei, dass hier der Lebensbegriff als Bestimmung des Machtbegriffs gebraucht wird. Was genauerhin bedeutet bei Nietzsche der Begriff „Willen zur Macht“? Und wie kann Tillich ihn für den zutreffendsten Ausdruck des Seins als Macht zu sein deuten? Mit anderen Worten: Was ist die ontologische Relevanz des „Willens zur Macht“? Erhellend für diese Fragen ist die Aussage Nietzsches in einem Fragment aus dem Frühjahr 1888, wo es heißt: „Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachstum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen, nicht Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Kardinal-Tatsachen ansetzen?“393 Im Zusammenhang unserer Fragestellung ist festzuhalten, dass der „Wille zur Macht“ bei Nietzsche ontologisch relevant ist, insofern dieser damit „das innerste Wesen des Seins“ meint. Im „Willen zur Macht“ erblickt er das Wesen des Seins, worauf Jaspers mit Nachdruck hinweist.394 Mit Heidegger ist an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen,

|| vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 [1974] 1–61; ders., Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsches-Interpretationen I, Berlin / New York 1999). Als wertvoller Vermittlungsversuch zwischen den beiden genannten Positionen gelten Gerhardts Ausführung zum „Willen zur Macht“ Nietzsches (vgl. ders., Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin / New York 1996, und ders., Macht und Metaphysik. Nietzsches Machtbegriff im Wandel der Interpretationen, in: Nietzsche-Studien 10/11 [1981/82] 193–221). Als entscheidender Beitrag über den Einfluss Nietzsches auf Tillichs Denken gilt C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich (= TillichStudien 22), Münster 2010, 48ff. 391 Vgl. T. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, Tübingen 2003, 276. 392 GW XI 165. 393 F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. III, München 1994, 778. 394 Vgl. K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 305.

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dass das Wesen des Seins, von dem hier Nietzsche handelt, das Wesen des Seienden ist und nicht das Wesen des Seins selbst.395 Tillich dringt hier tiefer ein. Er spricht zwar von der Macht als „Wesen endlichen Seins“396, aber er versucht, über das Sein des Seienden bzw. das endliche Sein hinaus auch das Sein-Selbst durch den Machtbegriff zu beschreiben. Demgegenüber ist der „Wille zur Macht“ Heidegger zufolge „der Grundcharakter des Seienden als eines solchen. Das Wesen des Willens zur Macht läßt sich daher nur im Blick auf das Seiende als solches, d.h. metaphysisch, erfragen und denken.“397 Jede nähere Beschäftigung mit dem Seienden muss nämlich „eine Beschreibung der ihm zukommenden Macht einschließen“398. Um den Machtcharakter an der Seiendheit, d.h. an dem, was das Seiende als ein solches ist,399 im Sinne Nietzsches darzustellen, rekurriert Heidegger auf den Begriff der „Wirklichkeit“, der wiederum mit dem Begriff der „Wirksamkeit“ verzahnt ist. „Erst wenn wir die Seiendheit als Wirklichkeit bedenken, öffnet sich ein Zusammenhang mit dem Wirken und Erwirken, d.h. mit dem Ermächtigen zur Macht als dem Wesen des Willens zur Macht.“400 Und dann heißt es: „Das Wesen der Wirklichkeit ist die Wirksamkeit.“401 Die Seiendheit weist also auf die Macht hin, die das Seiende hat, durch die es bestimmt wird und auf anderes wirkt.402 Dies weist zurück auf die ontologische Deutung der Macht als dynamis, potentia, oder reale Möglichkeit (etwa bei Aristoteles), die in der klassischen Metaphysik etwa bei Spinoza und Leibniz eine bedeutsame Rolle spielt.403 Entscheidend ist aber für das Verständnis des Seienden als „Willen zur Macht“ bei || 395 „Der Ausdruck ‚Wille zur Macht‘ nennt den Grundcharakter des Seienden; jegliches Seiende, das ist, ist, sofern es ist: Wille zur Macht. Damit wird ausgesagt, welchen Charakter das Seiende als Seiendes hat. Aber damit ist noch gar nicht die eigentliche Frage der Philosophie beantwortet, sondern nur die letzte Vorfrage. Die entscheidende Frage ist [...]: Was ist dieses Sein selbst? Es ist die Frage nach dem ‚Sinn des Seins‘, nicht nur nach dem Sein des Seienden.“ (M. Heidegger, Nietzsche I, Pfullingen 1961, 26) 396 GW IX 231. 397 M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 264. 398 V. Gerhardt, Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin / New York 1996, 33. 399 Vgl. M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 258. 400 Ebd., 236. 401 Ebd., 237. 402 „Mit Blick auf Nietzsche ist ein Moment der ontologischen Anlage der Macht von besonderem Interesse, nämlich ihr relationaler Charakter.“ (V. Gerhardt, Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin / New York 1996, 36) 403 Vgl. M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 236f.; dazu auch K. Salamun, Wie soll der Mensch sein? Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper, Tübingen 2012, 66.

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Heidegger der aristotelische metaphysische Grundbegriff der energeia. Die „,Energie‘ deutet […] ,energisch‘ genug auf den Willen zur Macht. Zur Macht gehört ,Energie‘“404. Energeia bei Aristoteles ist nämlich im Zusammenhang des Problems der Bewegung zu verstehen. Wie gezeigt wurde, erörtert Aristoteles seine Bewegungslehre anhand von drei Begriffen: dynamis, ernergeia und entelechia. Bewegung legt er dar als kontinuierlichen Übergang von dem Vermögen (dynamis), sich einem Ziel anzunähern, bis zum Erreichen dieses Zieles (entelechia). Dabei ist energeia der gegenwärtige Moment, in dem sich die dynamis in der Annäherung an das Ziel (entelechia) erweist.405 Mit anderen Worten: energeia bildet die innere Einheit, in der dynamis und entelechia gegenwärtig sind. Hierzu schreibt Volker Gerhardt: „Also nur sofern sich etwas bewegt, kommen in dieser Bewegung das auf das Ziel gerichtete Vermögen und das Erreichen des Ziels einheitlich zur Wirklichkeit.“406 Im Licht dieser allgemeinen Bestimmung versteht es sich von selbst, dass Aristoteles im Hinblick auf das Problem der Bewegung, die er als energeia begreift, der Wirklichkeit vor der Möglichkeit den Vorrang einräumt.407 Dieser kurze Exkurs zur aristotelischen Bewegungslehre soll einen Verstehenshintergrund abgeben, vor dem Nietzsches Rede vom „Willen zur Macht“ noch plausibler werden kann. Im Wortgefüge „Wille zur Macht“ soll allerdings Macht nicht als das Ziel verstanden werden, zu dem der Wille als etwas Fremdes hin will, worauf Heidegger zutreffend hinweist: „Der Wille strebt nicht nach Macht, sondern west bereits und nur im Wesensbezirk der Macht.“408 Der Wille ist aber auch nicht einfach Macht, sowie Macht auch nicht einfach Wille ist. „Statt dessen gilt dies: Das Wesen der Macht ist Wille zur Macht, und das Wesen des Willens ist Wille zur Macht.“409 Mit dem Ausdruck „Wille zur Macht“ soll also das Wesen der Macht als Machtsteigerung, als Wachstum,410 als Plus von Macht411 bzw.

|| 404 M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 237. 405 Vgl. V. Gerhardt, Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin / New York 1996, 37f. 406 Ebd., 37. 407 Vgl. ebd., 38. 408 M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 265. 409 Ebd. 410 „Haben und mehr haben wollen, Wachstum mit einem Wort – das ist das Leben selber.“ (F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. III, München 1994, 470). Zum Vergleich zwischen dem „Darwinismus“ und „Willen zur Macht“, die beide die Lebenskräfte, die jedem Lebewesen innewohnen, sowohl als Bedingung als auch Garant für den „von Darwin eher aufs Kollektiv, von Nietzsche eher aufs Individuum zielenden Evolutionsprozess“ erkennen, vgl. P. C. Mayer-Tasch, Kleine Philosophie der Macht, Stuttgart 2018, 36f. 411 Vgl. F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. III, München 1994, 712.

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als Mehr-Macht-sein-Wollen verstanden werden.412 Aufschlussreich ist in diesem Kontext der Lebensbegriff, den Nietzsche einführt, um den Machtcharakter des Seins bzw. das Mehr-sein-Wollen noch deutlicher zu machen. In diesem Sinne schreibt Nietzsche: „Das Sein – wir haben keine andere Vorstellung davon als ,leben‘. – Wie kann also etwas Totes ,sein‘?“413 Hier wird deutlich, dass für Nietzsche Sein und Leben konvertible Begriffe sind. Wie der Wille zur Macht, so gilt also für Nietzsche auch der Lebensbegriff als ontologische und nicht nur als eine biologische Kategorie. Seine lebensphilosophische Deutung des „Willens zur Macht“ stützt sich auf die Aussage, dass Befehlen und Gehorchen Grundzüge des Lebens sind. Im zweiten Teil seiner Schrift „Also sprach Zarathustra“414, genauer im Kapitel „Von der Selbst-Überwindung“415, legt Nietzsche Zarathustra lehrend in den Mund: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen Herr zu sein.“ 416 Mit dem Hinweis auf den Willen des Dienenden, Herr zu sein, scheint vom zwischenmenschlichen Leben, und nur von ihm, die Rede zu sein. Nietzsche präzisiert: „Wo ich nur Lebendiges fand, da hörte ich auch die Rede vom Gehorsam. Alles Lebendige ist ein Gehorchendes […]. Dem wird befohlen, der sich nicht selber gehorchen kann. So ist es des Lebendigen Art.“417 Bekanntlich gilt für Menschen: Wer gehorcht, folgt einem Befehl. Von außen betrachtet wird man diese Struktur auf zwischenmenschliche (bzw. auf politische und gesellschaftliche) Verhältnisse beziehen. Dies ist aber für Nietzsche sekundär. Die Polarität von Befehlen und Gehorchen im Zusammenhang des „Willens zur Macht“ ist zunächst vom Selbstverhältnis her aufzuschlüsseln. „Ein Mensch, der will, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, daß es gehorcht.“418 Das Wollen in diesem Sinne, das sich als Herrsein-Wollen erweist,419 ist nicht das Streben danach, Macht über Andere zu gewinnen, oder im Fall eines Dieners, sich aus seinem Dienersein zu befreien,420 sondern Herrsein-Wollen „des Verfügens über

|| 412 „Im Willen als Mehr-sein-wollen, im Willen als Wille zur Macht liegt wesentlich die Steigerung, die Erhöhung.“ (M. Heidegger, Nietzsche I, Pfullingen, 1961, 72) 413 F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. III, München 1994, 483. 414 Vgl. ebd., Bd. II, München 1994, 273–561. 415 Ebd., 369ff. 416 Ebd., 371. 417 Ebd., 370. 418 Ebd., 582. 419 M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 265. 420 Das Dienersein ist nämlich, wie Heidegger sagt, eine „Art des Willens zur Macht“, denn der Wille des Dieners zeigt sich als Herrsein-Wollen, sofern der Diener „als ein solcher immer noch den Gegenstand seiner Arbeit unter sich hat, dem er ,befiehlt‘. Und sofern der Diener als ein

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Möglichkeiten, die Wege, Weisen und Mittel des handelnden Wirkens“421, so dass der Mensch, der will, zugleich der Befehlende und der Gehorchende ist. Befehl ist also Befehl für sich selbst, d.h. Selbstüberwindung.422 Diesen Aphorismus deutet Tillich wie folgt: „Im Menschen wird der ,Wille zur Macht‘ zum Willen, die persönliche und gesellschaftliche Macht zu behaupten. Aber das ist nur die eine und nicht die grundlegende Seite seiner Bedeutung […]. Bei Nietzsche handelt es sich um die Macht der Besten, deren Voraussetzung aristokratische Selbstbeherrschung ist. Wo diese fehlt, muß die Macht zwangsläufig zerfallen; erst die Herrschaft über uns selbst gibt uns Macht über andere, gesellschaftliche Macht.“423 So hält Tillich den Begriff der Macht bei Nietzsche für die „Selbstbejahung des Seins“424 (wobei für Nietzsche Sein und Leben austauchbare Begriffe sind) und den Willen für ein wesentliches Element des Lebens, das zur Selbstbehauptung führt. „,Wille zur Macht‘ bedeutet bei ihm [sc. Nietzsche] der Wille, die eigene Lebensmacht zu bejahen, die eigene Existenz zu behaupten.“425 Die Verknüpfung von Lebens- und Machtbegriff wird schon in Tillichs Schrift „Das Problem der Macht“ von 1931 deutlich, wo von der Mächtigkeit, die alles Lebendige in der Begegnung auszeichnet, die Rede ist.426 Aber die Zuspitzung dieser Verknüpfung tritt systematisch erstmals in der Schrift „Liebe, Macht, Gerechtigkeit“ von 1954 und dann ausführlicher in den Berliner Vorträgen über „Die Philosophie der Macht“ von 1956 auf. Hier führt Tillich in seine Diskussion über das Verhältnis von Sein und Macht im Blick auf Nietzsches (sowie Schopenhauers) Lebensphilosophie427 den Lebensbegriff ein. Seinsmacht bedeutet nunmehr

|| solcher dem Herrn sich unentbehrlich macht und den Herrn an sich zwingt und auf sich (den Knecht) anweist, herrscht der Knecht über den Herrn.“ (M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 265) 421 M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 265. 422 Vgl. ebd. 423 EW II 162. Präzisierend fügt Tillich hinzu: „,Macht‘ bei Nietzsche hat nichts mit dem zu tun, was der Nationalismus aus dem Begriff gemacht hat […]. Es war eine Tragödie, daß Nietzsches großes Symbol vom Nationalsozialismus vulgarisiert und mißbraucht wurde.“ (Ebd.) 424 EW II 161. 425 EW II 161f. Ähnlich argumentiert auch Günter Figal, der das Wollen bei Nietzsche als „ursprüngliche Lebensregung“ bzw. als „das Bejahen des eigenen Lebens“ bezeichnet (ders., Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999, 218). 426 Vgl. GW II 195. 427 Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Tillich in seiner Bewertung des Willensbegriffs bei Schopenhauer im Vergleich zu demjenigen bei Nietzsche schwankt. In seinen 1963 gehaltenen „Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens“ schreibt Tillich nämlich, dass der Wille bei Nietzsche etwas anderes als bei Schopenhauer bedeute. Dabei setzt er den Willen, der zur Selbstaufhebung führt (gemeint ist vermutlich der Begriff des Willens bei

268 | Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich

„Mächtigkeit des Lebens“428. In seiner Auseinandersetzung mit Nietzsches „Willen zur Macht“ geht er von einer lebensphilosophischen429 bzw. ontologischen Deutung des Willensbegriffs sowie des Machtbegriffs bei Nietzsche aus. Nietzsche kennt zwar eine psychologische Betrachtung des „Willens zur Macht“ als Weise für die Selbstbeherrschung bzw. Selbstüberwindung.430 Aber wie es Heidegger, von dem sich Tillich in seiner ontologischen Auffassung des „Willens zur Macht“ Nietzsches bestätig fühlt,431 zutreffend zum Ausdruck bringt, umgrenzt Nietzsche „das Wesen des Willens nicht nach einer üblichen Psychologie, sondern er setzt umgekehrt das Wesen und die Aufgabe der Psychologie gemäß dem Wesen des Willens zur Macht an“432 und fasst in diesem Zusammenhang die Psychologie als „Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht“433. So hält Tillich die psychologische Funktion des Willens nur für einen Ausdruck von etwas Grundlegenderem, und er fasst den Willensbegriff Nietzsches metaphorisch als „die fundamentale Selbstbejahung des Lebens“ auf.434 Das Adjektiv „fundamental“ macht deutlich, dass das Sich-Bejahen ein Grundcharakter des Lebens ist. Zu diesem Grundcharakter des Lebens bringt der Machtbegriff ein dynamisches Element hinzu. So ist die „Macht“ im Begriff vom „Willen zur Macht“ zunächst nicht soziologisch zu verstehen, wie etwa bei Max Weber (den Tillich hier paraphrasiert435) als die Möglichkeit, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen

|| Schopenhauer), dem gegenüber, der zur Selbstbehauptung führt (Nietzsche). Der „Wille bedeutet bei ihm [sc. Nietzsche] etwas anderes als bei Schopenhauer, etwas, das gerade in der entgegengesetzten Richtung liegt. Es ist nicht der Wille, der schließlich zur Selbstaufhebung führt, sondern der Wille zur Selbstbehauptung, den er ,Wille zur Macht‘ nennt.“ (EW II 161) Diese Unterscheidung zwischen dem Willensbegriff bei Nietzsche und bei Schopenhauer steht in einem gewissen Widerspruch zu früheren Aussagen Tillichs in seiner Schrift „Liebe, Macht, und Gerechtigkeit“ von 1954 (vgl. GW XI 166: „Aber letztlich bezeichnet der Wille zur Macht bei Nietzsche wie auch bei Schopenhauer die dynamische Selbstbejahung des Lebens.“) sowie in seinem Beitrag „Philosophie der Macht“ von 1956 (vgl. GW IX 208: „Der Wille zur Macht – bei Nietzsche wie bei Schopenhauer – bezeichnet die dynamische Selbstbejahung des Lebens.“) Für unseren Zusammenhang ist hier relevant, dass der Wille bei Nietzsche als Selbstbejahung des Lebens zu verstehen ist. 428 GW IX 213. 429 „Der Begriff ,Leben‘ bedeutet bei ihm [sc. Nietzsche] dasselbe wie ,Wille‘“ (EW II 161). 430 Vgl. GW IX 208; GW XI 166; dazu auch M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 263. 431 Vgl. GW XI 165; GW IX 208. Tillich bezieht sich hier auf die Auffassungen Heideggers in seinem Buch „Holzwege“. 432 M. Heidegger, Nietzsche II, Pfullingen 1961, 263. 433 F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. II, München 1994, 587. 434 Vgl. GW IX 208; GW XI 166. 435 Vgl. GW IX 208.

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Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“436. Soziologische Macht als solche erweist sich zwar als „eine der Manifestationen der ontologischen Macht“437, aber Macht bedeutet grundsätzlich bei Nietzsche, so Tillich, „der Trieb, die Dynamik alles Lebendigen, sich selbst zu verwirklichen mit wachsender Intensität und Extensität“438. So bedeutet der Ausdruck „Wille zur Macht“ „die dynamische Selbstbejahung des Lebens“439. Bedenkt man, dass der Lebensbegriff bei Tillich mehrdeutig ist,440 so ist der von ihm in seiner lebensphilosophischen Auffassung vom „Willen zur Macht“ verwendete Lebensbegriff erklärungsbedürftig. Wir müssen nun also fragen: Was ist das Leben, das sich bejahen soll? In seinen Berliner Vorlesungen über „Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse“441 von 1958 unterscheidet Tillich fünf verschiedene Bedeutungen des Begriffs „Leben“442: den „polaren Lebensbegriff“443, der das Leben als Gegensatz zum Tod meint; den „Artbegriff des Lebens“444, der die organischen Wesen umfasst, die „den Charakter des Zentriertseins in sich, der Bezogenheit auf sich selbst“445 haben; den „ontologischen Lebensbegriff“446, den Tillich mit Bezug auf Aristoteles als „Aktualisierung des Potentiellen“447 bezeichnet; den „universalen Lebensbegriff“448, der nach Tillich alle Realität umfasst („das Anorganische, das Organische und das Geistige“449) „als eine Gesamtheit gegenseitiger Abhängigkeiten“450; den „symbolischen Lebensbegriff“, der zum Ausdruck kommt, wenn wir im übertragenen Sinn vom „lebendigen Gott“ oder „ewigen Leben“ sprechen.451 Die Bedeutungen des Begriffs Leben sind also so verschieden bei Tillich,

|| 436 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 51985, 28. 437 GW XI 166. 438 GW IX 208. 439 Ebd.; vgl. GW XI 166. 440 Vgl. ST III 21. 441 Vgl. EW XVI 335–409. 442 Zu den fünf Bedeutungen des Begriffs „Leben“ bei Tillich vgl. W. Schüßler, „Healing Power“. Zum Verhältnis von Heil und Heilen im Denken Paul Tillichs, in: Trierer Theologische Zeitschrift 123 (2014) 265–299, hier 276ff. 443 EW XVI 337; vgl. auch ST III 21. 444 EW XVI 337. 445 Ebd. 446 EW XVI 337; vgl. auch ST III 22. 447 Ebd. 448 EW XVI 338; vgl. auch ST III 22. 449 EW XVI 338. 450 Ebd. 451 Vgl. ebd.

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dass es zu kurz greifen würde, wenn man behaupten würde, dass es sich um diesen oder jenen Lebensbegriff in seiner lebensphilosophischen Deutung vom „Willen zur Macht“ handelt. Von besonderer Bedeutung sind allerdings für unsere Betrachtung der ontologische und der universale Lebensbegriff. Zurecht schreibt Tillich: „Nietzsche wußte von der Zweideutigkeit allen Lebens, er wußte, daß in jedem Lebensprozeß sowohl schöpferische wie zerstörerische Elemente am Werk sind […]. Aber in eben dieser Zweideutigkeit soll das Leben bejaht werden.“452 Gemeint ist in diesem Zitat mit dem Begriff des Lebens, das in der Zweideutigkeit bejaht werden soll, der sog. „ontologische Lebensbegriff“, den Tillich in Anlehnung an Aristoteles als „Aktualisierung des [potentiellen] Seins“453 versteht. Aktuell werden bedeutet für Tillich in diesem Zusammenhang, zum Leben kommen. Damit ist also der Prozess gemeint, „in dem das, was die Macht hat zu sein […], diese Macht anwendet, verwirklicht und zum Leben kommt“454. Dieser ontologische Lebensbegriff verlangt nach Tillich eine „essentialistische“ und „existentialistische“ Betrachtungsweise, da das „Leben“ eine „Mischung von essentiellen und existentiellen Strukturen“455 ist. Aus dieser Mischung entsteht die Zweideutigkeit bzw. die Zerspaltenheit des Lebens. Dabei wird herausgestellt, dass zum einen das Aktuelle aufgrund der Verwirklichung der Seinsmöglichkeiten immer mehr ist als das Potentielle und dass zum anderen das Aktuelle zugleich immer weniger ist als das Potentielle, denn das, was in der Essenz eines Seienden enthalten ist, verwirklicht sich nur in begrenzter bzw. unvollkommener Weise.456 Diese „Möglichkeit des Zwiespaltes“ macht Tillich deutlich am Beispiel des Baumes, indem er verständlich macht, dass ein individueller Baum nicht aktuell das wird, was er seiner Baumheit (seinem Charakter als Baum) entsprechend werden könnte,457 allein z.B. aufgrund der Klimabedingungen. Dieser „innere Widerspruch zwischen dem, was ein Wesen potentiell ist, und dem, was es actualiter ist“458, bringt Tillich im Begriff der Zweideutigkeit zum Ausdruck. „Dieser ontologische Lebensbegriff“, schreibt Tillich, „liegt dem universalen Lebensbegriff zugrunde, wie ihn die ,Lebensphilosophen‘ verstanden haben. Wenn die Aktualisierung des Potentiellen eine Strukturbedingung aller Wesen ist und diese Aktualisierung ,Leben‘ genannt wird, dann führt dies automatisch zum || 452 EW II 162. 453 ST III 21. 454 EW XVI 339. 455 EW XVI 337; ST III 22. 456 Vgl. EW XVI 339. Vgl. dazu oben die Zweideutigkeit des Begriffs der Existenz unter 1.2.3.4. Essentielles und existentielles Sein. 457 Vgl. ebd. 458 EW XVI 338.

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universalen Lebensbegriff, der alles Seiende umfaßt.“459 Der universale Lebensbegriff, dem der ontologische Lebensbegriff als Grundlage gilt, liegt wiederum nach Tillich der „Lebensphilosophie“ zugrunde, so etwa bei Nietzsche, Dilthey, Bergson, Simmel, Scheler oder Whitehead.460 Wenn Tillich den universalen Lebensbegriff zur „Grundlage der Lebensphilosophie“461 macht und sich unter anderem auf Nietzsche und die von ihm ausgehende Richtung der Lebensphilosophie, in der der Lebensbegriff ausdrücklich an die Stelle des Seinsbegriffs tritt,462

|| 459 ST III 22. Im 1963 veröffentlichen dritten Band der „Systematischen Theologie“ wirft Tillich ein neues Licht auf seine Auseinandersetzung mit dem (universalen) Lebensbegriff: „Der universale Lebensbegriff befreit das Wort ,Leben‘ von seiner Bindung an den organischen Bereich und erweitert es zu einem Fundamentalbegriff, der in einem theologischen System verwendet werden kann, allerdings nur, wenn er existentiell interpretiert wird.“ (Ebd.) Mit anderen Worten: Um zum Fundamentalbegriff eines theologischen Systems werden zu können, muss einerseits der Lebensbegriff zu einem universalen Lebensbegriff erweitert werden, der über den Bereich des Organischen hinausgeht, um sowohl die organischen als auch die anorganischen sowie die geistigen Lebensformen einschließen zu können, andererseits fallen diese Lebensformen auch unter die Struktur der Existenz (vgl. ebd.). An dieser Stelle muss gefragt werden, warum der Lebensbegriff, um so als Fundamentalbegriff in einem theologischen System fungieren zu können, zu einem universalen Lebensbegriff erweitert und zugleich existentiell interpretiert werden muss. Diese Erweiterung wird deutlich, so Christian Danz, wenn man die Funktion des Lebensbegriffs im dritten Band der „Systematischen Theologie“ bedenkt, in der der Lebensbegriff als Leitbegriff dient. „Als Fundamentalbegriff eines theologischen Systems soll er die Grundlage von Kultur, Moral und Religion abgeben. Um diese Funktionen als Lebensformen ansprechen zu können, reicht ein vitalistischer Lebensbegriff nicht aus. Würde dieser doch diese Funktionen auf dumpfe Akte reduzieren. In Kultur, Moral und Religion hat man es jedoch mit Anerkennungsverhältnissen zu tun, und um diese thematisieren zu können, wird der Geistbegriff vorausgesetzt. Soll daran festgehalten werden, daß Kultur, Moral und Religion als Lebensformen verstanden werden, dann erfordert dies die Konsequenz, den Geist ebenfalls als eine Dimension des Lebens zu verstehen. Schon aus diesen Überlegungen wird deutlich, daß der Lebensbegriff, sofern er als Fundamentalbegriff in einem theologischen System fungieren soll, einer Erweiterung zugeführt werden muß.“ (Ders., Religion als Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 275) Die Bedingung, dass der Lebensbegriff zugleich existentiell interpretiert werden muss, bedeutet, „daß der innere Zusammenhang des Lebensbegriffes, welchen Tillich im dritten Band der Systematischen Theologie expliziert, zu den anderen Systemteilen, also namentlich zu der im ersten Band dargestellten ontologischen Strukturtheorie, sowie zu der im zweiten Band enthaltenen Existenztheorie, herausgearbeitet und auf eine Stimmigkeit untersucht werden muß“ (ebd., 275f.). 460 Vgl. EW XVI 338; ST III 21. 461 EW XVI 338. 462 Vgl. F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. III, München 1994, 483. Auch bei Dilthey, den Tillich unter die Lebensphilosophen zählt (vgl. ST III 21), tritt der Lebensbegriff an die Stelle des Seinsbegriff, worauf C. Danz aufmerksam macht. (Vgl. ders., Religion als

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beruft, dann handelt es sich dabei um die am Seinsbegriff orientierte Lebensphilosophie. „Leben ist dynamische Verwirklichung des Seins.“463 Leben bedeutet somit in diesem Zusammenhang die Macht zu sein. Mit „Leben“ im Ausdruck „Selbstbejahung des Lebens“ ist also das Leben gemeint, „das dynamisch über sich hinausdrängt, das inneren und äußeren Widerstand überwindet“464. Der Widerstand, den das Leben bzw. das Sein überwinden muss, ist nach Tillich das Nichtsein. Aber „wie kann das Nichtsein die Macht haben, dem Sein zu widerstehen?“465

2.1.4 Die Macht des Nichtseins oder: Vom Nichtsein als Schlüssel zum Verständnis des Machtbegriffs Wir haben gesehen, dass das Sein (des Seienden) sich nicht begreifen lässt in dem, was es ist. Denn das „Sein als solches […] kann nicht definiert werden“466. Wohl aber lässt sich das Sein erfassen in dem, was es erwirkt: es „,tut‘ Sein“467, und darin erweist es sich als mächtig.468 Damit ist der Charakter des Aktes des Seins enthüllt, wie er im Seinsbegriff des Thomas von Aquin zum Ausdruck kommt.469 Erweist sich das Seiende bei dem Aquinaten aber dadurch mächtig, dass es durch sich selbst im Sein steht, worauf bereits hingewiesen wurde (Thomas von Aquin erfasst die Substanz als das ens per se subsistens470), so zeigt || Freiheitsbewußtsein: Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin / New York 2000, 276 Anm. 2) 463 GW XI 168. 464 GW IX 208. 465 GW XI 167. 466 GW IX 207. 467 H. Beck, Der Akt-Charakter des Seins. Eine spekulative Weiterführung der Seinslehre Thomas von Aquins aus einer Anregung durch das dialektische Prinzip Hegels, Frankfurt/M. u.a. 2 2001, 53. 468 In diesem Zusammenhang erscheint der Ausdruck „das Sein ist“ nach Norbert Ernst als „gedrängteste und positivste Aussage, die über das Sein möglich ist“. (Ders., Die Tiefe des Seins: Eine Untersuchung zum Ort der analogia entis im Denken Paul Tillichs, St. Ottilien 1988, 149) 469 Vgl. N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52, hier 41f. 470 Vgl. N. Ernst, Die Tiefe des Seins: Eine Untersuchung zum Ort der analogia entis im Denken Paul Tillichs, St. Ottilien 1988, 149ff.; vgl. auch ders., Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39– 52, hier 47.

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sich das Seiende mächtig für Tillich durch seine Fähigkeit, Widerstand zu leisten. „Daß etwas ist, zeigt es an dem Widerstand, den es leisten kann.“471 Der Begriff der Seinsmächtigkeit setzt also nach Tillich einen Widerstand voraus, den das Sein überwinden muss.472 Was aber vermag, dem Sein zu widerstehen? Wogegen richtet sich die Macht des Seins? „Die Antwort auf diese Frage: Was ist der Widerstand, den die Seinsmächtigkeit überwinden muß? kann nur sein und war immer: das Nichtsein.“473 Tillich versteht das Nichtsein in diesem Sinne als die „Wurzel allen Lebendigen“474 bzw. als Strukturelement des Seins, das das Nichtsein auf sich nehmen und in sich selbst überwinden muss, um aus sich selbst sein zu können. „Ohne Nichtsein als Element des Seins wäre das Sein tot. Durch das Nichtsein, das es in sich birgt, wird das Sein lebendig, sonst wäre es verschlossen, es würde nicht irgendetwas sein. Das Nichtsein treibt das Sein aus sich heraus. Das Sein ohne Nichtsein wäre leere Unendlichkeit des Möglichen, nichts weiter. Das Nichtsein schafft das Endliche und darum das Wirkliche.“475 Das Nichtsein versteht sich hier als das Noch nicht des Seins,476 das das Sein aus sich herauszwingt zu sein. Das Sein ist also bei Tillich kein statisches, sondern immer ein dynamisches und lebendiges Sein, und dabei erhält das Nichtsein die Rolle des zwingenden Gegenspielers, der das Sein zur Ausübung seiner selbst bzw. seiner Seinsmacht treibt. So versteht Tillich das Nichtsein als Schlüssel zum Verständnis des Machtbegriffs. „Die Selbstbejahung eines Wesens trotz des Nichtseins ist der Ausdruck seiner Seinsmächtigkeit. Damit sind wir zu den Wurzeln des Machtbegriffs gekommen. Macht ist die Möglichkeit der Selbstbejahung trotz innerer und äußerer Verneinung, sie ist die Möglichkeit, ohne Begrenzung Nichtsein in sich aufzunehmen und zu überwinden.“477 Um die Rolle eines Gegenspielers übernehmen zu können, der das Sein zur Ausübung der eigenen Macht zwingt, muss das Nichtsein eine gewisse Mächtigkeit haben. Wie kann aber das Nichtsein über Macht verfügen, dem Sein zu widerstehen, zumal alles, was ist, an der Macht des Seins partizipiert? Auf diese Frage gibt Tillich metaphorisch die Antwort, dass das „Nichtsein […] die Verneinung des Seins innerhalb des Seins-Selbst“478 ist. Wie schon darauf hingewiesen wurde, ist das Nichtsein dem Sein nicht fremd. Es hat keinen anderen ontologischen Ort außerhalb des Seins-Selbst. Ferner ist das Nichtsein ein || 471 GW IX 168. 472 Vgl. GW IX 208. 473 GW IX 209. 474 Ebd. 475 Ebd. 476 Vgl. GW XI 167. 477 GW IX 209; vgl. auch GW XI 168. 478 GW XI 167.

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Strukturelement des Seins, indem es dies „lebendig“ macht.479 Aber wie das „Negative […] von dem Positiven [,lebt‘], das es verneint“480, so hat das Nichtsein die Qualität der Verneinung des Seins innerhalb des Seins-Selbst. Allerdings wäre es nach Tillich falsch, von einer gleichgewichtigen Waagschale zwischen Sein und Nichtsein auszugehen. Bereits das Wort Nichtsein beweist, dass das Sein dem Nichtsein vorausgeht. Das ist nach Tillich der logische Beweis dafür, dass das Sein ein größeres Gewicht als das Nichtsein hat. Entscheidender ist die existentielle Antwort, dass die Erfahrung möglichen Nichtseins in Form von Angst der Hintergrund ist, vor dem eine positive Erfahrung des Sieges des Seins über das Nichtsein im „Mut zu sein“ oder im „Glauben“ möglich ist. „Dieser Mut“, schreibt Tillich, „bejaht die Gegenwart des Unendlichen in allem Endlichen“481 so, dass, „wie das Nichtsein vom Sein abhängt, das es verneint, auch das Bewußtsein der Endlichkeit einen Ort außerhalb alles Endlichen voraussetzt, von dem erst das Endliche als solches begriffen wird“482. Hier deutet sich die Nähe Tillichs zu den existentialistischen Denkern an.483 Aber mit dem Begriff vom „Mut zu sein“ grenzt sich Tillich von den führenden existentialistischen Philosophen ab, denen er vorwirft, „das Nichtsein dem Sein übergeordnet und dem Nichtsein eine Positivität und eine Macht gegeben [zu haben], die dem Sinn des Wortes Nichtsein widerspricht“484. Pointiert sagt Tillich: „Mut und das im Glauben, was an ihm Mut ist, bejaht den schließlichen Sieg des Seins über das Nichtsein.“485 In diesem Zusammenhang bringt Tillich einen neuen Aspekt in seine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Seinsmächtigkeit und spricht von Graden der Seinsmächtigkeit oder von „Stufen des Seins“486. „Die Selbstbejahung eines Wesens entspricht der in ihm verkörperten Seinsmächtigkeit.“487

|| 479 Vgl. GW IX 209. 480 GW XI 167. 481 GW XI 168. 482 Ebd. 483 Vgl. N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Strum (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52, hier 49. 484 ST I 221; vgl. auch EW XVI 94f. Auch die „platonische Schule identifizierte me on mit dem, was noch kein Sein hat, aber was Sein werden kann, wenn es geeint wird mit den Wesenheiten oder Ideen. Das Mysterium des Nichtseins war jedoch nicht beseitigt, denn trotz seiner Nichtigkeit wurde dem Nichtsein die Macht zugeschrieben, einer vollkommenen Einung mit den Ideen zu widerstreben.“ (ST I 220) 485 GW XI 168. 486 Ebd. 487 GW XI 169.

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Wenn die Selbstbejahung eines Wesens trotz der Bedrohung des Nichtseins seine Seinsmächtigkeit ausdrückt, so entspricht nach Tillich die Macht eines Lebensprozesses dem Maß, in dem es das Nichtsein in sich bergen und überwinden kann. Es folgt eine Einstufung der Mächtigkeit der Wesen, je nachdem sie imstande sind, in sich das Nichtsein zu tragen, von der Pflanze zum Menschen488 und bei den Menschen vom Neurotiker über den Durchschnittsmenschen zum schöpferischen Menschen.489 Zusammenfassend schreibt Tillich: „Die Selbstbejahung eines Wesens trotz der Bedrohung durch das Nichtsein drückt den Grad seiner Seinsmächtigkeit aus.“490 Welchen Grad von Seinsmächtigkeit ein Wesen hat, zeigt sich aber immer erst in der Begegnung mit anderen Seinsmächtigkeiten.

2.2 Sein ist strukturell Seinsmächtigkeit im Begegnen 2.2.1 Begegnung als Verortung der Seinsmächtigkeit Um die Struktur der Seinsmächtigkeiten beschreiben zu können, rekurriert Tillich auf den Begriff der „Begegnung“, mit dem er sich bereits seit Ende der 1930er Jahre beschäftigt hat.491 In seiner Sozialpädagogikvorlesung, worauf schon hingewiesen wurde, geht Tillich von einer sprachphilosophischen Analyse des Begriffs Begegnen aus, die erhellend für seine ontologische Deutung des Begegnungsbegriffs in seiner Spätphase ist. Das deutsche Wort Begegnen besteht ja aus zwei Bestandteilen: das Präfix be- in Verbindung mit gegen. Tillich weist darauf hin, dass in Wörtern beginnend mit be- wie „besitzen“, „begreifen“, „betreten“

|| 488 „Menschliche Macht ist die Möglichkeit des Menschen, das Nichtsein unaufhörlich zu überwinden.“ (GW XI 168) 489 Vgl. GW IX 209: „Beispielsweise ist die Seinsmächtigkeit im Menschen größer als im Tier und in manchen Menschen größer als in anderen […]. Der Neurotiker ist dadurch charakterisiert, daß er nur wenig Nichtsein in sich einschließen kann […]. Der Durchschnittsmensch kann ein begrenztes Maß von Nichtsein in sich tragen, der schöpferische Mensch ein großes.“ (Vgl. auch GW XI 168) Gott ist im strengen Sinne von dieser Stufenfolge ausgeschlossen. Denn das „Sein, das Nichtsein in sich birgt, ist endliches Sein. ,Endlich‘ bedeutet, daß das betreffende Sein das Schicksal hat, dem Nichtsein zu verfallen“ (GW XI 167). Aber wenn von Gott in diesem Zusammenhang die Rede ist, dann hat er „symbolisch gesprochen, ein unendliches Maß von Nichtsein in sich“ (GW XI 168; vgl. auch GW IX 209). 490 GW XI 168. 491 Bei einer näheren Untersuchung stellt sich heraus, dass die ontologische Deutung, die Tillich dem Begriff der Begegnung in seiner Spätphase gibt, schon in seiner Frankfurter Zeit zum Tragen kommt. Das wird immer verständlicher, da Tillich auch hier schon „das Begegnen zum Ausgangspunkt des philosophischen Aufbaues“ macht (EW XV 9).

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usw. die Vorsilbe auf einen Raum verweist, in dem einer sich in den Bereich des anderen begibt. Das gegen im Wort Begegnen verweist auf ein Gegenüber und somit auf eine Spannung zwischen den Begegnenden.492 So versteht Tillich die „Begegnung als Stoßen auf ein Anderes, das als Anderes auf uns stößt. Zugleich aber gibt sich dieses andere, das auf uns stößt, als ein Zugehöriges.“493 Dementsprechend entwickelt Tillich den Begegnungsprozess der Seinsmächtigkeiten, in dem sich die Macht des Seins bzw. des Lebens verwirklicht. „Alles Leben, vor allem das in einem menschlichen Individuum, drängt über sich selbst hinaus. Es stößt vorwärts, es schreitet aus und begegnet dabei Leben in einem anderen Individuum, das ebenfalls vorwärts stößt, sich zurückzieht oder an seinem Platz verharrt und sich gegen fremde Macht wehrt. In jedem einzelnen Fall solcher Begegnungen ergibt sich eine andere Machtkonstellation.“494 Entscheidend ist für unseren Zusammenhang in diesem Begegnungsprozess, dass Tillich die Begegnung als Verortung der Seinsmächtigkeit darstellt. „Die Seinsmächtigkeit eines Wesens zeigt sich ausschließlich in der Begegnung mit Seinsmächtigkeiten, sei es außerhalb, sei es als Element innerhalb seines Seins.“495 Drei Aussagen Tillichs sind hierzu festzustellen. (1) Die Macht eines Wesens entfaltet sich nur in der Begegnung mit anderen Trägern von Macht. Die Seinsmächtigkeit eines Seienden erweist sich strukturell in der Begegnung mit anderen Seinsmächtigkeiten, ansonsten bleibt sie verborgen. Damit wird deutlich, dass Tillich der „Macht in ihrer Aktualisierung“ den Vorrang vor der Macht als Möglichkeit gibt. (2) Es wurde bereits auf den Grad bzw. das Maß der Seinsmächtgikeit hingewiesen. Über welchen Grad von Seinsmächtigkeit ein Wesen verfügt, entscheidet sich erst in der Begegnung mit einem anderen Wesen. So kann Tillich sagen, dass das Leben einen „Versuchscharakter“ hat.496 Das Leben ist „nichts Statisches“. Es ist nicht von vornherein definiert oder fixiert. (3) Wenn sich die Macht eines Wesens bzw. der Grad von Mächtigkeit, über den es verfügt, erst in der Begegnung erweist, dann bedeutet das, dass jedes Wesen ein Wagnis auf sich nehmen muss. „Jedes Ding und jeder Mensch hat Chancen und muß ein Risiko eingehen, denn die Macht seines Seins bleibt verborgen in sich und – für ihn, solange sie sich nicht in wirklichen Begegnungen manifestiert.“497 Das Risiko weist dabei hin auf die Gefahr für ein Wesen, sich selbst bzw. seine Mächtigkeit

|| 492 Vgl. EW XV 294ff. 493 EW XV 294. 494 GW XI 169; vgl. auch GW IX 210. 495 GW IX 209. 496 Vgl. GW IX 210; GW XI 169. 497 GW IX 210.

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in der Begegnung zu verlieren.498 In der Begegnung zieht man nämlich „eine andere Macht des Seins in sich hinein, und wenn man das tut, wird man entweder gestärkt oder geschwächt; man stößt die fremde Macht des Seins von sich, oder man assimiliert sie völlig in sich; man formt sie um, oder man unterwirft sich ihren Forderungen. Man ist in sie hineingenommen und verliert seine eigene Seinsmacht, oder man wächst mit ihr zusammen und stärkt die Seinsmächtigkeit beiderseits.“499 Durch eine Analyse der hierarchischen Struktur des Lebens anhand des Begriffs der „Zentriertheit“500, die er als eine „Qualität der Individualisation“501 bezeichnet, bringt Tillich ein neues Licht in seine Phänomenologie der Machtbeziehungen, nicht zuletzt hinsichtlich der Begegnung von Person zu Person. Gilt die Begegnung als Austausch von Mächtigkeitsspannungen, in denen die Mächtigkeit des einen gleichsam die Mächtigkeit des anderen hervorholt und nach einem Ausgleich der Spannung drängt, so geht einer „Du-Begegnung“ immer schon eine „Selbstbegegnung“ voraus, obwohl diese wiederum auch ausgelöst wird durch eine Begegnung mit anderen. Hier erst hat das Wort Macht im vollen Sinn seinen Ort.

2.2.2 Macht begriffen als Selbstmächtigkeit der Person in der Begegnung mit anderen Personen 2.2.2.1 Die Seins-Mächtigkeit der Person in der Selbstbegegnung oder: Macht als Welt- und Selbstmächtigkeit Die Mächtigkeitsspannungen vollziehen sich in allen Begegnungen zwischen Seienden, sei es in der Welt der Dinge oder zwischen Mensch und Natur, sei in der zwischenmenschlichen Beziehung oder zwischen Individuen und Gruppen sowie auch zwischen einzelnen Gruppen.502 Dabei spricht Tillich undifferenziert von der Seins-Mächtigkeit der Dinge. So kann von der Seins-Mächtigkeit des Baumes, des Tieres oder des Menschen gesprochen werden. Allerdings wurde schon oben auf Stufen bzw. Grade der Seinsmächtigkeiten hingewiesen und gesagt, dass der Mensch die größte Seinsmacht besitzt.503 Was || 498 Zugleich entspricht dem Maß des zu überwindenden Nichtseins das Maß der Gefährdung des Lebendigen. „Je mehr Nichtsein das Lebendige in sich tragen kann, um so gefährdeter ist es und desto mehr Seinsmächtigkeit hat es, wenn es imstande ist, dieser Gefahr zu trotzten.“ (GW IX 209) 499 GW IX 210. 500 GW IX 211; GW XI 171. 501 ST III 45. 502 Vgl. GW IX 210; GW XI 169. 503 Vgl. GW IX 209; GW XI 168.

278 | Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich

macht aber diese besondere Seinsmächtigkeit des Menschen aus? Warum hat der Mensch die größte Seinsmacht? Wie schon darauf hingewiesen wurde, hat sich auch schon der frühe Tillich mit dieser Frage beschäftigt, und er sieht hier den Freiheitsbegriff für den Menschen als konstitutiv an. Hierin erblickt er auch die „Überleitung von der Sphäre der Mächtigkeit zur Sphäre der Macht“504. Dabei bezeichnet er den Menschen als „das seiner selbst mächtige Seiende“505 bzw. „das Seiende, das frei ist“506. Der späte Tillich vertieft dies um einen bedeutenden Aspekt: Der Mensch ist nicht nur seiner selbst mächtig, sondern er ist auch seiner Welt mächtig. Entscheidend ist die Polarität von „Selbst und Welt“, auf die Tillich hier zurückgreift, um den Machtbegriff verständlich zu machen. Der Mensch als das völlig zentrierte Selbst,507 das „Ich-Selbst“508, wie auch Tillich sagt, d.h. das seiner selbst bewusste Selbst,509 hat nämlich nicht nur eine Umgebung oder besser Umwelt wie jedes andere Seiende auch,510 sondern auch eine Welt „und mit der Welt unendliche Möglichkeiten der Selbstverwirklichung“511. Durch seine strukturelle Zentriertheit begegnet der Mensch sich selbst, kann er sich selbst und seine Welt transzendieren. Somit ist in ihm mehr Seinsmächtigkeit verkörpert als in allen anderen Wesen. „Die Formen und Stufen des Seins zeigen sich als Formen und Stufen der ,Macht zu sein‘ […]. Entscheidend ist der Unterschied der Mächtigkeit von Wesen, die zur Welt gehören, aber nicht Welt haben, und denen, die Selbst sind und Welt haben. Nur für die zweite Gruppe gilt das Wort ,Macht‘ im vollen Sinn.“512 Im Menschen ist zwar eine völlige Zentriertheit gegeben, aber sie ist „essentiell gegeben, sie ist […] nicht aktuell, solange der Mensch sie nicht in Freiheit und Schicksal verwirklicht“513. Das Spezifische der Macht ist also das Moment der Freiheit, worauf Tillich immer wieder hinweist.514 Denn indem das Selbst der Welt

|| 504 EW XI 237. 505 EW XI 237ff. 506 GW III 83. 507 Vgl. GW IX 211. 508 EW XVI 26; ST I 201. 509 Vgl. GW XI 171; ST I 193–102; GW IX 211: „Wir kennen nur ein völlig zentriertes Wesen, dem wir nicht nur Bewußtsein, sondern auch Selbstbewußtsein zuschreiben, nämlich den Menschen. Darum hat er die größte Seinsmacht.“ (GW IX 211) 510 Wie bereits angedeutet, schreibt Tillich „allen Lebewesen in gewissem Maße Selbstheit oder Selbstzentriertheit […] und analog auch allen individuellen Gestalten, sogar im anorganischen Bereich“ (ST I 200) zu, und er spricht darum auch von Graden der Selbstheit. (Vgl. EW XVI 26) 511 GW IX 211; vgl. GW XI 171. 512 GW IX 169. 513 ST III 51. 514 Vgl. EW XI 239.

2 Tillichs Ontologie der der Macht | 279

und sich selbst gegenübersteht, ist es frei sowohl von sich selbst bzw. von seiner Unmittelbarkeit als auch von der Welt,515 und somit „ist es auch beider mächtig. Es ist ,selbst-mächtig‘ und darum ,welt-mächtig‘. Diese doppelte Mächtigkeit macht es zu dem, was es ist, und gibt ihm die Unendlichkeit und Unerschöpflichkeit des Seins, die Unendlichkeit des Widerstandes gegen die Vernichtung.“516 In der Struktur der Selbstbegegnung, erfahren als ein Moment der Freiheit zu sich selbst und zur Welt, erreicht also die Seins-Mächtigkeit ihre Vollendung in Form der Macht als Welt- und Selbstmächtigkeit. Aber obwohl einer „Ich-Du-Begegnung“ die Selbstbegegnung immer schon vorausgeht, ist Letztere auch wiederum ausgelöst durch eine „Ich-Du-Begegnung“. 2.2.2.2 Die Seins-Mächtigkeit der Person in der Ich-Du-Begegnung oder: Die anerkannte Macht Selbstbegegnung und „Ich-Du-Begegnung“ stehen in unlöslicher Korrelation zueinander. Dies hat zur Folge, dass es keine Selbstmächtigkeit außerhalb der „IchDu-Begegnung“ gibt. Das führt uns auf die Polarität von Individualisation und Partizipation zurück, der zufolge es keine Person ohne Begegnung mit anderen Personen geben kann. Der Mensch als Person kann sich nur in der „Ich-Du-Begegnung“ als Person konstituieren. „Person als das vollentwickelte individuelle Selbst ist unmöglich ohne andere vollentwickelte Selbste.“517 Darauf wurde bereits oben hingewiesen. Am Widerstand der anderen Personen nehmen wir uns selbst wahr und werden so „wir selbst“. Erreicht die Seins-Mächtigkeit ihre Vollendung in der Struktur der Selbstbegegnung als Selbstmächtigkeit, so erreicht die Selbstmächtigkeit ihre Vollendung in der Struktur der „Ich-Du-Begegnung“. Somit kann eine Person „keine andere Person erobern, ohne sie als Person zu zerstören“518. Will die Person die andere Person nicht zerstören, muss sie ihre Selbstmächtigkeit anerkennen. Aus Tillichs Überlegungen hört man Anklänge an die „Ich-Du-Beziehung“519 Martin Bubers heraus, der zur gleichen Zeit mit Tillich in Frankfurt gelehrt hat. Hierzu schreibt Tillich in seiner Würdigung anlässlich des Todes von Buber im Jahr 1965: „Was ich abermals lernte und später in meinen

|| 515 Vgl. GW IX 169; vgl. auch GW III 84: „Der die Welt setzende Akt ist die Tat, in der das Seiende sich von seiner Unmittelbarkeit losreißt, in der es sich auf sich selbst stellt und alles Seiende sich gegenüberstellt.“ 516 GW IX 169; vgl. auch GW III 83: „Frei sein heißt, seiner selbst mächtig sein.“ 517 ST I 208; vgl. ST II 146: „Es gibt kein personhaftes Leben ohne die Begegnung Person zu Person“. 518 ST I 208. 519 Vgl. M. Buber, Ich und Du (1923), Heidelberg 101979.

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ethischen Schriften anwandte, ist die Einsicht, daß das Sittengesetz und seine unbedingte Gültigkeit mit der Forderung zusammenfallen, daß ich jede Person als Person, jedes ,Du‘ als ,Du‘ anerkenne und daß auch ich in gleicher Weise anerkannt werde.“520 In der „Ich-Du-Begegnung“ ist also Selbstmächtigkeit anerkannte Macht. Mit dem Begriff der Anerkennung, den Tillich in Zusammenhang mit dem der Gewalt bzw. des Zwangs bringt, stoßen wir auf das ethische Problem in der Machtproblematik.521

3 Ethik der Macht 3.1 Das Verhältnis von Ontologie und Ethik Zu Beginn dieses Kapitels wurde deutlich, dass Tillich durch die „Ontologisierung“ des Machtbegriffs beansprucht, Konfusionen im Verständnis der Macht und ihrem Verhältnis zu den anderen verwandten Leitbegriffen wie „Liebe“ und „Gerechtigkeit“ und die Probleme ihrer Anwendung im Bereich der Ethik zu lösen. „Denn man kann nicht über die ontologische Grundlage von Liebe, Macht und Gerechtigkeit sprechen, ohne ihre ethische Bedeutung im Auge zu haben, und wiederum läßt sich diese Bedeutung nicht erörtern, ohne ständig auf ihre ontologische Verwurzelung zu verweisen.“522 Dabei versucht Tillich nicht nur, die drei thematischen Konzepte „Liebe“, „Macht“ und „Gerechtigkeit“, die mit Recht als zentrale Begriffe der Ethik verstanden werden können, ontologisch zu fundieren, sondern er versteht die Ontologie auch als Schlüssel für das Verständnis der Ethik. „Ethische Probleme lassen sich nicht behandeln, ohne zugleich in irgendeiner Form etwas über die Natur des Seins auszusagen.“523 Wie ist aber das Ethische im Sein verwurzelt? Wenn Tillich schreibt: „Das Ethische schwebt nicht in der Luft eines abstrakten Werte-Himmels, sondern ist im Sein selbst verwurzelt“524, richtet er sich dabei nicht zuletzt gegen den Versuch der Wertphilosophie, die Ethik von der Ontologie abzulösen. Erklärend muss hier gesagt werden, dass dabei von einer „materialistischen Ontologie“ die Rede ist. Nach der Niederlage der klassischen deutschen Philosophie, nicht zuletzt des hegelianischen Systems, so Tillich, wurde nämlich die Deutung der

|| 520 GW XII 321. 521 Vgl. GW IX 212. 522 GW XI 189. 523 Ebd. 524 GW IX 218.

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Natur und des Menschen einem mechanistischen Naturalismus sowie einer materialistischen Ontologie unterworfen. „Die Ethik wurde als ein Teilgebiet der Biologie, Psychologie und Soziologie betrachtet. Jedes ,Seinsollen‘ wurde in ein ,Ist‘ verwandelt, jede Norm in ein Faktum, jede Idee in eine Ideologie.“525 In diesem Zusammenhang entstand die Wertphilosophie, deren bekannteste Vertreter Rudolf Hermann Lotze und Nicolai Hartmann sind und deren Ziel es ist, Natur und „menschliche Würde vor der Zerstörung durch den materialistischen Naturalismus zu bewahren“526. Als Verteidiger der Menschenwürde und der Elemente der Wirklichkeit, auf denen diese Würde beruht, ist zwar die Wertphilosophie für Tillich ein geistvoller Versuch,527 aber da sie in einer Zeit entstand, und zwar um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in der die Ontologie materialistisch ausgerichtet war, verwarfen die Wertphilosophen (mit Ausnahme von Scheler) alle ontologische Begründung der Werte.528 Ihnen zufolge hängen also die Werte nicht von der Ordnung des Seins ab, wie es der Naturalismus zu verstehen gibt, sondern sie „seien eigene Wesenheiten“529. Aber Tillich, der eine Werttheorie ohne ontologische Grundlage nicht für sinnvoll erachtet, wollte „die Niederlage der Metaphysik und die Flucht in die Verteidigungslinien der Werttheorie nicht als endgültig hinnehmen“530. Für ihn bleibt das Sein im Mittelpunkt, und so wurde „die Erfahrung des Seins als Seins-Macht […] die existentielle Erfahrung, aus der der größte Teil [seines] späteren Denkens erwuchs.“531 So behauptet er gegen die Wertphilosophen, aber auch gegen die Vertreter des Pragmatismus, die die Werte aus der Existenz ableiten, dass die Werte aus der Essentialstruktur des menschlichen Seins hergeleitet werden müssen, wenn sie auch in der Existenz erscheinen.532 Ausgehend von einer Betrachtung der Polarität von Essenz und Existenz macht Tillich deutlich, dass der ontologische Ort der Werte die menschliche Natur ist. Das Sollen versteht er als ein natürliches Gesetz, das in der essentiellen Natur des Menschen wurzelt. Und da der Mensch von seiner Essenz entfremdet ist, steht ihm das Gesetz gegenüber als eine Forderung.533

|| 525 GW XI 189. 526 GW III 100. 527 Vgl. GW XI 190; GW III 101. 528 Vgl. GW XI 190. 529 Ebd. 530 GW III 101. 531 Ebd. 532 Vgl. GW III 103ff.; GW XI 191ff. 533 Vgl. GW XI 192; dazu auch GW III 106: „Das moralische Gesetz ist die essentielle Natur des Menschen, die als fordernde Autorität erscheint. Wäre der Mensch mit sich und seinem essentiellen Sein geeint, gäbe es keine Forderung. Aber der Mensch ist sich selbst entfremdet, und die Werte, die er erfährt, erscheinen als Gesetze, als natürliche oder positive‚ fordernd, drohend,

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In diesem Sinne versteht Tillich die Ethik als „die Wissenschaft vom moralischen Verhalten des Menschen. Sie fragt nach den Wurzeln des Sittengesetzes, dem Prüfstein seiner Gültigkeit, den Quellen, aus denen es sich speist, und den Kräften, die zu seiner Verwirklichung erforderlich sind. Stets sind die Antworten auf diese Fragen unmittelbar oder mittelbar abhängig von der jeweiligen Auffassung vom Sein. Die Wurzeln des moralischen Imperativs, die Kennzeichen seiner Gültigkeit, seine inhaltliche Bestimmung und die Kräfte des sittlichen Wollens, dies alles kann nur durch eine Analyse des menschlichen Seins und der Struktur der Welt bestimmt werden.“534 Entscheidend ist nun für Tillichs Ethik die Schlüsselstellung, die hier Macht, Gerechtigkeit und Liebe zukommt. Zutreffend schreibt Konrad Glöckner hierzu: „Der Rekurs auf Tillichs eigenes Verständnis 1) von den Wurzeln des Sittengesetzes, d.h. der inneren Seinsmächtigkeit des Menschen, die […] auch der Prüfstein der Gültigkeit des Sittengesetzes ist, 2) von den Quellen, aus denen es sich speist, d.h. den Regeln der Gerechtigkeit und 3) von den Kräften, die zu ihrer Verwirklichung erforderlich sind, d.h. der Liebe […], hat gezeigt, dass er selbst seine zentralen ethischen Kategorien ontologisch begründet.“535

|| verheißend. Trotzdem ist es nicht eine fremde, heteronome Macht, die dem Gesetz Autorität verleiht, sondern das eigene essentielle Sein des Menschen. Und weil dieses die letzte Quelle des Gesetzes ist, hat das Gesetz trotz seiner wechselnden Inhalte unbedingte Gültigkeit.“ Im Sinne Tillichs ist also das Gesetz eine theonome Macht, die im Sein des Menschen wurzelt. (Vgl. GW XI 191ff.) 534 GW XI 189. 535 K. Glöckner, Personsein als Telos der Schöpfung. Eine Darstellung der Theologie Paul Tillichs aus der Perspektive seines Verständnisses des Menschen als Person, Münster 2005, 139.

3 Ethik der Macht | 283

3.2 Macht im Kontext von Gerechtigkeit und Liebe 3.2.1 Die innere Einheit von Macht, Liebe und Gerechtigkeit536 Trotz aller denkbaren Vorbehalte hinsichtlich einer geeigneten Definition des Seins537 hat sich gezeigt, dass der Machtbegriff metaphorisch die grundlegendste Beschreibung des Seins abgibt. „Danach ist Sein gleichbedeutend mit Seinsmächtigkeit, es ist die Macht zu sein.“538 Allerdings weist Tillich auf die Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit hin, den Machtbegrifft aus der Einheit herauszulösen, in der dieser mit den Begriffen der Liebe und der Gerechtigkeit steht.539 Denn die Dreiheit von „Liebe“, „Macht“ und „Gerechtigkeit“ „weist auf eine Dreiheit der Struktur des Seins-Selbst hin. Metaphysisch gesprochen sind Liebe, Macht und Gerechtigkeit so alt wie das Sein-Selbst.“540 Gerade von diesem Schnittpunkt aus, d.h. vom Sein aus, versucht Tillich, die Einheit der Termini „Liebe“, „Macht“ und „Gerechtigkeit“ herauszustellen. Die Schwierigkeit solch einer einheitlichen und umfassenden Rekonstitution übersieht Tillich nicht. Gerade aufgrund der Bedeutungsvielfalt jedes einzelnen dieser Begriffe, sei es umgangssprachlich, begriffsgeschichtlich oder systematisch-wissenschaftlich, ist dies äußerst schwierig, ebenso aufgrund der Missverständnisse und Verwirrungen, denen sie ausgesetzt sind, sei es hinsichtlich der Erörterung der inhaltlichen Füllung der einzelnen Begriffe oder in ihrer Beziehung zueinander. Allerdings erscheint Tillich solch eine einheitliche Rekonstitution möglich, wenn man diese Begriffe und ihre Beziehung zueinander in einem ontologischen Explikationsrahmen betrachtet. Denn „Ontologie ist der Weg“, schreibt er, „mit deren Hilfe sich die Grundbedeutung aller Prinzipien und somit

|| 536 Vgl. C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich (= Tillich-Studien 22), Münster 2010, 201ff.; W. Schüßler, Zwang – das „fremde Werk“ der Liebe. Zu Paul Tillichs Ontologie der Macht, Gerechtigkeit und Liebe, in: J.-P. Ernst / M. Kehl / M. Thal / D. Groß (Hg.), Medizin – Zwang – Gesellschaft (= Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart, hg. von D. Groß), Berlin 2012, 19–34, hier 28ff.; ders., Macht und Gewalt. Versuch einer philosophisch-theologischen Annäherung, in: Ders., / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 11–37, hier 26ff.; ders., Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 4 2015, 201–230, hier 219. 537 Das Sein kann ja nicht definiert werden (vgl. GW XI 165). 538 GW XI 166. 539 Vgl. GW IX 206; GW XI 143. 540 GW XI 156.

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auch der drei Begriffe unserer Untersuchung bestimmen läßt“541. Wie Tillich aufgrund einer ontologischen Deutung von der Einheit der Begriffe Liebe, Macht und Gerechtigkeit sprechen kann, ist nun in den Blick zu nehmen. Dabei geht er von den Missverständnissen aus, denen „Liebe“, „Macht“ und „Gerechtigkeit“ in ihrer einzelnen Füllung sowie in ihrem Verhältnis zueinander ausgesetzt sind, und er bietet von hier aus eine ontologische Analyse als Ausweg an. Im Blick auf den Begriff der Liebe betreffen die Missverständnisse nach Tillich zum einen die Deutung der emotionalen Dimension der Liebe, der zufolge die Liebe sich aller begrifflichen Auffassung entzieht und somit in ihren verschiedenen Qualitäten542 nur gefühlt werden kann;543 zum anderen die ethische Deutung der Liebe, die auf den Imperativ „du sollst“ zurückweist;544 sowie schließlich den Begriff der „Selbstliebe“545, den Tillich für problematisch hält, zumal Liebe eine Trennung zwischen dem Liebenden und dem Geliebten voraussetzt, aber es keine Trennung in der Struktur des Selbstbewußtseins gibt.546 Alle diese Missverständnisse können nach Tillich nur überwunden werden, wenn man Liebe in ihrer ontologischen Natur versteht, in der ihre Einheit ins Licht kommt. „Die Ontologie der Liebe erschließt uns die Grundeinsicht, daß Liebe in sich eins ist.“547 Ausgehend von dem Lebensbegriff, verstanden als „verwirklichtem Sein“548, und der Liebe als „bewegender Macht im Leben“549, versteht Tillich Liebe ontologisch als das „Verlangen nach der Einheit des Getrennten“550 bzw.

|| 541 MW III 586. 542 Zur Darstellung der vier Qualitäten der Liebe „epithymia“ bzw. „libido“, „eros“, „philia“ und „agape“ vgl. GW XI 160ff. Vgl. dazu auch C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich (= Tillich-Studien 22), Münster 2010, 287ff.; W. Schüßler, Philosophischer Eros und christliche Agape. Ein unversöhnlicher Gegensatz?, in : R. Brandscheid / M. Röbel / M. Schaeidt / W. Schüßler, Eros oder Agape? Die Frage nach der Liebe, Würzburg 2018, 55–80, hier 68–79; ders., Das Sein und die Liebe. Zur ontologischen Dimension der Liebe bei Paul Tillich und Karl Jaspers, in: W. Schüßler / M. Röbel (Hg.), LIEBE – mehr als ein Gefühl. Philosophie – Theologie – Einzelwissenschaften, Paderborn 2016, 17–42, hier 23–31. 543 Vgl. GW XI 144. 544 Vgl. GW XI 145. Bereits zwischen der emotionalen und ethischen Deutung der Liebe sieht Tillich einen Widerspruch und fragt kritisch: „Wenn […] Liebe nur Gefühl ist, wie kann sie gefordert werden?“ (GW XI 145) Und er gibt darauf die Antwort: „Liebe als Gefühl kann nicht befohlen werden. Entweder ist also die Liebe mehr als ein bloßes Gefühl, oder das ,vornehmste Gebot‘ ist sinnlos.“ (Ebd.) 545 GW XI 146. 546 Vgl. GW XI 164. 547 GW XI 160. 548 GW XI 158. 549 Ebd. 550 GW XI 159.

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als den „Drang zur Wiedervereinigung des Getrennten“551, wobei der Begriff der Trennung eine ursprüngliche Einheit voraussetzt. Hier bekommt die emotionale Deutung der Liebe einen neuen Sinn: Danach ist Liebe als Gefühl die Vorwegnahme der Wiedervereinigung, die in jeder Liebesbeziehung erfahren wird, d.h. „die ontologisch begründete Bewegung zum anderen [kommt] im Gefühl zum Ausdruck“552. Dass „die ethische Natur der Liebe von ihrer ontologischen Natur abhängt, wie auch, daß die ontologische Natur der Liebe durch ihren ethischen Charakter näher bestimmt wird“553, erscheint in einem neuen Licht. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Entfremdung, den Tillich mit dem der Trennung gleichsetzt. Wie schon angedeutet, erklärt sich nach Tillich die Forderung des natürlichen Gesetzes für den Menschen dadurch, dass er von sich selbst entfremdet ist. „Wäre der Mensch mit sich und seinem essentiellen Sein geeint, gäbe es keine Forderung. Aber der Mensch ist sich selbst entfremdet, und die Werte, die er erfährt, erscheinen als Gesetze, als natürliche oder positive‚ fordernd, drohend, verheißend. Trotzdem ist es nicht eine fremde, heteronome Macht, die dem Gesetz Autorität verleiht, sondern das eigene essentielle Sein des Menschen.“554 Ist die Entfremdung in diesem Zusammenhang die „Trennung eines Selbst vom Selbst“555, so ist die Liebe „die Wiedervereinigung des Entfremdeten“556. Tillich betont: „Die Person in ihrer individuellen Eigenart ist das am stärksten getrennte Wesen, zugleich aber auch der Träger der mächtigsten Liebe.“557 Im Blick auf die „Selbstliebe“ macht Tillich darauf aufmerksam, dass dieser Begriff nur metaphorisch gebraucht werden kann, da die Liebe der Drang nach Wiedervereinigung des Getrennten ist und es keine Trennung in der Struktur des Selbstbewusstseins gibt. „Selbst als Teil ist das Individuum unteilbar, denn auch in dieser Rolle ist es mehr als ein Teil.“558 Statt Selbstliebe sollte man nach Tillich von „Selbstbejahung“ (im Sinne von: „seinen Nächsten lieben wie sich selbst“), „Selbstsucht“ (im Sinne von: danach streben, „alle Dinge an sich zu ziehen“), oder „Selbstannahme“ (im Sinne von: „Bejahung seiner, so wie Gott uns bejaht“)559 sprechen, wobei die „Selbstsucht“ einen negativen Charakter hat.

|| 551 GW XI 160. 552 GW XI 159. 553 GW XI 145. 554 GW III 106. 555 GW XI 159. 556 Ebd. 557 Ebd. 558 Ebd. 559 Vgl. GW XI 164.

286 | Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich

Dass die Missverständnisse hinsichtlich des Machtbegriffs einerseits die naturwissenschaftliche sowie die sozialwissenschaftliche Bedeutung von Macht im Sinne von „Kraft“ bzw. „Gewalt“ und andererseits die politische Dimension der Macht nicht zuletzt in ihrer Beziehung zum Element des Zwanges betreffen,560 darauf wurde bereits wiederholt hingewiesen. „Diese Unklarheiten im Verhältnis von Macht und Zwang“, schreibt Tillich, „lassen sich nur ausschalten, wenn wir bis zu den ontologischen Wurzeln der Macht vorstoßen“561. Da ich mich in den folgenden Abschnitten noch ausführlicher dem Gedanken des inneren Zusammenhangs von Macht und Gewalt bzw. Zwang widmen werde, kann ich es an dieser Stelle bei diesen Bemerkungen bewenden lassen. Bezüglich der Missverständnisse hinsichtlich des Begriffs der Gerechtigkeit stellt Tillich heraus, wie sich u.a. die Momente juristisch bestimmter Gerechtigkeit, moralischer Rechtschaffenheit und religiöser Rechtfertigung voneinander unterscheiden.562 Auch hier sieht er nur den Ausweg in einer Ontologie der Gerechtigkeit, in der diese nicht als Idee, sondern als Strukturmerkmal des Seins, nämlich als die „Form des Seienden“563 verstanden wird. In diesem Sinne versteht er unter Gerechtigkeit, dass jedes Seiende gemäß seiner Seinsmächtigkeit existieren kann. Dies bedeutet im Hinblick auf die ontologische Beziehung von Macht und Zwang, wie es sich im nächsten Abschnitt zeigen wird, dass eine mit Zwang verbundene Machtausübung nur dann gerecht ist, wenn dadurch keine Seinsmächtigkeit zerstört oder unterdrückt wird. Zusammenfassend schreibt Tillich im Hinblick auf die innere Einheit von Liebe, Macht und Gerechtigkeit: „Die Grundformel der Macht und die Grundformel der Liebe sind identisch: Trennung und Wiedervereinigung oder Sein, das Nichtsein in sich hineinnimmt.“564 Dabei ist die Form, in der sich die Liebe wiedervereint und die Macht sich aktualisiert, die Gerechtigkeit. Darin besteht die ontologische Einheit von Liebe, Macht und Gerechtigkeit. Mit anderen Worten: Die Macht zu sein kann nur auf dem Weg der Liebe und nur in der Form der Gerechtigkeit aktuell werden. Diese ontologische Einheit von Liebe, Macht und Gerechtigkeit macht Tillich geltend in der Beurteilung des Verhältnisses von Macht und Gewalt bzw. Zwang. Im Blick auf die Beziehung von „Liebe“, „Macht“ und „Gerechtigkeit“ untereinander macht Tillich nämlich darauf aufmerksam, dass die Verflechtung dieser

|| 560 Vgl. GW XI 146ff. 561 GW XI 147. 562 Vgl. GW XI 148. 563 GW XI 177. 564 GW XI 174.

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Begriffe auch Zweideutigkeiten und Probleme mit sich bringt. Augenfällig ist dabei zunächst die Spannung zwischen Liebe und Macht, nicht zuletzt wenn Liebe gefühlsmäßig als „Verzicht auf Macht“ und Macht als „Verneinung der Liebe“ bzw. als Zwang verstanden werden. Dies macht er deutlich am Beispiel von Nietzsches Missverständnis des christlichen Liebesbegriffs, der den „Willen zur Macht“ der Liebe gegenüberstellt, oder der christlichen Theologen, die den „Willen zur Macht“ Nietzsches verwerfen, nicht zuletzt an Albrecht Ritschls metaphysikfeindlicher Ethik, der in seiner ethischen Auffassung der Liebe Gottes das Moment der Macht übersieht.565 Am deutlichsten ist die Spannung zwischen Liebe und Macht im sozialethischen Bereich. Hierzu schreibt Tillich: „Eine sinnvolle Sozialethik setzt die Einsicht voraus, daß Machtstrukturen ein Element der Liebe enthalten müssen, wie auch, daß in der Liebe ein Element der Macht vorhanden sein muß, ohne das die Liebe zur chaotischen Hingabe wird. Und diese Einsicht kann nur durch eine ontologische Analyse von Liebe und Macht gewonnen werden.“566 Solch eine ontologische Analyse kann auch die Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit entschärfen, wo sehr oft Liebe mit Sentimentalität (etwa nach dem Motto: „Ich weiß, was für ein Verbrechen du begangen hast, und die Gerechtigkeit verlangt eigentlich, daß ich dich vor Gericht bringe, aber aus christlicher Nächstenliebe will ich dich laufen lassen“567) gleichgesetzt wird, die, statt etwas zur Gerechtigkeit beizutragen, letztlich zur Ungerechtigkeit führt. Bezugnehmend auf Hegel behauptet Tillich in diesem Zusammenhang, dass der Verbrecher ein Recht auf Strafe hat,568 da Gerechtigkeit die Form ist, in der sich die Macht des Seins verwirklicht.569 Dies führt uns zur Spannung zwischen Macht und Gerechtigkeit. Auch hier herrschen Missverständnisse und Unklarheiten besonders über „das Verhältnis von Gesetz und Ordnung zur Gerechtigkeit und ihrer aller Verhältnis zur Macht“570. Nach Haigis rekurriert Tillich hierzu „auf die marxistische Staats- und Herrschaftstheorie als Resultat einer nicht zu Ende gedachten Reflexion auf das Verhältnis von Macht und Gerechtigkeit sowie auf eine Natur- bzw. Vernunftrechtslehre, die im Gegenzug nicht die Gerechtigkeit als

|| 565 Vgl. GW XI 149ff. 566 GW XI 150. 567 GW XI 151. 568 Vgl. GW XI 186. Dass der Verbrecher ein Recht auf Strafe hat, bedeutet, dass die Ausübung von Gewalt oder Zwang gerecht ist, wenn sie der Reduzierung einer übermäßigen Seinsmächtigkeit auf ihr eigentliches, ihrem inneren Anspruch entsprechendes Maß dient. 569 Vgl. GW XI 177ff. 570 GW XI 152.

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Funktion der Macht versteht, sondern die absolute Gültigkeit positiven Rechts jenseits aller gegebenen Machtverhältnisse behauptet“571. Angesichts all dieser Probleme und Missverständnisse zeigt Tillich die ontologische Analyse von Liebe, Macht und Gerechtigkeit als Ausweg auf. Ausgehend von einer Analyse dieser Begriffe als Strukturmerkmale des Seins versucht Tillich, ihre Einheit herauszustellen. Danach ist Sein die Macht zu sein, Liebe die bewegende Macht im Leben, wobei Leben verwirklichtes Sein ist, und Gerechtigkeit die Form, in der sich die Macht des Seins verwirklicht. Zutreffend schreibt Peter Haigis: „In Tillichs Argumentationslinie erscheint insgesamt der Aufweis der ontologischen Einheit von Liebe, Macht und Gerechtigkeit als Ziel […], um sodann diese Einheit als Grundlage für die ethische Reflexion […] anzubieten.“572 Allerdings scheinen die Elemente von Gewalt und Zwang im Machtbegriff diese Einheit zu stören. Deshalb ist es nun angebracht, sich der Interpretation des inneren Zusammenhangs von Macht, Gewalt und Zwang bei Tillich zuzuwenden, um von hier aus die Einheit dieser Begriffe nicht zuletzt in Bezug auf die zwischenmenschlichen Beziehungen sowie die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen aufweisen zu können.

3.2.2 „Macht bedarf der Gewalt“: Zum ontologischen Zusammenhang von Macht und Gewalt573 Bei der Machtproblematik ist das Problem der Gewalt bzw. des Zwanges von besonderer Bedeutung. Das Verhältnis der Macht zur Gewalt ist ja, so Tillich, „das große ethische Problem in aller Machtproblematik“574. Ist Gewalt identisch mit Macht, oder ist sie der Macht gegenüber ein fremdes Phänomen, so dass kein

|| 571 P. Haigis, Diesseits des Seins. Wie die Ontologie den Blick auf sozialethische Debatten verstellen kann, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Justice, Power, and Love (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9), Berlin / Boston 2014, 1– 26, hier 8. 572 Ebd., 9. 573 Vgl. W. Schüßler, Macht und Gewalt. Versuch einer philosophisch-theologischen Annäherung, in: Ders., / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 11–37, hier 20ff.; ders., Zwang – das „fremde Werk“ der Liebe. Zu Paul Tillichs Ontologie der Macht, Gerechtigkeit und Liebe, in: J.-P. Ernst / M. Kehl / M. Thal / D. Groß (Hg.), Medizin – Zwang – Gesellschaft (= Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart, hg. von D. Groß), Berlin 2012, 19–34, 26ff. 574 GW IX 212.

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Übergang zwischen beiden möglich ist? Oder stellt sich Gewalt als ein Phänomen dar, in das sich Macht jederzeit entwickeln kann, so dass Gewalt nicht von der Macht abzugrenzen ist, sondern in ihr enthalten ist? Als ein Kernphänomen des Politischen wird das Verhältnis von Macht und Gewalt besonders im Bereich der politischen Philosophie von Denkern wie Michel Foucault oder Hannah Arendt behandelt. Es hat sich gezeigt, dass in den Machttheorien dieser Autoren Macht als ein Interaktionsverhältnis gesehen wird, das auf der konsensorientierten Verständigung und Handlungsfähigkeit aller Beteiligten beruht. Gewalt dagegen wird als ein dieser Sphäre nicht genuin zugehöriges Phänomen verstanden, sei es bei Arendt, für die Macht und Gewalt gegensätzliche Kategorien darstellen,575 oder bei Foucault, der zwar den Einsatz von Gewalt als „Mittel“576 bzw. als Option der Macht nicht ausschließt,577 aber für den Gewalt nicht prinzipiell zur Machtausübung gehört.578 Macht, die als eine Form des gemeinsamen Handelns gilt,579 unterscheidet sich somit nicht nur von der Gewalt, die diese Handlungsfähigkeit bei den Gewaltbetroffenen zerstört,580 sondern grenzt sich von ihr auch ab. Demnach ist Macht ein Moment der Zustimmung und der Anerkennung,581 und Gewalt wird dagegen begriffen als Vergewaltigung, die diese Anerkennung untergräbt und somit die Macht zerstören kann. Dass Macht sich von der Gewalt unterscheidet und nicht mit ihr gleichzusetzen ist, liegt auf der Hand. Aber greift nicht die Gegenüberstellung von Macht und Gewalt zu kurz, zumal Hannah Arendt selbst eingesteht, dass die von ihr so strikt voneinander getrennten Phänomene Macht und Gewalt meist auf bestimmte Art und Weise miteinander verbunden sind und selten in Reinform auftreten?582 An dieser Stelle ist es recht seltsam, dass eine zeitgenössische Autorin wie Katrin Meyer, die selbst über

|| 575 Vgl. MuG 57. 576 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 286. 577 Vgl. ebd. 578 Vgl. ebd. 579 Für Hannah Arendt beruht Macht auf der „zeitweiligen Übereinstimmung vieler Willensimpulse und Intentionen“ (VA 254). 580 Vgl. K. Meyer, Krisis des Machtbegriffs und Kritik der Gewalt, in: Studia philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 74 (2015) 93–105, hier 97. 581 „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält.“ (MuG 45) 582 So schreibt Arendt: „Auch Macht und Gewalt treten gewöhnlich [...] kombiniert auf und sind nur in extremen Fällen in ihrer reinen Gestalt anzutreffen.“ (MuG 48)

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Nietzsche, den Philosophen des „Willens zur Macht“, gearbeitet hat,583 in mehreren ihrer Beiträge zum Verhältnis von Macht und Gewalt nicht zuletzt bei Foucault und Arendt584 zu dem Ergebnis kommt, dass Macht und Gewalt voneinander getrennt werden müssen.585 Dies ist umso unverständlicher, da sie dabei von einem ontologischen Machtbegriff ausgeht586 und meint, „Kriterien zu gewinnen, um Machtverhältnisse zu definieren, die weder Gewalt produktiv machen noch zur Gewalt ermächtigen“587. Gegen diese radikale Gegenüberstellung von Macht und Gewalt hat sich bereits mit Karl Jaspers gezeigt, dass „kein menschliches Leben ohne die Realität der Gewalt besteht“588. Auch für Tillich ist die radikale Gegenüberstellung von Macht und Gewalt realitätsfern, wenn er nicht nur von der „Unvermeidlichkeit der Gewalt oder des Zwanges“589 in der Machtproblematik, sondern auch von der Angewiesenheit der Macht auf Gewalt und Zwang spricht. Denn „Macht verwirklicht sich durch Gewalt und Zwang“590, auch wenn sie weder das eine noch das andere ist,591 wobei Tillich

|| 583 Vgl. K. Meyer, Ästhetik der Historie. Friedrich Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, Würzburg 1998. 584 Vgl. dazu K. Meyer, Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt, Basel 2016; dies., Krisis des Machtbegriffs und Kritik der Gewalt, in: Studia philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft, 74 (2015) 93–105. 585 Katrin Meyer weist zwar auf eine mögliche Verbindung zwischen Macht und Gewalt hin und kennt eine „Gewalt, die sich auf eine Machtbasis abstützt und sich durch diese ermächtigen lässt“ (dies., Krisis des Machtbegriffs und Kritik der Gewalt, in: Studia philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft 74 [2015] 93–105, hier 100); sie spricht auch von der „Macht der Gewalt“, die sich zeigt, „wenn eine gewaltbetroffene Person physische und psychische Gewalt überlebt“ (ebd., 101). Statt einer Verbindung zwischen Macht und Gewalt geht es ihr dabei aber in Wirklichkeit um Formen der sozialen und politischen Gewalt, die eine Grundlage dafür bieten, Macht von Gewalt zu unterscheiden und „Machtpraktiken normativ nach ihrer Gewaltförmigkeit zu beurteilen“ (vgl. ebd., 100). So konstatiert Meyer, dass die „Macht zur Gewalt“ die radikale Gegenüberstellung von Macht und Gewalt bestätigt, statt diese Gegenüberstellung in Frage zu stellen (ebd.). In der Einleitung ihres Buches über das politische Denken Arendts schreibt Meyer. „Die These dieses Buches lautet, dass die normative Differenzierung eines ontologisch weiten Machtbegriffs möglich ist, wenn sie sich an der qualitativen Unterscheidung von Macht und Gewalt orientiert.“ (Dies., Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt, Basel 2016, 18) 586 Vgl. K. Meyer, Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt, Basel 2016, 8f. 587 K. Meyer, Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt, Basel 2016, 18. 588 UZG 149. 589 GW IX 213; GW IX 207: „Macht enthält immer Zwang.“ Vgl. auch GW XI 147. 590 GW XI 173. 591 Vgl. ebd.

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generell Gewalt und Zwang als austauschbare Begriffe gebraucht.592 Ausgehend von dem Element der Spontaneität, die sich in der Einwirkung der Gewalt auf Lebewesen zeigt, differenziert Tillich sein Verständnis von Gewalt.593 Gemeint ist mit „Gewalt“ nämlich die Stärke bzw. das Vermögen eines Dinges zur Durchführung einer Handlung, die den Wesenskern anderer Dinge betrifft, ohne dass deren Mitwirkung berücksichtigt wird.594 Dabei liegt die Grenze der Gewaltanwendung dort, wo das Gewaltbetroffene seine Mitte bzw. seine Identität verliert, also zerstört wird. Im Unterschied zum Anorganischen ist die Reaktion auf Gewaltanwendung im Bereich der Lebewesen unberechenbar, zumal ein Lebewesen spontan reagiert. Spontaneität wird durch einen Reiz angeregt, aber sie kann nicht erzwungen werden, da es sich um die ganzheitliche Reaktion eines unteilbaren Zentrums handelt, das ein Individuum konstituiert. So schlägt Tillich vor, im organischen Bereich, besonders in der zwischenmenschlichen Begegnung, statt von Gewalt besser von Zwang oder Nötigung zu sprechen, da zumindest ein psychologischer Widerstand überwunden werden muss. „Soweit die Gewalt in ihrer Einwirkung auf Lebewesen nicht ohne Spontaneität auskommt, wäre es vielleicht besser, von Zwang oder Nötigung zu sprechen. Das ist sicherlich der Fall in den Begegnungen zwischen Menschen. Denn in den Ausdrücken ,Zwang‘ oder ,Nötigung‘ liegt die Vorstellung eines psychologischen Widerstands, der überwunden werden muß. Und diesen Widerstand muss die Macht brechen, wenn sie es mit Menschen zu tun hat.“595 Tillich unterscheidet drei verschiedene Formen des Zwanges. Erstens den Zwang auf der physischen Ebene, „wo man entsprechend den mechanischen oder biologischen oder auch psychologischen Gesetzen Kausalität ausübt“596. Weil diese Art der Gewaltanwendung „an dem Zentrum des Seins vorbeigeht“, ist sie für Tillich „in gewisser Weise die harmloseste“597 bzw. eine „Vorform“598. Zweitens den Zwang auf der seelischen Ebene, wenn also der Zwang wesentlich tiefer geht, nicht zuletzt wenn die Seinsmächtigkeit mit Nichtsein bedroht wird.599 Tillich spricht hier vom „eigentlichen Problem“600 der Gewalt. Drittens den Zwang, der das

|| 592 Vgl. GW IX 212ff., GW XI 147, 172; dazu auch W. Schüßler, Zwang – das „fremde Werk“ der Liebe. Zu Paul Tillichs Ontologie der Macht, Gerechtigkeit und Liebe, in: J.-P. Ernst / M. Kehl / M. Thal / D. Groß (Hg.), Medizin – Zwang – Gesellschaft (= Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart, hg. von D. Groß), Berlin 2012, 19–34, 26. 593 Vgl. GW XI 172ff. 594 Vgl. GW XI 172. 595 GW XI 173. 596 GW IX 213. 597 Ebd. 598 GW XI 214. 599 Vgl. GW XI 124. 600 Ebd.

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psychische Zentrum zerstört und zur „Reduktion des Selbst zum Ding und zum Objekt einfacher Kausalität“601 führt. Hierbei handelt es sich um eine „äußerste Entartung“602. Tillich fasst zusammen: „Die erste Form des physischen Zwanges ist verhältnismäßig selten, sie findet ihre Anwendung etwa bei kleinen Kindern, bei Kranken, bei Verbrechern, bei Gefangenen. Aber all das wird zum echten Zwang nur im Zusammenhang mit dem zweiten, nämlich der Drohung mit Nichtsein, die als Schmerz erlebt wird. Die dritte Form appelliert nicht mehr an die Angst vor dem Nichtsein […]. Die dritte Form schaltet das Zentrum aus und damit die Seinsmächtigkeit des Menschen als Menschen, sie löscht es aus. Der Mensch wird nicht kausal vernichtet, aber er wird als Mensch vernichtet.“603 Wie lässt sich die Unvermeidlichkeit der Gewalt oder des Zwanges in der Machtproblematik und die Angewiesenheit der Macht auf Gewalt oder Zwang erklären? In seiner Antwort setzt Tillich wieder ontologisch an. „Macht ist Sein, das sich gegen die Drohung des Nichtseins behauptet. Sie gebraucht und mißbraucht den Zwang, um diese Drohung zu überwinden. Sie gebraucht und mißbraucht Gewalt, um sich zu verwirklichen.“604 Jede Machtbeziehung schließt nach Tillich immer zwei Elemente in sich: Das eine ist Anerkennung und das andere Zwang.605 Gemeint ist mit der Anerkennung die Forderung, dass jeder in zwischenmenschlichen Machtbeziehungen als Person anerkannt und als solche behandelt wird oder die „schweigende Selbstbegrenzung“606 der Beherrschten, durch die sie die Machtgruppe anerkennt und somit bestätigt.607 Das Leben hat aber, wie wir gesehen haben, keinen statischen, sondern einen dynamischen Charakter. Es ist keine tote Identität. Und wie stark die Seinsmächtigkeit eines Seienden ist, Nichtsein in sich aufzunehmen und zu überwinden, ist somit nicht im Voraus statisch festgelegt. Dies entscheidet sich erst in der Begegnung mit anderen Seinsmächtigkeiten.608 Für Tillich geht die Unvermeidlichkeit der Gewalt bzw. des Zwanges in der Machtproblematik aus dieser „Situation des Nicht-Entschieden-Seins des Lebendigen“609 hervor. „Wäre das Lebendige ein für allemal in seinem Charakter, in seinen Grenzen entschieden,

|| 601 Ebd. 602 Ebd. 603 Ebd. 604 GW XI 173; vgl. auch GW IX 212. 605 Vgl. GW IX 212 u. 225. 606 GW IX 212. 607 Vgl. GW IX 225ff. 608 Vgl. GW IX 213. 609 Ebd.

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dann würde keine Gewalt notwendig sein.“610 Die Entscheidung aber bringt ein Moment des Risikos mit sich, in dem sich die Gewaltanwendung ambivalent zeigt: „Risiko heißt, daß die Gewaltanwendung notwendig und zerstörerisch sein kann.“611 Diese Ambivalenz in der Gewaltanwendung, dass Gewalt auf der einen Seite Selbstverwirklichung ermöglicht, aber auf der anderen Seite zugleich zur Selbststörung und zur Störung des Wesenskerns des Anderen führen kann, bringt Tillich mit dem Begriff der „Tragik alles Lebendigen“612 zum Ausdruck. Zwang ist jedoch nur sinnvoll, solange er dem „wirklichen Machtverhältnis“613, d.h. „der tatsächlichen Bedrohung durch das Nichtsein“614, um mit Erdmann Sturm zu sprechen, entsprechend ausgeübt wird. Sobald er diese Grenze jeder Form der Anerkennung überschreitet, wenn also eine Machtstruktur aufrecht erhalten wird, die nicht Ausdruck der tatsächlichen Machtbeziehung ist, untergräbt Zwang die Macht (und damit sich selbst), die er aufrecht erhalten soll. „Gewalt dient der Macht, aber wenn sie die Macht, der sie dienen soll, zerstört, widerspricht sie ihrem eigenen Sinn.“615 Dies führt uns zu der Frage, wie sich die Drohung und Ausübung von Gewalt mit den Elementen der Liebe und Gerechtigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen sowie im sozialen und politischen Bereich vereinbaren lassen.

3.2.3 Gewalt und Liebe Aus dem Gesagten geht hervor, dass jede Verwirklichung von Macht eines Elements der Gewalt bzw. des Zwanges bedarf. Wenn das so ist, schließt dann die Macht nicht die Liebe aus, zumal der Zwang als „das ,fremde Werk‘ der Liebe“616 erscheint, um einen Ausdruck zu verwenden, der auf Martin Luther zurückgeht? Wenn Macht zu ihrer Verwirklichung Gewalt und Zwang ausübt, wie gehen dann Macht und Liebe zusammen?

|| 610 Ebd. 611 Ebd.; vgl. auch GW IX 221. 612 GW IX 213. 613 GW IX 173. 614 E. Sturm, Macht und Gewalt im politischen Denken Paul Tillichs, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= TillichStudien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 53–86, hier 82. 615 P. Tillich, Shadow and Substance: A Theory of Power, in: Ders., Political Expectation, hg. v. J. L. Adams, New York 1971, 115–124, hier 123. 616 GW XI 174.

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In seiner Antwort geht Tillich wieder von einer ontologischen Erörterung der beiden Begriffe Macht und Liebe aus. Bekanntlich hält Tillich die Liebe für den „Drang nach der Wiedervereinigung des Getrennten“617. Dabei setzt Trennung eine ursprüngliche Einheit voraus. Wenn das Sein die Macht ist, die das Nichtsein in sich aufnimmt und es überwindet, dann setzt die Trennung des Nicht-Seins vom Sein die ursprüngliche Einheit beider voraus. Dementsprechend widersteht das Sein dem Nicht-Sein, weil es den Drang hat, die Trennung zu überwinden und die ursprüngliche Einheit wieder herzustellen. Die Möglichkeit, diese Trennung zu überwinden und somit das Nicht-Sein zu besiegen, hat Tillich als Macht des Seins oder Macht zu sein beschrieben. Wenn Liebe als Drang zur Überwindung des Getrennten verstanden wird, dann ist sie nach Tillich das Fundament der Macht und der Prozess, in dem die Seinsmächtigkeit das Nicht-Sein überwindet. Daraus zieht Tillich den Schluss, dass Macht und Liebe in ihrer Tiefe eine Einheit bilden. „Die Liebe ist das Fundament, nicht die Verneinung der Macht. Ob man nun sagt, daß das Sein das Nichtsein in sich birgt oder daß das Sein sich von sich selbst trennt, um sich wieder mit sich zu vereinigen, ist völlig gleichgültig. Die Grundformel, mit der man den Prozeß in der Liebe und in der Macht wiedergeben kann, ist identisch: Trennung und Wiedervereinigung oder Sein, das Nichtsein in sich hineinnimmt.“618 Dass Liebe der Prozess ist, in dem sich die Seinsmächtigkeit verwirklicht, ist allerdings nur die eine Seite. Auf der anderen Seite braucht Liebe, um das Getrennte wiederzuvereinigen, Zwang, der das überwinden muss, was gegen die Liebe ist.619 „Um zu überwinden, was gegen die Liebe ist, muß sich Liebe mit der Macht verbinden, und zwar nicht nur mit der Macht als solcher, sondern auch mit der Macht, insofern sie Zwang ausübt.“620 Dies hat Konsequenzen für den sozialen Machtaufbau. Die stillschweigende Zustimmung bzw. Anerkennung, die eine herrschende Gruppe von den Beherrschten erfährt, läßt sich für Tillich nicht verstehen ohne den Gruppen- oder Gemeinschaftsgeist, der aus der Liebe stammt.621 Die herrschende Gruppe vertritt nämlich nach Tillich nicht nur die Macht. Sie verkörpert die ganze Gemeinschaft, ihre Ideale und ist Träger ihrer Wertvorstellungen. „So

|| 617 ST III 160. 618 GW XI 174. 619 Vgl. W. Schüßler, Zwang – das „fremde Werk“ der Liebe. Zu Paul Tillichs Ontologie der Macht, Gerechtigkeit und Liebe, in: J.-P. Ernst / M. Kehl / M. Thal / D. Groß (Hg.), Medizin – Zwang – Gesellschaft (= Schriftenreihe Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart, hg. v. D. Groß), Berlin 2012, 19–34, 31ff. 620 GW XI 174. 621 Vgl. GW XI 207.

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hängen Macht und Gerechtigkeit in einer sozialen Gruppe vom Gemeinschaftsgeist ab, und das heißt von der vereinigenden Liebe, die die Gemeinschaft begründet und erhält.“622 Zurecht kann man hier mit Tillich behaupten, dass jede Machtbeziehung die Einheit von zwei Elementen darstellt, nämlich die stillschweigende Anerkennung und den Zwang; aber die eigentliche Grundlage der Macht der führenden Gruppe ist vielleicht doch der aus der Liebe stammende Gemeinschaftsgeist.623 Nun erhebt sich aufgrund der Einheit von Liebe und Macht die Frage, wie das Element des Zwanges in der Macht mit der Liebe in Einklang steht. Für Tillich bedarf die Liebe des Elementes des Zwanges in der Macht, um zu überwinden, was gegen das Ziel der Liebe ist, was also die Wiedervereinigung des Getrennten verhindert.624 Tillich spricht in diesem Zusammenhang von dem „tragischen Charakter der Liebe“625. Diese Tragik ist unvermeidlich, denn das „Element des Zwanges stellt den Preis dar, der für die Wiedervereinigung des Getrennten gezahlt werden muß“626. Gewalt ist in diesem Zusammenhang somit immer tragisch, weil sie immer ambivalent ist: Sie ist notwendig, und zugleich kann sie aber auch zerstörerisch sein. Aber der Zwang steht im Gegensatz zur Liebe, sobald er eine gewisse Grenze überschreitet und dem Ziel der Liebe entgegensteht. „Liebe muß durch Gewalt das niederzwingen, was gegen die Liebe gerichtet ist. Aber die Liebe kann nicht den Menschen vernichten, der gegen die Liebe verstößt. Selbst wenn sie sein Tun zunichte macht, vernichtet sie nicht ihn selbst. Sie versucht, ihn zu retten und ihm zur Selbsterfüllung zu verhelfen, indem sie das in ihm auslöscht, was gegen die Liebe ist. Das Kriterium, nach dem hier entschieden wird, ist: Alles, was eine Wiedervereinigung unmöglich macht, ist gegen die Liebe.“627 Wenn aber der Zwang ein Wesen vernichtet, statt es zur Selbsterfüllung zu führen, stoßen wir auf das Verhältnis des Elements des Zwanges in der Macht zur Gerechtigkeit.

|| 622 Ebd. 623 Vgl. ebd. 624 Vgl. GW XI 174. 625 GW XI 175. 626 Ebd. 627 GW XI 174f.

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3.2.4 Gewalt und Gerechtigkeit Tillich geht hier von der Gerechtigkeit nicht als einer sozialen, sondern als einer ontologischen Kategorie aus.628 Dabei beruft er sich unter anderem auf Plato, dem zufolge „Gerechtigkeit die einigende Funktion nicht nur in den sozialen Gruppen, sondern auch in der Struktur der individuellen Persönlichkeit“629 ist. Die Gerechtigkeit sei in diesem Zusammenhang die Form, ohne die das Geformte keine Seinsmächtigkeit bzw. keine Macht des Seins hat. Entsprechend ist die Gerechtigkeit „die Form, in der die Macht des Seins sich aktualisiert“630. Tillich folgert daraus die Einheit von Gerechtigkeit und Macht. „Gerechtigkeit wohnt der Macht inne, denn kein Ding hat die Macht, zu sein ohne die dazu gehörende Form, und diese Form ist seine innere Gerechtigkeit, oder besser sein innerer Anspruch auf Gerechtigkeit.“631 Wenn nun in jeder Verwirklichung der Macht ein Element der Gewalt bzw. des Zwanges vorhanden ist und Gerechtigkeit der Macht inne wohnt, wie stehen dann Zwang und Gerechtigkeit zueinander? Aus der ontologischen Erkenntnis, dass Gerechtigkeit die Form ist, in der sich die Macht des Seins in der Begegnung von Macht und Macht verwirklicht,632 bedenkt Tillich die Anwendung von Zwang nun unter dem Blickwinkel der Gerechtigkeit. Gerecht(fertigt) ist dann ein Zwang, wenn er den inneren Anspruch eines Seienden achtet; ungerecht ist ein Zwang, der den Gegenstand des Zwanges vernichtet. „Nicht der Zwang an sich ist ungerecht, sondern nur eine Form des Zwanges, die ein Wesen vernichtet, statt zu seiner Selbstverwirklichung beizutragen.“633 Wenn also Macht die Seinsmächtigkeit ist, die dem Nicht-Sein widersteht und sich in der Einheit mit Liebe und Gerechtigkeit verwirklicht, dann setzt diese Bestimmung von Macht die Existenz von Zwang und Gewalt voraus. Dabei sind aber Zwang und Gewalt nicht als gut oder böse zu bestimmen, sondern als gerecht oder ungerecht. Insofern sich Macht anhand gerechten Zwangs verwirklicht, d.h. solange Macht nicht willkürlich Gewalt oder Zwang ausübt, sondern sich in der Einheit mit Liebe und Gerechtigkeit verwirklicht, ist sie gerecht. Dies verdeutlicht Tillich in den Begegnungen zwischen Person und Person sowie im sozialen und politischen Bereich.

|| 628 Vgl. GW IX 214; GW XI 177. 629 GW IX 214; vgl. GW XI 178. 630 GW IX 215; vgl. GW XI 178. 631 GW IX 216. 632 Vgl. GW XI 215. 633 GW XI 185; vgl. GW IX 216.

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3.2.4.1 Macht und Gerechtigkeit in zwischenmenschlichen Begegnungen Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Unendlichkeit der Welt der Unendlichkeit der menschlichen Freiheit korrespondiert, über das Gegebene hinausgehen zu können. Und dieser Akt des Transzendierens kennt keine Grenze.634 „Aber es gibt dennoch eine Grenze für den Menschen, die unverrückbar ist und auf die er immer wieder stößt, und das ist der Mitmensch.“635 Der Mensch wird nämlich, wie schon oben gezeigt wurde, zum Menschen nur in der Begegnung mit anderen Menschen. Nur im Begegnen mit einem „Du“ kann sich ein „Ich“ verwirklichen.636 Dabei ist der Mitmensch wie eine Mauer, die man nicht durchbrechen kann. Somit tritt das „Du“ dem „Ich“ als Forderung entgegen, „daß es anerkannt wird als ,Du‘ für ein ,Ich‘ und als ein ,Ich‘ für es selbst“637. Diese Anerkennung des „Du“ als Person ist für Tillich der innere Gerechtigkeitsanspruch, der in ihrem Sein enthalten ist.638 Dabei greift Tillich zufolge die sog. „Goldene Regel“ („Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst“, oder: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg’ auch keinem andern zu“) als ethisches Prinzip bzw. als Prüfstein der Gerechtigkeit zu kurz. Allein mit ihr lässt sich ja nicht mit Sicherheit entscheiden, was gerecht ist, zumal man sich Wohltaten erwünschen kann, die den eigenen Gerechtigkeitsanspruch verletzen können sowie den des Anderen, wenn sie ihm gewährt würden.639 So appelliert Tillich einerseits an die objektiven Instanzen Gesetz, Überlieferung, Autorität und andererseits an das individuelle Gewissen, um die Anerkennung des Anderen als Person konkreter zu bestimmen.640 „Denn objektive Regeln und individuelles Gewissen bedingen sich gegenseitig. In dem Prozeß, der Gesetze, Überlieferungen und Autoritäten zu Richtlinien der Gerechtigkeit machte, sind […] stets auch individuelle Gewissensentscheidungen am Werke gewesen.“641 Da aber Macht und konsequenterweise Gewalt in jeder Begegnung von Mensch zu Mensch vorhanden ist,642 besteht die Gefahr der Nichtanerkennung bzw. der Verletzung der Würde des Anderen und schließlich der Ungerechtigkeit.

|| 634 Vgl. GW IX 147. 635 GW XI 193; vgl. GW IX 219. 636 Vgl. GW IX 219; GW XI 193. 637 GW IX 219. 638 Vgl. GW IX 219; GW XI 193. 639 Vgl. GW XI 194. 640 Vgl. GW XI 194f. 641 GW XI 195. 642 „Jede Begegnung, ob sie freundlich oder feindlich ist, ob sie wohlwollend oder gleichgültig ist, ist in einer bestimmten Weise unbewußt oder bewußt ein Kampf von Macht mit Macht, von Mächtigkeit mit Mächtigkeit.“ (GW IX 220; vgl. GW XI 199)

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Jedes Seiende, das in die Begegnung verwickelt wird, hat nämlich eine bestimmte Seinsmächtigkeit, die die Grundlage für seinen Anspruch auf Gerechtigkeit abgibt. Aber der Unbestimmtheitscharakter jeder Seinsmächtigkeit, der neue Entscheidungen fordert, eröffnet die Möglichkeit für Ungerechtigkeit. „Wenn die neuen Entscheidungen den Wesensanspruch eines Seienden verletzen, so sind sie ungerecht.“643 Allerdings ist „Ungerechtigkeit gegen den anderen, Nichtanerkennung seiner Würde als ein Selbst […] immer auch Ungerechtigkeit gegen uns selbst“644. Ein Herr, der seinen Sklaven nicht als ein „Du“ behandelt und ihn zum Ding macht, verletzt dadurch seine eigene Ich-Qualität. Natürlich ist für Tillich der Machtkampf zwischen zwei ungleichen Mächten noch keine Ungerechtigkeit. Im Gegenteil: Tillich sieht darin eine „schöpferische Möglichkeit“645 und deutet damit die Möglichkeit an, was jedes Seiende in der Begegnung werden kann.646 Ungerechtigkeit liegt erst in dem Augenblick vor, wo die überlegene Macht anfängt, die Seinsmächtigkeit des Unterlegenen zu beeinträchtigen und zu zerstören. Allein schon ein Blick des Vaters auf sein Kind, so Tillich, kann in diesem Fall eine Form der Vergewaltigung sein. Dies führt zu dem Begriff der Autorität in den Begegnungen von Person zu Person, wo im Namen etablierter Macht Ungerechtigkeit begangen werden kann. Wann ist aber eine Autorität gerecht und wann ist sie ungerecht? In seiner Antwort setzt Tillich hier etymologisch-ontologisch an. Abgeleitet vom lateinischen Substantiv auctor (Ansehen, Würde, Macht), das seinerseits auf das Verb augere (vermehren, fördern, bereichern und wachsen) zurückgeht, wird mit dem Wort Autorität auf denjenigen verwiesen, der Seinsmächtigkeit hat, die er vermehrt und mitteilt. Von hier aus unterscheidet Tillich zwei verschiedene Formen der Autorität. Die eine ist die Autorität, die „dadurch, daß sie einen bestimmten Platz einnimmt, ein für allemal Autorität ist und dadurch jenseits der Kritik steht“647. Solch eine Autorität, die Tillich „Autorität aus Prinzip“ oder „hypostasierte Autorität“648 nennt, ist für ihn ihrem Wesen nach ungerecht, denn sie „mißachtet den inneren Anspruch der Menschen, selbst verantwortlich für wesentliche Entscheidungen zu werden“649. Ein Diktator, Eltern in einem patriarchalischen Familienverhältnis bzw. wenn sie ihre Autorität für ihre unmündigen Kinder zeitlebens behaupten, sind für Tillich Bespiele solch einer ungerechten || 643 GW XI 200. 644 GW IX 219. 645 GW IX 222. 646 Vgl. GW IX 220. 647 GW IX 222; vgl. GW XI 201. 648 Ebd. 649 GW XI 201.

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Autorität. Im Gegensatz dazu steht die „faktische Autorität“, die nach Tillich der Wortherkunft entspricht: „Sie beruht darauf, daß jemand de facto Seinsmacht hat und sie darum mitteilen kann.“650 Dies ist nach Tillich eine Autorität, die von uns allen ausgeübt und anerkannt wird. Ähnlich denkt auch Jaspers, indem er auch etymologisch-metaphysisch ansetzt – „Begriff und Wort ,Autorität‘ entstammen dem römischen Denken. Auctor (von augeo) ist der ,Forderer‘, der ,Mehrer‘, auctoritas das Schöpfertum“651 – und Autorität als „die Einheit von Daseinsmacht und zwingender Gewißheit und Idee mit dem Ursprung der Existenz, die darin sich auf Transzendenz bezogen weiß“652 versteht. Dabei unterscheidet er eine „echte“653 bzw. „geglaubte Autorität“654, die positiv besetzt ist, worauf Werner Schüßler aufmerksam macht,655 und eine „uneigentliche Autorität“656. Während ohne die „geglaubte Autorität“657 keine Erziehung gelingen kann,658 beruht die „uneigentliche Autorität“ auf Macht als bloße Gewalt. Aber „Macht als bloße Gewalt (sei diese physisch, soziologisch, psychologisch, intellektuell) ist ungenügend, um Autorität zu begründen: die Autorität in der Macht wird nur dann erfahren und innerlich anerkannt, wenn diese Macht Träger der Wahrheit ist“659, wobei „wahr zu sein“660 für Jaspers „Existenz“ zu sein bedeutet.

|| 650 GW IX 223. 651 VdW 767. 652 VdW 769. 653 VdW 768 u. 797. 654 VdW 797. 655 Über den Begriff der Autorität bei Karl Jaspers und Tillich vgl. W Schüßler, Zum Verhältnis von Autorität und Offenbarung bei Karl Jaspers und Paul Tillich, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht.“ Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 4 2015, 63–77. 656 Vgl. VdW 768. 657 „Geglaubte Autorität ist die Quelle einer echten, das Wesen selbst treffenden Erziehung. Der einzelne Mensch beginnt in seiner Endlichkeit von vorn. Im Werden ist er für die Aneignung des überlieferbaren Gehalts gebunden an Autorität. In ihr erwachsend, öffnet sich ihm der Raum, in dem überall das Sein ihm entgegenkommt. Ohne wahre Autorität erwachsend, kommt er zwar in den Besitz von Kenntnissen, wird er zwar Herr des Sprechens und Denkens, bleibt er aber preisgegeben den leeren Möglichkeiten des Raumes, in dem das Nichts ihn anstarrt.“ (VdW 798) 658 Vgl. W Schüßler, Zum Verhältnis von Autorität und Offenbarung bei Karl Jaspers und Paul Tillich, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht.“ Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, Bd. 1), Münster 42015, 63–77, hier 65. 659 VdW 767. 660 K. Jaspers, Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945–1965. München 1965, 370.

300 | Macht und Sein gehören zusammen – Zur Ontologie der Macht bei Tillich

3.2.4.2 Macht und Gerechtigkeit in der Begegnung innerhalb einer Gruppe Wenn jede Begegnung ein Machtkampf ist und sich persönliche Begegnungen innerhalb einer Gruppe ereignen, so ist es nun sinnvoll, sich diese Konfrontation von Mächtigkeiten unter dem Blickwinkel der Gerechtigkeit auch auf dem Feld der Begegnung innerhalb einer sozialen Gruppe anzuschauen. „Die Mächtigkeit der Gruppe trägt den Einzelnen, und die Mächtigkeit der Gruppe kann den Einzelnen zerstören.“661 Ein augenfälliges Beispiel dafür erfährt man in totalitären Staaten, wo Menschen verdinglicht werden und ihr innerer Anspruch auf Gerechtigkeit verneint wird.662 Wenn aber bezüglich einer Gruppe von Mächtigkeit gesprochen werden kann, wie ist diese dann zu verstehen? Welchen Charakter hat die Mächtigkeit einer Gruppe? Jede Machtstruktur, sei es im organischen, sei es im anorganischen Bereich, ist um einen Mittelpunkt organisiert, ohne den sie nicht bestehen kann. Je organisierter ein Wesen ist, desto mehr wächst seine Zentriertheit.663 So vergleicht Tillich zunächst den Begriff eines „sozialen Organismus“ mit demjenigen eines „biologischen Organismus“, „um dann die Problematik dieser Analogie aufzuzeigen, die darin besteht, dass soziale Gebilde einen Zusammenhang zweiter Ordnung darstellen, während biologische Organismen primordial sind, mit anderen Worten: das Glied eines sozialen Organismus kann auch isoliert von ihm weiterleben, was bei den Gliedern eines biologischen Organismus nicht möglich ist“664. Damit lehnt Tillich den Vergleich der Mächtigkeit der Gruppe mit der Mächtigkeit biologischer Organismen ab. Die Trennung eines Individuums von der Gruppe zerstört nicht grundsätzlich deren Mächtigkeit, wie das Entfernen eines Gliedes vom biologischen Organismus das Ganze womöglich zerstören kann. Eine der politischen Konsequenzen hiervon ist zunächst, dass der Einzelne kein zwangsläufiges Produkt der Gesellschaft ist, obwohl er natürlich ein soziales Wesen ist. Beide hängen voneinander ab.665 Hinzu kommt, dass es für Tillich unangemessen ist, eine soziale Gruppe oder einen Staat zu personifizieren. Denn „der soziale Organismus hat keine organische Mitte“666, wie es bei einem biologischen Organismus der Fall ist. Und was im sozialen Organismus als Zentrum gilt,

|| 661 GW IX 223. 662 Vgl. GW XI 185. 663 Vgl. GW IX 223. 664 P. Haigis, Diesseits des Seins. Wie die Ontologie den Blick auf sozialethische Debatten verstellen kann, in: C. Danz / M. Dumas / W. Schüßler / M. A. Stenger / E. Sturm (Hg.), Justice, Power, and Love (= International Yearbook for Tillich Research, Vol. 9), Berlin / Boston 2014, 1– 26, hier 13. 665 Vgl. GW IX 224; GW XI 203. 666 GW XI 203.

3 Ethik der Macht | 301

also die herrschende Gruppe, ist immer auch ein Teil der ganzen Gruppe.667 Als handlungsfähige Mitte der Gruppe zeigt sich in der machttragenden Gruppe die Spannung zwischen der Macht aus der stillschweigenden Zustimmung und der Macht, die aus Zwang kommt. Wenn sie die Macht missbraucht und die Beherrschten in ihrem Wesenskern zerstört, dann wird sie ungerecht. Hier knüpfen wieder Macht und Gerechtigkeit an das Element des Gemeinschaftsgeistes an, der aus der Liebe stammt.

|| 667 Vgl. GW IX 224; GW XI 203.

Rückblick und Ausblick Ontologie der Macht als Verstehenshorizont der Machtproblematik 1 Zur Aktualität Tillichs im gegenwärtigen Machtdiskurs „Ein kurzer Blick auf die neuere Geschichte des Machtbegriffs und seiner Verwendung in politischen Theorien und Sozialphilosophien zeigt, dass sich der Sinn von Macht grundlegend unterscheidet, je nachdem ob Macht im Hinblick auf die eigene Handlungs- und Gestaltungsmacht thematisiert wird – mithin als Bedingung und Effekt von Autonomie, Freiheit, Emanzipation und Kreativität – oder aber als Begriff für gesellschaftliche Strukturen, die solche Handlungsformen für die meisten Menschen gerade verunmöglichen, weil Macht mit Unterdrückung, Ungleichheit, Herrschaft, Gewalt und Entmündigung gleichgesetzt wird.“1 Diese Sätze von Katrin Meyer aus ihrer 2016 veröffentlichten Schrift „Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt“ machen deutlich, wie sich die Machtdebatte in unserer Zeit noch immer in einem dominant politischpraktischen Gravitationsfeld bewegt. Dabei ist die schon zitierte Aussage von Hans Asmussen auch heute noch aktuell: „Das Nein, das wir zur Macht zu sprechen geneigt sind, ist zu einfach. Es geht nicht aus Nachdenken hervor, geschweige dass ihm eine richtige Beobachtung voraufging.“2 Am Ende dieser Arbeit ist es darum sinnvoll, die Machtkonzeption Tillichs näher ins Gespräch zu bringen mit den vier zu Anfang vorgestellten philosophischen Machttheorien im zwanzigsten Jahrhundert – Hannah Arendt, Michel Foucault, Helmuth Plessner und Karl Jaspers –, um von hier aus die Bedeutung der Machtkonzeption Tillichs innerhalb der Machtdebatte unserer Zeit bewusst zu machen. Diese Bedeutung liegt nicht nur darin, dass sich kaum ein anderer zeitgenössischer Denker multiperspektivisch wie Tillich mit dem Machtproblem beschäftigt hat, worauf Werner Schüßler und Erdmann Sturm zurecht aufmerksam machen,3 sondern sie liegt

|| 1 K. Meyer, Macht und Gewalt im Widerstreit. Politisches Denken nach Hannah Arendt, Basel 2016, 8. 2 H. Asmussen, Über die Macht, Stuttgart 1960, 7. 3 „Wohl kaum ein anderer Denker unserer Zeit hat sich so breit und fruchtbar mit dem Problem der Macht auseinandergesetzt wie der protestantische Theologe und Philosoph Paul Tillich.“ (W. https://doi.org/10.1515/9783110676754-010

1 Zur Aktualität Tillichs im gegenwärtigen Machtdiskurs | 303

auch begründet in seiner ontologischen Analyse der Macht, kann man das Machtphänomen doch nur so von den Ideologien und Missverständnissen befreien, denen es gemeinhin unterliegt. Die Auseinandersetzung mit Arendt hat gezeigt, dass Macht entsteht, wenn Menschen zusammenkommen, also im öffentlichen Raum miteinander sprechen und handeln. In diesem Sinne ist ihre Machtkonzeption eine Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Macht. Damit hilft uns die Machtkonzeption Arendts nur wenig bei dem grundlegenden Anliegen der vorliegenden Arbeit. Denn Ontologie fragt nicht danach, wie Macht entsteht, sondern sie fragt nach dem Was der Macht, d.h. sie fragt danach, inwieweit Macht zum Sein gehört.4 Wie schon darauf hingewiesen wurde, ist diese Frage nach dem Was der Macht auch nicht das zentrale Anliegen Foucaults. Denn wer nach dem Was der Macht fragt, der scheint nach Foucault „eine recht komplexe Realität außer Acht“5 zu lassen. So ist das primäre Interesse Foucaults nicht die Macht als solche, sondern es geht ihm wesentlich um „Machtbeziehungen“6. Dabei geht es um die Frage, wie Macht produktiv wird. Es hat sich auch gezeigt, dass Foucault in seiner Analyse der Machtbeziehungen auf Begriffe rekurriert, die auf den Wesenscharakter der Macht hinweisen. Dabei aber erweist sich Foucault als ein postmetaphysischer Denker, und er lehnt jede ontologische Deutung dieser Begriffe ab.7 Er hält bekanntlich den „Widerstand“ für ein wichtiges Element der Macht,8 wobei er aber zwischen Macht und Widerstand kein dialektisches Verhältnis sieht. Der Widerstand hat keine andere Funktion, außer „die Machtbeziehungen sichtbar“9 zu machen. Im Gegensatz zu Foucault sieht Tillich zwischen „Macht“ und „Widerstand“ eine ontologische Korrelation, die er durch die Polarität von Sein und Nichtsein zum Ausdruck bringt. „Die Selbstbejahung eines Wesens trotz des Nichtseins ist der Ausdruck seiner Seinsmächtigkeit. Damit sind wir zu den || Schüßler, Ontologie der Macht. Zur philosophischen Bestimmung der Macht im Denken Paul Tillichs, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs [= Tillich-Studien, Bd. 1], Münster 1999, 201–230) Vgl. auch E. Sturm, Macht und Gewalt im politischen Denken Tillichs, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 53–86, hier 53. 4 Vgl. EW XI 234. 5 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 281. 6 Ebd., 284. 7 Vgl. ebd., 281. 8 Vgl. M. Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt/M. 1998, 116. 9 M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 273.

304 | Rückblick und Ausblick

Wurzeln des Machtbegriffs gekommen. Macht ist die Möglichkeit […], Nichtsein in sich aufzunehmen und zu überwinden.“10 Damit macht Tillich das Nichtsein zum Schlüsselbegriff der Macht. Das Hauptinteresse Plessners ist bekanntlich die Frage nach der Sonderstellung des Menschen unter den Lebewesen. Die Frage danach, was den Menschen zum Menschen macht, beantwortet er anhand der Prinzipien der „exzentrischen Positionalität“ und der „Unergründlichkeit“ des Menschen. Damit verdeutlicht Plessner, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier ein „Wesen ohne fixiertes Zentrum“11 ist, denn er ist von seiner Mitte abgehoben und findet sich als Mitte somit ins Nichts seiner eigenen Grenze gestellt.12 Diese exzentrische Sonderstellung des Menschen enthält einen Aspekt des Selbstverhältnisses, das wiederrum ein Moment der Selbstdistanzierung voraussetzt. Und die Selbstdistanzierung verweist nach Plessner „auf ein Immer-schon-eine-Position-vollzogen-Haben und auf ein Immer-schon-auch-anders-Können“13. Das Oszillieren zwischen diesen beiden Momenten macht den unergründlichen Charakter des menschlichen Seins aus.14 Dabei steht der Mensch aufgrund seiner Distanzfähigkeit in einem Doppelverhältnis zu sich selbst: Als Körper ist er von einem Zentrum abhängig, durch die Distanzfähigkeit aber kommt er „zum Haben des eigenen Selbst“15. Wie schon erwähnt, bringt Plessner dieses Doppelverhältnis mit den Begriffen „Köper-Sein und Körper-Haben“16 bzw. „Leib-Sein und Leib-Haben“17 zum Ausdruck, was eine gewisse Nähe zum Begriff des „Welt-Habens“ bei Tillich besitzt. Im Gegensatz zu Tillich aber, bei dem der Begriff des „Welt-Habens“ aufgrund der menschlichen Freiheit spezifisch auf den Menschen als Macht im vollen Sinn verweist,18 lässt

|| 10 GW IX 209. Vgl. auch GW XI 168. 11 G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 101. 12 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 292. 13 T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 119. 14 Vgl. H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 175ff. 15 T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 58. 16 H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, in: Ders., Gesammelte Werke, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker, Bd. VII, Frankfurt/M. 2003, 201–387, hier 242. 17 Der Mensch „ist […] Leib […] und hat diesen Leib als diesen Körper“ (ebd., 238). 18 Vgl. GW IX 169.

1 Zur Aktualität Tillichs im gegenwärtigen Machtdiskurs | 305

sich das Konzept des Menschen als Macht bei Plessner nicht direkt von den Begriffen „Köper-Sein“ und „Körper-Haben“ her erklären, sondern von der Unruhelage bzw. der Unergründlichkeit der Welt und seiner selbst her, d.h. von diesem Oszillieren her zwischen den beiden antagonistischen Seinslagen, ein Körper zu sein und einen Körper zu haben.19 Das Ins-Nichts-gestellt-Sein, das aus diesem Oszillieren resultiert, so haben wir gesehen, erlaubt keine Definition des Menschen. In Relation zu dieser Unfassbarkeit „faßt sich der Mensch als Macht und entdeckt sich für sein Leben […] als offene Frage“20. Das bedeutet für Plessner zum einen, dass das, was der Mensch sich in der Unbestimmtheit versagt, ihm als Kraft des unerschöpflichen Könnens wieder zuwächst,21 und zum anderen, dass Macht erst Macht ist auf der Basis von Ohnmacht, denn „selbst Sein ist erst SelbstSein auf dem Grunde eines Nichtselbstseins“22. Bekanntlich lehnt Plessner aber jede ontologische Auslegung des Menschen als Macht ab.23 Im Gegensatz dazu besteht Tillich auf einer ontologischen Fundierung der Anthropologie und des Machtbegriffs. Für ihn treibt nämlich das „Nichtsein […] das Sein aus sich heraus“24. Und er fährt fort: „Das Sein ohne Nichtsein wäre leere Unendlichkeit des Möglichen, nichts weiter. Das Nichtsein schafft das Endliche und darum das Wirkliche.“25 Im Gegensatz zu Tillich, der das Nichtsein zum ontologischen Schlüssel des Verständnisses des Machtbegriffs macht, scheint Plessner das Wesen der Macht nicht entschlüsselt zu haben, auch wenn er den Menschen als Macht versteht. Wie bereits dargelegt wurde, lässt sich der Begriff der Macht bei Jaspers als Verwirklichung der menschlichen Existenz im Durchstehen der Grenzsituationen und in der existenziellen Kommunikation begreifen. In seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche erkennt Jaspers im „Willen zur Macht“ eine metaphysische Weltauslegung. Aber er sieht in „Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht“ die „Metaphysik einer radikalen Immanenz“, die „die Chiffre des Seins als Wille

|| 19 Vgl. G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart 2001, 102; vgl. T. Bek, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, 67ff. 20 H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht, in: Ders., Gesammelte Schriften, hg. v. G. Dux / O. Marquard / E. Ströker ,Bd. V, Frankfurt/M. 2003, 188. 21 Vgl. ebd. 22 Ebd., 225. 23 Vgl. ebd. 24 GW IX 209. 25 Ebd.

306 | Rückblick und Ausblick

zur Macht lesen will ohne Transzendenz“26. Das Sein wird nämlich zur Wirklichkeit, wenn es zur Sprache kommt,27 und die Chiffre ist nach Jaspers das Sein, das Transzendenz ans Licht bringt28 – und nicht der „Wille zur Macht“. An dieser Stelle mag es nicht ganz unzutreffend sein, wie schon angedeutet, eine gewisse Nähe der Chiffernlehre von Jaspers und zur Machttheorie von Tillich zu sehen, zumal die Funktion der Chiffern mit derjenigen der Transzendentalien verglichen werden kann, da Chiffern das Verhältnis des Seins zur Welt darstellen und bei Tillich der Machtbegriff den Rang eines transzendentalen Begriffs zukommt. „Allerdings greift Tillich – im Gegensatz zu Jaspers – auch auf einige Theoreme der klassischen Metaphysik zurück, die er aber auf seine ganz eigene Weise ,reformuliert‘“29, um mit Werner Schüßler zu sprechen. Ein beredtes Beispiel dafür ist seine Reformulierung der klassischen Transzendentalienlehre anhand der Ontologie der Macht. Darin liegt das Spezifische des Machtverständnisses Tillichs, aber auch eine gewisse Provokation, zumal er kein Vertreter der klassischen Transzendentalienlehre ist. Damit sucht Tillich, die philosophische Urfrage nach dem Sein auf eigene Weise zu beantworten, indem für ihn „Macht der erste Begriff ist, mit dem Sein als Sein charakterisiert werden muß“30. Auf der Grundlage einer ontologischen Interpretation definiert Tillich Macht als die Macht zu sein, die das Nicht-Sein auf sich nimmt und es überwindet. In seiner Argumentation ist ein Doppeltes festzuhalten: Zum einen sind Sein und Macht austauschbare Begriffe. Zum anderen, da das Sein strukturell Seinsmächtigkeit im Begegnen ist und somit Macht sich als ein relationaler Begriff erweist, kommt das Nicht-Sein als Widerstand der Macht in den Blick. Damit zeigt sich das Seiende bzw. das endliche Sein als Mischung von Sein und Nicht-Sein. Von hier aus beschreibt Tillich nun, nicht zuletzt auf der Grundlage seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Willens zur Macht“ bei Nietzsche, die Lebensbejahung alles Seienden als Seinsmächtigkeit, und er vertieft aufgrund einer Analyse der Wirklichkeit seine ontologische Interpretation des Machtbegriffs. Entscheidend ist für ihn, dass man in diese Tiefe der Seinsanalyse hineingehen muss, wenn

|| 26 K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974, 317. 27 Vgl. Ph III 136. 28 Ph III 137. 29 W. Schüßler, Der Mensch und die Philosophie. Zur Existenzphilosophischen und anthropologischen Wende Paul Tillichs in seiner Frankfurter Zeit, in: G. Schreiber / H. Schulz (Hg.), Kritische Theologie. Paul Tillich in Frankfurt (1929–1933), Boston / Berlin 2015, 215–249, hier 245. 30 GW IX 207; vgl. GW XI 165: „Der Begriff, der mir für eine grundlegende Beschreibung des Seins an sich am geeignetsten erscheint, ist der Begriff der Macht.“

2 Entdämonisierung der Macht | 307

man über den Machtbegriff sprechen will.31 Eine Analyse der Macht, die nur von der Phänomenologie ausgeht und „die Vielschichtigkeit der Erscheinungen in eine Definition“32 zu bannen sucht, würde hier zu kurz greifen, worauf Werner Schüßler hinweist. Zutreffend fasst Tillich zusammen: „Je tiefer wir in die Seinswurzel eines Phänomens, wie es die Macht ist, eindringen, desto mehr scheinen wir uns von der realistischen Welt der täglichen Machtbegegnung zu entfernen. In Wirklichkeit werden wir aber realistischer als die, die in diesen Machtbegegnungen unmittelbar leben; wir werden deshalb realistischer, weil wir die unzähligen Konfusionen, Ideologien und Gegenideologien, die sich in bezug auf den Begriff der Macht in unserem Bewußtsein eingeschlichen haben, unterminieren, um die Möglichkeit für eine neue, positive Lösung zu finden.“33 „Realistischer sein“ heißt hier vor allem, Macht nicht als etwas rein Negatives, sondern zuerst einmal als etwas Positives anzusehen.

2 Entdämonisierung der Macht Die Zielsetzung der ontologischen Machtanalyse Tillichs ist es, nicht nur die ontologische Verwurzelung der Macht herauszuarbeiten, sondern auch die Bedeutungsvielfalt des Machtbegriffes und die Spannungen zu den Begriffen der Liebe und der Gerechtigkeit herauszuarbeiten. Dabei geht es ihm über die ontologische Analyse hinaus darum, den oft negativ assoziierten Begriff in seiner positiven Grundbedeutung aufzuzeigen. Bereits die philosophische Analyse des Machtbegriffs bei Arendt, Foucault, Plessner und Jaspers hat gezeigt, dass sie alle mehr Klarheit in die Diffusität des Wortfeldes bringen, indem sie den Machtbegriff von seinen Konkurrenzbegriffen, nicht zuletzt von dem der Gewalt, abzugrenzen versuchen. Allein dadurch, dass sie Macht von Gewalt unterscheiden, tragen sie dazu bei, das Machtphänomen zu entdämonisieren.34 Macht ist nicht mit Gewalt gleichzusetzen. So ist Macht bei diesen Denkern positiv besetzt. Inwieweit hat

|| 31 Vgl. GW IX 217. 32 W. Schüßler, Macht und Gewalt, in: Ders. / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 11– 37, hier 14. 33 GW IX 217. 34 Vgl. N. Ernst, Sein ist Macht. Paul Tillichs Antwort auf eine philosophische Urfrage, in: W. Schüßler / E. Sturm (Hg.), Macht und Gewalt. Annäherungen im Horizont des Denkens von Paul Tillich (= Tillich-Studien. Beihefte, Bd. 5), Münster 2005, 39–52, hier 50ff.

308 | Rückblick und Ausblick

aber Macht mit Gewalt zu tun? Hier ist eine entscheidende Differenz der ontologischen Machtkonzeption Tillichs gegenüber der Ausführungen von Arendt, Foucault, Plessner und Jaspers zu sehen. Bereits die strikte Trennung von Macht und Gewalt bei Arendt und Foucault zeigt die Realitätsferne ihrer Machtanalyse. Während Arendt Macht und Gewalt für Gegensätze hält,35 schließt Foucault die Gewalt als Wesenselement der Machtausübung aus.36 Im Gegensatz zu Arendt und Foucault trennen Plessner und Jaspers zwar die Gewalt nicht von der Macht. Für Plessner kann der Mensch kein Leben führen „ohne Vergewaltigung des Lebens“37. Und für Jaspers ist die Gewalt „unausweichlich gebunden an die Macht, die der Gewalt sich bedienen kann“38. Aber mit der ontologischen Bestimmung von Macht als Seinsmacht, die das Sein vor dem Nicht-Sein bewahrt und die sich in der Einheit mit Liebe und Gerechtigkeit verwirklicht, hat Tillich einen positiven Begriff der Macht entwickelt, indem diese die Gewalt und den Zwang nie ganz vermeiden kann.39 „Macht verwirklicht sich durch Gewalt und Zwang“40, auch wenn sie weder das eine noch das andere ist.41 Wenn Macht somit positiv besetzt und auf Gewalt und Zwang angewiesen ist, dann bedeutet dies, dass Gewalt und Zwang an sich auch nicht prinzipiell negativ sind. Gewalt ist weder an sich gut noch böse, sondern Tillich zufolge gerecht oder ungerecht. Dies verdeutlicht er in der Rückführung der Macht auf Liebe und Gerechtigkeit. Es wurde bereits deutlich, dass Gerechtigkeit die Form ist, in der sich die Macht des Seins in der Begegnung mit Seinsmächtigkeiten verwirklicht.42 Aus dieser ontologischen Auffassung der Gerechtigkeit folgt ein Zweifaches: Zum einen setzt sie die Fundierung des Rechts im Sein voraus, zumal Gerechtigkeit der innere Anspruch eines jeden Seienden – sei es eines Dinges, eines Lebewesens oder eines Menschen – bedeutet. Dies erlaubt sowohl die Entlarvung der willkürlichen Vergewaltigung aller Seienden zu Mitteln des Machtwillens als auch eine rein rechtspositivistische Auffassung. Zum anderen ist Zwang gerecht oder ungerecht, je nachdem ob der

|| 35 Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, München / Zürich 262017, 57. 36 Vg. M. Foucault, Subjekt und Macht, in: Ders., Schriften in vier Bänden / Dits et Écrits, hg. v. D. Defert / F. Ewald, Bd. IV (1980–1988), Frankfurt/M. 2005, 269–294, hier 286. 37 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin / New York 1975, 344. 38 AZM 58. 39 GW IX 213; GW IX 207: „Macht enthält immer Zwang.“ Vgl. auch GW XI 147. 40 GW XI 173. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. GW IX 215.

3 Tillich im Gespräch mit Afrika? | 309

innere Anspruch der Seinsmächtigkeit eines jeden Seienden beachtet oder missachtet wird.43 Unter diesem Blickwinkel hilft Tillich auch, echte von unechter Autorität und gerechten von ungerechtem Machtanspruch im sozialen Machtaufbau zu unterscheiden. Dabei fordert er die Liebe als letztes Fundament der Macht. Wenn Liebe nicht nur der Prozess ist, in dem sich die Seinsmächtigkeit verwirklicht,44 sondern auch der Drang zur Wiedervereinigung des Getrennten ist,45 dann braucht sie, um das Getrennte wiederzuvereinigen, Zwang, der das überwinden muss, was gegen die Liebe steht.46 Auch hier in der Beziehung von Macht und Liebe zeigt sich der Machtbegriff bei Tillich in positiver Weise. Zusammenfassend erlaubt die ontologische Auffassung von Macht als Seinsmacht, die sich in der Einheit mit Liebe und Gerechtigkeit verwirklicht, keine grundsätzliche ideologische Verdächtigung oder Dämonisierung der Macht.

3 Tillich im Gespräch mit Afrika? „Je mehr Nichtsein das Lebendige in sich tragen kann, um so gefährdeter ist es und desto mehr Seinsmächtigkeit hat es, wenn es imstande ist, dieser Gefahr zu trotzen.“

Der Titel dieses letzten Abschnitts dieser Untersuchung ist in Frageform formuliert, weil es dabei weniger um ein thesenhaftes Resümee als vielmehr um den Versuch geht, ausgehend von Tillichs ontologischer Auffassung der Macht Impulse für Afrika zu geben.47 Wir haben gesehen, dass Sein die Macht zu sein ist, das das Nichtsein auf sich nimmt und es überwindet. Es wurde auch erörtert, dass das Nichtsein die Wurzel alles Lebendigen ist, weil das Sein durch das Nichtsein, das es in sich birgt, lebendig ist, „sonst wäre es verschlossen, es würde nicht irgend etwas sein“48. Diese Überlegungen verdeutlicht Tillich in seinem Beitrag „Die Philosophie der Macht“ von 1956 am Beispiel von Menschen in Berlin, wenn

|| 43 Vgl. GW XI 185; vgl. GW IX 216. 44 Vgl. GW XI 174. 45 Vgl. GW XI 160. 46 Vgl. GW XI 174. 47 Wenn ich hier von „Afrika“ spreche, dann meine ich das Afrika südlich der Sahara. Zu Tillichs Wirkung in Afrika vgl. W. Schüßler / E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 241f.; vgl. auch C. Acapovi, L’être et l’amour. Une étude de l’ontologie de l’amour chez Paul Tillich (= Tillich-Studien 22), Münster 2010, 332–334. 48 GW IX 209.

310 | Rückblick und Ausblick

er schreibt: „Gelegentlich rühmt man sich in Berlin, aufgeschlossener und lebendiger zu sein als z.B. der deutsche Westen, und man rühmt sich dessen […] mit Recht. Wenn man fragt: Warum ist das so? kann die Antwort nur sein: weil hier mehr Nichtsein von den Menschen getragen und überwunden werden muß. Man hat mehr Seinsmächtigkeit, weil mehr Nichtsein überwunden werden muß und solange man es überwinden kann.“49 Tillich betont: „Je mehr Nichtsein das Lebendige in sich tragen kann, um so gefährdeter ist es und desto mehr Seinsmächtigkeit hat es, wenn es imstande ist, dieser Gefahr zu trotzen.“50 Die schwierigen Lebensbedingungen bzw. das Nichtsein, dem man damals in Berlin ausgesetzt war und das überwunden werden musste, bedarf hier keiner weiteren Erläuterung. Es mag vielleicht an dieser Stelle genügen, an die Lebensbedingungen der Menschen in vielen Ländern Afrikas zu denken. Vergegenwärtigt man sich die anhaltende Fluchtbewegung von Afrika nach Europa und die damit verbundenen dramatischen Asylprobleme, dann scheint dabei immer schon klar, was dort in den Heimatländern der Flüchtlinge los ist. Dementsprechend erscheint der Schwarze Erdteil chronisch bemitleidenswert und hilfsbedürftig. Und dennoch sind viele Länder Afrikas mit Rohstoffen reich gesegnet. Hinzu kommt, dass in den vergangenen ca. 60 Jahren bereits viele Hilfsgelder nach Afrika geflossen sind. Trotzdem steht Afrika wirtschaftlich und politisch immer noch nicht gut da. Angesichts des obigen Beispiels Tillichs und seiner Aussage, dass „ein Lebensprozeß […] um so machtvoller“ ist, „je mehr Nichtsein er in seine Selbstbejahung einschließen kann, ohne dadurch zerstört zu werden“51, könnte die Lage Afrikas auf eine begrenzte Seinsmächtigkeit hindeuten. Aber das Prinzip der „offenen Frage“ bzw. der „Unergründlichkeit“ Plessners erlaubt hier keine fixe Antwort. Und Tillich verliert nicht aus den Augen, dass die politische Macht die Verwirklichung der Seinsmächtigkeit eines jeden Menschen oder einer jeden sozialen Gruppe ermöglichen soll52 und somit von Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung ist. So erweist sich die politische Macht in afrikanischen Ländern, sei es innenpolitisch oder außenpolitisch, sehr oft als Hindernis für die Entwicklung. Dabei sind drei Aspekte herauszustellen: erstens das pathologische Verständnis der „sakralen Konzeption der Macht“ durch die Politiker und die daraus entstehenden diktatorischen politischen Regime, zweitens die Verfestigung der politischen Macht durch die Entwicklungsgelder sowie drittens der Einfluss der Außenpolitik auf die innenpolitischen Entscheidungen der afrikanischen Länder.

|| 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Allein sein politisches Engagement im religiösen Sozialismus ist hierfür eine Bestätigung.

3 Tillich im Gespräch mit Afrika? | 311

Wer sich mit der politischen Macht in Afrika befasst, dem wird Folgendes sehr schnell auffallen: Nirgendwo sonst trennen sich die Regierenden schwerer von der Macht als in Afrika. Dort gibt es viele Staatschefs, die sich lange an der Macht halten.53 Der Wille, sich an der Macht zu halten, ist natürlich nicht etwas Afrika-Spezifisches – auch in anderen Teilen der Welt finden sich Langzeitherrscher. Allerdings wird der Machterhalt in Afrika durch einige Faktoren erleichtert. Man kann nämlich nicht von der politischen Macht in Afrika sprechen, ohne Verweis auf eine „sakrale Auffassung der Macht“, worauf der kongolesische Philosoph und Theologe Godefroid Mana Kangudie hinweist.54 Diese sakrale Machtkonzeption, die in der kollektiven Vorstellungskraft verankert ist, führt auf die traditionelle königliche Vorstellung der Obrigkeit zurück, wonach die Macht des Königs von Gott bzw. den Ahnen kommt und somit „heilig“ ist. So übt der König eine „Autorität aus Prinzip“ bzw. eine „hypostasierte Autorität“55 aus, um mit Tillich zu sprechen. Allerdings steht er nicht jenseits der Kritik. In vielen Völkern West- und Ostafrikas, wie z.B. bei den Yoruba-Völkern in Nigeria und Benin oder bei den Akan-Völkern in Ghana, Togo und in der Elfenbeinküste, liegt die Macht nicht in der Person des Königs oder des Herrschers, sondern symbolisch im „Stuhl“. So legt man in diesen Völkern Wert auf den „Herrschaftssitz“ als „Symbol der Einheit von Volk und Macht und als Sitz der Seele des Volkes“56. Der König ist zwar auf Lebenszeit an der Macht und darf nicht abgesetzt werden. Doch bei Fehlverhalten kommt es vor, dass man ihn symbolisch bestraft, indem man ihn || 53 Seit 1979 herrscht Teodoro Obiang Nguema Mbasogo als Staatschef über Äquatorialguinea. Im Nachbarland Kamerun regiert Präsident Paul Biya seit 1982. Yoweri Museveni übernahm die Macht 1986 in Angola und besitzt sie immer noch. Ende 1990 stürzt Idriss Déby im Tschad seinen ehemaligen Kriegskameraden Hissène Habré und ist seitdem Präsident des Tschad. Um länger im Amt zu bleiben, ändern diese Staatschefs die Verfassung. Dass in Burkina Faso der Präsident Blaise Compaoré, der seit 1987 an der Macht war, 2014 wegen einer geplanten Verfassungsänderung, die die Begrenzung seiner Amtszeit aufheben sollte, gestürzt wurde, schreckt viele andere nicht ab. Der 47-Jährige Joseph Kabila, der seit 2001 die krisengeschüttelte Demokratische Republik Kongo regiert, wirbt für eine Änderung der Verfassung, die die Präsidentschaft bislang noch auf eine einmalig erneuerbare Amtszeit von fünf Jahren begrenzt. Pierre Nkurunziza ist seit 2005 Präsident von Burundi, wo er sich 2018 offiziell den Titel „ewiger Führer“ geben ließ. Nach 37 Jahren an der Macht ist Robert Mugabe als Präsident von Simbabwe zurückgetreten. Felix Houphouët-Boigny, der erste Präsident der Elfenbeinküste, regierte von 1960 bis 1993. Mobutu Sese Seko war 28 Jahre lang in Zaire an der Macht. Etienne Gnassingbe Eyadéma kam 1963 durch einen Putsch an die Macht in Togo und regierte bis zu seinem Tod im Jahr 2005. 54 Vgl. Kä Mana, Christianismes africains. Construire l’espérance, Cotonou 2004, 133. (Godefroid Mana Kangudie veröffentlicht seine Schriften unter dem Pseudonym Kä Mana, das von der Abkürzung seines Nachamens „Kä“ und seines Vornamens „Mana“ abgeleitet ist.) 55 GW IX 222; vgl. GW XI 201. 56 L. Harding, Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, 130.

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für eine gewisse Zeit von dem „Stuhl“ fernhält. Denn als „chef de terre“ bzw. „maître de terre“57 oder „owner of the land“58 ist er derjenige, „der das Land und die Nutzungsrechte im Namen der Ahnen verwaltet und zuteilt“59, und muss er als solcher ein Vorbild sein. Als viele Staaten vor allem in West-, Ost- und Zentralafrika in den 1960er Jahren ihre politische Unabhängigkeit erreichten, hatten die ersten Staatschefs dieser Länder keine andere Vorstellung von ihrer Macht als die eines Königs – aber nur im pathologischen Sinne. Sie meinen, dass ihre Macht und deren Legitimität von Gott kommen und dass sie somit jenseits der Kritik stehen. Die Probleme, die sich aus solch einer pathologischen Auffassung „hypostasierter Autorität“ für wirtschaftliche Strukturen und die Entwicklung in Afrika ergeben, brauchen an dieser Stelle nicht detailliert behandelt zu werden. Nur so viel sei gesagt: Der Dienst am Staat sollte die höchste Priorität für die Regierenden haben, wie es traditionell der Fall beim König ist. Doch an die Macht zu kommen, bedeutet für viele allzu oft die Gelegenheit, sich persönlich zu bereichern.60 Dieses pathologische Verständnis der Macht führte bekanntlich lange Jahre hindurch zu diktatorischen und korrupten Regimen. Auch wenn die Betrachtung von Afrika als Ganzes oft den Blick auf die bedeutenden politischen Unterschiede in den verschiedenen Ländern sowie auf die positiven und oft stillen Entwicklungen verstellt,61 hat doch auch das Aufkommen der Demokratie in den 1990er Jahren auf dem afrikanischen Kontinent die Situation nicht grundsätzlich verändert.

|| 57 Vgl. dazu P. Diagne, Le pouvoir en Afrique, in: Le concept de pouvoir en Afrique (= UNESCO, coll. Introduction à la culture africaine, n°4) Paris 1986, 28–55. 58 J. Vansina, How Societies are Born. Governance in West Central Africa Before 1600, Virginia 2004, 142f. 59 L. Harding, Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, 130. 60 Vgl. G. Erdmann, Neopatrimoniale Herrschaft – oder: Warum es in Afrika so viele Hybridregime gibt, in: P. Bendel /A. Croissant / F. W. Rüb (Hg.), Zwischen Demokratie und Diktatur. Zur Konzeption und Empirie demokratischer Grauzonen, Opladen 2002, 323–341, hier 331. 61 In Benin, wo es seit der Unabhängigkeit trotz Ressourcenarmut weder Krieg noch Völkermord gegeben hat, in Ghana sowie im Senegal haben sich politische Strukturen herausgebildet, in denen nach Wahlen geordnete Machtwechsel stattfinden, so dass die Beschreibung historischer Prozesse in Afrika ein großes Ausmaß an Differenzierungen erfordert. (Zur Demokratie in Benin vgl. P. Noudjenoume, La Démocratie au Bénin, Bilan et perspectives, Paris 1999; zu Ghana vgl. H. Jockers / D. Kohnert / P. Nugent, The Successful Ghana Election of 2008: A Convenient Myth?, in: Journal of Modern African Studies 48 (2010) 95–115; zum Senegal vgl. L. J. Beck, Brokering Democracy in Africa: The Rise of the Clientelist Democracy in Senegal, New York 2008)

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Stattdessen führten die demokratischen Bewegungen zu den sog. „hybriden Regimen“62, wo die Wahlsysteme meistens nicht kompetitiv sind, weil sie nicht zu einem Regierungswechsel führen, und die wiederum durch stark personalisierte Macht, Nepotismus und Klientelismus Mangel an Freiheit erkennen lassen. Dies kann man nie genug betonen: Das pathologische Verständnis der sakralen Macht ist eine Hauptursache der Entwicklungsprobleme in Afrika. Hinzu kommt, dass die Entwicklungshilfe zum Teil mehr geschadet als genutzt hat. Wie gesagt, sind in den vergangenen ca. 60 Jahren viele Hilfsgelder nach Afrika geflossen. „Doch geht es den Afrikanern durch die mehr als eine Billion Dollar, die in den letzten Jahrzehnten gezahlt wurden, tatsächlich besser? Nein, im Gegenteil: Den Empfängern der Hilfsleistungen geht es wesentlich schlechter.“63 Für die in Sambia geborene und aufgewachsene Harvard-Ökonomin Dambisa Moyo steht Afrika nicht trotz, sondern aufgrund der bilateralen und multilateralen Hilfe schlimmer da als je zuvor. „Die Vorstellung, Entwicklungshilfe könne systematische Armut mindern und habe dies bereits getan, ist ein Mythos. Millionen Afrikaner sind heute ärmer – nicht trotz, sondern aufgrund der Entwicklungshilfe.“64 Dabei lehnt Moyo nicht die Katastrophennothilfe oder die Arbeit von Wohltätigkeitsorganisationen ab. Aber sie bestreitet die Entwicklungshilfe in Form von billigen Darlehen, nicht rückzahlbaren Krediten oder Schuldenerlassen. Denn diese Gelder nähren nicht nur die Korruption,65 sondern sie werden

|| 62 Damit sind eine Kombination demokratischer und autokratischer Herrschaftspraktiken gemeint. (Vgl. F. W. Rüb, Hybride Regime – Politikwissenschaftliches Chamäleon oder neuer Regimetypus? Begriffliche und konzeptionelle Überlegungen zum neuen Pessimismus in der Transitologie, in: P. Bendel /A. Croissant / F. W. Rüb [Hg.], Zwischen Demokratie und Diktatur. Zur Konzeption und Empirie demokratischer Grauzonen, Opladen 2002, 93–118, hier 99ff.; G. Erdmann, Neopatrimoniale Herrschaft – oder: Warum es in Afrika so viele Hybridregime gibt, in: P. Bendel / A. Croissant / F. W. Rüb [Hg.], Zwischen Demokratie und Diktatur. Zur Konzeption und Empirie demokratischer Grauzonen, Opladen 2002, 323–341) 63 D. Moyo, Dead Aid. Warum Entwicklungshilfe nicht funktioniert und was Afrika besser machen kann, Berlin 2012, 22. 64 Ebd. 65 „Dadurch machen sie zugleich einheimische wie ausländische Investitionen in ihren armen Ländern unattraktiv.“ (D. Moyo, Dead Aid. Warum Entwicklungshilfe nicht funktioniert und was Afrika besser machen kann, Berlin 2012, 87) Moyo fährt fort: „In einem Umfeld hochgradiger Korruption und Unsicherheit werden weniger Unternehmer (einheimische wie ausländische) das Risiko eingehen, ihr Geld in Unternehmen zu investieren, wenn korrupte Staatsbedienstete auf die Erträge Ansprüche erheben. Das führt zur Stagnation der Investitionen und würgt letztlich das Wachstum ab.“ (Ebd., 87f.) Selbst dann „wenn die Hilfsleistungen nicht einfach veruntreut wurden und in den Kanälen der Korruption versickerten, blieben sie unproduktiv. Die politische Realität hat überdeutliche Beweise dafür geliefert. Angesichts des ökonomischen Zustandes Afrikas

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auch von korrupten und despotischen Regierungen benutzt, um ihre Macht zu konsolidieren. Diese kaufen sich nämlich Waffen, um ihre Völker zu verstümmeln. In einem Land, wo es an Freiheit fehlt und in dem der innere Anspruch der Bürger, „selbst verantwortlich für wesentliche Entscheidungen zu werden“66, missachtet wird und wo der Reichtum des Landes einer Minderheit gehört, ist keine Entwicklung zu erwarten. Um seine Entwicklung vorantreiben zu können, braucht Afrika politisch „echte“ bzw. „geglaubte Autoritäten“, die auf den Weg zeigen, wie Jaspers sagt,67 oder „faktische Autoritäten“, die darauf beruhen, „daß jemand de facto Seinsmacht hat und sie darum mitteilen kann“68, wie es Tillich zutreffend zum Ausdruck bringt. Allerdings ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass man mit der allseits gestellten Diagnose, Afrika sei bei der Einlösung des Entwicklungsversprechens und vor allem bei Herausbildung demokratisch verfasster Nationalstaaten gescheitert, die Komplexität der Situation aufgrund des Einflusses der Außenpolitik nicht aus den Augen verlieren darf. Die Hoffnung, die in das „Afrika-Jahr“ 1960 gesetzt wurde und in vielen Unabhängigkeitsfeiern zum Ausdruck kam, bekam nämlich sehr früh die ersten Risse durch die Ermordung des ersten frei gewählten Ministerpräsidenten und Hoffnungsträgers Patrice Lumumba Ende 1960 im Kongo.69 1987 wurde der Revolutionär70 und von Medien als „Afrikas Che Guevara“ genannte Thomas Sankara in Burkina Faso gestürzt und ermordet.71 Nicht selten wird über die direkte Beteiligung oder Mitverantwortung der großen politischen Mächte an dieser Ermordung sowie an Kriegen und Konflikten in Afrika berichtet. In den frühen 2000er Jahren bestellte die belgische Regierung eine Untersuchungskommission, um die Verantwortlichkeiten bei der Ermordung von Patrice Lumumba festzustellen. 41 Jahre nach seiner Ermordung hat sich die frühere Kolonialmacht Belgien offiziell bei der Familie des Opfers und der Bevölkerung der heutigen Demokratischen Republik Kongo für ihre Mitverantwortung

|| ist nicht zu erkennen, wo Wachstum eine direkte Folge der Entwicklungshilfe gewesen wäre.“ (Ebd., 58) 66 GW XI 201. 67 Vgl. AZM 333. 68 GW IX 223. 69 Vgl. A. Wirz, Krieg in Afrika. Die nachkolonialen Konflikte in Nigeria, Sudan, Tschad und Kongo, Wiesbaden 1982, 509–560. 70 Vgl. E. Harsch, Thomas Sankara: An African Revolutionary, Ohio / Athens 2014. 71 Vgl. P. Meyns, Der Sozialismus in Afrika in der Krise, in: R. Hofmeier (Hg.), Afrika Jahrbuch 1989: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Afrika südlich der Sahara, Opladen 1990, 31–41, hier 41.

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am Tod von Patrice Lumumba entschuldigt.72 Bedenkt man, dass die Demokratische Republik Kongo bis heute bekanntlich immer noch ein krisengeschütteltes Land ist und dass viele andere Hoffnungsträger in vielen anderen Ländern Afrikas mit mutmaßlicher Hilfe „von außen“ ermordet wurden, dann wird uns bewusst, wie die außenpolitische Macht die Verwirklichung der Seinsmächtigkeit einer sozialen Gruppe zerstören kann. Hier erweist sich die ontologische Auffassung der Gerechtigkeit bei Tillich als Achtung des Anspruchs der Seinsmächtigkeit des Anderen als ein Appell, und dies nicht nur an die afrikanischen Politiker, sondern auch an die Großmächte, die aufgrund stillschweigenden Interesses diktatorische Regime unterstützen.

|| 72 Vgl. G. de Villers, Histoire, justice et politique. A propos de la commission d’enquête sur l’assassinat de Patrice Lumumba, instituée par la Chambre belge des représentants, in: Cahiers d’Études Africaines 173–174 (2004) 193–220; ders., La Belgique face à la transition manquée au Congo-Zaïre (1990–1997), in: O. Lanotte / C. Roosens / C. Clément (Hg.), La Belgique et l’Afrique centrale de 1960 à nos jours, Bruxelles 2000, 149–171.

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https://doi.org/10.1515/9783110676754-011

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Weitere Werke von Jaspers Jaspers, K., Existenzphilosophie, Berlin 1964. Jaspers, K., Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945–1965, München 1965. Jaspers, K., Antwort zur Kritik meiner Schrift: Wohin treibt die Bundesrepublik, München 1967. Jaspers, K., Philosophische Aufsätze, Frankfurt/M. 1967. Jaspers, K., Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften, München 1967 Jaspers, K., Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / New York 41974. Jaspers, K., Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands, München 2012. Jaspers, K., Max Weber, München 1988. Jaspers, K., Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1988. Jaspers, K., Freiheit und Wiedervereinigung. Über Aufgaben deutscher Politik, München 1990. Jaspers, K., Nachlaß zur Philosophischen Logik, hg. v. H. Saner / M. Hänggi, München 1991. Jaspers, K., Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, München / Zürich 2003.

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Sekundärliteratur Monographien und Sammelbände Baars, T., Der Arzt-Philosoph: wissenschaftstheoretische und philosophische Implikationen eines ärztlichen Berufsethos nach Karl Jaspers, Berlin / Münster 2007. Díaz Díaz, G. Begriff und Problem der Situation. Eine Untersuchung im Rahmen des Jaspers’schen Denkens, Freiburg 1961. Dufrenne, M. / Ricœur, P., Karl Jaspers et la philosophie de l’existence, Paris 1947. Hersch, J., Karl Jaspers, Lausanne 1979. Koselleck, R., Jaspers, die Geschichte und das Überpolitische, in: J. Hersch / J. M. Lochmann / R. Wiehl (Hg), Karl Jaspers. Philosoph, Arzt, politischer Denker, Basel / Heidelberg / München / Zürich 1986. Lengert, R. (Hg.), Philosophie der Freiheit. Karl Jaspers 23. Februar 1883 – 26. Februar 1969, Oldenburg 1983. Örnek, Y., Existentielle Freiheit. Ihre Bedeutung im philosophischen und politischen Werk von Karl Jaspers, Mainz 1983. Örnek, Y., Karl Jaspers. Philosophie der Freiheit, München 1986. Räber, T., Das Dasein in der „Philosophie“ von Karl Jaspers. Eine Untersuchung im Hinblick auf die Einheit und Realität der Welt im existentiellen Denken, Bern 1955. Salamun, K., Karl Jaspers, Würzburg 2006 (1. Aufl. München 1985). Saner, H., Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbeck bei Hamburg 1991. Schüßler, W., Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995.

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Personenregister Acapovi, C. 12 A. 61, 207 A. 360, 212 A. 13, 218 A. 45, 224 A. 91, 246 A. 276, 263 A. 390, 283 A. 536, 284 A. 542, 309 A. 47 Adorno, T. W. 195 Aitken, F. M. 262 A. 390 Alemann, U. von 160 A. 55 Anter, A. 2-3, 6 A. 26, 7 A. 33, 8, 37 A. 101, 45, 48 A. 171, 51 A. 10, 56, 213 A. 15 Amelung, E. 162 A. 64 Arendt, H. passim Arlt, G. 67, 68 A. 15 u. A. 17, 69 A. 20 u. A. 25, 70 A. 32, 71, 73 A. 56, 77, 395 A. 19 Augustinus 36 u. A. 100, 198 A. 301, 262 Aristoteles 29 u. A. 51, 47, 198 A. 301, 213, 214, 216 A. 45, 238, 244, 246, 248 A. 296, 252 A. 327, 253, 262, 264-265, 269, 270 Asmussen, H. 4, 302 Baars, T. 100 A. 100, Bajohr, H. 32 A. 72, 33 A. 78 Batthyány, P. 129 A. 327 Bauke-Ruegg, J. 2 Beck, H. 261 Beck, L. J. 212 A. 61 Bek, T. 72 A. 44, 73 A. 57, 75 A. 67, 82 A. 111, 83, 86 A. 140, 87 A. 146, 300 A. 19 Bendel, P. 312 A. 60, 313 A. 62 Benhabib, S. 31 A. 66, 36 A. 101 Bergson, H. 192 A. 263, 231, 271 Bernady, J. 51, 54 Bielefeldt, H. 22 A. 13, 23 A. 19 Bonß, W. 5 A. 23, 6 Bracher, K. D. 6 A. 26, 169 A. 111 Braun, M. 35 Breier, K. H. 22 A. 13 Brunkhorst, H. 34 u. A. 87 Buber, M. 202, 279 u. A. 519 Burckhardt, J. 1-3 Canetti, E. 3 https://doi.org/10.1515/9783110676754-012

Cordemann, C. 179 u. A. 177, 181, 182 A. 197 u. A. 200, 184 A. 209 u. A. 213 u. A. 215 Croissant, A. 312 A. 60, 313 A. 62 Cusanus 91, 229 Danz, C. 4 A. 16, 12 A. 61, 89 A. 4, 137 A. 396, 149 A. 9 u. A. 11, 152 A. 4, 170 A. 118, 171 u A. 126, 173 A. 136, 176 A. 158, 179 A. 177, 180 A. 186, 181 u. A. 195 u. A. 196, 182 A. 197 u. A. 198 u. A. 200, 183 u. A. 202, 184 A. 206 u. A. 208 u. A. 209 u. A. 213 u. A. 215, 185 A. 219-220, 186 A. 221 u. 223, 193 A. 266, 194 A. 278, 195 A. 280, 199 u. A. 307 u. A. 311, 203 A. 340, 205 A. 354, 206 A. 354, 212 A. 13, 214 A. 31, 215 A. 34, 221 A. 69, 224 A. 90, 225, 231, 234 A. 171, 235 A. 179, 241, 247 A. 283, 257 A. 356, 271 A. 459 u. A. 462, 288 A. 571, 300 A. 664 Darwin 134 A. 377, 251 A. 313, 265 A. 410 Davoli, G. 207 A. 360 Descartes, R. 68 A. 15, 114 Diagne, P. 312 A. 57 Díaz Díaz, G. 99 A. 94 Diemer, A. 183 A. 205 Dilthey, W. 67-68, 79, 192 A. 263, 271 u. A. 462 Dienstbeck, S. 205 A. 353, 215 u. A. 35 u. A. 39, 217 A. 45, 224 A. 90, 227 A. 124, 228, 233 A. 171, 234 A. 171 Dreyfus, H. L. 52 A. 15, 59 A. 62 Dufrenne, M. 115 u. A. 228 Edinger, S. 78 A. 84 Erdmann, G. 312 A. 60, 313 A. 62 Eisfeld, J. 183 A. 205 Elders, L. J. 252 A. 327, 253 A. 31 u. A. 32, 254 A. 338, 259 A. 367 u. A. 370 Ernst, N. 213, 240, 272 A. 468 Fahrenbach, H. 130 A. 337, 131 A. 345 u. A. 347

336 | Personenregister

Fichte, J. G. 187 u. A. 233, 224 Figal, G. 267 A. 425 Fischer, J. 67 A. 15, 68 A. 15, 70 u. A. 26 Fischer, H. 11 A. 61 Foucault, M. passim Frankl, V. 189 A. 244 Fraser, N. 13 A. 67, 51, 64 u. A. 98 Gehlen, A. 7, 65, 77 A. 81 Gehring, P. 56 Gerhardt, V. 1, 3 A. 13, 8-9, 262 A. 389, 263 A. 390, 264 A. 402, 265 Glöckner, K. 245 A. 266 u. A. 268, 246, 282 Göhler, G. 6 A. 26, 8 A. 34, 42 A. 136 Goethe, J. W. von 192 Habermas, J. 25 A. 33 Haigis, P. 214 A. 31, 287, 288 Han, B.-C. 7 Harding, L. 311 A. 56, 312 A. 59 Harsch, E. 314 A. 70 Hartmann, N. 148 u. A. 8, 249 A. 296, 281 Hegel, G. W. F. 21 A. 10, 91, 114, 121 A. 263, 148 A. 7, 245 A. 266, 280, 287 Heidegger, M. 10, 19. A. 2, 21 A. 9, 36-37, 78 A. 84, 84, 88 A. 3, 114-115, 148 u. A. 7, 187 A. 229, 206, 207 A. 360, 216 A. 44, 238, 239, 252, 258 u. A. 365, 259 u. A. 373, 262 A. 389-390, 263268 Hersch, J. 96 A. 65, 130 A. 337 Heuer, W. 22 A. 13 Höpting, K. 186 A. 220 Horstmann-Schneider, A. 218 A. 45, 224 A. 90, 248 A. 293, 255 A. 351 Hobbes, T. 35 A. 92, 41, 224 Horkheimer, M. 195 Husserl, E. 68 A. 17, 184, 186 Inhetveen, K. 6 A. 26 Jäger, S. S. 155 A. 22, 198 A. 301 Jaspers, K. passim Junker, T. 11 A. 61 Jung, C. G. 231

Kampowski, S. 36 A. 100 Kahlert, H. 20 A. 6, 23 A. 19 Kant, I 21 u. A. 9, 22, 24 A. 28, 33, 38, 39, 40, 57, 67 A. 15, 68 A. 17, 95, 183, 192, 228, 238, 247 u. A. 282, 248, 249 A. 296 Kangudie, G. M. 311 u. A. 54 Kierkegaard, S. 67 A. 15, 91, 97, 188, 245 A. 266 Kleffmann, T. 12 A. 61, 263 A. 391 König, J. 78 A. 84 Kodalle, K.-M 11 A. 61 Koselleck, R. 130 A. 337 Kräuter, K. 20 A. 6, 25 u. A. 29 u. A. 32, 27 A. 45, 28 A. 48, 29 A. 51 u. A. 53 u. A. 55, 31 A. 66, 34 u. A. 85 u. A. 87, 35 A. 95, 37 A. 104, 38 A. 107, 40 u. A. 126, 41 A. 129, 42 A. 134, 48 A. 171 Kubik, J. 152 A. 3, 186 A. 227, 187 A. 229 Kunz, V. 20 A. 6, 25 A. 29 u. A. 32, 27 A. 45, 28 A. 48, 29 A. 51 u. A. 53 u. A. 55, 31 A. 66, 34 A. 85 u. A. 87, 35 A. 95, 37 A. 104, 38 A. 107, 40 A. 126, 41 A. 129, 42 A. 134, 48 A. 171 Landauer, G. 164, 205 Landweer, H. 47 A. 169 Latzel, E. 91 A. 22 Lau, C. 5 A. 23, 6 Leibniz, G. W. 206 A. 360, 207 A. 360, 229, 238, 264 Leibrecht, W. 178 Lemke, T. 60 A. 68 Lengert, R. 98 A. 88 Lenz, C. 20 A. 6, 23 A. 19 Lösche, P. 160 A. 53 Luhmann, N. 6 A. 26, 9. A. 39, 48 Lumumba, P. 314 Magiera, G. 23 A. 19 Marcel, G. 91 A. 22 Marx, J. 20 A. 6, 25 A. 29 u. A. 32, 27 A. 45, 28 A. 48, 29 A. 51 u. A. 53 u. A. 55, 31 A. 66, 34 A. 85 u. A. 87, 35 A. 95, 37 A. 104, 38 A. 107, 40 A. 126, 41 A. 129, 42 A. 134, 48 A. 171

337 | Personenregister

Marx, K. 31, 55, 157, 171, 193 A. 267, 196, 245 A. 266 Mayer-Tasch, P. C. 232 A. 160, 265 A. 410 Merleau-Ponty, M. 258, 259 A. 368 Meyer, K. 13, 30 A. 57, 47 A. 169, 289 u. A. 280, 290 A. 583-586, 302 Meyns, P. 314 A. 71 Mokrosch, R. 192 A. 266 Morriss, P. 6 A. 26 Motroschilowa, N. 91 A. 22 Müller-Lauter, W. 262 A. 390 Murmann, U. 206 u. A. 357, 222, 224 A. 90, 225 A. 101, 226 A. 111, 227, 234 A. 172, 235 A. 178, 239 A. 208, 244 A. 263, 255 u. A. 348 Moyo, D. 313 u. A. 65

Ricœur, P. 23, 115 Ringleben, R. 11 A. 61, 150 A. 16, 186 A. 224, 210 A. 380 Ritter, G. 3 u. A. 13, 4. A. 16 u. A. 17 Ritter, J. 248 A. 296 Röbel, M. 251 A. 313, 284 A. 542 Röd, W. 94 A. 54, 96 A. 73, 97 A. 75 u. A. 79 u. A. 81, 97 A. 75 u. A. 79 u. A. 81, 98 u. A. 83 u. A. 89, 131 A. 355, 133 A. 355, 136 A. 388, 137 A. 392 Rolinck, E. 148 A. 8, 170 A. 116 Rössler, A. 153 A. 8 Röttgers, K. 6 A. 26, 7 A. 33, 8-9, 35 A. 95 Rüb, F. W. 312 A. 60, 313 A. 62 Rüssel, J. M. 212 A. 13 Russel, B. 213 A. 14

Neugebauer, G. 148 A. 8, 149 A. 9, 189 A. 249, 206 u. A. 356 u. 357 u. A. 357 u. A. 358, 207 A. 361, 208 Neumann, S.160 A. 55 Niedermaier, H. 5 A. 23, 6 A. 24 Nietzsche, F. 2 A. 5, 10, 14, 55, 90, 91, 95, 132-138, 140 u. A. 6, 142, 157, 172, 183 A. 204, 192 A. 263, 198, 200, 213, 230, 231, 238, 245 A. 266, 246, 257, 262-271, 287, 290, 305, 306 Noudjenoume, P. 312 A. 61

Salamun, K. 88 A, 3, 94 A. 54 Saner, H. 24 A. 21, 35 A. 93, 91 A. 22 u. A. 26, 92 A. 38, 94 A. 52, 128 A. 312 Sankara, T. 314 Sartre, J.-P. 84, 115, 116 A. 230, 238, 239 Scharlemann, P. R 148 A. 7, 208 A. 366, 217 A. 45, 222 A. 80, 223 A. 85 Scheler, M. 65, 148 u. A. 8, 184, 189 A. 244, 197, 199 A. 310, 231, 251 A. 313, 271, 281 Scheliha, v. A. 176 A. 158 Schelling 91, 192, 206-207, 231, 238, 262 Schmidinger, H. 94 A. 54, 96 A. 73, 97 A. 75 u. A. 79 u. A. 81, 98 u. A. 83 u. A. 89, 131 A. 355, 136 A. 388, 137 A. 392 Schmitt, A. 20 A. 6, 25 A. 29 u. A. 32, 27 A. 45, 28 A. 48, 29 A. 51 u. A. 53 u. A. 55, 31 A. 66, 34 A. 85 u. A. 87, 35 A. 95, 37 A. 104, 38 A. 107, 40 A. 126, 41 A. 129, 42 A. 134, 48 A. 171 Schmoll, U. G. 202 A. 328 Schopenhauer 134 A. 377, 172, 198, 231, 237 A. 196, 238, 245 A. 266, 267-268 Schreiber, G. 168 A. 108, 209 A. 370, 308 A. 29 Schüßler, W. 4 A. 15-16, 5 A. 22, 9, 10 A. 49 u. A. 51, 11 u. A. 61, 12 A. 61, 15 A. 75, 86 A. 144, 88 A. 4, 97, 89 A. 4, 91 A. 22 u. A. 26, 92 A. 33, 95 A. 63, 97, 98 A. 88, 105 A. 137, 108, 110 A. 186,

Örnek, Y. 98 A. 88, 99 A. 94, 123 A. 272, 129 A. 325, 130 A. 334 u. A. 337, 132 Opstaele, D. J. 19, 26, 46, 47 Palmer, M. 147 A. 5 Parekh, B. 23 A. 19, 25 A. 33 Parmenides 222, 238 Plato 21 u. A. 10, 91, 192, 193, 213-214, 238, 243, 245 A. 266, 262, 296 Plessner, H. passim Plotin 91, 93 A. 40 Popitz, H. 1 Rabinow, P. 52 A. 15, 59 A. 62 Räber, T. 95 A. 54 Rainsborough, M. 60 Randall Jr., J. H. 212 A. 13 Reimer, A. J. 159 A. 50, 161 A. 59, 167 A. 91

338 | Personenregister

113, 125, 128 u. A. 309, 129 A. 324 u. A. 327, 137 A. 396, 142 A. 25, 149 A. 11, 151 A. 1, 152 A. 4, 153 u. A. 8, 154 A. 8, 163 A. 65, 167 A. 94, 168 A. 107108, 169 A. 113, 170 A. 116, 171 A. 126, 173 A. 136, 176 A.158, 177 A. 163, 179 A. 177, 180 A. 186, 181 A. 195196, 182 A. 197 u. A.198 u. A. 200,183 A. 202, 184 A. 206 u. A. 208 u. A. 209 u. A. 213 u. A. 215, 185 A. 219, 186 A. 221 u. A. 223, 190 A. 249, 193 A. 266, 195 A. 280, 198 A. 298, 199 A. 307 u. A. 311, 203 A. 340, 205 u. A. 354, 208, 209, 212 A. 13, 213 u. A. 19, 124 u. A. 31, 215 u. A. 34, 217 A. 45, 218 A. 45, 220 A. 60, 221 A. 69, 237 A. 196, 240 A. 217, 247 A. 283, 251 A. 313, 256 A. 356, 257 A. 356-357, 258 A. 364 u. A. 366, 260 u. A. 375-376, 261 A. 381 u. A. 383, 269 A. 442, 272 A. 469, 274 A. 483, 283 A. 536, 284 A. 542, 288 A. 571 u. A. 573, 291 A. 592, 293 A. 614, 294 A. 619, 299 u. A. 655 u. A. 658, 300 A. 664, 302, 303 A. 3, 306, 307 u. A. 34, 309 A. 47 Schulz, H. 168 A. 108, 209 A. 370, 308 A. 29 Schulz, R. 129 A. 324 u. A. 327 Sennelart, M. 68 A. 68 Simmel, G. 184, 192 A. 263, 271 Sontheimer, K. 20 A. 6 Spector, C. 8 u. A. 36 Spinoza, B. 134 A. 377, 242 A. 240, 264 Stirner, M. 67 A. 15 Stone, R. H. 12 A. 61 Sturm, E. 4 A. 15-16, 9 A. 45, 11 A. 59, 12 A. 61, 15 u. A. 76, 89 A. 4, 137 A. 396, 149 A. 11, 152 A. 4, 153 A. 8, 154 A. 8, 163 A. 65 u. A. 70, 167 A. 94, 168 A. 107, 170 A. 118, 171 A. 126, 173 A. 136, 176 A. 158, 177 A. 163, 181 A. 195, 182 A. 197, 183 A. 202, 184 A. 208, 193 A. 266, 195 A. 280, 199 A. 307 u. A. 311, 202 A. 340, 212 A 13, 213 A. 19, 214 A. 31, 215 A. 34, 217 A. 45, 237 A. 197, 240 A. 217, 256 A. 356, 257 A. 356-357, 258 A. 364 u. A.

366, 260 A. 376, 261 A. 381 u. A. 383, 272 A. 469-470, 283 A. 536, 288 A. 571 u. A. 573, 293 u. A. 614, 300 A. 664, 302, 303 A. 23, 307 A. 32 u. A. 34, 309 A. 47 Thatcher, A. 207 A. 360, 212 A. 13 Thompson, I. A. 212 A. 13 Thurnher, R. 94 A. 54, 96 A. 73, 97 A. 75 u. A. 79 u. A. 81, 98 u. A. 83 u. A. 89, 131 A. 355, 136 A. 388, 137 A. 392 Tillich, P. passim Thomas von Aquin 252 A. 327, 253, 261, 272 Treiber, H. 6 A. 26 Troeltsch, E. 170 A. 118 Villers, G. de, 315 A. 72 Vogt, S. 195 u. A. 280 Vollrath, E. 21 A. 9 Walter, M. 45 Walter, F. 160 A. 53 Wartenberg, T. E. 6 A. 26 Weber, M. 41, 124 u. A. 279, 268 Weiß, U. 7 u. A. 28 Wellte, B. 262 Winkler, J. R. 160 A. 54 Wirsching, A. 160 A. 56 Wirz, A. 314 A. 69 Wolbold, M. 155 A. 22 Wrege, W. R. 12 A. 61, 159 A. 46, 192 A. 286, 193 A. 267, 196 u. A. 287, 203 A. 344 Wust, P. 251 A. 313 Young-Bruehl, E. 23 A. 16, 23 A. 16, 24 A. 25, 37 A. 103 Yousefi, H. R. 129 A. 324 u. A. 327 Zander, F. 121 A. 263 Zarathustra 2 A. 5, 263, 266 Zimmerling, R. 6 A. 26

Sachregister Abgrund, 154 u. A. 11, 181 – der Freiheit 39 – der Sinnlosigkeit 181 – des Nichtseins 97 A. 78, 252 – Abgrunderlebnis 154, 155, 158 Akratismus 177 Aktualität / energeia 214, 223, 244-246 Akzidentien 254 Anarchismus 170 A. 118, 172, 177 – anarchischer / anarcho-Föderalismus 152 A. 4, 164, 182 A. 197, 205 Anerkennung 112, 202, 203 A. 341, 204, 280, 289, 292-293, 294, 295 – des Anderen / des Du 62, 183, 175, 191 A. 259, 202, 297 Angst 105, 106, 249-252, 254-256 – ontologische / existentielle 107, 209, 242 – als Erfahrung des Nichts / Nichtseins 205, 207 A. 260, 209, 239, 242, 248, 249, 274, 292 – s. Mut Anthropologie 33, 66, 68 A. 15 – apriorische 78 A. 84 – dualistische 233 A. 169 – ontologische 168 A. 108, 170, 305 – philosophische 65, 69 A. 18, 81 205 – politische 65, 66, 81-87, 251 A. 313 – soziologische 9 A. 39 Aseität 252 Autorität 42, 43, 297 – gerechte und ungerechte / echte und uneigentliche 298-299, 309, 314 – aus Prinzip / hypostasierte 164, 298, 311, 312 – in Afrika 311-314 Begegnung 36, 76, 81, 115, 178, 198, 200202, 216 A. 43, 219, 229, 230, 232 A. 165, 249, 256, 267, 292, 296, 297298, 300, 307, 308 – Philosophie der 118 – als Verortung der Seinsmächtigkeit 275277 https://doi.org/10.1515/9783110676754-013

Bewußtsein überhaupt 94-98 A. 83, 101103, 116, 132, 133, 136 A. 386 Bürgerliche Gesellschaft 156, 159 – Geist der 156-157, 166 u. A. 88, 179-180, 194 Chiffre 14, 137, 142, 305, 306 Dämonien 166 A. 88, 173 – soziale 165 Dämonisches 3-4, 152 A. 4, 164, 166 A. 88 Dasein 27, 29-30, 69 A. 18, 74, 76, 80, 9495, 96-111, 113, 115-117, 122, 125, 126127, 132, 133, 134 A. 377, 135 A. 380, 137, 154, 156, 192 A. 263, 243, 262 – gesellschaftliches 201 A. 325, 202 Daseinsanalyse 78 A. 84 Daseinsangst 105, 106, 107 A. 160 Daseinskampf 109, 111, 120, 134 A. 377, 135 A. 380, 198 Daseinswille 94 A. 54, 95, 134 A. 377 Demokratie 130, 159-160, 164, 175, 203 A. 340, 312 – als Korrektiv / Übergangserscheinung 175, 176 Determinismus 39, 233 A. 169 Differenz, ontisch-ontologische 148 A. 7, 187 A. 229 – artspezifische 259 Dualismus – cartesianischer 192 – supranaturalistischer 149 A. 8 Du-Begegnung 277 Dynamik und Form 227, 230-232 Elemente, ontologische / polare 227-235, 229 Endlichkeit 39 – kategoriale Formen der 246-255 – Struktur der 240-242 – in sich ruhende 156-157, 184, 233, 233 A. 171, 236-239 Ens per se subsistens 261, 272 Entelechia 214, 265

340 | Sachregister

Entfremdung 235 A. 178, 245 A. 266, 246, 249 A. 302, 285 Erfahrung 216 A. 45 – sinnliche / immanente 137 – seiner selbst 94, 96, 216 A. 45 – als Selbstbezogenheit 226 – des Bewusstseins 231, 232 Eros 191 A. 258, 214, 229, 284 A. 542 – und Machtwille 165, 191 A. 258 – und Machtverhältnis 186 A. 220, 193197 Eroskraft 164, 167, 191 A. 258. Erscheinungsraum 27, 28 – politischer / öffentlicher Raum 27-30, 33 A. 81, 35-37, 41, 45, 48, 140, 303 – potentieller 27, 30, 36 Essenz 230, 235, 238, 242-246, 255, 270, 281 – s. Existenz Ethik 123, 164, 213 – der Macht 282-301 – s. Ontologie Existenz 2 A.5, 14, 25 A. 33, 31, 32, 35 A. 93, 39 A. 114, 40, 67 A. 15, 69, 72, 73, 74, 79, 81, 82, 83, 88-9, 94 u. A. 54, 96-121 A. 263, 125 u. A. 284, 127, 129, 132, 133, 134, 136 u. A. 386, 137, 142, 149 A. 9, 156 A. 27, 161 A. 57, 167, 175, 189, 200, 209, 218 A. 45, 223, 233 u. A. 168, 135 u. A. 178, 238, 242, 244, 250 A. 308, 267, 271 A. 459, 281, 299, 305 – eigentliche 106, 129 – mögliche 87, 89, 97, 100, 102 A. 109, 103, 107, 108, 110, 117, 122, 133 – Unbedingtheit der 101 – Zweideutigkeit der / des Begriffs der 243, 244, 270 A. 456 – und Essenz 235, 242-243, 245 u. A. 266, 246, 255, 281 – und Grenzsituationen 99-114 Existentialismus 238, 245 A. 266 Existentialontologie 14 Existentialphilosophie 206 Existenzphilosophie 36 A. 101, 88 u. A. 3, 124, 129, 131, 205, 251 A. 313 Existenzerhellung 90, 104, 118, 124, 129

– Freiheit als das eigentliche Signum der 129 – Wahrheit der 80 Existenzialität 67 A. 15 Existenz-Ontologie 190 Exzentrizität / exzentrische Positionalität 14, 41 A. 128, 65-74, 79, 80, 140, 251 A. 313, 304 Faschismus 57 Form 182 A. 197, 185 A. 220, 230-232 – s. Dynamik Freiheit 31, 33-34, 39-40, 62-63, 198-199, 239, 241 A. 233, 251 A. 213, 278-279, 297, 304, 313-314 – endliche 188 A. 243, 233-235 – existentielle 90, 98-99 A. 94, 111, 113, 127-129, 131 – politische 90, 122-124, 126, 129-131 – schöpferische 192 A. 263 – transzendentale 128 – Ort der 98 – Unendlichkeit der menschlichen 241 A. 233, 297 – als ein gemeinsames Ziel von Philosophie und Politik 129 – als sinnhafte Mächtigkeit 197 – als Wahl meines Selbst 129 – und Geist 188-189 – und Schicksal 223, 227, 232-235, 255, 278 – und Transzendenz 136-138 Freiheitsbegriff 197, 233 u. A. 169, 278 – existenzphilosophischer 131 – politischer 130-131 – als Grenzbegriff 128 Fronterfahrung 153-159 Geist 94, 96-97, 101, 102, 116 – als Koinzidenz von Macht und Sinn 186 A. 224 Geistphilosophie 149 A. 9, 171, 182-183, 199 Gehalt 182 A. 197, 185 A. 220 Gerechtigkeit s. Macht Gewalt 5, 7, 26 – sinnhafte und sinnwidrig 204-205

341 | Sachregister

– sinntheoretische Fassung des Begriffs der 204-205 – als brutale Macht 5 – und Macht 25 A, 29, 35 A. 95 – s. Liebe, Macht Geworfenheit 252 u. A. 325 Grenzerfahrung des Ungenügens 117-118 Grenzsituation(en) 14, 86, 87, 88 A. 3, 8991, 99-110, 113-114, 118, 16 A. 298, 133, 142, 305 – des Kampfes 89, 105, 109-112, 113 – des Leidens 89, 107-109 – der Schuld 86 u. A. 143, 89, 101 u. A. 102, 105, 109, 113-114 – des Todes 89, 105-107 – s. Existenz Grunderfahrung 94, 96

– liebender / kämpfende Liebe 111, 113, 116, 119, 120 – um Existenz 110, 111, 120 – um Macht / Machtkampf 66, 82, 110, 298, 300 Kategorien / letzte Begriffe / Prinzipien 223, 247-149, 255 Kausalität 32, 223, 248 A. 294, 249, 251254, 255 Klassenkampf 172 A. 129, 196 Klassenstaat 175, 176 Kommunikation, existentielle 14, 90, 99, 111, 114-121, 122-132, 142, 305 Kommunikationsbegriff 33 A. 81, 35 A. 93, Kontingenz 39, 252 u. A. 325 Körper/Leib-Haben und Körper/Leib-Sein 74 u. A. 60, 75 u. A. 62, 304-305

Herrschaft 5 u. A. 23, 27-28, 41, 42, 81, 114, 125, 156, 177, 203 u. A. 243, 267, 302 – totale 27 – Legitimität der 203 Herrschaftslosigkeit 177 Herrschaftsvertrag 203 Herrschaftswille 165, 194, 195 Homo absconditus 73 Homo faber 32 u. A. 71

Leben 2 A. 5, 31-33, 71-72, 75-77, 83, 9495, 99 A. 94, 104, 107, 109 u. A 178, 110, 115 A. 226, 125 u. A. 284, 130, 134-135, 141, 155-157, 171, 184, 198, 199, 231 A. 159, 231 165, 246, 251 A. 313, 266-272, 276, 277, 288, 292 – existentielles 110, 111 – geschichtliches 65 – ontologische Deutung des 140, 263-272 – Artbegriff des 269 – Grundprinzip allen 2 A. 5 – Selbstbejahung des 263-272, 306 – Sinnlosigkeit des 154, 179 – Stufentheorie des 70 – Tätigkeiten des tätigen 31-37 – als verwirklichtes Sein 288 Lebensbegriff / Begriff des 12 A. 61, 68, 69, 70 A. 25, 135, 172 A. 130, 198, 246, 263, 266-272, 284 – polarer 269 – ontologischer 269-271 – universaler 269-271 – symbolischer 269 Lebensmacht 231, 267 Lebensphilosophie 68 A. 15 u. 17, 88, 91, 94 A. 54, 148 A. 8, 151 A.3, 157, 165, 172, 198 u. A. 301, 257 Lebewesen-Umwelt-Korrelation 69 Lebenswille 89, 105, 133

Ichbewußtsein 97 Ich-Du-Begegnung / -Beziehung 202, 279280 Ich-Du-Philosophie 202 Ichsein 98, 118-119 Ich-Selbst 226-227, 278 Idealismus 67 A. 15, 68 A. 15, 78 A. 84, 185-186, 187 A. 223 – und Realismus 186 A. 220, 196 Individualisation und Partizipation 219, 223, 227, 228-230, 255, 279 Insecuritas 251 A. 313 Intentionalität 231-232 – s. Vitalität Kampf 64, 86, 109, 111, 112, 116, 127, 133, 134, 135, 157 – existentieller 111

342 | Sachregister

Liebe 111, 164, 172, 202, 211, 214 u. A. 32, 282, 283-288, 293, 296, 303, 308, 309 – christliche 161 – Ontologie der 284 – und Gewalt 293-295 – s. Kampf, Macht Macht passim – heteronome 281 A. 533, 285 – legitime 36 – politische 2 A. 8, 48, 56, 81, 89 A. 5, 310 – präpolitische 41 – an sich böse 1-4 – Allgegenwärtigkeit der 1 – Anerkennung der 205, 297 – Anthropologie der 65-87 – Dämonie der 3 A. 13, 4, 164, 165 – Entdämonisierung der 48, 307-309 – Entstehung der 13, 19-48, 121, 220 A. 63 – Legitimität der 44-45, 54, 312 – Ontologie der 10-12, 14, 15, 30 A. 57, 139, 168 A. 104, 211, 220 A. 62, 256280, 302, 306 – Philosophie der 13, 46, 89, 211, 262 A. 389 – Semiologie der 7 A. 33, 9 – produktive Funktion der 54-57 – anthropologisch-sinntheoretisches Moment der 197-200 – politisches Moment der 81-87 – des Urteilens 37-41 – als Essenz im Menschen 79 – als existentielle Selbstverwirklichung 88-138 – als Freiheit / Erhebung in den Sinn 183 – als gemeinsames Handeln 26, 30-37 – als Miteinander-Handeln und -Sprechen 27-37 – als Schaffung und Sicherung des politischen Erscheinungsraums 28-30 – als Selbstbejahung des Lebens 172 A. 130, 198, 263-272 – als Selbstverwirklichung 172 – als sinnerfüllte Mächtigkeit 177-205

– als Verwirklichung des Selbstseins in existenzieller Kommunikation 114121 – als Welt- und Selbstmächtigkeit 277-279 – als Wesensbestimmung des Seins 132138 – und Autorität 43 – und Gerechtigkeit 214 A. 32, 287, 295, 297-301 – und Gewalt 41-49, 62, 89-90, 121, 123127, 177, 204-205, 288-293 – und ihre Konkurrenzbegriffe 26, 42-43, 48, 307 – und Liebe 172, 214 A. 32, 293-295, 309 – und menschliche Unbestimmtheit 74-76 – und Sinn 178 – und Subjekt 57-61 – und Widerstand 53, 61-64, 303, 306 – Verzicht auf 287 – Zweideutigkeit der 203 – s. Eros, Ethik, Gewalt, Kampf, Mächtigkeit, Seinsmächtigkeit / Seinsmacht, Selbstmächtigkeit, Wille zur Macht Machtbegriff, geistphilosophisch-sinntheoretischer 178-190 – geistpolitischer 37-41 – kommunikativer handlungstheoretischer 27-37 – normativer 200-204 – politischer 37 – sinntheoretischer 177-204 Mächtigkeit passim – menschliche 198-199 – sinnerfüllte 150 – sinnhafte 197 – Rang oder Grade der 197 – als ein Grundelement des Lebens 198 Machtstaat, kapitalistischer 158 Machtwille 90, 134, 136, 142, 164, 191 A. 258, 194 u. A. 279, 196, 308 – dämonischer 4 A. 15, 152 A. 4, 166 A. 88 – nationalstaatlicher 154 A. 8 Mensch passim – biologische/idealistische Fassung des 67 – schöpferischer 275 u. A. 489

343 | Sachregister

– dualistische Geist-Körper-Konzeption des 69 – als animal laborans 31 – als Macht des Könnens 74-81 – als mitweltliches Wesen 86 – als offene Frage und Macht 74, 76, 79, 81, 83, 85-86, 141, 305 – als politisches Wesen 29 u. A. 51. u. A. 52 – als Schöpfermacht 76-81 Mitwelt 79, 83 u. A. 116, 84 Mut 107, 180, 209 A. 279, 242 A. 240, 274 – und Angst 107, 248-249, 252, 254-256 Natalität, Begriff der 34, 36 u. A. 100 Nationalsozialismus 3, 15, 29, 89 u. A. 5, 122, 123, 129, 152, 153, 162, 169, 173174, 177, 267 A. 423 Neuplatonismus 167 A. 91 Nichts 72, 74, 75, 76, 80, 84, 97 A. 78, 105, 106, 119, 140, 141, 158, 180 A. 182, 207 A. 360, 222, 237 u. A. 191, 239, 245 A. 266, 299 A. 657, 304, 305 Nichtsein 4 A. 15, 84, 106-107, 135, 140, 150 u. A. 16, 180, 207 A. 360, 221, 222, 223, 230, 231, 235, 236, 141142, 243-244 – radikales 105 – relatives / dialektisches / me on 230, 239, 244, 274 A. 484 – undialektisches / absolutes / ouk on 231, 239, 244 u. A. 263 – Abgrund des 97 A. 78, 252 – Macht des 272-275 – Angst vor dem 106, 209, 214 A. 27 – als Schlüsselbegriff der Macht 272-275, 304, 305 – und Sein 236-240, 245 A. 268, 246, 248 u. A. 294, 249 u A. 302, 250, 251, 252, 254, 255, 256 Nichtselbstsein 84, 141, 305 Offenbarkeit / Offenbarwerden 110-111, 114-116, 119, 120 Ohnmacht 30, 84-85, 101, 108, 141, 193, 305 – des Seins 251

Ontologie 10, 78 A. 84, 92, 141, 148 A. 7 u. A. 8, 149 A. 9, 168 A. 104, 205, 206, 207, 208-209, 212-256, 303 – aporetischer Zustand der 221-224, 259 – des Wollens 10 – als geeigneter Zugang zur Macht 215221 – und Ethik 280-282 – s. Macht Paradoxie – der Existenz 132 – des eigentlichen Seins / des Selbstseins 132, 136-138 Partizipation 190 – s. Individualisation Periechontologie / Lehre des Umgreifenden, 91-94, 96, 98 A. 83, 132, 136 A. 386, 258 Persönlichkeit 38, 165, 199 u A. 310, 200, 202, 224 A. 92, 296 – Entleerung der 166 A. 88 Phänomenologie 184 – der Machtbeziehungen 277, 307 Philosophie und Politik 22-24, 90, 122124, 129 Pluralität 33-36, Potentialität / potentia / dynamis 29, 214, 223, 230, 234 A. 171, 244-245, 246 A. 270, 262, 264-265 Politik s. Philosophie Raum 69, 96, 127, 132 – Kategorie des 223, 226 A. 112, 246, 248 A. 293, 249, 250-251, 255, 261 Realismus 185 A. 220, 186, 196 – gläubiger 166-68, 191 – historischer 168 A. 106 – mystischer 167 A. 91 – neuer 167, 192 – technisch-ökonomischer 166, 167 A. 91 – s. Idealismus Rechtsstaat 126, 130 u A. 329, 205 Religiöser Sozialismus 14, 15, 150 u. A. 14, 151-153, 158 A. 46, 161-163, 166, 169, 174, 175-178, 191 u. A. 259, 203 A. 342, 205, 310 A. 52

344 | Sachregister

Religionsphilosophie 88, 167 A. 94, 182 Romantik 151 A. 3, 166 – politische 170 A. 117, 174 Schicksal 223, 227, 232-235, 255, 278 Schock, ontologischer / metaphysischer 207 A. 260, 221, 236, 237 Sein passim – essentielles und existentielles 233, 235, 236, 242-246 – transzendentes 136-138 – Akt-Charakter des 261, 272 –Sinn des 208-210 –Undefinierbarkeit des 257, 258-260 – vom Sinn zum 205-208 – als Freiheit 102 A. 109 – als Macht zu sein 145, 256-279 – als Seinsmächtigkeit im Begegnen 275280 – und Denken 221-224 Sein-Selbst 168 A. 108, 180 A. 182, 213, 236 u. A. 189, 242, 245 A. 268, 254, 256, 259, 264, 283 Schuldfrage 89 A. 5, 123 A. 272 Seiendes passim Seinsanalyse 211, 212, 213, 282, 306, Seinsfrage 148 A. 7, 150, 207 A. 360, 208 Seinsmächtigkeit / Seinsmacht 4 A. 15, 115, 150 A. 16, 167, 168 A. 106, 191 A. 259, 192, 193 A. 271, 194, 204, 208, 230 u. A. 150, 231, 243, 254, 256, 260, 273, 282, 283, 286, 287 A. 568, 291, 292, 294, 296, 298-299, 303, 308, 309-310, 314, 315 – unbedingte / letzte 167-168 – der Dinge 167, 168 A. 104, 190-197, 261 – der Gruppe 230 – des Selbst 230 – Abnehmen der 242 – Grade der 274-279 – Zunehmen der 214 – als Mächtigkeit des Lebens 267-268 Seinsverfehlung 200 Seinsweise 75, 91-99, 100, 102 A. 109, 116, 132, 244 Selbsttranszendenz 231, 241 u. A. 233

Selbst-Welt-Korrelation / ontologische Grundstruktur 11, 218, 223, 224-227, 255 Selbstbegegnung 277-279 Selbstbejahung 273, 274, 275, 285 – des Menschen 180 – des Selbst 230 – des Seins 230, 242 A. 240, 248, 267, 273, 274, 275, 303, 305 Selbstbezogenheit 223, 226, 228 Selbstdistanzierung 102, 140, 189 A. 244, 304 Selbsterfüllung 295 Selbstliebe 284, 285 Selbstmächtikeit 67 A. 15, 190, 195, 198, 199, 277-280 – des Symbols 191 A. 260 Selbstobjektivierung 189 A. 244, 199 A. 310 Sinn 147, 181, 182, 184, 185 A.220 – ursprünglicher 98 – Theorie des 147 – des Seins 148 A. 7, 149, 187 – und Geist 186 Sinnbegriff 149 u A. 9, 178, 179, 182, 184, 186 A. 220, 187, 189, 199, 104, 205, 208-209 – geistphilosophischer 149, 183 Sinngrund / -abgrund 180 A. 182 Sinnerfahrung 185 A. 220 Sinnerfüllung 150, 185 A. 220, 171, 188 Sinnforderung 183, 202, 203 A. 341, 204 Sinnfrage / -problem 150, 178, 179-181 Sinngehalt 100, 117, 167 Sinnkrise / -leere der Moderne 147, 149, 179-181 Sinnlosigkeit 150 – des Lebens 154, 172 A. 129, 180-181 Sinntheorie 179 A. 182, 183-186, 205, 208209, 211 Staat 5 A. 23, 54, 55, 66, 82, 85, 123 A. 272, 124, 159 A. 46, 164, 165, 176, 177 A. 158, 300 – demokratischer 175 – theonomer 152 A. 4, 164, 197 A. 182 – totaler 3, 156 A. 27 – und Staatliches 203 A. 341

345 | Sachregister

Sozialistische Entscheidung 166 A. 88, 169, 173-176 Staatskirchentum 154 A. 8, Stalinismus 57 Substanz 186, 223, 231 A. 159, 246, 248 A. 294, 249, 252-255 – religiöse 176 A. 158, 272 Terrorherrschaft 122 Theologie der Kultur / Kulturtheologie 150, 161, 181, 182, 191 Tragik alles Lebendigen 293 Transzendentalien 142, 259-260, 306 Transzendenz 14, 87, 88 u. A. 3, 90, 94, 98 A. 83, 132-133, 136 u. A. 186, 137, 142, 167 A. 97, 299, 306 Überpolitisches 130 u. A. 337 Überseiendes 185 Umgebung 226 u. A. 112, 229, 278 Umwelt 71, 72 A. 44 u. A. 48, 226 A. 112, 278 Unbedingtheit 98, 101, 189, 199 Unergründlichkeit, Prinzip der 14, 65-73, 74, 75, 78 A. 84, 79, 80, 82, 86, 140, 251 A. 313, 304, 305, 310 – offene 83 – des Lebens 82, 85 Unendlichkeit des Menschen 4, 241 – des Möglichen 84, 305 – des Seins 279 – der Welt und der menschlichen Freiheit 227, 241 A. 233, 297, 273 Unfreiheit 32, 123 A. 272, 129 – politische 131 Unsicherheit 86, 207, 251 u. A. 313 u. A. 314, 313 A. 65 Ungesichertheit 251 A. 313 Vitalität 109 A. 172, 131-132 u. A. 161 u. A. 162 u. A. 165 – als Lebensmacht 231 u. A. 159 Vitalität und Intentionalität 231 Wahrheit 79, 101, 102, 120, 125 – der Dinge 47 – als Existenz 125 A. 284, 299

Wahrheitsbegriff 92 A. 26 Weimarer Republik 15, 123 A. 272, 153, 158-161, 169 u. A. 111, 173, 176 A. 158 Welt 32, 40 u. A. 122, 41, 71, 75, 77, 80, 82, 94 u. A. 54, 95 u. A. 54, 96, 109 A. 178, 125 A. 281, 132, 133, 134, 135, 136, 138, 143, 181, 216 A. 41 u. 43, 217 A. 45, 220 A. 59, 224 u. A. 92, 225 u. A. 100, 226-230, 234, 236, 239, 241 A. 233, 245 A. 266, 248, 258, 260, 278, 279 A. 515, 282, 311 – physische 32 – sinnerfüllte / -volle 96, 181 – sinnlose 147, 181 – in sich ruhende 192 – der Dinge / Dingwelt 32 A. 75, 181, 277 – Unendlichkeit der 297 – Unergründlichkeit der 305 Welt-Haben 75, 226, 278, 304 Weltoffenheit 77, 199 A. 310, 226 A. 112, 251 A. 313 Wertphilosophie 148 A. 8, 149 A. 9, 280281 Widerstand 110, 139-140, 198, 214 A. 27, 229, 240, 252, 254, 272-272, 279 – gewaltloser 28 A. 47 – psychologischer 291 – s. Macht Wille 33, 38-39 u. A. 114, 58, 134 A. 377, 150 A. 14, 176, 201, 231, 265, 266 u. A. 412, 267, 311 Wille zur Macht 2 A. 5, 10, 14, 56, 90, 94 A. 54, 95, 116, 132-138, 140, 142, 172, 198, 130, 231, 262-270, 287, 290, 305-306 – Metaphysik des 10, 14, 135, 142, 305 – als Wesensbestimmung des immanenten Seins 133-136 – und das transzendente Sein 136-138 Willensbegriff 238, 267 u. A. 427, 268 u. A. 429 Willensentscheidung / Wille zur Entschleierung125 u. A. 281, 127 Willensfreiheit 188 A. 243, 233 A. 169 Zeit, Kategorie der 249-250, 251, 255

346 | Sachregister

Zentriertheit / Selbstzentriertheit 226, 228-229, 233-234, 269, 277-278 u. A. 510, 300 Zwang 5, 7, 43, 60, 76, 280, 286-296, 301, 308, 309 Zweideutigkeit 116, 214 – der Existenz 244, 270 A. 456

– der Individualität 60 – des Lebens /der Lebensprozesse 269, 270 – der Macht 203 – des Menschen 82 Zoon politikon 29 u. A. 51