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German Pages [434] Year 2022
Dogmatik in der Moderne herausgegeben von
Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel
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Katharina Wörn
Ambiguität Paul Tillichs Begriff der Zweideutigkeit im Kontext interdisziplinärer Debatten
Mohr Siebeck
Katharina Wörn, geboren 1988; 2008−2016 Studium der Ev. Theologie und Religionswissenschaft in München, Heidelberg, Yale University, USA; 2014 Master of Arts, Yale University; 2016 1. Theol. Examen; seit 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Friedrich-Schiller-Universität Jena; 2020 Promotion.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des ProChance Exchange Programms der FriedrichSchiller-Universität Jena. ISBN 978-3-16-161624-2 / eISBN 978-3-16-161721-8 DOI 10.1628/978-3-16-161721-8 ISSN 1869-3962 / eISSN 2569-3913 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Über setzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Widmung Meinen Eltern
Vorwort Vorwort Vorwort
Die vorliegende Monografie ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die unter dem Titel „Zweideutigkeit als Grundbegriff der Theologie Paul Tillichs. Verortungen von Ambiguität im Verhältnis von Moderne und Religion“ im Sommersemester 2020 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommen wurde. Das akademische Leben geht nicht selten mit einem gewissen „nomadischen Dasein“ einher, das von Ortswechseln, Umzügen, Auslandsaufenthalten, gegebenenfalls auch Pendelexistenzen geprägt ist. Auch ich blicke auf ein bewegtes Jahrzehnt des Umherziehens zurück. Und doch sind die Jahre meiner Promotion – von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung dieses Buches – für mich untrennbar mit dem Denken und Leben in Jena verbunden. Für eine großartige Zeit der Inspiration und Kollegialität, des gemeinsamen Lernens und der Freundschaft bin ich sehr dankbar. Mein Dank gilt zuvorderst meiner Doktormutter Prof. Dr. Miriam Rose, die mein theologisches Denken seit den Anfängen meines Studiums in München im Frühjahr 2008 begleitet hat. Mit ihrer fachlichen Expertise, interdisziplinären Offenheit und ansteckenden Freude am theologischen (Weiter-)Denken hat sie die vorliegende Arbeit in vielfältiger Weise unterstützt und geprägt. Für die Möglichkeit, die letzten Jahre in der wertschätzenden Wissenschaftskultur an ihrem Lehrstuhl in Jena verbringen zu dürfen, bin ich zutiefst dankbar. Prof. Dr. Claus-Dieter Osthövener danke ich ganz herzlich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Intensive Gespräche in Tübingen und Marburg zu Tillich und der Theologie der 1920er-Jahre sowie seine vielfältigen Impulse auf dem Weg zur Buchfassung haben die vorliegende Arbeit geschärft und bereichert. Die Jahre in Jena sind für mich durch den glücklichen Umstand geprägt, in verschiedenen theologischen und interdisziplinären Forschungszusammenhängen arbeiten zu dürfen: Dem Oberseminar von Prof. Dr. Miriam Rose danke ich für anregende Diskussionen und kollegiale Unterstützung in den verschiedenen Phasen der Dissertation. Prof. Dr. Lambert Wiesing eröffnete mir durch die Aufnahme in sein philosophisches Forschungskolloquium einen weiteren Ort des akademischen Austauschs, von dem die vorliegende Arbeit ungemein profitiert hat. Eine weitere Kontinuität bildeten die Treffen des Nachwuchsnetzwerks der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft. Meinen Mitstreitern – insbesondere PD. Dr. Martin Fritz, Marcel Kreft, Friedrich Schumann, Dr. Samuel
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Vorwort
Shearn und Jin-Ho Suh – bin ich für Jahre des intensiven gemeinsamen „Brütens“ über Tillichs Texten und eigenen Entwürfen besonders verbunden. Die Entstehung der Promotion war darüber hinaus getragen von einem Kreis inspirierender Kolleginnen und Freunde, denen ich in Jena begegnet bin: Meinen Kolleginnen am Lehrstuhl, Dr. Kerstin Krauß und Maria Köhler, danke ich für wertvolle Jahre der Zusammenarbeit, der kollegialen Unterstützung und der engen Freundschaft. Dr. Florian Durner und Dr. Barbara Bushart haben beim donnerstäglichen Mittagessen und den Leipziger Balkongesprächen immer wieder meine Begeisterung für Tillich und die Ambiguität entfacht und darüber hinaus mein „Jenaer Lebensgefühl“ maßgeblich mitbestimmt. Dem Kreis der RomantikerInnen, insbesondere Dr. Jacob Schmidt, Dr. Annika Bartsch, Dr. Raphael Stübe und Dr. Hendrick Heimböckel danke ich für interdisziplinären Rat und motivierende Impulse. Evelyn Hochheim bin ich für ihre Unterstützung in der Anfangszeit und ihre Freundschaft seither zutiefst dankbar. Auch frühere Orte und langjährige Verbindungen haben die vorliegende Dissertation geprägt: Dr. Christine Hoffmann danke ich für den wunderbaren Aufbruch in die Welt der Ambiguität am Chiemsee – und für alle weitere Unterstützung auf dem gemeinsamen Weg! Ihr, Dr. Anna Kirchner und Dr. Mathias Thurner bin ich dankbar für lange Jahre der Freundschaft und des theologischen Gesprächs. Auch Prof. Dr. Michael Bergunder sei an dieser Stelle dankend erwähnt: Einst eröffnete er mir in Heidelberg eine neue Welt des Denkens, die für mich seither Ansporn und kritisches Korrektiv zugleich ist. Für die Korrekturen an der Erstfassung der Dissertation gilt mein Dank Dr. Raphael Stübe, Dr. Hendrick Heimböckel, Dr. Christine Hoffmann, Dr. Anna Kirchner, Dr. Mirjam Sauer, Vanessa Helfgen und, ganz besonders, Dr. Jacob Schmidt. Für die engagierte Unterstützung im Überarbeitungsprozess danke ich Carmen Judith, Florian Klein, Moritz Behr und Max Wörn ganz herzlich. Beim Verlag Mohr Siebeck danke ich Tobias Stäbler, Dr. Katharina Gutekunst, Elena Müller und Ilse König für die professionelle Betreuung und reibungslose Zusammenarbeit. Zudem danke ich den HerausgeberInnen der „Dogmatik in der Moderne“ für die Aufnahme in die Reihe. Der FriedrichSchiller-Universität Jena (Programm ProChance) sei für den großzügigen Druckkostenzuschuss gedankt. Für die Verleihung des Deutschen Paul-TillichPreises 2022 danke ich dem Vorstand der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft. Dem Förderverein der Theologischen Fakultät Jena danke ich für die Auszeichnung mit dem Preis für Theologische Gegenwartsrelevanz 2022. Mein besonderer Dank schließlich gilt Dir, Jacob, für Gespräch, gemeinsamen Weg und das Glück dieser Jahre. Meiner Familie und besonders meinen Eltern, die mich über alle Umbrüche und Ortswechsel hinweg kontinuierlich begleitet, unterstützt und in meinen Vorhaben ermutigt haben, ist dieses Buch in tiefer Dankbarkeit gewidmet. Potsdam, im Juni 2022
Katharina Wörn
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Ambiguität als Hermeneutik der Krise. Einleitung ......................................... 1
Teil I. Ambiguität interdisziplinär. Begriffe und Diskurse 1.
Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit. Begriffliche Koordinaten ...................................................................... 15
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
Kontext I: Sprach- und Literaturwissenschaften ................................... 18 Kontext II: Philosophie ........................................................................ 21 Kontext III: Psychoanalyse und Psychologie ....................................... 28 Kontext IV: Erziehungswissenschaften und Pädagogik........................ 34 Kontext V: Sozial- und Kulturwissenschaften ...................................... 37 Ertrag: Ambiguität. Koordinaten für eine Analyse ............................... 42
2.
Ambiguität als Signatur der Moderne. Soziologische Diagnosen ......... 49
2.1 Moderne, Modernisierung, Modernität. Begriffliche Annäherungen.... 50 2.2 Die Moderne als geräumiger Aktenschrank. Zygmunt Baumans Modernetheorie ..................................................... 53 2.3 Transformation und Hybridität. Andreas Reckwitz’ Deutung der Moderne............................................ 66 2.4 Ertrag: Ambiguität und Moderne. Zu einem umstrittenen Verhältnis... 74 3.
Die ambige Verfasstheit von Religion. Aktuelle Kontroversen ............. 78
3.1 Religion. Eine moderne Kategorie? ...................................................... 80 3.2 Ambiguitätsaffinität, Indifferenz, Vereindeutigung. Thomas Bauers Religionsdeutung ........................................................ 83 3.3 Ambivalenz versus Mehrdeutigkeit. Transformationen des Religiösen nach Ulrich Beck ............................. 88 3.4 Ertrag: Ambiguität, Moderne, Religion. Zwei Konstellationen ............ 93 4.
Problemstellungen für die werkgeschichtliche Rekonstruktion ............ 96
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Inhaltsverzeichnis
Teil II. Ambiguität als Zweideutigkeit. Eine werkgeschichtliche Rekonstruktion 1.
Paul Tillich als Denker von Ambiguität ............................................. 101
1.1 Forschungsstand ................................................................................. 103 1.1.1 Grundsätzliche Tendenzen der Tillich-Forschung ................... 103 1.1.2 Die Vermittlung von deutscher und internationaler Forschung 106 1.1.3 Die Erforschung des Zweideutigkeits- bzw. Ambiguity-Begriffs ................................................................. 108 1.1.4 Die Verbindung von werkgeschichtlicher Analyse und interdisziplinärer Debatte ........................................................ 112 1.2 Zum Ansatz der Arbeit ....................................................................... 113 2.
Die Anbahnung der Zweideutigkeit. Die Schriften der frühen Nachkriegszeit (1919–1924) ....................... 120
2.1 Problemhorizonte 1919 ...................................................................... 123 2.2 Paul Tillich und der Expressionismus. Eine paradigmatische Begegnung ....................................................... 128 2.3 Sinn, Kultur, Kairos. Die Vision einer neuen Einheit ......................... 132 2.3.1 Der sinntheoretische Religionsbegriff als Grundlage der Einheit ............................................................................... 140 2.3.2 Die ‚Theologie der Kultur‘ als Wissenschaft der Einheit ........ 145 2.3.3 Der Kairos als die (Un-)Verfügbarkeit der Einheit .................. 148 2.4 Erste Anbahnungen der Zweideutigkeit.............................................. 153 2.4.1 Zweideutige Zeiten. Die Frage nach der Begriffsherkunft ....... 153 2.4.2 Frühe Belege............................................................................ 158 2.4.3 Das Paradox und die Zweideutigkeit ....................................... 164 2.5 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Erste Weichenstellungen .................. 169 3.
Die Etablierung der Zweideutigkeit als religionstheoretische Denkfigur. Die Dresdener Dogmatik (1925–27) ................................ 173
3.1 Problemhorizonte 1925/26 ................................................................. 177 3.2 Paul Tillich und die Neue Sachlichkeit. Revisionen der frühen Euphorie ......................................................... 180 3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik .................. 182 3.3.1 Ambige Religion. Zweideutigkeit in der Offenbarungslehre ... 184 3.3.2 Wahrheit als Vagheit. Zweideutigkeit in der Erkenntnistheorie .................................. 197 3.3.3 Affirmation der Negation. Zweideutigkeit in der Sündenlehre 215 3.3.4 Wirklichkeit als Synthese. Zweideutigkeit als Konstruktionsprinzip der Materialdogmatik ............................ 234
Inhaltsverzeichnis
XI
3.3.5 Eindeutigkeit als Erlösung. Zweideutigkeit in der Erlösungslehre ...................................... 238 3.4 Zwischenfazit: Zweideutigkeit(en). Eine Typologie........................... 241 4.
Zwischenzeiten. Die Weiterentwicklung der Zweideutigkeit in drei Linien (1927–1958) ..................................................................... 248
4.1 Kulturtheologische Konkretion. Die Zweideutigkeit der Technik ...... 252 4.2 Anthropologische Zuspitzung. Die Zweideutigkeit des Ursprungs..... 259 4.3 Dogmatische Fortschreibung. Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse ............................................. 276 4.4 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Auf dem Weg zu einem integrativen Systembegriff ........................... 290 5.
Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff. Die Systematic Theology/Systematische Theologie (1951–1963) ....... 293
5.1 Problemhorizonte 1950–1960 ............................................................. 296 5.2 Paul Tillich und The Age of Anxiety. Existentialismus als Programm 300 5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/ Systematischen Theologie .................................................................. 307 5.3.1 Zweideutigkeit als existentielle Frage ..................................... 311 5.3.2 Zweideutigkeit als ontologischer Grundbegriff ....................... 318 5.3.3 Zweideutigkeit als kulturkritische Analysekategorie ............... 329 5.4 Zwischen Ein- und Zweideutigkeit. Zum Verhältnis von Ambiguität und Religion ................................... 336 5.5 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Zur Systematisierung eines Begriffsgefüges ...................................... 345 6.
Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie. Ein Fazit ....................... 349
6.1 Zweideutigkeiten statt Zweideutigkeit. Diskontinuitäten eines Begriffs .......................................................... 350 6.1.1 Diskontinuität auf der synchronen Ebene. Eine Typologie der Zweideutigkeit ......................................... 350 6.1.2 Diskontinuität auf der diachronen Ebene. Die späte Fassung der Zweideutigkeit ..................................... 354 6.2 Binarität, Wertdimension, Überschreitungsmoment. Kontinuitäten eines Begriffs ............................................................... 356 6.3 Von der ‚Theologie der Kultur‘ zum kulturkritischen Theologen. Werkgeschichtliches Fazit .................................................................. 359 6.4 Tillich als ‚Theologe der Moderne‘. Eine kritische Relektüre ............ 360 6.5 Zweideutigkeit als adaptive Schlüsselkategorie. Herausforderungen und Chancen........................................................ 363
XII
Inhaltsverzeichnis
Teil III. Ambiguität theologisch. Paul Tillichs Beitrag zum interdisziplinären Ambiguitätsdiskurs 1.
Ambiguität als Zweideutigkeit. Begriffliche Verortung ...................... 367
2.
Zweipoligkeit statt Pluralität. Ambiguität als Signatur der Moderne ................................................ 373
3.
Ambiguitätstoleranz durch ungefährliche Eindeutigkeit. Die ambige Verfasstheit von Religion ................................................ 379
4.
Schlussfolgerungen für den interdisziplinären Diskurs ...................... 384
Literaturverzeichnis .................................................................................... 387 Schriften Paul Tillichs ........................................................................ 387 Weitere Literatur ................................................................................ 389 Personenregister ......................................................................................... 413 Sachregister ................................................................................................ 418
Ambiguität als Hermeneutik der Krise. Einleitung Ambiguität als Hermeneutik der Krise Ambiguität als Hermeneutik der Krise
Das aktuelle, noch junge Jahrzehnt – 2020 bis 2030 – wird nicht selten mit derjenigen Dekade verglichen, die unter dem Stichwort „Goldene Zwanziger“ oder als „Tanz auf dem Vulkan“ in die kollektive Erinnerung eingegangen ist und darin eine anziehende Mischung aus Glanz, Geheimnis und Abgründigkeit zu verkörpern scheint.1 Diverse Krisenphänomene der Gegenwart wie die Corona-Pandemie, das Erstarken antidemokratischer Kräfte am rechten Rand der Gesellschaft, aber auch die technologischen Umwälzungen und ihre Folgen begünstigen den Epochenvergleich – lassen sich doch mit der Spanischen Grippe, der Formierung der NSDAP und den überall fühlbar werdenden Konsequenzen radikaler Modernisierung scheinbare Parallelen zu den 1920er Jahren ziehen.2 Labels wie ‚die neuen Zwanziger‘,3 aber auch der Hype um Serien wie ‚Babylon Berlin‘ und das Wiederaufleben der Berliner Salonkultur in Form von ‚20er-Jahre-Parties‘ inklusive modischer Eigenheiten manifestieren diesen Trend.4 Vgl. ILLIES, FLORIAN, Die Zwanzigerjahre sind da. Warum wir uns heute so heftig zurücksehnen in eine Zeit, die selbst keine Sehnsucht hatte, Zeit-Online (28.01.2020), Kultur, https://www.zeit.de/2020/05/nostalgie-zwanzigerjahre-sehnsucht-berlin-kunst (Zugriff am 9.01.2022); STURM, PETER, Goldendes Jahrzehnt? Was ein Blick in die zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts lehren kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (31.12.2019), Politik, 10. Zum Topos der Rückkehr Weimars ins kollektive Gedächtnis vgl. die Beiträge des folgenden Sammelbandes: HOCHMUTH, HANNO/SABROW, MARTIN/SIEBENEICHNER, TILMANN (Hg.), Weimars Wirkung. Das Nachleben der ersten deutschen Republik (Geschichte der Gegenwart 23), Göttingen: Wallstein Verlag 2020. 2 Vgl. PLICKERT, PHILIP/ZÁBOJI, N IKLAS, Die Seuche als Zäsur?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (16.03.2021), Wirtschaft, 18; WIESNER, MARIA, Exzesse mit Zombies. Die Spuren der spanischen Grippe in der Kultur der zwanziger Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.01.2021), Politik, 10; DEUTSCHE PRESSE AGENTUR (DPA), Wie der Mythos der 20er Jahre noch heute zieht, Süddeutsche-Online (29.11.2019), Kultur, https://www. sueddeutsche.de/kultur/musik-wie-der-mythos-der-20er-jahre-noch-heute-zieht-dpa.urn-ne wsml-dpa-com-20090101-191129-99-941131 (Zugriff am 09.01.2022). 3 So etwa der Podcast Die Neuen Zwanziger, vgl. SCHMITT, W OLFGANG M./SCHULZ, STEFAN, Die neuen Zwanziger, https://neuezwanziger.de (Zugriff am 09.01.2022). 4 Vgl. DPA, Wie der Mythos der 20er Jahre noch heute zieht; zur wissenschaftlichen Einordnung vgl. HOCHMUTH, HANNO, Mythos Babylon Berlin. Weimar in der Populärkultur, in: Hochmuth/Sabrow/Siebeneichner (Hg.), Weimars Wirkung, 111–125. 1
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Ambiguität als Hermeneutik der Krise
Der Verweis auf die unübersehbaren Differenzen zwischen der Dekade ab 1920 und dem gerade begonnenen Jahrzehnt – genannt seien nur der Erste Weltkrieg und die darauffolgenden Armuts- und Hungerjahre, aber auch die politische Instabilität der Weimarer Republik – soll hier genügen, um die Grenzen oder gar Hinfälligkeit dieser Parallelisierung klarzumachen. Auch und gerade angesichts des fatalen Ausgangs der 1920er Jahre und der latenten Lust am Untergang, die den heutigen Vergleich nicht selten begleitet, ist die Produktivität eines solchen Griffs darüber hinaus höchst fraglich.5 Gleichwohl wird deutlich, dass sich heutige Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf der Suche nach Deutungskategorien und Hintergrundfolien zum Verständnis der eigenen, als krisenhaft empfundenen Lebensrealität in der Mischung aus taumelnder Verlorenheit, beständiger Verdrängung und Lust an der Vergnügung, welche die 1920er Jahre verkörpern, wiederzufinden scheinen. Ein Stichwort, das die Krisendiagnostik damals wie heute begleitet, ist das der Ambiguität. In den 1920er Jahren sind es Denker wie Georg Simmel, Salomo Friedlaender oder Paul Tillich, die den Begriff – damals im Gewand des deutschen Pendants ‚Zweideutigkeit‘ – aufgreifen und zur Deutung ihrer eigenen Gegenwart fruchtbar machen.6 Gegenwärtig erstreckt sich die Popularität der Kategorie des Ambigen über verschiedene wissenschaftliche Disziplinen7 hinweg bis in populärwissenschaftliche Formate,8 Podcasts und Feuilletons hinein – oft verbunden mit dem Ruf nach mehr Ambiguitätstoleranz als ‚Lösung‘ für verschiedenste Problemlagen.9 Welche Phänomene und Konstellationen aber werden mit Ambiguität, oder wahlweise mit verwandten Begriffen 5 Zur Funktion des Weimar-Vergleichs vgl. U LLRICH, SEBASTIAN, Stabilitätsanker und Hysterisierungsagentur. Der Weimar-Komplex in der Geschichte der Bundesrepublik, in: a.a.O., 182–196, insbesondere 195f. 6 Vgl. etwa SIMMEL, G EORG, Venedig (1907), in: Ders., Vom Wesen der Moderne. Essays zur Philosophie und Ästhetik, hg. v. Werner Jung, Hamburg: Junius 1990, 243–250; Friedlaender, Salomo/Mynona, Schöpferische Indifferenz (Gesammelte Schriften 10), hg. v. Detlef Thiel, Herrsching: Waitawhile 2009; TILLICH, PAUL, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927) [= EW XIV], Berlin/New York: De Gruyter 2005, 19–28.86–90.125.129.177. 223–267. 7 Vgl. dafür der jüngst erschienene, äußerst instruktive Sammelband B ERNHARD G ROß u.a. (Hg.), Ambige Verhältnisse. Uneindeutigkeit in Kunst, Politik und Alltag, Bielefeld: transcript 2021. 8 Vgl. etwa BAUER, THOMAS, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Stuttgart 2018. 9 So etwa: FRIESEN, A STRID VON, Mangel an Ambiguitätstoleranz. Der fatale Wunsch nach Eindeutigkeit, Deutschlandfunk Kultur (10.10.2019), https://www.deutschlandfunk kultur.de/mangel-an-ambiguitaetstoleranz-der-fatale-wunsch-nach.1005.de.html?dram:artic le_id=460621, (Zugriff am 23.04.2021); SIEMONS, MARK, Gegen die Ideologie der Eindeutigkeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung Online (02.06.2018), https://www.faz.net/aktu ell/feuilleton/debatten/ambiguitaetstoleranz-gegen-die-ideologie-der-eindeutigkeit-156090 70.html, (Zugriff am 23.04.2021); BAUER, THOMAS, Ambiguität. Es lebe die Ungewissheit!,
Ambiguität als Hermeneutik der Krise
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wie Ambivalenz, Zwei-, Mehr- oder Vieldeutigkeit auf den Begriff gebracht? Welche Gleichzeitigkeiten von Ungleichem, welche Spannungsverhältnisse, Widersprüchlichkeiten oder Unbestimmtheiten sind dabei – damals wie heute – im Blick? Und wie hängt das gesteigerte Auftreten von Ambiguität als analytische Kategorie mit dem skizzierten Modus der Krise zusammen? An die hier skizzierten Fragestellungen schließen sich mit Blick auf die gegenwärtige Forschungslandschaft zu Ambiguität drei Beobachtungen an, die zugleich die zentralen Anliegen der vorliegenden Arbeit umreißen: Zunächst fällt auf, dass die Popularität der Kategorie des Ambigen zusammenfällt mit einer eigentümlichen Vagheit der Begriffsbestimmung und -verwendung. Frauke Berndt und Stephan Kammer sprechen in diesem Zusammenhang von einer Verbindung zwischen „konzeptueller Unschärfe und analytischer Produktivität“ der Termini. Letztere erstrecke sich „vom juristischen Konfliktfall über sprachwissenschaftliche Fundamentalsätze bis hin zur ästhetisch bestimmten Mehrdeutigkeit, von den vitia der Rede bis zu den Grundlagen der Erkenntnistheorie, vom sachbezogenen Problemhandeln der antiken Rhetorik bis zu den anthropologischen Existenzialien des ‚In-der-Welt-Seins‘ und zum Pluralismus ‚postmoderner‘ Theoriebildungen […].“ 10 Wenn jedoch das Label ‚ambig‘ immer populärer und gleichzeitig zunehmend unklar wird, was genau damit eigentlich gemeint sein soll – spätestens dann steht die analytische Kraft der Kategorie des Ambigen grundsätzlich in Frage. Dieser Tendenz entgegenwirkend legt die vorliegende Arbeit mit Blick auf die interdisziplinäre Verwendung des Ambiguitätsbegriff einen Überblick vor und entwickelt dabei Kriterien für eine differenzierte Begriffsverwendung respektive Analyse von Ambiguität (vgl. I.1). Eine zweite Beobachtung betrifft eine augenfällige Verbindung in den aktuellen Debatten um Ambiguität: Gerade die Konjunktur der Forderung nach Ambiguität(stoleranz) geht in der Regel mit einer grundsätzlich positiven Haltung gegenüber Ambiguitäten einher, die, so scheint es, als Signum einer toleranten, freiheitlichen Gesellschaft aufgefasst werden. Diese Verbindung läuft jedoch Gefahr, jede Form von Eindeutigkeit als gefährliches Schwarz-WeißDenken, primitive Undifferenziertheit und exkludierenden Absolutismus zu
Zeit-Online (31.07.2019), Kultur, https://www.zeit.de/2019/32/ambiguitaet-toleranz-meinungsbildung-islam-religioese-dialoge, (Zugriff am 23.04.2021); STREITBÖRGER, WOLFGANG, Ambiguitätstoleranz. Lernen, mit Mehrdeutigkeit zu leben, Deutschlandfunk Kultur (30.12.2019), https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mit-mehr deutigkeit-zu-leben.976.de.html?dram:article_id=466828 (Zugriff am 23.04.2021). 10 B ERNDT, FRAUKE/K AMMER, STEPHAN, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Die Struktur antagonistisch-gleichzeitiger Zweiwertigkeit, in: Dies. (Hg.), Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz. Modelle und Erscheinungsformen von Zweiwertigkeit, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, 7–30, hier 9f. Hervorhebung im Original.
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Ambiguität als Hermeneutik der Krise
pauschalisieren.11 Mit Blick auf diese zweite Beobachtung geht diese Arbeit der Frage nach, ob es nicht auch ‚ungefährliche‘, ja wünschenswerte Formen von Eindeutigkeit gibt, die für die individuelle wie soziale Lebensrealität unvermeidbar, wenn nicht gar für deren Gelingen unverzichtbar sind. Die Frage nach solch ungefährlicher Eindeutigkeit und ihrer Relevanz für den Umgang mit Ambiguität bildet damit einen weiteren Fluchtpunkt dieser Arbeit. Schließlich ist als dritte Beobachtung das weitgehende Fehlen einer systematisch-theologischen Stimme im Kanon der Wissenschaften, die gegenwärtig den Ambiguitätsdiskurs bestimmen, zu verzeichnen.12 Mit dieser Zurückhaltung seitens der (systematischen) Theologie wird aber die Verhältnisbestimmung von Ambiguität und Religion – die im Diskurs durchaus eine signifikante Rolle spielt – ausschließlich anderen, nicht-theologischen Wissenschaften überlassen. Zugleich wird die Frage, ob es neben psychologischen, ästhetischen, philosophischen oder soziologischen Ambiguitätsbestimmungen auch so etwas wie einen theologischen Begriff von Ambiguität gibt, nicht verfolgt. So ist es ein zentrales Anliegen der vorliegenden Arbeit, nach einem solchen dezidiert theologischen Begriff von Ambiguität zu fragen und damit auch das Verhältnis von Ambiguität und Religion fokussiert in den Blick zu nehmen. Die Suche nach einer theologisch tragfähigen Bestimmung von Ambiguität führt auf direktem Wege zu einem der theologischen ‚Klassiker‘ des 20. Jahrhunderts – und damit zurück in die 1920er Jahre: Zu dieser Zeit taucht in den Schriften des Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich (1886–1965) 11 Vgl. etwa BAUER, Die Vereindeutigung der Welt, 7–14. Vgl. für den Zusammenhang von westlich-moderner Zivilisation und mangelnder Ambiguitätstoleranz auch DERS., Die Kultur der Ambiguität, Eine andere Geschichte des Islams, Berlin: Verlag der Weltreligionen 62019, 369–375.388–405. 12 Kurz vor Drucklegung der vorliegenden Monografie sind aus dem Bereich der systematischen Theologie zwei Publikationen erschienen, die womöglich auf eine ansteigende Beschäftigung mit der Thematik hinweisen, vgl. KRÜGER, MALTE-DOMINIK, Religion als Ambivalenzmanagement. Überlegungen (auch zu Ernst Troeltsch) im Horizont aktueller Diskurse, in: Friedemann Voigt (Hg.), Die Kreativität des Christentums. Von der Wahrnehmung zur Gestaltung der Welt (Troeltsch-Studien 7), Berlin/Boston: de Gruyter 2021, 69– 92 sowie DEIBL, MARLENE/MAIRINGER, KATHARINA (Hg.), Eindeutig mehrdeutig. Ambiguitäten im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wissenschaft und Religion (Religion und Transformation in Contemporary European Society 020), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2022. Aus dem Bereich der neutestamentlichen bzw. praktisch-theologischen Forschung, vgl. die Arbeiten von Christof Landmesser im Kontext des Tübinger DFG-Graduiertenkollegs 1808 Ambiguität – Produktion und Rezeption, etwa LANDMESSER, CHRISTOF, Parusieverzögerung und die Gegenwart der Glaubenden. Zur Hermeneutik von Ambiguität und Ambivalenz der christlichen Existenz in der Theologie des Paulus, in: Early Christianity 9 (2019), 107–130; DERS., Ambiguität und Schriftauslegung. Beobachtungen zu Augustins Schrift De utilitate credenda, in: Susanne Winkler (Hg.), Ambiguity. Language and Communication, Berlin/New York: de Gruyter 2015, 217–268 sowie von Michael Klessmann, vgl. KLESSMANN, MICHAEL, Ambivalenz und Glaube. Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss, Stuttgart: Kohlhammer 2018.
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der Begriff der ‚Zweideutigkeit‘ mit überraschender Häufung und einer plötzlichen Zentralstellung auf. Er durchzieht in den Folgejahren verschiedenste Kontexte und Themengebiete und avanciert schließlich zu einer grundlegenden Denkfigur der Tillich’schen Theologie. Eindrücklich stehen sich in einem werkgeschichtlichen Überblick die terminologische Kontinuität – bis in die deutschen Rückübersetzungen des englischen ‚ambiguity‘ hinein hält Tillich an dem Ausdruck ‚Zweideutigkeit‘ fest – und der Wechsel thematischer Konstellationen gegenüber, in denen Tillich den Begriff platziert. Dabei decken sich diese thematischen Konstellationen zu großen Anteilen mit denjenigen, die auch heute zur Debatte stehen, wenn die Kategorie des Ambigen herangezogen wird: So geht es etwa um solche Phänomene, die heute mit Formeln wie ‚religiöse Indifferenz‘ oder – entgegengesetzt – ‚religiösem Fundamentalismus‘ umschrieben werden. Aber auch die moderne Technik oder bestimmte politische Handlungsweisen wie das Expansionsstreben Amerikas kommen als ambige Phänomene in den Blick. Nicht zuletzt findet sich in Tillichs spätem Werk auch die Bestimmung von Ambiguität als einem Grundbegriff für die menschliche Situation. Angesichts dieser verschiedenen Konstellationen drängt sich mit Blick auf Tillichs Ambiguitätsbegriff zunächst die Frage auf, ob über die Jahre hinweg nur der thematische Kontext wechselt oder ob sich damit verbunden auch Bedeutung, Reichweite und Funktion der ‚Zweideutigkeit‘ wandeln. Die Arbeit geht dieser Frage unter Rückgriff auf den methodologischen Ansatz der Problemgeschichte nach, wie er aktuell insbesondere in den Literaturwissenschaften eine Renaissance erfährt (vgl. II.1.2). Sie fragt damit nach der zeitgeschichtlichen Situation und der realgeschichtlichen ‚Problemlage‘, auf die Tillichs Konzept von Zweideutigkeit reagiert. Somit rückt für die Analyse der Werkgeschichte die Frage in den Vordergrund, auf welche zeit- und kontextspezifischen Herausforderungen der Begriff der Zweideutigkeit reagiert, welche lebensweltlichen Phänomene er theoretisch zu fassen sucht und wie dieser Gegenwartsbezug seine inhaltliche und funktionale Prägung innerhalb des Tillich’schen Theoriegebäudes formt. Mit dem hier skizzierten problemgeschichtlichen Ansatz können also gerade die Diskontinuitäten des Begriffs im Verlauf der Werkgeschichte präzise in den Blick genommen werden. Zwei Beispiele sollen dieses Anliegen kurz verdeutlichen: Mitte der 1920er Jahre – Tillich hat gerade den Wechsel von der pulsierenden Metropole Berlin in die beschauliche Universitätsstadt Marburg hinter sich – taucht der Begriff ‚Zweideutigkeit‘ mit einem Mal auffällig gehäuft in seiner ersten Dogmatik-Vorlesung auf.13 Dieser Befund ist insofern überraschend, als 13 Vgl. TILLICH, PAUL, Dogmatik. Marburger Vorlesung von 1925, hg. v. Werner Schüßler, Düsseldorf: Patmos 1986. Seit 2005 liegt die Neubearbeitung der im Jahr 1986 herausgegebenen Ausgabe im Rahmen der Ergänzungs- und Nachlassbände vor: TILLICH, PAUL, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927) [= EW XIV], Berlin/New York: De Gruyter 2005. Die Änderung des Titels von „Marburger Vorlesung“ zu „Dresden 1925–1927“
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sich bis zu diesem Zeitpunkt für ‚Zweideutigkeit‘/‚zweideutig‘ in Tillichs Schriften nur vereinzelte Belege finden lassen.14 Die Zusammenhänge, in denen der Begriff in der Dogmatik-Vorlesung nun fällt, reichen von den Prolegomena der Offenbarungslehre und Erkenntnistheorie bis hin zu materialdogmatischen Topoi wie Schöpfung, Sünde und Erlösung, umfassen also thematisch völlig verschiedene Gegenstandsbereiche. Greift man aus diesen Zusammenhängen einen der offenbarungstheologischen Belege heraus, lässt sich zeigen, dass ‚Zweideutigkeit‘ hier verwendet wird, um die moderne, naturwissenschaftlich geprägte Weltsicht mit der Möglichkeit religiöser Erfahrungen zusammenzudenken (vgl. II.3.3.1). Die Wirklichkeit wird dafür im Sinne einer komplex konstruierten Vordergrund-Hintergrund-Struktur ‚zweideutig‘ gedacht: als vordergründig profan, aber mit der dahinterliegenden Möglichkeit des Durchbruchs des Göttlichen.15 Tillich reagiert mit dem Begriff der Zweideutigkeit hier auf eine Problemlage seiner Zeit, nämlich die Frage nach dem verbleibenden Platz der Religion in einer Zeit, die sich mehr und mehr durch ein instrumentelles, naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild gekennzeichnet weiß. Daneben tauchen in der Vorlesung noch vier weitere Verwendungsweisen von ‚Zweideutigkeit‘ auf, die nahelegen, dass Tillich zu diesem Zeitpunkt noch in besonderer Weise auf der Suche nach einem geeigneten theoretischen Standort für seinen Begriff ist (vgl. II.3.1–5). Dennoch erweisen sich alle Verwendungsweisen von ‚Zweideutigkeit‘ als Antwort auf ebendiese Problemlage, die Erfahrung göttlicher Offenbarung unter modernen weltanschaulichen und erkenntnistheoretischen Bedingungen zu denken. Vergleicht man diese Erstverwendung der Zweideutigkeit mit der Stellung des Begriffs in Tillichs spätem Hauptwerk, der Systematischen Theologie, knapp dreißig Jahre später, lässt sich ein grundlegender Wandel feststellen: ‚Zweideutigkeit‘, in der englischen Originalversion nun ‚ambiguity‘, ist neben Endlichkeit und Entfremdung zu einem Grundbegriff für das Verständnis der menschlichen Situation geworden.16 Thematisiert wird mit ‚Zweideutigkeit‘ trägt dem Umstand Rechnung, dass Tillich den größten Teil der Vorlesung in Dresden und Leipzig gehalten hat. Die Vorlesung wird im Fortgang der Arbeit auch als Dresdener Dogmatik bezeichnet. Es wird stets die Neuedition von 2005 zitiert. 14 Vgl. hierfür etwa Tillichs philosophische Dissertation, in der die Termini ‚Zweideutigkeit‘ bzw. ‚zweideutig‘ mehrere Male fallen, siehe TILLICH, PAUL, Die religionsgeschichtliche Rekonstruktion von Schellings positiver Philosophie (1910), in: EW IX, 154–272, etwa 166.193f.196, Fn. 2.216.267 sowie für die frühen 1920er Jahre beispielhaft DERS., Kritisches und Positives Paradox (1923), in: GW VII, 216–225, hier 225. Vgl. II.2.4.2. 15 Vgl. a.a.O., 18–28. 16 „Die menschliche Situation, aus der die existentiellen Fragen aufsteigen, ist durch drei Begriffe charakterisiert: Endlichkeit – im Hinblick auf das essentielle Sein des Menschen als Geschöpf; Entfremdung – im Hinblick auf das existentielle Sein des Menschen in Zeit und Raum; Zweideutigkeit – im Hinblick auf die Partizipation des Menschen am universalen Leben.“ TILLICH, PAUL, Systematische Theologie III, Berlin/New York 41987, 327. Hervorhebungen im Original.
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nun eine grundlegende Struktur des Lebens, die sich als spannungsvolles und untrennbares Mischverhältnis zwischen zwei gegenläufigen Tendenzen vollzieht und sich auf alle Bereiche individuellen und sozialen Lebens – Moralität, Kultur, Religion – erstreckt. Dabei verbindet sich in dem Begriff der Zweideutigkeit die Einsicht in eine polare Grundstruktur des Lebens mit der Annahme einer ständigen Gleichzeitigkeit gelingender und misslingender Realisierungen dieser grundlegenden Struktur in ihrem Vollzug. ‚Zweideutigkeit‘ hat sich hier aus ihrem Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen religiöser Erfahrung in der Moderne vollständig gelöst und sich zu einem Begriff für die spannungsvolle Beschaffenheit verschiedener Lebensvollzüge entwickelt. Mit dieser Funktion reagiert der Begriff nun vielmehr auf ein Lebensgefühl bleibender Unerlöstheit und zunehmender weltanschaulicher Unsicherheit, wie es sich in der Nachkriegsära mehr und mehr niederschlägt (vgl. II.5.1 und II.5.2). ‚Zweideutigkeit‘ ist zu einer Beschreibungskategorie für die menschliche Frage nach Erfüllung und Ganzheit geworden; religiöse Offenbarungserfahrungen hingegen werden nun als unverfügbare Momente von Eindeutigkeit als Antwort auf diese Frage verstanden. Schon die skizzenhafte Gegenüberstellung dieser beiden werkgeschichtlichen Etappen macht deutlich, dass sich Bedeutung, Reichweite und Funktion von Tillichs Zweideutigkeitsbegriff über die Jahrzehnte hinweg grundlegend wandeln. ‚Zweideutigkeit‘ kommt unter dieser Perspektive als ein heterogener Begriff in den Blick, der kontinuierlich an verschiedene Fragestellungen angepasst wird und auf verschiedene Problemstellungen antwortet: Während der Tillich der Weimarer Jahre ‚Zweideutigkeit‘ verwendet, um der Kategorie göttlicher Offenbarung einen Platz innerhalb der modernen Weltansicht einzuräumen, dient der Begriff im Verlauf der Werkgeschichte mehr und mehr als Beschreibungskategorie für die diesseitige und bisweilen auch modernespezifische Lebensrealität, die überhaupt erst nach Erlösung durch Momente von Eindeutigkeit in Offenbarungserfahrungen fragen lässt (vgl. II.6.1). In seiner Wandelbarkeit erweist sich der Zweideutigkeitsbegriff über die Werkgeschichte hinweg als eine adaptive Schlüsselkategorie, mit der sich nicht nur verschiedene thematische Konstellationen erfassen lassen, sondern sich auch Tillichs theologischer Zugang insgesamt erhellen lässt (vgl. II.6.5). Trotz des hier skizzierten werkgeschichtlichen Wandels des Zweideutigkeitsbegriffs, der das Element der Diskontinuität betont, lassen sich auch Elemente der Kontinuität über die Werkgeschichte hinweg feststellen (vgl. II.6.2): Tillichs Begriff bleibt, erstens, über die Jahrzehnte und sprachlichen Grenzen hinweg einer, der sich als Zweideutigkeit versteht, also den strengen Bezug auf eine binäre Aufbaulogik bewahrt. In diesem Sinne stellt Tillichs Zweideutigkeit immer auch eine begrenzte Ambiguität dar. Innerhalb dieser binär konstruierten Struktur findet sich, zweitens, in der Regel eine spannungsvolle Gegenüberstellung der Elemente, oft verbunden mit einer Wertdimension (etwa göttlich/dämonisch, heilig/profan, produktiv/zerstörerisch). Tillichs Begriff mar-
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kiert in diesem Sinne den Versuch, die grundsätzliche Widersprüchlichkeit menschlicher Erfahrungen theoretisch einzuholen und ihr einen Platz im Denken zu sichern. Schließlich hält Tillich stets den Bezug der Zweideutigkeit auf ein in ihr selbst angelegtes Überschreitungsmoment aufrecht. Neben gefährlichen Formen der Vereindeutigung hält Tillich dabei gerade auch solche Erfahrungen von Eindeutigkeit für möglich, die für das Leben in der zweideutigen Wirklichkeit eine orientierungsbildende und stabilisierende Funktion einnehmen und die damit als ungefährliche, ja notwendige Formen von Eindeutigkeit gelten können. Die gerade skizzierten Kontinuitäten von Tillichs Ambiguitätsbegriff legen auch die Aspekte nahe, mit denen Tillichs Begriff aktuelle Debatten um Ambiguität, Moderne und Religion bereichern kann (vgl. III). Eine mögliche Bereicherung stellt die begrifflich strenge Konzentration auf ‚Zweideutigkeit‘ als einer begrenzten Ambiguität dar. Der binären Logik von Tillichs Ambiguitätsbegriff liegt das Anliegen zugrunde, die gesamte individuelle und soziale Lebensrealität als zutiefst spannungsreich, unauflösbar konfliktbeladen, in jedem Moment fragmentarisch – und damit letztlich erlösungs-, zumindest aber transzendierungsbedürftig – zu beschreiben. Im Gegensatz zu aktuellen Bestimmungen von Ambiguität, die vornehmlich die diskursive oder soziale Pluralität der Lebensrealität im Blick haben, zielt Tillichs Begriff also auf einen bestimmten, tieferliegenden Aspekt menschlicher Wirklichkeitserfahrung ab, an den die Ambiguität im Sinne von Deutungspluralität erst sekundär anschließt. Dem aktuell populären Verständnis von Ambiguität als Deutungspluralität wird damit die Frage nach Ambiguität als einer tieferliegenden Struktur an die Seite gestellt (vgl. III.1). Damit aber stellt Ambiguität für Tillich – und hier liegt ein weiterer Impuls für aktuelle Diskurse – mehr als ein (spät-)modernes Problem dar. Tillichs ‚Zweideutigkeit‘, zumindest in ihrer späten Fassung, bezeichnet eine grundlegende Struktur lebensweltlicher Realität, die sich lediglich epochenspezifisch artikuliert. In der (Spät-)Moderne dominieren also bestimmte konflikthafte Ausformungen von Ambiguität; ambiguitätslos ist jedoch nach Tillich keine Epoche. Er betont damit – im Gegenüber zu aktuellen Ansätzen – die grundsätzliche Kontinuität der Moderne mit anderen Epochen bei einem gleichzeitigen Festhalten an jeweiligen Besonderheiten (vgl. III.2). Schließlich liegt ein entscheidender Beitrag Tillichs darin, die Eindeutigkeit als komplementäre Kategorie zur Ambiguität gegenüber aktuellen Entwürfen deutlich aufzuwerten. Dies geschieht insbesondere im Zusammenhang mit der Verortung von Religion in einer Zwischenstellung zwischen Ambiguität und Eindeutigkeit. Auf der einen Seite ist und bleibt Religion der grundlegenden Ambiguität der Lebensrealität verhaftet. Diese artikuliert sich in der Religion sogar auf besonders gefährliche Weise, nämlich in den ihr inhärenten Tendenzen zur Belanglosigkeit auf der einen und zum Fundamentalismus auf der anderen Seite. Neben diesen Formen gefährlicher Vereindeutigung jedoch stellt
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die religiöse Erfahrung für Tillich gleichzeitig den Ort dar, an dem sich ungefährliche, produktive Momente der Eindeutigkeit im Sinne der Orientierung, Stabilisierung und Transformation von Mensch und Welt ereignen können. Die komplexe Struktur religiöser Erfahrung zwischen grundsätzlicher Ambiguität, vereinseitigenden Vereindeutigungen und produktiver Eindeutigkeit, wie sie von Tillich beschrieben wird, steht damit der Tendenz soziologischer Großnarrative entgegen, ‚die‘ Religion einer gesamtgesellschaftlichen Vereindeutigungs- oder Pluralisierungsbewegung unterzuordnen. Demgegenüber weist Tillich jeder religiösen Erfahrung ein Moment der Widerständigkeit gegenüber Vereinnahmungen und das Potenzial zur Transformation zu. Zugleich findet sich in Tillichs Verständnis des Verhältnisses von Ambiguität und Eindeutigkeit die Position, dass jede Form von Ambiguitätstoleranz als Voraussetzung ihrerseits Momenten der Eindeutigkeit bedarf. Mit anderen Worten: Die Toleranz von Ambiguitäten und das Bedürfnis nach Eindeutigkeit müssen als alternierendes Wechselspiel statt als diametrale Alternativen – wie dies aktuell oft geschieht – begriffen werden. Eine gegenwartsrelevante Konsequenz dieser Einsicht ist, dass spätmodernen Gesellschaften die dringliche Aufgabe zukommt, sich auf die Suche zu begeben, wie und wo ungefährliche Erfahrungen von Eindeutigkeit im Bereich der Religion und anderswo zu finden und zu ermöglichen sind. Damit ist schließlich auch angesprochen, wo Konturen eines theologischen Ambiguitätsbegriffs liegen könnten: erstens, in einer differenzierten Analyse des Zusammenhangs von religiöser Erfahrung und Ambiguität, die um die Verstrickung jeder religiösen Erfahrung in die ambigen Zusammenhänge der Welt weiß. Zweitens muss eine theologische Perspektive auf Ambiguität auch die Möglichkeit der Transzendierung oder gar Aufhebung dieser Struktur von Seiten eines ‚ganz Anderen‘ in ihre Analyse integrieren können. Ein theologischer Ambiguitätsbegriff muss also gerade den Zusammenhang zwischen Ambiguität, gefährlichen Vereindeutigungen und ungefährlicher Eindeutigkeit differenziert in den Blick nehmen und Kriterien für diese Differenzierungsleistung erarbeiten. Die vorliegende Arbeit will für weitere Forschungen in diese Richtung eine erste Denkbewegung sein. Die Arbeit ist dreigliedrig aufgebaut: Zunächst werden zentrale Begriffe und Diskurse der aktuellen interdisziplinären Debatte um Ambiguität erarbeitet (vgl. I). Dies geschieht zunächst anhand einer terminologischen Klärung, welche die oft synonym verwendeten Begrifflichkeiten ‚Ambiguität‘, ‚Ambivalenz‘, ‚Zwei-‘ und ‚Vieldeutigkeit‘ differenziert und anhand ihrer Verwendung in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten Kriterien erarbeitet, die für eine fundierte Erschließung von Ambiguität notwendig sind (vgl. I.1). Darüber hinaus werden anhand zentraler Entwürfe aus dem soziologischen und kulturwissenschaftlichen Bereich zwei Diskurse skizziert, die, erstens, die Moderne mit dem Begriff der Ambiguität zu deuten versuchen (vgl. I.2) und, zweitens, die Rolle der Religion innerhalb der Moderne über die Kategorie des Ambigen
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zu erschließen suchen (vgl. I.3). Jeweils werden dabei zwei konträre Positionen vorgestellt, die verschiedene Bestimmungen von ‚Ambiguität‘ (beziehungsweise der begrifflichen Alternativen) mit ihren jeweiligen Voraussetzungen und Konsequenzen beleuchten. In diesem ersten Teil der Arbeit wird explizit nicht auf Tillichs Verständnis von ‚Zweideutigkeit‘ Bezug genommen, sondern begriffliche Klärungen und gegenwärtige Positionen im Sinne einer Einführung erarbeitet. Ziel soll dabei nicht sein, eine Bestimmung von Ambiguität vorzunehmen, sondern vielmehr aufzuzeigen, entlang welcher Leitkriterien sich verschiedene Ambiguitätsbegriffe unterscheiden und verorten lassen. Eine Zusammenfassung der sich daraus ergebenden Problemstellungen für die werkgeschichtliche Analyse von Tillichs Ambiguitätsbegriff rundet den ersten Teil ab (vgl. I.4). Den Auftakt zur werkgeschichtlichen Rekonstruktion von Tillichs Ambiguitätsbegriff bildet eine kurze Einführung zu Paul Tillich als Denker von Ambiguität (vgl. II.1), ergänzt um einen Überblick zum gegenwärtigen Stand der Tillich-Forschung (vgl. II.1.1) sowie methodologische Vorüberlegungen zum problemgeschichtlichen Ansatz dieser Arbeit (vgl. II.1.2). Der Fokus der sich daran anschließenden Analysekapitel liegt auf den Schriften Tillichs zwischen den Jahren 1919 und 1963, mit einem Schwerpunkt auf der Dresdener Dogmatik von 1925–27 (vgl. II.3) sowie dem amerikanischen Spätwerk der Systematischen Theologie von 1951 bis 1963 (vgl. II.5). Die analytischen Kapitel folgen mit Ausnahme des vierten Zwischenkapitels alle demselben Schema (vgl. II.2–5): Eine exemplarische Darstellung der gesellschaftspolitischen Zeitsituation mit besonderem Fokus auf die zeitgenössischen ‚Problemhorizonte‘ soll jeweils das Panorama eröffnen, auf das Tillich mit seinen Texten antwortet. An einem Beispiel wird anschließend jeweils paradigmatisch illustriert, welche Grundintuition Tillichs Theologie prägt. So wird etwa Tillichs Begegnung mit der Kunstrichtung des Expressionismus herangezogen, um die kulturtheologische Einheitsvision zu verdeutlichen, die seine Theologie ab 1919 ausmacht. Das anschließende ‚close-reading‘ der Texte fokussiert sich mit Rückgriff auf die Analysekriterien, die im systematisch-interdisziplinären Teil erarbeitet wurden, auf die genaue Erschließung des jeweiligen Zweideutigkeitsbegriffs. Die Erträge der Analysekapitel werden in Zwischenfazits gebündelt und immer wieder auf die Frage nach dem Verhältnis von Ambiguität, Moderne und Religion zurückgebunden. Ein letztes Kapitel trägt die zentralen Aspekte von Tillichs Ambiguitätsbegriff zusammen und schließt die werkgeschichtliche Analyse ab (vgl. II.6). Der abschließende Teil der Arbeit speist die Ergebnisse der werkgeschichtlichen Rekonstruktion in die interdisziplinäre Debatte ein (vgl. III). Dabei geht es insbesondere darum, Tillichs möglichen Beitrag zum interdisziplinären Ambiguitätsdiskurs zu eruieren. Die zentralen Fragestellungen und Diskurse des komplementären ersten Teils der Arbeit werden dafür wieder aufgegriffen und jeweils getrennt behandelt: Zunächst wird Tillichs Ambiguitätsbegriff anhand
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der erarbeiteten Leitunterscheidungen im aktuellen Diskurs verortet (vgl. III.1). Daran anschließend wird sein Verständnis von Ambiguität in Bezug auf die Deutung der Moderne und das Verhältnis von Ambiguität und Religion eruiert (vgl. III.2 und 3). Abschließend werden die Schlussfolgerungen für die interdisziplinäre Debatte im Sinne einer gegenseitigen Befragung von theologischer und interdisziplinärer Perspektive gebündelt (vgl. III.4). Unsere Gegenwart scheint bestimmt von einer immer rasanter sich vollziehenden Abfolge von ‚Krisen‘ beziehungsweise der Einordnung verschiedener Problemlagen als ‚Krise‘. Der krisis als Moment der Offenheit, Unsicherheit, Gespanntheit vor der Entscheidung und Rückführung in den ‚Normalzustand‘ eignet inhärent die Qualität des Uneindeutigen oder Ambigen. Lässt sich die gegenwärtige Konjunktur von Ambiguität und der Ruf nach ihrer Toleranz also lesen als der Versuch, die Offenheit und Ungelöstheit verschiedener Herausforderungen begrifflich zu fassen oder verständlich zu machen, im Sinne der Ambiguität als einer Hermeneutik der Krise? Oder zeigt sich in der Verbindung von Krisendiagnose und Ambiguität auch eine gewisse Scheu, den Krisenmodus zu verlassen, wenn nur noch kontingente, immer wieder neu zu suchende, zu hinterfragende, zu kritisierende Eindeutigkeiten zur Wahl stehen? Die vorliegende Arbeit versteht sich in erster Linie als Beitrag zu einer theologischen Fachforschung um einen innovativen Denker, indem sie den Ambiguitäts- bzw. Zweideutigkeitsbegriff Paul Tillichs erstmalig grundlegend aufarbeitet. Sie versteht sich auch als ein Beitrag zu einem aktuellen interdisziplinären Diskurs, der insbesondere die Frage nach der Deutung des Verhältnisses von Religion, Moderne und Ambiguität schärfen will. Die skizzierten Fragen nach unserer Gegenwart und ihrem Blick auf Ambiguitäten – und Eindeutigkeiten – leiten darüber hinaus ihr Interesse.
Teil I
Ambiguität interdisziplinär. Begriffe und Diskurse
Kapitel 1
Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit. Begriffliche Koordinaten Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
„Begriffe sind […] nichts ein für allemal Feststehendes. Sie wandern: zwischen den Fächern, zwischen einzelnen Wissenschaftlern sowie zwischen historischen Perioden und geographisch verstreuten akademischen Gemeinschaften“1, so lautet die treffende Feststellung der niederländischen Kulturhistorikerin Mieke Bal. Für den hier vorliegenden Begriff der Ambiguität gilt diese Problemanzeige umso mehr, als alle drei ‚Wanderbewegungen‘ gleichermaßen zutreffen: ‚Ambiguität‘ lässt sich, erstens, in verschiedenen Disziplinen (etwa Sprach- und Literaturwissenschaften, Kunstgeschichte, Philosophie, Psychologie, Pädagogik, Sozial- und Kulturwissenschaften) als eine zentrale Deutungskategorie antreffen;2 es finden sich dabei, zweitens, auch innerhalb der jeweiligen Fächer bei verschiedenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern deutliche Differenzen, was die Bedeutung, Reichweite und Funktion des Begriffs angeht und, drittens, reicht die Geschichte des Begriffs mit entsprechender geographischer Diversität zurück bis in die griechische Antike. Darüber hinaus wird die definitorische Schwierigkeit noch einmal dadurch gesteigert, dass im direkten Begriffsumfeld – sowie als Übersetzung des Fremdworts ‚Ambiguität‘ – mehrere Termini kursieren, die oft synonym verwendet oder zumindest nicht trennscharf unterschieden werden, etwa ‚Amphibolie‘, ‚Ambivalenz‘, ‚Zweideutigkeit‘, ‚Mehr-‘ und ‚Vieldeutigkeit‘, bisweilen auch ‚Vagheit‘ oder ‚Unbestimmtheit‘.3 Die Kunsthistorikerin Verena Krieger BAL, MIEKE, Kulturanalyse, hg. v. Thomas Fechner-Smarsly/Sonja Neef, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, 11. 2 Die Jenaer Kunsthistorikerin Verena Krieger weist – hier direkt im Zusammenhang mit dem Terminus ‚Ambiguität‘ – darauf hin, dass „[d]ie Übertragung eines fachspezifischen Terminus in andere Disziplinen […] ein geläufiges Verfahren [ist]; gleichwohl eignet ihr etwas Problematisches, weil damit – wie bei jeder Übersetzung – zwangsläufig Transformationen und Umdeutungen verbunden sind“, KRIEGER, VERENA, Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst – vier exemplarische Werkanalysen, in: Kunstgeschichte und Zeitgenossenschaft 1 (2017), 47–67, hier 47f. 3 So etwa verschiedene Lexikonartikel, die unter dem Stichwort ‚Ambiguität‘ „Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit; heute nur noch selten: Zweideutigkeit“ verhandeln, vgl. BODE, CHRISTOPH, Art. Ambiguität, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. v. Klaus Weimar u.a., Bd. 1, Berlin/New York 1997, 67–70, hier 67; oder aber unter „Amphibolie, Ambiguität“ die „Zwei- oder Mehrdeutigkeit eines Wortes, einer Wortgruppe oder 1
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Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
spricht in Folge dieses Umstands von ‚Ambiguität‘ als einem Metaterminus, dessen „semantisches Feld […] sich am besten umreißen [lässt] durch das Bedeutungsfeld der möglichen Übersetzungen des englischen ‚ambiguity‘ ins Deutsche: Unklarheit, Mehrdeutigkeit, Doppelbödigkeit.“4 Der hier nur angedeuteten definitorischen Offenheit, wenn nicht gar Unschärfe des Begriffs korrespondiert in der aktuellen Wissenschaftslandschaft seine bahnbrechende Popularität: ‚Ambiguität‘ ist zu einer beinahe „universalen Matrix für die Beschreibung aktueller so gut wie historischer Lebenswelten geworden“5, die nicht zuletzt auch in populärwissenschaftliche Formate Einzug erhalten hat.6 Die genauen Implikationen des Begriffs bleiben dabei angesichts der Popularität der Deutungskategorie überraschend unklar.7 Was genau
eines Satzes“ verstehen, vgl. BERNECKER, ROLAND/STEINFELD, THOMAS, Art. Amphibolie, Ambiguität, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, 436–444, hier 437. Wolfgang Ullrich verwendet „die Termini Ambiguität, Amphibolie, Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit und Zweideutigkeit synonym“, unterscheidet aber die Vagheit, vgl. ULLRICH, WOLFGANG, Grundrisse einer philosophischen Begriffsgeschichte von Ambiguität, in: Archiv für Begriffsgeschichte 32 (1989), 121–169, mit entsprechender Erläuterung 121, Fn. 2. Beispielhaft für die weite Verwendung des Begriffs in einer monographischen Studie steht BODE, CHRISTOPH, Ästhetik der Ambiguität. Zur Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne, Tübingen: Niemeyer 1988, 2: „[…] der Terminus Ambiguität bezeichnet hier und im folgenden [sic] nicht allein Doppeldeutigkeit, sondern wird, etymologische Bedenken hintanstellend und der Praxis des englischen Sprachraums folgend, durchgehend synonym mit Zwei- und Mehrdeutigkeit verwandt […].“ Bei dem Kulturwissenschaftler Thomas Bauer finden sich unter dem „Oberbegriff Ambiguität“ gar „alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit“ subsumiert, siehe BAUER, Vereindeutigung der Welt, 15. Zur Kritik dieser Praxis der offenen Begriffsverwendung: BERNDT/KAMMER, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 8– 10. Hier wird die auffällige „Fraglosigkeit“ bemerkt, „mit der sich die literatur- und kulturwissenschaftlichen Debatten zu diesem terminologischen Überschuss zu verhalten und damit der Selbstverständigung über die begriffs- und funktionsgeschichtlichen Implikationen dieser ihrer Analysekategorien zu enthalten pflegen. Amphibolie, Ambiguität und Ambivalenz, so scheint es beinahe, sind selbst keine klärungsbedürftigen Begriffe“, a.a.O., 8. 4 K RIEGER, V ERENA, ,at war with the obvious‘ – Kulturen der Ambiguität. Historische, psychologische und ästhetische Dimensionen des Mehrdeutigen“, in: Dies./Mader, Rachel (Hg.), Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines ästhetischen Paradigmas, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2010, 13–49, hier 15, Fn. 13. 5 B ERNDT/K AMMER, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 10. 6 Vgl. https://www.deutschlandfunkkultur.de/mangel-an-ambiguitaetstoleranz-der-fatale -wunsch-nach.1005.de.html?dram:article_id=460621, https://www.faz.net/aktuell/feuillet on/debatten/ambiguitaetstoleranz-gegen-die-ideologie-der-eindeutigkeit-15609070.html, https://www.zeit.de/2019/32/ambiguitaet-toleranz-meinungsbildung-islam-religioese-dialo ge, https://www.deutschlandfunkkultur.de/ambiguitaetstoleranz-lernen-mit-mehrdeutigkeitzu-leben.976.de.html?dram:article_id=466828 (Zugriff am 23.04.2021). 7 Berndt und Kammer sprechen von einem Zusammenhang zwischen „konzeptueller Unschärfe und analytischer Produktivität“ der Termini, von denen sich letztere „vom juristi-
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ist also gemeint, wenn Phänomene, Konstellationen, Verhältnisse, ja, ganze Epochen mit dem Stichwort ‚ambig‘ charakterisiert werden? Ist dabei jeweils von derselben Qualität die Rede oder lassen sich zumindest Gemeinsamkeiten in der Begriffsverwendung feststellen? Oder begegnet hier ein ebenso populärer wie heterogener Begriff, was seine Bedeutung, Reichweite und Funktion angeht? Die Kulturhistorikerin Mieke Bal folgert aus ihrer eingangs zitierten Problemanzeige in Bezug auf Begriffe grundsätzlich die Aufgabe, im „Verhältnis zwischen den Fächern ihre Bedeutung, ihre Reichweite und ihr[en] operationale[n] Wert nach jedem ‚Ausflug‘ von neuem [zu bewerten].“8 Dieser Aufgabe wird im Folgenden nachgegangen, indem typologisch fünf Fachkontexte unterschieden werden, in denen Ambiguität als Begriff beheimatet ist.9 Anhand einer Auswahl verschiedener Denkerinnen und Denker wird dem Ambiguitätsbegriff dabei durch seine Geschichte in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gefolgt. Dabei liegt der Fokus der Fragestellung darauf, bei jeder Sichtung eines Kontextes ‚Koordinaten‘ zu gewinnen, die eine differenzierte Betrachtung des Begriffs und seiner Implikationen ermöglichen. Die Auswahl der hier vorgestellten Positionen beruht auf dem Kriterium, welche Denkerinnen und Denker entscheidende Neujustierungen des Begriffs vorgenommen oder zentrale Probleme des Begriffs thematisiert haben.10 Die mitgeführte Hoffnung ist, auf diese Weise ein Raster von Leitkriterien und -unterscheidungen zu ermitteln, das eine differenzierte Analyse des Ambiguitätsbegriffs erleichtert. Im Anschluss an die Ermittlung dieser Leitkriterien wird evaluiert, welche Koordinaten sich für eine theologische Begriffsbestimmung von Ambiguität und damit für die werkgeschichtliche Rekonstruktion von Tillichs Ambiguitätsbegriff als weiterführend erweisen.11 schen Konfliktfall über sprachwissenschaftliche Fundamentalsätze bis hin zur ästhetisch bestimmten Mehrdeutigkeit, von den vitia der Rede bis zu den Grundlagen der Erkenntnistheorie, vom sachbezogenen Problemhandeln der antiken Rhetorik bis zu den anthropologischen Existenzialien des ‚In-der-Welt-Seins‘ und zum Pluralismus ‚postmoderner‘ Theoriebildungen erstreckt“, BERNDT/KAMMER, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 9f. Hervorhebung im Original. 8 B AL, Kulturanalyse, 11. 9 Eine instruktive Aufteilung nach Kontexten mit einer typologischen Zuordnung der Amphibolie zur Rhetorik, der Ambiguität zur Philosophie, und der Ambivalenz zur Psychologie legen Berndt/Kammer vor, vgl. BERNDT/KAMMER, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 11–24. Ich lehne mich streckenweise an ihre Einteilung an, allerdings in Erweiterung um die Kontexte der Pädagogik sowie der Sozial- und Kulturwissenschaften. 10 Dabei wird keine Vollständigkeit beansprucht; die Liste der Autorinnen und Autoren ließe sich selbstverständlich um weitere Beiträge ergänzen und fortführen. 11 In den entsprechenden theologischen Fachlexika (TRE, RGG) finden sich die Stichwörter ‚Ambiguität‘ oder ‚Zweideutigkeit‘ nicht; lediglich die RGG führt einen Artikel zu ‚Ambivalenz‘, vgl. FRAAS, HANS-JÜRGEN, Art. Ambivalenz, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4 1 (1998), 391.
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Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
1.1 Kontext I: Sprach- und Literaturwissenschaften 1.1 Kontext I: Sprach- und Literaturwissenschaften
‚Ambiguität‘ entstammt als lateinisches Begriffsäquivalent zum griechischen Begriff Amphibolie dem Kontext der antiken Rhetorik.12 In seinen Schriften zu Rhetorik und Poetik wendet sich schon Aristoteles unter dem Stichwort der Amphibolie gegen jede Form der Zweideutigkeit,13 die ihm als ein Vergehen gegen die Sprachrichtigkeit gilt. Nur Dichter und Wahrsager gebrauchen zweideutige Formulierungen, um entweder zu verschleiern, eigentlich nichts zu sagen zu haben, oder die Wahrscheinlichkeit des Irrtums (etwa im Fall eines Orakelspruchs) zu verringern – so Aristoteles’ harsche Kritik.14 Die verschiedenen Formen der Amphibolie, die Aristoteles in seinen Schriften katalogisiert, beziehen sich allesamt auf semantische oder syntaktische Zweideutigkeiten; er versteht Ambiguität demnach als ein Problem der Wortwahl oder Wortkombination, das es zu vermeiden gilt. Neben einem solchen Verständnis von Ambiguitäten als Sonderfällen sprachlichen Ausdrucks finden sich jedoch auch schon in der Antike solche Aussagen, die vertreten, Sprache als Medium sei grundsätzlich ambig verfasst, so etwa bei dem Kirchenvater Augustin.15 12 ‚Ambiguität‘ von lat. ambiguitas/ambiguus wird vom Verb ambigere abgeleitet, was „etwas nach zwei Seiten hin treiben“, „uneins sein“, „etwas bezweifeln“, „etwas bestreiten“, und „schwanken“ bedeutet. Vgl. GEORGES, KARL ERNST, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, Bd. 1, Hannover: Hahn 81913, s.v. ambigo, 362f. Während der griechische Begriff aµjibolia (vom Verb aµjiballein „um beide Seiten werfen“, „umfassen“) als „doppelte Bedrängnis“ oder „beiderseitige Attackierung“ verstanden werden kann und damit die Entscheidungssituation für den Zuhörer betont, hebt das Lateinische eher den Aspekt des Zweifels hervor, vgl. ULLRICH, Begriffsgeschichte, 122f. 131. 13 Der deutsche Begriff ‚Zweideutigkeit‘ ist eine Wortschöpfung des 17. Jahrhunderts und wird als Pendant zum Adjektiv ‚zweideutig‘ gebildet, das als Übersetzung des lat. aequivocus bezeugt ist (das sich erstmals bei Augustin als Übersetzung des aristotelischen oµώnuµoV findet und eine Form sprachlicher Ambiguität/Amphibolie bezeichnet). Auch in seiner deutschen Fassung wird ‚Zweideutigkeit‘ zunächst vor allem auf sprachliche Phänomene bezogen, allerdings nicht nur auf Homonyme, sondern auch auf syntaktische Zweideutigkeiten. Die negative Konnotation, die auch heute noch in der Alltagssprache mit dem Begriff einhergeht, rührt vermutlich daher, dass ab dem 18. Jahrhundert unter Zweideutigkeit „zunehmend etwas Schlüpfriges, eine Zote oder zwielichtige, oft sexuelle Anspielung verstanden wurde“. Erst Friedrich Wilhelm Hegel erhebt die Zweideutigkeit in seinen Vorlesungen zur Ästhetik zu einem philosophischen Begriff, vgl. HEGEL, FRIEDRICH WILHELM, Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil, Stuttgart: Reclam 1980, 426; vgl. ULLRICH, Begriffsgeschichte, 144–147. 14 Vgl. A RISTOTELES, Rhetorik, in: Hellmut Flashar (Hg.), Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 4/1, Berlin: De Gruyter 2002, 137 (1407 a32–b7); ARISTOTELES, Poetik, in: a.a.O., Bd. 5, Berlin: De Gruyter 2008, 38 (1461 a26–28); vgl. auch ULLRICH, Begriffsgeschichte, 121f. 15 So schreibt dieser in De Dialectica IX: „[…] rectissime a dialecticis dictum est ambiguum esse omne verbum“, AURELIUS AUGUSTINUS, De Dialectica, hg. v. Jan Pinborg, Dordrecht/Boston: Reidel 1975, 106. Auch nimmt Augustin über diese allgemeine Anmerkung
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Die These von einer grundsätzlichen Ambiguität des Mediums Sprache wird jedoch erst in der modernen Literaturwissenschaft zu einem grundlegenden Topos ausgearbeitet. Als stark rezipiertes und einflussreiches Standardwerk gilt hier William Empsons 1930 verfasste Studie Seven Types of Ambiguity, in der Empson einen sehr weiten Ambiguitätsbegriff etabliert: „I propose to use the word in an extended sense, and shall think relevant to my subject any verbal nuance, however slight, which gives room for alternative reactions to the same piece of language.“16 Im Unterschied zur antiken Rhetorik, die Ambiguität stets als ein entweder zu vermeidendes oder zumindest pragmatisch zu behandelndes Übel betrachtet hatte, wird Ambiguität bei und im Anschluss an Empson als ein Qualitätskriterium von Literatur und als ein Schlüsselbegriff der Ästhetik etabliert.17 Insbesondere der Literatur und Kunst der Moderne wird dabei die bewusste Produktion von Ambiguitäten zugeschrieben – oft in Kombination mit einem gegenwartsdiagnostischen Impetus.18 An diesen kurzen Überblick über die antike Rhetorik und moderne Literaturwissenschaft lassen sich mit Blick auf die Suche nach Koordinaten mehrere Beobachtungen anschließen: Zunächst fällt auf, dass die antiken Rhetoriker die Vorsilbe ambo (lat. beide) in der Regel ernstnehmen und den Bezug von Am-
hinaus sehr differenzierte Unterscheidungen vor (etwa in seiner Schrift Contra Iulianum zwischen univoca und aequivoca oder Ambiguitäten der gesprochenen oder geschriebenen Sprache). Ähnliche Andeutungen zur grundsätzlichen Ambiguität der Sprache finden sich auch bei dem stoischen Philosophen Aulus Gellius und dem lateinischen Rhetoriker Quintilian. Vgl. ULLRICH, Begriffsgeschichte, 134f. 16 EMPSON, W ILLIAM, Seven Types of Ambiguity, New York: New Directions 1966, 1. 17 So etwa B ODE, Ästhetik der Ambiguität, 381; K RIEGER, ‚at war with the obvious‘, 13– 15. Für die aktuelle, höchst ausdifferenzierte sprach- und literaturwissenschaftliche Ambiguitätsforschung vgl. die Veröffentlichungen des Tübinger DFG-Graduiertenkollegs 1808 Ambiguität – Produktion und Rezeption, etwa BAUER, MATTHIAS/BERNDT, FRAUKE/ MEIXNER, SEBASTIAN (Hg.), Ambivalenz in Sprache, Literatur und Kunst, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019; POTYSCH, NICOLAUS/BAUER, MATTHIAS (Hg.), Deutungsspielräume. Mehrdeutigkeit als kulturelles Phänomen, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2016; BAUER, MATTHIAS u.a., Dimensionen der Ambiguität, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 158 (2010), 7–75; WINTER-FROEMEL, ESME/ZIRKER, ANGELIKA, Ambiguity in Speaker-Hearer-Interaction: A Parameter-Based Model of Analysis, in: Susanne Winkler (Hg.), Ambiguity: Language and Communication, Berlin/New York: de Gruyter. 283–339. 18 So sieht etwa Umberto Eco die „Tendenz zu Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit als Spiegelung einer Krise unserer Zeit“ bzw. als Ausdruck eines veränderten Menschentyps, der „offen ist für eine ständige Erneuerung seiner Lebens- und Erkenntnisschemata, der produktiv an der Entwicklung seiner Fähigkeiten und Erweiterung seiner Horizonte arbeitet“, vgl. ECO, UMBERTO, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, 46. Zum Verhältnis von Ambiguität und moderner Kunst, vgl. insbesondere KRIEGER, Modi ästhetischer Ambiguität in der zeitgenössischen Kunst, sowie die Beiträge des Sammelbandes Groß u.a., Ambige Verhältnisse.
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biguität (resp. Amphibolie) auf eine Zweiheit von Bedeutungen aufrechterhalten. Dementsprechend findet sich in deutschen Übersetzungen an entsprechender Stelle auch meist das Wort ‚Zweideutigkeit‘.19 Gleichwohl ist schon mit der Frage nach der grundsätzlichen Ambiguität von Sprache der Gedanke an konnotative, referentielle, wenn nicht gar rezeptionsästhetische Mehrdeutigkeit angeschnitten: Solche Mehrdeutigkeiten kommen durch eine Vielzahl an nuancierten Bedeutungen eines Worts (konnotative Mehrdeutigkeit), durch die Vielzahl an möglichen Referenzobjekten (referentielle Mehrdeutigkeit), beziehungsweise die Vielzahl von Rezipientinnen und Rezipienten einer sprachlichen Äußerung (rezeptionsästhetische Mehrdeutigkeit) zustande. In der zitierten Definition von Ambiguität nach Empson etwa findet sich eine Verbindung von konnotativer und rezeptionsästhetischer Mehrdeutigkeit, dadurch, dass Empson von „sprachlichen Nuancen“ spricht, die „alternative Reaktionen“20 zulassen. Die Begrenztheit auf eine Zweiheit von Bedeutungen tritt hier also zugunsten der Vielheit der Interpretationsmöglichkeiten zurück, die sich aus einem Zusammenspiel des Nuancenreichtums eines Wortes und der Individualität der Rezipientinnen und Rezipienten ergibt. Es findet also eine deutliche Ausweitung des Ambiguitätsbegriffs statt. Für die anvisierte Sammlung an Koordinaten ist demnach für den ersten Kontext der Sprach- und Literaturwissenschaften folgendes festzuhalten: Erstens kann mit Blick auf die Bedeutung von ‚Ambiguität‘ im engeren Sinne zwischen Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit unterschieden werden. Bei dieser Koordinate liegt das Augenmerk auf der Anzahl der Elemente, seien es Bedeutungen, Nuancen oder Interpretationen, die von der Zwei- respektive Vieldeutigkeit umgriffen werden. Weiterhin können sowohl Zwei-, wie auch Vieldeutigkeiten unterschiedlich produziert werden: So muss (zumindest) unterschieden werden zwischen einer (denotativen oder konnotativen) Bedeutungsebene, die anzeigt, dass einem Wort (zum Beispiel ‚Schloss‘, ‚Bank‘ oder ‚Tau‘) mehrere Bedeutungen zugeordnet werden können; und einer Rezeptionsebene (unterschiedliche Interpretationen desselben Worts oder derselben Aussage durch verschiedene Subjekte), die sich gewisser Weise als Potenzierung an Begriffe, die auf der Bedeutungsebene zwei- oder mehrdeutig sind, ebenso anschließen kann wie an solche, die es zunächst nicht sind. Ambiguitäten können also da-
Vgl. etwa QUINTILIANUS, MARCUS FABIUS, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. v. Helmut Rahn, 2 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1972, VII 9, 4.8: „Jemand hat testamentarisch bestimmt, es solle ein Standbild mit einem Speer aus Gold errichtet werden. […] Es ergibt sich die Frage, ob das Standbild, das den Speer hält, aus Gold sein solle, oder der Speer aus Gold sein solle in der Hand des Standbildes, das aus anderem Stoff bestehen kann.“ Vgl. auch BERNDT/KAMMER, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 11f. 20 EMPSON, Seven Types, 1. 19
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nach differenziert werden, ob sie eher die Bedeutungsebene oder die Rezeptionsebene betreffen, wobei die vorwiegend moderne Feststellung der grundsätzlichen Ambiguität von Sprache beide Aspekte näher aneinanderrückt. Als dritte Koordinate schließlich kann in diesem ersten Kontext der Umgang mit Ambiguitäten notiert werden, der zugleich die Frage in den Fokus rückt, wie Ambiguitäten bezüglich ihrer Dauer und Standfestigkeit eingeschätzt und wie sie schlussendlich bewertet werden. So zielt etwa der pragmatische Umgang der antiken Rhetorik auf eine bewusste Vermeidung von Ambiguitäten ab, geht aber zugleich – bei einer eher negativen Bewertung – davon aus, dass diese strukturell nicht auszulöschen sind.21 Andere Umgangsweisen mit Ambiguität, die in diesem Kapitel bereits anklangen, waren etwa die bewusste Produktion von Ambiguitäten durch moderne Literatur und Kunst, die von einer positiven Haltung gegenüber Ambiguitäten ebenso zeugen wie sie von der ‚Machbarkeit‘, also der intentionalen Produktion von Ambiguitäten, ausgehen. Wenngleich in Sprach- und Literatur-, wie auch in der Kunstwissenschaft stets die mediale Produktion von Ambiguitäten durch Sprache und Bild im Vordergrund steht, lässt sich schon hier feststellen, dass Ambiguität als Kategorie zur „Systemüberschreitung“22 neigt. Die Ambiguitäten sprachlicher, literarischer oder künstlerischer Äußerungen führen unweigerlich zu erkenntnistheoretischen, ontologischen oder psychologischen Fragestellungen: Ist bereits die Intention der Rhetorikerin oder des Rhetorikers zweideutig oder erst seine sprachliche Äußerung? Verweist die Ambiguität der Sprache auf eine Ambiguität der Dinge? Welche Umgangsweisen mit Ambiguitäten stehen dem Menschen zur Verfügung? Es ist angesichts dieser Fragestellungen also naheliegend, dass der Begriff der Ambiguität in andere Wissenschaftsdisziplinen ‚weiterwandert‘.
1.2 Kontext II: Philosophie 1.2 Kontext II: Philosophie
„Der Zufall kam, mir das zweideutigste Ding der Welt in die Hände zu legen, und die unendlichen Überlegungen, zu denen es mich veranlaßte, konnten mich ebensogut zu dem Philosophen machen, der ich war, wie zu dem Künstler, der ich nicht geworden bin“,23 so lässt der französische Philosoph Paul Valéry in
BERNDT/KAMMER, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 13f. BERNDT/KAMMER, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 14. 23 V ALÉRY, PAUL, Eupalinos oder Der Architekt. Eingeleitet durch Die Seele und der Tanz, übers. v. Rainer Maria Rilke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, 82; vgl. auch BLUMENBERG, HANS, Sokrates und das object ambigu. Paul Valérys Auseinandersetzung mit der Tradition der Ontologie des Ästhetischen Gegenstands, in: Franz Wiedemann (Hg.), Epimeleia. Die Sorge der Philosophie um den Menschen. Hans Kuhn zum 65. Geburtstag, München: Pustet 1964, 285–323. 21 22
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seinem Dialog Eupalinos aus dem Jahr 1923 den Philosophen Sokrates erzählen. Am Strand entlang wandernd findet der Jüngling Sokrates den wunderlichen Gegenstand, „[g]roß ungefähr wie [s]eine Faust“ und aus einem „Stoff für Zweifel“24, von dem er beim besten Willen nicht sagen kann, ob es sich um ein Naturprodukt oder einen künstlichen, vom Menschen hergestellten Gegenstand handelt. Er kann die Frage nach Natur oder Kultur des Objekts nicht lösen und wirft den undeutbaren Gegenstand schließlich ins Meer zurück. Über der ungelösten Frage nach Natur oder Kultur den Strand verlassend, wird Sokrates zum Philosophen.25 Mit diesem Dialog charakterisiert Valéry die Philosophie als eine Suche nach Eindeutigkeit – und bestimmt ihr Verhältnis zu zweideutigen Gegenständen damit zugleich als ein problematisches.26 Und in der Tat zeigte ja bereits der Blick in die antike Sprachphilosophie, dass schon die Zweideutigkeiten der Sprache dort eher als zu vermeidende Missverständnisse denn als begrüßenswerte Offenheit eingestuft wurden, so etwa prominent bei Aristoteles. Im Durchgang durch die Philosophiegeschichte finden sich jedoch mit dem Begriff der Ambiguität (und dessen Verwandten) neben sprachlichen auch erkenntnistheoretische und ontologische Fragestellungen verknüpft. Das wohl prominenteste Beispiel für erstere bildet Immanuel Kants Formel der ‚transzendentalen Amphibolie‘. Kant verwendet den Begriff der Amphibolie, um eine „Verwechslung des reinen Verstandesobjekts mit der Erscheinung“27 zu bezeichnen, die dadurch zustande kommt, dass zwischen Verstandesbegriffen und Erscheinungen nur unzureichend differenziert wird. Am Beispiel eines Regentropfens (in Anlehnung an Kant) bedeutet dies, dass zwei Regentropfen als Erscheinungen schon dadurch verschieden sind, dass sie an verschiedenen Orten oder zu verschiedenen Zeiten auftauchen. Die Vorstellung
VALÉRY, Eupalinos, 85. Vgl. auch ULLRICH, Begriffsgeschichte, 153. 26 Nach Ullrich reicht dieses problematische Verhältnis zurück bis Aristoteles, der die Linearität und Rationalität des Denkens mit dem Charakteristikum von Eindeutigkeit verknüpft und (sprachliche) Ambiguitäten als Hindernis für die Erkenntnis auffasst. Noch einige Generationen zuvor hatte ganz anders Heraklit, wenn auch ohne die entsprechende Terminologie, als erster das Prinzip der Einheit als Zweiheit nicht nur zu einem Prinzip der Sprache, sondern auch der Welt erhoben. Nach Heraklit existiert die Welt nur in Gegensätzen, die jedoch nicht in einem Konkurrenzverhältnis zueinanderstehen, sondern nur gemeinsam, in ihrer widersprüchlichen Verbindung Sinn ergeben, vgl. ULLRICH, Begriffsgeschichte, 124f. 27 K ANT, IMMANUEL, Kritik der reinen Vernunft, in: Ders., Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, 292. Die ‚transzendentale Amphibolie‘ betrifft sogenannte Reflexionsbegriffe, die allgemeine Formen für den Vergleich von Vorstellungen darstellen, wie etwa Einerleiheit und Verschiedenheit, Einstimmung und Widerstreit, Inneres und Äußeres, usw. Ihre Amphibolie wird hervorgerufen durch unzureichende Differenzierung zwischen Verstandesbegriffen und Begriffen, die zur Sinnlichkeit gehören. 24 25
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dieser Regentropfen im Verstand hingegen ist ein- und dieselbe: ein Regentropfen. Werden diese beiden Ebenen verwechselt, spricht Kant von einer Amphibolie. Als Kategorienfehler wird die Amphibolie dabei von der Zweideutigkeit in die Verwechslung, und damit in die „eindeutig[e] Falschheit“28, verschoben. Als weitere Koordinate ist dementsprechend zu notieren, was schon im letzten Unterkapitel anklang: dass mit den Termini Ambiguität, Ambivalenz, usw. oftmals eine Bewertung verbunden ist, die mit deren Feststellung zumindest implizit einhergeht. Und wenngleich sich auch Kants Verwendung des Amphiboliebegriffs nicht weiter durchgesetzt hat, findet sich doch immer wieder die bei ihm anzutreffende Nähe von ‚Zweideutigkeit‘ zu Phänomenen der Täuschung oder des Scheins.29 Einen anderen Blickwinkel – und den Beginn einer positiven Würdigung von Ambiguität nicht nur im Bereich der Ästhetik, sondern auch in dem der philosophischen Erkenntnis30 – bietet im 19. Jahrhundert Friedrich Nietzsche. Für Nietzsche ist die Welt grundsätzlich vieldeutig,31 da jedes Leben eine spezifische Perspektive auf die Wirklichkeit ausbildet. Demgegenüber degradiert Nietzsche nun gerade die eindeutige Erkenntnis bzw. eindeutige Wahrheit zu einem Schein, der erst durch eine Setzung der Masse zustande kommt.32 Nietz-
28 Ullrich folgert: „Der Begriff der Zweideutigkeit wird hier verlassen“, D ERS., Begriffsgeschichte, 124f. 29 Vgl. etwa SIMMEL, Venedig, 249f; für den Bereich der Religion G OGARTEN, FRIEDRICH, Die religiöse Entscheidung, Jena: Diederichs 1921, 20. Beide finden sich ausführlich behandelt in II.2.4, da sie womöglich Tillich in seiner Begriffsverwendung inspiriert haben. 30 Berndt/Kammer merken hierzu an, dass die „philosophische Tradition der Ambiguitätsbändigung“ zwei Strategien fährt: erstens, die „agonale Gleichzeitigkeit […] in die Prozesshaftigkeit des ‚spekulativen Denken[s]‘ umzumünzen“ (damit verstehen sie Hegels Dialektik als eine Form der Ambiguitätsbewältigung); zweitens, die Auslagerung des Ambigen in die Kunst, also die Differenzierung von Ästhetik und Philosophie, vgl. BERNDT/KAMMER, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 16. Mit Nietzsche beginnt, so meine Einschätzung, allerdings auch für den Bereich der westlichen Philosophie etwas Neues. 31 So schreibt Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft von der „Vieldeutigkeit des Daseins“ und folgert für die Wissenschaft: „Man soll es [das Dasein, Anm. Vfin.] vor allem nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden wollen: das fordert der gute Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor allem, was über euren Horizont geht“, und weiter: „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schließt“, NIETZSCHE, FRIEDRICH, Fröhliche Wissenschaft, in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Abteilung V, Bd. 2, Berlin/New York: De Gruyter 1973, 309. In den Nachgelassenen Fragmenten Herbst 1885 – Herbst 1887 (in: a.a.O., VIII, 1, 125) bindet er die Vieldeutigkeit der Welt an das Prinzip des Wachstums: „Die Vieldeutigkeit der Welt als Frage der Kraft, welche alle Dinge unter der Perspektive ihres Wachsthums ansieht.“ Hervorhebungen im Original. 32 Vgl. U LLRICH, Begriffsgeschichte, 154.
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sche gilt die ästhetische Erfahrung dementsprechend auch als „tiefer, ‚metaphysischer‘“33 als die wissenschaftliche Wahrheitssuche, weil sie eben gerade nicht den eindeutigen Schein zu einer fixierten Wahrheit erklärt, sondern sich dem Prinzip des Wachstums verpflichtet weiß. Die Philosophie hat sich dementsprechend an der Kunst zu orientieren und sich selbst als eine kontingente Setzung von Wert und Sinn zu verstehen.34 Bei Nietzsche korrespondieren also die „unendliche Ausdeutbarkeit der Welt“35 und die Multiperspektivität von Wahrheit miteinander. Dabei scheint die Vieldeutigkeit der Welt zum einen als ontologische Qualität in der Welt angelegt zu sein (im Sinne einer den Dingen innewohnenden Deutungsoffenheit), zum anderen durch die Perspektivität des jeweiligen Lebens zustande zu kommen.36 Vieldeutigkeit entsteht also, ganz ähnlich wie in Empsons Definition, aus einer Interaktion, hier der zwischen Mensch und Welt. Neben dieser Feststellung kann als weitere Koordinate festgehalten werden, dass Ambiguität als transzendentalphilosophische Kategorie die Frage nach Wahrheit und der Erkenntnis von Wahrheit berührt: Zu der Verortung von Ambiguität im Medium der Sprache gesellt sich damit eine zweite und dritte mögliche Dimension hinzu: die Struktur des Bewusstseins und die Welt der Phänomene. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts – tatsächlich nur einige Jahre nach Valérys Fundamentalkritik an dem Eindeutigkeitsstreben der Philosophie – wird weit über die Anfänge bei Nietzsche hinaus Ambiguität zu einem ontologischen Grundbegriff erhoben. Insbesondere Martin Heidegger und die französischen Existentialisten Maurice Merleau-Ponty und Simone de Beauvoir räumen der Zweideutigkeit respektive Ambiguität eine zentrale Rolle in ihrer Philosophie ein. In Heideggers Sein und Zeit zählt Zweideutigkeit neben dem Gerede und der Neugier zu den Phänomenen der Alltäglichkeit, des Lebens im Uneigentlichen, und bezeichnet den Umstand, dass der Mensch nie wirklich weiß, woran er ist: „Alles sieht so aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch.“37 Zweideutigkeit wird hier als unintentionales Ko-Produkt menschlichen Miteinanders insbesondere auf den Bereich menschlicher Kommunikation bezogen und als Teil des „geworfenen Miteinander[s] in einer Welt“ aufgefasst.38 Wenngleich Heidegger betont, dass die Zweideutigkeit keine Wertung enthält, schwingt auch hier eine negative Konnotation allein 33 N IETZSCHE, Nachgelassene Fragmente Anfang 1888 – Anfang Januar 1889, in: Ders., Werke, VIII, 3, 18. 34 Vgl. U LLRICH, Begriffsgeschichte, 154. 35 N IETZSCHE, Nachgelassene Fragmente Herbst 1885 – Herbst 1887, 118. 36 Aufgrund dieser Multiperspektivität von Wahrheit sieht Habermas in Nietzsche den Beginn der Postmoderne, HABERMAS, JÜRGEN, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, 104–129. 37 H EIDEGGER, M ARTIN, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 192006, 173–175, hier 173. 38 A.a.O., 175. Auch das Selbstverhältnis des Menschen unterliegt dieser Zweideutigkeit.
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dadurch mit, dass das Leben im Eigentlichen sich der Zweideutigkeit entzieht.39 Die Nähe der Zweideutigkeit zum Schein oder zur Täuschung, die schon in Kants Amphibolieverständnis zu finden war, bildet sich hier weiter fort. Das Verständnis von Ambiguität (ebenfalls im Sinne von Zweideutigkeit) als einem Wesensmerkmal menschlicher Existenz findet sich ganz grundlegend auch bei Maurice Merleau-Ponty und Simone de Beauvoir.40 MerleauPonty versteht Ambiguität als eine im Bewusstsein des Menschen angelegte Struktur, die seine Haltung zur Welt grundlegend prägt. Ambiguität wird dabei als ontologische Kategorie, als etwas Unhintergehbares und aller Wertung Entzogenes verstanden.41 Eindeutigkeit hingegen wird als Täuschung entlarvt, die dadurch entsteht, dass sich der Kontext und die Situation eines Menschen nicht gewandelt haben, so dass er einen eigentlich ambigen Sachverhalt als vermeintlich eindeutig wahrnimmt.42 Ambiguität bzw. Eindeutigkeit bekommen hier also eine zeitliche Komponente zugeschrieben: wie bei einem Film erscheint ein Bild nur dann eindeutig, wenn es festgehalten, wenn auf die Stopptaste gedrückt und der zeitliche Verlauf unterbrochen wird. Im Verlauf selbst hingegen, der ständige Änderung bedeutet, kann etwas schlichtweg nicht eindeutig sein. Eindeutigkeit bedeutet also immer eine Täuschung durch Stillstand. Damit aber kehrt sich die Wertung der Ambiguität und die Konnotation der Täuschung, des Scheins – wie schon einmal bei Nietzsche – geradezu um. Zugleich wird es obsolet, Ambiguität vermeiden, überwinden oder in einer höheren Synthese aufheben zu wollen; vielmehr geht es nun darum die Gegensätze der Welt als zwei Pole desselben zu erkennen (so etwa die klassischen Gegensätze von Freiheit/Determination, Idealismus/Realismus, etc.). Aus dieser veränderten Sicht auf Ambiguität erklärt sich auch Merleau-Pontys Aussage, die Ambiguität trage gerade zur Größe der Philosophie bei, statt ihre 39 Vgl. U LLRICH, Begriffsgeschichte, 161. Ullrich weist hier auch darauf hin, dass der Zweideutigkeitsbegriff in Heideggers Werk noch eine besondere Karriere macht. Dabei sind insbesondere die Überlegungen zum zweideutigen Charakter der Wahrheit in Das Wesen der Wahrheit von 1930 als „Entbergung“ und „Verbergung“ und die späteren Überlegungen zur Zweideutigkeit der Technik (veröffentlicht 1954) von Belang. 40 Beide verwenden das französische Wort ‚ambiguïté‘. In deutscher Übersetzung wird bei Merleau-Ponty in der Regel ‚Zweideutigkeit‘ verwendet, vgl. MERLEAU-PONTY, MAURICE, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1966, 104–106. 340–346; bei de Beauvoir ‚Doppelsinnigkeit‘ bzw. ‚Ambivalenz‘, was einmal mehr die begrifflichen Verwirrungen anzeigt, vgl. BEAUVOIR, SIMONE DE, Pour une morale de l’ambiguïté, Paris: Gallimard 1961, in deutscher Übersetzung: BEAUVOIR, SIMONE DE, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, in: Dies., Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus, Hamburg: Rowohlt 2007, 77–189. 41 „Cette ambiguïté n’est pas une imperfection de la conscience ou de l’existence, elle en est la définition.“ MERLEAU-PONTY, MAURICE, Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, 197. 42 Vgl. U LLRICH, Begriffsgeschichte, 157.
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Fundamente zu bedrohen.43 Merleau-Ponty impliziert mit seiner Aussage, ähnlich der Sokrates-Erzählung von Valéry, ein Ausweichen vieler philosophischer Denkerinnen und Denker angesichts von Ambiguität, versucht diese jedoch zu entkräften. Kurzum: Nicht eine Philosophie, die vor Ambiguität zurückweicht oder diese zu verdrängen sucht, wird der Wahrheit nahekommen, sondern gerade eine, die Ambiguität als eine grundlegende Struktur der Welt anerkennt. Damit lässt sich mit Blick auf die Koordinatensammlung ein weiterer möglicher Umgang mit Ambiguität festhalten: ein Anerkennen oder eine Akzeptanz, die die Ambiguität nicht aufzulösen oder in einer Synthese aufzuheben sucht, sondern sie als solche aushalten lernt. Simone de Beauvoirs Ambiguitätsverständnis setzt noch einmal einen anderen Akzent: Ihre Überlegungen zu Ambiguität finden sich im Kontext der Begründung einer existentialistischen Ethik. Für Beauvoir liegt die grundsätzliche Ambiguität menschlicher Existenz darin, dass der Mensch stets in einem ‚Dazwischen‘ verortet ist: [E]r ist gleichzeitig Bewußtsein und Bestandteil dieser Welt; er weiß sich als reine Innerweltlichkeit, der keine äußere Macht etwas anhaben kann, und erfährt sich doch gleichzeitig als Sache, auf der schwer das Gewicht der anderen Sachen lastet. In jedem Augenblick vermag er die zeitlose Wahrheit seines Daseins zu ergreifen, und doch ist dieser Augenblick, in dem er da ist, zwischen der Vergangenheit, die nicht mehr ist, und der Zukunft, die noch nicht ist, ein Nichts. Allein dem Menschen ist es gegeben, ein souveränes, einzigartiges Subjekt inmitten einer Welt von Objekten zu sein, und doch muß er dieses Privileg mit allen seinesgleichen teilen; für die anderen wiederum ist er seinerseits Objekt; innerhalb der Gesamtheit, von der er abhängt, ist er nichts als ein Einzelwesen. 44
Ambiguität begegnet hier also im Sinne einer ‚Sowohl-als-auch‘-Struktur menschlicher Existenz, die sich weder nach der einen, noch nach der anderen Seite hin fixieren oder vereindeutigen lässt. Wie auch bei Merleau-Ponty wird Ambiguität als ein sich auf einem Spektrum zwischen zwei gegensätzlichen Polen befindliches Verhältnis zweier Größen gedacht. Dabei sind die Pole je-
43 „Le philosophe se reconnaît à ce qu’il a inséparablement le goût de l’évidence et le sens de l’ambiguïté, elle s’appelle équivoque. Chez les plus grands elle devient thème, elle contribue à fonder les certitudes, au lieu de les menacer.“ MERLEAU-PONTY, MAURICE, Éloge de la philosophie, Paris: Gallimard 1953, 10. Allerdings ist Ullrichs Anfrage recht zu geben, der bemerkt, dass Merleau-Pontys „Darstellung selbst ohne alle Zweideutigkeit [ist], was die Frage aufwirft, ob er sich nicht doch auf einem eindeutigen Fundament wähnt, von dem aus er die Zweideutigkeit der gesamten Welt konstatiert.“ ULLRICH, Begriffsgeschichte, 158. 44 B EAUVOIR, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 79. Ebenso einige Zeilen später: „[…] die Wahrheit des Lebens und des Todes, meiner Einsamkeit und meiner Verhaftung mit der Welt, meiner Freiheit und meiner Knechtschaft, der Bedeutungslosigkeit und der höchsten Bedeutung jedes und aller Menschen.“
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weils mit einer positiven beziehungsweise negativen Wertung versehen; es findet also eine Mischung von Bedeutungs- und Bewertungsebene statt. Die Ambiguität verdoppelt sich somit gewissermaßen. Die erste Konsequenz aus dieser geschilderten Ambiguität menschlicher Existenz lautet nach Beauvoir nicht „vor der Wahrheit zu fliehen“, wie es die Philosophie und Theologie ihrer Meinung nach lange genug getan haben, sondern zu versuchen „unsere wesensmäßige Ambivalenz auf uns zu nehmen.“45 Aus der Einsicht in die menschliche Existenz als einem ‚Dazwischen‘ ergibt sich für die Ethik die Herausforderung, dass die Welt eben nicht festgelegt ist und damit auch moralische Werte wandelbar sind. Somit sieht Beauvoir den Menschen vor die Aufgabe gestellt, in der jeweiligen Situation unter Einbeziehung der Zweipoligkeit des Lebens und den Ambiguitäten menschlicher Existenz neue Wertsetzungen vorzunehmen und dem Leben so erst ein ‚Sollen‘ und eine Bedeutung zu verleihen.46 Anders als im Falle von Nietzsches Vieldeutigkeit geht es den Existentialistinnen und Existentialisten also nicht um die Vielheit von Deutungen der Welt auf der Suche nach Erkenntnis, sondern um die Zweipoligkeit der Existenz zwischen Bestimmtheit und Freiheit, Körper und Geist, Leben und Tod, Individuum und Gemeinschaft. Die Frage nach den Konstitutionsbedingungen von Wahrheitserkenntnis rückt hier also zugunsten von Ambiguität als einer ontologisch-anthropologischen Kategorie (gegebenenfalls mit moralkonstituierendem Anspruch) in den Hintergrund. Als neu gewonnene Koordinaten zur Analyse des Ambiguitätsbegriffs lassen sich im Anschluss an den philosophischen Kontext damit festhalten: erstens, die Frage nach der Bewertung, einmal von Ambiguität an sich (negativ konnotiert als Täuschung oder Verwechslung bei Kant und zunächst auch bei Heidegger, neutral bei Merleau-Ponty und de Beauvoir, eher positiv bei Nietzsche), zum anderen im Sinne der Zuordnung verschiedener Wertigkeiten zu den einzelnen Elementen oder Polen, die die Ambiguität konstituieren. Außerdem ließ sich bei de Beauvoir in Bezug auf die Ambiguität eine Mischung von Bedeutungs- und Bewertungsebene feststellen. Die Frage nach dem Verhältnis beider Ebenen (Bedeutung und Bewertung) gilt es demnach auch bei anderen Ambiguitätsbegriffen im Blick zu behalten. Zweitens rückte die Verbindung von Ambiguität mit der erkenntnistheoretischen Frage nach Wahrheit in den Fokus, die nicht zuletzt verknüpft ist mit der Frage, wie Ambiguität selbst erkannt werden kann (insbesondere wenn, wie bei Merleau-Ponty, alles ambig ist). Ambiguität ist hier also mit einem transzendentalphilosophischen Problem verknüpft. Drittens ließ sich eine zeitliche Komponente von Ambiguität feststellen, die Ambiguität eng mit Bewegung, Wachstum und Veränderung zusammendenkt: So mag man sich in einem Moment frei fühlen, aber nur, wenn
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BEAUVOIR, Für eine Moral der Doppelsinnigkeit, 81. A.a.O., 83–85.
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dieser Moment fixiert und verallgemeinert wird, kann darüber hinweggegangen werden, dass gegensätzliche Momente des Sich-Bestimmt- und Determiniert-Fühlens (und alle auf dem Spektrum dazwischen liegenden Graubereiche) ebenso zum Menschsein dazugehören. Viertens ist in Bezug auf den Umgang mit Ambiguität festzuhalten, dass auch im Falle der Akzeptanz oder des Aushaltens von Ambiguitäten die Frage nach einer Synthese der verschiedenen Elemente ebenso wie nach dem Verhältnis zu Eindeutigkeit als Gegenbegriff zumindest ex negativo stets im Raum zu stehen scheint. Fünftens muss bei Ambiguitäten die Frage nach ihrer Verortung gestellt werden; bisher traten als mögliche Lokalisierungen von Ambiguität das Medium der Sprache, die Struktur des Bewusstseins oder die Phänomene selbst auf. Vor einer abschließenden Evaluierung der gesammelten Koordinaten für die vorliegende Arbeit sollen im Folgenden noch die Perspektiven von Psychoanalyse und Psychologie, Erziehungswissenschaften und Pädagogik sowie Sozial- und Kulturwissenschaften hinzugezogen werden.
1.3 Kontext III: Psychoanalyse und Psychologie 1.3 Kontext III: Psychoanalyse und Psychologie
Im Jahr 1910 taucht im Bereich der noch jungen Psychoanalyse ein weiterer Begriff auf, der zumindest die Alltagssprache über das Ambige für sich erobern wird: der Begriff der Ambivalenz.47 Als eine Wortschöpfung des Psychoanalytikers Eugen Bleuler ist der Begriff zunächst im Kontext von dessen Forschungen zum Krankheitsbild der Schizophrenie verortet und bezeichnet darin eine fehlende Synthetisierungsleistung:
47 Vgl. B LEULER, EUGEN, Die Ambivalenz, in: Universität Zürich (Hg.), Festgabe zur Einweihung der Neubauten 19. April. III. Medizinische Fakultät, Zürich: Schulthess 1914, 93–106, zitiert nach: BAUER, MATTHIAS, Ambiguity and Ambivalence before ‚Ambivalence‘, in: Ders./Frauke Berndt/Sebastian Meixner (Hg.), Ambivalenz in Sprache, Literatur und Kunst, Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, 141–154, hier 141. Eine ausführliche Begriffsgeschichte von ‚Ambivalenz‘ bietet innerhalb desselben Bandes und inklusive der Rezeption von Ambivalenz in Literatur-, Kunst- und Sozialwissenschaften die Einleitung von MEIXNER, SEBASTIAN, Bewerten – Figurieren – Erzählen. Zur Begriffsgeschichte der Ambivalenz, in: Bauer/Berndt/Ders. (Hg.), Ambivalenz in Sprache, Literatur und Kunst, 9–59. Einen Überblick über die gegenwärtige Ambivalenzforschung in der Psychologie bietet ZIEGLER, RENÉ, Ambiguität und Ambivalenz in der Psychologie. Begriffsverständnis und Begriffsverwendung, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 40 (2010), 125–171. Eine Entwicklung des Ambivalenzkonzepts von seinen Anfängen bis heute bietet STRAUß, BERNHARD, Identität und Ambivalenz, in: Bernhard Groß u.a. (Hg.), Ambige Verhältnisse, 111–127. Eine ausführliche Studie hat bereits in den 1980er Jahren vorgelegt: OTSCHERET, ELISABETH, Ambivalenz. Geschichte und Interpretation der menschlichen Zwiespältigkeit, Heidelberg: Asanger 1988.
1.3 Kontext III: Psychoanalyse und Psychologie
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Während der Normale in 99 von 100 Fällen aus dem Befund „Die Rose hat ihre Dornen“ sein Fazit aus der Subtraktion der negativen und positiven Werte zieht und also die Rose trotz der Dornen schätzt, setzt der Schizophrene an die Stelle solcher Abwägungen schiere Gleichzeitigkeit. [Er] braucht die verschiedenen Seiten nicht in eine Einheit zusammenzudenken: er liebt die Rose um ihrer Schönheit willen, und haßt sie zugleich wegen der Dornen.48
Während „der Normale“ also negative und positive Aspekte eines Gegenstandes zugunsten einer integrativen Präferenz zu synthetisieren vermag (bzw. diesen Vorgang vollziehen muss, um handlungsfähig zu bleiben), bestehen für den an Schizophrenie erkrankten Menschen zwei an sich widersprüchliche emotionale Zustände gleichzeitig.49 „‚Ambivalenz‘“, so Bleulers Definition, „bezeichnet zunächst eine doppelte Wertung, die naturgemäß eine gegensätzliche ist. Die Wertung kann eine affektive oder eine intellektuelle sein, d.h. eine Idee oder ein Gegenstand kann mit positiven oder mit negativen Gefühlen betont, oder kann positiv oder negativ gedacht werden.“50 Mit dem Konzept der Ambivalenz wird der Schwerpunkt der Deutungskategorie also verlagert, zum einen auf den Aspekt der (widersprüchlichen) Wertung, zum anderen auf die intellektuelle und emotionale Reaktion des Subjekts. Anders als in den vorherigen Definitionen taucht zudem die zeitliche Komponente hier als strenge Gleichzeitigkeit auf, die zu einer notwendigen Bedingung für ein Zustandekommen von Ambivalenz überhaupt wird. Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, übernimmt von Bleuler den „trefflichen Ausdruck“51 der Ambivalenz und entwickelt ihn im Kontext seiner Studien zur Entwicklung von Neurosen weiter. In seiner (höchst umstrittenen) Schrift Totem und Tabu von 1913 erhebt Freud die Ambivalenz zu einem Zentralbegriff der Individual- wie Völkerpsychologie. Dabei legt er sei-
48 B LEULER, EUGEN, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Mit einem Vorwort von Manfred Bleuler, Nachdruck der Ausgabe Leipzig/Wien: Deuticke 1911, Tübingen: diskord 1988, 110. 49 Bleuler merkt jedoch bereits an: „Allerdings unterbleibt auch unter normalen Verhältnissen die Synthese nicht zu selten.“ (a.a.O., 305). Eine Verteidigung ebenjener Ambivalenzreaktionen und damit eine Analyse des Schizophrenen als abendländisch-bürgerliches Phänomen haben in den 1970er Jahren aus poststrukturalistischer Perspektive Gilles Deleuze und Félix Guattari vorgelegt, vgl. DELEUZE, GILLES/GUATTARI, FÉLIX, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. 50 Bleuler fährt fort: „Affektive und intellektuelle Ambivalenz sind also zwei sehr verschiedene Dinge. Sie haben aber so viele Berührungen miteinander und gehen so ineinander über, daß es mir besser schien, aus beiden einen Begriff zu machen mit zwei Unterabteilungen“, Bleuler, Ambivalenz, zitiert nach BAUER, Ambiguity and Ambivalence, 142, Fn. 3. 51 FREUD, SIGMUND, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, Ditzingen: Reclam 2016, 48, Fn. 1.
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nen Ausführungen eine Parallelität der Verhaltensweisen sogenannter ‚primitiver Völker‘ mit frühen Entwicklungsstadien des Kindes zugrunde.52 Dementsprechend besteht Freuds Anliegen in Totem und Tabu darin, die Einsichten der Psychoanalyse, die am Individuum gewonnen wurden, nun auf die Psychologie der Völker anzuwenden. Seine grundlegende These besagt dabei, dass die Etablierung sogenannter ‚Tabus‘ in der Sozialorganisation ‚primitiver‘ Gemeinschaften dieselbe Wurzel hat wie die Entwicklung der Zwangsneurose beim Individuum: Beide beruhen auf einem tieferliegenden „Ambivalenzkonflikt“53. Ambivalenz wird dabei verstanden als Doppelqualität eines „Verhalten[s] des Individuums gegen das eine Objekt, vielmehr die eine Handlung an ihm“54. Bei dem „Objekt“ handelt es sich in der Regel um nahestehende Bezugspersonen (etwa Eltern oder Geschwister), bei der Handlung etwa um die sexuelle Berührung ebendieser: Es [das Individuum] will diese Handlung – die Berührung – immer wieder ausführen, es sieht in ihr den höchsten Genuß, aber es darf sie nicht ausführen, es verabscheut sie auch. Der Gegensatz der beiden Strömungen ist auf kurzem Wege nicht ausgleichbar, weil sie – wir können nur sagen – im Seelenleben so lokalisiert sind, daß sie nicht zusammenstoßen können. Das Verbot wird laut bewußt, die fortdauernde Berührungslust ist unbewußt, die Person weiß nichts von ihr. Bestünde dieses psychologische Moment nicht, so könnte eine Ambivalenz weder sich so lange erhalten, noch könnte sie zu solchen Folgeerscheinungen führen.55
Ambivalenz bedeutet hier also das Vorhandensein zweier gegensätzlicher „Gefühlsregungen“56 – die eine positiv, die andere negativ, hier Genuss und dort Verbot – gegenüber einer Handlung. Neu an Freuds Ambivalenzbegriff (gegenüber Bleuler) ist die Verbindung des Ambivalenten mit der Konzeption des Unbewussten, die dann auch die „Folgeerscheinungen“ der Ambivalenz begründet: So wird im Falle eines Ambivalenzkonflikts nicht selten die positive Regung (der Wille zur sexuellen Berührung, in anderen Fällen der Wunsch des Todes naher Angehöriger, etc.) ins Unbewusste verdrängt, während die negative Regung als Verbot dem Individuum kognitiv zugänglich ist. Das verdrängte Unbewusste führt zu Neurosen, wie etwa der Zwangsstörung, bzw. der Etablierung von Tabus, mit deren Hilfe die unterdrückten Anteile anderweitig
52 „Von allem Anfang an hat die psychoanalytische Forschung auf Ähnlichkeiten und Analogien ihrer Ergebnisse am Seelenleben des Einzelwesens mit solchen der Völkerpsychologie hingewiesen.“ A.a.O., 7. Zur „Parallele der ontogenetischen und der phylogenetischen Entwicklung des Seelenlebens“ siehe a.a.O., 9. 53 Etwa a.a.O., 95. 54 A.a.O., 47f. 55 A.a.O., 48. 56 A.a.O., 34. 88. An anderer Stelle spricht Freud von „ambivalente[r] Gefühlseinstellung“, a.a.O., 73.
1.3 Kontext III: Psychoanalyse und Psychologie
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ausagiert werden – und somit den Ambivalenzkonflikt indirekt sichtbar werden lassen. Die hier geschilderte Grundstruktur des Ambivalenzkonflikts legt Freud auch den unter den Stichworten ‚Ödipuskomplex‘ und ‚Vatermord‘ bekanntgewordenen Konzeptionen zu (religiösen) Vergesellschaftungsprozessen zugrunde. Beide wurzeln in ambivalenten Gefühlsreaktionen „gegen seine [des Menschen, Anm. Vfin.] einstigen, seither der Verdrängung verfallenen Inzestwünsche.“57 Interessanterweise geht Freud dabei einerseits davon aus, dass die Anlage zur Ambivalenz bei verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt ist, und damit auch die individuelle Wahrscheinlichkeit Neurosen zu entwickeln.58 Gleichzeitig verknüpft er auf der völkerpsychologischen Ebene das Ambivalenztheorem jedoch mit einem Fortschrittsnarrativ: So sieht er die Annahme als zulässig an, […] den Seelenregungen der Primitiven ein höheres Maß von Ambivalenz zuzugestehen, als bei dem heute lebenden Kulturmenschen aufzufinden ist. Mit der Abnahme dieser Ambivalenz schwand auch langsam das Tabu, das Kompromißsymptom des Ambivalenzkonfliktes.59
Freuds Ambivalenzbegriff scheint hier zwischen angeborener Anlage (auf der individuellen Ebene) und einer sozialisierbaren Größe (auf völkerpsychologischer Ebene) zu schwanken. Die damit zusammenhängende Fragestellung, inwieweit der Umgang mit Ambivalenzen bzw. Ambiguitäten ein erlernbarer ist, beschäftigt die Psychologie und Pädagogik sowie die Sozial- und Kulturwissenschaften unter dem Stichwort der ‚Ambiguitätstoleranz‘ bis zum heutigen Tag (vgl. Kontexte IV und V). Insgesamt ist der Einfluss Freuds auf die Entwicklung des Ambivalenzbegriffs kaum zu überschätzen: Gegenüber Bleuler hat Freud die Ambivalenz aus der Pathologisierung herausgehoben und zu einem unausweichlichen Bestandteil der Ich-Konstitution erklärt (etwa im Zusammenhang mit Ambivalenzkonflikten im Kindesalter). Darüber hinaus hat Freud das Thema der Ambivalenz in die verschiedensten Bereiche seiner Theoriebildung integriert: von der Traumdeutung, über die Entwicklung der Sprache bis hin zu den Auseinandersetzungen mit Gesellschaftlichkeit und Religion.60 Aus der Bezeichnung für FREUD, a.a.O., 32. A.a.O., 88: „Von solcher Ambivalenz ist bei einem Menschen bald mehr, bald weniger in der Anlage vorgesehen; normalerweise ist es nicht so viel, daß die beschriebenen Zwangsvorwürfe daraus entstehen.“ Kontext ist die Entwicklung von „Zwangsvorwürfen“ im Zusammenhang mit dem Tod naher Angehöriger. 59 A.a.O., 95. Die Neurotikerin und der Neurotiker der Gegenwart haben dementsprechend „eine archaistische Konstitution als atavistischen Rest mit sich gebracht […], deren Kompensation im Dienste der Kulturanforderung sie nun zu so ungeheuerlichem seelischen Aufwand zwingt.“ 60 Vgl. für diesen Absatz BERNDT/K AMMER, Amphibolie – Ambiguität – Ambivalenz, 20. 57 58
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eine fehlende Synthetisierungsleistung im Zusammenhang mit der Schizophrenie ist innerhalb weniger Jahre ein Strukturbegriff der individuellen und sozialen Entwicklung geworden. Einen weiteren Meilenstein der psychoanalytischen Forschung zu Ambivalenz bzw. Ambiguität bildet die österreichisch-amerikanische Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik mit ihrem Begriff der Ambiguitätsintoleranz, der bis heute (allerdings in seiner ‚Positivversion‘ der Ambiguitätstoleranz) sowohl in der Psychologie und Pädagogik wie auch aktuell vermehrt in den Kulturwissenschaften rezipiert wird. Frenkel-Brunswiks Studien erfolgten zu Mitte des letzten Jahrhunderts im Kontext der Persönlichkeitspsychologie, genauer gesagt der Erforschung der Entstehungsbedingungen von Antisemitismus und Totalitarismus im Zusammenhang mit der Sozialstudie zum ‚Autoritären Charakter‘, an der Frenkel-Brunswik im Kreis um Theodor W. Adorno maßgeblich beteiligt war.61 Dabei ging Frenkel-Brunswik – in Folge des Naziregimes selbst zur Exilantin in den USA geworden – von der Beobachtung aus, dass Personen emotionale Ambivalenzen unterschiedlich gut aushalten können und dementsprechend auch auf kognitiver Ebene Ambiguitäten gegenüber verschieden tolerant sind.62 Dabei beschreibt sie die Neigung zu Ambiguitätsintoleranz wie folgt: […] a tendency to resort to black-white solution, to arrive at premature closure as to valuative aspects, often at the neglect of reality, and to seek for unqualified and unambiguous over-all acceptance and rejection of other people.63
Ambiguitätsintolerante Menschen neigen, so die Ergebnisse von FrenkelBrunswiks Studie, zu Schwarz-Weiß-Lösungen, zu einer vorschnellen Urteilsbildung, die die Komplexität der Realität vernachlässigt, und zu einer restlosen Akzeptanz oder Verwerfung anderer Menschen. Sie fühlen sich durch widerstreitende, ambivalente Gefühle stark verunsichert bzw. können mit der ausgelösten Verunsicherung und dem Nicht-weiter-Wissen schlecht umgehen. Aus diesem Grund suchen sie eher als ambiguitätstolerante Menschen nach eindeutigen Lösungen, wie sie etwa totalitäre Systeme anbieten. Frenkel-Brunswik geht dabei davon aus, dass Ambiguitäts(in)toleranz eine Grundvariable der Vgl. ADORNO, THEODOR W. u.a., The Authoritarian Personality, New York: Harper 1950, insbesondere 461–464; vgl. auch BAUER, Kultur der Ambiguität, 36f. 62 Vgl. FRENKEL-B RUNSWIK, ELSE, Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable, in: Journal of Personality 18 (1949), 108–143, hier 115: „The background of the problem of ambiguity thus becomes related to the vast fund of knowledge supplied by psychoanalysis in connection with the development of the concept of ‚ambivalence‘ as defined by the coexistence, in the same individual, of love- and of hatecathexis toward the same object. The existence of ambivalence in a person and the further fact of this person’s ability to face his or her ambivalences toward others must be considered as an important personality variable.“ Vgl. auch BAUER, Kultur der Ambiguität, 36. 63 FRENKEL-B RUNSWIK, Intolerance of Ambiguity, 115. 61
1.3 Kontext III: Psychoanalyse und Psychologie
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Persönlichkeit darstellt, die in Folge u.a. die Einstellung zu Totalitarismus, Rassismus usw. signifikant mitbestimmt.64 Frenkel-Brunswik unterscheidet in ihrer Konzeption also zwischen zwei Ebenen: emotionalen Ambivalenzen, die in der Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Emotionen gegenüber Personen und Objekten bestehen und einen normalen Teil des Gefühlslebens darstellen, und der (emotional-kognitiven) Fähigkeit, diese Ambivalenzen zu ertragen, welche die eigentliche (In-)Toleranz gegenüber Ambiguität darstellt. Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Ambiguität und Eindeutigkeit ist dabei zu bemerken, dass bei Frenkel-Brunswik eine Korrelation hergestellt wird, die auch heutige Debatten um Ambiguitätstoleranz maßgeblich prägt: nämlich der Zusammenhang zwischen Ambiguitäten und dem Empfinden von Unsicherheit auf der einen und gefährlichen Formen von Eindeutigkeit, also etwa Rassismus, Totalitarismus usw. auf der anderen Seite. Mit der positiven Konnotation von Ambiguitätstoleranz geht zugleich eine negative Wertung von Vereindeutigung oder Eindeutigkeit einher. Die aktuelle individual- oder handlungspsychologische Ambiguitätsforschung, die Frenkel-Brunswiks Konzept aufgenommen und insbesondere in quantitativen neurowissenschaftlich ausgerichteten Studien weiter erforscht hat, macht den Umgang mit ungewissen Situationen und die daraus resultierende Unsicherheit schließlich selbst zum Ausgangspunkt ihrer Fragestellung. Ambiguität wird hier – etwa in Abgrenzung zum Risiko – als eine bestimmte Form von Unsicherheit definiert, die ohne das Wissen um Wahrscheinlichkeiten operiert; Ambiguitätstoleranz wiederum als stabiles, empirisch messbares Persönlichkeitsmerkmal aufgefasst, mit dieser Form der Unsicherheit umzugehen. Während also in den frühen psychoanalytischen Forschungen zu Ambivalenz/Ambiguität der Aspekt der Unsicherheit noch gänzlich nebensächlich ist, bestimmt er in der gegenwärtigen Forschung entscheidend den Diskurs: Ambiguität wird hier gleichgesetzt mit Unsicherheit.65 Damit hat sich der Begriff von Ambivalenz/Ambiguität, wie er in der heutigen Psychologie anzutreffen ist, weit von den Kontexten der Sprachwissenschaft oder Philosophie entfernt – wenngleich der lateinische Wortsinn des Zweifels und des Schwankens sich auch hier durchaus widerspiegelt. Gleichwohl ist der psychologische Begriff auch deshalb für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung, weil bestimmte Aspekte von hier aus Eingang in die Pädagogik sowie die kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung gefunden haben und insgesamt eine große Wirkmächtigkeit entfaltet haben. Dies gilt etwa für die starke Fokussierung auf eine dichotome Wertung (und damit die Vgl. BAUER, Die Kultur der Ambiguität, 36. Vgl. etwa die Forschungen der amerikanischen Psychologen FELDMANHALL, ORIEL/ VIVES, MARC-LUÍS, Tolerance to ambiguous uncertainty predicts presocial behavior, in: Nature Communications, Volume 9, Article number 2156 (2018), https://www.nature.com/art icles/s41467-018-04631-9 (Zugriff am 3.3.2020). 64 65
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Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
Betonung zweier Elemente) innerhalb der Ambiguität/Ambivalenz;66 weiterhin für die Verlagerung auf das Gefühlsleben der Subjekte und damit die – nicht immer eingehaltene, aber immer wieder geforderte – Unterscheidung zwischen Ambivalenz als Reaktion und Ambiguität als Stimulus/Veranlassung,67 das Konzept der Ambiguitäts(in)toleranz und schließlich die Haltung gegenüber Eindeutigkeit als einem Gegenbegriff zu Ambivalenz/Ambiguität. Für die vorliegende Arbeit sind die hier gesammelten Beobachtungen für die Koordinaten der Bewertung, Verortung und des Umgangs mit Ambiguität zu notieren und erweitern damit den bereits ausgeloteten Möglichkeitsraum der begrifflichen Bestimmung. Der Rezeption und Neujustierung der bisher genannten Aspekte in den Kontexten von Erziehungswissenschaft und Pädagogik sowie Sozialund Kulturwissenschaften wird nun abschließend nachgegangen.
1.4 Kontext IV: Erziehungswissenschaften und Pädagogik 1.4 Kontext IV: Erziehungswissenschaften und Pädagogik
Das Konzept der Ambiguitätstoleranz, wie es im Umkreis zu Theodor W. Adornos Studien zum autoritären Charakter68 von Else Frenkel-Brunswik entwickelt wurde, hat neben der Psychologie und Soziologie auch in den Erziehungswissenschaften und der Pädagogik eine starke Rezeption erfahren.69 66 Der Soziologe Kurt Lüscher schlägt in diesem Zusammenhang und mit der Intention eines „Brückenschlag[s]“ zwischen Psychologie und Sozialwissenschaften vor, von Ambivalenzen als „Differenzerfahrungen“ zu sprechen, „die gegensätzlich, also als Polaritäten und Antagonismen verstanden werden.“ Vgl. LÜSCHER, KURT, Ambivalenzen – Beziehungen – Identitäten. Skizze einer transdisziplinären Heuristik, in: Berhard Groß u.a. (Hg.), in: Ambige Verhältnisse, 129–155, hier 134f. 67 Vgl. dazu die Anmerkung in der Einleitung des jüngst erschienenen Sammelbandes Ambige Verhältnisse, die folgendermaßen differenziert: „Insofern als sich der Begriff der Ambiguität auf Wahrgenommenes bezieht, ist er zu unterscheiden vom Begriff der Ambivalenz, der, als aus der Psychologie stammender Terminus, eine Uneindeutigkeit auf der Seite des Wahrnehmenden meint.“ Gleichwohl merken die Herausgeberinnen und Herausgeber an, dass beide, Ambiguität und Ambivalenz, durchaus ineinandergreifen, da wahrgenommene Ambiguität nicht selten Ambivalenz im Wahrnehmenden auslöst, vgl. GROß, BERNHARD u.a., Für eine Pragmatik der Ambiguität. Zur Einleitung, in: Dies. (Hg.), Ambige Verhältnisse, 9–12, hier 11. 68 Vgl. A DORNO, THEODOR W., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 112018. 69 Für den Einfluss der kritischen Theorie auf die Pädagogik vgl. PEUKERT, H ELMUT, Kritische Theorie und Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 29/2 (1983), 195–217. Für den Zusammenhang von Ambiguität und Bildungsprozessen vgl. den sehr instruktiven Band von DENGEL, SABINE u.a. (Hg.), Mehrdeutigkeit gestalten. Ambiguität und die Bildung demokratischer Haltungen in Kunst und Pädagogik, Bielefeld: transkript 2021. Darin für die Bedeutung der Kunst vgl. insbesondere SCHNURR, ANSGAR, Die bildende Seite der Ambiguität. Zum ästhetischen und demokratischen Bildungspotential mehrdeutiger Kunsterfahrung, in: a.a.O., 27–53.
1.4 Kontext IV: Erziehungswissenschaften und Pädagogik
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Schon Frenkel-Brunswik hatte in ihren Studien darauf hingewiesen, dass das Umfeld beträchtlichen Einfluss auf das Denken in Stereotypen (gut/schlecht, maskulin/feminin, etc.) habe und dementsprechend die Toleranz gegenüber Ambiguitäten zumindest bis zu einem gewissen Grad von Lernprozessen abhängig sei.70 Dementsprechend ist es naheliegend, dass das Konzept der Ambiguitätstoleranz in der Folge auch in pädagogische Kontexte Einzug erhält – und das insbesondere in Zusammenhang mit der Forschung zu Identitätsbildungsprozessen. Beispielhaft herangezogen sei in diesem Zusammenhang die Theorie der Identitätsbildung des Soziologen und Pädagogen Lothar Krappmann, der Frenkel-Brunswiks Konzept explizit rezipiert:71 Krappmann versteht – in (abgrenzender) Rezeption des auf Einheit und Kontinuität ausgerichteten Stufenmodells der psychosozialen Entwicklung von Erik Erikson sowie in Aufnahme der Subjekttheorie von George Herbert Mead – die Herausbildung individueller Identität im Jugendlichen- und jungen Erwachsenenalter als eine ständige Synthetisierungsaufgabe konflikthafter Identifikationen. Der oder die Heranwachsende, im eigenen Selbstbild bisher vor allem durch die Prägung bestimmt, Kind zu sein, tritt im Laufe der Adoleszenz mehr und mehr aus dieser Prägung heraus und beteiligt sich an verschiedenen Interaktionssystemen, wie etwa Schule, Universität, Peer-Group etc.72 Dort wird der oder die Jugendliche mit verschiedenen Erwartungen und Rollenzuschreibungen konfrontiert. Das Bild, das der oder die Jugendliche im Verlauf dieser Interaktionen von sich zurückgespiegelt bekommt, ist differenziert, eventuell gar in sich widersprüchlich, und muss synthetisiert werden, bevor es eine orientierungsgebende Funktion übernehmen kann. Das jeweilige Individuum muss also lernen, die verschiedenen Rollenbilder, Erwartungen, Zuschreibungen und Bedürfnisse seiner selbst und der Umwelt auszuhalten und produktiv mit ihnen umzugehen. Krappmann prägt in diesem Zusammenhang für das „Resultat der Anstrengungen, Unklarheiten, Unstimmigkeiten und Widersprüche zu bearbeiten“73 den 70 So etwa FRENKEL-B RUNSWIK, Intolerance of Ambiguity, 117. Genau dieser Aspekt der sozialen Beziehungen wird bereits in den 1960er Jahren von den amerikanischen Soziologen Robert K. Merton und Elinor Barber ausdrücklich betont, vgl. MERTON, ROBERT K./BARBER, ELINOR, Sociological Ambivalence and Other Essays, New York: Free Press 1963. 71 Vgl. K RAPPMANN, LOTHAR, Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart: Klett-Cotta 1969, besonders 152–155; DERS., Die Identitätsproblematik nach Erikson aus einer interaktionistischen Sicht, in: Heiner Keupp/Renate Höfer (Hg.), Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, 66–92. 72 Vgl. auch A BELS, H EINZ, Identität. Über die Entstehung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leicht zu verwirklichenden Anspruch auf Individualität und die Tatsache, dass Identität in Zeiten der Individualisierung von der Hand in den Mund lebt, Wiesbaden: Springer 2010, 444–448. 73 K RAPPMANN, Soziologische Dimensionen, 81.
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Begriff der „balancierende[n] Identität“74, einer Identität also, die zwischen biographischer Konsistenz und Kontinuität und gesellschaftlichen Rollenerwartungen sich ständig ausbalancieren muss. Um eine Identität derart balancieren zu können, hält Krappmann – neben Rollendistanz und Empathie – auch Ambiguitätstoleranz für eine entscheidende Kompetenz: Ein Individuum, das Ich-Identität behaupten will, muß auch widersprüchliche Rollenbeteiligungen und einander widerstrebende Motivationsstrukturen interpretierend nebeneinander dulden. Die Fähigkeit, dies bei sich und bei anderen, mit denen Interaktionsbeziehungen unterhalten werden, zu ertragen, ist Ambiguitätstoleranz. Sie eröffnet dem Individuum Möglichkeiten zur Interaktion und zur Artikulation einer Ich-Identität in ihr. Aber gleichzeitig ist die Ambiguitätstoleranz auch wieder eine Folge gelungener Behauptung der Ich-Identität, weil sie dem Individuum die Erfahrung vermittelt, auch in sehr widersprüchlichen Situationen die Balance zwischen den verschiedenen Normen und Motiven halten zu können, und dadurch Ängste mindert.75
Ambiguitätstoleranz wird hier von Krappmann als Voraussetzung und Folge erfolgreich verlaufender Identitätsbildungsprozesse definiert. Voraussetzung deshalb, weil sie dem Individuum ermöglicht, mit verschiedenen Rollenerwartungen, Handlungsmotiven und Normen differenziert und „interpretierend“, also diese für sich deutend, umzugehen. Folge deshalb, weil ein balanciertes Ich zu einem souveränen Umgang mit widersprüchlichen Situationen fähig ist und damit Ambiguitätstoleranz ausübt. Das ‚Scheitern‘ von Identitätsbildung durch mangelnde Ambiguitätstoleranz schildert Krappmann auf zweifache Weise: Das Individuum vermeidet Ambiguität entweder durch die Unterdrückung eigener Bedürfnisse, um den Erwartungen anderer zu entsprechen; oder es versucht die bestehenden Ambiguitäten durch die Vereindeutigung auf eine Option einseitig fixiert und vereinfacht darzustellen. Während die erste Vermeidungsstrategie der Verdrängung laut Krappmann das Individuum für Neurosen im Freud’schen Sinne anfällig mache (vgl. Kontext III), ist die zweite Strategie der Vereindeutigung im Sinne Frenkel-Brunswiks gerade für den Umgang autoritärer Persönlichkeiten mit Ambiguitäten typisch.76 Krappmann selbst betont, dass die Ausbildung und Förderung von Ambiguitätstoleranz umso zentraler ist, je weniger überlieferte Rollenbilder vorhanden sind, beziehungsweise je weniger repressiv diese auftreten. In Gesellschaften, auf die diese Entwicklung zutrifft, wird das Individuum mit zahlreichen Deutungen, Entwürfen, Rollen, Anfragen und Erwartungen an die eigene Person konfrontiert und muss sich innerhalb dieser zurechtfinden.77 So ist es durchaus naheliegend, dass das Konzept der Ambiguitätstoleranz im FolA.a.O., 70. KRAPPMANN, Soziologische Dimensionen, 155. 76 Vgl. a.a.O. 156f. 77 Vgl. a.a.O. 155. 74 75
1.5 Kontext V: Sozial- und Kulturwissenschaften
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genden gerade in solchen Kontexten rezipiert wird, die mit den höchst diversen und komplexen Elementen verschiedenster Identitätsbildungsprozesse befasst sind, so etwa die interkulturelle und interreligiöse Pädagogik, die inklusive Pädagogik, die gendersensible Pädagogik oder die Bildung von Demokratiekompetenz, um nur einige Beispiele zu nennen.78 Für die Sammlung von Koordinaten und damit die Präzisierung des Ambiguitätsbegriffs können damit aus dem Kontext der Pädagogik folgende Beobachtungen ergänzt werden: Das Konzept der Ambiguitätstoleranz wird – nun in seiner Positivversion – im Zuge soziologischer Analysen über die Dimension der Persönlichkeit hinaus ausgeweitet auf soziale Strukturen, die die Genese von Ambiguitätstoleranz entweder fördern oder einschränken. Damit rückt Ambiguitätstoleranz als eine zumindest teilweise erlernbare Kompetenz in den Blick, die der Förderung in Bildungsprozessen bedarf. Im Zuge dessen wird unter Ambiguitätstoleranz – anders akzentuiert als noch bei FrenkelBrunswik – der souveräne Umgang mit widersprüchlichen Deutungen bzw. Erwartungen bezüglich der eigenen Identität verstanden. Insbesondere für den Kontext demokratischer, pluralistischer Gesellschaften schiebt sich damit Frage eines Umgangs mit Ambiguitäten im Sinne widersprüchlicher Deutungen in den Vordergrund. Dieser Verschiebung kommt insbesondere im Kontext der Sozial- und Kulturwissenschaften eine besondere Bedeutung zu.
1.5 Kontext V: Sozial- und Kulturwissenschaften 1.5 Kontext V: Sozial- und Kulturwissenschaften
Als vermutlich einflussreichster Beitrag im Bereich der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungen zum Thema Ambiguität bzw. Ambivalenz sind die Studien des polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman anzusehen,
Vgl. für weiterführende Literatur etwa REIS, JACK, Ambiguitätstoleranz. Beiträge zur Entwicklung eines Persönlichkeitskonstruktes. Heidelberg: Asanger 1997; GRUNDMANN, HILMAR, Ambiguitätstoleranz. Zu einem neuen Schlüsselbegriff in der pädagogischen Diskussion, in: Erziehungswissenschaften und Beruf 42 (1994), 3–12; HARZ, FRIEDER, Interreligiöse Erziehung und Bildung in Kitas, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 137f.; KAMMEYER, KATHARINA, Inklusive Wege des Umgangs mit Heterogenität im Religionsunterricht. Wahrnehmungen von Religionslehrerinnen und -lehrern, bildungstheoretische Reflexionen und Herausforderungen für das Studium, in: Ilona Nord (Hg.), Inklusion im Studium Evangelische Theologie, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015, 197–225, hier 225; WATZLAWIK, MEIKE, Was, wenn nicht alles so eindeutig ist, wie wir denken? Erfahrungen LSBT-Jugendlicher in der Schule und das Konzept der Ambiguitätstoleranz, in: Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 12/2 (2017), 161–175; KIEHL, CAROLIN/SCHNERCH, BARBARA, Demokratiekompetenzen auf dem Prüfstand – Schule als Erfahrungsraum für Mündigkeit und Ambiguitätstoleranz, in: Wissen schafft Demokratie 3 (2018), 111–120. Aus Perspektive der Soziologie vgl. JEKELI, INA, Ambivalenz und Ambiguitätstoleranz. Soziologie an der Schnittstelle von Psyche und Sozialität, Osnabrück: Der Andere Verlag 2002. 78
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Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
der im Zuge seiner Modernetheorie den Begriff der Ambivalenz zu einem Zentralbegriff seiner Analysen erhebt. Bauman diagnostiziert der Epoche der Moderne eine grundlegende Abneigung gegenüber Ambivalenzen, die, so seine These, dem Ordnungs- und Klassifikationsbedürfnis der Moderne grundsätzlich zuwiderlaufen – und gerade in und durch Praktiken des Ordnens ständig reproduziert werden. Die Moderne kann nach Bauman als der große Versuch verstanden werden, alle Formen von Ambivalenz auszulöschen und die Wirklichkeit zu vereindeutigen – mit Konsequenzen, die bis zum Genozid reichen (vgl. dazu ausführlich I.2). Bauman rezipiert in seinen Analysen den Ambivalenzbegriff der Psychologie, verwendet ihn allerdings nicht im Sinne einer widersprüchlichen Reaktion, sondern als „die Möglichkeit, einen Gegenstand oder ein Ereignis mehr als nur einer Kategorie zuzuordnen“ und damit als eine „sprachspezifische Unordnung“, die wiederum als „Hauptsymptom“ das „heftige Unbehagen [mit sich bringt], das wir empfinden, wenn wir außerstande sind, die Situation richtig zu lesen und zwischen alternativen Handlungen zu wählen“.79 Baumans Ambivalenzbegriff kombiniert also sprachliche Ambiguität mit psychologischer Ambivalenz und rückt zudem die Ambivalenz nahe an die „Unordnung“, also die Verwirrung oder das Chaos. Ähnlich wie bei der Psychoanalytikerin Frenkel-Brunswik – wenngleich in unterschiedliche Theoriegebäude eingebettet – findet sich bei Bauman ein enger Zusammenhang zwischen der Intoleranz gegenüber Ambivalenzen und Tendenzen wie gesellschaftlicher Ausgrenzung, Rassismus und Totalitarismus. Ambivalenz wird in diesen Entwürfen zu einer Deutungskategorie in der Auseinandersetzung mit den Schrecken des nationalsozialistischen Terrorregimes und insbesondere des Holocausts. Der Begriff erhält damit eine gänzlich neue, positiv konnotierte Funktion, und zwar die der Stabilisierung freiheitlicher Verhältnisse. Ambiguitäten, so ließe sich sagen, ermöglichen Spielräume der Freiheit, dadurch dass sie Unterschiedliches oder gar Gegensätzliches zu integrieren vermögen und damit Räume schaffen für das jeweils Andere.80 Wo immer diese Spielräume vernichtet werden und Vereindeutigung angestrebt BAUMAN, ZYGMUNT, Moderne und Ambivalenz, Hamburg: Junius 1992, 11. Im Zusammenhang von Kunst, Psychoanalyse und Neurowissenschaften findet sich die These von Ambiguität als Freiheitsermöglichung auch bei LUMER, LUDOVICA/OPPENHEIM, LOIS (Hg.), For Want of Ambiguity. Order and Chaos in Art, Psychoanalysis and Neuroscience (Psychoanalytic Horizons), New York u.a.: Bloomsbury Academic 2019. Kunst und Psychoanalyse zeichnen sich durch einen besonderen Umgang mit Ambiguität aus, „[…] in allowing ambiguity to surface and finding the value therein. For art, like psychoanalysis, enables us to look at the world more freely, which is to say without fear of uncertainty, and interact with it in new ways“, 12, Der andere Umgang ist ein spielerischer. „whether in the treatment situation or in the making of viewing of art, bringing order to chaos and surpassing it – through the breaking of behavioral patterns or traditional aesthetic forms – increases agency and personal freedom“, hier 148. 79 80
1.5 Kontext V: Sozial- und Kulturwissenschaften
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wird, leidet dementsprechend auch das freiheitliche Miteinander.81 Ambiguität wird in diesem Zusammenhang eng an soziale Praktiken geknüpft, die Ambiguitäten hervorbringen, aber auch eliminieren können. Gleichzeitig wird die schon bei Frenkel-Brunswik angetroffene Skepsis gegenüber Eindeutigkeiten weiter fortgeschrieben: Praktiken der Vereindeutigung werden per se als eine Gefahr interpretiert, die potenziell zum Genozid führen kann. Andere, wertneutrale oder gar positive Formen von Vereindeutigung und Eindeutigkeit hingegen werden in dieser Darstellung ebenso vernachlässigt wie alternative Bestimmungen des Verhältnisses von Moderne und Ambivalenz (für eine ausführliche Betrachtung von Baumans Ansatz vgl. I.2). Das bei Bauman zugrundeliegende Narrativ der (westlichen) Moderne als großer Vereindeutigungsbewegung findet sich aktuell auch bei dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer wieder.82 In dessen 2011 veröffentlichter Studie Die Kultur der Ambiguität prägt Bauer den Begriff der „kulturellen Ambiguität“, die vorliegt, […] wenn über einen längeren Zeitraum hinweg einem Begriff, einer Handlungsweise oder einem Objekt gleichzeitig zwei gegensätzliche oder mindestens konkurrierende, deutlich voneinander abweichende Bedeutungen zugeordnet sind, wenn eine soziale Gruppe Normen und Sinnzuweisungen für einzelne Lebensbereiche gleichzeitig aus gegensätzlichen oder stark voneinander abweichenden Diskursen bezieht oder wenn gleichzeitig innerhalb einer
81 Dieser engen Verknüpfung von Vereindeutigung und antifreiheitlichen, autoritären oder rechten Bewegungen ist entgegenzuhalten, dass natürlich insbesondere solche Gruppierungen sich gerne der Ambivalenz als rhetorische oder politische Strategie bedienen, vgl. zu letzterer Einsicht jüngst QUENT, MATTHIAS, Ambivalenzen und Rechtsradikalismus, in: Bernhard Groß u.a. (Hg.), Ambige Verhältnisse, 277–291, 283. 82 Vgl. BAUER, Kultur der Ambiguität, 369–375.388–405; D ERS., Vereindeutigung der Welt, 7–14. Dieses „Großnarrativ“ ist aber keineswegs unwidersprochen. Andere, so etwa die Herausgeberinnen und Herausgeber des Sammelbandes Ambige Verhältnisse sprechen „[i]nsbesondere in den westlichen Gesellschaften, möglicherweise aber auch im globalen Maßstab“ von „einer Zunahme von Ambiguität […] als Ergebnis von Pluralisierung von Lebensformen, Werthaltungen und Identitätskonzepten, die durch die Lockerung und Dynamisierung von Sozialstrukturen, Geschlechterordnungen und individuellen Biografien eingetreten ist, als Folge der Vielfalt von Ethnien, Religionen und Habitusformen, die in globalisierten Gesellschaften miteinander auskommen müssen, oder – auf wiederum anderer Ebene – als Konsequenz jener ‚Ästhetisierung von Lebenswelten‘, die Rüdiger Bubner vor einem halben Jahrhundert diagnostizierte und die im Streit um die Postmoderne ebenso gefeiert wie kritisiert wurde.“ GROß u.a., Für eine Pragmatik der Ambiguität, 9–12, hier 11. Wieder andere sprechen von „gegenläufige[n] Tendenzen“, die gleichzeitig stattfinden: auf der einen Seite die Entgrenzung und Vervielfältigung von Bedeutungszuschreibungen in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen; auf der anderen Seite die Sehnsucht nach Schließungen und Vereindeutigungstendenzen, vgl. DENGEL, SABINE u.a., Einleitung. Zur Ambiguität in Kunst, Gesellschaft und Pädagogik sowie der Suche nach dem Transfer, in: Dies. u.a., Mehrdeutigkeit gestalten, 9–22, hier 9–11.
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Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
Gruppe unterschiedliche Deutungen eines Phänomens akzeptiert werden, wobei keine dieser Deutungen ausschließliche Geltung beanspruchen kann.83
Bauers Begriff ‚kultureller Ambiguität‘ reicht seiner Definition nach also (1) von einer Zweideutigkeit von Begriffen, Handlungsweisen und Objekten, über (2) die Gleichwertigkeit verschiedener Normen oder Sinnansprüche hin zu (3) der Vieldeutigkeit eines Phänomens (im Sinne der vielen Deutungen eines Phänomens). Mit Bauers Begriff, so scheint es, lassen sich also ebenso viele wie völlig verschiedene Sachverhalte erfassen, die von begrifflichen Bedeutungszweideutigkeiten über komplexe Prozesse der Normen- und Wertebildung bis hin zur Deutungspluralität in spätmodernen Gesellschaften reichen.84 Bauers Begriff vereinigt damit verschiedene Aspekte der bisher diskutierten Ambiguitätskonzepte und ist entsprechend weit angelegt – mit der Folge, dass sein Begriff von Ambiguität selbst mit einer latenten Vagheit einhergeht. In Bauers populärwissenschaftlich orientiertem Folgewerk Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt wird der Bedeutungsspielraum für ‚Ambiguität‘ nochmal erweitert auf „alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden.“85 Ambiguität wird dabei eng mit Begriffen wie Vielfalt, Pluralität und Komplexität zusammengedacht, was zu der Frage führt, wie sich bei Bauer Ambiguität von Pluralität oder Vielfalt überhaupt unterscheiden lässt, beziehungsweise was die geforderte Ambiguitätstoleranz von ‚gewöhnlicher‘ Toleranz gegenüber Pluralität und Andersartigkeit trennt.86 Die Lektüre von Bauer selbst legt nahe, das Unterscheidungskriterium in dem Merkmal der Gleichzeitigkeit zu suchen:87 Während Toleranz dann geboten ist, wenn eine soziale Gruppe in medizinischen Belangen die universitär ausgebildete Schulmedizinerin, eine andere hingegen den schamanischen Heiler konsultiert, ist Ambiguitätstoleranz gefordert, wenn beide Praktiken von einer Gruppe gleichzeitig akzeptiert und auch vollzogen werden.88 Statt einem „Nebeneinander“89, einer „klare[n] Unterscheidung zwischen dem Eigenen
BAUER, Kultur der Ambiguität, 27. Dengel u.a. sprechen in einem solchen Fall von Ambiguität als „komplexe Gleichzeitigkeit mehrerer Deutungsweisen und Ansprüche“, DENGEL, Einleitung, 15. 85 B AUER, Vereindeutigung der Welt, 15. 86 Die vormals individualpsychologisch kontextualisierte Fähigkeit von Ambiguitätstoleranz wird bei Bauer dabei gesamtgesellschaftlich erweitert: als die erlernbare Fähigkeit von Individuen und Gesellschaften, Ambiguität auszuhalten, a.a.O., 20f. 87 „Wichtig ist das gleichzeitige Vorliegen der unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen beziehungsweise Deutungsmuster innerhalb der beschriebenen Gruppe“, BAUER, Kultur der Ambiguität, 27. 88 Vgl. ebd. Bauer spricht hier von einem „Fall konkurrierender Normen“. 89 Ebd. 83 84
1.5 Kontext V: Sozial- und Kulturwissenschaften
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und dem Anderen“90, wie sie die Toleranz nach Bauer voraussetzt, beruht Ambiguität(stoleranz) auf einem anderen Umgang mit der Grenze zwischen Eigenem und Anderem, der allerdings von Bauer an entsprechender Stelle leider nicht expliziert wird. Lediglich weist er darauf hin, dass sich kulturelle Ambiguität darüber definiere, „daß einander widersprechende Normen gleichzeitig gelten können.“91 Die Gleichzeitigkeit wird dabei stets von einer höheren Einheit gehalten, so etwa von einer Person oder einer sozialen Gruppe, welche die widersprüchlichen Deutungen in sich integriert und daraus resultierende Spannungen aushält – wie im Falle der sozialen Gruppe, die Ärztin und Schamane gleichermaßen konsultiert. Mit anderen Worten: Ambiguität scheint bei Bauer immer eine individuelle oder soziale Einheit vorauszusetzen, innerhalb derer sich die gleichzeitig vorhandenen und unterschiedlichen, wenn nicht gar gegensätzlichen Wahrheitsansprüche perspektivieren und pluralisieren lassen. Statt der klaren Unterscheidung von Eigenem und Anderem wie im Falle der Toleranz wäre also im Falle der Ambiguitätstoleranz von einer Konzeption des ‚eigenen Anderen‘ oder des ‚anderen Eigenen‘ zu sprechen. Hier lässt sich allerdings anfragen, ob nicht wirkliche Toleranz ebenso wie Ambiguitätstoleranz gezwungen ist, die klare Unterscheidung zwischen Eigenem und Anderem aufzulösen oder zumindest zu hinterfragen – und dementsprechend Bauers strenge Trennung zwischen beiden Konzepten, Toleranz gegenüber Pluralität auf der einen und Ambiguitätstoleranz auf der anderen Seite, künstlich konstruiert ist. Letztlich scheint es Bauer bei seinem Ambiguitätsbegriff um ein Konzept diskursiver und sozialer Pluralität zu gehen, das auf einem höher gelegten Einheitskonzept beziehungsweise einem gemeinsamen Referenzrahmen (Person, soziale Gruppe, Gesellschaft) beruht. Bauer verknüpft seine Konzeption von Ambiguität nun mit der Diagnose, dass die westliche Spätmoderne eine geringe Ambiguitätstoleranz aufweise. Anders als bei Bauman steht hier damit keine sozio-historische Auseinandersetzung (wie Baumans Analysen zum Holocaust) im Vordergrund, sondern ein gegenwartsdiagnostisches Anliegen. Im Zentrum steht dabei die These, dass die Fähigkeit zur Ambiguitätstoleranz in der Gegenwart im Schwinden begriffen ist und auf allen Gebieten – von TV-Programm über kulturelle Angebote bis hin zu Religion und politischer Kultur – dramatische Folgen nach sich zieht. Die persönlichkeitsspezifische Variable von Frenkel-Brunswik ist hier also zu einem pauschalen Merkmal einer ganzen Epoche bzw. Zivilisation geworden, verbunden mit einer klaren normativen Positionierung, nämlich, dass die Förderung von Ambiguitätstoleranz für das Fortbestehen der europäisch-westlichen Zivilisation unerlässlich ist (vgl. ausführlicher I.3).
A.a.O., 29. Toleranz beruht damit nach Bauer auf Eindeutigkeit im Sinne der klaren Trennung zwischen Eigenem und Anderem. 91 Ebd. 90
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Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
Welche Koordinaten lassen sich nun abschließend aus der kontextuellen Sichtung der Sozial- und Kulturwissenschaften gewinnen? Ambiguität, so ließe sich als Zwischenbilanz zusammenfassen, wird hier zu einer soziologischen Erschließungskategorie für gesellschaftliche Entwicklungen ausgearbeitet. Damit erhält sie eine spezifisch theoretische Funktion, die oft normativ aufgeladen ist (etwa bei Bauman durch die Verbindung zum Freiheitsbegriff). In Baumans Ambivalenzbegriff fließen dabei die sprachliche und psychologische Ebene ineinander und der Begriff rückt insgesamt in die Nähe von Unordnung und Chaos. Bei Bauer hingegen wird Ambiguität selbst als ein mehrdeutiger und vielseitig einsetzbarer Metaterminus für verschiedene Formen von Uneindeutigkeit verwendet. Der Fokus liegt hier auf der Benennung diskursiver und sozialer Pluralität, die Wahrheitsansprüche zwar suspendieren, aber nicht auflösen will. Bei beiden Denkern wird die Produktion von Ambiguitäten an soziale Praktiken geknüpft, die Ambiguitäten überhaupt erst hervorbringen, aber auch zu eliminieren suchen können. Stärker noch als in anderen Kontexten wird dabei die Dichotomie zwischen Ambivalenz/Ambiguität und Eindeutigkeit hervorgehoben, sowie – und hier liegt der größte Unterschied zum psychologischen Kontext – die Fähigkeit zum Ertragen von Ambiguität als eine erlernbare definiert. Als Koordinatenbeitrag zur bisherigen Sammlung muss also vor allem die Frage nach der Funktion von Ambiguität in einer Theoriebildung notiert werden. Darüber hinaus kommt mit der Dichotomie noch einmal die Frage der Bewertung von Ambiguität/Ambivalenz respektive der Haltung zu Eindeutigkeit in den Fokus; mit der Erlernbarkeit die Thematik des Umgangs mit Ambivalenz/Ambiguität. Schließlich sind soziale Praktiken als ein weiterer Ort der Produktion von Ambiguitäten zu verzeichnen.
1.6 Ertrag: Ambiguität. Koordinaten für eine Analyse 1.6 Ertrag: Ambiguität. Koordinaten für eine Analyse
Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit sind Begriffe, die sich ebenso wie das Konzept der Ambiguitätstoleranz aktuell einer enormen Popularität über die inneren und äußeren Grenzen der Wissenschaftswelt hinaus erfreuen. Die inflationäre Verwendung in verschiedenen thematischen Konstellationen birgt jedoch ebenso wie der Transfer zwischen verschiedenen Wissenschaftskontexten für die Kategorie des Ambigen die Gefahr, an analytischer Kraft zu verlieren, zu einer vagen Chiffre oder, schlimmstenfalls, einer bedeutungslosen Worthülse zu werden. Zugleich leiden die interdisziplinäre Kommunikation und die Produktivität der gemeinsamen Forschung gerade dann, wenn alle meinen, über dasselbe zu sprechen und es dabei gerade nicht tun. Insbesondere interdisziplinäre Begriffe bedürfen also einer fortwährenden Klärung und Schärfung, um nicht an Produktivität einzubüßen. Zu einer solchen Klärung des Begriffs beizutragen, ist das Anliegen der folgenden Zusammenstellung von Koordinaten für eine Analyse von Ambiguität.
1.6 Ertrag: Ambiguität. Koordinaten für eine Analyse
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Dabei kommt die begriffliche Aufklärung um eine grundsätzliche Spannung nicht umhin: dass mittels klarer, intersubjektiv nachvollziehbarer und somit in gewisser Weise ‚eindeutiger‘ Distinktionen und Fixierungen des Begriffs solche Gegenstände beschrieben und erfasst werden sollen, die selbst über diese Charakteristika eben gerade nicht verfügen, sondern sich dadurch auszeichnen, schillernd, schwankend, gegebenenfalls schwer greifbar, kurz: gerade nicht eindeutig zu sein. Diese Grundspannung trifft selbstverständlich nicht auf alle ambigen Gegenstände gleichermaßen zu; so lassen sich etwa begrenzte, bestimmbare Ambiguitäten (vgl. im Folgenden die Koordinate Bezeichnung) leichter greifen als solche, die sich durch genuine Unbestimmtheit oder Unbestimmbarkeit auszeichnen. Gleichwohl liegt eine „grundsätzliche[] Paradoxie“ darin, „dem thematisch Vieldeutigen, offen Gehaltenen und Unbestimmten mit wissenschaftlicher Klarheit und Trennschärfe zu begegnen”.92 Diese Anmerkung sei der folgenden Koordinatenmatrix vorangestellt. Die sieben hier aufgeführten Koordinaten – Bezeichnung, Entstehung und Lokalisation, Aufbaulogik, Art, Bewertung, Umgangsweise und Funktion – können als ‚Fixpunkte‘ des Ambiguitätsbegriffs verstanden werden, die bei jedem Aufrufen des Begriffs zum Tragen kommen. Anders gesagt: Wenn der Begriff der Ambiguität (hier verstanden als Oberbegriff) verwendet wird, um einen Begriff, ein Phänomen oder eine Struktur zu beschreiben, geschieht dies immer, indem eine Bezeichnung, eine Verortung, eine innere Aufbaulogik, eine Bewertung usw. – explizit oder implizit – aktualisiert werden. Für eine Analyse verschiedener Ambiguitätsbegriffe können diese ‚Fixpunkte‘ oder Koordinaten also nacheinander konsultiert werden, um Aufschluss über die Frage zu gewinnen, von welchem Ambiguitätsbegriff gerade die Rede ist. So verbirgt sich hinter jeder Koordinate ein Raum an verschiedenen Möglichkeiten, anhand derer sich verschiedene Ambiguitätsbegriffe unterscheiden lassen. Es ist zum Beispiel in Bezug auf die Koordinate der Aufbaulogik einschlägig, ob sich die Elemente der Ambiguität in einer sich widersprechenden Kontradiktion (Liebe/Hass), einem sich ergänzenden Kontrastverhältnis (Freiheit/Sicherheit) oder einem indifferenten Nebeneinander (etwa mehrerer nicht-widersprüchlicher Positionen zu einer Sache) befinden. Es gilt also verschiedene Typen von Ambiguität anhand der Differenzen, die sich entlang der verschiedenen Koordinaten oder Fixpunkte aufspannen, zu unterscheiden. Das aus den fünf gesichteten Fachkontexten – Sprach- und Literaturwissenschaften, Philosophie, Psychoanalyse und Psychologie, Erziehungswissenschaften und Pädagogik, Sozial- und Kulturwissenschaften – vorläufig gewonnene Netz für eine
92
DENGEL u.a., Einleitung, 17f.
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Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
Analyse von Ambiguität spannt sich damit zwischen den folgenden Koordinaten auf:93 Bezeichnung. In den jeweiligen Kontexten wurden verschiedene Termini aus dem Wortfeld Ambiguität gesichtet, von denen sich heuristisch die folgenden unterscheiden lassen: - Amphibolie (gr. aµjiballein/„um beide Seiten werfen“, „umfassen“): Der Terminus ist in der Regel auf sprachliche Zweideutigkeiten bezogen, heute allerdings kaum noch in Gebrauch. Bei Immanuel Kant bezeichnet er darüber hinaus den transzendentalen Fehlschluss der Verwechslung von Verstandesobjekt und Erscheinung. Auch diese Verwendung hat sich allerdings nicht durchgesetzt. - Ambiguität (lat. ambigere/„etwas nach zwei Seiten hin treiben“, „schwanken“): Aus dem Bereich der antiken Rhetorik stammend, ist dieser Terminus in andere Wissenschaftsdisziplinen ausgewandert und wird aktuell auf (mindestens) drei verschiedene Weisen verwendet: erstens im Sinne von ‚Zweideutigkeit‘ als Bezeichnung einer Binarität; zweitens im Sinne von ‚Mehr-‘ oder ‚Vieldeutigkeit‘ als Bezeichnung einer Pluralität; drittens als Metaterminus für verschiedene Formen von Uneindeutigkeit (einschließlich der beiden ersten Formen sowie Vagheit, Unterbestimmtheit, Unbestimmtheit, etc.). In den ersten beiden Varianten begegnet der Begriff also als Bezeichnung von begrenzter, bestimmbarer Mehrdeutigkeit; im dritten Fall auch als Beschreibung von Unterbestimmtheit oder Unbestimmbarkeit. In der Regel bezieht sich Ambiguität auf die Bedeutungsebene einer Sache, eines Phänomens oder einer Struktur; sie kann damit zu einem Stimulus oder einer Veranlassung für eine ambivalente Reaktion werden. - Ambivalenz (lat. ambo/„beide“ und valere/„gelten“): Aus dem Kontext der Psychoanalyse stammend, ist dieser Terminus – ebenso wie Ambiguität – heute in allen gesichteten Kontexten zu finden. Er begegnet zumeist als Bestimmung einer in sich widersprüchlichen Binarität, die in der Regel mit starken Wertdimensionen verbunden ist (Liebe = positiv/Hass = negativ) oder sich ganz grundsätzlich durch den Aspekt der Wertdimension im Sinne einer ‚Zweiwertigkeit‘ oder ‚Gleichwertigkeit‘ auszeichnet. Oft wird der Terminus – aufgrund seiner Herkunft – zur Bezeichnung einer kognitivemotionalen Reaktion des Subjekts verwendet (im Gegenüber etwa zur Bezeichnung einer ontologischen Struktur oder von Ambiguität als Stimulus/Veranlassung einer ambivalenten Reaktion). - Zweideutigkeit: Ursprünglich als deutsche Übersetzung des lat. aequivocus verwendet, taucht der Begriff seit dem 17. Jahrhundert im Kontext sprachlicher Ambiguität auf, wird jedoch bald auch in der Philosophie etabliert 93 Ein Raster verschiedener Typen und Modi von Ambiguität für den Bereich der ästhetischen Analyse findet sich auch bei KRIEGER, Modi ästhetischer Ambiguität, 62–64.
1.6 Ertrag: Ambiguität. Koordinaten für eine Analyse
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und zur gängigen Übersetzung der englischen oder französischen Termini ‚ambiguity‘ oder ‚ambiguïté‘. Allerdings wird im Deutschen allein durch die Bezeichnung die binäre Aufbaulogik besonders betont, was die synonyme Verwendung von ‚Ambiguität‘ (evtl. auch Mehr-/Vieldeutigkeit oder Metaterminus) und ‚Zweideutigkeit‘ problematisch macht. - Mehr-/Vieldeutigkeit: Als deutsche Entsprechung zur zweiten Verwendungsweise von ‚Ambiguität‘ findet sich hier der explizite Verweis auf eine Pluralität an Bedeutungen. In diesem Sinne wird der Terminus etwa bei Friedrich Nietzsche für die Vielzahl möglicher Deutungen der Wirklichkeit verwendet. Wie die Analyse der Kontexte zeigte, werden die hier aufgestellten typologischen Unterscheidungen immer wieder unterlaufen, so etwa bei Zygmunt Bauman, der den Ambivalenzbegriff verwendet, um damit ein sprachliches Problem begleitet von psychologischen Symptomen zu beschreiben, für das der Ambiguitätsbegriff dieser Typologie entsprechend näher läge. Gleiches gilt umgekehrt auch für manche Verwendungsweisen von ‚Ambiguität‘ in der Psychologie, die mit Blick auf die Fokussierung der emotional-reaktiven Ebene des Subjekts eigentlich eher an den Ambivalenzbegriff denken lassen. In Analysen von Ambiguität gilt es also aufmerksam zu beobachten, aus welchen Gründen und vor allem mit welchen mitgeführten Implikationen eine bestimmte Bezeichnung verwendet wird. Entstehung und Lokalisation. Die aufgelisteten Bezeichnungen waren in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten (u.a. Sprachwissenschaften, Psychologie, Kulturwissenschaften) aufgetaucht, die jeweils die Entstehung und Verortung von Ambiguität verschieden begründeten. Es lassen sich vorerst vier verschiedene Entstehungszusammenhänge bzw. Verortungen von Ambiguität unterscheiden: - Die Medialität der Sprache: Ambiguität wird hier in der medialen Verfasstheit der Sprache lokalisiert. - Die Struktur des Bewusstseins: Ambiguität wird vorsprachlich in der Struktur des menschlichen Bewusstseins verortet. - Die Reaktion des Subjekts: Ambiguität bzw. Ambivalenz wird als widersprüchliche kognitiv-emotionale Reaktion des Subjekts gedeutet. - Die Struktur der Phänomene: Ambiguität wird im Sinne einer (ontologischen) Struktur der Wirklichkeit aufgefasst. - Die soziale Praxis: Ambiguität wird als Ko-Produkt individueller und sozialer Handlungsvollzüge aufgefasst. Je nachdem, wo Ambiguität lokalisiert wird, hat dies entsprechende Konsequenzen für die Frage nach der Erkennbarkeit sowie der Überwindbarkeit von Ambiguität, die etwa im Falle einer ontologischen Struktur hinfällig wird. Hingegen kann Ambiguität als ein Sonderfall der Sprache ebenso festgestellt wie vermieden werden. Für eine Ambiguität der Erkenntnis stellt sich außerdem
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Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
das Problem, wie eine ambige Wahrnehmung selbst Ambiguität eindeutig wahrnehmen will. Aufbaulogik. Ambiguitäten bündeln stets eine verschieden große Anzahl an Elementen, die von zwei bis hin zu unendlich vielen reichen können (vgl. die Koordinate Bezeichnung). Ambiguitäten sind damit referentielle Gefüge aus zwei oder mehreren Elementen, die gemeinsam auf einen Bezugspunkt verweisen (etwa ein Wort, eine Person, die handelt, ein Phänomen, eine Struktur etc.). Dabei können die einzelnen Elemente in einem unterschiedlichen Verhältnis zueinanderstehen: - Kontradiktion: Die Elemente befinden sich in einem widersprüchlich-konkurrierenden, einander exkludierenden Modus des ‚Entweder-Oder‘. - Kontrast: Die Elemente verbinden sich in einem vermittelnden, einander ergänzenden Modus des ‚Sowohl-als-Auch‘. - Indifferenz: Die Elemente stehen lose und unverbunden, in einem neutralen Verhältnis nebeneinander. Mit den verschiedenen Verhältnisbestimmungen gehen in der Regel entsprechende Beschreibungen (Hin- und Herschwanken, Kippen, Oszillieren, Schimmern, usw.) einher, die bezüglich ihrer Intensität und einer zeitlichen Komponente variieren. Die Wechsel zwischen den Elementen kann also abrupt im Sinne eines Kippens erfolgen oder sanft als ein Hin- und Herschimmern zwischen verschiedenen Bedeutungen. Ebenso können zwei Elemente gleichzeitig vorhanden sein oder aber als zeitliche Abfolge nacheinander auftreten. Darüber hinaus können sich die Elemente in einem symmetrischen oder asymmetrischen Verhältnis zueinander befinden, eine höhere Synthese anstreben oder nicht. Die Koordinate der Aufbaulogik ist somit eng an die Frage geknüpft, ob Ambiguität als ein konflikthafter, schmerzvoller Zustand oder gar Unterdrückungsmechanismus, als eine synthetisierende Integrationsleistung oder als eine neutral empfundene additive Pluralität verstanden wird. Art. Bisher waren verschiedene Arten von Ambiguität aufgetaucht: - Ambiguitäten der Bedeutung: Hier geht es um verschiedene Bedeutungen einer Sache, etwa im Fall der Sprache oder im Bereich sozialer Gesten sowie der Interpretation von Phänomenen, Normen, etc. Dabei kann die Ambiguität – beispielsweise im Fall der Sprache – sowohl in einem Wort selbst begründet sein (‚Schloss‘, ‚Bank‘, ‚Tau‘) oder aber erst durch den Rezeptionsprozess, also durch die Interpretation seitens verschiedener Subjekte, entstehen. - Ambiguitäten der Bewertung: Die Ebene der Bewertung steht hier im Vordergrund, etwa im Fall von widersprüchlichen emotionalen Reaktionen gegenüber einer Person oder einem Objekt.
1.6 Ertrag: Ambiguität. Koordinaten für eine Analyse
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- Ambiguitäten als Zweipoligkeiten: Diese konstituieren sich zwischen zwei Polen, so etwa in der Bestimmung des Menschen zwischen Determination und Freiheit. Es können aber durchaus verschiedene Aspekte miteinander vereinigt auftreten. Die Frage nach der Art der Ambiguität ist damit eng an die Koordinaten der Bezeichnung sowie der Entstehung und Lokalisation gekoppelt. So sind etwa sprachliche Ambiguitäten in der Regel Bedeutungszweideutigkeiten, während psychologische Ambivalenzen in der Regel die Ebene der Bewertung zumindest mitführen. Bewertung. Mit Ambiguitäten als Ganzen geht meist eine negative oder positive Wertung einher, selten eine indifferente Haltung: - Negativbewertung: Hier wird der Störfaktor von Ambiguität hervorgehoben, etwa in der Kommunikation, im psychischen Gleichgewicht, an einer übergeordneten Einheits- oder Wahrheitsvorstellung usw. Ambiguitäten erscheinen hier als defizitäre Mangelzustände; oft werden sie mit dem Ideal von Eindeutigkeit oder Einheit kontrastiert. - Positivbewertung: Die Integrationsleistung von Ambiguitäten wird betont, etwa als Vermittlungsstrategie für widersprüchliche, komplexe Situationen, als Spielraum für Freiheit, Andersartigkeit, Vielfalt, aber auch als Provokation, positive Irritation, etc. - Indifferente Haltung: Ambiguitäten werden deskriptiv im Sinne einer Zustandsbeschreibung festgestellt; mit ihnen wird keine positiv oder negativ konnotierte Funktion verbunden. Auch die Elemente als Einzelne können mit einer Wertdimension verbunden sein, so etwa im Falle der psychologischen Ambivalenz, die stets eine positiv (‚Genuss‘) und eine negativ konnotierte (‚Verbot‘) Reaktion bezeichnet. Mit der Bewertung von Ambiguität geht – zumindest implizit – in der Regel eine gegenläufige Bewertung bzw. Haltung gegenüber Eindeutigkeit einher. Umgangsweise. Je nachdem, wo Ambiguitäten verortet werden, wird davon ausgegangen, dass sie vermeidbar, eliminierbar oder eben unhintergehbar sind; je nachdem, wie Ambiguitäten bewertet werden, wird gefordert, dass sie begrüßt, hingenommen oder aufgelöst werden sollen. Verschiedene Umgangsweisen mit Ambiguität wurden bisher thematisiert: - Vereindeutigung: Eine Seite der Ambiguität wird zu der allein gültigen erklärt. - Synthetisierung: Die Ambiguität wird auf höherer Ebene überwunden, wobei die einzelnen Elemente eventuell erhalten bleiben. - Akzeptanz: Das gelassene Aushalten von Ambiguitäten. - Indifferenz: Die Gleichgültigkeit gegenüber Ambiguitäten.
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Teil I – Kap. 1. Ambiguität, Ambivalenz, Zwei- und Vieldeutigkeit
Mit dem Konzept der ‚Ambiguitätstoleranz‘ wird in der Regel eine Synthetisierungsleistung oder die Haltung gelassener Akzeptanz angesprochen; als Gegenspieler fungieren in der Regel Strategien der Vereindeutigung oder eine indifferente Haltung. Funktion. Eine weitere Koordinate betrifft die Funktion von Ambiguitäten, die je nach disziplinärem Kontext variiert: - Produktive Anregung: Gerade in Kunst oder Literatur wird Ambiguitäten die Funktion zugesprochen, ihre Rezipientinnen und Rezipienten anzuregen, eventuell auch zu provozieren oder zu verstören. - Weiterentwicklung: Insbesondere konflikthafte Formen von Ambiguität können die Funktion der Weiterentwicklung in sich tragen, da sie über sich hinausweisen und auf ihre eigene Überwindung hin angelegt sind. - Ermöglichungsraum: In den Sozial- und Kulturwissenschaften (etwa bei Zygmunt Bauman) war Ambiguität als Garant für die Ermöglichung von Freiheit und Andersartigkeit aufgetaucht. Gerade in den Sozial- und Kulturwissenschaften steckte hinter der Verwendung als vermeintlich deskriptive Beschreibungskategorie, etwa für sozio-historische Entwicklungen, oft ein normativer Anspruch. Diese Spannung gilt es auch für die folgenden Analysen besonders im Blick zu behalten. Im Folgenden soll das hier aufgestellte Koordinatensystem an zwei Diskursfeldern genauer erprobt werden. Dabei dient als Auswahl zum einen das Diskursfeld um die Verhältnisbestimmung von Moderne und Ambiguität, die im Kontext der Sozial- und Kulturwissenschaften, aber auch für den Bereich der Literatur- und Kunstwissenschaften schon angeklungen war. Zweitens soll das Diskursfeld Ambiguität und Religion näher beleuchtet werden. Anhand zweier konträrer Positionen sollen jeweils exemplarisch die Eckpunkte des jeweiligen Diskursfeldes aufgezeigt werden, für die in beiden Fällen Tillichs Begriffsbestimmung anschließend fruchtbar gemacht wird.
Kapitel 2
Ambiguität als Signatur der Moderne. Soziologische Diagnosen Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne Ambiguität als Signatur der Moderne
Die Frage nach dem Verhältnis von Moderne und Ambiguität ist in den vergangenen Jahrzehnten in verschiedenen geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Entwürfen gestellt, bisweilen sogar zu ihrem Zentralthema erhoben worden. Ob die Moderne Ambiguitäten zugeneigt ist, solche vielleicht sogar aktiv hervorbringt, oder aber alle Formen von Uneindeutigkeit zu tilgen versucht, ist dabei sehr verschieden beantwortet worden: Während insbesondere die Kunstgeschichte und Literaturwissenschaften zu einer Deutung der Moderne als Epoche zunehmender Ambiguitätsaffinität neigen,1 sehen andere, vornehmlich sozial- oder kulturwissenschaftliche Entwürfe, das Hauptbestreben der Moderne gerade darin, Ambiguitäten zu eliminieren und eine Eindeutigkeit von Lebensentwürfen, Ordnungen, Normen und Deutungen herzustellen.2 Wieder andere betonen den höchst ambigen Charakter der Moderne selbst.3 Es finden sich also sowohl was den Umgang der Moderne mit Ambiguitäten betrifft, als auch bezüglich der Struktur der Moderne als solcher, ihrer Charakterisierung widerstreitende Deutungen. Die jeweilige Einschätzung des Verhältnisses von Moderne und Ambiguität lässt sich dabei keineswegs auf die unterschiedlichen Gegenstandsbereiche der Disziplinen reduzieren – also etwa in dem Sinne, dass Kunst- und Literaturwissenschaften aufgrund der Ambiguitätsaffinität moderner Kunst und Literatur ein positives Narrativ verträten, während gesellschaftstheoretische Entwürfe mit ihrem Blick auf ökonomische, politische und soziale Strukturen das Vgl. etwa: BODE, Ästketik der Ambiguität; KRIEGER/MADER (Hg.), Ambiguität in der Kunst; KLESSMANN, Ambivalenz und Glaube. Inwieweit diese widersprüchlichen Thesen damit zusammenhängen, dass bestimmte Gesellschaftsbereiche ambiguitätsaffiner zu sein scheinen als andere, wäre ein interessantes Forschungsthema. Für die Schwierigkeit etwa der Politik, Ambiguität zuzulassen oder gar selbst ambig zu sein, vgl. GIELEN, PASCAL, The Rising Empire of Ambiguity. On the Art of Getting beyond Identity Politics, in: Pascal Gielen/Nav Haq (Hg.), The Aesthetics of Ambiguity. Understanding and Addressing Monoculture (Antennae-Arts in Society), Amsterdam: Valiz 2021, 21–32, 24f. 2 Vgl. B AUMAN, Moderne und Ambivalenz; B AUER, Die Kultur der Ambiguität; D ERS., Vereindeutigung der Welt. 3 Vgl. H ORKHEIMER, M AX/A DORNO, THEODOR W., Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M.: Fischer 162006; BAUMAN, ZYGMUNT, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992. 1
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
Narrativ der Vereindeutigung privilegierten. Vielmehr lässt sich die angedeutete Divergenz ebenso in gesellschaftstheoretisch ausgerichteten Entwürfen finden. Im Folgenden soll dementsprechend ein Diskursfeld abgesteckt werden, das unterschiedlichen modernetheoretischen Positionierungen nachgeht. Dies geschieht anhand der Auseinandersetzung mit zwei konträren Positionen aus dem gesellschaftstheoretischen Bereich: auf der einen Seite der des britisch-polnischen Soziologen Zygmunt Bauman (insbesondere in Bezug auf dessen Werk Moderne und Ambivalenz aus dem Jahr 1992); auf der anderen Seite durch die Beschäftigung mit dem deutschen Kulturtheoretiker und Soziologen Andreas Reckwitz (mit besonderem Fokus auf dessen Studien Die Transformation der Kulturtheorien und Das hybride Subjekt aus den Jahren 2000 bzw. 2010). Die Auswahl der Autoren ist dabei von zwei Anliegen geleitet: zum einen, solche Denkerinnen oder Denker heranzuziehen, für die die Kategorie des Ambigen einen Schlüssel zu ihrer Modernedeutung darstellt; zum anderen, solche Positionen anzuführen, die in der gegenwärtigen soziologischen Theoriebildung verstärkt rezipiert werden. Bevor die beiden Autoren behandelt werden, sei in aller Kürze auf den Begriff der ‚Moderne‘ und damit verbundene Schwierigkeiten hingewiesen.
2.1 Moderne, Modernisierung, Modernität. Begriffliche Annäherungen 2.1 Moderne, Modernisierung, Modernität
Der Begriff der ‚Moderne‘ ist umstritten. Geht man, ansetzend beim allgemeinen Sprachgebrauch, erst einmal davon aus, dass mit dem Terminus eine Epochenbezeichnung gemeint sei, trifft man schon hier auf Herausforderungen: Neben den üblichen kontrovers diskutierten Fragen der Datierung4 weist der Begriff die Besonderheit auf, dass im englischen, französischen und italienischen Sprachraum der entsprechende Terminus den Zeitraum bezeichnet, für den im Deutschen der Ausdruck ‚Neuzeit‘ reserviert ist.5 Darüber hinaus liegt mit der Moderne – anders etwa als bei ihren Vorgängern Antike und Mittelalter – der Spezialfall vor, dass die Epochenzuweisung ‚Moderne‘ im Modus der
4 Eine oft rezipierte Datierung ist die des Historikers Reinhart Kosellek, der den Beginn der Moderne unter dem Stichwort der „Sattelzeit“ um 1770 datiert, vgl. KOSELLECK, REINHART, Einleitung, in: Ders./Otto Brunner/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, Stuttgart: Klett-Cotta 1972, XIII–XXVII, hier XV. Grundsätzlich gilt: Je nach Betonung von geistesgeschichtlichen, ökonomischen, politischen, oder kulturellen Aspekten changiert die Datierung des Aufbruchs in die Moderne zwischen der frühen Neuzeit (z.B. Renaissance) und der Mitte des 19. Jahrhunderts (Industrialisierung). 5 FIGL, G ÜNTER, Art. „Moderne/Modernität“, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4 5 (2002), 1376–1378, hier 1376.
2.1 Moderne, Modernisierung, Modernität
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Selbstbezeichnung erfolgt. Damit impliziert der Epochenbegriff neben der vorgenommenen Abgrenzung zu vorangehenden Zeiten auch immer schon ein (visionäres) Programm, das mit der Selbstbezeichnung einhergeht und Merkmale wie Rationalität, kritisches Bewusstsein, Infragestellung von Autoritäten, etc. umfasst. Moderne ist also ein programmatischer Begriff. Die Frage, wie oder was die Moderne ist, ist damit als Teil eines größeren Selbstverständigungsdiskurses der westlichen Zivilisation zu verstehen. Dementsprechend sinnvoll scheint es auch, ‚Moderne‘ nicht als einen Gegenstand zu begreifen, auf den man ‚von außen‘ zugreifen könnte, sondern den Begriff selbst schon als eine Selbstdeutungskategorie zu verstehen, die höchst voraussetzungsreich ist und gerade in dieser Beschaffenheit gern unsichtbar gemacht wird.6 Mit Begriffen wie ‚Postmoderne‘, ‚Spätmoderne‘, ‚zweite Moderne‘, ‚reflexive Moderne‘7 wird – jeweils mit unterschiedlichen Implikationen – darauf hingewiesen, dass die heutige Zeit kaum unterschiedslos der einen Moderne zuzuordnen ist, sondern diese selbst in verschiedene Phasen zu differenzieren ist. Dabei wird die Abgrenzung zur klassischen Moderne verschieden stark akzentuiert: Während der Begriff ‚Postmoderne‘ etwa als Alternativbegriff mit starken Abgrenzungstendenzen sowie einer eigenen Programmatik verbunden ist, betonen andere Begriffe, etwa ‚Spätmoderne‘, die Kontinuitätslinien zur klassischen Moderne und sind damit eher reflexiv-diagnostisch denn programmatisch angelegt. Neben dem Begriff ‚Moderne‘ kursieren auch die benachbarten Begriffe der ‚Modernisierung‘ und ‚Modernität‘, die es sich zu unterscheiden lohnt.8 Unter ‚Modernisierung‘ werden in der Regel die mit der Neuzeit einsetzenden, vielfältigen Transformationsprozesse (Rationalisierung, Differenzierung, Individualisierung, Urbanisierung, Globalisierung, etc.) gefasst, die zu umgreifenden Strukturveränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen führen, prozesshaften Charakter haben und sich auch weiterhin und unter veränderten technologischen und ökonomischen Bedingungen, immer rasanter vollziehen.9 Diese 6 Vgl. hierzu BONACKER, THORSTEN/R ECKWITZ, A NDREAS, Das Problem der Moderne. Modernisierungstheorien und Kulturtheorien, in: Dies. (Hg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus 2007, 7–18, hier 7. 7 Während die ‚Postmoderne‘ mit Namen wie Jean-François Lyotard oder Wolfgang Welsch verbunden wird, ist ‚Spätmoderne‘ ein sehr geläufiger Terminus, den etwa auch Andreas Reckwitz verwendet. Die Bezeichnung ‚zweite Moderne‘ bzw. ‚reflexive Moderne‘ ist vor allem mit den Forschungen des Soziologen Ulrich Beck verknüpft. 8 Zur Problematisierung der Begriffsverwendung, vgl. K AUFMANN, FRANZ-X AVER, Religion und Modernität, in: Johannes Berger (Hg.), Die Moderne – Kontinuitäten und Zäsuren, Göttingen: Schwartz 1986, 283–307, hier 285. 9 Vgl. hierzu POLLACK, D ETLEF, Art. Modernisierung. I. Religionswissenschaftlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4 5 (2002), 1378f.; ROSA, HARTMUT, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, besonders 89–124; MILLER, MAX/SOEFFNER, HANS-GEORG, Modernität und Barbarei. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
Prozesse der Modernisierung werden bereits Mitte des 19. Jahrhunderts (etwa bei Charles Baudelaire oder Karl Marx), spätestens jedoch seit Anfang des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand geistes- und sozialwissenschaftlicher Debatten. Es entstehen in dieser Zeit die ‚klassischen‘ Modernisierungstheorien (Max Weber, Émile Durkheim, Georg Simmel), die auf die Auswirkungen und inneren Widersprüche dieser Prozesse reagieren, bzw. diese überhaupt erst theoretisieren.10 Wie Andreas Reckwitz gezeigt hat, ist jene erste Welle von Modernetheorien im Unterschied zu späteren Entwürfen von vier Kennzeichen geprägt: erstens einer Differenz von Struktur und Kultur (etwa als Basis-Überbau-Gedanke); zweitens einer starken Kontrastierung von vormoderner und moderner Gesellschaft (Rhetorik des „Bruchs“); drittens der damit verbundene Annahme der Moderne als eines einheitlichen und linearen Gebildes; sowie viertens, der These einer Rationalität der Moderne (etwa einem Fortschrittsnarrativ).11 Neben diesen genannten ersten Formen der Modernisierungstheorie, ihren Nachfolgern in den 1960er bis 1980er Jahren sowie dem Postmoderne-Diskurs seit den 1980ern existiert nach Reckwitz ein zweiter Deutungsstrang, zu dem auch Reckwitz selbst zu zählen ist: Die sogenannten Kulturtheorien der Moderne bestreiten die Differenz von Struktur und Kultur, die die erste Welle der Modernetheorien kennzeichnet. Auch weichen sie die Grenzen der Moderne gegenüber angrenzenden Epochen auf, verstehen die Moderne selbst als heterogen und konflikthaft, und fassen auch die Annahme einer Rationalität als ein Produkt kultureller Erzeugung auf.12 Aus dieser Perspektive erscheint ‚Modernisierung‘ (gerade in den Großtheorien der ersten Welle) als ein normativ höchst aufgeladener Begriff, der eben nicht rein deskriptiv einen Prozess beschreibt, sondern zumindest implizit immer auch die Entwicklung hin zu einem besseren Zustand mitführt. Kurzum: ‚Modernisierung‘ ist weitaus mehr als die Beschreibung eines Prozesses; sie ist – neben ihren normativen Implikationen – vor allem ein Kampfbegriff soziologischer Theoriebildung um die Frage, was die Moderne eigentlich ausmacht. Der dritte Terminus, ‚Modernität‘, schließlich geht auf den französischen Essayisten und Lyriker Charles Baudelaire zurück. Dieser spricht Mitte des 19. Jahrhunderts – mit Rückgriff auf die Erstverwendung durch den Schriftsteller
des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, 12–26; KAUFMANN, Religion und Modernität, 285–287. GUMBRECHT, HANS ULRICH, Art. Modern, Modernität, Moderne, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, 93–313; LUDWIG, FRIEDER, Art. Modernisierung. II. Historisch, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4 5 (2002), 1379–1381, hier 1380. 10 Auf theologischer Seite ist hier vor allem an Ernst Troeltsch, aber auch an Paul Tillich zu denken. 11 Vgl. B ONACKER/R ECKWITZ, Das Problem der Moderne, 9–11. 12 Vgl. a.a.O., 12–14.
2.2 Die Moderne als geräumiger Aktenschrank
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Chateaubriand – von ‚Modernité‘, um sich von dem Modernebegriff der französischen Aufklärung zu distanzieren. Knapp 170 Jahre zuvor hatte sich in der berühmten literarischen Auseinandersetzung der Académie Française, der ‚Querelle des Anciens et des Modernes‘, die Auffassung durchgesetzt, dass die literarischen Werke der Neuzeit den Klassikern der Antike überlegen seien. Damit wurde mit dem Bezugspunkt der Antike als dem entscheidenden Maßstab für das, was es hieß, ‚modern‘ zu sein, gebrochen. Jedoch schon mit Beginn des 18. Jahrhunderts kommt es im Nachgang zur Französischen Revolution zu Zweifeln, zu einem ein Gefühl des Niedergangs im Moralischen und im Sozialen, kurz: zu einer Krise des neu gewonnenen Selbstbewusstseins. So kann Baudelaire dann 1855 schreiben: „Welcher Begriff wäre törichter als der des Fortschritts, da doch der Mensch, wie jeder Tag aufs neue beweist, immer dem Menschen ähnlich und gleich, das heißt immer ein Wilder bleibt.“13 Spätestens mit diesem Zeitpunkt gewinnt das moderne Bewusstsein die doppelte Konnotation von Affirmation und Kritik, die sich bis in die heutige Begriffsverwendung durchzieht.14 ‚Modernität‘ in diesem Sinne bezeichnet also das ‚Modern-Sein‘ als ein selbstreflexives Verhältnis. ‚Moderne‘, ‚Modernisierung‘, ‚Modernität‘ sind – so viel sollte durch diese kurze Problematisierung ersichtlich geworden sein – mithin allesamt Reflexionsbegriffe, die als Teil eines Selbstverständigungsdiskurses, also einer Aushandlung darum, wie oder wer man selbst ist und wie man theoretisch darauf zugreifen kann, verwendet werden. Gerade angesichts dieser deutungsoffenen und deutungsumkämpften Beschaffenheit des Modernebegriffs gilt es im Folgenden, nicht nur jeden Autor auf sein Verständnis von Ambiguität sowie des Verhältnisses von Moderne und Ambiguität hin zu befragen, sondern auch seinen theoretischen Blick auf ‚die‘ Moderne einzubeziehen.
2.2 Die Moderne als geräumiger Aktenschrank. Zygmunt Baumans Modernetheorie 2.2 Die Moderne als geräumiger Aktenschrank
In der Zeit der deutsch-deutschen Wende und des Zusammenbruchs des kommunistischen Ostblocks verfasst ein polnischer Soziologe, der im englischen Exil lebt, eine „Trilogie der Moderne“,15 die insbesondere wegen ihrer historisch-soziologischen Deutung des Holocausts Aufsehen erregt: Zygmunt 13 B AUDELAIRE, C HARLES, Tagebücher, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Friedhelm Kemp/Claude Pichois, Bd. 2, München: Hanser 1983, 233. 14 Vgl. M ILLER/SOEFFNER, Modernität und Barbarei, 12f. 15 K ELLER, D OUGLAS, Zygmunt Baumans postmoderne Wende, in: Matthias Junge/ Thomas Kron (Hg.), Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Postmoderne, Ethik und Gegenwartsdiagnose, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 22007, 271–288, hier 271. Vgl. BAUMAN, ZYGMUNT, Legislators and Interpretors. On Modernity, Post-modernity and
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
Bauman, geboren 1925 als Kind jüdischer Eltern in Posen, Polen, ist zu dieser Zeit schon knapp zwanzig Jahre Professor an der University of Leeds. 1968 hatte ihn die Universität Warschau vorgeblich wegen seiner Verantwortlichkeit für die Studentenproteste entlassen; im Hintergrund stand wohl tatsächlich der wachsende Antisemitismus im stalinistisch geprägten Polen. Bauman, als politischer Offizier von 1945 bis 1953 selbst für das Regime in der Bekämpfung des antikommunistischen Widerstands und zeitweise auch als Agent des militärischen Informationsdienstes tätig, verlor seine Anstellung und emigrierte daraufhin nach England. Die Erfahrung mehrfacher Vertreibung, die Begegnung mit Antisemitismus und Stalinismus, aber auch die Erfahrungen seiner Frau im Warschauer Ghetto zur Zeit des Nationalsozialismus trieben Bauman zu einer intensiven theoretischen Beschäftigung mit dem Holocaust.16 Durch ein umfassendes Studium der historischen Quellen revidierte er die immer wieder tradierte Auffassung, die Schrecken der Shoah seien ein ‚Sonderfall‘ der modernen Geschichte, eine einmalige Episode oder ein Ausfall der aufgeklärten Zivilisation. Demgegenüber vertritt Bauman die These, der Holocaust sei gerade als inhärenter Teil der modernen Zivilisation zu verstehen.17 Erst die Moderne und ihre spezifische Rationalität machen, so Bauman, den Holocaust denkbar und durchführbar.18 Mit diesen Gedanken steht Bauman in der Tradition der Kritischen Theorie, insbesondere von Theodor W. Adornos und Max Horkheimers einflussreichem Werk Dialektik der Aufklärung aus dem Jahr 1944, in dem sich diese These erstmals formuliert findet. Aber auch Hannah Arendts Opus Magnum Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft aus dem Jahr 1951 [deutsche Erstausgabe 1955] findet hier Widerhall. Arendt analysiert darin Nationalsozialismus und Stalinismus als verwandte Phänomene und Folgeerscheinungen genuin moderner Prozesse wie dem Zerfall von Nationalstaaten, dem Entstehen von Massengesellschaften, sowie Imperialismus und Antisemitismus als einflussreichen
Intellectuals, Cambridge: Polity Press 1987; DERS., Modernity and the Holocaust, Cambridge: Polity Press 1989 [dt: Dialektik der Ordnung]; DERS., Modernity and Ambivalence, Cambridge: Polity Press 1991. 16 Vgl. B ONACKER, THORSTEN, Ambivalenzen der Post-Modernisierung: Zygmunt Bauman, in: Christian Lahusen/Carsten Stark (Hg.), Theorien der Gesellschaft. Einführung in zentrale Paradigmen der soziologischen Gegenwartsanalyse, München/Wien: Oldenbourg 2002, 289–317, hier 291. 17 „Der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen: er muß daher als Problem dieser Gesellschaft, Zivilisation und Kultur betrachtet werden“, BAUMAN, Dialektik der Ordnung, 10. 18 Vgl. PETERSON, A BBY, Der Holocaust – Eine unwiderrufliche Herausforderung für Sozialtheorie und Praxis, in: Matthias Junge/Thomas Kron, Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Postmoderne, Ethik und Gegenwartsdiagnose, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 22007, 97–128, hier 104.
2.2 Die Moderne als geräumiger Aktenschrank
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Strömungen des 19. Jahrhunderts.19 Bauman betont einige Jahrzehnte später und mit besonderem Fokus auf die gesellschaftlichen Aufarbeitungsprozesse des Holocausts die Konsequenz, dass die moderne Gesellschaft stets mit der Bedrohung einer Wiederholung konfrontiert sei, der sie nicht mit Verweis auf eine einmalige Pathologie entkommen könne. Mit anderen Worten: Der Holocaust war möglich und ist immer wieder mögliche Realität. Was aber macht die Moderne nach Bauman so anfällig für die genozidale Option? Sucht man nach einem passenden Bild, um sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, bietet sich das des Aktenschranks an, das Bauman selbst verwendet, um die Moderne zu charakterisieren: ein „geräumiger Aktenschrank, der all die Akten enthält, die all die Einzelheiten enthalten, welche die Welt enthält.“20 Besonders an diesem modernen Aktenschrank ist, dass „jede Akte und jede Einzelheit auf einem gesonderten Platz ganz für sich beschränkt [ist] (wobei etwaige Zweifel durch einen Querverweisungsindex gelöst werden).“21 ‚Moderne‘ ist bei Bauman also zuallererst ein umfassendes Projekt der (Zu-) Ordnung. Durch sprachliche Benennung und Klassifizierung – und damit „Handlungen des Einschließens und des Ausschließens“22 – verfolgt sie den Versuch, die Wirklichkeit auf Begriffe zu bringen, sie einzuhegen, zu strukturieren, handhabbar zu machen. Jedes Einzelding wird kategorisiert und katalogisiert – man denke hier an die umfangreichen Enzyklopädien, die mit der Aufklärung entstehen, die Katalogisierung von Flora und Fauna, die Kartographierung der Welt. Ein System von Querverweisen hilft, im Aktenschrank den Überblick zu behalten und die Beziehungen zwischen den Einzeldingen festzuhalten: ein Schrank des Wissens entsteht.23
19 A RENDT, H ANNAH, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München: Piper 212019. 20 B AUMAN, Moderne und Ambivalenz, 13. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ordnung bei Bauman meint in erster Linie Wissensordnung, also die Reduktion und Schematisierung einer Vielzahl möglicher Deutungen, vgl. JUNGE, MATTHIAS, Ambivalenz: eine Schlüsselkategorie der Soziologie von Zygmunt Bauman, in: Ders./Thomas Kron, Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Postmoderne, Ethik und Gegenwartsdiagnose, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 22007, 77–94, hier 81. Andreas Reckwitz nennt diesen Aktenschrankmodus das „doing generality“ der Moderne und meint damit „eine soziale Logik des Allgemeinen, die auf eine Standardisierung, Formalisierung und Generalisierung sämtlicher Einheiten des Sozialen drängt.“ Er verweist in diesem Zusammenhang auf zahlreiche solcher Diagnosen, etwa Max Webers Bürokratisierungtheorem, Michel Foucaults Disziplinarmacht, aber auch Baumans Werk Moderne und Ambivalenz, vgl. RECKWITZ, ANDREAS, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2017, 28–46, besonders 29, Fn. 3. Hervorhebung im Original.
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
In diesem Versuch, eine präzise Ordnung, einen Katalog für den Gebrauch der Welt zu schaffen, stellt der moderne Aktenschrank jedoch eine nie versiegende Quelle des Scheiterns und damit der Hervorbringung von Ambivalenzen dar:24 Es ist die Unmöglichkeit eines solchen Aktenschranks, die Ambivalenz unvermeidlich macht. Und es ist die Beharrlichkeit, mit der die Konstruktion eines solchen Schranks verfolgt wird, die immer neue Schübe an Ambivalenz hervorbringt.25
Ambivalenz resultiert bei Bauman also überhaupt erst aus einem Scheitern der Ordnungsbestrebungen der Moderne. Der Begriff wird zu Beginn von Moderne und Ambivalenz eingeführt als unumgängliches „Nebenprodukt der Arbeit der Klassifikation“, als natürliches „Versagen der Nenn-(Trenn-)Funktion, die Sprache doch eigentlich erfüllen soll.“ Bauman macht dabei klar, dass er Ambivalenz nicht als ein „Ergebnis der Pathologie der Sprache oder Rede“ versteht, sondern sie vielmehr als „normale[n] Aspekt der sprachlichen Praxis“26 begreift. Dieses normalsprachliche Versagen geht jedoch für den Menschen mit einem erheblichen Unbehagen einher; die Ambivalenzerfahrung wird, so Bauman, begleitet von einem Gefühl der Angst, dadurch dass sie kognitive Ungewissheit und handlungspraktische Unentschiedenheit hervorruft: When we say that things or situations are ambivalent, what we mean is that we cannot be sure what is going to happen, and so neither know how to behave, nor can predict what the outcome of our actions will be.27
Bauman wählt also, um die erste Koordinate festzuhalten, die Bezeichnung der ‚Ambivalenz‘, bringt damit aber zunächst einen Aspekt der sprachlichen Praxis auf den Begriff. Das sprachliche Klassifikationsproblem, das vielleicht angemessener mit dem Terminus Ambiguität ausgedrückt wäre, hat es mit der (unzureichenden oder falschen) Zuweisung von Sinn und Bedeutung zu tun; das 24 Zu Entwicklung, Vorkommen und Bedeutung von Ambivalenz als Schlüsselkategorie bei Bauman vgl. JUNGE, Ambivalenz, 77–94. Junge weist darauf hin, dass Ambivalenz in „unterschiedlichen Bereichen wie der Untersuchung zur gesellschaftlichen Rolle von Sozialwissenschaftlern, historischen Studien zur Geschichte der Judenvernichtung, sozialtheoretischen Analysen zur Kennzeichnung der Moderne oder schließlich in Reflexionen zu den typischen Lebensformen und Lebensproblemen in der Postmoderne“ auftaucht, a.a.O., 77. 25 B AUMAN, Moderne und Ambivalenz, 13. Siehe auch B AUMAN, ZYGMUNT, Modernity and Clarity. The Story of a Failed Romance, in: Peter Koslowski/Richard Schenk (Hg.), Ambivalenz – Ambiguität – Postmodernität. Begrenzt Eindeutiges Denken (Collegium Philosophicum 5), Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 2004, 65–80, hier 74: „Modernity was after the perfect, one-to-one fitting of names and things, words and meanings; a set of rules free of blank spots and cases overloaded with instructions; a taxonomy in which there was a file for each phenomenon but no more than one file for any one of them; […]; in short, after a world in which there is an unambiguous (algorithmic rather than merely heuristic) recipe for every situation and no situations without recipes attached.“ 26 B AUMAN, Moderne und Ambivalenz, 11. 27 B AUMAN, Modernity and Clarity, 65.
2.2 Die Moderne als geräumiger Aktenschrank
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psychologische Unbehagen, das aus der Wahrnehmung der sprachlichen Bedeutungsverwirrung resultiert, hingegen mit eigentlicher Ambivalenz im Sinne einer emotional-intellektuellen Bewertung des Subjekts. Bauman verzichtet jedoch auf eine begriffliche Unterscheidung und lässt beide Ebenen, sprachliche und psychologische, im Begriff der Ambivalenz zusammenfließen.28 Es liegt damit, was die Art und Verortung der Ambiguität angeht, eine Mischung von Bedeutungs- und Bewertungsmehrdeutigkeit vor, die gleichermaßen in der Interaktion von Sprache und Welt wie in der psychologischen Reaktion lokalisiert ist. Die ambivalenten Begleiterscheinungen auf psychologischer Ebene führt Bauman im Fortgang seiner Argumentation in Moderne und Ambivalenz auf das menschliche Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit zurück: Eine ordentliche Welt ist eine Welt, in der man ‚weiterweiß‘ […] oder, was auf das gleiche hinausläuft, in der man herauszufinden vermag – und zwar mit Sicherheit –, wie es weitergeht, in der man die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses berechnen und diese Wahrscheinlichkeit erhöhen oder verringern kann; eine Welt, in der die Beziehungen zwischen bestimmten Situationen und den Folgen bestimmter Handlungen im großen und ganzen konstant bleiben, so daß man sich auf vergangene Erfolge als Anleitungen für zukünftige verlassen kann.29
Ambivalenz als das Versagen von Ordnungsbemühungen hat es also mit einem Verlust an Sicherheit und Kontrollierbarkeit zu tun, mit dem Fehlen von Ordnung. Bauman rückt seinen Ambivalenzbegriff explizit in die Nähe von Begriffen wie ‚Chaos‘, ‚Undefinierbarkeit‘, ‚Irrationalität‘, ‚Widersinnigkeit‘, ‚Ununterscheidbarkeit‘, ‚Zufälligkeit‘ oder ‚Dunkelheit‘. Ambivalenz wird damit in erster Linie negativ, als „das Andere der Ordnung“, also über die Dichotomie mit dem Paradigma der Ordnung bestimmt.30 Sie stellt, um eine weitere Koordinate zu fixieren, ihrer Aufbaulogik nach gerade keine klare Zweideutigkeit, sondern eine überall lauernde Mehrdeutigkeit dar, die eigentlich noch grundsätzlicher ein Unterlaufen jeglicher klarer Zuordnungen, die Unbestimm-
28 Vgl. JUNGE, Ambivalenz, 80. Junge hält es für unerlässlich, auf die Differenz hinzuweisen, da erst so die Dynamik zwischen der Herstellung kultureller/sprachlicher Ordnung und Problemen des Erlebens/Handelns im Rahmen von Baumans semiotischer Kulturtheorie klar wird. 29 B AUMAN, Moderne und Ambivalenz, 12. Hervorhebung im Original. 30 Vgl. a.a.O., 20: „Der Kampf der Ordnung ist nicht ein Kampf der einen Definition gegen eine andere, einer Möglichkeit, Realität auszudrücken, gegen eine andere. Es ist ein Kampf der Bestimmung gegen die Mehrdeutigkeit, der semantischen Präzision gegen Ambivalenz, der Durchsichtigkeit gegen Dunkelheit, der Klarheit gegen Verschwommenheit. […]. Entsprechungen für das ‚Andere der Ordnung‘ sind: Undefinierbarkeit, Inkohärenz, Widersinnigkeit, Unvereinbarkeit, Unlogik, Irrationalität, Mehrdeutigkeit, Verwirrung, Unentscheidbarkeit, Ambivalenz.“
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
barkeit und Widerständigkeit der Welt gegenüber den Kategorien der Sprache auf den Begriff zu bringen sucht.31 Die Grundthese, die Bauman in seinem Werk entfaltet, lautet sodann, dass ebendiese Dichotomie zwischen Ordnung und Chaos bzw. zwischen Ambivalenz und den Praktiken des Ordnens und Strukturierens ein genuin modernes Phänomen darstellt.32 Dabei definiert er die Moderne als eine historische Epoche in Westeuropa, beginnend mit den kulturellen Transformationen des 17. Jahrhunderts. Bauman legt also einen sehr weiten Modernebegriff vor bzw. kommt hier die Übersetzungsproblematik des Begriffs vom Englischen ins Deutsche zum Tragen, auf die im letzten Unterkapitel bereits verwiesen wurde (vgl. I.2.1). Diese sich mit weiten Teilen der Neuzeit deckende Moderne also ist es, die nach Bauman den Drang entwickelt, einen Aktenschrank einzurichten, eine Ordnung der Welt hervorzubringen und durchzusetzen.33 Bauman begründet den Ordnungsdrang seiner Moderne in erster Linie mit dem Verlust gott- und naturgegebener Ordnungen durch neuzeitliche Transformationsprozesse – allerdings auf eine besondere Weise: Erst weil die Selbstverständlichkeit von Ordnung durch den Wegfall bestimmter Autoritäten, Systeme, usw. abhanden kommt, entwickelt sich, so Bauman, überhaupt ein Bewusstsein für das Konzept der Ordnung (und damit auch für das des Chaos) – so etwa, wie die Idee von ‚Heimat‘ erst der entwickelt, der sich durch Heimatlosigkeit bedroht fühlt oder ereilt findet. Dadurch also, dass Ordnung nicht mehr einfach ‚da‘, also selbstverständlich gegeben ist, entwickelt die Moderne den Wunsch „sich selbst zu entwerfen“ und durch „Entwurf, Gestaltung, Verwaltung und Technologie“34 die entworfene Ordnung aufrechtzuhalten.
Vgl. die Rede von der „‚under-determination‘ or otherwise doubtful nature of the world“ in BAUMAN, Modernity and Clarity, 66. 32 Gleichwohl versteht Bauman Praktiken des Ordnens als grundlegend für die Schaffung von Kultur. Kultur wird begriffen als soziale Praxis, die Menschen vollziehen, um die Welt nach ihren Vorstellungen des Wünschenswerten zu strukturieren, und die die Art, die Welt zu sehen und zu denken, grundlegend formt. Kultur ist damit immer auch schon ambivalent, da sie ein Akt der Freiheit und der Begrenzung zugleich ist: „The core ambivalence of the concept of ‚culture‘ reflects the ambivalence of the idea of order-making, that hub of all modern existence“, BAUMAN, ZYGMUNT, Culture as Praxis, London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage 1999, 14; vgl. auch: KRON, THOMAS/REDDIG, MELANIE, Zygmunt Bauman. Die ambivalente Verfassung moderner und postmoderner Kultur, in: Stephan Moebius/Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2006, 363–377, 363f. 33 Bauman versteht die Moderne als eine Epoche in Westeuropa, beginnend mit den soziokulturellen und intellektuellen Transformationen des 17. Jahrhunderts, gipfelnd in der Durchsetzung des kulturellen Programms der Aufklärung und sich verwirklichend in einer mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts verbundenen spezifischen Lebensform, vgl. BAUMAN, Moderne und Ambivalenz, 15, Anm. 1. 34 B AUMAN, Moderne und Ambivalenz, 21. Hervorhebung im Original. 31
2.2 Die Moderne als geräumiger Aktenschrank
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Eine grundlegende Praktik, auf welche die Moderne insbesondere in den Bereichen von Politik und Wissenschaft zurückgreift, um ihren Wunsch durchzusetzen, lautet: „die Anstrengung Ambivalenz auszulöschen; eine Anstrengung genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte.“35 Grundlage dieser Praxis ist die Herstellung und Durchsetzung von Ordnung mittels dichotomer Kategorien (normal/abnormal, gesund/krank, Zivilisation/Barbarei, Mensch/Tier, Mann/ Frau, Einheimischer/Fremder, Freund/Feind), die asymmetrisch verfasst sind. Das zweite Glied wird dabei jeweils als das ‚Andere‘, das Abtrünnige gegenüber dem ersten konstruiert, das seine Existenz nur über jenes erste Glied behaupten kann. Zugleich hängt das erste Glied vom zweiten bezüglich seiner Besonderheit und Exklusivität ab; es braucht das ‚Andere‘, um sich abzuheben. Ambivalenzen entstehen aber genau dann, wenn die Wirklichkeit dieser dichotomen Klassifikation zuwiderläuft, etwa im Falle des Fremden, der die Kategorisierung in Freund vs. Feind sprengt.36 Aktuell wäre aber auch an Debatten um das Thema Geschlecht/Gender zu denken, in denen noch der Ausdruck ‚drittes Geschlecht‘ die binäre Struktur aufrechterhält, die er eigentlich unterminieren will.37 Die Verortung von Ambivalenz bzw. die Stätte ihrer Produktion liegt, um an dieser Stelle eine weitere Koordinate zu fixieren, nach Bauman demnach in Praktiken (des Ordnens), also sprachlichen oder anderen sozialen Vorgängen, in denen Kategorisierung und Struktur hergestellt werden. Bauman verfolgt – in der Tradition Horkheimers/Adornos – mit seinem Werk eine Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Machtund Unterdrückungsmechanismen. Der Holocaust erscheint in diesem Entwurf als die negative Ausgeburt des technologisch gestützten Ordnungswahns der modernen Zivilisation.38 Oder anders gesagt: das moderne Streben nach Klarheit und Ordnung ist so absolut, dass mithilfe dichotomer Begriffsstrukturen 35 A.a.O., 22. Dementsprechend beliebt in der Moderne sind „Taxonomie, Klassifikation, Inventar, Katalog, Statistik“, a.a.O., 33. Bauman spricht auch von dem „war declared on the twin dangers of the ambiguity of thought and contingency of action. In short, the war on ambivalence“, BAUMAN, Modernity and Clarity, 72. 36 Vgl. auch B AUMAN, ZYGMUNT, Moderne und Ambivalenz, in: Uli Bielefeld (Hg.), Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg 1991: Junius, 23– 49, hier 23. Laut Bauman gehen moderne Staaten mit dem Fremden auf zweifache Weise um: Ausgrenzung oder Assimilation; in beiden Fällen aber ist die Auslöschung von Ambivalenz und Herstellung von Einheit leitend, a.a.O., 36–41. 37 Vgl. zur grundsätzlichen Problematik der Kategorie in Bezug auf die Thematik Gender: HAAG, CHRISTINE, Flucht ins Unbestimmte. Das Unbehagen der feministischen Wissenschaften an der Kategorie, Würzburg: Königshausen 2003. Zu Anschlusspunkten Baumans an gendertheoretische Debatten vgl. VILLA, PAULA-IRENE, Pluralisierung, Unordnung, Verwerfung. Geschlechtertheoretische Anschlüsse an Bauman, in: Matthias Junge/Thomas Kron, Zygmunt Bauman. Soziologie zwischen Postmoderne, Ethik und Gegenwartsdiagnose, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 22007, 448–470. 38 Vgl. B AUMAN, Dialektik der Ordnung, 10.
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das Andere, Dritte nicht nur konstruiert (vgl. Freund/Feind/Fremd), sondern in einem zweiten Schritt entweder assimiliert und der eigenen Logik einverleibt oder eben ausgegrenzt bzw. schlimmstenfalls ausgemerzt wird. Praktiken der Assimilation, Ausgrenzung, und sogar Vernichtung – und damit auch der Holocaust – können also mit Bauman als logische Konsequenzen des Projekts der Moderne verstanden werden. Soweit eine Kurzzusammenfassung von Baumans Modernedeutung. Zwei kritische Bemerkungen seien an dieser Stelle angemerkt. Zunächst fällt auf, dass Bauman ein stark homogenes Bild der Moderne zeichnet, das die Moderne über ein Prinzip, nämlich ihren Ordnungswahn und ihre Ambivalenzfeindlichkeit, charakterisiert. Er ähnelt darin jener ersten Welle von Modernisierungstheorien zu Beginn des 20 Jahrhunderts, die die Moderne über eine Rationalität, etwa das Fortschrittsnarrativ, zu definieren suchten (vgl. I.2.1). Fraglich ist dabei natürlich, inwieweit eine solch eindimensionale Beschreibung die Komplexität einer Epoche, ihre vielen, teils gegenläufigen Impulse, Tendenzen und Verästelungen abbilden kann. Über diese grundsätzliche Anfrage hinaus ist auch Baumans Haltung zur Kategorie der Eindeutigkeit eine kritische Zwischenbemerkung wert: In Baumans Werk wird durch die Nähe zwischen Ambivalenzreduktion und sozialen Praktiken der Ausgrenzung bzw. tatsächlichen Vernichtung eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Vereindeutigungsprozessen und Eindeutigkeiten festgeschrieben: Der Wunsch nach Eindeutigkeit wird per se als eine Gefahr interpretiert, die potenziell bis zum Genozid führen kann. Damit aber, so lässt sich anmerken, wird wiederum nicht differenziert, etwa zwischen solchen Vereindeutigungen, die als ausgrenzend, totalitär, gefährlich eingeordnet werden müssen und solchen Formen von Eindeutigkeit, die gerade freiheitsstabilisierend sind, also für das Funktionieren eines friedlichen Miteinanders unabdingbar – man denke beispielsweise an bestimmte Vereindeutigungen durch gesetzliche Regelungen oder auch eindeutige Stellungnahmen gegen Rassismus. Hier sind es gerade Versuche von Vereindeutigungen, die eine freiheitliche Gesellschaft schützen und stabilisieren. Trotz seiner grundsätzlich düsteren Diagnose in Bezug auf die Moderne bleibt Baumans Theorie – anders als die seiner Vorgänger Horkheimer und Adorno – jedoch nicht im Modus der Kritik stehen, sondern entwirft zugleich die Vision einer post-modernen Gesellschaft, die in der Lage ist, die dunklen Seiten der Moderne zu überwinden. Diese postmoderne Weiterentwicklung sieht Bauman bereits in der Moderne angelegt, als den tiefen Zweifel an der Durchführbarkeit der eigenen Bestrebungen.39 Den entscheidenden Unterschied des postmodernen Stadiums der Moderne definiert Bauman allerdings
39 B AUMAN, Moderne und Ambivalenz, 374–385. Bauman unterscheidet hier zwei Sorten von Zweifel: die erste stellt die Autorität von Wissenschaft und ihrem Streben nach absoluter Wahrheit nicht grundsätzlich in Frage, sondern „temporalisiert die Unwissenheit“ und „ver-
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gerade nicht darüber, die Moderne vollständig zu verabschieden oder zu diskreditieren, sondern ebenjenen Zweifel am eigenen Projekt, den die Moderne schmerzhaft empfindet, nicht mehr als schmerzhaft, nicht mehr als einen Zweifel wahrzunehmen.40 Die Postmoderne, so Bauman, kann damit verstanden werden als das Selbstreflexivwerden der Moderne, als der „moderne Geist, der einen langen, aufmerksamen und nüchternen Blick auf sich selbst wirft, auf seine Lage und seine vergangenen Werke, nicht ganz überzeugt von dem, was er sieht, und den Drang zur Veränderung spürt.“41 Damit charakterisiert Bauman das Verhältnis von Moderne und Postmoderne nicht als eine rein chronologische Abfolge oder gar einen Bruch, sondern als ein verändertes Selbstverhältnis, das als vielleicht wichtigsten Faktor die Distanz zu sich selbst beinhaltet.42 Müsste man als Ergänzung zum modernen Aktenschrank ein Bild für Baumans Vision der Postmoderne festlegen, so würde sich das der Reise anbieten, das Bauman an verschiedenen Stellen auch selbst verwendet.43 Der anlaßt die Unwissenheit zu mehr Anstrengung und kurbelt den Eifer und die Entschlossenheit der Akteure an“ (381). Die zweite Art des Zweifels stellt die Wissenschaft und das von ihr produzierte Wissen als solche in Frage; er demaskiert sie als „eine Geschichte unter anderen“. Die erste Art des Zweifels ist genuin modern, die zweite postmodern, wobei damit gerade keine chronologische Abfolge gemeint ist, sondern zwei immer schon bestehende, konstitutive Anfragen an Wissenschaft (375). Im postmodernen Stadium verschmelzen beide Zweifel zu einem; an „Stelle der beiden Grenzen und der beiden Zweifel gibt es ein unbesorgtes Bewußtsein, daß es viele Geschichten gibt, die immer wieder erzählt werden müssen, wobei sie jedesmal [sic] etwas verlieren und den vergangenen Versionen etwas hinzufügen“ (384). 40 A.a.O., 383. 41 A.a.O., 429. Bauman spricht dabei auch von der Moderne, die volljährig wird. Baumans „Postmoderne“ vereinigt drei Bedeutungen des Begriffs als (1) einer zeitlichen Epoche, in der charakteristische Merkmale der Moderne überwunden oder abgeklungen sind; (2) als sozialer Begriff, der gesellschaftliche Veränderungen beschreibt, sowie (3) als epistemologischer Begriff, der das Selbstverständnis sozialwissenschaftlicher Theoriebildung thematisiert (etwa im Sinne von Lionel Lyotards ‚Ende der großen Erzählungen‘); vgl. BONACKER, Ambivalenzen der Post-Modernisierung, 310f. Bauman selbst weist auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Postmoderne hin in: DERS., Ansichten der Postmoderne, Hamburg: Argument 1995, 5f. Dort bezeichnet er die Postmoderne auch als einen „Geisteszustand“, der sich vor allem durch radikale Destruktivität auszeichnet. Zur komplexen Beziehung von Moderne und Postmoderne vgl. auch a.a.O., 221f. 42 Bauman verwehrt sich dementsprechend gegen die Sicht, die Postmoderne stelle eine ganz neue, andere Epoche dar und spricht stattdessen von einer „neue[n] Stufe“, die allerdings „so scharf unterschieden ist, daß man jedesmal wieder versucht ist, sie einer ganz anderen Epoche zuzuweisen, sie in einem typisch modernen Stil als eine reine und einfache Negation der Moderne zu beschreiben“, BAUMAN, Moderne und Ambivalenz, 383. 43 Vgl. a.a.O., 384, sowie insbesondere BAUMAN, ZYGMUNT, Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg: Hamburger Edition 1997, 119– 125.
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
postmoderne Reisende weiß, dass der Ausgang seiner Reise ungewiss ist, ja, dass er nicht einmal ein festes Ziel hat. Ihm genügt es, schlicht auf der Reise, unterwegs, zu sein. Er akzeptiert, dass seine Reiseroute kontingent, sein Proviant lokal, seine Laufgewohnheiten traditionsgebunden und die Erkenntnisse seiner Reise stets vorläufigen und deutenden Charakter haben.44 Der Verzicht auf ein Erlangen absoluter Gewissheit oder Wahrheit und die Einsicht in die eigene Kontingenz und Partikularität gehen auch, so die Vision, mit Akzeptanz gegenüber dem Leben mit Ambivalenzen einher, die nun nicht mehr als störend empfunden werden. Die Postmoderne lernt zu leben mit all denjenigen Merkmalen, die die Moderne hervorgebracht hat, ohne sie hervorbringen zu wollen: mit „institutionalisierte[m] Pluralismus, Vielfalt, Kontingenz und Ambivalenz“.45 Gegenüber anderen Reisenden praktiziert der postmoderne Mensch eine Haltung der Solidarität.46 Dabei ist Solidarität – im Gegenüber zu einer Toleranz, die den anderen lediglich duldet, und einer Gleichgültigkeit, die dem anderen indifferent gegenübersteht – so zu verstehen, dass sie den anderen eben nicht als vom eigenen Selbst getrennt, sondern als Teil des Eigenen begreift: „Das ‚Ich bin verantwortlich für den anderen‘ und ‚Ich bin verantwortlich für mich selbst‘ erhalten dieselbe Bedeutung.“47 Es geht also gerade darum, diese beiden nicht als „zwei korrelierte, aber trennbare Haltungen“ zu verstehen, sondern als eine „einzige unteilbare Haltung“.48 Bauman beschreibt also die Vision einer postmodernen Gesellschaft, die gerade nicht in unverbundene, nebeneinander existierende Entitäten zerfällt, sondern in der sich jede Einzelperspektive als Teil einer in sich differenzierten Einheit begreift. Dementsprechend ist die Haltung gegenüber dem ‚eigenen Anderen‘ geprägt von „Mitgefühl, imaginative[r] Identifikation, Empathie“.49 Es ist wohl diese Haltung postmoderner Solidarität gekoppelt an ein Verständnis von sozialer oder diskursiver Pluralität als in sich differenzierter Einheit, die andere, etwa der Islamwissenschaftler Thomas Bauer, als ‚Ambiguitätstoleranz‘ bezeichnen würden: also als die Fähigkeit, andere Entwürfe, Deutungen, Reiserouten auszuhalten ohne sie als getrennt von sich zu betrachten und in Gleichgültigkeit zu verfallen (vgl. I.1.5). Die Postmoderne, um eine weitere Koordinate zu notieren, praktiziert nach Bauman damit einen gänzlich 44 Vgl. BAUMAN, Moderne und Ambivalenz, 369. Hier spricht Bauman von der Anerkennung, „daß es andere Orte und andere Zeiten gibt, die mit gleicher Rechtfertigung (oder gleichem Mangel an guten Gründen) von Mitgliedern anderer bevorzugt werden können […].“ 45 B AUMAN, Ansichten der Postmoderne, 22. 46 Bauman steht hier in der Tradition von Richard Rorty und dessen Werk, vgl. RORTY, RICHARD, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. 47 B AUMAN, Moderne und Ambivalenz, 371. 48 Ebd. 49 Ebd.
2.2 Die Moderne als geräumiger Aktenschrank
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anderen Umgang mit Ambivalenz als die Moderne mit ihren Bestrebungen der Eliminierung, indem sie gelassen, aber nicht indifferent auf sie reagiert. Um eine solche Haltung der gelassenen Akzeptanz praktizieren zu können, um die andauernde Ungewissheit und die Spannungen angesichts anderer Lebensentwürfe auszuhalten,50 braucht Baumans postmoderne Reisende allerdings auch „Nerven aus Stahl“ 51. Wenn man die Arbeiten Baumans nach Moderne und Ambivalenz und seine darin stattfindende Beschäftigung mit der Postmoderne weiterverfolgt, so lässt sich eine interessante Verschiebung feststellen: War die Moderne in der ‚Trilogie‘ noch so düster dargestellt, dass die Vision einer Postmoderne demgegenüber einer rettenden Erlösung gleichkam,52 schlägt Bauman auch gegenüber der Postmoderne nach und nach weitaus kritischere Töne an:53 Der Rückzug des Staates als Instanz der Ordnungsherstellung führt nach Bauman zu einer immer stärkeren Privatisierung von Ambivalenz. Der Staat wird in seiner Funktion als ‚Gärtner‘, der nützliche Pflanzen hegt, die anderen aber ausreißt, abgelöst durch das Individuum, das mehr und mehr selbst mit der Entscheidung zwischen nützlich und nutzlos in seiner Lebensführung betraut wird.54 Allerdings mangelt es den Individuen wohl doch an den besagten Nerven aus Stahl; wenngleich sie einen anderen Ausweg aus der Ambivalenz suchen als noch ihre modernen Vorgänger: Während die Moderne auf die Herstellung absoluter Wahrheit abzielte, verlegt die Postmoderne ihre Flucht vor Ambivalenzen in die grundsätzliche Nichtfestlegung (Nomadentum), in eine konsumistische Haltung, die auch vor anderen Menschen nicht Halt macht, und in einer Verlagerung auf die Ästhetisierung des Lebens.55 Ein Rückgang des sozialen Zu-
Nicht umsonst definiert Bauman mit Rückgriff auf Michael Maffesoli Neotribalismus und fundamentalistische Gruppierungen als eine Begleiterscheinung der postmodernen Privatisierung von Ambivalenz: „Their allurement is the promise to put paid to the agony of individual choice by abolishing the choice itself; to heal the pain of individual uncertainty and hesitation by finishing off the cacophony of voices which makes one unsure of the wisdom of one’s decisions. Their bait is that of the long lost Eindeutigkeit – of a world unambiguous again, sending un-equivocal signals […]“, BAUMAN, Modernity and Clarity, 79f. Hervorhebung im Original. 51 B AUMAN, Moderne und Ambivalenz, 385: „In Ermangelung der eisernen Faust der Moderne braucht die Postmoderne Nerven aus Stahl.“ 52 Vgl. auch REESE-SCHÄFER, W ALTER, Unbehagen an der Moderne und an der Postmoderne. Zygmunt Bauman und das kommunitarische Denken, in: Junge/ Kron, Zygmunt Bauman, 289–314, hier 290. 53 SCHROER, M ARKUS, Von Fremden und Überflüssigen. Baumans Theorie der Ausgrenzung, in: Junge/ Kron, Zygmunt Bauman, 426–446, hier 432. 54 Vgl. B AUMAN, Moderne und Ambivalenz, 311–316. 55 B ONACKER, THORSTEN, Moderne und postmoderne Gemeinschaften. Baumans Beitrag zu einer Theorie symbolischer Integration, in: Junge/ Kron: Zygmunt Bauman, 165– 199, hier 190. 50
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
sammenhalts ist dabei die „‚unbeabsichtigte Nebenfolge‘ der neuen Leichtigkeit“.56 Mit anderen Worten: Wenn auch die Postmoderne bei Bauman zunächst als die ‚Lösung‘ für den Umgang mit Ambivalenzen in den Blick kam, erweist sich schlussendlich Ambivalenz doch als ein dauerhaftes Problem, das auch in der Postmoderne unliebsame Konsequenzen nach sich zieht. Verwunderlich ist dabei allerdings, dass Bauman Ambivalenz ja ursprünglich klar als ein genuin modernes Phänomen konstruiert hatte, mit der Konsequenz, dass diese mit dem Rückgang der modernen Ordnungspraktiken eigentlich ebenfalls an Relevanz einbüßen müsste. Erklärlich ist die Beharrlichkeit der Kategorie nur dann, wenn man sich vor Augen führt, dass wohl eher die kontrastierende Darstellung von Moderne und Postmoderne bei Bauman sich zugunsten einer Annäherung verschiebt. So kann dieser schließlich feststellen, dass „[d]ie Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts […] so modern [ist] wie die am Beginn des 20. Bestenfalls ist es eine andere Art der Moderne.“57 Dennoch bleibt die fortwährende Problematik von Ambivalenzen theoretisch uneingeholt und ein gewisser ‚blinder Fleck‘ in Baumans Theorie. Ebenso wirkt trotz der inhärenten Verbindung mit postmoderner Selbstreflexivität die Moderne vor 1980 bei Bauman, wie bereits angedeutet, merkwürdig eindimensional und homogen.58 An diese Kritik schließt sich die Frage an, ob Bauman nicht in seinem Bestreben, die Moderne als eindeutig ordnungsfixiert und inhärent ambivalenzfeindlich zu kategorisieren (und bisweilen der Postmoderne diametral gegenüberzustellen), seiner eigenen Kritik der dichotomen Klassifikation und Tilgung von Ambivalenz anheimfällt.59 Mit diesem Punkt ist ein Sachverhalt angesprochen, der auch für die folgenden Betrachtungen von großer Wichtigkeit ist: der Umgang mit Ambiguität oder Ambivalenz zeigt sich eben nicht nur in der Theorie über den Umgang mit derselben, sondern gerade an dem Umgang mit Ambiguität in der Theorie selbst. Damit Diese Leichtigkeit, die Verflüssigung der Vergesellschaftungsformen hat Bauman unter entsprechendem Titel (engl. Liquid Modernity/dt. Flüchtige Moderne) ausführlich analysiert. BAUMAN, ZYGMUNT, Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 82003, 22. 57 A.a.O., 38. 58 Vgl. ROMMELSPACHER, B IRGIT, Die postmoderne Fassung einer antimodernen Ethik, in: Soziologische Revue 20/3 (1997), 259–264, hier 260: „Die Moderne erscheint in Baumans Charakterisierung als monolitisch.“ 59 Auf die „grundsätzliche[] Paradoxie, […] dem thematisch Vieldeutigen, offen Gehaltenen und Unbestimmten mit wissenschaftlicher Klarheit und Trennschärfe zu begegnen” und damit eine gewisse Disambiguierung zu erwirken, haben sehr treffend hingewiesen DENGEL u.a., Einleitung, 17f. In Bezug auf Tillichs Theologie ist Robison James der Frage nachgegangen, inwieweit hier im Gegensatz eine verstärkte Ambiguisierung stattfindet, vgl. JAMES, ROBISON B., How Tillich’s Theology Can Add as Well as Resolve Existential Ambiguity, in: Marc Dumas/Jean Richard/Bryan Wagoner (Hg.), Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich (Tillich Research 9), Berlin/Boston: De Gruyter 2017, 379–389. 56
2.2 Die Moderne als geräumiger Aktenschrank
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ist nicht gemeint, eine Theorie über Ambiguität solle selbst ambig verfasst sein. Natürlich sollte sich jede Theorie um die eindeutige und klare Beschreibung auch mehrdeutiger Sachverhalte bemühen (vgl. I.1.6). Bauman allerdings scheint mit Blick auf die Moderne keinerlei Mehrdeutigkeit, Gegenläufigkeit, Andersartigkeit innerhalb der Moderne selbst zuzulassen. Damit blendet er jedoch aus, dass auch in der Moderne Strömungen vorhanden sind (zu nennen seien hier etwa die Romantik, die Lebensphilosophie oder die Counter-Culture), die das Mehrdeutige begrüßen, die Klassifikationsbestrebungen der instrumentellen Vernunft subversiv unterlaufen – und damit letztlich die Moderne selbst zu einem heterogenen, ambigen Gebilde machen. Die einseitige Charakterisierung einer homogenen Moderne, die sich als Rationalität der Vereinheitlichung und Vereindeutigung artikuliert, macht Baumans Theorie trotz seines postmodernen Standpunkts anfällig für einige der Kritikpunkte, die eingangs unter dem Stichwort ‚Modernisierungstheorie‘ vorgestellt wurden (vgl. I.2.1): So vertritt Bauman etwa eine deutliche Scheidung zwischen Vormoderne und Moderne (sowie zumindest partiell auch zur Postmoderne) und es lässt sich eine klare Rationalität der Moderne feststellen (Ambivalenzvernichtung und Ordnungswahn), die sich trotz ihrer kulturellen Eingebettetheit in die Praktiken der Moderne seltsamerweise auch in die Postmoderne herüberrettet. Über das Verhältnis von Moderne und Ambiguität im Falle von Bauman lässt sich also festhalten, dass Ambivalenz hier verwendet wird, um die Rationalität der Moderne zu charakterisieren. Moderne und Ambivalenz befinden sich zueinander in einem Verhältnis der reziproken Negativabhängigkeit: Ambivalenz entsteht als Abfallprodukt der modernen Rationalität, welche wiederum durch die Eliminierungsbestrebungen ebendieser Ambivalenz erst charakterisiert wird. Ambivalenz ist damit bei weitem keine rein deskriptive Kategorie, sondern steht zugleich für die Möglichkeit, dass das ‚Andere‘ eben kein Anderes mehr ist, sondern Teil des Eigenen sein darf – und damit für die Freiheit. Kurzum: Ambiguität oder Ambivalenz bei Bauman ist ein genuin modernes Problem, hervorgebracht von modernen Praktiken des Ordnens, bekämpft mit modernen Praktiken des Einschließens und Aussonderns, und dennoch inhärent mit der Möglichkeit aufgeladen, dass alles auch anders sein könnte. Dass letzterer Aspekt in Baumans Modernetheorie selbst nur wenig Platz findet, ist dementsprechend bedauerlich. Umso mehr gilt es nun zu sehen, ob der Deutungsstrang der Kulturtheorien der Moderne für diesen Umstand eine andere Lösung findet.
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
2.3 Transformation und Hybridität. Andreas Reckwitz’ Deutung der Moderne 2.3 Transformation und Hybridität
In der soziologischen Forschung und darüber hinaus sind in den letzten Jahren mehrere Werke des Kultursoziologen Andreas Reckwitz (*1970) intensiv rezipiert worden.60 In all diesen Werken beschäftigt sich Reckwitz aus praxeologischer Perspektive mit Genese, Struktur und Wandel moderner und spätmoderner Gesellschaften. Unter Praxeologie oder Praxistheorie ist dabei eine Form der Sozial- oder Kulturtheorie zu verstehen, die seit den 1990er Jahren auch in Deutschland mehr und mehr Verbreitung findet.61 Grundlegend für diesen Ansatz ist der Fokus auf Praktiken, also ritualisierten, körperlich ausgeführten, oft unbewusst vollzogenen Verhaltensweisen, die in das Zentrum der gesellschaftstheoretischen Analysen gestellt werden. Die Zentralstellung solcher Praktiken fußt auf dem Gedanken, dass ein Verständnis sozialer Gefüge und der darin stattfindenden Prozesse und Abläufe weder allein vom Individuum aus noch durch den Verweis auf abstrakte Strukturen verstanden werden kann (‚Mikro-Makro-Problem‘). Stattdessen wird davon ausgegangen, dass soziale Gefüge sich in alltäglichen Vollzügen materialisieren. Praktiken finden ständig und überall statt, sie sind kulturell geformt, binden aber doch das Individuum als körperlich-mentale Schnittstelle dieser Praktiken mit ein. Damit verortet sich die Praxeologie als Ansatz zwischen den klassischen Handlungstheorien und Strukturtheorien und betont sowohl die kulturelle Eingebundenheit von Praktiken, als auch die Offenheit und Entwicklungsmöglichkeit des Sozialen.62 Die für die vorliegende Arbeit entscheidenden Aspekte der Modernedeutung von Andreas Reckwitz gruppieren sich um zwei Begriffe, die seine Arbeiten durchziehen: ‚Transformation‘ und ‚Hybridität‘. Sie sollen im Zentrum der folgenden Betrachtung stehen. Hinter dem Begriff der Transformation, etabliert in Reckwitz Dissertationsschrift Die Transformation der Kulturtheorien. Zur
60 Vgl. etwa RECKWITZ, Die Gesellschaft der Singularitäten; D ERS., Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012; DERS., Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2006. 61 Im internationalen Diskurs stehen insbesondere die Arbeiten von Pierre Bourdieu, Bruno Latour, Charles Taylor oder Judith Butler für einen praxeologischen Zugang; in Deutschland hat sich Andreas Reckwitz mit seinem 2003 erschienenen Aufsatz DERS., Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), 282–301, als Vertreter derselben etabliert. 62 Zur Einführung vgl. SCHÄFER, H ILMAR, Einleitung, in: Ders. (Hg.): Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld: transcript 2016, 9–25. Zur Rekonstruktion der Praxistheorien als sozialtheoretische Position vgl. zudem SCHMIDT, JACOB, Achtsamkeit als kulturelle Praxis. Zu den Selbst-Welt-Modellen eines populären Phänomens, Bielefeld: transcript 2020, 49–66.
2.3 Transformation und Hybridität
67
Entwicklung eines Theorieprogramms,63 steht die Frage danach, wie sich kultureller Wandel vollzieht und wie dieser Wandel in der sozialwissenschaftlichen Forschung theoretisiert wird. In seiner Analyse diagnostiziert Reckwitz, dass Kulturtheorien grundsätzlich dazu neigen, die Reproduktion kultureller Formen gegenüber dem Wandel überzubetonen: Die Kulturtheorien sind regelmäßig so aufgebaut, daß kulturelle Reproduktion, das heißt die Wiederholung der gleichen Handlungsmuster und die Tradierung der gleichen Wissensordnungen, als problemlos nachvollziehbarer Normalfall, kulturelle Dynamik und Wandel dann jedoch als ein nur schwer begreifbarer Ausnahmefall erscheinen.64
Die Kultursoziologie kann nach Reckwitz also erklären, warum Gesellschaften stabil bleiben, Handlungen sich wiederholen, Sinnmuster reproduziert werden; sie kann allerdings weit weniger gut begründen, wie Veränderung, Neues oder kulturelle Dynamik entstehen. Nach Reckwitz ist diese Tendenz zur Reproduktionsthese eng verbunden mit einem „Homogenitätsmodell der Kultur“65, also einem Verständnis von Kultur als weitgehend einheitlichem und in sich konsistenten Gebilde. Demgegenüber vertreten manche Ansätze, unter anderem der von Reckwitz selbst, die Vorstellung von Kultur als einem „Modell kultureller Interferenzen und interpretativer Unterbestimmtheiten“66 – womit auch ein Begriff von Ambiguität ins Spiel kommt. Kurzum: es ist die Ebene der theoretischen Erfassung von Kultur im Allgemeinen, bzw. der Kultur der Moderne im Besonderen, in der sich für Reckwitz die Frage nach Homogenität versus Mehrdeutigkeit stellt. Damit ist genau der Punkt tangiert, der bei Bauman als Schwachstelle ins Auge gefallen war: dass auch der performative Umgang einer Theorie selbst eine Aussage über ihr Verhältnis zu Ambiguität, im Falle von Reckwitz zu Homogenität bzw. Mehrdeutigkeit, macht.67 Wie aber definiert Reckwitz nun seinen Begriff von Mehrdeutigkeit? Interpretative Unterbestimmtheit entsteht nach Reckwitz dann, wenn soziale Akteurinnen oder Akteure sich in einer Handlungssituation befinden, die sie mit den vorhandenen kulturellen Schemata, also routinierten Mustern der
RECKWITZ, ANDREAS, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist: Velbrück 2006 (Studienausgabe zur Erstausgabe 2000). 64 A.a.O., 617. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Reckwitz weist an anderer Stelle auf die interessante Beobachtung hin, dass Praxistheorien, die die Reproduktion betonen (etwa Pierre Bourdieu), in empirischen Analysen von Milieus gründen, die alles auf Reproduktion setzen (etwa das französische Bürgertum); andere hingegen, die Transformation betonen (etwa Judith Butler) sich in ihrer Empirie viel mit Trans-Kultur beschäftigt haben, vgl. RECKWITZ, ANDREAS, Die Reproduktion und die Subversion sozialer Praktiken. Zugleich ein Kommentar zu Pierre Bourdieu und Judith Butler, in: Karl H. Hörning/Julia Reuter (Hg.), Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld: transcript 2004, 40–53. 63
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
Handlungsbewältigung, nicht lösen können, wenn sie unter situativen Bedingungen stehen, die die Anwendung eines passenden Schemas verunmöglichen, oder wenn mehrere Schemata auf eine Situation anwendbar sind. Die dabei zugrundeliegende praxeologische Perspektive besteht darin, dass ‚Kultur‘ nicht als eine eigenständige homogene und vor allem abstrakte ‚Ideenwelt‘ existiert, sondern in Situationen, die gelöst und bewältigt werden müssen, ‚angewandt‘ wird (man spricht deshalb auch von ‚doing culture‘). Der Akteur oder die Akteurin wird dementsprechend eben nicht als ein „lediglich umweltbeobachtendes und -konstruierendes kognitives System, sondern als unter Handlungsdruck stehender Teilnehmer an körperlich hervorzubringenden sozialen Praktiken“68 verstanden. Er oder sie ist gezwungen, Dinge mit Bedeutung zu sehen, zu klassifizieren, zu handeln. Für eine solche Bewältigung von Handlungssituationen wenden die Akteure erlernte Wissensschemata an und schreiben den jeweiligen Situationen, Phänomenen etc. Sinnmuster zu.69 Gerade an diesem Punkt der Anwendung von Sinnschemata ist nun ein Moment der Instabilität in Reckwitz’ Theorie eingebaut: Ein routinierter Ablauf des ‚doing culture‘ kann, so seine These, „nur unter bestimmten Bedingungen“70 erfolgen. Solche Bedingungen sind in der Regel mit Wissensschemata verknüpft. Schreibt man etwa einen Text (= soziale Praktik), „zählt“ er nur unter gewissen, kulturell geformten Kriterien als wissenschaftlich, unter anderen als künstlerisch, literarisch, etc. Die Bedingungen des Wissensschemas ‚Wissenschaftlicher Text‘ müssen also erfüllt sein, um den geschriebenen Text als wissenschaftlich gelten zu lassen und einem entsprechenden Leserkreis zuführen zu können. Konfligiert nun der geschriebene Text mit den Kriterien des Schemas, weil er zu blumig, malerisch, o.ä. formuliert ist, kommt es gegebenenfalls zu einer Handlungskrise: Die Verfasserin weiß nicht mehr, was sie mit dem Text machen soll; ob er sich nicht doch eher zur Veröffentlichung in einer künstlerischen Zeitschrift oder für einen Blog eignen würde. Dafür wiederum scheint der Text jedoch die gängige Länge zu überschreiten. Kurzum: Die Kriterien eines Schemas müssen erfüllt scheinen, damit ebendieses Schema anwendbar wird (Kriterien sind erfüllt, der Text gilt als wissenschaftlich, wird von entsprechenden Verlagen veröffentlicht und einem bestimmten Leserkreis über akademische Institutionen zugänglich gemacht, usw.). In einer Situation kultureller Reproduktion erscheinen nach Reckwitz alle Kriterien problemlos anwendbar und die Situation erhält damit eine eindeutige Bedeutung („Dies ist ein wissenschaftlicher Text.“). Es kommt zu keiner Handlungskrise („Die Dissertation wird eingereicht.“). Sind die Kriterien aber nicht oder nur teilweise erfüllt, kommen mehrere Schemata infrage, die jedes für sich nicht eindeutig passen („Doch ein Roman?“, „Vielleicht taugt es nur als RECKWITZ, Transformation, 625. Vgl. a.a.O., 617–637. 70 A.a.O., 625. Hervorhebung im Original. 68 69
2.3 Transformation und Hybridität
69
Essay?“). Reckwitz spricht in einem solchen Fall von zwei Möglichkeiten solcher Nicht-Eindeutigkeiten: Es kommt entweder zu einer Unbestimmtheit oder zu einer Mehrdeutigkeit. In beiden Fällen liegt keine eindeutige Anwendung einer Sinnzuschreibung vor; im Falle der Unbestimmtheit kann die Akteurin die Situation aufgrund fehlender Schemata-Passung nicht bewältigen, im Falle der Mehrdeutigkeit gibt es mehrere mögliche Sinnoptionen. Ein Begriff von Ambiguität, um eine erste Koordinate festzuhalten, taucht bei Reckwitz also zunächst unter der Bezeichnung der Mehrdeutigkeit auf, die wiederum von der Unbestimmtheit unterschieden wird. Der Begriff wird dabei verwendet, um die Passung mehrerer Sinnmuster auf eine Situation zu beschreiben. Es liegt also eine nicht-eindeutige „interpretative Bestimmung“71 vor, die Reckwitz auch „interpretative Ambivalenz“72 nennt. Er verwendet also die Bezeichnungen ‚Mehrdeutigkeit‘ und ‚Ambivalenz‘ zunächst synonym. Anders als bei Bauman wird Ambivalenz hier nicht als Produkt eines sprachlichen Klassifikationsproblems, sondern als eine situative Pluralität von Deutungsmöglichkeiten verstanden, die durch ein Passungsproblem zwischen einer Situation und den vorhandenen kulturellen Schemata entsteht. Der Art nach liegt hier also eine Bedeutungsmehrdeutigkeit vor; verortet wird sie in sozialen Praktiken, genauer im Moment des Scheiterns der Anwendung eines kulturellen Schemas. Ähnlich wie bei Bauman sind die Konsequenzen, die sich aus dieser fehlenden Passung ergeben, Handlungsunsicherheit und ein Bewusstsein für Kontingenz. An dieser Stelle erhält der Begriff auch eine psychologische Komponente. Jedoch sieht Reckwitz, ganz anders als Bauman, in diesem Moment der Verunsicherung zugleich die Möglichkeit für kulturellen Wandel, für eine Dynamisierung der Kultur gegeben. Damit kommt der Mehrdeutigkeit die nicht unerhebliche Funktion zu, die Chance auf Veränderung zu bergen. Allerdings tritt eine solche Veränderung nur dann ein, wenn neue Sinnelemente verfügbar sind, mit denen die Akteurin ihre Situation bewältigen kann. Hierfür bauen die entsprechenden, von Reckwitz thematisierten Sozialtheorien neben der Idee von ‚interpretativer Ambivalenz‘ noch den Gedanken ‚kultureller Interferenzen‘ ein, der nun zu skizzieren ist. Die Annahme kultureller Interferenzen geht davon aus, dass soziale Akteurinnen und Akteure an verschiedenen Wissensordnungen zugleich partizipieren, also etwa einer politischen, ästhetischen, religiösen, usw. und dass diese unterschiedlichen Ordnungen sich im Wissen der Akteurinnen und Akteure überlagern. Es stehen also im Falle einer Situationsbewältigung unterschiedliche und eventuell miteinander inkompatible Systeme von Sinnmustern miteinander in Konkurrenz. Damit wird einem Homogenitätsmodell der Kultur insofern widersprochen, als Kultur nicht als ein in sich kohärentes Sinnsystem, sondern als Überlagerung sich widersprechender Sinnsysteme verstanden 71 72
A.a.O., 628. Ebd.
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
wird, die ihre Schnittstelle im Akteur bzw. der Akteurin selbst haben. Es gibt also „multiple Realitäten“ (Alfred Schütz), an denen Akteurinnen und Akteure partizipieren.73 In diesen können ein- und demselben Phänomen mit Rückgriff auf unterschiedliche Wissensordnungen verschiedene Bedeutungen zugeschrieben werden und somit Deutungen produziert werden, die einander widersprechen. Die Mehrdeutigkeit der mikrosozialen Einzelsituation erscheint hier also als Konsequenz der Überlagerung verschiedener Wissenssysteme auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene.74 Mit anderen Worten: Interpretative Ambivalenz bei Reckwitz ist ein Deutungskonflikt des Subjekts, der in einer strukturellen Überlagerung von Wissenssystemen, in kultureller Interferenz, seinen Ursprung hat.75 Durch „Innovation-qua-Rekombination“76 von Sinnmustern ist dies zugleich der Punkt, an dem sozialer Wandel geschehen kann. Allerdings ist eine solche produktive Ummünzung der mehrdeutigen Situation keineswegs die einzig mögliche Folge. Vielmehr hält Reckwitz auch die Auslöschung oder Entwertung eines Schemas sowie Versuche der „Rekompartmentalisierung“77, also der Auflösung der Mehrdeutigkeit durch Differenzierung, für mögliche Strategien im Umgang mit mehrdeutigen Situationen. In diesen Fällen wird die situative Eindeutigkeit wiederhergestellt. Der Umgang mit Ambiguität, um eine weitere Koordinate zu fixieren, wird bei Reckwitz also selbst als ein Spektrum verschiedener Möglichkeiten gesehen. Reckwitz stellt in seiner Studie also ein Modell von Kultur vor, das (1) auf der Mikroebene mehrdeutige Situationen annimmt, die wiederum (2) in einer Struktur der Überlagerung von Wissensordnungen auf der Makroebene wurzeln. ‚Transformation‘ im Sinne von kultureller Dynamik und Veränderung braucht als Bedingung ebenjene interpretativen Ambivalenzen und kulturellen Interferenzen, die – so die Rückbindung am Ende von Reckwitz’ Studie – in der Moderne auf besondere Weise hervorgebracht werden. Dabei bindet Reck-
73 Reckwitz übernimmt diesen Ausdruck aus dem Spätwerk des phänomenologischen Soziologen Alfred Schütz, vgl. SCHÜTZ, ALFRED, Über die mannigfachen Wirklichkeiten, in: Ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. I: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag: Nijhoff 1971, 237–287; Vgl. RECKWITZ, Transformation, 630. 74 „Die Überführung von interpretativer Unterbestimmtheit in kulturellen Wandel setzt offenbar kulturelle Interferenzen, das heißt ein Reservoir alternativer verfügbarer Sinnoptionen, voraus“, a.a.O., 639. Man hat es hier also mit „zwei Seiten derselben Medaille zu tun.“ 75 Entscheidend dafür ist das Verhältnis, in dem die Wissensordnungen zueinanderstehen. Reckwitz unterscheidet hier zwischen ‚Kompartmentalität‘ und ‚Interferenz‘ im engeren Sinne. Erstere ist ein unabhängiges Nebeneinander der Schemata, das mit dem Stichwort der funktionalen Differenzierung von Niklas Luhmann gefasst werden kann. Nur zweitere als „Anwendung unterschiedlicher Wissensordnungen auf die gleichen Situationen“ führt zu Situationen interpretativer Unbestimmtheit oder Mehrdeutigkeit. A.a.O., 636f. 76 A.a.O., 635. 77 Ebd.
2.3 Transformation und Hybridität
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witz die moderne Hervorbringung von Mehrdeutigkeiten an die realgeschichtliche Transformation der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts hin zu der hochmodernen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Die hochmoderne Gesellschaft des 20. Jahrhunderts sieht er geprägt durch die gesteigerte Ausdifferenzierung von Sinnsystemen. Durch Globalisierung und Mobilitätssteigerung, durch immer flexibler werdende Organisationsformen und die Denaturalisierung bestimmter Konzepte (Ethnie, Geschlecht, usw.) potenzieren sich in der Moderne die interpretativen Mehrdeutigkeiten stetig. Was bedeutet aber diese Feststellung für Reckwitz’ Charakterisierung der Moderne? Mit dieser hat sich Reckwitz ausführlich in seiner Studie Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne beschäftigt. Dabei fokussiert sich seine Studie auf all diejenigen sozialen Praktiken, die das ‚moderne Subjekt‘ modellieren, also das hervorbringen und definieren, was als modernes Subjekt gilt. Reckwitz beginnt seine Studie mit einer Problematisierung des modernen Subjekts, das er als ein „doppeldeutig[es]“78 beschreibt: Auf der einen Seite werde das moderne Subjekt wiederholt über die Konzepte von Autonomie, Rationalität, Moralität und Expressivität definiert. Dem setzen andere Theorien, insbesondere sozial- und kulturwissenschaftlicher Provenienz, entgegen, dass das Subjekt durch übergeordnete Strukturen, etwa die des Kapitalismus oder der Rationalität, die den Bewegungen der Autonomie in gewisser Weise zuwiderlaufen, geformt wird. Auch hier taucht die Kontrastierung von Individualisierungstheorien und strukturdeterministischen Alternativen, die schon im Zusammenhang mit der Transformation der Kulturtheorien dargelegt wurde, wieder auf. Interessant ist hier jedoch die Verwendung des Begriffs der Doppeldeutigkeit, der nun die Verortung der praxeologischen Perspektive zwischen Mikro- und Makroebene bezeichnet. Das Ambige begegnet hier noch einmal auf einer anderen, ganz grundsätzlichen Theorieebene, nämlich der der soziologischen Selbstverortung, die Individuum oder Gesellschaft eben nicht eindeutig und als einander gegenüberstehend, sondern sie vielmehr ineinander verwoben und als ‚doing culture‘ denken will.
RECKWITZ, Das hybride Subjekt, 9: „Subjectum, das Subjekt hat eine doppelte Bedeutung: es ist das in die Höhe Erhobene und das Unterworfene. Es ist Zentrum autonomen Handelns und Denkens – vom Subjekt der Geschichte bis zum grammatischen Subjekt eines Satzes. Und es ist das, was übergeordneten Strukturen unterliegt – bis hin zum Rechtssubjekt und zu jenem, für den im Englischen gilt: ‚he is subjected to something‘. In seiner Doppeldeutigkeit präsentiert sich das Subjekt als ein unterworfener Unterwerfer, ein unterwerfendes Unterworfenes. Dieser Polysemie entspricht in der Kultur der Moderne eine Doppelstruktur des Subjekts. […] Der Einzelne avanciert zum vorgeblich autonomen, zweckrationalen oder moralischen Subjekt erst dadurch, dass er sich bestimmten Regeln – Regeln der Rationalität, des Kapitalismus, der Moralität, etc. – unterwirft, diese interiorisiert und inkorporiert und sich in soziale Gefüge integriert.“ 78
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
So konzipiert Reckwitz nun, ganz dieser praxeologischen Doppeldeutigkeit folgend, auch die Subjektwerdung als eine Medaille mit zwei Seiten, nämlich den „beiden Seiten des modernen subjectum, das sich kulturelle Regeln einverleibt, um ‚individualistisch‘ zu werden“79. Die Produktion von Individualität in der Moderne versteht Reckwitz also selbst als eine kulturelle Form: [Es ist] kennzeichnend für die Moderne – verstanden als jener heterogene Komplex von sozialen Praktiken und Diskursen, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Westeuropa und Amerika heranbilden –, dass sie spezifische kulturelle Formen produziert, denen entsprechend sich der Einzelne als ‚Subjekt‘, das heißt als rationale, reflexive, sozial orientierte, moralische, expressive, grenzüberschreitende, begehrende etc. Instanz zu modellieren hat und modellieren will.80
‚Moderne‘ wird hier also in erster Linie als heterogenes Gebilde vieler sozialer Praktiken verstanden, die sich darum drehen, was ein modernes Subjekt ist und wie es sich selbst verstehen und verhalten soll. Die Moderne gibt aber darin gerade keine eindeutige, homogene Subjektstruktur vor, sondern kann selbst als ein umfassender, ständig stattfindender Aushandlungsprozess, ein Kampffeld um die Definition des Subjekts, verstanden werden, das eine ständige Reproduktion und Transformation von Subjektkulturen hervorbringt. Dementsprechend ist es nach Reckwitz kaum angemessen, von der Moderne zu sprechen; vielmehr müssen mit einem Begriff von Shmuel Eisenstedt ‚multiple modernities‘ angenommen werden, die neben-, in-, und nacheinander existieren (und auch den nicht-europäischen Raum einschließen).81 Entsprechend dieser inneren Multiplizität der Moderne weisen die hervorgebrachten Subjektkulturen eben gerade jene Überlagerungen auf, die Reckwitz ehedem als kulturelle Interferenzen bezeichnet hatte: Subjektkulturen erweisen sich als ein kombinatorisches Arrangement verschiedener Sinnmuster, und Spuren historisch vergangener Subjektformen finden sich in den später entstehenden, subkulturellen Elementen in den dominanten Subjektkulturen, so dass sich eigentümliche Mischungsverhältnisse ergeben.82
Zwar macht Reckwitz in seiner Analyse für verschiedene Zeiten eine je dominante Subjektkultur aus, so etwa das moralisch-souveräne Subjekt der bürgerlichen Moderne des 18. und 19. Jahrhunderts, die Normalform des extrovertierten Angestelltensubjekts der 1920er bis 1970er Jahre oder das kreativ-konsumistische Subjektmodell der Postmoderne ab den 1980er Jahren. Die voneinander unterscheidbaren, aber dennoch ineinander übergehenden Transforma-
A.a.O., 14. Hervorhebung im Original. A.a.O., 10. Hervorhebung im Original. 81 Vgl. EISENSTADT, SHMUEL N., Multiple modernities. Analyserahmen und Problemstellung, in: Thorsten Bonacker/Andreas Reckwitz (Hg.): Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Campus 2007, 19–45. 82 R ECKWITZ, Das hybride Subjekt, 15. 79 80
2.3 Transformation und Hybridität
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tionen der Subjektkulturen sind dabei jedoch – auch in ihrer jeweils vorherrschenden Form – von Agonalitäten, Diskontinuitäten und insbesondere Hybridität gekennzeichnet: ‚Hybridität‘ bezeichnet dabei die – nicht exzeptionelle, sondern verbreitete, ja regelmäßige – Kopplung und Kombination unterschiedlicher Codes verschiedener kultureller Herkunft in einer Ordnung des Subjekts.83
‚Hybridität‘, nun zum Terminus für die Überlagerung verschiedener kultureller Sinnmuster geworden, äußert sich unter anderem in den Ambivalenzen der jeweiligen Subjektform: So zeichnet Reckwitz etwa das typische Angestelltensubjekt als eines, das stark außenorientiert modelliert wird: Man will nichts mehr als ‚normal‘ sein, und vor den Bekannten, Nachbarn, der Familie diese Normalität zur Schau stellen („Was sollen denn die Nachbarn denken?!“). Zugleich wird über die ständige Außenorientierung eine Innenperspektive geschärft, die sich selbst gegenüber den anderen als different versteht („Eigentlich, tief drinnen, bin ich ganz anders als die!“), als etwas Besonderes. Diese Perspektive des Besonderen, die auf einer Innenorientierung beruht, wird sodann in den Subjekttransformationen der Counter Culture in gewisser Weise ‚nach oben gespült‘ und etabliert sich zu einem dominanten Sinnmuster der folgenden Epoche. Die Moderne ist damit nicht nur als Zeitraum heterogen und mehrdeutig – indem sie gewisser Weise wie ein ständig sich reproduzierender und transformierender Riesenflickenteppich eine „Textur“84 eher als eine Linie darstellt –, sondern auch die modernen Subjektkulturen, die sie dabei produziert, sind in sich ambivalent. Zwar merkt auch Reckwitz an, dass jede dieser Modernekulturen die „Eindeutigkeit und Perfektion“85 ihres Subjekts behaupten will; gleichzeitig jedoch ist jede dieser Subjektkulturen von Fissuren, von Bruchlinien und Ambivalenzen geprägt, die jene Vereindeutigungstendenzen ständig unterlaufen. An dieser Stelle, so muss im Sinne der Koordinatensammlung ergänzt werden, erscheint der Begriff der Ambivalenz interessanterweise noch einmal in einem ganz anderen Sinne: Nicht eine interpretative Bedeutungsmehrdeutigkeit ist hier angesprochen, sondern die Herausbildung einer klaren Widersprüchlichkeit zweier Elemente, wie im Falle des Angestelltensubjekts der Außenorientierung versus der Innerlichkeit. Die Aufbaulogik dieser Ambivalenz ist also ein grundsätzlich anderer als noch im Fall der interpretativen Mehrdeutigkeit: aus zwei Elementen bestehend, dichotom-dynamisch konzipiert, mit einer Wertigkeit verbunden. Die Funktion bleibt jedoch auch hier die A.a.O., 19. Hervorhebung im Original. A.a.O., 15. Hervorhebung im Original. 85 A.a.O., 19. 21: „Die Kultur der Moderne hat – entgegen allen Versuchen der Vereinheitlichung von bürgerlichen, romantischen, proletarischen, postmodernen etc. Subjekt- und Identitätsformen – tatsächlich systematisch die Potenzierung hybrider Kombinationen vorangetrieben.“ 83 84
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
gleiche wie im Falle der interpretativen Mehrdeutigkeit: die Ermöglichung von Wandel. Dieser geschieht dadurch, dass eine Seite des Subjekts, also etwa die Innenorientierung, Oberhand gewinnt und schließlich zur dominierenden Eigenschaft der nächsten Subjektkultur wird. Zusammenfassend lässt sich damit für Reckwitz’ Position festhalten, dass verschiedene Bezeichnungen für Ambiguität (hier verstanden als Metaterminus) auf verschiedenen Ebenen zum Einsatz kommen: Zunächst, innerhalb seiner Theorie, einmal die interpretative Mehrdeutigkeit im Zusammenhang mit kultureller Transformation, zum anderen die dichotome Ambivalenz innerhalb der Konstitution des Subjekts. Zum anderen aber ist das Ambige bei Reckwitz auch auf der Metaebene, nämlich der Konzeption seiner Theorie, selbst eingebaut, und zwar mindestens an zwei Stellen: erstens, in der Selbstverortung der Praxeologie im doppeldeutigen ‚Dazwischen‘ von Individuum und Gesellschaft; zweitens, in der Konzeptualisierung von Kultur(-theorie) als heterogenem, nicht zu vereinseitigendem Diskurskomplex. Insbesondere der letzte Punkt führt zu einem Bild der Moderne, das gänzlich anders aussieht als der Aktenschrank Baumans: Bei Reckwitz gleich die Moderne vielmehr einem chaotischen, ständig sich reproduzierenden und transformierenden Flickenteppich, in dem die Fäden zahlreicher Praktiken ineinanderlaufen. Diese beruhen wiederum auf Überlagerungen von Wissensordnungen, die eine Mehrdeutigkeit von Situationen produzieren, ambivalente Subjektstrukturen hervorbringen, usw. Mehrdeutigkeit und Ambivalenz, so das Ergebnis der Betrachtungen, haben als Momente der Instabilität in Reckwitz’ Theorie vor allem eine produktive Funktion, nämlich die der Ermöglichung von kulturellem Wandel. Eine Theorie, die in sich selbst diesen Elementen keinen Raum gibt, wird, so könnte man schlussfolgern, am Ende von genau diesem Wandel obsolet gemacht.
2.4 Ertrag: Ambiguität und Moderne. Zu einem umstrittenen Verhältnis 2.4 Ertrag: Ambiguität und Moderne
Gebündelt lassen sich die Ergebnisse dieser ersten Diskursbetrachtung an den eingangs gestellten Fragen nach dem Charakter der Moderne einerseits und dem Umgang der Moderne mit Ambiguität andererseits darstellen: Bei dem Soziologen Zygmunt Bauman, der bezüglich der Charakterisierung der Moderne durchaus Ähnlichkeiten zu Modernetheorien klassischer Provenienz aufweist, weist die Moderne einen eindeutigen Charakter auf, der sich vor allem über ihren Ordnungswahn gekoppelt mit der daraus resultierenden Ambivalenzfeindlichkeit auszeichnet. Die Moderne bei Bauman ist – trotz der Betonung der postmodernen Charakterhaltung als moderner Selbstreflexion – eindimensional konzipiert, mit einer klaren Abgrenzung gegenüber der Vormoderne sowie einer deutlich erkennbaren Rationalität. Mit anderen Worten:
2.4 Ertrag: Ambiguität und Moderne
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Mehrdeutigkeit, Heterogenität oder Ambivalenz kommen in der Struktur der Moderne, wie Bauman sie konzipiert, nicht vor. Umso mehr widmet sich Bauman den Fragen des Umgangs der Moderne mit Ambivalenz: Für ihn ist die Moderne zutiefst ambivalenzfeindlich. Ambivalenz wird dabei verstanden als das Unterlaufen sprachlicher und sozialer Ordnungskategorien, die von der Moderne hervorgebracht werden. Das Verhältnis von Moderne und Ambivalenz stellt sich damit als eines der wechselseitigen (negativen) Abhängigkeit dar: Auf der einen Seite bringt erst die Moderne in ihrem Ordnungswahn ständig Ambivalenzen hervor; Ambivalenz ist also für Bauman eine genuin moderne Kategorie. Auf der anderen Seite lässt sich die Moderne in erster Linie über ihre Ambivalenzfeindlichkeit charakterisieren. Mit anderen Worten: Moderne in ihrer Eigenheit und Besonderheit gegenüber anderen Epochen ist gerade über ihre Haltung zu und ihren Umgang mit Ambivalenz zu verstehen, der sich als eine andauernde Eliminierungsanstrengung darstellt. Ambivalenz hingegen entsteht überhaupt nur aufgrund der Kategorisierungsbestrebungen der Moderne, allerdings immer als deren Abfallprodukt. Mit dieser reziproken Negativabhängigkeit zwischen Moderne und Ambivalenz geht bei Bauman jedoch letzten Endes trotzdem eine positive Funktion einher: Ambivalenz enthält in ihrem Widerstreben gegen den Ordnungsfanatismus in sich eine Erinnerungsfunktion für eine freiheitlichere Gesellschaftsordnung. Damit ist zugleich jedoch Baumans Haltung gegenüber Vereindeutigungen und Eindeutigkeit im Allgemeinen problematisiert, die er eng an Mechanismen wie Ausgrenzung des ‚Anderen‘, Totalitarismus und Freiheitsvernichtung bindet. In Baumans Theorie bleibt kein Raum für neutrale oder gar positiv konnotierte Formen von Eindeutigkeit im sozialen Gefüge einer Gesellschaft – ebenso wenig wie für Heterogenität oder Mehrdeutigkeit mit Blick auf den Charakter der Moderne. Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz konzipiert demgegenüber die Moderne als einen heterogenen und in sich mehrdeutigen Diskurskomplex. Moderne ist ihrem Charakter nach immer schon als ein Plural (‚multiple modernities‘) zu verstehen; ‚die‘ eine Moderne gibt es nicht. Zugleich denkt Reckwitz die Moderne/modernities dennoch als eine Transformationsbewegung, die einen Zuwachs an interpretativer Mehrdeutigkeit hervorbringt, dadurch dass Wissensordnungen und damit vorliegende Sinnmuster sich vervielfältigen. Während Bauman also die Moderne im Sinne eines ‚Großnarrativs‘ als einen Vereindeutigungsversuch zeichnet, stellt Reckwitz die Moderne als eine Pluralisierungsbewegung in den Vordergrund. Zugleich zeichnen sich bei Reckwitz verschiedene Konzeptionen von Moderne – sichtbar an den Subjektkulturen – durch verschiedene in sich ambivalente Strukturen aus. Reckwitz baut also sowohl strukturelle Ambivalenzen als auch interpretative Mehrdeutigkeiten in seine Konzeption der in sich wiederum pluralen Moderne ein. In seinem Theoriegebäude bilden interpretative Mehrdeutigkeit und strukturelle Ambivalenz einen Teil jeder Kultur und sind nicht
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Teil I – Kap. 2. Ambiguität als Signatur der Moderne
exklusiv auf die Moderne beschränkt. Gleichwohl beurteilt er gerade den Zuwachs interpretativer Mehrdeutigkeit als ein genuin modernes Phänomen, das eng mit den realhistorischen Transformationen im 19. und 20. Jahrhunderts verwoben ist. Sowohl interpretative Mehrdeutigkeit wie auch strukturelle Ambivalenz sind – unter Auswertung der Koordinaten – bei Reckwitz anders zu verstehen als bei Bauman: Während Bauman Ambivalenz als ein Unterlaufen von Ordnungskategorien, also über das ‚Andere‘ der Ordnung, konzeptualisiert hatte, versteht Reckwitz interpretative Mehrdeutigkeit als die Pluralität von Sinndeutungsangeboten, vor die das Subjekt gestellt ist; die strukturelle Ambivalenz hingegen als die konkurrierenden Eigenschaften einer bestimmten Subjektkultur. Der Umgang der Moderne mit Mehrdeutigkeit kann bei Reckwitz ebenfalls nicht eindeutig bestimmt werden, sondern variiert je nach Subjektmodell: Während das bürgerlich modellierte Subjekt Mehrdeutigkeit eher ablehnt, begrüßen das romantische oder auch das expressive Subjektmodell Mehrdeutigkeiten gerade. Mit anderen Worten: Auch der Umgang mit Mehrdeutigkeit in der Moderne ist entsprechend der ‚multiple modernities‘ nach Reckwitz vielfältig und komplex. Wenngleich Reckwitz sich in seiner Theorie um Deskriptivität bemüht, scheint es doch so, als ob er Interferenzen, Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen eine genuin positive Funktion zuschreibt, nämlich die, die Möglichkeiten für kulturellen Wandel zu eröffnen. Auch wenn dieser freilich sowohl positiv als auch negativ sein kann, liegt bei Reckwitz mit seiner theoretischen Emphase von Transformation diesbezüglich eine klare Positionierung hin zur positiven Bewertung von Wandel vor. Vereindeutigungen oder Eindeutigkeit stehen dabei nicht im Interesse seiner Betrachtungen. Schließlich lässt sich vergleichend feststellen, dass der Umgang beider Denker mit Mehrdeutigkeit oder Ambivalenz, wie er sich in der Konzeption ihrer Modernetheorie darstellt, stark variiert: Während Bauman eine eindeutige Charakterisierung der Moderne vorlegt, räumt Reckwitz’ Modell der Moderne Mehrdeutigkeiten und Heterogenitäten auf verschiedenen Ebenen großen Raum ein. Damit erweist sich seine Theorie insgesamt als deutlich ambiguitätsfreundlicher als dies bei Bauman der Fall ist. Zugleich wird damit deutlich, dass der Umgang mit Ambiguität nicht nur in Beschreibungen des ‚da draußen‘ stattfindet, sondern auch und gerade in Texten, Debatten und Diskursen. Mit Blick auf die im Hauptteil der Arbeit erfolgende Analyse von Tillichs Ambiguitätsbegriff lassen sich an diesem Punkt mehrere Anliegen festhalten: Zunächst gilt es auch hier die Frage im Blick zu behalten, wie Tillich das Verhältnis von Ambiguität und Moderne mit Blick auf die Struktur oder den Charakter der Moderne einerseits, aber auch den Umgang der Moderne mit Ambiguität andererseits konzeptualisiert. An letzterem Punkt muss die Frage besondere Aufmerksamkeit erhalten, welche Funktion und welche Bewertung Tillich der Ambiguität – und damit letztlich auch der Kategorie der Eindeutigkeit – zuschreibt. Ähnelt seine Deutung hier der grundsätzlich positiven Bewertung
2.4 Ertrag: Ambiguität und Moderne
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von Ambiguität – und der Skepsis bzw. dem Desinteresse gegenüber Eindeutigkeit –, die das zurückliegende Kapitel kennzeichneten? Oder nimmt Tillich, gerade aus theologischer Perspektive, eine alternative Bewertung und Einordnung von Ambiguität versus Eindeutigkeit vor? Daneben gilt es die Frage zu behandeln, ob Tillich – wie etwa Bauman – die Eigenheit und Abgehobenheit der Moderne gegenüber früheren (gegebenenfalls auch nachfolgenden) Epochen gerade betont oder hier vielmehr in Kontinuitäten denkt – und was das jeweils für das Verhältnis von Moderne und Ambiguität bedeutet. Bevor die Arbeit sich diesen Fragen zuwendet, soll nun allerdings zunächst ein weiterer Diskurs behandelt werden, der das Verhältnis von Ambiguität und Religion in den Blick nimmt.
Kapitel 3
Die ambige Verfasstheit von Religion. Aktuelle Kontroversen Teil I – Kap. 3. Die ambige Verfasstheit von Religion Die ambige Verfasstheit von Religion
Unter dem Stichwort der ‚Säkularisierungsthese‘ lässt sich eine der interessantesten und erstaunlichsten wissenschaftlichen Kehrtwendungen der letzten Jahrzehnte verfolgen: Noch bis in die 1980er Jahre hinein waren beinahe alle religionssoziologischen Theoretikerinnen und Theoretiker von dem negativen Einfluss von Modernisierungsprozessen auf die Bedeutung und Vitalität von Religionen überzeugt. Umgekehrt gehört es „in den Geistes- und Sozialwissenschaften heute zum guten Ton, sich von Säkularisierungs- und Modernisierungstheorien, die einen gesellschaftlichen Bedeutungsrückgang von Religion und Kirche postulieren, abzugrenzen und sie als eindimensional, deterministisch und fortschrittsgläubig abzutun.“1 Wenngleich der empirische Befund hierzulande im Bereich der kirchlichen Religiosität weiterhin leerstehende Kirchen, schwindende Mitgliederzahlen und ein sinkendes Interesse an traditioneller Spiritualität zu verzeichnen hat, wird dies nun entweder als europäischer ‚Sonderfall‘ eingeordnet oder mit Blick auf einen sehr engen, institutionalisierten Religionsbegriff perspektiviert.2 Zugleich ist von einer „Transformation der Religion“3 die Rede, die sich etwa im Yoga, der ‚New-Age‘-Bewegung
POLLACK, DETLEF, Wiederkehr der Religion oder Säkularisierung. Zum religiösen Wandel in Deutschland, in: Ost-West. Europäische Perspektiven 1 (2007), vgl. https://www.owep.de/ausgabe/2007-1 (Zugriff am 18.4.2020). 2 Dabei wird in der Regel der „in der europäischen Religionsgeschichte verwurzelte Religionsbegriff, für den Religion weitgehend identisch ist mit institutionalisierter, also vor allem kirchlich verfasster Religion“ zugrunde gelegt, der die These – zumindest für den europäischen Raum – empirisch nachvollziehbar macht, vgl. GEBHARDT, WINFRIED, Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts und die Entkonturierung der religiösen Landschaft, in: Peter A. Berger/Klaus Hock/Thomas Klie (Hg.), Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer 2013, 89–105, hier 90. Zur Diskussion der Säkularisierungsthese vgl. etwa POLLACK, DETLEF, Entzauberung oder Wiederverzauberung der Welt? Die Säkularisierungsthese auf dem Prüfstand, in: Sybille Fritsch-Oppermann (Hg.), Der Geist und die Geister. Über die Bedeutung „neuer religiöser Bewegungen“ für Kirche und Gesellschaft, Rehburg-Loccum: Ev. Akademie Loccum 1998, 193–208. 3 So eine Formel von K NOBLAUCH, H UBERT, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus 2009, 265. 1
Die ambige Verfasstheit von Religion
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oder Achtsamkeits- und Meditationspraktiken vollzieht.4 Nicht zuletzt häufen sich solche Beiträge, die von der „Wiederkehr der Götter“5 handeln oder nach der „Rückkehr des Religiösen“6 fragen und Stichworte wie ‚De-Säkularisierung‘, ‚Renaissance der Religion‘ sowie ‚Entprivatisierung von Religion‘ sind ebenfalls hoch im Kurs.7 Es soll im Folgenden nicht um eine Stellungnahme bezüglich der gegenwärtigen Lage der Religion in Deutschland oder Europa oder gar eine Evaluierung der Säkularisierungsthese gehen. Vielmehr liegt das Interesse dieses Kapitels auf der Frage, auf welche Weise gegenwärtige Entwicklungen im Bereich der Religion mit Hilfe der Kategorie des Ambigen gedeutet werden. Dafür werden im Folgenden zwei Entwürfe diskutiert, die das Verhältnis von Religion und Ambiguität verschieden bestimmen und dementsprechend zu sehr unterschiedlichen Konsequenzen gelangen. Auf der einen Seite steht der jüngst viel beachtete Entwurf des deutschen Islamwissenschaftlers Thomas Bauer (*1961), der mit seiner Studie Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams8 sowie seinem gegenwartsdiagnostischen Essay Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt9 den Ruf nach mehr Ambiguitätstoleranz bis in die Feuilletons hinein hat laut werden lassen. Bauer deutet die gegenwärtige Lage der Religion als Resultat einer allgemein schwindenden Ambiguitätstoleranz in westlich-modernen Gesellschaften. Im Bereich des Religiösen führt diese Entwicklung nach Bauer zu zwei scheinbar konträren Phänomenen, religiöser Gleichgültigkeit auf der einen und religiösem Fundamentalismus auf der anderen Seite.10 Die Kurzfassung von Bauers These lautet also: Religion ist ein auf Ambiguitätstoleranz angewiesenes Phänomen, das unter deren Ausbleiben in verschiedene Richtungen degeneriert. Dabei werden sowohl Gleichgültigkeit (als Abwendung) wie auch Fundamentalismus (als Vereindeutigung) als Flucht vor Ambiguität gedeutet. Deutlich anders gelagert ist die Diagnose des Soziologen Ulrich Beck (1944–2015), der insbesondere durch den Essay Risikogesellschaft aus dem
4 Vgl. etwa SIEGERS, PASCAL, Alternative Spiritualitäten. Neue Formen des Glaubens in Europa: Eine empirische Analyse, Frankfurt a.M.: Campus 2012, 14; HEELAS, PAUL, Spiritualities of Life. New Age Romanticism and Consumptive Capitalism, Malden: Blackwell 2008. Zu Meditations- und Achtsamkeitspraktiken im Kontext der Säkularisierungsdebatte vgl. SCHMIDT, Achtsamkeit als kulturelle Praxis, 149–158. 5 Vgl. G RAF, FRIEDRICH W ILHELM, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München: Beck 2004. 6 Vgl. POLLACK, D ETLEF, Rückkehr des Religiösen?, Tübingen: Mohr Siebeck 2009. 7 Vgl. POLLACK, Wiederkehr der Religion oder Säkularisierung. 8 Vgl. B AUER, Kultur der Ambiguität. 9 Vgl. B AUER, Vereindeutigung der Welt. 10 Vgl. a.a.O., 38–49.
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Teil I – Kap. 3. Die ambige Verfasstheit von Religion
Jahr 1990 einem weiteren Publikum bekannt wurde.11 In seinem 2008 erschienenem Buch Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen12 schildert Beck die Gegenwart als eine Zeit der Vervielfältigung des Religiösen und verbindet seine Diagnose mit der These, dass der Zuwachs an Ambiguitäten in der Religionskultur die inhärenten Ambivalenzen der Religion, insbesondere ihr Gewaltpotential, zu überwinden vermag. Anders als Bauer, der die religiösen Optionen der Gegenwart zwischen Gleichgültigkeit und Fundamentalismus aufspannt, sieht Beck das zukünftige Potential der Religion gerade in deren innerer Pluralisierung gegeben. Dabei deutet sich eine Verwendung der Kategorie des Ambigen an, die zwischen Pluralisierung auf der einen Seite (‚Ambiguität‘) und struktureller Widersprüchlichkeit auf der anderen Seite (‚Ambivalenz‘) unterscheidet. Bei beiden Denkern korrespondiert die Frage nach einer gegenwärtigen Tendenz des Religiösen mit derjenigen nach der inneren Struktur von Religion. Beide Autoren konzipieren ‚die‘ Religion als ein Phänomen, das inhärent zu Ambiguitäten/Ambivalenzen neigt und gerade deshalb bestimmte Entwicklungen hervorbringt bzw. nimmt. Der folgenden näheren Betrachtung der beiden Entwürfe sei eine skizzenhafte Problemanzeige bezüglich des Religionsbegriffs vorangestellt.
3.1 Religion. Eine moderne Kategorie? 3.1 Religion. Eine moderne Kategorie?
„Der Begriff der Religion ist völlig umstritten. Die Religionswissenschaft hat sich bis heute nicht auf eine Definition verständigen können“13, so lautet eine aktuelle Diagnose des Berliner Religionswissenschaftlers Helmut Zinser. Diese Problemanzeige mag überraschend klingen, ist allerdings keineswegs neu. Vor knapp hundert Jahren legte der amerikanische Psychologe James H. Leuba bereits eine Liste von fünfzig verschiedenen Definitionen von ‚Religion‘ vor und umriss damit eine Problematik, die bis heute hartnäckig fortbesteht: die Frage nach einer angemessenen Bestimmung des Religionsbegriffs.14 11 Vgl. B ECK U LRICH, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. 12 Vgl. BECK U LRICH, Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Frankfurt a.M./Leipzig: Verlag der Weltreligionen 2008. 13 ZINSER, H ARTMUT, Grundfragen der Religionswissenschaft, Paderborn: Schöningh 2010, 35. Für eine umfassende und sehr pointierte Auseinandersetzung mit dieser Frage vgl. BERGUNDER, MICHAEL, Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19 (2011), 3– 55. 14 Vgl. SMITH, JONATHAN Z., Religion, Religions, Religious, in: Ders. (Hg.), Relating Religion. Essays in the Study of Religion, Chicago: University of Chicago Press 2004, 179– 196, hier 193.
3.1 Religion. Eine moderne Kategorie?
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Dabei greifen die meisten Definitionsversuche auch heute noch entweder auf eine sogenannte ‚substanzialistische Religionsbestimmung‘ zurück, die eine inhaltliche Bestimmung von Religion verbunden mit bestimmten metaphysischen Annahmen vornimmt.15 Oder aber es liegt eine sogenannte ‚funktionale Bestimmung‘ vor, bei der danach gefragt wird, welche Funktion Religion für das Individuum oder die Gesellschaft einnimmt. Aufgrund der jeweiligen Problematik beider Ansätze findet sich in jüngerer Zeit daneben auch der Rückzug auf einen ‚formalen Nominalismus‘, der „die Suche nach einer substanzialistischen Religionsdefinition [fortsetzt], aber zugleich versucht, die bisherigen philosophisch-metaphysischen Grundlegungen als auch die damit meist verbundenen religiösen Implikationen der klassischen Definitionen zu vermeiden.“16 Für diesen Ansatz stehen etwa polythetische Definitionen von Religion, wie die des amerikanischen Religionsethnologen Benson Saler, der Religion im Sinne einer ‚Stufenkategorie‘ versteht und einen Kriterienkatalog aufstellt, der je nach Trefferquote Phänomene als ein mehr oder weniger an ‚Religion‘ kategorisiert.17 Die mit den genannten Ansätzen nur angedeuteten Probleme beziehen sich jedoch allesamt auf den modernen Religionsbegriff, der in deutlicher Diskontinuität zur antiken und mittelalterlichen Begriffsverwendung steht.18 In Kürze soll dieser Bedeutungswandel mit den ihm innewohnenden Schwierigkeiten skizziert werden.19
Vgl. für folgende Ausführung auch BERGUNDER, Was ist Religion?, 6–8. A.a.O., 7. 17 Vgl. SALER, B ENSON, Conceptualizing Religion. Immanent Anthropologists, Transcendent Natives, and Unbounded Categories, New York: Berghahn 2000; DERS., Conceptualizing Religion. Some Recent Reflections, in: Religion 38 (2008), 219–255. Gleichwohl ist dabei problematisch, dass ein Vorverständnis, eine „unerklärte Religion“, im Hintergrund der Definition steht, die selbst wiederum nicht empirisch rückgebunden ist und auch theoretisch nicht reflektiert wird, vgl. BERGUNDER, Was ist Religion?, 8–13. 18 Vgl. W ENZ, G UNTHER, Religion, Studium Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 92f. 19 Die komplexe historische Entwicklung der Begriffe kann hier nur skizzenhaft nachvollzogen werden. Eine detailreiche Studie der Entwicklung von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert gibt FEIL, ERNST, Religio. Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs, Bd. I– IV, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986–2007. Der vorliegende Abschnitt beruht auf: AHN, GREGOR, Art. Religion. I. Religionsgeschichtlich, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), 513–522; WAGNER, FALK, Art. Religion II. Theologiegeschichtlich und systematisch-theologisch, in: Theologische Realenzyklopädie 28 (1997), 522–545; FEIL, ERNST, Art. Religion I. Zum Begriff, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 4 7 (2005), 263–267; SCHWÖBEL, CHRISTOPH, Art. Religion IV. Religion und die Aufgabe der Theologie, in: Religion in Geschichte und Gegenwart4 7 (2005), 279–286; WENZ, Religion, 15.89–103; GRAF, FRIEDRICH WILHELM/VOIGT, FRIEDEMANN, Transformationen der Religionsforschung. Zur Einleitung, in: Dies. (Hg.), Religion(en) deuten. Transformationen der Religionsforschung, Berlin/New York: De Gruyter 2010, 1–8. 15 16
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Teil I – Kap. 3. Die ambige Verfasstheit von Religion
Grundsätzlich lässt sich zwischen der antik-mittelalterlichen Begriffsverwendung und der neuzeitlichen Ausprägung des Religionsbegriff eine deutliche Diskontinuität feststellen. In der römischen Antike wird religio zunächst verwendet, um die Pflicht zur kultisch-rituellen Gottesverehrung und die damit verbundene Einhaltung der entsprechenden kultischen Regeln zu bezeichnen.20 Bis zu den Reformatoren hält sich diese Verwendung von religio – verbunden mit dem Verständnis einer Teiltugend der Gerechtigkeit (iustitia) – weitgehend durch. Für die Bezeichnung des Christentums wird hingegen der Glaubensbegriff herangezogen (fides christiana), der über die Begriffe secta (Gefolgschaft) und lex (Gesetz) das Identifikationsmerkmal im Gegenüber zu anderen Gemeinschaften bildet. Religio findet in diesem Zusammenhang keine Anwendung. Eine erste größere Transformation des Religionsbegriffs findet seit etwa 1750 statt. Maßgeblich ist dabei die Rezeption der deistischen Offenbarungskritik: ‚Religion‘ wird nun – durchaus in Abgrenzung zu fides – zu einem Schlüsselbegriff von universalanthropologischer Tragweite umgeformt. Das zentrale Anliegen besteht dabei darin, im Rückblick auf die vergangenen Religionskriege und Zeiten der konfessionellen Ausdifferenzierung, das ‚wesentlich Christliche‘ gegenüber den Bekenntnisalternativen herauszuarbeiten und somit eine gemeinsame Basis über konfessionelle Differenzen hinweg zu schaffen. Die großen Religionstheorien von Kant, Hegel und Schleiermacher erheben ‚Religion‘ am Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge dieser Entwicklungen zu einem systematisch-historischen Leitbegriff. Mit der Intention einer Darstellung des religiösen Bewusstseins beschreiben die Religionstheoretiker dabei allerdings de facto stets christlich-religiöses Bewusstsein. Auch wenn der Begriff der Religion im Lauf des 19. Jahrhunderts verstärkt auch zur Bezeichnung außereuropäischer Phänomene verwendet wird, bleibt doch die um 1800 besonders stark verankerte eurozentrische und spezifisch christliche Prägung dem Begriff – bis heute – erhalten. Eine weitere entscheidende Transformation erfährt der Religionsbegriff im (späten) 19. Jahrhundert durch die Doppelkonstellation von philosophisch-naturwissenschaftlicher Religionskritik und empirischem Geschichtsbewusstsein. Beide Bewegungen stellen allgemeingültige Definitionen von Religion
20 Cicero (106–43 v. Chr.) leitet den Begriff etymologisch von religere („immer wieder durchgehen“, „genau betrachten“) ab und versteht darunter eine der iustitia untergeordnete Tugend (habitus), der der Begriff der pietas äquivalent ist. Lactantius (ca. 250–320) vertritt hingegen eine abweichende Etymologie: Basierend auf religare („verbinden“, „verbunden sein“) betont er als Christ die Verbundenheit der Menschen mit ihrem Gott. Augustin kombiniert beide Deutungen und füllt den religio-Begriff mit christlichen Inhalten, so dass er die christiana religio von der religio falsa der Heiden unterscheiden kann. Dennoch liegt hier die Betonung auf der doctrina, so dass wohl kaum religio im Sinne eines (neuzeitlichen) Allgemeinbegriffs gemeint sein kann, vgl. WAGNER, Religion II., 523f.
3.2 Ambiguitätsaffinität, Indifferenz, Vereindeutigung
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ebenso in Frage wie – mit Blick auf andere ‚Religionen‘ – die Analogielosigkeit des Christentums. Zugleich entsteht nun in und neben der Theologie eine neue Wissenschaftsdisziplin, die kulturwissenschaftlich verfahrende Religionswissenschaft mit den entsprechenden Teildisziplinen (Religionsgeschichte, Religionssoziologie, Religionspsychologie), die neue methodische Standards setzt. Die Theologie gerät damit spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vermehrt unter Druck, angemessene systematisch-theologische Konzepte zu entwickeln und ihren Methodenkanon zu erweitern, um auf die drängende Lage angemessen zu reagieren. Im Zuge dessen werden ‚Religion‘, aber auch ‚Christentum‘ und ‚Protestantismus‘ zu Leitbegriffen der Selbstpositionierung einer modernen Theologie, mit denen das eigene Selbstverständnis artikuliert wird. Als stark deutungsumkämpfte Begriffe erfahren sie dementsprechend in unterschiedlichen Positionierungen auch eine verschieden geprägte inhaltliche Bestimmung. Für die vorliegende Arbeit bleibt damit festzuhalten, dass mit ‚Religion‘ ein Begriff mit massivem Bedeutungswandel thematisiert ist, der kaum eine ‚Tatsache‘ bezeichnet, wie der alltägliche Sprachgebrauch oft suggeriert. Vielmehr ist Religion ein umkämpfter Begriff, mit dem in der Regel nicht offengelegte Voraussetzungen einhergehen. Für die folgenden Betrachtungen bedeutet dies, dass im Fall der Verwendung des Begriffs in den jeweiligen Entwürfen ein Augenmerk darauf liegen muss, was für ein Religionsbegriff verwendet wird und welche Implikationen damit einhergehen.
3.2 Ambiguitätsaffinität, Indifferenz, Vereindeutigung. Thomas Bauers Religionsdeutung 3.2 Ambiguitätsaffinität, Indifferenz, Vereindeutigung
In seinem viel beachteten Essay Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt vertritt Thomas Bauer ein Großnarrativ, das deutliche Ähnlichkeit zu Zygmunt Baumans Modernedeutung aufweist, allerdings auf die Gegenwartsgesellschaft angewandt. Bauer vertritt die These, dass die ‚westliche‘ Gesellschaft gegenwärtig in allen Bereichen (Kunst, Musik, Diplomatie, Religion, usw.) einen umfassenden Prozess der Reduktion von Vielfalt vollzieht.21 Im Zuge dieses Prozesses werden alle Formen von Ambiguität vernichtet, weil es, so die These, an Ambiguitätstoleranz oder der Bereitschaft, „Vielfalt in all ihren Erscheinungsformen zu ertragen“,22 mangelt.
„Meine These lautet nun, dass unsere Zeit eine Zeit geringer Ambigutitätstoleranz ist. In vielen Lebensbereichen – nicht nur in der Religion – erscheinen deshalb Angebote als attraktiv, die Erlösung von der unhintergehbaren Ambiguität der Welt versprechen“, BAUER, Vereindeutigung der Welt, 36. 22 A.a.O., 13. 21
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Bauer verwendet in seinem Essay einen Ambiguitätsbegriff, der, erstens, alle Formen von Uneindeutigkeit umfasst,23 und zweitens in einem engen Zusammenhang mit den Konzepten von Pluralität oder Vielfalt steht (vgl. I.1.5). Es ist hier der Bezeichnung nach also ein sehr weiter – und entsprechend vager – Ambiguitätsbegriff in Gebrauch, der Ambiguität im Sinne von diskursiver und sozialer Pluralität denkt, aber auch widersprüchliche Emotionen und unsichere oder unklare Situationen mit umfasst. So schreibt Bauer: Denn genau dies ist unsere Welt: uneindeutig. Menschen sind ständig Eindrücken ausgesetzt, die unterschiedliche Interpretationen zulassen, unklar erscheinen, keinen eindeutigen Sinn ergeben, sich zu widersprechen scheinen, widersprüchliche Gefühle auslösen, widersprüchliche Handlungen nahezulegen scheinen. Kurz: Die Welt ist voll von Ambiguität.24
Da Ambiguität als ein Synonym für Uneindeutigkeit, Unklarheit, Mehrsinnigkeit und Widersprüchlichkeit nach Bauer ständig und überall zu finden ist – auch diese These ließe sich durchaus hinterfragen – überrascht es wenig, dass auch Religion als ein Phänomen in den Blick kommt, das es mit Ambiguitäten zu tun hat. Mehr noch: Bauer bestimmt Religion als ein im besonderen Sinne ambiges Phänomen, das für sein „Gedeihen“ auf eine „relativ hohe Ambiguitätstoleranz“25 angewiesen ist. Diese These bindet Bauer zunächst an eine Wesensbestimmung von Religion zurück. Religionen, so seine Feststellung, brauchen Ambiguitätstoleranz aus zwei Gründen: erstens wegen ihres Transzendenzbezugs; zweitens aufgrund ihrer Kommunikation durch Schriften. Im ersten Zusammenhang bestimmt Bauer Religion als „auf dem Glauben an etwas [beruhend], das über das rational Erkennbare hinausgeht, im Wortsinne es überschreitet bzw. transzendiert“26. Das Transzendente, so Bauers Folgerung aus dieser Bestimmung, ist aufgrund seiner Größe und Andersartigkeit nie restlos ausdeutbar und somit bleibt „wie sehr sich auch die klügsten Theologen und Religionsgelehrten bemühen, das Transzendente in Begriffe zu fassen, […] doch immer ein Rest an Vagheit, Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit, also: an Ambiguität“27. Religion wird hier also in einem substanzialistischen Sinne als Glaube an etwas Überrationales, an eine wie auch immer geartete transzendente Wirklichkeit, definiert. Aus dieser Bestimmung heraus folgert Bauer die bleibende Nicht-Ausdeutbarkeit, die Religion zu einem notorisch ambigen Phänomen macht.28 Die 23 So bestimmt er Ambiguität als „Begriff für alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden“, a.a.O., 15. 24 A.a.O., 14. 25 A.a.O., 41. 26 Ebd. 27 A.a.O., 41f. 28 Bei dem Theologen Falk Wagner findet sich eine ähnliche Argumentation, was die inhärente Unbestimmbarkeit des Gottesbegriffs angeht, vgl. DERS., Religion und Theologie
3.2 Ambiguitätsaffinität, Indifferenz, Vereindeutigung
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Ambiguität der Religion wird also im Sinne einer Deutungsoffenheit, einer Unausdeutbarkeit bestimmt, die stets mehrere Deutungen zulässt und letzte Sicherheiten vereitelt. Natürlich treffen, so sei hier am Rande angemerkt, die von Bauer angeführten Aspekte des Überrationalen und der letztendlichen Nichtausdeutbarkeit auf die eigene Innerlichkeit, das soziale Miteinander, die romantische Liebe usw. ebenso zu. Inwieweit und warum die Ambiguität des Religiösen dennoch besonders ist, expliziert Bauer leider nicht. Der zweite Grund für die Ambiguitätsaffinität der Religion liegt nach Bauer in der Definition von Religion als Kommunikation, und zwar auf der einen Seite als Kommunikation zwischen Menschen (einer „horizontalen Dimension“); auf der anderen Seite durch eine „vertikale Dimension“29 im Falle der Offenbarungsreligionen. In den Offenbarungsreligionen erfolgt neben der zwischenmenschlichen religiösen Kommunikation auch eine Kommunikation zwischen Göttlichem und Menschlichen über Offenbarungsurkunden, Schriften der Religionsstifter, Briefe der Urgemeinde usw. Alle diese Texte weisen, da „es sich zumeist um ziemlich komplexe Texte handelt, die noch dazu über ein besonders ambiguitätshaltiges Feld wie Religion und Glauben sprechen, […] ein „besonders hohes Maß an Ambiguität auf, vergleichbar allenfalls mit literarischen Texten.“30 Religion wird hier also der Definition nach noch einmal inhaltlich eingegrenzt und auf Offenbarungs- bzw. Schriftreligionen bezogen. Diese werden als doppelt ambig eingestuft, da sie ihren bereits ambigen Gegenstand („Religion und Glauben“ – vermutlich ist hier der Transzendenzbezug angesprochen) über das Medium Text kommunizieren, das Bauer als genuin ambiguitätshaltig definiert. Bauer zieht für diese Verdopplung des Ambigen ein Beispiel aus der Koranexegese heran:31 Hier wurde nach Bauer lange Zeit gar nicht versucht, die verschiedenen bestehenden Textvarianten des Korans zu einer einzigen, absolut gültigen zu vereinheitlichen. Stattdessen bestanden mehrere Textvarianten nebeneinander und der „Mittelweg“ – nach Bauer überhaupt der „sinnvollste
zwischen Vieldeutigkeit und Zweideutigkeit, in: Koslowski/Schenk (Hg.), Ambivalenz – Ambiguität – Postmodernität, 229–269, hier besonders 255–262. Für Wagners Konzeption von Vieldeutigkeit und Zweideutigkeit, die eine eigene Auseinandersetzung wert wäre vgl. DERS., Religion und die Zweideutigkeit der modernen Individualitätskultur, in: Ulrich Barth/Wilhelm Gräb (Hg.), Gott im Selbstbewußtsein der Moderne. Zum neuzeitlichen Begriff der Religion, Gütersloh: Gütersloher 1993, 140–151. 29 B AUER, Vereindeutigung der Welt, 42. 30 A.a.O., 43. 31 In Rückgriff auf sein Buch Die Kultur der Ambiguität verwendet Bauer häufig das Beispiel des Islams, der sich nach Bauers Deutung bis zum Beginn der Moderne vor ca. 200 Jahren durch äußerst hohe Ambiguitätstoleranz auszeichnete, vgl. a.a.O., 44. Leider bleibt die kontextuelle Verortung in seinem Essay allerdings völlig offen, so dass man im Unklaren bleibt, welche Strömung des Rechtsschulenislams hier gemeint ist.
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Ansatz für die Lösung des Problems, wie man mit Ambiguität umgehen soll“32 – lautet, dass für Liturgie und Rechtsauslegung lediglich die sieben oder auch zehn besten Überlieferungen herangezogen werden; die anderen sollten von Koranforschern aber ebenfalls aufbewahrt und kommentiert werden. Die mittlere Lösung ist also eine, „in der Ambiguität bewahrt wird, der Text aber nicht vor lauter Ambiguität bedeutungslos wird.“33 Bauers textliche Ambiguität ist also der Art nach eine interpretative Deutungspluralität, die mehrere Deutungen eines Gegenstands (hier: eines Textes) gleichberechtigt nebeneinander stehenlässt. Der Text ist demnach mehrdeutig, weil er verschiedene Deutungen zulässt. Mit dieser Zuspitzung seines Ambiguitätsbegriffs auf interpretative Mehrdeutigkeit liefert Bauer zugleich eine Gebrauchsanweisung für einen produktiven Umgang mit Ambiguität: Er bestimmt diesen anhand eines Spektrums zwischen zwei Polen, nämlich einerseits Vereindeutigung, andererseits Bedeutungslosigkeit oder Beliebigkeit. Während die Vereindeutigung auf der einen Seite des Spektrums die eine Bedeutung forciert, tritt auf der anderen Seite des Spektrums im Falle der kontinuierlichen Potenzierung von Ambiguität irgendwann eine Bedeutungslosigkeit durch zu viele Bedeutungen ein. Als die ‚goldene Mitte‘ zwischen diesen beiden Extremen bestimmt Bauer die Erhaltung von Ambiguität, die damit nicht nur eine positive Wertung zugeschrieben bekommt, sondern auch als ein graduierbares Phänomen verstanden wird, von dem ein ‚weniger‘ und ‚mehr‘ möglich ist. Anhand der beiden vorgestellten Pole von Vereindeutigung versus Bedeutungslosigkeit modelliert Bauer schließlich seine zentrale These für die gegenwärtige Entwicklung im Bereich der Religion: Hier führe die schwindende gesamtgesellschaftliche Ambiguitätstoleranz zu zwei scheinbar gegenläufigen Tendenzen:34 auf der einen Seite zu einer Vereindeutigung der Religion, die fundamentalistisch ausgelegt ist, auf der anderen Seite zu einer Enthaltung in Bezug auf Religion, die Bauer als religiöse Gleichgültigkeit bezeichnet: Religiöser Fundamentalismus und religiöse Gleichgültigkeit hängen in der Tat eng miteinander zusammen. Sie sind Resultat einer schwindenden Ambiguitätstoleranz in durchbürokratisierten, hochtechnisierten und vor allem kapitalistischen Gesellschaften.35
Bauer bestimmt hier die gegenwärtigen Erscheinungen im Bereich des Religiösen – die Gleichgültigkeit gegenüber der religiösen Frage, wie auch deren
Ebd. A.a.O., 44. 34 „Es gibt prinzipiell nur zwei Möglichkeiten, der Ambiguität zu entgehen. Entweder existiert Ambiguität dann nicht, wenn etwas (1) nur genau eine einzige Bedeutung hat, oder dann, wenn es (2) gar keine Bedeutung hat. Diesen zweiten Pol nenne ich den der Gleichgültigkeit“, vgl. a.a.O., 36. 35 B AUER, Vereindeutigung der Welt, 49. 32 33
3.2 Ambiguitätsaffinität, Indifferenz, Vereindeutigung
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fundamentalistische Antwort – als Resultat eines Versagens, und zwar des Versagens westlich-moderner Gesellschaften, mit Ambiguitäten adäquat umzugehen, und dementsprechend die ‚Mitte‘, also die Erhaltung eines gewissen Maßes an Ambiguität, zu treffen. Stattdessen steigt auf der einen Seite die Indifferenz gegenüber der Religion, die Bauer als ein globales Phänomen insbesondere im urbanen Raum verortet. Auf der anderen Seite steht das Erstarken religiös-fundamentalistischer Bewegungen, für die Bauer als Beispiele den politischen Islam, das evangelikale Christentum in den USA, sowie hindu-nationalistische Strömungen und buddhistische Radikalisierungen auf Sri Lanka heranzieht.36 Bauers Diagnose zur vermeintlichen Globallage der Religion bleibt überraschend holzschnittartig und eindimensional. Zwischen den beiden Extremen von Gleichgültigkeit und Fundamentalismus kommt die ‚Mitte‘ selbst als realistische Option nicht vor. Auch Nuancen oder aber Transformationen des Religiösen – man denke an die sogenannten neuen religiösen Bewegungen, an Yogakurse, Achtsamkeitsmeditation, etc. werden nicht erwähnt. Die Lage der Religion wird von Bauer also selbst vereindeutigt auf zwei Optionen: Säkularisierung und Radikalisierung. Damit fällt er derselben Struktur anheim, die auch im Zusammenhang mit Zygmunt Baumans Theorie festgestellt worden war: Dem Narrativ der modernen oder gegenwärtigen Vereindeutigung korrespondiert eine theoretische Vereindeutigung der realgeschichtlichen Phänomene, die in merkwürdiger Diskrepanz zur eigenen Kritik steht. Bauer definiert also Religion ihrer inneren Struktur nach als ein genuin ambiges Phänomen – ambig im Sinne der Deutungsoffenheit –, lässt jedoch, was die gegenwärtigen Tendenzen im Bereich der Religion betrifft, wenig Raum für Mehrdeutigkeit. Hier werden lediglich zwei Optionen vorgestellt, die beide in einer Flucht vor Ambiguität wurzeln. Mit anderen Worten: Um Religion als ein deutungsplurales Phänomen ist es in Zeiten schlecht bestellt, die sich mit Deutungsoffenheit schwertun. Dass in Bauers Gegenwartskritik allerdings eine globale Pauschalisierung vorgenommen wird, die höchst differenzierte religiöse und gesellschaftliche Kontexte vermengt und mit Blick auf verschiedene Religionsbegriffe und den mit ihnen verbundenen Tendenzen auch nicht gerade eine hohe Ambiguitätsaffinität aufweist, bleibt in diesem Entwurf merkwürdig wenig reflektiert. Gleichzeitig findet sich auch hier die Skepsis bzw. Negativwertung von Eindeutigkeit fortgeschrieben, die auch Baumans Modernedeutung kennzeichnete. Vereindeutigung und Eindeutigkeit stehen bei Bauer für den Verlust an Vielfalt, für Radikalisierung (etwa im Religiösen) und Uniformierung; und sie entstehen stets aus einem Defizit, nämlich dem Versagen, mit Ambiguität umzugehen. Festzuhalten bleibt gleichwohl die gewinnbringende Perspektive, Säkularisierung und Radikalisierung als zwei Seiten einer Medaille deuten zu können. 36
Vgl. a.a.O., 41.
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Bauer liest damit die konträren Positionen zu Säkularisierung bzw. Wiederkehr der Religion als einen Prozess, der über seine abwehrende Haltung gegenüber Ambiguitäten bestimmt ist. Die Frage über die Zukunft der Religion wird damit an die Frage nach dem Umgang mit Ambiguitäten im Allgemeinen gekoppelt – ein Gedanke, den es auch mit Blick auf die Tillich’sche Analyse im Blick zu behalten gilt. Zuvor jedoch soll ein weiterer Entwurf zum Verhältnis von Religion und Ambiguität vorgestellt werden, nämlich derjenige des Soziologen Ulrich Beck.
3.3 Ambivalenz versus Mehrdeutigkeit. Transformationen des Religiösen nach Ulrich Beck 3.3 Ambivalenz versus Mehrdeutigkeit
Der Soziologe Ulrich Beck hat seine Überlegungen zur Entwicklung von Religion in der Moderne im Kontext seiner ‚Theorie der reflexiven Modernisierung‘ entwickelt.37 Diese Theorie geht von einer Unterscheidung zwischen klassischer Moderne und sogenannter ‚zweiter Moderne‘ aus. Die zweite Moderne stellt dabei eine Art Selbstkonfrontation der Moderne dar, indem die Moderne nun nicht mehr die vormodernen Lebensentwürfe, Traditionen, Institutionen in Frage stellt, sondern ebendieses Modernisierungsprinzip auf die in der ‚ersten Moderne‘ selbst herausgebildeten Formen anwendet.38 Die Moderne stellt sich also selbst in Frage, sie modernisiert sich selbst in einem Prozess ‚reflexiver Modernisierung‘. Die zweite Moderne, datiert etwa ab Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts, ist begleitet von einem erneuten, forcierten Individualisierungsschub, im Zuge dessen alte Stabilitäten (soziale Bindungen, Planbarkeit des Lebenslaufs, Milieus, etc.) sich auflösen. Die Individuen sind innerhalb flexibilisierter und unsicher gewordener Rahmenbedingungen mit den großen Entscheidungen des Lebens (Beruf, Partnerschaft, religiöse, sexuelle Orientierung) vermehrt sich selbst überlassen und vor allem auch immer wieder neu konfrontiert. 39 Vgl. BECK, Der eigene Gott, 91–93; grundlegend zur Theorie reflexiver Modernisierung vgl. BECK, Risikogesellschaft sowie BECK, ULRICH/GIDDENS, ANTHONY/LASH, SCOTT, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. 38 Vgl. R OSA, H ARTMUT/STRECKER, D AVID/K OTTMANN, A NDREA, Soziologische Theorien, Konstanz/München: UVK 32018, 215–218. Die zweiten Moderne, die sich im Zuge dieses Prozesses herausbildet, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Nebenfolgen der klassischen Moderne sich stark zeigen, so etwa ökologische Folgen wie Umweltkatastrophen und Klimawandel, Massenarbeitslosigkeit, Terroranschläge, wachsende individuelle Unsicherheit, usw. Beck spricht in diesem Zusammenhang von der ‚Weltrisikogesellschaft‘. 39 Beck spricht von drei Theoremen seiner Theorie der reflexiven Modernisierung: „das Theorem der (Welt-)Risikogesellschaft, das Theorem der forcierten Individualisierung und das Theorem mehrdimensionaler Globalisierung, vgl. BECK, Der eigene Gott, 92f. 37
3.3 Ambivalenz versus Mehrdeutigkeit
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Das soziale Gefüge entwickelt sich in diesem Zuge von einer Logik der Eindeutigkeit hin zu einer Logik der Mehrdeutigkeit: [Die] einfache Modernität folgte einer Ordnungs- und Handlungslogik, die trennscharfe Grenzen zwischen Kategorien von Menschen und Religionen, Dingen und Tätigkeiten zog und klare Unterscheidungen zwischen Handlungssphären und Lebensformen traf, die ihrerseits eindeutige institutionelle Zuschreibungen von Zuständigkeiten, Kompetenzen und Verantwortungen ermöglichten. Diese Logik der Eindeutigkeit – man könnte in einer Metapher von der Newtonschon Gesellschafts-, Religions- und Politiktheorie der Ersten Moderne sprechen – wird durch eine Logik der Mehrdeutigkeit – man könnte von einer Heisenbergschen Unschärferelation des Gesellschaftlichen, Religiösen und Politischen sprechen – ersetzt.40
Mit der hier skizzierten Diagnose weist Beck deutliche Parallelen zu Baumans Modernedeutung auf. Die Logik der Eindeutigkeit ist durch Grenzen, durch Kategorisierung, Unterscheidung und (institutionelle) Zuschreibung gekennzeichnet; sie ist, in Baumans Diktion, von Praktiken des Ordnens geprägt. Die Logik der Mehrdeutigkeit, wie sie in der zweiten Moderne vorherrscht, löst diese Grenzen und Unterscheidungen auf; sie ist dementsprechend durch Unschärfe, durch poröse Beschaffenheit, durch Krisen gekennzeichnet. Während die Eindeutigkeit das „Entweder-oder“ praktiziert, favorisiert die Mehrdeutigkeit das „Sowohl-als-auch-Modell“.41 Becks Begriff der Mehrdeutigkeit – an anderen Stellen auch Uneindeutigkeit – bezeichnet also, um eine Koordinate zu fixieren, eine Pluralisierung und Vervielfältigung von Traditionen, Lebensentwürfen, Biographien, die der Aufbaulogik nach ein kooperatives Miteinander oder gar Ineinander der einzelnen Elemente darstellt. Beck verwendet dafür auch den Begriff der „Melange“42. Die Herausbildung einer ‚Melange-Religiosität‘ im Zuge der reflexiven Modernisierung bildet nun eine der grundlegenden Thesen, die Beck unter dem Stichwort des ‚eigenen Gottes‘ verfolgt. Beck geht davon aus, dass die Prozesse der fortschreitenden Pluralisierung, Individualisierung und Veruneindeutigung auch den Bereich des Religiösen betreffen und dabei die Grenzen und Kategorisierungen der Religionen hin zu einem „subjektiven Polytheismus“43 verschieben. Damit ist allerdings gerade nicht die Abkehr vom Monotheismus hin zu einer polytheistischen Religion gemeint. Vielmehr will sich Becks Vision der „individualisierten Formen einer religionsgrenzenübergreifenden Mischreligiosität“44 als eine Art „Gewaltenteilung ‚im Absoluten‘“45 verstehen. Konkret bedeutet dies, dass die „Bastelbiographien“46 der zweiten Mo-
Ebd. Hervorhebung im Original. A.a.O., 93. 42 Ebd. 43 A.a.O., 86. 44 Ebd. 45 Ebd. Beck greift hier in Abwandlung auf eine Formel Odo Marquards zurück. 46 R OSA, Soziologische Theorien, 218. 40 41
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derne um die entsprechende „Bastelreligionen“47 ergänzt werden, die sich aus Elementen verschiedener Religionen zusammensetzen. Kurzum: Man kann gleichzeitig einer christlichen Kirche angehören, Yoga praktizieren, zur Ayurveda-Kur nach Sri Lanka reisen usw. Beck sieht dieses Modell einer synkretistischen Individualreligiosität etwa in Japan bereits selbstverständlich praktiziert: Den Menschen dort ist es kein Problem, zu bestimmten Jahreszeiten einen Shinto-Schrein zu besuchen, die Heirat nach christlicher Zeremonie auszurichten und sich von einem buddhistischen Mönch beerdigen zu lassen.48
Der hier geschilderte Religionseklektizismus wendet sich von der Logik der Eindeutigkeit – entweder man ist Shintoist, oder Christ, oder Buddhist – ab und praktiziert die Logik der Mehrdeutigkeit: man ist sowohl shintoistisch als auch christlich und buddhistisch geprägt. Beck verbindet dabei seine Argumentation mit einer Unterscheidung der Begriffe ‚Religion‘ und ‚religiös‘: „Religion“, der begrifflichen Prägung nach eurozentrisch und monotheistisch ausgerichtet, beruhe auf „der stillschweigenden Annahme […], jede(r) könne einen und nur einen Gott wählen und müsse alle anderen ausschließen.“49 Religion „ordnet das religiöse Feld nach der Logik des Entweder-Oder“50, bevorzugt klare Unterscheidungen und exklusive Zuordnungen. Demgegenüber vermittle das Adjektiv ‚religiös‘ eine „bestimmte Einstellung zu den existentiellen Fragen des Menschsein in der Welt“, es „trägt […] dem Verschwimmen und der Grenzenlosigkeit des Religiösen mit all seinen Paradoxien und Widersprüchen Rechnung“.51 Kurzum: Hier wird die Logik des Sowohl-als-Auch favorisiert. Es soll an dieser Stelle nicht Gegenstand der Analyse sein, die Tragfähigkeit dieser Unterscheidung beziehungsweise der damit verbundenen Diagnose zu beurteilen. Vielmehr interessiert die damit verbundene These, die das Ambige der Religion betrifft: Im Anschluss an Jan Assmans Monotheismustheorem52 geht Beck davon aus, dass Religionen grundlegend ambivalent strukturiert sind. Anders als Bauer wird das Ambige hier nicht im Sinne einer Affinität zu Mehrdeutigkeit oder Deutungsoffenheit aufgefasst, sondern als „Ambivalenz
BECK, Der eigene Gott, 70. A.a.O., 87. 49 A.a.O., 70. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 A SSMANN, JAN, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien: Hanser 2003, 12, der die Gewalt der Religion in der ‚Mosaischen Unterscheidung‘, „der Unterscheidung zwischen wahr und falsch in der Religion“ liegen sieht, vgl. BECK, Der eigene Gott, 85. 47 48
3.3 Ambivalenz versus Mehrdeutigkeit
91
von Toleranz und Gewalt“53. Beck gliedert seine Argumentation dabei in drei zusammenhängende Aspekte: Weltreligionen überwinden soziale Hierarchien und Grenzen zwischen Nationen und Ethnien; sie sind dazu in der Lage, insofern sie einen religiösen Universalismus hervorbringen, vor dem alle nationalen und sozialen Schranken an Bedeutung verlieren; daraus entsteht allerdings die Gefahr, statt der ethnischen, nationalen und Klassenschranken Barrikaden zwischen Rechtgläubigen und Falschgläubigen bzw. Nichtgläubigen zu errichten.54
Weltreligionen haben also, erstens, eine Universalisierungstendenz, die sich über nationale, ethnische, soziale Grenzen hinweg erstreckt – als Paradebeispiel gilt Beck hier die katholische Kirche mit ihrer globalen Gestalt. Aufgrund dieser Tendenz birgt Religion, zweitens, das Potential zur Grenzüberschreitung: der oder die Andere wird zum Bruder, zur Schwester im Glauben ungeachtet sonstiger Differenzen. Hier liegt das ‚eine Gesicht‘ der Religion begründet, ihr friedensstiftendes Potential. Schließlich aber führt die Grenzeinreißung auf der einen Seite zu der Gefahr, neue Grenzen zu errichten, beruhend auf der Dichotomie von gläubig-ungläubig. In dieser dritten Komponente seiner Argumentation liegt nach Beck das Gewaltpotential der Religionen, ihr ‚anderes Gesicht‘ begründet, die „Kehr-, die Nacht-, die Gewaltseite“.55 Ambivalenz ist hier also Becks Bezeichnung für eine positiv-negative Doppelgesichtigkeit der Religion, die sich auf ihren Umgang mit Grenzen bezieht. Dabei bewirkt gerade das Element, das die einen Grenzen niederreißt, nämlich der Glaube, die Errichtung neuer Grenzen.56 Die Ambivalenz der Religion, wie Beck sie beschreibt, ist also von einer Gleichzeitigkeit gekennzeichnet, wie sie mit der Beschreibung von Ambivalenz schon andernorts, etwa in der Psychoanalyse, verbunden war (vgl. I.1.3). Die hier geschilderte Ambivalenz der Religion, die Beck mit der Logik der Eindeutigkeit verbindet, kann, so die These von Der eigene Gott, durch die religiöse Mischidentität, wie sie eine Logik der Mehrdeutigkeit praktiziert, überwunden werden. Der religiöse Mensch, so die dahinterliegende Argumentation, der morgens seine Zen-Meditation praktiziert, in einem christlichen Gottesdienst heiratet, und seine Sommerferien in einem hinduistischen Ashram verbringt, muss zwangsläufig die Grenzziehungen der Religionen und die mit ihnen verbundenen Konsequenzen unterlaufen. Stattdessen kann die religiöse
A.a.O., 74. Ebd. 55 A.a.O., 77. 56 Zu den zwei Gesichtern der Religion, vgl. a.a.O., 33: „Die institutionalisierten Religionen […] haben zwei Gesichter: Gerade das, was die Mitmenschlichkeit über nationale und ethnische Grenzen hinweg gewährleisten soll – der Glaube –, reißt zugleich religiöse Abgründe zwischen den Menschen auf, nämlich die zwischen Glaubenden und Ungläubigen, und stellt so die Friedensfähigkeit der Religionen in Frage.“ 53 54
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Teil I – Kap. 3. Die ambige Verfasstheit von Religion
Mischidentität, die durch die gegenseitige Durchdringung von Religionen zustande kommt, als „Widerstand gegen das institutionelle Beharren auf Absolutheit an Anhängerschaft“ fungieren und damit das Gewaltpotential der Religionen entschärfen.57 Mit anderen Worten: die fortlaufende Individualisierung und Veruneindeutigung der Religion kann – Beck enthält sich explizit einer klaren Vorhersage – sich zu einer Herrschaft des religiösen ‚Sowohl-als-Auch‘ entwickeln, in der die Ambivalenz der Religion durch die Logik des Mehrdeutigen gebrochen wird, und zwar zugunsten eines „Typus der Toleranz, dessen Ziel nicht Wahrheit, aber Frieden ist.“58 Statt einer Deutung der ambigen Verfasstheit von Religion im Sinne eines deutungsoffenen Gebildes durch Transzendenz- und Schriftbezug, wie sie bei Bauer vorlag, vertritt Beck also ein Religionsverständnis, das sich durch Ambivalenz im Sinne einer doppelten Potentialität auszeichnet. Seine Ausführungen fußen dabei ausschließlich auf Analysen des (europäischen) Christentums, was nicht zuletzt die biblischen Zitate und Beispiele (Papsttum) zeigen, die er heranzieht.59 Seine allgemeinen religionssoziologischen Thesen sind damit letztlich von einem christentumskritischen Impetus getragen, der allerdings erst im Verlauf der Argumentation explizit gemacht wird.60 Mit einer solchen ‚Top-Down-Methode‘ religionssoziologischer Analyse sind mindestens zwei Probleme verbunden: Zum einen werden Problematisierungen, die eigentlich das Christentum anvisieren, an den allgemeinen Religionsbegriff gerichtet, etwa die Zentralstellung des Glaubens, die ja explizit in einem christlich-protestantischen Kontext zu verorten und damit kaum verallgemeinerungsfähig A.a.O., 86. A.a.O., 66f. 59 Vgl. etwa a.a.O., 55–58.75. Die explizite Eingrenzung der Studie findet sich auf 89: „Bei der konzeptionellen Klärung ist es geboten, den Anspruch dieser Studie einzugrenzen: Es gibt nur eine Regel in der Religionssoziologie der Gegenwart, nämlich die, daß es keine Regel der Religionsentwicklung im globalen Rahmen gibt. Alles, was aufgrund der Sprache nach universaler Gültigkeit drängt, muß kontextuell zurückgebunden werden. Es ist ausgeschlossen, in diesem Buch den gesamten Gegenstand, der durch meinen Definitionsansatz erschlossen wird, zu analysieren. Tatsächlich ist meist, wenn in diesem Buch von Religion die Rede ist, das Christentum gemeint. Nicht alle (Welt-)Religionen können hier in einem ‚kosmopolitischen Blick‘ in ihrer wechselseitigen Berührung und Durchdringung unter den Vorzeichen von Individualisierung und Kosmopolitisierung zum Thema gemacht werden. Tatsächlich liegt meiner Analyse erneut eine Asymmetrie zugrunde; als Kreuzungspunkt der widersprüchlichen Religionsdynamiken steht der europäische Kontext im Zentrum. Das schließt die inneren Differenzierungen des Christentums, aber auch die Präsenz und Konkurrenz europäischer und nicht-europäischer Varianten muslimischer Religion und Religiosität ein. Dagegen bleiben die asiatischen Melange-Religionen weitgehend außerhalb der Betrachtung. Obwohl sie eine geradezu unverzichtbare Ergänzung und mögliche Korrekturinstant für die Soziologie des ‚eigenen Gottes‘ wären, die in diesem Buch im Zentrum stehen soll.“ 60 Vgl. ebd. 57 58
3.4 Ertrag: Ambiguität, Moderne, Religion
93
ist. Auf diese Weise werden bestimmte Probleme des Religionsbegriffs, etwa seine eurozentrische und durch das Christentum geformte Prägung eher reproduziert als problematisiert bzw. überwunden. Zum anderen lassen auch die Thesen zum Christentum die tatsächliche kontextuelle Rückbindung, die Beck beansprucht, vermissen. Denn es ist doch höchst fraglich, ob Thesen wie die nationale oder ethnische Grenzüberschreitung durch den Glauben tatsächlich für die reale Geschichte des Christentums, gerade auch in der europäischen Moderne, empirisch rückgebunden werden können. Nicht umsonst zieht Beck an der entsprechenden Stelle exemplarisch das Urchristentum heran.61 Hier scheint eine Vermischung von Soll und Sein vorzuliegen. Mit anderen Worten: auch das Bild vom Christentum, das Beck zeichnet, ist empirisch wenig fundiert, sondern scheint sich aus einer bestimmten Perspektive auf das Christentum zu speisen – die im Zuge seiner Theorie zu Thesen über ‚die‘ Religion oder ‚das‘ Religiöse im Allgemeinen ausgeweitet wird. Dieser kritischen Anmerkung zum Trotz bleibt vor allem die Gegensätzlichkeit von Becks religionssoziologischer Studie gegenüber Bauers Entwürfen hervorzuheben: Nicht nur, was die ambige Struktur der Religion betrifft, kommen Bauer und Beck zu völlig unterschiedlichen Diagnosen. Auch die gegenwärtige Lage der Religion wird von beiden konträr gedeutet. Hatte Bauer die Religion gegenwärtig durch Tendenzen der Vereindeutigung gekennzeichnet gesehen, sieht Beck aktuell eine große Bewegung der Individualisierung und Pluralisierung heraufziehen, im Zuge derer das Religiöse die Konflikte der Religion zu überwinden vermag. Beide Positionen jedoch verbindet eine negative Bewertung von Vereindeutigung und Eindeutigkeit, demgegenüber Ambiguität bzw. Mehrdeutigkeit als wünschenswerte Zustände gezeichnet werden. Eine abschließende Gegenüberstellung soll beide Positionen mit Blick auf die Kategorie des Ambigen noch einmal zusammenfassen sowie in Bezug auf die sich daraus ergebenden Fragestellungen kritisch diskutieren.
3.4 Ertrag: Ambiguität, Moderne, Religion. Zwei Konstellationen 3.4 Ertrag: Ambiguität, Moderne, Religion
Ähnlich wie im Falle der Moderne (vgl. I.2) wurde in dem vorangegangenen Kapitel Religion auf zweifache Weise mit der Kategorie des Ambigen verbunden, einmal in Bezug auf ihre Verfasstheit, zum anderen in Bezug auf ihre aktuelle Lage. Der Kulturwissenschaftler Thomas Bauer definiert die Verfasstheit von Religion als besonders ambiguitätsaffin – Ambiguität hier im Sinne von Deutungsoffenheit verstanden – und begründet dies über den Transzendenzbezug von Religionen und deren Charakteristikum der Kommunikation
61
Vgl. etwa a.a.O., 75.
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Teil I – Kap. 3. Die ambige Verfasstheit von Religion
über Offenbarungstexte. Bauer legt damit einen substanzialistischen Religionsbegriff zugrunde, aus dem er die ambige Verfasstheit von Religion ableitet. Für Ulrich Beck hingegen sind Religionen grundlegend ambivalent verfasst, wobei hier Ambivalenz als Doppelgesichtigkeit in Bezug auf Grenzauflösung und Grenzsetzung und damit verbunden in Bezug auf Friedensstiftung und Gewaltpotential verstanden wird. Während Bauer mithin mit einem Ambiguitätsbegriff operiert, der sich über eine Vielzahl an Bedeutungen auszeichnet, kennzeichnet Becks Ambivalenzbegriff eine binäre Aufbaulogik mit starken Wertdimensionen. Durch die Ableitung seiner Religionsdefinition und seiner Grundthesen vom Christentum wirkt dieses als Blaupause für Becks Religionsbegriff, der ebenfalls substanzialistische Züge trägt. Dem setzt er jedoch den funktional geprägten Begriff des Religiösen gegenüber, dessen Grundzug nicht mehr das Ambivalente, sondern nun das Mehrdeutige ist, das sich durch eine innere Pluralität auszeichnet – also in größerer Nähe zu Bauers Ambiguitätsbegriff zu sehen ist. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Beck eine Entwicklung von der Religion zum Religiös-Sein avisiert und diese mit der Entwicklung von der Ambivalenz hin zur Mehrdeutigkeit verbindet. Wenngleich also beide Denker Religion als eine inhärent ambige Größe konzipieren, geschieht dies also auf sehr unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Implikationen. Auch die zweite Verbindung von Religion und Ambiguität erfolgt auf unterschiedliche Art und Weise: Während Bauer die gegenwärtige Lage durch die zwei Optionen von religiöser Indifferenz und religiösem Fundamentalismus im Rahmen seiner Vereindeutigungsdiagnose gekennzeichnet sieht, vertritt Beck eine sich pluralisierende ‚Melange-Religiosität‘ als Möglichkeit für die Überwindung religiöser Konflikte. Ein Vereindeutigungsnarrativ steht insofern einem Vervielfältigungsnarrativ gegenüber; beide Theorien lassen wenig Raum für gegenläufige Tendenzen oder mehrere Handlungsstränge. Auch integrieren beide Denker ihre Diagnose über die Zukunft und das Potential der Religion in eine größere gegenwartsdiagnostische Modernetheorie: Bauer sieht – durchaus in der Tradition Zygmunt Baumans (vgl. I.2.2) – die gegenwärtige Moderne von Vereindeutigungsprozessen bedroht und macht dementsprechend dasselbe Schicksal für die Religion geltend. Beck rechnet im Rahmen seines Theorems der forcierten Individualisierung mit einer zunehmenden Pluralisierung von Identitäten, Lebensentwürfen und Traditionen, in die er auch die Religion einordnet. Interessanterweise fragt jedoch keiner der beiden Denker nach dem Potential der Religion im Umgang mit Vereindeutigungs- oder Pluralisierungsprozessen. So wäre ja durchaus vorstellbar, dass Religionen Menschen entweder dabei unterstützen, Ambiguität zu ertragen und damit gegenüber Vereindeutigungsprozessen widerständig zu sein, oder aber selbst auf Vereindeutigungen hinsteuern und damit Vervielfältigungen entgegenstehen. Auch andere Alternativbestimmungen, etwa größere Toleranz gegenüber Ambiguitäten durch
3.4 Ertrag: Ambiguität, Moderne, Religion
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partielle Vereindeutigungen wären hier denkbar. Es mag an dem soziologischen Blick liegen, dass ‚die‘ Religion in beiden Theorien relativ umstandslos in größere Narrative eingefügt wird. Das möglicherweise subversive, gegenläufige Potential religiöser Erfahrungen wird dabei entweder nicht bedacht oder nicht als signifikant erachtet. Gerade hier liegt jedoch eine spannende Frage für die Rekonstruktion einer theologischen Verhältnisbestimmung von Ambiguität, Moderne und Religion, die in die Analyse von Tillichs Ambiguitätsbegriff mitgetragen wird. Ebenso gilt es die Verknüpfung von Vereindeutigungsprozessen und Eindeutigkeit mit einer stark negativen Wertung, wie sie bisher allen hier diskutierten soziologischen und kulturwissenschaftlichen Entwürfen zueigen war, mit Blick auf ihre vermeintliche Alternativlosigkeit im Fokus zu behalten.
Kapitel 4
Problemstellungen für die werkgeschichtliche Rekonstruktion Teil I – Kap. 4. Problemstellungen für die werkgeschichtliche Rekonstruktion Problemstellungen für die werkgeschichtliche Rekonstruktion
Die Ergebnisse dieses ersten, interdisziplinär ausgerichteten Rahmenteils lassen sich in drei Punkten bündeln: Ausgehend von der Feststellung einer unscharfen Begriffsverwendung von Ambiguität (und verwandten Begriffen) setzte das erste Kapitel dieses Teils dazu an, anhand der Sichtung verschiedener wissenschaftlicher Kontexte ein Raster für die Analyse von Ambiguität zu entwickeln (vgl. I.1). Dabei wurden Koordinaten oder ‚Fixpunkte‘ des Ambiguitätsbegriffs erarbeitet, anhand derer sich verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs systematisieren und differenzieren lassen. Dabei lag das Ziel des Kapitels gerade nicht darin, eine Definition von Ambiguität, Ambivalenz etc. vorzulegen, sondern vielmehr zu zeigen, welche Grundentscheidungen eine solche Definition berücksichtigen muss, welche terminologischen Probleme mit bestimmten Verwendungen einhergehen und welche kulturgeschichtliche Tragweite die einzelnen Begrifflichkeiten mit sich führen. Als Ertrag des ersten Kapitels konnten die folgenden Koordinaten für eine begriffliche Analyse von Ambiguität unterschieden werden: Bezeichnung, Entstehung und Lokalisation, Aufbaulogik, Art, Bewertung, Umgangsweise und Funktion (vgl. I.1.6). Im Folgenden sollen diese Koordinaten auch in die werkgeschichtliche Analyse einfließen, so dass abschließend auch eine Verortung von Tillichs Ambiguitätsbegriff anhand dieser Leitkriterien erfolgen kann (vgl. III.1). Ein zweiter Punkt betrifft die Verhältnisbestimmung von Moderne und Ambiguität (vgl. I.2). Hier wurden die Modernedeutungen der Soziologen Zygmunt Bauman und Andreas Reckwitz dahingehend befragt, wie sie die Kategorie des Ambigen einsetzen, um einerseits die Moderne zu charakterisieren oder in ihrer Struktur zu beschreiben, und um andererseits den Umgang der Moderne mit Ambiguitäten zu evaluieren. Bei Bauman stand die Einsicht im Vordergrund, dass beide Fragen über die Verhältnisbestimmung einer reziproken Negativabhängigkeit von Moderne und Ambivalenz beantwortet werden können: Die Moderne zeichnet sich ihrem Charakter nach über eine ihr inhärente Ambivalenzfeindlichkeit aus, die mit ihrem grundlegenden Bedürfnis nach Ordnung korreliert. Sie versucht durch Praktiken des Benennens, der Klassifikation und der (dichotomen) Grenzziehungen, Ambivalenzen zu eliminieren, wo es nur geht – bringt dabei jedoch ständig neue hervor. Der Umgang der Moderne mit Ambivalenz ist also für Bauman ein genuin negativer und
Problemstellungen für die werkgeschichtliche Rekonstruktion
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konstituiert zugleich als solcher die entscheidende Rationalität der Moderne, bestimmt also ihren Charakter. Umgekehrt jedoch ist auch die Ambivalenz negativ von der Moderne abhängig, da sie überhaupt nur von dieser – durch eben ihre Praktiken des Ordnens – hervorgebracht wird. Beide Größen, Moderne und Ambivalenz, erweisen sich also füreinander existentiell entscheidend, allerdings auf eine negative Art und Weise. Innerhalb dieser negativen Ko-Abhängigkeit von Moderne und Ambivalenz lässt sich jedoch eine positive Funktion von Ambivalenz feststellen: Sie fungiert in Baumans Theorie als Garant für Andersartigkeit, Widerständigkeit und damit für Freiheit. Dementsprechend negativ stellt sich jedoch auch Baumans Verhältnis zur Kategorie der Eindeutigkeit und Prozessen der Vereindeutigung dar; sie werden in die Nähe von Mechanismen wie Ausgrenzung, totalitäres Denken und Freiheitsvernichtung gerückt. Hier schließt sich mit Blick auf die folgenden Analysekapitel die Frage an, welche anderen Bewertungen und Verhältnisbestimmungen von Ambiguität und Eindeutigkeit hier vorgestellt werden und ob nicht auch solche Formen von ungefährlicher Eindeutigkeit denkbar sind, die für das gesellschaftliche Leben gerade integrative und freiheitsstabilisierende Funktionen einnehmen können. Ebenso gab die höchst homogene Darstellung der Moderne bei Bauman Anlass zur kritischen Infragestellung. Auch hier gilt es, in den folgenden Kapiteln die Frage nach möglichen Alternativen im Blick zu behalten. Gegenüber Baumans Theorie legt der Kultursoziologe Andreas Reckwitz eine gänzlich anders geartete Bestimmung vor, die den Charakter der Moderne im Sinne eines in sich heterogenen Diskurskomplexes beschreibt. Die Kategorie des Ambigen taucht hier unter zwei verschiedenen Bezeichnungen auf: einmal in Form der ‚interpretativen Mehrdeutigkeit‘ als Pluralität von Sinndeutungsangeboten, die dem Subjekt in einer konkreten Handlungssituation zur Verfügung stehen; zum anderen als ‚strukturelle Ambivalenz‘, nämlich als gegenläufige Tendenzen in einer konkreten Subjektstruktur. In beiden Fällen ist dabei die (positive) Funktion entscheidend, die der Mehrdeutigkeit bzw. Ambivalenz zukommt, nämlich der Motor für Veränderung und damit für kulturellen Wandel zu sein. Die Moderne wird schließlich bei Reckwitz über einen Zuwachs interpretativer Mehrdeutigkeit definiert; ihr Umgang mit Ambiguitäten wiederum aber nicht eindeutig, sondern jeweils abhängig von der gerade dominierenden Subjektkultur bestimmt. Während also Bauman unter Ambiguität (hier verstanden als Oberbegriff) die Widerständigkeit der Wirklichkeit gegenüber den dichotomen Klassifikationen der Sprache betont, hebt Reckwitz die Pluralität von Sinndeutungsangeboten ins Zentrum seiner Analyse. Es bleibt hier zu sehen, welchen Aspekt Tillichs Verhältnisbestimmung favorisiert oder ob er die beiden Analysen um neue Aspekte ergänzt. In einem dritten Kapitel wurden schließlich zwei Verhältnisbestimmungen von Religion und Ambiguität einander gegenübergestellt (vgl. I.3). Zwei Fragen leiteten dabei die Analyse, nämlich erstens, inwieweit Religion selbst als
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Teil I – Kap. 4. Problemstellungen für die werkgeschichtliche Rekonstruktion
ein ambiges Phänomen ihrer Verfasstheit nach verstanden wird und, zweitens, wie ihre aktuelle Lage über die Kategorie des Ambigen eruiert wird. Der Kulturwissenschaftler Thomas Bauer legt bezüglich dieser Fragestellungen eine Bestimmung von Religion als spezifisch ambiges Phänomen vor und begründet diese Bestimmung über den ihr eigenen Transzendenzbezug und die Kommunikation durch Offenbarungstexte. Bauer verbindet diese These mit einer Gegenwartsdiagnose, welche die aktuelle Lage der Religion aufgrund der schwindenden Ambiguitätstoleranz in aktuellen westlichen Hemisphären auf zwei Tendenzen beschränkt: religiöse Indifferenz und religiöser Fundamentalismus – beide mit Blick auf das Koordinatensystem verstanden als (negative) Umgangsweisen mit Ambiguität. Demgegenüber forciert der Kultursoziologe Ulrich Beck eine Unterscheidung zwischen ‚Religion‘ und ‚religiös‘ und verbindet beide Größen mit einem jeweils anderen Begriff von Ambiguität: Während Religion strukturell ambivalent und damit binär verfasst ist (Grenzsetzung und Grenzaufhebung; Friedensfähigkeit und Gewaltpotential), definiert Beck das Religiös-Sein über die Logik des Mehrdeutigen. Die aktuelle Lage der Religion steht für Beck im Rahmen seines Theorems der ‚reflexiven Modernisierung‘ im Kontext allgemeiner Individualisierung- und Pluralisierungsprozesse, innerhalb derer sich die ambivalente Religion, so seine Hoffnung, hin zu einem mehrdeutigen Religiös-Sein wandeln wird, mit dem die Gefahren der Religion (Ambivalenz) zugunsten eines friedlichen Miteinanders (Mehrdeutigkeit) überwunden werden können. Beide Theoretiker integrieren Religion also in ein modernetheoretisches Großnarrativ und parallelisieren damit die Entwicklungen von Moderne und Religion. Damit ergibt sich für die werkgeschichtliche Analyse der Schriften Tillichs vor allem die Frage, ob eine theologische Perspektive auf Religion dem soziologisch bzw. kulturwissenschaftlichen Blick noch etwas hinzufügt. Oder anders gefragt: Kann Religion bzw. religiöse Erfahrung den Vereindeutigungs- oder Vervieldeutigungsnarrativen nicht auch zuwiderlaufen, ein widerständiges Moment darstellen? Oder der Moderne als Großnarrativ – insofern ein solches verfolgt wird bzw. überhaupt sinnvoll ist – etwas ‚entgegensetzen‘? Diese Fragen gilt es nun, in die folgende werkgeschichtliche Analyse zu übertragen. Dabei wird so vorgegangen, dass sich der Fokus gänzlich auf Tillich verschiebt und die hier angesprochenen Fragen zwar als roter Faden mitgeführt werden, der gegenseitige Bezug jedoch erst im letzten Teil der Arbeit wieder explizit hergestellt wird (vgl. III.).
Teil II
Ambiguität als Zweideutigkeit. Eine werkgeschichtliche Rekonstruktion
Kapitel 1
Paul Tillich als Denker von Ambiguität Teil II – Kap. 1. Paul Tillich als Denker von Ambiguität Paul Tillich als Denker von Ambiguität
Als Paul Tillich nach seiner Emigration in die USA im Jahr 1933 gebeten wird, sich einem größeren amerikanischen Publikum bekanntzumachen, wählt er zu seiner Vorstellung den Begriff der ‚Grenze‘. In zwölf Abschnitten, die von der Vererbung elterlicher Temperamente über seine kirchliche und politische Verortung bis hin zu seinem Standpunkt zwischen Theologie und Philosophie reichen, beschreibt sich Tillich in seinem autobiographischen Essay Auf der Grenze als Grenzgänger zwischen Mentalitäten, Kontinenten, wissenschaftlichen Disziplinen und gesellschaftlichen Kontexten.1 Die Grenze kommt dabei als ein Reich des ‚Dazwischen‘ in den Blick, als eine Haltung der zwei Seiten, die sich „hütet […], die eine in die andere aufzulösen“,2 als ein Ort der Produktivität wie Begrenzung zugleich.3 Als ein solches ‚Dazwischen‘ markiert sie sowohl die feine Linie zwischen ‚Entweder-Oder‘ als auch eine Stätte der Vermittlung, des ‚Sowohl-als-Auch‘. Kurzum: Die von Tillich ausgeführte Grenze erscheint als ein höchst ambiger Ort. Insofern scheint es durchaus naheliegend, dass ein Denker, der sein intellektuelles und persönliches Leben mit dem Begriff der Grenze umschreibt, auch zur Kategorie des Ambigen greift, um seine Deutung der Wirklichkeit zu vollziehen.4 Dies geschieht bei Tillich mittels des Begriffs Zweideutigkeit, der in verschiedenen werkgeschichtlichen Phasen unterschiedlich prominent auftaucht. Während sich in den frühen Schriften bis zum Ende des ersten Weltkrieges und den darauffolgenden Jahren der Berliner Privatdozentenzeit die Verwendung von ‚Zweideutigkeit‘ nur auf vereinzelte Belege erstreckt,5 tritt mit der DogVgl. TILLICH, Auf der Grenze (1936), in: GW XII, 13–57. A.a.O., 34. 3 „An vielen Grenzen stehen, heißt in vielerlei Formen die Bewegtheit, Ungesichertheit und innere Begrenztheit der Existenz zu erfahren und zu dem Ruhendem, Sicheren und Erfüllten, das auch zu ihr gehört, nicht gelangen zu können. Das gilt vom Leben wie vom Denken und gibt den hier angedeuteten Erfahrungen und Ideen etwas Fragmentarisches, Tastendes, Ungesichertes.“ A.a.O., 57. 4 Den Zusammenhang von ‚boundary‘ und ‚ambiguity‘ betrachtet auch W EAVER, MATTHEW LON, Beyond the Boundary. Tillich and the Ambiguous Path to Self and Community, in: Dumas/ Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 173–193. 5 Vgl. hierfür etwa Tillichs philosophische Dissertation, in der die Termini ‚Zweideutigkeit‘ bzw. ‚zweideutig‘ mehrere Male fallen, siehe TILLICH, Die religionsgeschichtliche Rekonstruktion von Schellings positiver Philosophie (1910), etwa 166.193f.196, Fn. 2.216.267 1 2
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Teil II – Kap. 1. Paul Tillich als Denker von Ambiguität
matik-Vorlesung (Dresden 1925–27) eine plötzliche Häufung des Begriffs zu Tage. Überraschend ist neben der unvermittelten Zentralstellung des Begriffs auch seine Verwendung in verschiedenen Kontexten, die von der Offenbarungslehre über erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Zusammenhänge bis hin zu materialdogmatischen Topoi wie Schöpfung, Sünde und Erlösung handeln.6 In den Folgejahren wird die Zweideutigkeit vermehrt auch in die kulturtheoretischen und politischen Schriften Tillichs eingespeist und avanciert allmählich zu einem Grundbegriff seiner Theologie, wie er sich dann etwa im späten Hauptwerk der Systematischen Theologie wiederfindet.7 Im Folgenden soll diese Entwicklung des Zweideutigkeitsbegriffs in der Theologie Paul Tillichs anhand einer werkgeschichtlichen Rekonstruktion nachvollzogen werden. Diese geschieht in sechs Kapiteln: Zunächst wird mit einem kurzen Forschungsüberblick sowie einer Anmerkung zum Ansatz der vorliegenden Arbeit das Fundament für die werkgeschichtlichen Analysen gelegt (vgl. II.1.1 und II.1.2). Das erste werkimmanente Kapitel (vgl. II.2) widmet sich der Anbahnung von ‚Zweideutigkeit‘ in den Schriften der frühen Nachkriegszeit (1919–1924). Hier liegt der Fokus insbesondere auf den theoretischen Rahmenbedingungen, die der Einführung des Zweideutigkeitsbegriffs vorausgehen. Dabei stehen der sinntheoretische Religionsbegriff und die kulturtheologische Einheitsvision Tillichs im Zentrum der Analyse. Im Verlauf von deren erster Desillusionierung, so die zentrale These des dritten Kapitels, wird Mitte der 1920er Jahre ‚Zweideutigkeit‘ im Zuge einer differenzierenden Revision des Einheitsgedankens in Stellung gebracht – allerdings noch in tastender Manier und in verschiedenen Anläufen. Hier wird bereits die Heterogenität von Tillichs Zweideutigkeitsbegriff auf synchroner Ebene deutlich (vgl. II.3). Das vierte Kapitel widmet sich unter dem Stichwort der ‚Zwischenzeiten‘ sodann der allmählichen Etablierung des Zweideutigkeitsbegriffs in den kulturtheologischen und politisch-sozialistischen Schriften sowie der dogmatischen Weiterentwicklung im Übergang von deutscher zu amerikanischer Zeit (vgl. II.4). Im fünften Kapitel schließlich wird die Zentralstellung des Zwei-
sowie für die frühen 1920er Jahre beispielhaft DERS., Kritisches und Positives Paradox (1923), 225. Vgl. II.2.4.2. 6 So etwa TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 19–28.86–90.125.129.177.223–267. Vgl. II.3. Die Änderung des Titels von „Marburger Vorlesung“ zu „Dresden 1925–1927“ trägt dem Umstand Rechnung, dass Tillich den größten Teil der Vorlesung in Dresden und Leipzig gehalten hat. Die Vorlesung wird im Fortgang der Arbeit auch als Dresdener Dogmatik oder Dogmatik-Vorlesung bezeichnet. Es wird stets die Neuedition von 2005 zitiert. 7 Vgl. insbesondere TILLICH, Logos und Mythos der Technik (1927), in: GW IX, 297– 306, hier 306; DERS., Klassenkampf und religiöser Sozialismus (1930), in: GW II, 175–192, hier 187–190; DERS., Die sozialistische Entscheidung (1933), in: GW II, 219–365, hier etwa 229. Vgl. II.4. Vgl. für das Spätwerk insbesondere DERS., Systematische Theologie III, 21– 133. Vgl. II.5.
1.1 Forschungsstand
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deutigkeitskonzepts – nun unter dem Stichwort ‚ambiguity‘ – im amerikanischen Spätwerk, insbesondere der Systematischen Theologie (1951–1963), untersucht (vgl. II.5). Ein sechstes Kapitel bündelt die werkgeschichtlichen Analysen in einem Resümee, das die zentralen Aspekte von Tillichs Ambiguitätskonzeption noch einmal zusammenfasst (vgl. II.6).
1.1 Forschungsstand 1.1 Forschungsstand
Aufgrund der Fülle von Veröffentlichungen im Bereich der Paul-Tillich-Forschung ist der folgende Forschungsüberblick nach Aspekten gegliedert, die für die vorliegende Arbeit einschlägig sind. Der Anspruch der eigenen Forschung wird jeweils im Anschluss an die einzelnen Aspekte formuliert. 1.1.1 Grundsätzliche Tendenzen der Tillich-Forschung Für die Hochkonjunktur der Tillich-Forschung, die innerhalb der deutschsprachigen Theologie der letzten zwei Jahrzehnte zu verzeichnen ist, sind insbesondere drei Faktoren maßgeblich:8 Zunächst wurden mit den Tillich-Studien (erscheinend seit 1999)9, dem Internationalen Jahrbuch für die Tillich-Forschung (seit 2005)10 sowie der Reihe Tillich Research (seit 2011)11 drei Publikationsorgane geschaffen, die sich eigens der kontinuierlichen Aufarbeitung und Interpretation von Tillichs umfangreichem Oeuvre widmen,12 sowie darüber hinaus für eine gewisse Vernetzung der internationalen Forschung (insbesondere zwischen der deutschen, britischen, nordamerikanischen und französischen Forschung) sorgen. Dann hat die Tätigkeit der Deutschen-Paul-Tillich-Gesellschaft sowie der entsprechenden Partnergesellschaften durch die
8 Martin Fritz spricht in seiner Habilitationsschrift von einem „neuerliche[n] Professionalisierungsschub“ der Tillich-Forschung um die Jahrtausendwende. Zuvor diagnostiziert er eine „Annäherungsperiode“ von etwa 1965 bis 1980, die insbesondere der „langsamen Aufarbeitung von Grundelementen und Grundthemen des Tillich’schen Denkens“ gewidmet war sowie eine Phase der „Vertiefung und Verbreiterung in der allgemeinen Tillich-Resonanz sowie in der Tillich-Forschung“ von 1980 bis 2000, vgl. FRITZ, MARTIN, Menschsein als Frage. Paul Tillichs Weg zur anthropologischen Fundierung der Theologie, Habil. Neuendettelsau 2016, 16–19. Der vorliegende Abschnitt lehnt sich an Fritz’ Einteilung der Phasen an. 9 Erscheint im Lit Verlag, Münster u.a. 10 Erscheint bei De Gruyter, Berlin/Boston seit 2010; bis 2009 ebenfalls im Lit Verlag, Münster u.a. erschienen. 11 Erscheint bei De Gruyter, Berlin/Boston. 12 Vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 19.
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Teil II – Kap. 1. Paul Tillich als Denker von Ambiguität
Veranstaltung von Jahrestagungen, internationalen Kongressen sowie die Förderung von Nachwuchsnetzwerken13 dazu geführt, dass die Tillich-Forschung nicht nur internationaler und intergenerationaler geworden ist, sondern auch über die Wissenschaftsgrenzen hinaus in eine breitere Öffentlichkeit hinein diffundiert – so werden etwa die Jahrestagungen der Deutschen Paul-TillichGesellschaft in Kooperation mit den Evangelischen Akademien durchgeführt und sind dementsprechend auch einem interessierten Publikum außerhalb der Wissenschaft zugänglich. Schließlich hat die kontinuierliche Editionsarbeit Erdmann Sturms und die damit verbundenen Veröffentlichungen in den Ergänzungs- und Nachlassbänden zu den Gesammelten Werken (seit 1994) für den deutschen Sprachraum dafür gesorgt, dass viele der Manuskripte Tillichs aus der (Vor-)Kriegszeit und den Weimarer Jahren bis 1933 für die Forschung zugänglich gemacht wurden und sich die Quellenlage damit erheblich erweitert hat.14 Die Neuedition der Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927) sowie die Veröffentlichungen des Vorlesungszyklus Advanced Problems in Systematic Theology von 1936–1938 und der Berliner Vorlesungen Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse von 1952 und Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse von 1958, die eine Grundlage für die vorliegende Arbeit bilden, sind allesamt Teil dieser umfassenden Editionsarbeit der letzten zweieinhalb Jahrzehnte.15 Die drei geschilderten Faktoren haben für eine gewisse Verschiebung der Schwerpunktsetzung in der (deutschsprachigen) Forschungslandschaft geführt: Während noch in der ersten Hochphase der Tillich-Rezeption in den 1970er und 1980er Jahren16 der Fokus zunächst auf der „langsamen Aufarbei13 Die vorliegende Arbeit hat so auch von dem intensiven Austausch mit dem Nachwuchsnetzwerk der Deutschen-Paul-Tillich-Gesellschaft profitiert, das 2018 unter der wissenschaftlichen Leitung von PD. Dr. Martin Fritz gegründet wurde. 14 Vgl. ebd. So erschienen seit der Neuauflage der Ergänzungsreihe im Jahr 1994 bei De Gruyter insgesamt 13 Bände: EW VII: Frühe Predigten (1909–1918) [1994]; EW VIII: Vorlesung über Hegel (Frankfurt 1931/32) [1995]; EW IX: Frühe Werke (1905–1915) [1998]; EW X und XI: Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908–1933) [1999]; EW XII: Berliner Vorlesungen I (1919–1920) [2001]; EW XIII: Berliner Vorlesungen II (1920–1924) [2003]; EW XIV: Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927) [2005]; EW XV: Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt 1929/30) [2007]; EW XVI: Berliner Vorlesungen III (1951–1958) [2009]; EW XVII: Frühe Vorlesungen im Exil (1934–1935) [2012]; EW XVIII: Frankfurter Vorlesungen (1930–1933) [2013]; EW XIX: Advanced Problems in Systematic Theology. Courses at Union Theological Seminary, New York, 1936–1938 [2016]. 15 Vgl. II.3 sowie II.4.3, sowie in der vorangehenden Fußnote EW XIV, EW XVI, EW XIX. 16 Aus dieser ersten Hochzeit der Tillich-Forschung stammt auch die einflussreiche Dissertation von WENZ, GUNTHER, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, (Münchener Monographien zur historischen und systematischen Theologie 3), München: Kaiser 1979. WENZ legt hier eine Gesamtdeutung der Theologie Tillichs vor, deren Grundmotiv er in der Frage nach den Konstitutionsbedingungen freier Subjektivität gegeben
1.1 Forschungsstand
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tung von Grundelementen und Grundthemen des Tillich’schen Denkens“17 lag, und insbesondere der ‚späte‘ Tillich der 1950er und 1960er Jahre bearbeitet wurde,18 ist der Schwerpunkt in der jüngeren Forschung etwas anders gelagert: Hier steht gegenüber dem Zugriff auf das Gesamtwerk und der Suche nach einem durchgängigen Motiv, wie es die wirkmächtigen Arbeiten der ersten Phase von Falk Wagner, Gunther Wenz und später auch Christian Danz prägt, die tiefergehende Analyse von Einzelaspekten oder Themenkomplexen im Zentrum. Auch widmet sich ein Großteil der jüngeren Forschung – mit Rückgriff auf die neu edierten Quellen – der frühen und mittleren Schaffensphase Paul Tillichs.19 Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der unmittelbaren sieht. Beginnend bei den Schelling-Dissertationen Tillichs und bis in die Systematische Theologie hinein zeichnet Wenz dieses Grundmotiv auf verschiedenen Feldern von Tillichs Theologie (u.a. Wissenschaftslehre, Symbollehre, Christologie) nach. Wie WENZ bestimmt auch CHRISTIAN DANZ’ Habilitationsschrift Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich (Theologische Bibliothek Töpelmann 110), Berlin/New York: De Gruyter 2000 die Konstitution von Subjektivität unter dem Stichwort ‚endliche Freiheit‘ als durchgängiges Thema von Tillichs Theologie. Grundlegend anders als WENZ, dessen Deutung „kritischoffenbarungstheologisch“ genannt werden kann (so die treffende Charakterisierung Michael Murmann-Kahls), betont DANZ den „religionstheoretisch-selbstreferentiellen“ Status des Glaubens in der Geschichte und bestimmt das Zentrum von Tillichs Theologie als eine Geschichtsphilosophie, in der sich das reflexive Subjekt selbst durchsichtig wird. Vgl. auch MURMANN-KAHL, MICHAEL, Einleitung, in: Christian Danz (Hg.), Paul Tillichs ‚Systematische Theologie‘. Ein werk- und problemgeschichtlicher Kommentar, Berlin/Boston: De Gruyter 2017, 15–34, hier 33. MURMANN-KAHL erwähnt als eine dritte wirkmächtige Tillich-Deutung exemplarisch FALK WAGNERS Aufsatz Absolute Positivität – Das Grundthema der Theologie Paul Tillichs, in: Ders., Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh: Gütersloher Verlag 1989, 126–144, den er unter dem Stichwort „selbstbewusstseins- und freiheitstheoretisch“ fasst. Für eine erhellende Gegenüberstellung der beiden paradigmatischen und wirkmächtigen Positionen von Gunther Wenz und Christian Danz (siehe oben) vgl. DIENSTBECK, STEFAN, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 132), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 173, Fn. 119. Dienstbecks Dissertation ist als Rezeption beider Positionen zu sehen und verfolgt das Grundmotiv über verschiedene Perioden der Systembildung hinweg. Vgl. auch FRITZ, Menschsein als Frage, 17f. 17 A.a.O., 16. 18 Natürlich wurde auch hier schon der Weimarer Tillich sowie mitunter der Tillich der Vorkriegszeit bearbeitet, vgl. für einen Überblick SCHWÖBEL, CHRISTOPH, Tendenzen der Tillich-Forschung (1967–1983), in: Theologische Rundschau 51 (1986), 166–223. 19 Vgl. etwa die Dissertationen von N EUGEBAUER, G EORG, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption (Theologische Bibliothek Töpelmann 141), Berlin/New York: De Gruyter 2007, und HEINEMANN, LARS, Sinn – Geist – Symbol. Eine systematisch-genetische Rekonstruktion der frühen Symboltheorie Paul Tillichs (Tillich Research 10), Berlin/Boston: De Gruyter 2017 sowie die Habilitationsschrift von FRITZ, Menschsein als Frage. Letzterer
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Teil II – Kap. 1. Paul Tillich als Denker von Ambiguität
Nachkriegszeit und dem damit verbundenen Programm der Kulturtheologie. Der Übergang von deutscher zu amerikanischer Zeit harrt hingegen als „weites, noch recht unberührtes und ebenfalls recht steiniges Feld“20 weiterer Forschungstätigkeit und auch eine – zumindest partielle – Revision und Ergänzung der Gesamtinterpretationen durch den Einfluss konzentrierter Einzelbetrachtungen steht noch aus.21 Die vorliegende Arbeit wählt den Mittelweg zwischen einer werkgeschichtlich-überblicksmäßigen Erschließung und der vertiefenden Einzelbetrachtung. Dabei soll der Fokus in Abgrenzung gegenüber früheren Studien des Gesamtwerks nicht darauf liegen, das umfangreiche Werk Tillichs auf ein Grundmotiv oder -thema hin festzulegen. Vielmehr soll einem Begriff durch verschiedene Konstellation hindurch gefolgt werden und dieser im jeweiligen Kontext immer wieder neu erschlossen werden. In dieser Absicht einer kontextualisierenden Einzelbetrachtung versteht sich die vorliegende Arbeit als an jüngere Arbeiten anknüpfend, wenngleich die Schwerpunktsetzung der ‚Tiefenbohrungen‘ nicht ausschließlich beim Tillich der deutschen Zeit gesucht wird, sondern auch der amerikanische Tillich der frühen Exilzeit und der ‚späte‘ Tillich der Systematischen Theologie in die Interpretation mit einbezogen werden. Damit wird nicht nur an der Interpretation der neu erschlossenen Quellen mitgearbeitet, sondern auch das Element der Kontinuität zwischen deutscher und amerikanischer Phase betont. 1.1.2 Die Vermittlung von deutscher und internationaler Forschung Mit diesem Aspekt der Kontinuität hängt ein weiteres Desiderat der Forschung zusammen, das erst in jüngerer Zeit vermehrt in den Fokus rückt: die Vermittlung von deutscher und internationaler, insbesondere englischsprachiger Tillich-Forschung. Christoph Schwöbel bemerkte in seinem 1986 erschienenen nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er den ‚vernachlässigten‘ Übergang von deutscher zu amerikanischer Zeit in den Blick nimmt und damit ein neues Feld der Forschung eröffnet. Vgl. außerdem folgende einschlägige Sammelbände und Aufsätze der jüngeren Forschung: DANZ, CHRISTIAN/SCHÜßLER, WERNER (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920) (Tillich-Studien 20), Wien: Lit Verlag 2008; DIES. (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (Tillich-Research 1), Berlin/Boston: De Gruyter 2011; DANZ, CHRISTIAN, Theologie als normative Religionsphilosophie. Voraussetzungen und Implikationen des Theologiebegriffs Paul Tillichs, in: Ders. (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs (TillichStudien 9), Wien: Lit Verlag 2004, 73–106; BARTH, ULRICH, Religion und Sinn. Betrachtungen zum frühen Tillich, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 431–451; DERS., Protestantismusverständnis und Kulturtheorie. Kontinuität und Wandel im Werk Tillichs, in: a.a.O., 408–430. 20 FRITZ, Menschsein als Frage, 23. 21 So die Diagnose von FRITZ, a.a.O., 20.
1.1 Forschungsstand
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Überblick über die gegenwärtigen Tendenzen der Tillich-Forschung noch die „[n]amentlich […] kaum noch überschaubare nordamerikanische Forschung“22, um damit im Folgenden lediglich ihre Nichtberücksichtigung zu begründen. Demgegenüber hat sich einiges getan: Vor allem internationale Forschungskooperationen, gemeinsam abgehaltene Fachtagungen sowie die bereits erwähnten Publikationsorgane haben mittlerweile zu einer weitaus engeren Vernetzung zwischen den verschiedenen Tillich-Forschungslandschaften geführt.23 Gleichwohl hält sich eine gewisse Trennung von deutsch- und englischsprachiger Forschung mit überraschender Hartnäckigkeit. So widmet sich, wie bereits erwähnt, die deutsche Forschung der letzten zwei Jahrzehnte unter Berücksichtigung der neu erschlossenen Quellen insbesondere der Schaffensphase Tillichs während der 1910er und 1920er Jahre und verliert darüber bisweilen den amerikanischen Tillich etwas aus den Augen. Für einen Großteil der englischsprachigen Forscher hingegen sind die neuedierten Quellen schon aus sprachlichen Gründen nicht zugänglich; die Quellenlage ist hier also eine gänzlich andere. Umso erfreulicher ist das Bestreben bilingualer Forscherinnen und Forscher, den hier angesprochenen Graben zu überbrücken, jüngst etwa zu sehen bei dem britisch-deutschen Tillichforscher Samuel Shearn, der sich in seiner Aufarbeitung der Kriegspredigten Tillichs explizit die Erschließung deutschsprachiger Quellen und Sekundärliteratur für den englischsprachigen Raum zum Anliegen macht.24 SCHWÖBEL, Tendenzen der Tillich-Forschung, 168. Als ein Beispiel für eine solche Kooperation darf der Internationale Tillich-Kongress Reformation und Revolution im Denken Paul Tillichs gelten, der vom 3.–6. September 2017 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Beteiligung der deutschen, nordamerikanischen und französischen Tillich-Gesellschaften stattfand. 24 Vgl. SHEARN, SAMUEL, Pastor Tillich. The Justification of the Doubter, Diss. Oxford 2019. Shearn wendet sich in seiner Arbeit explizit an folgende Leserschaft: „[…] I imagine theologians with advanced interest in Tillich’s theology, but who lack great command of the German language. For such readers, the volumes of archival material published since 1994, and the accompanying German-language secondary literature, remain largely inaccessible“, und strebt eine Erschließung deutschsprachiger Quellen und Literatur für den englischsprachigen Raum an. A.a.O., 12. Weitere jüngere Studien zum frühen Tillich in englischer Sprache sind RE MANNING, RUSSEL, Theology at the End of Culture. Paul Tillich’s Theology of Culture and Art (Studies in Philosophical Theology 27), Leuven u.a.: Peeters 2005 sowie MEDITZ, ROBERT E., The Dialectic of the Holy. Paul Tillich’s Idea of Judaism within the History of Religion (Tillich Research 7), Berlin/Boston: De Gruyter 2016. Einen umfassenden Überblick über die gegenwärtige britische (und teilweise amerikanische) Tillich-Forschung bieten RE MANNING, RUSSELL/SHEARN, SAMUEL (Hg.), Returning to Tillich. Theology and Legacy in Transition (Tillich Research 13), Berlin/New York: De Gruyter 2017. Eine sehr bedenkenswerte jüngere Perspektive auf Tillich bietet außerdem der Sammelband von RE MANNING, RUSSEL (Hg.), Retrieving the Radical Tillich. His Legacy and Contemporary Importance, New York: Palgrave Macmillan 2015. Für die amerikanische Forschung einschlägig sind vor allem die Arbeiten und Herausgeberschaften von Mary Ann Stenger 22 23
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Teil II – Kap. 1. Paul Tillich als Denker von Ambiguität
Die vorliegende Arbeit ist angesichts der geschilderten Lage darum bemüht, diesem Anliegen seitens der deutschsprachigen Forschung gerecht zu werden. So wird zum einen der Bogen der Arbeit über die Zeit des deutschen Tillichs hinaus in die amerikanischen Jahre gespannt, unter besonderer Berücksichtigung der frühen Exilzeit (vgl. II.4.3) und dem Spätwerk der Systematischen Theologie (vgl. II.5). Damit wird bekräftigt, dass von einer starken Kontinuität zwischen deutscher und amerikanischer Zeit und einem – auch unabhängig vom Einschnitt des Exils – immer wieder neu ansetzenden Tillich ausgegangen werden muss. Zum anderen sollen auch einschlägige Werke der englisch- und französischsprachigen Forschung berücksichtigt werden, um damit dem Anspruch einer internationalen Tillich-Forschung gerecht zu werden. Dies gilt umso mehr, als die einzige explizit auf den Begriff der Zweideutigkeit/ambiguity/ambiguïté sich konzentrierende Forschung eine internationale Publikation darstellt.25 1.1.3 Die Erforschung des Zweideutigkeits- bzw. Ambiguity-Begriffs Angesichts der Zentralstellung des Zweideutigkeitsbegriffs in Tillichs Werk ist es verwunderlich, dass eine grundlegende werkgeschichtliche Erschließung des Begriffs bisher ausstand. In den einschlägigen Veröffentlichungen finden sich ausschließlich kapitelweise Betrachtungen, die auf den Begriff der Zwei-
(u.a. Norms and the Problem of Relativism in Tillich’s Theory of Theological Knowledge, Diss. University of Iowa 1978; DIES./STONE, RONALD H., Dialogues of Paul Tillich, Macon: Mercer University Press 2012 sowie TILLICH, PAUL, The New Being, hg. v. Dies., Lincoln: University of Nebraska Press 2005), Bryan Wagoner (insbesondere: Prophetic Interruptions. Critical Theory, Emancipation, and Religion in Paul Tillich, Theodor Adorno, and Max Horkheimer (1929–1944), Macon: Mercer University Press 2017) und Matthew Lon Weaver (etwa DERS./STONE, RONALD H. (Hg.), Against the Third Reich. Paul Tillich’s Wartime Radio Broadcasts into Nazi Germany, Louisville: Westminster John Knox Press 1998 sowie Religious Internationalism. The Ethics of War and Peace in the Thought of Paul Tillich, Macon: Mercer University Press 2010). In der französischsprachigen Forschung sind vor allem die Arbeiten von Marc Dumas (Die theologische Deutung der Erfahrung des Nichts im deutschen Werk Paul Tillichs (1919–1930) (Europäische Hochschulschriften 47), Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1993; Paul Tillich. Écrits théologiques allemands (1919–1933). Traduction et introduction, Québec/Genève: Labor et Fides 2012; zusammen mit PERROTTET, LUC/RICHARD, JEAN (Hg.), Paul Tillich. Écrits philosophiques allemands 1923–1932, Genève: Labor et Fides 2018), Raymond Asmar (Positivité d’être et négativité de non-être dans l’oeuvre de Paul Tillich, Diss. Jena 2017) sowie Benoit Mathot (L’apologétique dans la pensée de Paul Tillich (Tillich Research 6), Berlin/Boston: De Gruyter 2015) hervorzuheben. Insbesondere Re Manning, Stenger, Wagoner, Weaver und Dumas sind außerdem an zahlreichen Herausgeberschaften der genannten Tillich-Publikationsorgane beteiligt, die hier nicht einzeln aufgelistet werden. 25 Vgl. D UMAS/R ICHARD/W AGONER (Hg.), Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich.
1.1 Forschungsstand
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deutigkeit eingehen.26 Erfreulicherweise ist jedoch im Jahr 2017 in der Reihe Tillich-Research ein Konferenzband zu einer Tagung der französischsprachigen Tillich-Gesellschaft erschienen, der sich ausschließlich mit dem Thema Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich/The ambiguities of life according to Paul Tillich widmet.27 Mit dem Band liegt die einzig ausführliche Auseinandersetzung mit dem Zweideutigkeitsbegriff in der Tillich-Forschung vor. Während auf ausgewählte Einzelbeiträge an entsprechender Stelle in der vorliegenden Arbeit Bezug genommen wird, seien hier dennoch einige grundsätzliche Anmerkungen gemacht. Die zentralen Fragen, die der Tagung vorangestellt wurden, werden in der Einleitung von den Herausgebern folgendermaßen wiedergegeben: „What is ambiguity? How does it affect life in its various dimensions? Is it possible to surpass it, at least partially?“28 Diesen Leitfragen, die bis zu einem gewissen Grad auch den Band thematisch gliedern,29 folgt die Anmerkung, dass „[e]ven though this theme unfolds primarily in the fourth part of Systematic theology, all of the authors illustrate how the theme of ambiguity is a reality which cuts across all of Tillich’s thought.“30 Mit dieser Anmerkung ist – ebenso wie mit dem Titel des Bandes – auch schon der Hauptfokus der Beiträge benannt, nämlich das Verständnis von Ambiguität, wie es in Zusammenstellung mit dem Lebensbegriff im Spätwerk Tillichs, insbesondere in der Systematischen Theologie, entfaltet wird. Nur vereinzelte Beiträge beschäftigen sich explizit mit früheren Versionen des Ambiguitätsbegriffs – so etwa Raymond Asmars Beitrag zur L’ambiguïté du démonique chez Paul Tillich sowie Benoit Mathots Le
Ein Beispiel hierfür bietet Christian Danz’ Studie Religion als Freiheitsbewußtsein aus dem Jahr 2000. Hier finden sich im Kapitel zur Pneumatologie zwei Unterkapitel zur Zweideutigkeit. Danz folgt dabei in seiner Explikation dem Aufriss von Tillichs Systematischer Theologie und fokussiert seine Analyse dementsprechend auf die ‚Zweideutigkeit des Lebens‘, wie Tillich sie dort entfaltet. Dabei geht es jedoch Danz in erster Linie darum, Tillichs Lehre von der Zweideutigkeit vom Blickwinkel seines religionstheoretisch-selbstreferentiellen Ansatzes zu entfalten; die Zweideutigkeit wird hier also im Rahmen einer größeren Deutung analysiert. 27 Die Tagung fand vom 10.–13. August 2015 anlässlich des 50. Todestages von Paul Tillich an der Université de Sherbrooke (Québec, Kanada) statt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der deutschen und nordamerikanischen Gesellschaften waren ebenfalls zu Gast. 28 D UMAS/R ICHARD/W AGONER, Introduction, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 5. 29 Die Beiträge sind thematisch in vier Teile gegliedert: 1. L’ambiguïté humaine [Die menschliche Ambiguität]; 2. Les ambiguïtés de la morale [Die Ambiguitäten der Moral]; 3. Les ambiguïtés de la religion [Die Ambiguitäten der Religion]; 4. L’ambiguïté peut-elle être dépassée? [Kann die Ambiguität überwunden werden?]. 30 D UMAS/R ICHARD/W AGONER, Introduction, in: a.a.O., 5. 26
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Teil II – Kap. 1. Paul Tillich als Denker von Ambiguität
socialisme comme dénonciation de la non-ambiguïté politique –,31 der Verweis auf den ‚langen Anmarsch‘, den dieser Begriff bis ins Spätwerk nimmt, bleibt meist aus. Ebenso lässt der Band eine ausführlichere Beschäftigung mit der Begrifflichkeit selbst, deren terminologischen und kulturgeschichtlichen Hintergründen sowie Fragen der Übersetzung (‚Ambiguity‘/‚Ambiguïté‘ vs. ‚Zweideutigkeit‘) vermissen. Martin Leiners Beitrag L’ambivalence du sacré et l’ambiguïté de la vie,32 der sich ausführlich mit der begrifflichen Differenzierung von ‚Ambiguität‘ und ‚Ambivalenz‘ beschäftigt, ist hier eine Ausnahme. Leiner schlägt nach eingehender Begriffsanalyse vor, dass Tillichs Ambiguitätsbegriff (in der Systematischen Theologie) passender mit ‚Ambivalenz‘ bezeichnet wäre, da Tillich Ambiguität im Sinne zweier gegenläufiger Tendenzen („deux tendances opposées“33) verstehe und damit in der Tradition eines psychoanalytischen Ambivalenzbegriffs à la Sigmund Freud stehe. Ein weiterer interessanter Brückenschlag, den Leiners Beitrag aufwirft, ist der Dialog zwischen Tillichs Verständnis religiöser Ambiguität und dem Buch des amerikanischen Religionshistorikers Robert Scott Appleby The Ambivalence of the Sacred.34 Leiner nimmt Applebys These, dass Religionen ein ambivalentes Verhältnis zu Gewalt hätten, das wiederum in der Ambivalenz des Heiligen selbst gründe, zum Anlass, um auf Tillichs (komplexeres) Verständnis von Ambiguität bzw. Ambivalenz und Religion hinzuweisen. Beide hier skizzierten Aspekte von Leiners Beitrag – die besondere Berücksichtigung der begrifflichen Differenzierungen sowie das Verhältnis von Ambiguität und Religion im kulturwissenschaftlichen Diskurs und bei Tillich – finden auch in der vorliegenden Arbeit besondere Berücksichtigung (vgl. u.a. I.1 und I.3 sowie III.1 und III.3).35 Ein weiterer Beitrag des Bandes, der an dieser Stelle gesonderte Erwähnung finden muss, ist Russel Re Mannings Aufsatz Life, Sex, and Ambiguity. Dankenswerterweise nimmt Re Manning darin eine starke Abgrenzung von der –
31 Vgl. A SMAR, R AYMOND, L’ambiguïté du démonique chez Paul Tillich, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 319–334; MATHOT, BENOIT, Le socialisme comme dénonciation de la non-ambiguïté politique, in: a.a.O., 143–156. Beide Beiträge behandeln den Ambiguitäts- bzw. Zweideutigkeitsbegriff Tillichs vor der Emigration. 32 Vgl. LEINER, M ARTIN, L’ambivalence du sacré et l’ambiguïté de la vie, in: a.a.O., 263– 273. 33 A.a.O., 265. 34 A PPLEBY, R OBERT SCOTT, The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence, and Reconciliation, New York u.a.: Rowman & Littlefield Publishers 2000. 35 Zur Unterscheidung von Ambiguität und Ambivalenz vgl. in dieser Arbeit v.a. I.1. Bezüglich des Aspekts einer Wertdimension/Ambivalenznähe von Tillichs Ambiguitätsbegriff vgl. insbesondere II.6.2 und III.1 Zum Verhältnis von Religion und Ambiguität, auch mit Blick auf die Gewaltfrage vgl. I.3 und III.3.
1.1 Forschungsstand
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in der britischen Theologie immer noch kursierenden – Verknüpfung des Zweideutigkeits- bzw. Ambiguitätsbegriffs mit biographischen Episoden Tillichs, insbesondere mit Blick auf dessen Sexualleben, vor.36 Re Manning plädiert diesbezüglich entschieden für einen Vorzug der Sache vor der Biografie. In diesem Zusammenhang stellt er unter anderem die These auf, Tillich grundsätzlich als einen „theologian of ambiguity“ zu charakterisieren, ein Zugang, „[which] presents a hermeneutical alternative to the predominantly topological images of Tillich that we have become habituated to“.37 Re Manning spricht sich dabei insbesondere für eine Abwendung vom Begriff der Grenze aus, den er – anders als diese Arbeit – ausschließlich als Ort des ‚Endweder-Oder‘ begreift. Demgegenüber erlaube „the image of ambiguity […] for a thoroughgoing both/and; to be ambiguous just simply is to be unresolvable“.38 Re Mannings Impuls von Ambiguität als einer hermeneutischen Kategorie des Sowohlals-Auch soll im Folgenden insofern verfolgt werden, als die Verwendung von ‚Zweideutigkeit‘ bzw. ‚ambiguity‘ in den verschiedenen Kontexten und Konstellationen der Werkgeschichte nahelegt, dass es sich hier womöglich um mehr als nur ein Thema neben anderen handeln könnte. Kann Zweideutigkeit/ambiguity, so die Alternative im Anschluss an Re Manning, vielmehr als ein hermeneutischer Schlüssel zu Tillichs Theologie verstanden werden? Und welche Einsichten in Tillichs Werk ließen sich dadurch zutage bringen? Die Anliegen der vorliegenden Arbeit in Anschluss und Weiterführung des Sammelbandes lassen sich also folgendermaßen zusammenfassen: Es soll, erstens, eine solide Auseinandersetzung mit den begrifflichen Grundlagen der Beschäftigung mit Tillichs Ambiguitätsbegriff vorangehen. Eine solche Auseinandersetzung liegt unter besonderer Berücksichtigung der Ambiguitätsbegriffe anderer Disziplinen mit dem Einstiegsteil dieser Arbeit vor (vgl. I.1). Zweitens soll – gegenüber dem späten Fokus des Sammelbandes – auch und gerade der Anfahrtsweg des Zweideutigkeitsbegriffs bis in das Spätwerk hinein grundlegend aufgearbeitet werden, um somit eine Erschließung des Begriffs in deutscher und amerikanischer Zeit zu leisten (vgl. II.2–4). Drittens soll der Begriff nicht nur als ein Thema neben anderen behandelt werden, sondern die Frage mitgeführt werden, inwieweit der Begriff selbst als ein Schlüssel zu Tillichs Theologie insgesamt gelten kann (vgl. II.6 und III).
So weist Russel Re Manning etwa auf die Abhandlung des bekannten britischen Theologen MACCULLOCH, DIARMAID, Silence. A Christian History, London: Allen Lane 2013, 202, hin, welche die Tillich-Deutung Donald MacKinnons aus den 1975er Jahren reproduziert und zu Tillich anfragt „how far any of Tillich’s theological work can be taken seriously“, RE MANNING, RUSSEL, Life, Sex, and Ambiguity, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 39–50, hier 39. 37 A.a.O., 49. 38 Ebd. 36
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Teil II – Kap. 1. Paul Tillich als Denker von Ambiguität
1.1.4 Die Verbindung von werkgeschichtlicher Analyse und interdisziplinärer Debatte Den Forschungsüberblick abschließend ist ein weiterer Aspekt anzusprechen, der für die folgende Arbeit zentral ist: die Verknüpfung von werkgeschichtlicher Analyse und interdisziplinärer (aktueller) Debatte. Gerade Tillichs Theologie bietet sich mit der ihr eigenen Anschlussfähigkeit an interdisziplinäre Debatten für einen solchen Zugang an. Gleichwohl konzentrieren sich die meisten der jüngeren Erscheinungen ausschließlich auf die philosophiegeschichtlichen Hintergründe des jeweils zu erschließenden Begriffs oder Themenkomplexes.39 Eine Ausnahme bildet hier die kürzlich erschienene Dissertation von Sabine Joy Ihben-Bahl Angst und die eine Wirklichkeit. Paul Tillichs transdisziplinäre Angsttheorie im Dialog mit gegenwärtigen Emotionskonzepten.40 Unter besonderer Berücksichtigung der Werke The Courage to Be von 1952 und der Systematischen Theologie lotet Ihben-Bahl das transdisziplinäre Potenzial von Tillichs Angstbegriff im Dialog mit der aktuellen psychologischen und neurowissenschaftlichen Emotionsforschung aus. Diese Ausrichtung begründet sie dahingehend, dass schon Tillichs Angstbegriff selbst transdisziplinär angelegt sei und an Debatten anknüpfe, die auch in der aktuellen Forschung noch Berücksichtigung fänden; Tillich selbst jedoch in den heutigen interdisziplinären Debatten nicht rezipiert werde. Eine ähnliche Diagnose gilt für Tillichs Zweideutigkeitsbegriff. Dementsprechend will auch die vorliegende Arbeit das Anliegen verfolgen, Tillichs Theologie – hier mit dem Fokus auf seinen Begriff von Ambiguität – mit aktuellen Debatten in Verbindung zu bringen. Damit ist zweierlei Anspruch verknüpft: Zum einen soll der aktuelle Wissenschaftsdiskurs um Ambiguität für ein theologisches Fachpublikum in seinen Grundzügen erschlossen und damit für weitere Arbeiten anschlussfähig gemacht werden (vgl. I.). Zum anderen soll eine theologische Perspektive auf Ambiguität, hier anhand von Paul Tillichs Werken, erarbeitet und auf ihren möglichen Beitrag zum aktuellen Diskurs hin befragt werden (vgl. III.). Anders als bei Ihben-Bahl liegt jedoch das eindeutige Schwergewicht der vorliegenden Arbeit auf der werkgeschichtlichen Gesamterschließung, während die interdisziplinäre Einbindung im Sinne einer Rahmung erfolgt.
So etwa kürzlich Boni Erlola Richard Atchadés Untersuchung von Tillichs Machtverständnis im Kontext zentraler Machttheorien des 20. Jahrhunderts, vgl. ATCHADÉ, BONI ERLOLA RICHARD, Philosophie der Macht. Paul Tillichs Verständnis der Macht im Kontext philosophischer Machttheorien im 20. Jahrhundert (Tillich Research 20), Berlin/Boston: De Gruyter 2020. 40 Vgl. IHBEN-B AHL, SABINE JOY, Angst und die eine Wirklichkeit. Paul Tillichs transdisziplinäre Angsttheorie im Dialog mit gegenwärtigen Emotionskonzepten (Dogmatik in der Moderne 28), Tübingen: Mohr Siebeck 2019. 39
1.2 Zum Ansatz der Arbeit
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1.2 Zum Ansatz der Arbeit 1.2 Zum Ansatz der Arbeit
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht ein Begriff – Zweideutigkeit – der durch die Geschichte, wenn auch in erster Linie die Geschichte eines Werks, hindurch verfolgt wird. An diese Konstellation schließen sich weitreichende Fragen an, wie etwa die nach der Geschichtlichkeit und der Veränderbarkeit von Begriffen, aber auch nach dem Zusammenhang zwischen Begriffen und Lebenswelt, die in verschiedenen methodologischen Zugängen jeweils unterschiedlich beantwortet werden. Die vorliegende Arbeit folgt in ihrem Ansatz einem erweiterten Verständnis von Begriffsgeschichte,41 das mit Rückgriff auf einen aktuellen literaturwissenschaftlichen Ansatz von Problemgeschichte zu verstehen ist. Die zentralen Punkte dieses Ansatzes sollen im Folgenden in Kürze erläutert werden. Als semantische Einheit sind in einem Begriff – anders als im Falle von Wörtern oder Wortverbindungen – „ganze Kontexte von Erfahrungen, theoretischen Annahmen, Problemen, etc. zu einem sprachlichen Ausdruck zusammengefaltet.“42 Diese kondensierte Konzentration von Begriffen hat zur Folge, dass sie „deshalb umgekehrt auch wieder zu Sätzen oder Satzfolgen auseinandergefaltet werden [können].“43 Dieser Aufgabe der ‚Auseinanderfaltung‘ eines Begriffs begegnet die vorliegende Arbeit mit Rückgriff auf das im ersten Teil erarbeitete Raster von Koordinaten (vgl. I.1). Dabei werden verschiedene
‚Begriffsgeschichte‘ wird hier als eine Spielart der Ideengeschichte verstanden, die sich in Deutschland vor allem mit den Namen Reinhart Koselleck und Joachim Ritter verbindet und in wirkmächtigen Exportprodukten, wie etwa dem Historischen Wörterbuch der Philosophie (1971–2005, 13 Bände) oder den Geschichtlichen Grundbegriffen (1972–1997, 8 Bände) Ausdruck gefunden hat. Die begriffsgeschichtliche Revision der Ideengeschichte ist durch ein „Misstrauen gegenüber nicht sprachlich-begrifflich sedimentierten Vorstellungen oder Ideen“ gekennzeichnet und durch die Auffassung, dass „die Prägung von Begriffen […] ein Indiz dafür [sei], dass zu bestimmten Zeiten die Notwendigkeit bestanden habe, bestimmte Vorstellungen auszudrücken und ‚auf den Begriff zu bringen‘“. Damit trägt die Begriffsgeschichte immer schon den Hinweis auf „sozialhistorische Veränderungen“ mit sich. Diese Stoßrichtung wird in der vorliegenden Arbeit besonders betont. Vgl. MAHLER, ANDREAS/MULSOW, MARTIN, Einleitung: Die Vielfalt der Ideengeschichte, in: Dies. (Hg.), Texte zur Theorie der Ideengeschichte, Stuttgart: Reclam 2014, 9–50, hier 22f. Vgl. auch GUMBRECHT, HANS-ULRICH, Dimension und Grenzen der Begriffsgeschichte, München: Wilhelm Fink 2006; DIPPER, CHRISTOPH, Die ‚Geschichtlichen Grundbegriffe‘. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), 281–308. 42 D IERSE, U LRICH, Begriffsgeschichte – Ideengeschichte – Metapherngeschichte, in: Riccardo Pozzo/Marco Sgarbi (Hg.), Begriffs-, Ideen- und Problemgeschichte im 21. Jahrhundert, Wiesbaden: Harrasowitz 2011, 57–67, hier 58. 43 Ebd. 41
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Aspekte des Ambiguitätsbegriffs in den Blick genommen, die seinen intensionalen Bedeutungsgehalt ebenso zu erfassen suchen wie seine extensionale Reichweite und seine Funktion.44 In Zusammenhang mit der Koordinatenmatrix wurde bereits auch schon die Tatsache problematisiert, dass Begriffe eben nicht „als vereinsamte Wörter oder Lemmata da[stehen]“45, die ‚an sich‘ in ihrer Entwicklung betrachtet werden können. Stattdessen existieren Begriffe stets in ‚Wortfeldern‘ und damit „im Konnex mit und in Abgrenzung zu anderen Begriffen“46. Im ersten Teil der Arbeit stand dabei insbesondere das Wortfeld um ‚Ambiguität‘ im Mittelpunkt. Für die nun folgende Analyse von ‚Zweideutigkeit‘ im Werk Tillichs ist jedoch auch und vor allem an Begriffe wie das ‚Paradox‘, den ‚Widerspruch‘, die ‚Mischung‘, die ‚Polarität‘, das ‚Leben‘ usw. zu denken, in deren unmittelbarer Umgebung sich der Begriff ‚Zweideutigkeit‘ aufspannt und entfaltet. Veränderungen und Entwicklungen eines Begriffs, so die zentrale Annahme in Zusammenhang mit Wortfeldern, geschehen nicht nur innerhalb dieses einen Begriffs, sondern betreffen in der Regel auch das Wortfeld: Indem sich ein Begriff in seinem Bedeutungsgehalt verändert, verschieben sich auch diejenigen, die in seiner Nähe – und sei es als ‚Gegenbegriff‘ – anzutreffen sind.47 Jedoch geschieht die Veränderung und Entwicklung von Begriffen nicht nur in und zwischen ihnen, sondern auch in Reaktion auf wie „wie auch immer zu fassende ‚reale‘ Prozesse“48, die sich in Begriffen kondensieren. Damit kommt in den Blick, was Max Weber vor über hundert Jahren treffend formulierte, nämlich dass „die Bildung der Begriffe von der Stellung der Probleme abhängt, und daß diese letztere wandelbar ist mit dem Inhalt der Kultur selbst.“49 Diese Verbindung von Begriffen mit ‚Problemen‘ wird in verschiedenen Ansätzen unterschiedlich konzeptualisiert und damit verbunden auch das, was 44 Vgl. I.1 dieser Arbeit, in dem in Zusammenhang mit den ‚wandernden Begriffen‘ der niederländischen Kulturhistorikerin Mieke Bal die Aufgabe formuliert wurde, „ihre Bedeutung, ihre Reichweite und ihr[en] operationale[n] Wert nach jedem ‚Ausflug‘ von neuem [zu bewerten].“ BAL, Kulturanalyse, 11. 45 D IERSE, Begriffsgeschichte – Ideengeschichte – Metapherngeschichte, 59. 46 Ebd. Für die Wortfeldtheorie, etwa von Jost Trier, vgl. ebd. sowie auch R EICHARDT, ROLF, Wortfelder – Bilder – semantische Netze, in: Gunter Scholz (Hg.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderhefte 1/2000), Hamburg: Felix Meiner 2000, 111–133. 47 D IERSE, Begriffsgeschichte – Ideengeschichte – Metapherngeschichte, 59f. D IERSE spielt eine solche Veränderung hier am Beispiel von ‚Naturwissenschaft‘ und ‚Geisteswissenschaft‘ durch. 48 A.a.O., 60. 49 W EBER, M AX, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen: Mohr Siebeck 51982, 207. Vgl. auch O EXLE, O TTO G ERHARD, Begriffsgeschichte und Problemgeschichte, in: Pozzo/Scarbi, Begriffs-, Ideen- und Problemgeschichte im 21. Jahrhundert, 13–30, v.a. 23–26.
1.2 Zum Ansatz der Arbeit
115
unter dem methodologischen Zugang der ‚Problemgeschichte‘ verstanden wird. Eine prominente evangelisch-theologische Perspektive auf Problemgeschichte hat der Münchener Systematiker Wolfhart Pannenberg in den 1990er Jahren mit seiner Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland50 vorgelegt. Bei Pannenberg verbindet sich mit dem Stichwort ‚Problemgeschichte‘ der Versuch, die Vielfalt neuerer Theologiegeschichte von einer „Einheit der Problemlage“51 her zu verstehen. Unter ‚Problem‘ wird dabei eine „‚Gesamtlage‘“ verstanden, die beansprucht, dass es […] trotz der manchem Betrachter der modernen evangelischen Theologie auf den ersten Blick auffallenden und scheinbar chaotischen Vielfalt von theologischen Richtungen dennoch so etwas wie eine alle diese Positionen umfassende, einheitliche Problemlage gibt, in welcher jede einzelne Position […] ihren Ort hat. 52
Pannenberg bestimmt die ‚Problemlage‘ also als den inneren Zusammenhang verschiedener theologischer Positionen. Er kann damit die gesamte neuzeitliche Theologie unter eine ‚Gesamt-‘ oder ‚Problemlage‘ fassen, nämlich eine bestimmte Konstellation von Faktoren (Herausbildung einer ‚Natur‘ des Menschen, Privatisierung der Religion, funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft, usw.), auf die alle neuzeitlichen Theologinnen und Theologen – natürlich verschiedenartig – reagieren.53 Die vorliegende Arbeit will gegenüber diesem Ansatz Pannenbergs, erstens, kleinschrittiger vorgehen, indem nicht eine Problemlage ausgemacht wird, auf die Tillich (und andere) reagieren. Vielmehr wird die Produktion theologischer Begriffe und Texte als Reaktion auf unmittelbarer gegenwärtige und somit auch immer wieder neue ‚Probleme‘ des jeweiligen historischen, kulturgeschichtlichen und sozialpolitischen Kontexts verstanden (in dem sich natürlich größere neuzeitliche Problemhorizonte durchaus niederschlagen können). Damit wird, zweitens, anders als bei Pannenberg mehr die direkte Auseinandersetzung mit dem unmittelbaren Kontext der jeweiligen Schriften in den Blick genommen. Mit diesem Verständnis von ‚Problemen‘ als im konkreten Kontext verorteten Herausforderungen, auf die Texte reagieren, ist die vorliegende Arbeit auch inspiriert von einer Neuakzentuierung der philosophischen Problemgeschichte, wie sie aktuell insbesondere in den Literaturwissenschaften anzutreffen ist. Maßgeblich für diese aktuelle Neuauflage der knapp hundert Jahre alten Problemgeschichte ist der 2006 im Jahrbuch der Deutschen Schillergesell-
50 Vgl. PANNENBERG, W OLFHART, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997. 51 A.a.O., 15. 52 A.a.O., 14f. 53 Vgl. a.a.O., 13–45, hier besonders 26.
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Teil II – Kap. 1. Paul Tillich als Denker von Ambiguität
schaft erschienene Beitrag Dirk Werles Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte.54 Im Anschluss an Werles Beitrag entwickelte sich in der Zeitschrift Scientia Poetica eine umfangreiche Debatte um die Wiederbelebung der Problemgeschichte, an der zahlreiche Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler beteiligt waren.55 In der von Werle angestoßenen Neuauflage der Problemgeschichte wird die grundlegende Annahme formuliert, dass Texte in Reaktion auf Realität verfasst werden und ihnen somit eine „referenzielle[…] Rückbindung an die ‚Welt‘“56 zukommt. Literatur wird in diesem Sinne als ein „Reflexionsmedium“57 verstanden. Mit der Problemgeschichte ist also weniger eine bestimmte Methode literaturwissenschaftlichen Arbeitens thematisiert als vielmehr eine „grundlegende Perspektive auf literarische Texte“58. Oder anders formuliert: „Wer Problemgeschichte betreibt, sucht nach Problemen oder der Frage, auf die literarische Texte oder ganze Epochen antworten.“59 Ein grundlegender Vorteil dieser Perspektive gegenüber klassischen ideengeschichtlichen Modellen ist die Ermöglichung einer synchronen gegenüber der rein diachronen Perspektive: Auf ein Problem können zeitgleich mehrere Antworten gegeben werden – wie dies auch in der Problemgeschichte Pannenbergs mit Blick auf die neuzeitlichen Herausforderungen der Fall ist. So lassen sich verschiedene Entwürfe oder Strömungen einer Epoche als alternative Antwortversuche auf dasselbe Problem identifizieren.60 Was bedeutet aber nun die Übertragung dieses (literaturwissenschaftlichen) Ansatzes der Problemgeschichte auf theologische Texte? Und warum wird in der vorliegenden Arbeit ebendieser Zugang gewählt? Die hier skizzierte Verbindung von begriffs- und problemgeschichtlichem Ansatz bietet sich für eine 54 Vgl. W ERLE, D IRK, Modelle einer literaturwissenschaftlichen Problemgeschichte, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), 478–498. Vgl. für die Darstellung der literaturwissenschaftlichen Debatte BARTSCH, ANNIKA, Romantik um 2000. Zur Reaktualisierung eines Modells in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019, 56–60. Frau Dr. Annika Bartsch und Herrn Dr. Raphael Stübe danke ich für wertvolle Hinweise in diesem Zusammenhang. 55 Vgl. die Jahrgänge 2009 und 2010 mit den Titeln Problemgeschichte I und II. Darin erscheint unter anderem ein weiterer wegweisender Beitrag Werles, vgl. WERLE, DIRK, Frage und Antwort, Problem und Lösung. Zweigliedrige Rekonstruktionskonzepte literaturwissenschaftlicher Ideenhistoriographie, in: Scientia Poetica 13 (2009), 255–303. Vgl. BARTSCH, Romantik um 2000, 56, Fn. 182. 56 W ERLE, Frage und Antwort, Problem und Lösung, 256. 57 So hat es treffend Annika Bartsch formuliert: BARTSCH, Romantik um 2000, 57. 58 Ebd. 59 So LÖWE, M ATTHIAS, Epochenbegriff und Problemgeschichte. Aufklärung und Romantik als konkurrierende Antworten auf dieselbe Frage, in: Daniel Fulda/Sandra Kerschbaumer/Stefan Matuschek (Hg.), Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen (Laboratorium Aufklärung 28), Paderborn: Wilhelm Fink 2015, 45–68, hier 48. 60 Wie es etwa LÖWE für das Beispiel von Aufklärung und Romantik durchführt, ebd. Vgl. auch BARTSCH, Romantik um 2000, 57f.
1.2 Zum Ansatz der Arbeit
117
Erschließung des Tillich’schen Werks insbesondere aus zwei Gründen an: Zum einen wird gegenüber einer in der (deutschsprachigen) Tillich-Forschung verbreiteten vorwiegend werkimmanenten Arbeitsweise bzw. der Begrenzung auf philosophiehistorische Verbindungen eine erweiterte Kontextualisierung vorgenommen. Dabei kommen neben werkimmanenten Bezügen und philosophiegeschichtlichen Einordnungen insbesondere realgeschichtliche Umbruchssituationen, sozialhistorische Veränderungen und religionspolitische Verschiebungen in den Blick. Aber auch schwieriger zu fassende Größen spielen eine Rolle, wie etwa der ‚Zeitgeist‘ oder das mutmaßliche Lebensgefühl einer Epoche, wie es sich beispielsweise in künstlerischen oder literarischen Darstellungen ausdrückt. Unter Einbeziehung ebendieser ‚realgeschichtlichen‘ Perspektiven versucht die vorliegende Arbeit, sich dem zeitgeschichtlichen Panorama anzunähern, in dessen Kontext Tillichs Texte geschrieben, seine Begriffe formuliert und seine Denkfiguren entworfen wurden. Mit der Tillich-Lektüre verbunden ist, zum anderen, eine besondere Herausforderung, auf die dieser Ansatz zu reagieren versucht: Die zu bearbeitenden Texte Tillichs weisen in der Regel ein sehr hohes, bisweilen hermetisches Abstraktionsniveau auf; sie sind „weniger auf lebendige Explikation denn auf begriffliche Konzentration ausgerichtet“61, wie es Martin Fritz in seiner Habilitationsschrift treffend auf den Punkt gebracht hat. Sie stellen gewissermaßen begrifflich kondensierte phänomenologische Beschreibungen dar. Dementsprechend bildet es eine grundlegende Aufgabe jeder Tillich-Interpretation, den abstrakten Begriffen wieder ‚Leben einzuhauchen‘ und die Andeutungen Tillichs dazu, welche Phänomene, Dilemmata, individuellen Gefühlslagen oder sozialen Zusammenhänge hinter den Begriffen liegen, aufzuschlüsseln. Mit Blick auf den Begriff der Zweideutigkeit bedeutet dies, zu fragen, welche Gleichzeitigkeiten, Überblendungen, Oszillierungen, vielleicht aber auch Zerissenheiten Tillich zu seiner Zeit vor Augen hat, die er mit dem Begriff der Zweideutigkeit zu fassen versucht. Um dem hier skizzierten Ansatz nachzugehen, wird im Folgenden jedem Analysekapitel ein Eröffnungskapitel ‚Problemhorizonte‘ vorangestellt, das die gesellschaftliche und insbesondere ‚religiöse‘ Lage kontextualisiert, auf die Tillichs Texte jeweils reagieren (vgl. etwa II.2.1, II.3.1, II.5.1). Anschließend wird anhand eines Paradigmas modellhaft die Grundintention thematisiert, mit der Tillichs Theologie auf diesen Problemhorizont antwortet, so etwa die umfassende Einheitsvision, die er zu Ende des Ersten Weltkriegs, angestoßen unter anderem durch die Begegnung mit dem Expressionismus, entwickelt (vgl. II.2.2, II.3.2, II.5.2). Schließlich wird der Begriff Zweideutigkeit – unter Zuhilfenahme des Koordinatenrasters aus dem ersten Teil dieser Arbeit (vgl. I.1) – daraufhin befragt, inwieweit er auf die entsprechende Problemlage Antwort
61
FRITZ, Menschsein als Frage, 26f.
118
Teil II – Kap. 1. Paul Tillich als Denker von Ambiguität
zu geben versucht und erst dadurch seine jeweilige inhaltliche und funktionale Prägung innerhalb der Tillich’schen Theorie erhält. Diese Vorüberlegungen abschließend sei noch eine Bemerkung angefügt: Den Tillich-kundigen Leserinnen und Lesern dieser Arbeit wird nicht entgangen sein, dass der skizzierte problemgeschichtliche Ansatz in seiner Bezogenheit auf ‚realgeschichtliche‘ Entwicklungen gewisse Ähnlichkeiten oder Strukturanalogien zu Tillichs sogenannter ‚Methode der Korrelation‘ aufweist. Näherbestimmt hat Tillich diese Vorgehensweise als eine Theologie, die „antwortet auf Fragen, die die Situation stellt“62, eine Theologie also, die auf ihre jeweilige Gegenwart eingeht und die Botschaft des Christentums mit Blick auf die gesellschaftliche und individuelle Gesamtsituation zu formulieren vermag. Das damit skizzierte Selbstverständnis Tillichs als eines zeitgeschichtlich angebundenen Theologen steht zum verwendeten methodischen Ansatz dieser Arbeit allerdings in keinem Begründungsverhältnis. Oder anders formuliert: Für eine Anwendung des problemgeschichtlichen Ansatzes ist es vollkommen irrelevant, wie eine Denkerin oder ein Denker seine Theologie und deren Verhältnis zur jeweiligen Gegenwart selbst versteht. Darüber hinaus ist mit dem problemgeschichtlichen Zugriff natürlich Tillichs gesamte Theoriebildung – und eben nicht nur die Antwortseite der Korrelation – als Reaktion auf die zeitgeschichtlichen Umstände zu lesen. Diesen Anmerkungen zum Trotz ist es natürlich interessant, dass der hier vertretene Zugang zu theologischen Texten und Tillichs theologisches Selbstverständnis bestimmte Annahmen teilen, die insbesondere die Standortbezogenheit und damit Kontextualität von Theologie betreffen: In beiden Fällen kommt ein Verständnis von Theologie in den Blick, welches das Theologietreiben als ein bis zu einem gewissen Grade reaktives und inhärent unabschließbares Projekt begreift.63 Dies bedeutet jedoch unsicheres Terrain: Re-
Ebd. Der britische Tillichforscher Russel Re Manning spricht in diesem Zusammenhang von der „deliberate instability to Tillich’s thought“ und „the multiplicity of systems within Tillich’s thought – its endless shaping and re-shaping architectonic – that con-firms his indeterminacy.“ Re Manning vergleicht Tillich hier mit einer Spinne, „continually spinning and re-spinning his web of concepts and symbols into (to coin a phrase) strong, yet unstable (and short-lived) constructions.“ Er folgert: „In this sense, then, Tillich’s is a ‚pop-up' theology; one that accepts the most radical revolutionary idea: that it can not and should not persist.“ RE MANNING, RUSSEL, „Do not be conformed.“ Paul Tillich’s revolutionary theology of culture, in: Raymond Asmar u.a. (Hg.), Reformation und Revolution in der Wahrnehmung Paul Tillichs (Tillich Research 18), Berlin/Boston: De Gruyter 2019, 217–233, hier 224f. Allerdings gibt es durchaus auch andere Stimmen. So diagnostiziert Reinhold Bernhard mit Blick auf Tillichs Theologie: „Dass Theologie nicht im luftleeren Raum schwebt, sondern ihren Sitz im Leben von Diskursgemeinschaften hat, die wiederum durch ihre jeweiligen Zeitumstände und damit auch durch soziale, politische und kulturelle Gegebenheiten geprägt sind, spielt in seinem Theologieverständnis keine entscheidende Rolle“, vgl. BERNHARD, 62 63
1.2 Zum Ansatz der Arbeit
119
aktivität impliziert Abhängigkeit von etwas anderem, von der Herausforderung, die gestellt, von der zeitgeschichtlichen Situation, auf die geantwortet wird. Zugleich bedeutet Reaktivität kein bloßes Gegenüber von Zeitsituation und Theologie, sondern auch und gerade das unausweichliche Risiko der (bisweilen unrühmlichen) Verstrickung in die jeweilige historisch und kontextuell bedingte Zeitsituation. Unabschließbarkeit nimmt darüber hinaus die eigene Wandelbarkeit in Kauf, ein dynamisches Moment und eine gewisse Unberechenbarkeit der Entwicklung. Beide Aspekte, Reaktivität und Unabschließbarkeit, charakterisieren Theologie als ein offenes, sich im Vollzug befindendes Reflexionsgeschehen. Damit stellt es im Umkehrschluss eine besonders spannende – und völlig offene64 – Frage dar, ob und, wenn ja, was Tillichs Zweideutigkeitsbegriff für die aktuellen Debatten austragen kann. Dieser Frage gilt es im abschließenden Teil dieser Arbeit gesondert nachzugehen (vgl. III); sie soll aber bereits in den Fazits der einzelnen werkgeschichtlichen Analysen eine Rolle spielen.
REINHOLD, Klassiker der Religionstheologie im 19. und 20. Jahrhundert. Historische Studien als Impulsgeber für die heutige Reflexion, Zürich: Theologischer Verlag 2020, 214. 64 Der Tillichforscher John Clayton schreibt dazu: „By incorporating the present cultural situation into his methodology, Tillich gave to his theology a planned obsolescence which precludes his system having direct relevance for any but the cultural context in which and for which it was constructed.” CLAYTON, JOHN P., The Concept of Correlation. Paul Tillich and the Possibility of a Mediating Theology, Berlin/New York: de Gruyter 1980, 5.
Kapitel 2
Die Anbahnung der Zweideutigkeit. Die Schriften der frühen Nachkriegszeit (1919–1924) Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit Die Anbahnung der Zweideutigkeit
Die hier vorgenommene Analyse von Tillichs Schriften setzt chronologisch einige Jahre vor dem ersten gehäuften Auftreten des Begriffs ‚Zweideutigkeit‘ ein, das im Jahr 1925 zu verzeichnen ist.1 Es scheint jedoch durchaus sinnvoll, mit einem gewissen Vorlauf auf diesen Zeitpunkt in Tillichs Werk zuzusteuern, da nur auf diese Weise eventuelle Verschiebungen oder Neujustierungen wahrgenommen werden können, die mit dem Zweideutigkeitsbegriff einhergehen. Insofern soll im vorliegenden Kapitel vor allem die Frage im Zentrum stehen, welche theologische Gesamtkonstellation der Einführung des Zweideutigkeitsbegriffs vorausgeht: Welche Eckpfeiler konstituieren Tillichs Theologie der frühen 1920er Jahre und welche Zusammenhänge begünstigen oder fordern gar ein Hinzuziehen des Begriffs? Geschieht die Einführung als zentraler Begriff so unvermittelt, wie es das plötzlich gehäufte Auftreten im Jahr 1925 vermuten lässt? Oder finden sich schon in den Texten der frühen Nachkriegszeit Konstellationen, in denen sich – in Form von ähnlichen Strukturen oder aber, umgekehrt, sich auftuenden Lücken – der Ort andeutet, den die Zweideutigkeit ab 1925 einnehmen wird? Der Zeitraum der Betrachtung – 1919 bis 1924 – ist nicht willkürlich gewählt, sondern folgt zentralen Einschnitten in Tillichs Leben und Werk: 1919 kann als das Jahr von Tillichs theologischem Neuaufbruch nach dem Ersten Weltkrieg gelten. Es ist das Jahr, in dem Tillich seinen programmatischen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur2 hält und damit die kulturanalytischen und wissenschaftstheoretischen Konsequenzen seines neuen, sinntheoretischen Religionsbegriffs erstmals gebündelt vorstellt. Es ist zugleich der Beginn von Tillichs Privatdozentenzeit an der Theologischen Fakultät in Berlin,3 zu deren Auftakt Tillich mit Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme Lediglich die Belege aus der Schelling-Dissertation fallen noch vor diesen Einstieg, vgl. II.2.4.2. 2 TILLICH, Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919), in: GW IX, 13–31. 3 Unmittelbar nach der Heimkehr aus dem Krieg im September 1918 nimmt Tillich, der 1915 in Halle habilitiert wurde, seine Privatdozententätigkeit auf. Da ihm das Berliner Konsistorium die Stelle eines Stadtvikars anbot, ließ sich Tillich von Halle nach Berlin umhabilitieren, vgl. SCHÜßLER, WERNER/STURM, ERDMANN, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 22015, 9. 1
Die Anbahnung der Zweideutigkeit
121
der Gegenwart paradigmatisch für sein kulturtheologisches Programm eine – wie man heute sagen würde – ‚transdiziplinäre‘ Vorlesung hält.4 Und nicht zuletzt beginnt Tillich im Berlin der Nachkriegszeit auch persönlich ein anderes Leben: Maskenbälle, Tanzveranstaltungen, neue Kunst-, Lebens- und Liebesformen – Tillich partizipiert in den Berliner Jahren an einem Lebensgefühl, das bis heute unter dem Stichwort der ‚Goldenen Zwanziger‘ heraufbeschworen wird.5 Im Jahr 1924, dem anderen Ende des hier thematisierten Zeitraums, wechselt Tillich dann von der Metropole Berlin in die beschauliche Universitätsstadt Marburg. Er wendet sich nun – partiell bedingt durch die Ausrichtung seiner Stelle – wieder dezidiert ‚theologischeren‘ Themen zu, eine Wendung, die sich nicht zuletzt in seiner Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–27) niederschlägt und im nächsten Kapitel ausführliche Behandlung findet (vgl. II.3).6 Und schließlich ist mit der Mitte der 1920er Jahre auch eine gewisse Ernüchterungserfahrung derjenigen theologischen Visionen verbunden, die Tillich in TILLICH, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (1919), in: EW XII, 27–258. Im Rückblick schreibt Tillich über jene Berliner Jahre: „In den Jahren nach der Revolution wurde mein Leben intensiver und zugleich extensiver. Als Privatdozent der Theologie an der Universität Berlin (von 1919 bis 1924) hielt ich Vorlesungen, die die Beziehung der Religion zu Politik, Philosophie, Tiefenpsychologie und Soziologie behandelten. Meine Vorlesungen über die Philosophie, die Geschichte und die Struktur der Religion stellten eine ‚Theologie der Kultur‘ dar. Die Situation in Berlin war in diesen Jahren für einen solchen Versuch sehr günstig. Die politischen Probleme bestimmten unsere ganze Existenz, auch nach der Revolution und Inflation waren sie für uns eine Frage von Leben und Tod. Die soziale Struktur befand sich in einem Zustand der Auflösung. Die menschlichen Beziehungen – Autorität, Erziehung, Familie, Sexus, Freundschaft und Vergnügen – befanden sich in einem schöpferischen Chaos.“ TILLICH, Autobiographische Betrachtungen (1952), in: GW XII, 58–77, hier: 68f. 5 Eine Freundin aus diesen Tagen, Margot Hahl, erinnert sich später an die Bedeutung der Feste: „Wie oft spielten diese Feste eine solche schicksalhafte Rolle! Man war zu Ekstasen immer bereit, ein hungriger Mensch ist leichter im Geist, man sprach in der Verfremdung durch das Kostüm – meist nur ein Fähnchen, das kaum verhüllte – viel gelöster und kam gleich zu ganz tiefen Gesprächen; in 10 Minuten übersprang man ein Jahr des Kennenlernens. Für die einen waren diese Gespräche, für die anderen das Tanzen das Befreiende – oder beides. Dort fand man die problematischen Menschen, nach denen man suchte, die schon außerhalb der Grenze des Bürgerlichen standen. Wie in der Kunst bei Malern wie Kandinsky, Jawlensky, Marc das Zerbrechen der Formen, der ‚Aufschrei‘ der Farben stattfand, bei den Dichtern des Expressionismus der ‚Rausch‘ galt, so ergriff die Sehnsucht nach Befreiung die jungen Menschen – frei sein von – von – von. …Alle suchten nach den finsteren Jahren der Entbehrung und des Todes das Leben, und vielen waren seine, ach, so lockenden Formen identisch mit den vielerlei Gestalten der Liebe und all ihren Facetten.“ In: EW V, 158. 6 Von der Ausrichtung der Theologie in Berlin auf die „Troeltsch’en Fächer“ (so Tillich in einem Brief an Reinhold Seeberg vom 5.11.1924, siehe STURM, ERDMANN, Historische Einleitung, in: EW XIV, XXI–XLIV, hier XXV) muss sich Tillich in Marburg auf eine Theologie unter erstarkendem Einfluss der sogenannten ‚neuen Orthodoxie‘ umstellen. Vgl. dazu II.3. 4
122
Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
den Jahren ab 1919 entwickelt (vgl. II.3.2). 1919 bis 1924, die Jahre zwischen Aufbruch und erster Desillusionierung, stehen also im Zentrum dieses ersten werkgeschichtlichen Kapitels. Die theologischen Grundgedanken, die innerhalb dieses Zeitraums entwickelt werden, stehen allesamt im Kontext der „neuen Geistes- und Gesellschaftseinheit“7, die Tillich im Jahr 1919 proklamiert. Drei dieser Grundgedanken – der sinntheoretische Religionsbegriff, die Konzeption einer ‚Theologie der Kultur‘ sowie die religiös-sozialistische Idee des Kairos – werden im Folgenden vorgestellt (vgl. II.2.3). Dabei liegt der Fokus der Darstellung darauf, die umfassende Einheitsvorstellung herauszuarbeiten, die den Fluchtpunkt dieser Konzepte bildet. Die These, die in diesem Zusammenhang entfaltet wird, lautet, dass Tillich mit seinem Entwurf einer sinntheoretisch fundierten und kulturtheologisch vermittelten Einheitsvision auf die Wahrnehmung einer umfassenden Krise reagiert, die 1919 zumindest in Intellektuellenkreisen allgegenwärtig ist. Dementsprechend steht den Ausführungen zu den theologischen Grundgedanken eine – exemplarische – Schilderung der ‚Problemhorizonte 1919‘ voran, die es sich zur Aufgabe macht, den Horizont an Fragen zu eröffnen, auf die Tillich mit seiner Einheitsvision und den damit verbundenen Konzepten reagiert (vgl. II.2.1). Im Anschluss wird anhand von Tillichs Begegnung mit der neuen Kunstrichtung des Expressionismus paradigmatisch der Grundintention von Tillichs Einheitsvorstellung nachgegangen (vgl. II.2.2). Die erste Hälfte dieses Kapitels ist also um das Thema ‚Einheit‘ in Tillichs Nachkriegstheologie gruppiert. Ein zweiter Teil des Kapitels fragt sodann explizit nach den ersten Anbahnungen der Zweideutigkeit im Zeitraum 1919–1924 (vgl. II.2.4.1–3). Zunächst wird das intellektuelle Umfeld Tillichs daraufhin gesichtet, welche möglichen Inspirationsquellen im Hintergrund der Aufnahme des Zweideutigkeitsthemas stehen. Danach wird den ersten, frühen Belegen von ‚Zweideutigkeit‘ in Tillichs Werk selbst nachgegangen. Hier richtet sich der Fokus insbesondere auf die Fragen, welche (lebensweltlichen) Phänomene Tillich als ‚zweideutig‘ vor Augen hat und welche Funktion der Begriff innerhalb seines Theoriegebäudes einnimmt. Schließlich wird ausgehend von diesen ersten Belegen eine genauere Analyse derjenigen Konstellationen vorgenommen, die sich womöglich ab 1925 im Begriff der Zweideutigkeit fortbilden. Unter diesem Gesichtspunkt wird insbesondere das ‚Paradox‘ in den Blick genommen, das in dieser Zeit in verschiedenen Zusammenhängen auftaucht: erstens, als die paradoxe Struktur der Religion, die Tillich mit seinem neuen Religionsbegriff verbindet; zweitens, als Forderung eines ‚positiven Paradoxes‘ im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten im Jahr 1923 und schließlich in Verbindung mit der Rechtfertigung des Zweiflers, die im Jahr
7
TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 28.
2.1 Problemhorizonte 1919
123
1919 in Anschluss an den Briefwechsel mit Emanuel Hirsch 1917/1918 ihre erste Ausarbeitung erhält. Die These, die dabei entfaltet wird, besagt, dass sich sowohl im ParadoxGedanken und der Forderung eines ‚positiven Paradoxes‘, als auch im Umgang mit dem Zweifel Strukturen aufspüren lassen, für die Tillich später den Begriff der Zweideutigkeit geltend machen wird. Es gilt hier also solchen Elementen nachzugehen, die ab 1925 in die Konzeption der Zweideutigkeit einfließen. Damit verbunden stellt sich auch die Frage nach werkgeschichtlicher Kontinuität und Diskontinuität: Es macht ein – für Interpretinnen und Interpreten nicht ganz einfaches – Charakteristikum der Tillich’schen Theologie aus, dass werkgeschichtliche Verschiebungen oft fließend, gleichsam ‚en passant‘ geschehen und dementsprechend nur mit Mühe nachzuvollziehen oder gar zu fixieren sind. Unter dem Titel desselben Begriffs wird über die werkgeschichtliche Entwicklung hinweg bisweilen recht unterschiedliches verhandelt. Umgekehrt ist es ebenso der Fall, dass sich bestimmte Muster und Denkfiguren fortbilden, jedoch mit den Jahren – in der Regel unangekündigt – unter anderen Begrifflichkeiten auftauchen. Beide Herausforderungen treffen im Fall von ‚Zweideutigkeit‘ zu. Im vorliegenden Kapitel wird der Fokus auf der ersten Herausforderung liegen: also diejenigen Momente herauszudestillieren, die womöglich unter anderen Begrifflichkeiten auch vor der Zweideutigkeit in Tillichs Theologie kursieren und erst ab 1925 Eingang in den Begriff finden. Ab Kapitel II.3. steht dann die andere Herausforderung im Zentrum, nämlich die Frage, wie der Begriff ‚Zweideutigkeit‘ sich selbst in dem, was er bedeutet, wandelt.
2.1 Problemhorizonte 1919 2.1 Problemhorizonte 1919
Im Herbst 1919 gibt der deutsche Journalist und Schriftsteller Kurt Pinthus eine Gedichtanthologie heraus, die schnell zu einem Standardwerk des literarischen Expressionismus avanciert.8 Unter dem programmatischen Titel Menschheitsdämmerung. Eine Symphonie jüngster Dichtung versammelt Pinthus darin eine Auswahl von Gedichten expressionistischer Lyriker (und einer Lyrikerin: Else Lasker-Schüler); die meisten davon entstanden in der unmittelbaren Vorkriegszeit. Das Buch, so formuliert Pinthus mit einigem Pathos, […] nennt sich nicht nur ‚eine Sammlung‘. Es ist Sammlung!: Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche – unserer Epoche. […] Es soll nicht Skelette von Dichtern zeigen, sondern die schäumende, chaotische, berstende Totalität unserer Zeit.9 8 Vgl. PINTHUS, K URT (Hg.), Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung, Hamburg: Ernst Rowohlt 2019. Frau Dr. Barbara Bushart danke ich für diesen wertvollen Hinweis. 9 PINTHUS, K URT, Zuvor, in: Ders. (Hg.), Menschheitsdämmerung, VII–XX, hier VII.
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
Binnen kurzer Zeit sind mehrere zehntausend Exemplare der Menschheitsdämmerung verkauft; viele Zeitgenossinnen und -genossen finden sich in Pinthus’ Sammlung „unserer Epoche“ wieder. Als das „erste Generationenbuch des 20. Jahrhunderts“10 hat Florian Illies in seinem Nachwort zur Neuedition die Anthologie bezeichnet, die „Rausch, Empörung und Exaltation der Vorkriegsjahre als konstitutive Grundlage der Gegenwart [beschwört] – gegen die Dominanz der traumatischen Erfahrungen des Krieges“,11 der gerade zu Ende gegangen ist. Pinthus, wie Tillich im Jahr 1886 geboren, gehört wie die meisten der im Band versammelten Lyriker zu derjenigen Generation,12 die von der historischen Forschung als Frontgeneration bezeichnet wird:13 In den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geboren, ist diese Generation besonders „stark geprägt durch die Modernisierungskonflikte um 1900, speziell die paradoxe Gleichzeitigkeit von Modernitätseuphorie und kulturpessimistischen Modernisierungstraumata“14. Zu Kriegsbeginn im Jahr 1914 sind die meisten von ihnen zwischen 20 und 35 Jahre alt und ziehen, nicht selten voller Euphorie, für viereinhalb, oft traumatisierende Jahre an die Front. Es ist dieselbe Generation, die im Anschluss an den Krieg für die „avantgardistischen Geistesrevolutionen“15 in Theologie, Philosophie und Kulturwissenschaften verantwortlich ist – oft verbunden mit einer deutlichen Abkehr von den Denktraditionen der eigenen Elterngeneration. Was aber macht die Menschheitsdämmerung zu einem Buch ebendieser Generation? Welche realgeschichtlichen „Erfahrungsräume und Erwartungshori-
ILLIES, FLORIAN, Eine Vergangenheit, die kommen wird. Einhundert Jahre „Menschheitsdämmerung“, in: Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung, 407–417, hier 407. 11 Ebd. 12 So spricht Pinthus auch von der „Dichtung dieser Generation“, PINTHUS, Zuvor, XVI. 13 Vgl. G RAF, FRIEDRICH W ILHELM, Einleitung: Protestantische Universitätstheologie in der Weimarer Republik, in: Ders., Der heilige Zeitgeist. Studien zur Ideengeschichte der protestantischen Theologie in der Weimarer Republik, Tübingen: Mohr Siebeck 2011, 29– 45, besonders 30f. Graf unterscheidet die „Frontgeneration“ hier von der „Wilhelminischen Generation“ (Altersgenossen von Wilhelm II., 1859 geboren), der „Gründerzeitgeneration“ (geboren 1870–1880), sowie der „verlorenen Generation“ oder „Kriegsjugendgeneration“ (geboren ab 1900) und schließt sich damit den Analysen des Historikers Detlev J. K. Peukert an, vgl. PEUKERT, DETLEV J.K., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, 26. Der Begriff der Frontgeneration wird, wie Graf anmerkt, schon im Generationendiskurs der Weimarer Republik diskutiert, für den u.a. MANNHEIM, KARL, Das Problem der Generationen (1928), in: Ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolff, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1964, 509–565 ausschlaggebend ist. Zum Generationenbegriff in der neueren Forschung vgl. z.B. JUREIT, ULRIKE/WILDT, MICHAEL (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg: Hamburger Edition 2005. 14 G RAF, Einleitung, 31. 15 A.a.O., 35. 10
2.1 Problemhorizonte 1919
125
zonte“,16 die die Frontgeneration teilt, werden in der Anthologie thematisiert? Es ist ein spannender Griff von Pinthus, dass er in seiner Sammlung hauptsächlich Gedichte vereinigt, die aus Vorkriegs- und damit Friedenszeiten stammen und die dennoch die „schäumende, chaotische, berstende Totalität unserer Zeit“17, also die des Jahres 1919, zum Ausdruck bringen sollen. Die expressionistische Lyrik der Vorkriegszeit wird dabei im Sinne eines „Barometer[s] seelischer Zustände“18 für das Nachkriegsjahr geltend gemacht, der Bogen zurück vor die große Katastrophe geschlagen und die Dichterin und Dichter als Propheten des nahenden Unheils geltend gemacht: „Die Dichter“, schreibt Pinthus, fühlten zeitig, wie der Mensch in die Dämmerung versank…, sank in die Nacht des Untergangs…, um wieder aufzutauchen in die sich klärende Dämmerung neuen Tags. In diesem Buch wendet sich bewußt der Mensch aus der Dämmerung der ihm aufgedrängten, ihn umschlungenen Vergangenheit und Gegenwart in die erlösende Dämmerung einer Zukunft, die er selbst schafft.19
Der Titel Menschheitsdämmerung, soviel wird aus diesen Zeilen klar, ist also in zweifachem Sinne zu verstehen: als das Ende einer Zeit, der Untergang einer Epoche, als die Dämmerung hinein in die Nacht des Großen Krieges, der das unausweichliche realgeschichtliche Pendant des bereits „gewußte[n] Zusammenbruch[s]“20 darstellt. Zugleich aber ist die Dämmerung das Heraufdämmern eines neuen Morgens, der Aufbruch in eine neue Zeit, in eine erlösende Zukunft, die der Mensch „selbst schafft“. Diese Zukunftsvision wird von Pinthus explizit als Gegenentwurf zur Moderne der (Vor-)Kriegszeit, die die Dichterin und Dichter anprangern, in Stellung gebracht: Hier soll „nicht mehr das Individuelle, sondern das allen Menschen Gemeinsame, nicht das Trennende, sondern das Einende, nicht die Wirklichkeit, sondern der Geist“21 regieren. Zwischen Abend- und Morgendämmerung, zwischen Untergang und Aufbruch, zwischen Nullpunkt22 und Neuanfang – die geistige Atmosphäre des 16 A.a.O., 29. Graf weist durchaus auf die Problematik hin, dass etwaige Verbindungen zwischen Kriegserfahrungen und theologischem bzw. grundsätzlich theoretischem Programm belegen zu wollen, ein „methodisch anspruchsvolles, voraussetzungsreiches Unternehmen“ darstellt, a.a.O., 42. Gleichwohl hält er an der starken, existenziellen Prägung durch das „Außeralltägliche par excellence“ des Krieges, insbesondere für die Frontgeneration, fest. 17 PINTHUS, Zuvor, VII. Hervorhebung durch die Vfin. Vgl. zu diesem Griff von Pinthus auch ILLIES, Eine Vergangenheit, die kommen wird, 408. 18 PINTHUS, Zuvor, VII. 19 A.a.O., XI. 20 A.a.O., XV: „Während im Weltkrieg der gewußte Zusammenbruch sich in der Realität ereignete, war bereits die Dichtung wiederum der Zeit vorangestürmt […]“. 21 Ebd. 22 Entsprechend titelt auch Wolfgang Martynkewiczs jüngst erschienenes Buch: M ARTYNKEWICZ, WOLFGANG, 1920. Am Nullpunkt des Sinns, Berlin: Aufbau 2019.
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
Nachkriegsjahres 1919 und damit vielleicht auch das Grundgefühl einer Generation lässt sich wohl anders nicht besser beschreiben.23 Der Erste Weltkrieg, die gerade zu Ende gegangene „Urkatastrophe“24, wird in diesem Zwischenstadium gedeutet als die Verschärfung und Zuspitzung einer viel grundsätzlicheren Krise der Moderne, die bereits in den Vorkriegsjahren schwelte und sich auf den Schlachtfeldern des Krieges endgültig entlud.25 Nicht umsonst wird der Begriff der Krise in den universitären Debatten der Nachkriegsjahre so inflationär verwendet wie kein anderer Begriff.26 Als Gründe für die tieferliegende Krise werden – in universitären Debatten ebenso wie in Pinthus’ Sammlung – die Atomisierung der Gesellschaft angeführt, die allgegenwärtigen Fragmentierungs-, Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse, die, so die Diagnose, mit einer Vereinzelung des Individuums, einem Verlust des Gemeinsinns und einer Entleerung der kulturellen und religiösen Formen einhergehen.27 Kurzum: Es sind die Folgen der Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts, von Industrialisierung, Urbanisierung und Mobilisierung auf alle Bereiche der Gesellschaft, die sich immer stärker und für alle Bevölkerungsschichten bemerkbar machen und ein tiefgreifendes Gefühl des Unbehagens auslösen. Die rasanten technischen Entwicklungen, die veränderte Transport- und Verkehrskultur und die damit einhergehende sich wandelnde Raum-Zeit-Wahrnehmung vermitteln vielen Menschen das Gefühl, sprichwörtlich den ‚Boden unter den Füßen‘ verloren zu haben. Nicht ohne Grund werden Eisenbahnzüge,
23 So schreibt auch Kurt Tucholsky in seinem Essay Dämmerung von 1920: „Es dämmert, und wir wissen nicht, was das ist: eine Abenddämmerung oder eine Morgendämmerung.“, TUCHOLSKY, KURT, Dämmerung, in: Ders., Gesammelte Werke in 10 Bänden, hg. v. Mary Gerold-Tucholsky/Fritz J. Raddatz, Bd. 2: 1919–1920, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1975, 288–291, hier 291. 24 So der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan, der mit der Formel allerdings „nicht das konkret menschliche Elend des Krieges, sondern das Versagen der Diplomatie und den Zerfall der europäischen Vormachtstellung samt ihres Ordnungsrahmens im Blick“ hatte, NEGEL, JOACHIM/PINGGÉRA, KARL, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Urkatastrophe. Die Erfahrung des Krieges 1914–1918 im Spiegel zeitgenössischer Theologie, Freiburg i.B.: Herder 2016, 9–16, hier 9, Fn. 1. Vgl. KENNAN, GEORGE F., Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875 bis 1890, Frankfurt a.M.: Propyläen 1981, 12. 25 Vgl. N EGEL/PINGGÉRA, Einleitung, 9. 26 So schreibt Graf: „‚Kulturkrise‘, ‚Krise der modernen Kultur‘, ‚Krise der Moderne‘, ‚Krise der europäischen Kultur‘, ‚deutsche Krise‘, ‚Wissenschaftskrise‘ […] ‚Krise der Religion‘, ‚Weltkrise‘ und überhaupt ‚Krise der Wirklichkeit‘ waren in ihren Texten [der deutschen Universitätstheologen, Anm. Vfin.] allpräsente Formeln einer Gegenwartsdiagnose und Zeitgeistanalytik, die eine tiefe, existentielle Verunsicherung […] erkennen lassen“, vgl. GRAF, Einleitung, 4. 27 Vgl. a.a.O., 117. Theologinnen und Theologen deuten die Krise nach Graf gemeinhin als dahinterliegende Krise des Religiösen, als Verlust der religiösen Substanz der Kultur.
2.1 Problemhorizonte 1919
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Sinnbilder der Modernisierung, plötzlich zu einer „Metapher für das sich wandelnde Verhältnis der Menschen zu dem – zunehmend instabilen – Boden unter ihren Füßen“28 und zugleich zu dem Standardbeispiel für Einsteins Relativitätstheorie, die, in ihren Grundgedanken veröffentlicht im Jahr 1916, das wissenschaftliche Pendant zu einem existenziellen Grundgefühl darstellt:29 der Einsicht in die Relativität von Zeit, Raum, und vielleicht sogar beunruhigender, von Lebensformen und Werten. 1919 ist also ein Jahr auf der Suche: im Politischen nach dem geeigneten System – nach dem Ende der Monarchie, einer unvollendeten Revolution und unter der ständigen Bedrohung eines Bürgerkriegs; im Kulturellen und Geistigen nach neuen Formen, die in der Lage sind, die Krise zu bewältigen und der empfundenen Entleerung entgegenwirken; im Ethischen nach Richtung und Orientierung unter dem Eindruck zunehmender Relativität. Einer dieser Suchenden des Jahres 1919, selbst traumatisierter Kriegsheimkehrer,30 ist der Theologe Paul Tillich, der nicht zuletzt unter dem Eindruck einer Begegnung mit dem Expressionismus31 – insbesondere in Form der bildenden Künste – seine Theologie der Nachkriegszeit entwirft.
28 G UMBRECHT, H ANS U LRICH, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, 367. 29 Vgl. M ARTYNKEWICZ, 1920, 38f. 30 Bereits im September 1914 meldete sich Tillich freiwillig als Feldgeistlicher und war bis September 1918, als er wegen nervlicher Überlastung nach Berlin zurückkehrte, an der Westfront, u.a. in der Champagne, in Verdun, und an der Somme stationiert. In einer Predigt aus dem Jahr 1916 zeichnet sich – die anfängliche Kriegsbegeisterung ist versiegt – bereits das Entsetzen über die Schrecken des Krieges ab: „Und nun sind wir alle aufs Tiefste erschrocken von dem Abgrund, der sich uns geöffnet hat. Nun sind wir mit Grauen erfüllt vor dem, was Leben und Kultur und Menschen in Wahrheit uns gegeben haben. Was anders als die Hölle auf Erden! Zerbrochen ist unser Glaube an die Welt, zerbrochen unser Glaube an die Kultur, zerbrochen unser Glaube an die Menschheit“, in: TILLICH, Frühe Predigten 1909–1918 [= EW VII], 498f. Vgl. auch SCHÜßLER/STURM, Paul Tillich, 8. Allerdings hat Friedrich Wilhelm Graf überzeugend nachgewiesen, dass sich bis Kriegsende auch andere Töne finden lassen, so etwa im Mai 1918 in einer Predigt über Ps 118,6f: „Des Sieges Lorbeerkranz schwebt über euren Scharen. Ihr habt ihn euch errungen in gewaltigem Kampfe, in herrlichem Vorwärtsstürmen und mühevollem Festhalten. Die Völker der Erde schauten auf eure Taten und lauschten atemlos von Stunde zu Stunde auf Botschaft von eurem Siegeslauf“, vgl. GRAF, FRIEDRICH WILHELM, „Old harmony“? Über einige Kontinuitätselemente in „Paulus“ Tillichs Theologie der „Allversöhnung“, in: Ders., Der heilige Zeitgeist, 343–380, hier 351. 31 Zum Expressionismus als „Ort der Vermittlung“ vgl. auch M OXTER, M ICHAEL, Aus Bildern lernen? Tillichs Denkweg zwischen Theologie und Ästhetik, in: Hans-Günter Heimbrock (Hg.), Evangelische Theologie und urbane Kultur. Tillich-Lectures Frankfurt 2010– 2013 (Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt a.M. 5), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014, 39–69.
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
2.2 Paul Tillich und der Expressionismus. Eine paradigmatische Begegnung 2.2 Paul Tillich und der Expressionismus
Direkt nach seiner Rückkehr als Feldprediger von der Westfront im September 1918 macht Tillich eine eindrückliche Erfahrung, die für ihn, so schildert er im späten Rückblick, zum Ausgangspunkt seiner theologischen Auseinandersetzung mit Kunst und Architektur wird.32 Bei einem Besuch im Berliner KaiserWilhelm-Museum steht er vor dem Gemälde der Madonna mit Kind und singenden Engeln von Sandro Botticelli:33 Und in einem Moment, für den ich keinen anderen Namen als den der Inspiration weiß, eröffnete sich mir der Sinn dessen, was ein Gemälde offenbaren kann. Es kann eine neue Dimension des Seins erschließen, aber nur dann, wenn es gleichzeitig die Kraft hat, die korrespondierende Schicht der Seele zu öffnen. Es war naturgemäß für einen Theologen, die Frage zu stellen: Wie verhält sich diese Inspiration zu dem, was in der theologischen Sprache Inspiration genannt wird? […] Wie verhalten sich die künstlerischen Symbole […] zu denen, in denen Religion sich ausdrückt?34
Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Religion, von ästhetischer Erfahrung und religiöser Inspiration, gewinnt für Tillich weiter an Bedeutung, als er kurze Zeit später von seinem Freund Eckart von Sydow in die Kunst des Expressionismus eingeführt wird.35 In der neuen Kunstrichtung findet er „Kategorien geistiger Schöpfung, die auch für [s]eine theologische Arbeit bedeutungsvoll“36 werden. Seinen Gedanken über das Verhältnis von Kunst und Religion, insbesondere die religiöse Relevanz des Expressionismus, hat Tillich in verschiedenen Schriften Anfang und Mitte der 1920er Jahre Ausdruck verliehen.37 32 TILLICH, Zur Theologie der bildenden Kunst und der Architektur (1961), in: GW IX, 345–355, 345. Zum Verhältnis von Religion und Kunst gerade beim späten Tillich vgl. RE MANNING, RUSSEL, „A kind of metaphysical dizziness.“ Tillich’s Theology of Culture and his Encounter with „non-art“, in: Christian Danz/Werner Schüßler, Paul Tillichs Theologie der Kultur Aspekte – Probleme – Perspektiven (Tillich-Research 1), Berlin/Boston: De Gruyter 2011, 311–326. 33 Vgl. SCHÜßLER/STURM, Paul Tillich, 8. 34 TILLICH, Zur Theologie der bildenden Kunst und der Architektur, 345. 35 Ebd. Auch Tillichs Berliner Studentin und spätere Freundin Margot Hahl berichtet über die Kunsterlebnisse der Berliner Zeit: „Tillich kannte noch wenig und war vielleicht darum ganz offen für die neuen Bildungserlebnisse nach 1918, z.B. das des Expressionismus. Durch Tillichs Jugendfreund Eckardt v. Sydow wurden wir in die moderne Kunst eingeführt. Gemeinsam erfuhren wir die Begegnung mit der expressionistischen Kunst, ich denke nur an die große Franz-Marc-Ausstellung im April 1922. Im Kolleg griff er sofort das Erlebnis auf, erläuterte am ‚Turm der blauen Pferde‘ das Zerbrechen der Form, das neue Farberlebnis des Malers, den ‚Gehalt‘ der Bilder.“ In: EW V, 150. 36 TILLICH, Zur Theologie der bildenden Kunst und der Architektur, 345. 37 Vgl. etwa TILLICH, Religiöser Stil und religiöser Stoff in der bildenden Kunst (1921), in: GW IX, 312–323; DERS., Gläubiger Realismus II (1926), in: GW IV, 88–106, hier 88f.;
2.2 Paul Tillich und der Expressionismus
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Wirft man einen Blick in diese Schilderungen, fällt auf, dass viele Aspekte des geschilderten geistigen Panoramas von 1919 sich auch bei Tillich wiederfinden: die Kritik an der Entleerungstendenz einer rationalistisch-kritischen Geisteshaltung, die Sehnsucht nach Bedeutung und tieferem Sinn, die Suche nach neuen kulturellen Formen, die diese Dimensionen zum Ausdruck bringen können. Bei der Suche nach solchen neuen Formen spielt der Expressionismus für Tillich eine herausragende Rolle: Der Expressionismus war eine Rebellion gegen den Realismus des neunzehnten Jahrhunderts. […] Von den expressionistischen Malern wurden die Dinge in ihrem kosmischen Sinn und ihrer unergründbaren Tiefe gedeutet. Ihre äußere Form wurde zerbrochen, damit ihre innere Bedeutung sichtbar werde. Farben, Ausdruck göttlicher und dämonischer Ekstasen, durchbrechen das Grau der Alltäglichkeit.38
DERS., Die geistige Welt im Jahr 1926 (1926), in: GW X, 94–99, hier 98f. DERS., Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), in: GW X, 9–93, hier 33–37. Freilich sind Tillichs Kunstdeutungen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen. Darauf haben etwa SCHÜßLER/STURM hingewiesen, Paul Tillich, 65–67: Zwar stelle Tillichs ‚Theologie der Kunst‘ eine konsequente Durchführung seines sinntheoretischen Religionsbegriffs dar („Kunst kann religiös sein, ob sie sogenannte religiöse oder profane Kunst ist. Sie ist religiös, sofern in ihr die Erfahrung letzten Sinnes und Seins zum Ausdruck kommt“, GW IX, 345). Allerdings bestehe die Gefahr, die Kunst entgegen ihrer Intention als religiös zu bewerten. So auch die Analyse von MATHEWS, THOMAS F., Tillich on Religious Content in Modern Art, in: Art Journal 27 (1967), 16–19, hier 17. Auch die Kunsthistorikerin Angela M. Opel zieht ein zweischneidiges Resümee: Tillichs Kunstbetrachtungen, gerade seine Interpretationen zur Stilgeschichte, litten unter dem Problem der Dekontextualisierung. Gleichwohl habe Tillich „den Menschen und die religiöse Kunst auf eine neue interaktive Ebene gehoben“, dadurch, dass er den „religiösen Impetus (Glaube) des Betrachters“ genauso ernstnehme wie den des Künstlers, vgl. OPEL, ANGELA M., Kirche und Kunst – Annäherungen an ein Verhältnis vor dem Hintergrund von Paul Tillichs „Theologie der Kultur“, in: Hans-Peter Burmeister (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Ein Anstoß für kirchliche Neubesinnung, Rehberg-Loccum: Ev. Akademie Loccum 2000, 53–80, 76f. sowie DIES., ‚Stil‘ ist nicht gleich ‚Stil‘. Das Unbehagen der Kunstwissenschaft mit Paul Tillichs ‚Theologie der Kunst‘, in: Christian Danz u.a. (Hg.), Justice, Power and Love (International Yearbook for Tillich Research 9), Berlin/Boston: De Gruyter 2014, 193–208. Vgl. auch DIES., ‚Christus auf der Drachenschaukel‘. Paul Tillich und das Dämonische als Thema der Kunst, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Das Dämonische. Kontextuelle Studien zu einer Schlüsselkategorie Paul Tillichs (Tillich Research 15), Berlin/Boston: De Gruyter 2018, 265–300 sowie SCHÜßLER, WERNER, „Das Ewige im Jetzt“. Zum Verhältnis von Kunst und Religion im Denken Paul Tillichs, in: Christian Danz u.a. (Hg.), Justice, Power and Love, 165–191 sowie DERS., Die Bedeutung der Kunst, der Kunstgeschichte und der Kunstphilosophie für die Genese des religionsphilosophischen und kulturtheologischen Denkens Paul Tillichs, in: Ders. (Hg.), Paul Tillich. Kunst und Gesellschaft. Aus dem Englischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort über die Bedeutung der Kunst für das Denken Paul Tillichs (Tillich-Studien, Abteilung Beihefte 1), Münster 2004, 49–87. 38 TILLICH, Gläubiger Realismus II, 88.
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
Im Rahmen seiner Kritik an der bürgerlichen Geisteshaltung deutet Tillich den Expressionismus als ein künstlerisches Aufbegehren gegen den Realismus des 19. Jahrhunderts.39 Die Expressionistinnen und Expressionisten wenden sich ab von einer Geisteshaltung, die „jedes Übersteigen der Wirklichkeit als utopisch oder romantisch ablehnt“40 – und die damit als hauptverantwortlich gelten kann für die Entleerungstendenzen der modernen Kultur. Demgegenüber versuchen die expressionistischen Künstlerinnen und Künstler nach Tillich dem „kosmischen Sinn“, der „unergründbaren Tiefe“ der Dinge, ihrer „innere[n] Bedeutung“ wieder Ausdruck zu verleihen. Dies gelingt durch eine Sprengung der „Oberfläche der Wirklichkeit“41: Farben, Linien, Bildaufbau fungieren nicht mehr dazu, die äußere Form der Dinge möglichst wirklichkeitsgetreu, ‚realistisch‘ wiederzugeben, sondern gleichsam hinter die Fassade der Dinge zu blicken und das, was dort liegt, auf die Leinwand zu bannen.42 Dieses ‚Hinter-den-Dingen‘ vermag es, das „Grau der Alltäglichkeit“, die Tristheit und Monotonie der entleerten Formen, im Modus der Ekstase zu durchbrechen. Der Durchbruch, der durch die Zerbrechung der Formen möglich wird, beschreibt Tillich andernorts auch als das „innere Hinausgehen der Dinge über sich selbst ins Jenseitige“43, als „Umschlagen des Individualismus zu den unterindividuellen Wesenheiten“44. Von der „expressionistischen Mystik“ und der „‚Bewußtheit der irgendwie spürbaren Einheit alles Seienden‘ nicht im Goethschen, sondern im primitiv-mystischen Sinn“ als dem „Kern des modernen und expressionistischen Weltgefühls“ ist hier die Rede.45 Es scheint Tillich an dem Punkt des Zerbrechens, Hinausgehens und Umschlagens also um eine Überwindung eines fragmentierenden Typus des Individualismus hin zu einem tieferliegenden Einheitsgefühl zu gehen. Der Begriff, der dabei immer wieder fällt – ‚Durchbruch‘ – steht, so hat Peter Steinacker in diesem Zusammenhang nachgewiesen, im Kontext der deutschen Mystik, etwa bei Meister Eckart oder 39 Für das Aufbegehren der Expressionisten vgl. etwa die Worte Franz Marcs im Almanach Der Blaue Reiter (1912), wo dieser von der „Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst […] gegen eine alte, organisierte Macht“ spricht, die mit den Mitgliedern der Künstlervereinigung „Brücke“ beginne. Diese hatte 1906, im Jahr nach ihrer Gründung, das erste, von Ernst Ludwig Kirchner verfasste Manuskript veröffentlicht. Dort heißt es: „Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Armund Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen älteren Kräften“, zitiert nach WETZEL, CHRISTOPH, Das Reclam Buch der Kunst, Stuttgart: Reclam 42009, 426. 40 TILLICH, Gläubiger Realismus II, 88. 41 A.a.O., 89. 42 So schreibt Tillich auch, dass es die wesentliche Aufgabe der Kunst sei, „Bedeutungsausdruck“ zu geben, vgl. TILLICH, Die religiöse Lage der Gegenwart, 33. 43 A.a.O., 34. 44 TILLICH, Religiöser Stil, 312f. 45 A.a.O., 313. Tillich zitiert hier Eckart VON SYDOW, Die deutsche expressionistische Kultur und Malerei (1920), Berlin: Furche 1920, 11.
2.2 Paul Tillich und der Expressionismus
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Jacob Böhme, für die Einkehr der Seele von der Vielheit in die Einheit in Gott.46 Tillich greift dieses mystische Verständnis in seinen ästhetisch-religionsphilosophischen Analysen auf und grenzt sich zugleich explizit von einem Einheitsverständnis im Sinne Goethes ab, das auf die umfassende Totalität alles Seienden gerichtet ist. Demgegenüber liegt Tillichs Konzept der Einheit, die am Grund der individuellen Formen, gefunden wird und deren Vereinzelung überwinden kann, tiefer, ‚jenseitiger‘. Mittels religiöser Sprache zeichnet Tillich also eine Transzendierungsbewegung, die jedoch gerade nicht zu einem extramundanen Gott führt, sondern als innere Transzendierung verstanden werden will, als der „Durchbruch des Gehaltes durch die Form“47. Der Gehalt der Dinge, der dabei zum Ausdruck kommt, ist als eine „bestimmte Grundstellung zur Wirklichkeit überhaupt“ zu verstehen, als „die letzte Sinndeutung, die tiefste Realitätserfassung, […] die Funktion der Unbedingtheit, die jedes bedingte Erleben trägt, färbt und hindert, in die Leere des Nichts zu stürzen.“48 Kurzum: Gehalt steht hier als eine Chiffre für die Dimension der Unbedingtheit, die in jedem bedingten Erleben mitschwingt. Diese Dimension der Unbedingtheit versteht Tillich als religiöse Dimension, die zugleich das einheitsstiftende, tieferliegende Band aller Kulturerscheinungen bildet.49 Die Begegnung mit dem Expressionismus, wie sie hier in Kürze geschildert wurde, wird für Tillich also zu einer Inspiration für die Neukonzeption seiner Kulturtheologie in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dabei parallelisiert Tillich das eigene Anliegen mit der (tatsächlich sehr vielschichtigen und schwer zu bestimmenden) Kunstrichtung in mehrfacher Hinsicht: Erstens in dem Verständnis, eine Rebellion darzustellen gegen die entleerten, starren Formen, die das bürgerlich, atomistisch zersplitterte Zeitalter repräsentieren; zweitens, in der Bejahung einer Sprengung dieser Formen zugunsten des Durchbruchs der
Vgl. STEINACKER, PETER, Passion und Paradox – Der Expressionismus als Verstehenshintergrund der theologischen Anfänge Paul Tillichs. Ein Versuch, in: Gert Hummel (Hg.), God and Being/Gott und Sein. The Problem of Ontology in the Philosophical Thinking of Paul Tillich/Das Problem der Ontologie in der philosophischen Theologie Paul Tillichs (Theologische Bibliothek Töpelmann 47), Berlin/New York: De Gruyter 1989, 59–99, hier 91f. Steinacker verweist darauf, dass Tillich den Begriff vermutlich von Schelling kennt. 47 Vgl. TILLICH, Religiöser Stil, 319f. Erstmals in: Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: GW IX, 22f. Tillich übernimmt die Formel vom „Durchbruch des Gehaltes in Form und Farbe“ von Franz MARC, Briefe aus dem Feld, Stollhamm/Berlin: Rauschenbusch 1948, 75, vgl. auch STEINACKER, Expressionismus als Verstehenshintergrund, 86, Fn. 45. 48 TILLICH, Religiöser Stil, 319f. 49 Tillich unterscheidet dabei zwischen formbeherrschten Stilen (Impressionismus, Realismus), gehaltbeherrschten Stilen (Expressionismus, Romantik) und ausgeglichenen Stilen (Idealismus, Klassizismus), je nachdem, welche Seite des Verhältnisses dominiert, vgl. a.a.O., 320. 46
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
Gehaltdimension der Dinge; drittens in der Annahme einer mystisch-verbindenden Einheit in der Tiefe der Dinge als Bastion gegen die moderne Oberflächenrealität der Fragmentierung. Die Religion gewinnt damit eine zentrale Funktion für die Bewältigung der aktuellen Krise: als die Dimension der Unbedingtheit bildet sie ebenjenes einheitsstiftende Band, das der Zersplitterung der Moderne entgegengehalten werden kann. In der Einheitsvision auf dem Boden der Religion liegt also Tillichs ‚Antwort‘ auf die Fragen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Wie genau Tillich diese neue Einheit denkt, wird nun im Folgenden Gegenstand der Betrachtung sein.
2.3 Sinn, Kultur, Kairos. Die Vision einer neuen Einheit 2.3 Sinn, Kultur, Kairos
Tillichs erste Vorlesung als Privatdozent in Berlin, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart im Sommersemester 1919, gilt zugleich als die erste ausführliche Darlegung seiner Kulturtheologie, über die er am 16. April 1919, also etwa zeitgleich mit Beginn des Sommersemesters, seinen programmatischen Vortrag vor der Berliner Sektion der Kant-Gesellschaft gehalten hat.50 Gleich zu Beginn der Vorlesung kündigt Tillich mit prophetischem Gestus die Vision einer neuen Einheit als grundlegendes Anliegen seiner Veranstaltung an: Wie es eine der Aufgaben dieses Kollegs ist zu zeigen, daß wir auf allen Gebieten nach den Zeiten der Zersplitterung, der verzehrenden Widersprüche, der Atomisierung des Geistes und der Gesellschaft einer neuen Geistes- und Gesellschaftseinheit entgegengehen, so soll die Tatsache, daß wir hier eine Einheit von Ökonomie und Religion, von Politik und Mystik, von Soziologie und Theologie zu schauen uns bemühen, so soll diese Tatsache selbst ein Schritt sein auf dem Wege zu jener großen Einheit, die einst lebendig war und dann vergehen mußte um der Freiheit und der Neuschöpfung des Geistes willen, die dann gesucht wurde in den gewaltigen Systemen unserer Philosophen der Weimaraner Zeit und doch nicht gefunden wurde, weil nicht ein einzelner, und wäre es ein Goethe oder Hegel, und nicht ein Kreis, und wären es die Romantiker, sondern nur ein Volk, nein die Völker eines Kulturkreises durch Schicksal und gemeinsames Erleben zu jener Einheit gelangen. Wir können fühlen, daß sie kommt, kommen muß, wir können ihr entgegengehen, und wir wollen es in diesen Stunden, aber wir können es nicht schaffen. 51
50 Das Vorlesungsmanuskript nennt diesen Vortrag, der als Gründungsdokument von Tillichs Kulturtheologie gelten kann, selbst noch nicht, geht diesem aber auch, was den Zeitpunkt der Abfassung angeht, vermutlich voraus. Für die Bedeutung der Vorlesung im Rahmen der kulturtheologischen Entwicklung vgl. STURM, ERDMANN, Die Genese von Tillichs Kulturtheologie in seinen frühesten Texten, in: Danz/Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur, Berlin/Boston: De Gruyter 2011, 64–93, besonders 83–90. 51 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 28.
2.3 Sinn, Kultur, Kairos
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Wie schon in Tillichs Auseinandersetzung mit dem Expressionismus klingen hier die tief empfundene Fragmentierung, die Widersprüchlichkeit und atomistische Individualisierung der Gegenwart als die zentralen Merkmale der Krise von 1919 an. Ähnlich wie Pinthus deutet auch Tillich den Krieg als letzten Ausweis des Scheiterns einer viel grundsätzlicheren und bereits länger andauernden Geistes- und Gesellschaftslage,52 die jedoch nun einer neuen Zeit weicht. Als Ziel und Inhalt der Epochenwende wird eine „neue Geistes- und Gesellschaftseinheit“ hinaufbeschworen, die Tillich im aufgeführten Zitat nun auch näher expliziert. Die dabei thematisierten Aspekte machen den umfassenden Charakter der hier anvisierten Vorstellung einer neuen Einheitskultur deutlich, die sich auf verschiedenen Ebenen lokalisieren lässt:53 Zunächst spricht Tillich
52 So heißt es später in der Vorlesung: „Zu unwiderleglich sind in den letzten fünf Jahren die Wirkungen der individualistischen Kultur ad absurdum geführt worden. Wir, die geistig Lebendigen, ertragen diese Kultur nicht mehr im Geistigen, die Massen, und diejenigen, die sich anscheinend wohl dabei fühlen, die oberen ungeistigen Schichten, leiden in tiefster Seele unter der Qual der Entleerung des Lebens durch das Prinzip des Individualismus, das von Kritik zu Kritik führt, aber nicht aufbauen, nicht neue Inhalte geben kann.“ A.a.O., 81. Zur Individualismuskritik Tillichs vgl. MURRMANN-KAHL, MICHAEL, Theologisches Prinzip und Modernitätserfahrung in Paul Tillichs Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (1919), in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920) (Tillich-Studien 20), Wien/Berlin/Münster: Lit Verlag 2008, 137–154, hier 147f. Im Zusammenhang mit Tillichs Kritik der „individualistischen Kultur“ hat Friedemann Voigt Georg Simmel, Ernst Troeltsch und Paul Tillich als drei idealtypisch unterschiedliche Verarbeitungen von moderner Individualitätskultur und Religion gedeutet, vgl. VOIGT, FRIEDEMANN, Absolutheitserfahrung und Individualitätskultur. Zur Epistemologie von Paul Tillichs Kulturtheologie in Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch und Georg Simmel, in: Danz/Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur, 171–192. Während nach Simmel die Individualisierungstendenz des modernen Menschen durchaus die Abwendung von gemeinschaftlicher Kirchenkultur zur Folge hat und der Mensch sich in einer neuen ‚Kultur der Dinge‘ selbst zu verlieren droht, sind doch Religion und Individualität auf das engste miteinander verknüpft, oder anders gesagt: die Gemeinschaftsfunktion von Religion verfälscht die individuell religiöse Erfahrung, die dem inneren Leben des Subjekts entstammt, vgl. auch SIMMEL, GEORG, Rembrandt. Ein kulturtheologischer Versuch, Leipzig: Wolff 1916, von Tillich mehrfach erwähnt, u.a. in Christentum und Gesellschaftsprobleme, 69. Gegenüber dem Element der Kulturgestaltung von Religion bleibt Simmel dementsprechend desinteressiert. Demgegenüber betont Troeltsch die Auswirkungen des christlichen Persönlichkeitsideals für den modernen Individualitätsgedanken und sieht zugleich im protestantischen Persönlichkeitsbegriff ein Gegengewicht zu den zersplitternden Tendenzen der Moderne gegeben. Auch Troeltsch strebt eine Kultursynthese an, gleichwohl mit stärkerer Betonung des Individualitätsgedankens als Tillich sowie, grundsätzlicher, der eigenen Werturteilsfreiheit bezüglich normativer Stellungnahmen. 53 Re Manning bezeichnet Tillichs Antwort auf die Fragmentierung der Moderne als „early, radical project […] – one that blurs the boundaries between disciplines and disrupts
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
verschiedene gesellschaftliche Subsysteme an, so etwa Ökonomie und Religion, die in der neuen Kultursynthese zusammenfließen sollen. Dass dabei ausgerechnet die Ökonomie als Gegenspieler zur Religion zur Sprache kommt, ist wohl kein Zufall: Schon Ernst Troeltsch hatte in seiner Analyse der ‚geistigen Revolution‘ der Jahre 1919/1920 bemerkt, dass die angestrebte Integration verschiedener Gesellschaftsbereiche in einer neuen Kultursynthese unter anderem darauf abzielte, die um sich greifende Dominanz einer kapitalistischen Wirtschaftsstruktur zu schwächen.54 Demgegenüber wird der Religion im weiteren Verlauf der Vorlesung die Funktion zugeschrieben, die neue Einheit zu fundieren, und damit, wie Tillich es einige Seiten später formuliert, wieder die ihr zukommende Vorrangstellung einzunehmen: „Nun wollen wir den anderen nacheilen und sie zu überholen suchen; denn der Religion gebührt die Spitze“55 (vgl. II.2.3). Ein ähnlicher Abwehrimpuls gegenüber einen als übermächtig empfundenen ‚Gegner‘ findet sich womöglich auch auf der zweiten thematisierten Ebene: der wissenschaftlichen Einheit von Soziologie und Theologie. Auch hier findet sich ausgerechnet diejenige Wissenschaftsdisziplin mit der Theologie kontrastiert, die Anfang des letzten Jahrhunderts allmählich eine gewisse Vorrangstellung für sich beansprucht, zumindest was den Bereich der Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen angeht. Die gerade erst im Entstehen begriffene Disziplin der Soziologie versteht sich explizit als eine Reaktion auf die Modernisierungsfolgen, die sie mit Eifer zu analysieren beginnt – während die Theologie im Zuge dieser Folgen vermehrt über schwindenden Einfluss zu klagen hat, oder zumindest auf der Suche ist nach einem geeigneten Standort in der modernen Wissenschaftskultur.56 Tillich gesteht im Fortgang der Vorlesung der Soziologie durchaus eine wichtige Funktion zu und fordert „eine Soziologie der Religion und der Kirchengeschichte.“ Gleichwohl betont er, die soziologische sei nicht die „einzige oder letzte Betrachtungsweise natürlich“, sondern „auch eine und zwar sehr wichtige Art den Dingen näher zu kommen“57, und the certainties of the tribalism characteristic of the modern world”, RE MANNING, „Do not be conformed.“, 219. 54 Vgl. G RAF, FRIEDRICH W ILHELM, Troeltschs Kritik der „geistigen Revolution“ im frühen zwanzigsten Jahrhundert“, in: Ders., Der heilige Zeitgeist, 139–160, 144. Graf bezieht sich dabei insbesondere auf Ernst TROELTSCH, Die Krisis des Historismus (1922) (Kritische Gesamtausgabe 15), in: Ders., Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hg. v. Gangolf Hübinger/Johannes Mikuteit, Berlin/Boston: De Gruyter 2012, 437–455, 451f. 55 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 35. 56 Nicht zuletzt ist es ein Anliegen Tillichs in den 1920er Jahren, diesen Standort der Theologie zu bestimmen und begründen, so etwa im 1923 erschienenen ‚System der Wissenschaften‘, vgl. TILLICH, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), in: GW I, 135–209. 57 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 30. Tillich merkt an, dass es Troeltschs Verdienst sei, den soziologischen Standpunkt in die Theologie geholt zu haben und verweist dabei auf Troeltschs Soziallehren. Die Auseinandersetzung mit der Soziologie und
2.3 Sinn, Kultur, Kairos
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weist der Soziologie damit die Rolle einer Disziplin neben anderen im Wissenschaftskosmos zu. Demgegenüber wird der Theologie (so der weitere Verlauf der Vorlesung) eine tragende Rolle in der Konstruktion der neuen Gesellschaftseinheit zugeschrieben: Sie wird zu der synthetisierenden Wissenschaft erhoben, die den einheitsstiftenden Gehalt in den verschiedenen Kulturformen aufweisen soll und erhält damit eine neue Aufgabe und Bedeutung (vgl. II.2.3). Die Tatsache, dass die beiden Einheitsaspekte, der gesellschaftliche und wissenschaftliche, in der Vorlesung aufgezeigt und anschaulich gemacht werden, wird von Tillich selbst als ein Beitrag auf dem Weg zur „großen Einheit“ ausgewiesen. Durch die Öffnung des theologischen Blicks in andere Kulturund Gesellschaftsbereiche, etwa die der Kunst, des Rechts, der Staatsformen oder der Wirtschaft, und das Aufzeigen ihres jeweiligen religiösen Bezugs, wird im Verlauf der Vorlesung die Einheit, die Tillich vorschwebt, denkerisch vorweggenommen. Einheitsschau, so ließe sich sagen, ist für Tillich also zugleich Einheitsstiftung. Ein Mitwirken an der neuen Einheit ist, so die logische Konsequenz, nicht nur eine Sache der Tat, sondern zunächst einmal eine Sache des Denkens; Theorie und Praxis werden hier nicht strikt geschieden – was nicht zuletzt für die große Praxisferne zumindest dieser, Tillichs, intellektueller Revolution um 1920 spricht.58 Eine dritte Ebene der Thematisierung der neuen Einheit liegt dementsprechend in dem unmittelbaren Auftrag, den Tillich auch im Verlauf der Vorlesung immer wieder an seine Hörerinnen und Hörer ergehen lässt: so fordert er etwa auf, an „dem Tempel dieser neuen Idee mitzuarbeiten“,59 oder dazu, Formen zu finden, „in die der neue Geist sich ergießen muß“60. Zugleich klingt jedoch schon an, dass die neue Einheit nicht (allein) durch Menschenwerk geschafft werden kann, sondern ihr ein Moment der Unverfügbarkeit eignet:61 „Wir können fühlen, daß sie [die Einheit, Anm. Vfin.] kommt, kommen muß, wir können ihr entgegengehen, und wir wollen es in diesen Stunden, aber wir können es nicht schaffen“, so heißt es im aufgeführten Zitat zu Beginn der die Zuweisung einer nebengeordneten Rolle ist also zugleich eine Auseinandersetzung mit der Vätergeneration, vgl. PFLEIDERER, GEORG, Kultursynthesen auf dem Katheder. Zur Revision von Troeltschs Soziallehren in Tillichs Berliner Programmvorlesung, in: Danz/ Schüßler, Religion – Kultur – Gesellschaft, 119–136, hier 121. 58 So schreibt Georg Pfleiderer: „Es handelt sich dabei um den religionsphilosophischen Entwurf eines der praktischen Politik sehr ferne stehenden Intellektuellen, der mit dem daran geknüpften gesellschaftspolitischen Anspruch schon darum scheitern musste, weil er sich aller konkreten politischen Organisationsfragen trotz der Einsicht in ihre Notwendigkeit als bloß technischer Fragen enthoben glaubte.“ PFLEIDERER, Kultursynthesen auf dem Katheder, 135. 59 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 77. 60 A.a.O., 82. 61 Vgl. etwa a.a.O., 28.82. Auch ist von der langen Dauer der Umwälzungen die Rede, a.a.O., 77.
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
Vorlesung. Die Einheit wird also zu einem gewissen Grad als unabhängig von den eigenen Bestrebungen gedacht. Der hier thematisierte Charakter partieller Unverfügbarkeit, zusammen mit dem sicheren Gefühl, selbst an einer Zeitenwende zu stehen, finden bei Tillich im Verlauf der frühen 1920er Jahre Eingang in den Begriff des Kairos, der zu einem Schlüsselbegriff von Tillichs religiös-sozialistischen Einheitskultur avanciert (vgl. II.2.3.3). Viertens wird die im obigen Zitat avisierte Einheit als „große Einheit, die einst lebendig war“ mit Rückgriff auf das Mittelalter inszeniert. Mit dieser Analogie ist Tillich unter seinen Zeitgenossen nicht allein: Die Rede von der neuen „Einheitskultur“62, in der Theologie der unmittelbaren Nachkriegszeit sehr präsent, erfolgt nicht selten in Bezug auf die (christliche) Einheitskultur des Mittelalters, die gegen die empfundene Atomisierung der Gegenwart heraufbeschworen wird.63 Tillich greift für die Kontrastierung von Mittelalter und moderner, post-aufklärerischer Kultur explizit auf ein „geschichtsphilosophische[s] Schema“64 romantischer und frühsozialistischer Prägung zurück. Gewährsmänner dieses Schemas sind insbesondere Novalis und der französische Sozialist Saint-Simon, die, so Tillich, die Unterscheidung zwischen „mittelalterlicher Einheitskultur“ und „moderner Auflösungskultur“ zeitgleich erfasst haben.65 Tillich spiegelt hier also das aktuell empfundene Fragmentierungs62 Der Begriff der ‚Einheitskultur‘ geht ebenfalls auf Troeltsch zurück und ist erstmals 1908 nachgewiesen. Vgl. GRAF, Einleitung, 79. Ebenfalls hier: „Kaum ein Theologe der Frontgeneration, der nicht am ‚atomistischen‘, ‚liberalistischen Individualismus‘ leidet und kompensatorisch neue bergende ‚Gemeinschaft‘ beschwört.“ [Hervorhebung im Original]. 63 Zum Rückgriff auf das Mittelalter vgl. auch G RAF, Einleitung, 79, der diese Analogie allerdings vornehmlich katholischen Theologen zuschreibt sowie grundsätzlich Otto Gerhard OEXLE, OTTO GERHARD, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach, in: Susanna Burghartz u.a. (Hg.), Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus, Sigmaringen: Jan Thorbecke 1992, 125–153. Klaus Unterburger hat eindrücklich nachgewiesen, dass das Ideal einer mittelalterlichen, christlichen Einheitskultur ein Produkt der Vereindeutigungstendenzen der frühneuzeitlichen Modernisierung darstellt, vgl. UNTERBURGER, KLAUS, Von der Ambiguität zur Eindeutigkeit. Die frühneuzeitliche Konfessionalisierung, in: Dirk Ansorge (Hg.), Pluralistische Identität. Beobachtungen zu Herkunft und Zukunft Europas, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016, 103–119. 64 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 72. 65 Vgl. a.a.O., 72–81, sowie STURM, Die Genese von Tillichs Kulturtheologie, 87. Zur Mittelalterdeutung von Novalis vgl. ROSE, MIRIAM, „Mit der Reformation war’s um die Christenheit getan“. Novalis Utopie der christlichen Religion, in: Katharina Bracht/Christopher Spehr (Hg.), Luther Denken. Die Reformation im Werk Jenaer Gelehrter (Schriften zur Geschichte der Theologischen Fakultät Jena 2), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019, 133–154, besonders 140–142. Der Deutung des Mittelalters (seinen guten Seiten nach) entspricht bei Novalis eine Generalkritik Luthers und der Reformation, mit denen, so Novalis, die religiös-soziale Einheit Europas verlorenging. Die einheitsstiftende Funktion einer richtig verstandenen Religion soll in Novalis’ Vision auch eine zukünftige soziale Einheit ermöglichen, a.a.O., 142–149, sowie zum Verhältnis von Religion und Politik bei Novalis
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problem zurück in die Geschichte;66 ebenso wie er seinen Lösungsvorschlag parallelisiert mit der „Idee einer neuen religiös geleiteten Einheitskultur“ eines Novalis oder Saint-Simon. Dabei wird diese Idee, so Tillichs Kommentar zu Novalis, „aus den Auflösungserscheinungen der Gegenwart geboren“67 und sei damit gerade nicht ein „einfacher Abklatsch“68 des Mittelalters. Die Einheitskultur, die Tillich anvisiert, unterscheidet sich von der mittelalterlichen „Zwangsform der Kultur69“ insbesondere über den Aspekt des freiheitlichen Zusammenschlusses: Es kann sich nur um eine Religion handeln, die aus Freiheit geboren ist und die freudige Zustimmung aller hat, wie auch die Vereinigung der Völker […] nur durch freies Einswerden auf rauchenden Trümmern möglich ist.70
Bei der Erwähnung der „rauchenden Trümmer“ schwingt vermutlich Tillichs eigene Gegenwart mit; gleiches gilt für den Aspekt der Völkervereinigung, die auch im eingangs aufgeführten Zitat von Tillich herangezogen wurde. Hier sprach Tillich davon, dass die großen Synthesen der idealistischen Philosophie, wie auch die der Romantikerinnen und Romantiker scheiterten, da „nur ein Volk, nein die Völker eines Kulturkreises durch Schicksal und gemeinsames Erleben zu jener Einheit gelangen.“71 Bei diesen pathetischen Worten zur Völkervereinigung ist man geneigt, an ähnliche Formulierungen bei Tillichs Freund und intellektuellem Gesprächspartner Emanuel Hirsch zu denken. Dieser spricht in seiner Schrift Deutschlands Schicksal von 1920 von einer „Einheit der Gesinnung“, die eben nicht „durch logische Vergewaltigung, sondern allein durch freies Zusammenstimmen vieler entsteht“, und von dem „Weg gemeinsamen harten Geschicks“, durch den erst „ein Haufe uneiniger Menschen ein Volk“ wird.72 Bei beiden, Tillich wie Hirsch, ist die angestrebte Einheit auch eine Volksgröße. Allerdings spricht Hirsch ganz explizit von dem Volk, während Tillich hier – entsprechend seiner sozialistischen Vision eines föderalistischen Anarchismus nach dem Vorbild Gustav Landauers – eine transnationale Einheit vor Augen zu haben scheint. Gleichwohl ist auch seine Völkergemeinschaft – ähnlich der Hirschs – explizit durch „Schicksal und gemeinsames Erleben“, und das heißt auch DIES., Religion und politische Ordnung. Schleiermacher und Novalis zur Programmatik eines krisenhaften Verhältnisses, in: Walter Pauly/Klaus Ries (Hg.), Staat, Nation und Europa in der politischen Romantik (Staatsverständnisse 83), Baden-Baden: Nomos 2015, 241–266, besonders 250–257. 66 Vgl. PFLEIDERER, Kultursynthesen auf dem Katheder, 126. 67 Ebd. 68 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 77. 69 A.a.O., 81. 70 A.a.O., 77. 71 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 28. 72 Vgl. H IRSCH, EMANUEL, Deutschlands Schicksal. Staat und Menschheit im Lichte einer ethischen Geschichtsansicht, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1920, 1.3.
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1919/1920 vermutlich auch und vor allem durch die Niederlage des Krieges, geformt. In beiden Fällen, das bleibt als weitere Ebene zu erwähnen, ist die Einheitsvision explizit mit einem politischen Programm verbunden, im Falle Tillichs mit einer religiös-sozialistischen Ausrichtung (vgl. II.2.3), im Falle Hirschs mit einer deutlichen Hinwendung zu nationalistischem Gedankengut. Schließlich bleibt abschließend zu diesem ersten Überblick über verschiedene Dimensionen von Tillichs Einheitsvorstellung zu erwähnen, dass Tillich seiner Einheitsvorstellung explizit die Gestalt eines Systems gibt. So schreibt er im Anschluss an den programmatischen Beginn der 1919er Vorlesung: „Von Einheit sprach ich; wo aber Einheit ist, da ist System, und von systematischen Gesichtspunkten soll unsere Arbeit geleitet sein.“73 Wie Georg Pfleiderer bemerkt hat, ist dieser Griff durchaus überraschend, ist doch in „der Bildungssprachensemantik von 1919 […] ‚System‘ der Gegenbegriff zu ‚Leben‘, und also überhaupt nicht ‚sexy‘“.74 Auch Tillich erwähnt, dass dem Begriff des Systems für viele, „namentlich der älteren Generation, ein Beigeschmack an[haftet] wie starr, dogmatisch, eng, unwirklich“.75 Mit dem Verweis auf die „historische Periode, aus der wir gerade kommen“, ist dann auch spätestens klar, dass Tillich sein System der Einheit explizit in Abgrenzung zu Ernst Troeltsch verstanden wissen will, der zur damaligen Zeit das große Vorbild in Sachen theologischer Kulturdeutung darstellt.76 Der entscheidende Unterschied des Systems, den Tillich hier gegen Troeltsch geltend macht, liegt darin, das historische Material „unterzuordnen einem großen, weittragenden Gesichtspunkt, der gewonnen ist aus der Mannichfaltigkeit, nun aber seinerseits im Stande ist, sich die Fülle zu unterwerfen, die Mannichfaltigkeit zur Einheit zu bringen.“77 Dieser Gesichtspunkt oder Maßstab, den Tillich im Fortlauf der Vorlesung zu seiner Einheitskonstruktion entwickelt, nennt er ‚theologisches Prinzip‘. Dieses Prinzip wird im Folgenden noch genauer zu betrachten sein (vgl. II.2.3); an dieser Stelle sei jedoch schon angemerkt, dass Tillich in dem Versuch, sich „los[zu]reißen von dem lebensverzehrenden Wurm einer alles auflösenden, alles verstehenden, alles bezweifelnden Reflexion“, ein in mehrfacher Hinsicht problematisches Konstrukt entwirft. Die Distanzierung von der historischen Methode geht bei Tillich damit einher, dass ein spezifisch protestantisch geprägter Wesensbegriff der Religion
TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 28. PFLEIDERER, Kultursynthesen auf dem Katheder, 120. 75 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 28. 76 Vgl. PFLEIDERER, Kultursynthesen auf dem Katheder, 120. Vgl. zum Verhältnis von Tillich und Troeltsch auch MURRMANN-KAHL, MICHAEL, „Tillichs Traum“. Paul Tillich liest Ernst Troeltschs Historismusband, in: Ulrich Barth u.a. (Hg.), Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher–Troeltsch–Tillich (Theologische Bibliothek Töpelmann 165), Berlin/Boston: De Gruyter 2013, 193–212. 77 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 29. 73 74
2.3 Sinn, Kultur, Kairos
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zum Schlüssel nicht nur für die Darstellung der (Religions-)Geschichte, sondern auch für die Lösung der Gegenwartsprobleme erhoben wird.78 Zusammenfassend lässt sich bis hierhin festhalten, dass Tillich seinen theologischen Neuaufbruch 1919 in den Kontext einer umfassenden Einheitsvorstellung stellt, die sich auf verschiedenen Ebenen manifestiert: als Einheit zwischen ausdifferenzierten Gesellschaftsbereichen, als Wissenschaftssynthese, als Vereinigung von Theorie und Praxis, als Realisierung eines geschichtsphilosophischen Schemas, als politische Einheit der Völker, sowie in Gestalt eines theoretischen Systems. Religion und Theologie übernehmen in dieser Vision tragende Funktionen, die im Folgenden genauer erläutert werden. Wenngleich es in diesem Abschnitt in erster Linie um eine eröffnende Darstellung der theologischen Rahmenbedingungen für die Einführung des Zweideutigkeitsbegriffs gehen soll, seien dennoch abschließend einige kritische Anfragen an Tillichs Konzeption notiert: Erstens ist anzumerken, dass Tillich mit seinem Entwurf einer Kultursynthese die moderne Ausdifferenzierung in verschiedene gesellschaftliche Subsysteme und – so die spätere Luhmann’sche Theorie – die damit verbundene Eigenständigkeit und Unabhängigkeit dieser Systeme durchaus in Frage stellt, wenn nicht zu einem gewissen Grad zurücknimmt.79 Zweitens scheint die tragende Rolle, die Religion und Theologie innerhalb dieser Kultureinheit einnehmen sollen – abgesehen von der Frage nach dem Realitätsbezug, der sich rückblickend natürlich leichter evaluieren lässt – durchaus von Erfahrungen der Marginalisierung im Zuge von Modernisierungsprozessen motiviert zu sein. Das ‚theologische Prinzip‘, das in diesem Zusammenhang entwickelt wird, ist dementsprechend auch nicht frei von problematischen Grundannahmen: So wird etwa die gesamte Kultur- und Religionsgeschichte von einem Wesensbegriff der Religion beurteilt, der letztlich auf einer spezifisch protestantisch geprägten religiösen Erfahrung beruht und diese absolut setzt.80 Schließlich stellen auch die völkisch anmutenden Elemente sowie manche politischen Visionen (Stichwort: Demokratie als Übergangserscheinung) problematische Punkte von Tillichs Programm dar, die im Folgenden bei der näheren Entfaltung zentraler Elemente – dem sinntheoretischen Religionsbegriff, der kulturtheologischen Methodik, und dem religiös-sozialistischen Kairosbegriff – allesamt im Blick behalten werden müssen.
Vgl. MURRMANN-KAHL, Theologisches Prinzip und Modernitätserfahrung, 145. Vgl. a.a.O., 149f.: „Die substantielle neue Einheitskultur, die projektierte Geistgemeinschaft, nimmt die Ausdifferenzierung sozialer Systeme faktisch in sich zurück. Tillichs sozialromantisches ‚theonomes‘ Gemeinschaftsideal verabschiedet, zu Ende gedacht, die moderne Gesellschaft in einer alles entdifferenzierenden Einheit. Modernitätserfahrung kippt in antimodernistischen Idealismus um.“ 80 Vgl. a.a.O., 144. 78 79
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2.3.1 Der sinntheoretische Religionsbegriff als Grundlage der Einheit Will man Tillichs Religionstheorie der frühen 1920er Jahre auf ihre zentralen Aspekte hin beleuchten, so lässt sich dies anhand von drei Punkten tun:81 Der Religionsbegriff, wie ihn Tillich im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch vom Spätjahr 1917 bis Sommer 1918 und im Anschluss daran entwickelt, impliziert, erstens, eine grundsätzliche Öffnung hin zur Kultur, die in der Formel ‚Theologie der Kultur‘ oder ‚Kulturtheologie‘ ihren Niederschlag findet. Zweitens stellt Tillich mittels der inhaltlichen Näherbestimmung über den Sinnbegriff eine Verschränkung von Religionsbegriff und alltäglich-existenzieller Lebensrelevanz her. Drittens wird mit der Forderung einer grundlegenden Unfixierbarkeit des Unbedingten ein Element der Kritik gegenüber jeder dauerhaften Vergegenständlichung in die Religionstheorie eingeflochten. Die drei Punkte sollen im Folgenden in Kürze erläutert werden, um im Anschluss den einheitsstiftenden Grundimpuls des neuen Religionsbegriffs noch einmal zu verdeutlichen. Die kulturelle Öffnung der Religion über ein isoliertes Phänomen hinaus, wie sie in der kurzen Analyse der Programmvorlesung bereits anklang, deutet sich schon im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch zu Kriegszeiten an: Dort berichtet Tillich, die Auseinandersetzung mit dem Rechtfertigungsgedanken habe ihn zur „Paradoxie des ‚Glaubens ohne Gott‘ getrieben“, eines Glaubens, den auch der Atheist glauben könne als eine „Ordnung oder Realität oder Tiefe, die noch über dem steht, was er als ‚Sein Gottes‘ verneint.“ Allerdings sei „[j]ene ‚Ordnung‘ […] natürlich nicht als ein Sein zu denken, was ein Circulus wäre, sondern als ‚Tiefe‘ oder ‚Sinn‘ etc.“82 Deutlich wird in diesen Worten, dass Tillich auf der Suche nach einer allgemeineren Fassung des Religionsbegriffs ist, der das Objektivationsproblem der Religion überwindet.83 Statt Gott als „Setzung eines gegenständlichen Denkens“84 zu verstehen und als solchen zum Objekt der Religion zu machen, richtet sich sein Fokus auf ein bei der subjektiven Erfahrung ansetzendes Verständnis von Religion als „reine Zuständlichkeit, [als] eine Färbung, ein Klang, eine Richtung, eine Form, ein Ausdruck, eine Seele jedes Erlebnisses“85, das erst in einem zweiten Schritt, im Vollzug der Deutung, Objektivation erfährt.86 Mit dieser Definition von Reli81 In seiner so präzisen wie pointierten Darstellung des sinntheoretischen Religionsbegriffs arbeitet Martin Fritz ebendiese drei Punkte als zentral heraus, vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 36–45, hier 45. Die folgenden Abschnitte lehnen sich an Fritz’ Darstellung an. 82 TILLICH, Paul Tillich – Emanuel Hirsch, in: EW VI, 95–218, hier 97. 83 Vgl. B ARTH, Religion und Sinn, 440–447. 84 TILLICH, Paul Tillich – Emanuel Hirsch, 97. 85 Ebd., 102. Hervorhebung durch die Vfin. 86 So schreibt Tillich an Hirsch im Dezember 1917: „Auf diesem innerlich und äußerlich universellen Boden, welcher der Skepsis unzugänglich ist, erhebt sich nun die objektive Religion. Nicht alle Erlebnisse enthalten ja faktisch die religiöse Bestimmtheit und jedes besondere Erlebnis drängt zur Deutung. Deutung ist aber Objektivierung. Und das Erlebnis
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gion, die an Georg Simmels „Stimmung der Seele“87 oder auch Friedrich Schleiermachers „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“88 erinnert, ist eine Ausweitung des Religiösen auf alle Bereiche des Lebens grundsätzlich möglich geworden.89 Dementsprechend erkennt Tillich jeder der sogenannten Kulturfunktionen – Intellekt beziehungsweise Logik, Ästhetik, Individualethik und Sozialethik – grundsätzlich die Möglichkeit zu, ‚religiös‘ zu sein, das heißt, in ihrem jeweiligen Bereich, sei es der Wissenschaft, der Kunst, der Ethik oder dem Recht, der Unbedingtheitsdimension der Wirklichkeit Ausdruck zu verleihen. Damit ist eine Trennung von Kultur und Religion obsolet geworden, bzw. die Religion fungiert nun vielmehr als integraler Bestandteil aller Kulturerscheinungen. Ihre wohl berühmteste Formulierung hat dieses Verständnis einer neuen Einheit von Religion und Kultur 1924 in dem Aufsatz „Kirche und Kultur“ gefunden: „[D]er tragende Gehalt der Kultur ist die Religion und die notwendige Form der Religion ist die Kultur.“90 tritt vermutlich nie ohne diese Deutung oder Objektivierung auf.“ DERS., Paul Tillich – Emanuel Hirsch, 102. Vgl. auch BARTH, Religion und Sinn, 440–447. 87 SIMMEL, G EORG, Die Religion (1906), Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 21912, 37. Vgl. auch FRITZ, Menschsein als Frage, 47, sowie für Tillichs Simmel-Rezeption STURM, ERDMANN, Selbstbewusstsein zwischen Dynamik und Selbst-Transzendenz des Lebens und unbedingter Realitätserfassung. Paul Tillichs kritische Rezeption der Religions- und Lebensphilosophie Georg Simmels, in: Christian Danz, Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs (Tillich-Studien 9), Wien: Lit Verlag 2004, 13–47. 88 SCHLEIERMACHER, FRIEDRICH, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern 1799/1806/1821, hg. v. Niklaus Peter/Frank Bestebreurtje/Anna Büsching, Zürich: Theologischer Verlag 2012, 47. 89 „Die Religion hat die Eigentümlichkeit, keiner besonderen psychischen Funktion zugeordnet zu sein; weder die Hegelsche Fassung, die die Religion dem Theoretischen, noch die Kantische, die sie dem Praktischen, noch die Schleiermachersche, die sie dem Gefühl zuweist, haben sich halten können. […] Die Religion ist kein Gefühl, sondern ein Verhalten des Geistes, in der Praktisches, Theoretisches und Gefühlsmäßiges in komplexer Einheit verbunden sind. Wenn wir nun – meiner Meinung nach die richtigste Systematisierung – die gesamten Kulturfunktionen scheiden in solche, durch die der Geist den Gegenstand in sich aufnimmt, intellektuelle und ästhetische, zusammengefaßt als theoretische im Sinne von Theorie, Anschauung, und in solche, durch die der Geist in den Gegenstand eingehen will, ihn nach sich gestalten, individual- und sozialethische (mit Einschluß von Recht und Gesellschaft), also praktische, so ergibt sich für die Religion, daß sie Aktualisierung nur finden kann in Beziehung auf ein theoretisches und praktisches Verhalten.“ TILLICH, Über die Idee einer Theologie der Kultur, 16f. 90 TILLICH, Kirche und Kultur (1924), in: MW II, 104–114, hier 110. Die Idee der Manifestation des Religiösen jenseits traditioneller Formen ist zu diesem Zeitpunkt nicht neu. Martin Fritz hat hier auf die Nähe zur romantischen Kunstreligion hingewiesen und deren Fortsetzung in Richard Wagners Konzept des Bühnenfestspiels sowie auf verschiedene Typen ästhetischer Religiosität zur Zeit Tillichs, etwa die Gedichte Rainer Maria Rilkes oder
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Mit einer solchen Charakterisierung der Religion als „Tiefendimension“91, so eine spätere Formulierung, hat Tillich seinen Religionsbegriff mit einer Weite und Offenheit jenseits aller spezifisch religiösen Traditionen und Institutionen versehen und die Notwendigkeit einer religiösen Sondersphäre grundsätzlich in Frage gestellt. Religion und Kultur werden hier auf neuartige Weise ineinander verschränkt. Problematisch an dieser Ausweitung der Religionsdefinition scheint jedoch – neben dem bereits angesprochenen Verweis auf die Verabsolutierung eines christlich-protestantischen Religionsbegriffs – dreierlei: Erstens droht die Gefahr einer religiösen Vereinnahmung der Kultur, die weder im Anspruch ihrer Eigenständigkeit noch dem einer eventuellen NichtReligiosität ernst genommen wird. Zweitens birgt eine derartige Ausweitung des Religionsbegriffs umgekehrt immer auch die Gefahr seiner völligen Entleerung. Schließlich scheint Tillichs Begriff mit erkenntnistheoretischen und ontologischen Annahmen verknüpft, die begründungspflichtig sind. Letztlich lässt sich eine Unbedingtheitsdimension der Welt eben nur unter Rückgriff auf ein wie auch immer geartetes Konzept von Offenbarung gründen, das jedoch seinen Status und die Anerkennung über theologische Grenzen hinaus fraglich macht – wie im Zusammenhang mit dem Sinnbegriff im Folgenden deutlich wird. Neben die grundsätzliche Weitung des Religionsbegriffs fällt in den frühen skizzenhaften Überlegungen des Hirsch-Briefwechsels bereits der zweite Kernbestand der neuen Religionstheorie, der Begriff des Sinns.92 Die inhaltliche Näherbestimmung der Kategorie des Unbedingten mittels des Sinnbegriffs findet sich bereits 1918 in der Formulierung: „Das Göttliche ist Sinn, nicht Sein, und es ist ‚anderer Sinn‘“93. Dabei wird der Sinnbegriff über eine zweifache Abgrenzung eingeführt: Zum einen wird die Bestimmung des Göttlichen als ‚Sinn‘ negativ gegenüber dem Begriff des Seins abgehoben. Damit schützt Stefan Georges, die auch Tillich immer wieder erwähnt. Neu ist, dass Tillich seine Kulturreligion mit einem wissenschaftstheoretischen Anspruch und einer Methodik verbindet (siehe II.2.3.2), vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 45f., weiterhin: BRAUNGART, WOLFGANG/FUCHS, GOTTHARD /KOCH, MANFRED (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. II: Um 1900, Paderborn u.a.: Schönigh 1998; OSTHÖVENER, CLAUS-DIETER, Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne, in: Andreas Kubik (Hg.), Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit. Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 133–152. Vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 46, Fn. 65. 91 Etwa TILLICH, Die verlorene Dimension (1958), in: GW V, 43–50, hier 44. 92 Zum sinntheoretischen Religionsbegriff vgl. auch B ARTH, U LRICH, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 89–123; DERS., Religion und Sinn, 431–451; DANZ, Religion als Freiheitsbewußtsein, besonders 300–311; sowie HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 179–268. 93 TILLICH, Paul Tillich – Emanuel Hirsch, 126. Vgl. zum Folgenden FRITZ, Menschsein als Frage, 36f.
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Tillich seinen Religionsbegriff gegen jede Form der Vergegenständlichung des Göttlichen als eines Seins neben anderem Seienden. Zum anderen wird das Göttliche als „anderer Sinn“ konkretisiert. Diese limitative Näherbestimmung des Sinnbegriffs verweist auf eine Differenz zwischen alltäglichem Sinnerleben und dem von Tillich postulierten dahinterliegenden Sinnzusammenhang: Während alltägliche Gedanken, Handlungen, geistige Schöpfungen, sowie Gemeinschaften durchaus Sinn haben können und dementsprechend als ‚sinnvoll‘, ‚sinnstiftend‘ etc. erfahren werden können, erschließt sich der dahinterliegende, der „andere Sinn“, nach Tillich erst, wenn der vordergründige, alltägliche Sinnzusammenhang ins Wanken gerät. Eine Irritation in alltäglichen Sinnvollzügen kann sich für das Subjekt schnell zu einem Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Gesamtgefüges, des eigenen Lebens oder der Welt im Ganzen ausweiten.94 Wozu das alles? – ist die Frage, die sich das Subjekt angesichts dieser sich auftuenden „Wüste der Sinnlosigkeit“95 dann stellt. Nach Tillich führt gerade diese Erfahrung von Sinnlosigkeit oder „Sinnleere“96 zu einem Umschlagen in die Affirmation von Sinn überhaupt. Erst in der Erkenntnis der Nichtigkeit jedes bedingten Einzelsinns wird für das Bewusstsein die darin vorgenommene Annahme eines unbedingten Sinns greifbar. Die einzelnen bedingten Sinnvollzüge werden dann wiederum als Realisierungen dieses unbedingten Sinns affirmierbar. Ein solcher Umschlagsmoment von der Sinnlosigkeit zum absoluten Sinn beruht jedoch nicht auf rational-logischer Argumentation, sondern ist letztlich eine unverfügbare Erfahrung – womit noch einmal die bereits erwähnte offenbarungstheologisch notwendige Rückbindung des Sinnbegriffs angesprochen ist. Die vielleicht größte Chance des Sinnbegriffs liegt aber, so folgert etwa Martin Fritz, darin, dass Tillich auf diesem Weg seiner Religionstheorie schon vor der Hinwendung zur Existenzphilosophie eine gewisse „existenzielle Vertiefung“97 mitgegeben hat, die Religion und alltägliche Lebensrelevanz miteinander verknüpft und damit eine Erklärbarkeit und Anschlussfähigkeit religiöser Belange an alltägliche Lebenserfahrungen zu geben vermag. Einen dritten Eckpfeiler der Tillich’schen Religionstheorie neben der kulturellen Weite und der existenziellen Tiefe bildet die Negation der dauerhaften Fixierbarkeit des Unbedingten, die sowohl im Sinnbegriff wie auch der kulturellen Öffnung bereits anklingen. Die Pointe, dass die Erfahrung unbedingter Sinnwirklichkeit für das Subjekt auf der Erfahrung radikaler Negation aller konkreten Sinnbezüge beruht, hat Tillich bereits 1919 in der Formel des ‚absoluten Paradoxes‘ zu fassen versucht (vgl. ausführlich II.2.4.3): Nur durch die
Vgl. a.a.O., 37. TILLICH, Rechtfertigung und Zweifel (1919), in: EW X, 127–230, 217. 96 TILLICH, Kirche und Kultur, 103. 97 FRITZ, Menschsein als Frage, 45. 94 95
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Negation, das ‚Nein‘ über alle endlichen Sinnvollzüge, wird das ‚Ja‘ unbedingten Sinnes erfahrbar. Das Konkrete, der Einzelsinn, wird damit qua negationis zum bloßen Medium für die Erfahrung unbedingten Sinnes. Mittels dieser dialektischen Bewegung von der Negation hin zur Affirmation versucht Tillich seinen Religionsbegriff vor jeder Form der Vergegenständlichung oder Fixierung auf eine konkrete Manifestation des Unbedingten, sei es „Luthertum oder Katholizismus, Papst oder Konzilien, Bibel oder historischer Jesus […], Christentum oder Monotheismus“98, zu schützen. Das Unbedingte, obwohl es endlicher Dinge zu seinem Ausdruck bedarf, lässt sich nicht auf einen endlichen Gegenstand oder eine endliche historische Gestalt festlegen. Vielmehr wird die Transzendenz des Göttlichen nur dann gewahrt, wenn allen gegenständlichen Fixierungen gegenüber, die das religiöse Subjekt immer wieder unternimmt, ein ‚Nein‘ ausgesprochen wird.99 Oder wie Tillich es in seinem Kulturvortrag formuliert: Es ist „durch die Dinge hindurch“, dass sich „uns jene Realität auf[zwingt], die das Nein und das Ja über die Dinge zugleich ist“.100 In allen drei geschilderten Aspekten der Religionstheorie – der kulturellen Weite, der Näherbestimmung durch den Sinnbegriff, sowie der Nichtfixierbarkeit des Unbedingten – lässt sich ein einheitsstiftender Grundimpuls feststellen: Bei der kulturellen Öffnung liegt dieser in der Überwindung der Separation von Religion und Kultur und der Bestimmung der Religion als integraler Tiefendimension der Kultur. Die inhaltliche Näherbestimmung der Religion über den Sinnbegriff ermöglicht eine Einheit von Religion und alltäglichen Lebensvollzügen. Die Unfixierbarkeit des Unbedingten knüpft an die kulturelle Öffnung an und zieht die gesamte Wirklichkeit als potenziell religiöse Sphäre in Erwägung. Der letzte Aspekt integriert zugleich ein dynamisches Element in Tillichs Religionstheorie, das alle im engeren Sinne religiösen Strukturen und Institutionen daraufhin befragt, inwieweit in ihnen der unbedingte Sinn (noch) anschaulich wird. Andersherum wird allen nicht im engeren Sinne religiösen Strukturen ein grundsätzliches ‚Mehr‘ zuerkannt. Tillichs Religionstheorie gewinnt damit ein dynamisches Element, einen prozesshaften Charakter, der für Transformationen des Religiösen in verschiedene Richtungen grundsätzlich offen ist. Der Preis für diese Offenheit liegt, wie bereits angesprochen, neben der Gefahr einer Entleerung des Religionsbegriffs in einem Maßstab, der dezidiert protestantisch geprägt ist und doch die religiöse Dimension im Allgemeinen aufzuspüren beansprucht. Darüber hinaus geschieht die Ausweitung des Religionsbegriffs um den Preis einer Aufgabe der Deutungshoheit der Kulturformen (Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft usw.) über ihre eigene Religiosität oder Nicht-Religiosität.
TILLICH, Rechtfertigung und Zweifel, 226. Vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 33. 100 TILLICH, Über die Idee einer Theologie der Kultur, 18. 98 99
2.3 Sinn, Kultur, Kairos
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2.3.2 Die ‚Theologie der Kultur‘ als Wissenschaft der Einheit Gebündelt finden sich die weitreichenden kulturanalytischen und wissenschaftstheoretischen Konsequenzen des neuen Religionsbegriffs erstmals in dem programmatischen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur aus dem Frühjahr 1919, der als Gründungsdokument von Tillichs sogenannter ‚Kulturtheologie‘ gelten kann.101 Tillich selbst weist in seinem Vortrag darauf hin, dass „kulturtheologische Aufgaben“102 von Kulturtheoretikern unterschiedlicher Fachrichtungen (Theologie, Philosophie, Literaturwissenschaft, Soziologie) schon „oft gestellt und gelöst worden“103 sind. Als Beispiel dient ihm der Verweis auf den Sozial- und Kulturphilosophen Georg Simmel. Allerdings besteht, so Tillich, der Mangel der bisher erfolgten Kulturanalysen darin, dass „die Aufgabe als solche […] nicht erfaßt und in ihrer systematischen Bedeutung erkannt worden“104 ist. Damit ist das Anliegen von Tillichs kulturtheologischen Überlegungen bereits umrissen: es geht ihm um eine wissenschaftstheoretische Metareflexion zur Aufgabe der Theologie inklusive methodologischer Überlegungen zu einer geeigneten Verfahrensweise. Die Fragen lauten also: Was ist die Aufgabe einer ‚Theologie der Kultur‘ im Kontext des modernen Wissenschaftssystems, und wie ist sie methodisch durchzuführen? Beide Fragen werden von Tillich im Kulturvortrag bereits in Grundzügen ausgeführt. Eine ausführlichere Behandlung wird Tillich bezüglich der ersten Frage mit seinem System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden im Jahr 1923 nachliefern (vgl. II.3.3.2). Die konkrete Durchführung kulturtheologischer Analysen findet sich neben dem Kulturvortrag auch in der Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart von 1919 – hier vor allem als Analyse der
101 Vgl. STURM, Die Genese von Tillichs Kulturtheologie, 64. Für die werkgeschichtliche Herkunft der Kulturtheologie vgl. auch NEUGEBAUER, GEORG, Die geistphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs vor dem Hintergrund seiner Schelling- und Husserlrezeption, in: Danz/Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur, 38–63; HAIGIS, PETER, Tillichs Programm einer Theologie der Kultur, in: a.a.O., 128–151; BARTH, ULRICH, Protestantismus und Kultur. Systematische und werkbiographische Erwägungen zum Denken Paul Tillichs, in: a.a.O., 13–37. 102 TILLICH, Über die Idee einer Theologie der Kultur, 22. 103 Ebd. 104 So schreibt Tillich: „Man hat nicht gesehen, daß es sich hier um eine Kultursynthese von eminenter Bedeutung handelt, eine Synthese, die nicht nur die verschiedenen Kulturfunktionen zusammenfaßt, sondern auch den kulturzerstörenden Widerspruch von Religion und Kultur überwindet durch den Entwurf eines religiösen Kultursystems, in dem an Stelle des Gegensatzes von Wissenschaft und Religion eine an sich religiöse Wissenschaft, an Stelle der Unterscheidung von Kunst und Kultform eine an sich religiöse Kunst, an Stelle des Dualismus von Staat und Kirche eine an sich religiöse Staatsform usw. tritt. Erst in dieser Weite des Zieles ist die kulturtheologische Aufgabe erfaßt.“ Ebd.
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gegenwärtigen politischen Strömungen in Deutschland – sowie umfassender 1926 in Die religiöse Lage der Gegenwart.105 Im Kulturvortrag selbst beschreibt Tillich die Aufgabe der Theologie als „konkret-normative Religionswissenschaft“ in der Ausarbeitung eines „normative[n] Religionssystems“.106 Ein solches Religionssystem soll die Theologie mit Hilfe eines Dreischrittes erarbeiten: Zunächst ist dafür die allgemein religiöse Analyse aller Kulturgebiete zu vollziehen, aber „nicht vom Standpunkt der Form her; das wäre Aufgabe der betreffenden Kulturwissenschaft selbst, sondern vom Gehalt her“. Es soll also darum gehen, die „konkreten religiösen Erlebnisse“ in allen Kulturschöpfungen herauszuarbeiten und „zur Darstellung zu bringen“.107 Der zweite Schritt liegt in einer geschichtsphilosophischen und typologisierenden Einordnung des analysierten Materials. Dabei soll das im ersten Schritt aufgespürte Material auf einer Skala zwischen Formorientierung bzw. profaner Kultur und Gehaltorientierung bzw. (im weiteren Sinne) religiöser, ‚heiliger‘ Kultur eingeordnet werden. Den im letzten Abschnitt behandelten Expressionismus etwa ordnet Tillich in diesem Schritt in Richtung Gehaltorientierung ein. Im dritten Schritt wird schließlich das Ideal einer religiös erfüllten Kultur entworfen. Dies bedeutet aber gerade nicht, eine solche Kultur selbst zu schaffen, denn die Kulturtheologin oder der Kulturtheologe ist selbst nicht genuin schöpferisch tätig. Vielmehr sieht Tillich die Aufgabe der Kulturtheologie darin gestellt, zum einen bestehende Kulturschöpfungen anhand ihrer Verortung auf der Skala entweder zu kritisieren oder zu affirmieren, und zum anderen die Forderung nach einer Erfüllung der Kultur mit religiösem Gehalt auszusprechen.108 Dabei wird eine Kultur als Ideal aufgestellt, in der ein Vgl. TILLICH, Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), in: GW X, 9–93. TILLICH, Über die Idee einer Theologie der Kultur, 14f. Als „konkret-normative Religionswissenschaft“ ist die Theologie Teil der nicht-empirischen Kulturwissenschaft. Die nicht-empirische Kulturwissenschaft gliedert sich nach Tillich in drei Formen, die Kulturphilosophie, die Geschichtsphilosophie und die normative Kulturwissenschaft. Während erstere die „sich auf die allgemeinen Formen, das a priori aller Kultur, richtet“, also die Frage nach der Definition von Kultur stellt, befasst sich zweite, die Geschichtsphilosophie, mit dem Erscheinen dieser allgemeinen Formen im konkret-zeitlichen Verlauf. Die normative Kulturwissenschaft als dritte Form bringt „den konkreten Standpunkt zu systematischem Ausdruck“, ist also mit der systematischen Darstellung dessen, was zu einem konkreten Zeitpunkt zu gelten hat, betraut. Die Theologie ist jene dritte Form bezogen auf das Religiöse und erarbeitet ihr „normatives Religionssystem“ also „von einem konkreten Standpunkt aus auf Grund der religionsphilosophischen Kategorien und unter Einbettung des individuellen Standpunktes in den konfessionellen und den allgemein religionsgeschichtlichen und den geistesgeschichtlichen überhaupt“. 107 A.a.O., 19. 108 Vgl. TILLICH, Über die Idee einer Theologie der Kultur, 21: „Er kann auch über das vorhandene Material hinausgehen, aber nur in Forderung, nicht in Erfüllung; er kann der vorhandenen Kultur vorwerfen, daß er in ihren Schöpfungen nichts finde, was er als Ausdruck des in ihm lebendigen Gehalts anerkennen könnte; er kann ganz im allgemeinen die 105 106
2.3 Sinn, Kultur, Kairos
147
„einheitlicher Gehalt, eine unmittelbare geistige Substanz die gesamte Kulturbewegung erfüllt und sie dadurch zum Ausdruck eines allumfassenden religiösen Geistes macht“.109 Erneut ist hier anzumerken, dass der Dreischritt als kulturtheologische Durchführung von Tillichs theologischem Prinzip (mit den drei Momenten absolut, relativ und ideal) auf der Universalisierung eines spezifisch protestantischen Religionsbegriffs beruht, der letztlich die „spezifisch religiöse Erfahrung der Rechtfertigung des Sünders universalisiert.“110 Dementsprechend ergibt sich aus dem geschilderten Dreischritt für Tillich auch die „universale Bedeutung“111 des Kulturtheologen: Fern von jeder Beschränkung auf ein bestimmtes Gebiet kann er vom Gehalt her die übergreifende Einheit der Kulturfunktionen zum Ausdruck bringen, er kann die Beziehungen zeigen, die von einer Erscheinung der Kultur zur anderen führen, durch die substantielle Einheit des in ihnen zum Ausdruck gebrachten Gehaltes; er kann dadurch die Einheit der Kultur vom Gehalt her in der gleichen Weise verwirklichen helfen, wie es der Philosoph von den reinen Formen, den Kategorien her tut.112
Das Ziel einer ‚Theologie der Kultur‘ besteht diesen Worten nach also darin, den religiösen Gehalt der Kultur als einheitsstiftendes Band zwischen den unterschiedlichen Kulturgebieten (Wissenschaft, Kunst, Recht, etc.) aufzuzeigen. Aus diesem Grund ist das Gegenstandsgebiet der Theologie eben auch nicht auf protestantische oder christliche Vorstellungen, Praktiken oder Institutionen beschränkt. Vielmehr weitet sich ihr Gegenstandsbereich auf alle Geisteswissenschaften aus. Ihr Beitrag besteht dabei aber, so versichert Tillich, gerade nicht in einer Einmischung in andere Wissenschaftsbereiche oder -aufgaben. So bleiben etwa die „reinen Formen“, also Wesensfragen, Aufgabe der Philosophie. Die Theologie hingegen spürt das religiöse Moment, die Unbedingtheitsdimension in den einzelnen Kulturschöpfungen auf, die zugleich das verbindende Element zwischen den vordergründig getrennten Kulturbereichen darstellt. Sie ist damit als Wissenschaft für die theoretische Erkenntnis der Einheit des Getrennten zuständig. Dementsprechend lässt sich die Aufgabe einer ‚Theologie‘ der Kultur, wie sie sich im Kulturvortrag von 1919 skizziert findet, folgendermaßen zusammenfassen: Auf Grundlage des neuen Religionsbegriffs, der das Religiöse zu allen Gebieten der Kultur hin öffnet, verfolgt die Theologie als nicht-empirische Kulturwissenschaft das Ziel, die religiöse Tiefenschicht der verschiedenen Kulturschöpfungen aufzuzeigen. Dabei liegt das Motiv dieser Aufspürung
Richtung zeigen, in der er die Erfüllung eines wahrhaft religiösen Kultursystems sieht, aber er kann das System nicht selber schaffen.“ 109 A.a.O., 29. 110 M URRMANN-K AHL, Theologisches Prinzip und Modernitätserfahrung, 144. 111 TILLICH, Über die Idee einer Theologie der Kultur, 22. 112 Ebd.
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des Religiösen nicht im Bereich einer deskriptiven Analyse. Vielmehr ist Tillich daran gelegen, das Unbedingtheitsmoment als verborgene Einheit der vordergründig zersplitterten Kulturbereiche freizulegen. Anhand dieser Aufgabenstellung lässt sich die Funktion von Theologie dann auch noch zweifach erweitern: Neben der Freilegung der Einheitsdimension aller Kultur liegt ein zweites Aufgabenfeld der Theologie in der Kritik. Diese Kritik vollzieht sich einerseits im Modus der Bejahung all derjenigen Kulturbereiche, die ihre religiöse Tiefendimension zum Ausdruck bringen und, andererseits, im Modus der Verneinung der profanen Kultur gegenüber, die ihre eigene Unbedingtheitsdimension verneint. Daran anschließend stellt sich natürlich die Anfrage, ob damit die Unterlassung einer Einmischung in andere Bereiche, die Tillich verspricht, wirklich stattfindet. Aus der negativen Kritik ergibt sich sodann auch das dritte Aufgabenfeld einer Theologie, die auf Einheit zielt, nämlich die Formulierung eines Kulturideals, in dem sich Formorientierung und Gehaltorientierung im Gleichgewicht halten, also die Autonomie der Kultur und die Transparenz der Unbedingtheitsdimension gleichermaßen verwirklicht sind. Theologie als Einheitswissenschaft, das heißt 1919 also: Die Einheit hinter den Kulturschöpfungen der Gegenwart aufzeigen, die Kulturschöpfungen auf Basis des Einheitsgedankens einer Kritik unterziehen, und idealbildend Maßstäbe für die Vervollkommnung einer Einheitskultur in der Zukunft formulieren. 2.3.3 Der Kairos als die (Un-)Verfügbarkeit der Einheit Tillich knüpft seine Vision einer Kultursynthese Anfang der 1920er Jahre eng an das geschichtsphilosophische Konzept des ‚Kairos‘: Kairos ist der epocheschaffende Zeitmoment, in dem ein autonom gelöstes Zeitalter aus drohender oder vollendeter Anomie sich der Theonomie, der neuen Erfüllung mit unmittelbarem Gehalt des Unbedingten zuwendet.113
Tillich verwendet hier ein Konzept, das sich Anfang der 1920er Jahre allgemein großer Beliebtheit erfreut,114 um den Moment einer ‚erfüllten Zeit‘115 zu
TILLICH, Kairos (1922), in: MW IV, 53–72, hier 68. Vgl. CHRISTOPHERSEN, ALF, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, 3f.; GOUNELLE, ANDRÉ, Le kairos chez Tillich, in: Marc Dumas/Martin Leiner/Jean Richard (Hg.), Paul Tillich – interprète de l'histoire (Forum Religionsphilosophie 31), Münster u.a.: Lit Verlag 2013, 49–62. Für eine Analyse des Kairosbegriffs zwischen 1918 und 1968 unter Berücksichtigung von Paul Tillich, Walter Benjamin, Immanuel Wallerstein und Giogio Agamben vgl. NEUPERT-DOPPLER, ALEXANDER, Die Gelegenheit ergreifen (Kritik und Utopie). Eine politische Philosophie des Kairos, Wien/Berlin: Mandelbaum 2020. 115 Tillich selbst weist an diesem Punkt auf die sprachliche Differenz des Griechischen hin, das zwischen Χρόνος/Chronos, der linearen Zeit, und Καιρός/Kairos, der „rechte[n] Zeit“ unterscheidet, vgl. TILLICH, Kairos, 53f. Zur Begriffsgeschichte vgl. auch KERKHOFF, 113 114
2.3 Sinn, Kultur, Kairos
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kennzeichnen, in der (s)eine Epoche der Entleerung sich erneut dem Unbedingten zuwendet. So spricht er davon, „daß gegenwärtig ein Kairos, ein epochaler Moment sichtbar ist.“116 Schon in seiner Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart 1919 hatte Tillich – noch ohne Erwähnung des Kairosbegriffs, der erst 1922 eingeführt wird – davon gesprochen, „vor einer Wende der Zeiten zu stehen, wie [sie] seit der Reformation oder seit dem Sieg des Christentums über die germanischen Völker nicht mehr dagewesen ist.“117 Dabei verbindet sich Tillichs Wahrnehmung der Epochenwende mit seiner Vision einer sozialistischen Gesellschaft. So deutet er den Sozialismus, genauer, den Religiösen Sozialismus als die „stärkste kairosbewußte Bewegung der gegenwärtigen Zeit“118, in der Elemente der absoluten und relativen Geschichtsphilosophien verbunden sind und die gleichzeitig durch eine Kritik „vom Unbedingten her“119 erweitert wird.120 Eine solche Idealform des Religi-
MANFRED, Art. Kairos I., in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 4 (1976), 667f.; AMELUNG, EBERHARD, Art. Kairos II., in: a.a.O., 668f.; KINNEAVY, JAMES L./ESKIN, CATHERINE R., Art. Kairos, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4 (1998), 836–844; sowie SCHAFFNER, BRIGITTE, Art. Kairos, in: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike 6 (1999), 138f. Für die zeitgeschichtlichen Hintergründe vgl. neben CHRISTOPHERSEN, Kairos auch TANNER, KLAUS, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989, besonders 68–78. 116 TILLICH, Kairos, 69. 117 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 81. Vgl. II.2.3. 118 TILLICH, Kairos, 69. 119 Ebd. 120 Die „absolute Geschichtsphilosophie“ tritt nach Tillich in zwei Grundformen auf, einer revolutionär-absoluten Auffassung, die das Ende der Zeit nahe herbeigekommen sieht, ein absolutes Nein über alles Vergangene und ein absolutes Ja über die Zukunft spricht (vgl. etwa die biblische Naherwartung). In ihrer konservativen Abwandlung wird die Spannung von ‚Nein‘ und ‚Ja‘ als Kampf zwischen zwei Gewalten in der Geschichte ausgetragen. Gleichwohl wird das entscheidende Ereignis als bereits stattgefunden gedacht und bestimmte Institutionen/Strukturen als Repräsentanz der siegreichen Seite gedacht (vgl. etwa Augustins Kirchenbegriff). Wirklich Neues in der Geschichte kann sich nicht mehr ereignen. Ein dritter Typus ist die indifferente Form, die als ‚Theologie der Krisis‘ etwa in der Dialektischen Theologie hervortritt. Hier wird über die Geschichte ein reines ‚Nein‘ gesprochen und der Kairos als jederzeit gegeben, als konstantes Moment der Geschichte gedacht (mit Ausnahme des übergeschichtlichen Moments Jesus Christus). Im Gegenteil zu den „absoluten Geschichtsphilosophien“, propagieren andere („relative“) Geschichtsphilosophien nach Tillich die Relativität aller geschichtlichen Ereignisse, die jedoch zugleich in ihrer Fülle und Vielfalt erst bejaht und gewürdigt werden. Relative Geschichtsphilosophien existieren nach Tillich in den drei Grundformen der klassischen (Leibniz, Goethe, Ranke), der fortschrittlich-relativen (Urchristentum) und der dialektischen Form (Hegel), vgl. TILLICH, Kairos, v.a. 53–60.
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
ösen Sozialismus, die mit den real-existenten Formen zu Tillichs Zeiten tatsächlich wenig zu tun hatte,121 schwebt Tillich bereits in seinem Kulturvortrag von 1919 vor, wenn von der „neue[n] Einheit, die sich auf sozialistischem Boden erheben“122 wird, die Rede ist.123 Tillichs sozialistisches Ideal wirft die Frage auf, die in den bisherigen Ausführungen schon einige Male anklang: Kann für das Eintreten eines Kairosmoments gearbeitet werden? Lässt sich ein Kairos herbeiführen? Oder ereignet er sich ohne eigenes Zutun, ist er ein Moment der Gnade? Tillichs Aussagen bezüglich dieser Frage changieren: Auf der einen Seite spricht er von einer „weltgeschichtliche[n] und damit unwiederholbare[n] und unersetzliche[n] einmalige[n] Entscheidung für und wider das Unbedingte“124, die im Moment des Zum Religiösen Sozialismus in Deutschland vgl. HEIMANN, SIEGFRIED/WALTER, FRANZ, Religiöse Sozialisten und Freidenker in der Weimarer Republik. Solidargemeinschaft und Milieu, Bonn: Dietz 1993; BREIPOHL, RENATE, Religiöser Sozialismus und bürgerliches Geschichtsbewußtsein zur Zeit der Weimarer Republik, Zürich: Theologischer Verlag 1971; NOWAK, KURT, Gottesreich – Geschichte – Politik. Probleme politisch-theologischer Theoriebildung im Protestantismus der Weimarer Republik. Religiöse Sozialisten – Deutsche Christen im Kritischen Vergleich, in: Pastoraltheologie 77 (1988), 78–97. Zu Tillich und dem Religiösen Sozialismus vgl. BAVAJ, RICCARDO, Von den „Gesellschaftsproblemen der Gegenwart“ zur „Sozialistischen Entscheidung“: Paul Tillichs politisches Denken in der Weimarer Republik“, in: Kirchliche Zeitgeschichte 20/1 (2007), 97–127. 122 TILLICH, Über die Idee einer Theologie der Kultur, 31. 123 Tillichs eigene Hinwendung zum (Religiösen) Sozialismus vollzieht sich bereits zu Kriegszeiten. Im September 1919 berichtet er in einem Rundbrief an die Freunde, er habe im Sommer 1918 den Krieg als die „notwendige Konsequenz einer bestimmten Gesellschaftsordnung und bestimmten, damit verknüpften Ideen“ gedeutet. Zugleich erwähnt er die mit dieser Deutung einhergehende „starke, zornige Willensbewegung gegen die so aufgebaute Gesellschaft.“ Die Revolution im Spätjahr 1918 macht für Tillich die eigene Stellungnahme unumgänglich und so berichtet er in seinem Rundschreiben, dass er „theoretisch und praktisch für eine neue sozialistisch aufgebaute Gesellschaftsordnung Stellung genommen“ habe, in: EW V, 142–145. Als prägend für Tillichs sozialistische Positionierung, wenngleich im Modus der Abgrenzung, kann die Schweizerische religiös-soziale Bewegung gelten, insbesondere Karl Barths sogenannter Tambacher Vortrag Der Christ in der Gesellschaft vom September 1919. Als Reaktion auf Barths Betonung der Negation alles Bedingten formuliert Tillich im November 1919 vor dem sich neu formierten „Berliner Kreis der religiösen Sozialisten“ Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung und bringt darin das Paradox als Doppelstruktur von ‚Nein‘ und ‚Ja‘ als grundlegende Struktur religiöser Erfahrung zur Geltung. Der Berliner Kreis formierte sich im November 1919. Ihm gehörten als führender Kopf Paul Tillich, des Weiteren Carl Mennicke, die Volkswirtschaftler Adolf Löwe, Eduard Heimann, Arnold Wolfers und Alexander Rüstow an. Publikationsorgan waren die Blätter für den religiösen Sozialismus (1920–27), in denen auch Tillich viele seiner sozialistischen Schriften veröffentlichte, vgl. SCHÜßLER/STURM, Paul Tillich, 98. 124 TILLICH, Kairos, 67. Hervorhebung durch Vfin. An dieser Stelle identifiziert Tillich auch jeden Kairos mit dem universalen Kairos, der sich einmalig in Jesus Christus manifestiert hat. Allerdings, so Tillich, kann diese Identifikation „verhüllt“ sein. 121
2.3 Sinn, Kultur, Kairos
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Kairos stattfindet. Damit suggeriert er verschiedene Optionen, eine Wahl, die auf Seiten der bedingten Welt besteht. Diese Wahl besteht in der Option der „Richtung des Bedingten auf das Unbedingte, in der Hinwendung oder Abwendung“125 Hier klingt es, als ob die Haltung des Bedingten, seine Hinwendung, Voraussetzung für das Eintreten des Kairos wäre, wohingegen eine Abwendung den Kairos verhindere. So spricht Tillich andernorts auch von Konstellationen, die ein Eintreten des Kairos „hemm[en]“.126 Auf der anderen Seite jedoch finden sich auch Aussagen, die den Durchbruch des Unbedingten, die Erfüllung der Kulturformen mit Gehalt oder die Theonomie, gerade nicht als „Sache des Arbeitens“, sondern als „Schicksal und Gnade“127 definieren. Auch finden sich solche Aussagen, die gerade das Moment einer Entscheidung, der Wahl, schon als Zeichen für das Nicht-Vorhandensein eines Kairosmoments interpretieren.128 Und drittens finden sich Indizien, dass Tillich sich einmal mehr in einem ‚Dazwischen‘ verortet: Das Moment des Kairos, so formuliert er, ist „Tat und Freiheit, wie es zugleich Gnade und Schicksal ist.“129 Was aber bedeutet eine solch changierende Verortung zwischen Unverfügbarkeit und Verfügbarmachung des Kairosmoments am Umschlagpunkt von Anomie zu Theonomie? Tillich, so scheint es, setzt auf der einen Seite durchaus voraus, dass es einer gewissen Offenheit, einer Entscheidung zum SichÖffnen für die Unbedingtheitsdimension der Wirklichkeit bedarf, und das Fehlen solcher Offenheit religiöse Erfahrung schlicht verunmöglicht. Dies leuchtet ein, wenn man sich etwa vorstellt, an die Betrachtung eines Kunstwerks mit der Einstellung heranzugehen, dass es schlichtweg unsinnig sei, darin etwas anderes zu sehen als das äußerlich Dargestellte. Eine solch abwehrende Haltung wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein Unbedingtheitserlebnis im Angesicht des Kunstwerks ausschließen. Gleichwohl bedeutet das Geöffnet-Sein für einen Kairos, für Unbedingtheitsmomente, eben auch nicht, dass sich diese auf Knopfdruck ereignen oder gar in irgendeiner Weise erzwingen lassen. Die Haltung, die Tillich, so scheint es, hier anvisiert, ist die eines produktiven, gespannten Wartens, oder anders formuliert, der antizipierenden Erwartung, die bereit ist, zuzugreifen, zu entscheiden, wenn der Kairos sich ereignet.130 A.a.O., 63. A.a.O., 71. 127 So etwa in TILLICH, Grundlinien des religiösen Sozialismus. Ein systematischer Entwurf (1923), in: GW VII, 91–119, 117. 128 TILLICH, Kairos, 66: „Bleibt dann nicht immer noch die Wahl, also ein letztes alles relativierendes Element? Darauf ist zu antworten, daß es in Wahrheit keine Wahl gibt. Denn die theonome Lage ist ihrem Wesen nach eindeutig bestimmt; wo eine Wahl möglich ist, da ist schon keine theonome, sondern eine autonome Geisteslage, und zwar eine solche, die unter der Krisis steht und darum nur einen Ausweg offen läßt, den zur neuen Theonomie.“ 129 A.a.O., 69. 130 Ganz ähnlich formuliert Siegfried Kracauer in seinem Essay Die Wartenden von 1922 die Position der religiös Unsicheren als die des Wartens, hier als „zögerndes Geöffnetsein“. 125 126
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
Allerdings oszilliert der Kairos auch dann, wenn er eintritt, immer zwischen Gegebenheit und Entzogenheit: Die Botschaft [vom Kairos, Anm. Vfin.] ist immer ein Irrtum; denn sie sieht das in unmittelbarer Nähe, was ideal betrachtet nie Wirklichkeit wird, real betrachtet sich in langen Zeiträumen erfüllt und oft erst nach langen Zeiträumen offenbar wird. Und die Botschaft vom Kairos ist nie ein Irrtum; denn wo sie als Botschaft vom Unbedingten her verkündigt wird, da ist der Kairos schon da; es ist nicht möglich, daß er verkündigt wird, ohne schon im Keime da zu sein.131
Klar an dieser Stelle ist, dass Tillich seinen ‚Kairos‘ in den frühen 1920er Jahren als Schwebe zwischen präsentischer und futurischer Eschatologie konzipiert. In dieser Mischung aus Unverfügbarkeit und Fragmentarizität fließt das kairologische Konzept auch in spätere soteriologische Figuren mit ein, etwa in die Überwindung der Zweideutigkeiten des Lebens durch den Heiligen Geist, wie sie in der Systematischen Theologie vorliegt (vgl. II.5.4).132 An diesem Punkt jedoch bleibt festzuhalten, dass der Kairosbegriff Anfang der 1920er die Vision der neuen Einheit ergänzt um einen geschichtsphilosphischen Grundbegriff, der seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zur erwartungsvollen Offenheit gegenüber dem „Wehen einer neuen Zeit“133 aufruft und damit den Boden für Erfahrungen der neuen Einheit bereiten soll. Zugleich wird die theonome Einheit über den Kairosbegriff mit der Vorstellung der Unverfügbarkeit verknüpft. Die Erfüllung der Einheit trägt also auch hier schon eschatologische Züge.
KRACAUER, SIEGFRIED, Die Wartenden, in: Ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1977, 106–119, hier 119. Es ist aber hier natürlich auch an Schleiermachers „lebendige Empfänglichkeit“ zu denken, vgl. zu dieser Figur grundlegend SCHMIDTKE, SABINE, Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als soteriologische Schlüsselfigur der ‚Glaubenslehre‘ (Dogmatik in der Moderne 11), Tübingen: Mohr Siebeck 2015. 131 A.a.O., 71f. 132 So heißt es in der Systematischen Theologie: „Da die Menschheit von Gott niemals alleingelassen ist, sondern ständig unter dem Einfluß des göttlichen Geistes steht, ist zu allen Zeiten Neues Sein in der Geschichte. Immer und überall ist Partizipation an der transzendenten Einheit unzweideutigen Lebens vorhanden. Aber diese Partizipation ist ‚fragmentarisch‘. Wir müssen diesem Begriff unsere Aufmerksamkeit zuwenden, denn er bedeutet etwas ganz anderes als Zweideutigkeit. Wenn wir von der Gegenwart des göttlichen Geistes oder vom Neuen Sein oder von der agape sprechen, so meinen wir etwas Unzweideutiges. Es kann zwar in die Zweideutigkeit des Lebens hineingezogen werden, besonders in der Dimension des Geistes, aber an sich ist es unzweideutig. Doch ist es in seiner Manifestation in Raum und Zeit ‚fragmentarisch‘. (Die vollendete transzendente Einheit ist ein eschatologischer Begriff.). Fragmentarische Verwirklichung hat den Charakter der Antizipation […]“, TILLICH, Systematische Theologie III, 166f. 133 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 81.
2.4 Erste Anbahnungen der Zweideutigkeit
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Die Einheitsvision, die Tillich in seinen Vorlesungen und Texten der frühen Nachkriegszeit mit prophetischem Gestus zeichnet, lässt sich damit folgendermaßen zusammenfassen: Den Zersplitterungstendenzen einer rationalistischkritischen Moderne setzt Tillich auf Grundlage seines sinntheoretischen Religionsbegriffs eine programmatische Einheitsvision von Kultur und Religion, Kirche und Gesellschaft, Wissenschaft und Staat entgegen. Dabei kommt der Theologie im Kontext der Wissenschaften die Aufgabe zu, den religiösen Gehalt als das ‚einende Band‘ hinter allen Kulturerscheinungen aufzuspüren und zum Ausdruck zu bringen. Mit dem Plädoyer für die Einheit als Hintergrundfigur für alle vordergründig noch so gebrochen, zersplittert und voneinander entfremdet wirkenden Teilbereiche der Gesellschaft hat Tillich zugleich einen zentralen Topos seiner Theologie formuliert: die Vorstellung einer letztendlichen Versöhnung.134 Welche Strukturen innerhalb dieser Konstellation deuten aber nun auf eine Einführung des Begriffs der Zweideutigkeit hin? Bildet die ‚Zweideutigkeit‘ einen integralen Bestandteil der theologischen Einheitsvision? Oder geht mit ihr eine Modifikation dieser Vision einher? Diesen Fragen gilt es nun nachzugehen.
2.4 Erste Anbahnungen der Zweideutigkeit 2.4 Erste Anbahnungen der Zweideutigkeit
In den Jahren bis 1925 finden sich bei Tillich zunächst auffällig wenige Belege der Termini ‚Zweideutigkeit‘/‚zweideutig‘, allzumal wenn man bedenkt, mit welcher verschwenderischen Großzügigkeit die Begriffe in der Dresdener Dogmatik auf einmal eingestreut werden (vgl. II.3). Gleichwohl finden sich einige Stellen, an denen der Zweideutigkeitsbegriff schon vorher fällt. Im Folgenden wird diesen frühen Belegen nachgegangen (vgl. II.2.4.2). Gerahmt ist diese Analyse früher Belege von der Sichtung möglicher Inspirationsquellen für die Verwendung des Zweideutigkeitsbegriffs bei Tillich auf der einen Seite (vgl. II.2.4.1) sowie – ausgehend von den frühen Belegen – von der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Paradoxstrukturen und der Zweideutigkeit auf der anderen Seite (vgl. II.2.4.3). 2.4.1 Zweideutige Zeiten. Die Frage nach der Begriffsherkunft Beginnt man im Umfeld Tillichs nach möglichen Inspirationsquellen für die Verwendung des Zweideutigkeitsbegriffs zu suchen, lassen sich verschiedene mögliche Anknüpfungspunkte benennen. Mit Blick auf die im ersten Teil dieser Arbeit verhandelten Kontexte lässt sich gar behaupten, dass die Kategorie 134 Vgl. dazu auch G RAF, Old harmony, 343–380. Vgl. auch M ATERN, H ARALD, Versöhnte Gebrochenheit. Eschatologische Präsenz bei Paul Tillich, in: Christian Danz u.a. (Hg.), Brokenness and Reconciliation (International Yearbook for Tillich Research 14), Berlin/Boston: De Gruyter 2020, 1–21.
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
des Ambigen, aber auch der Terminus der ‚Zweideutigkeit‘ im ersten Drittel des vergangenen Jahrhunderts gewissermaßen ‚in der Luft‘ lag (vgl. insbesondere I.1.2 und I.1.3). Dies gilt allzumal in Tillichs intellektuellem Dunstkreis – man denke etwa an Georg Simmel, Martin Heidegger135 oder Max Scheler136. So lässt sich, um ein Beispiel herauszugreifen, bei dem Kultursoziologen Georg Simmel, den Tillich bereits in seinen Kriegsbriefen an Emanuel Hirsch im Jahr 1918 erwähnt und später intensiv rezipiert,137 eine ausführliche Beschreibung der „Zweideutigkeit des Lebens“ finden, zum Beispiel in dessen Essay Venedig von 1907. Der Essay bildet den dritten Teil einer Trilogie von italienischen Stadtbetrachtungen, in denen sich Simmel mit den italienischen Kunststädten Rom (1898), Florenz (1907) und Venedig (1907) befasst.138 Das Hauptcharakteristikum von Venedig nach Simmel ist dessen zweideutiger Charakter, den er anhand des Stadtbilds ausführlich beschreibt:139 Nur wo ein Schein, dem niemals ein Sein entsprochen hat und dem selbst das ihm entgegengerichtete weggestorben ist – nur wo dieser ein Leben und eine Ganzheit zu bieten vorgibt, da ist er die Lüge schlechthin, und die Zweideutigkeit des Lebens ist zu ihm wie zu ihrem Körper zusammengeronnen. Zweideutig ist der Charakter dieser Plätze, die mit ihrer Wagenlosigkeit, ihrer engen, symmetrischen Umschlossenheit den Anschein von Zimmern annehmen, zweideutig in den engen Gassen das unausweichliche Sich-Zusammendrängen und Sich-Berühren der Menschen, das den Schein einer Vertrautheit und ‚Gemütlichkeit‘ diesem Leben gibt, dem jede Spur von Gemüt fehlt; zweideutig das Doppelleben der Stadt, einmal als der Zusammenhang der Gassen, das andere Mal als der Zusammenhang der Kanäle, so
Vgl. etwa die Ausführungen Heideggers zur ‚Zweideutigkeit‘ des (Nicht-)Verstehens als einem Aspekt des alltäglichen Seins des Da und der Verfallenheit des Daseins (§37: Die Zweideutigkeit): „Alles sieht so aus wie echt verstanden, ergriffen und gesprochen und ist es im Grunde doch nicht, oder es sieht nicht so aus und ist es im Grunde doch“. Die (unintentionale) Zweideutigkeit ist hier auf den Bereich der Kommunikation und des menschlichen Miteinanders bezogen als struktureller Bestandteil des „geworfenen Miteinandersein[s] in einer Welt“, HEIDEGGER, Sein und Zeit, 173–175, hier 173. Hervorhebung im Original. Vgl. auch I.1.1. 136 Vgl. die Rede von der „tückische[n] Zweideutigkeit [von Wort und Begriff des Menschen, Anm. Vfin.], ohne deren Durchschauung man die Frage der Sonderstellung des Menschen gar nicht angreifen kann“, SCHELER, MAX, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), hg. v. Wolfhart Henckmann, Hamburg: Felix Meiner 2018, 8. 137 Vgl. Tillichs Anmerkung zu Simmels Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch in TILLICH, Tillich–Hirsch, 97. Für den Einfluss Simmels auf Tillichs Lebensphilosophie vgl. STURM, Selbstbewusstsein zwischen Dynamik und Selbst-Transzendenz des Lebens und unbedingter Realitätserfassung, 13–47. 138 Vgl. PORTIOLI, C LAUDIA, Venedig, in: Hans-Peter Müller/Tilman Reitz (Hg.), Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2018, 575– 579, hier 575. 139 Zur Stadt Venedig und ihrer Ambiguität vgl. auch K ARREMANN, ISABEL, Venedig. Ambiguität der Republik, in: Jörg Dünne/Andreas Mahler (Hg.), Handbuch Literatur & Raum (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 3), Berlin/Boston: De Gruyter 2015, 376–384. 135
2.4 Erste Anbahnungen der Zweideutigkeit
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daß sie weder dem Lande noch dem Wasser angehört – sondern jedes erscheint als das proteische Gewand, hinter dem jedesmal das andere als der eigentliche Körper lockt; zweideutig sind die kleinen dunklen Kanäle, deren Wasser sich so unruhig regt und strömt – aber ohne daß eine Richtung erkennbar wäre, in der es fließt, das sich immerzu bewegt, aber sich nirgends hinbewegt. Daß unser Leben eigentlich nur ein Vordergrund ist, hinter dem als das einzig Sichere der Tod steht – dies ist der letzte Grund davon, daß das Leben, wie Schopenhauer sagt, ‚durchweg zweideutig‘ ist; denn wenn der Schein nicht aus einer Wurzel wächst, deren Säfte ihn in einer Richtung halten, so ist er der Deutung jeder Willkür preisgegeben.140
Die Stadt Venedig wird hier von Simmel als „Schein“ beschrieben, als eine Maske, die sich vom tieferliegenden Leben, dem wirklichen „Sein“, losgelöst hat und nur noch eine entleerte Fassade darstellt. Gerade diese Fassade jedoch gibt sich den Anschein, die Ganzheit und Eigentlichkeit des Lebens zu repräsentieren, und in diesem Täuschungsmanöver liegt die Charakteristik begründet, die Simmel mit dem Begriff der Zweideutigkeit umschreibt: Die Plätze sind darin ‚zweideutig‘, dass sie die Behaglichkeit von Zimmern vorgeben, während ihnen tatsächlich jede Geborgenheit fehlt; das Gedränge der Menschen lässt Nähe und Vertrautheit vermuten, wo tatsächlich die Anonymität der Masse herrscht. Weder dem Wasser noch dem Land lässt sich Venedig eindeutig zuordnen, und das, was in ihm „sich so unruhig regt und strömt“, nämlich das Wasser, fließt tatsächlich ohne jede Richtung. Die allgemeine „Zweideutigkeit des Lebens“, die Simmel mit Verweis auf Schopenhauer geltend macht,141 nämlich eine Vordergrund-Hintergrund-Struktur der Täuschung, findet sich im Stadtbild Venedigs kondensiert, wie „zu ihrem Körper zusammengeronnen“. Der Begriff der Zweideutigkeit wird hier also in die Nähe von Phänomenen wie der Täuschung, dem Schein oder gar dem Betrug gerückt. Das Zweideutige gibt vor etwas zu sein, das es nicht ist und verschleiert darin seine wahre Natur.
SIMMEL, Venedig, 249f. Simmels Anspielung auf Schopenhauer verweist auf dessen Werk Die Welt als Wille und Vorstellung (1818), in dessen Vorrede Schopenhauer vom „durchweg zweideutigen Leben“ spricht. Das Zitat findet sich allerdings hier in einen scherzhaften Zusammenhang eher lose eingestreut, vgl. SCHOPENHAUER, ARTHUR, Die Welt als Wille und Vorstellung, hg v. Arthur Hübscher, 2 Bde., Stuttgart: Reclam 1987, Bd. 1, 16. Ausführlicher wird die ‚Zweideutigkeit‘ später bestimmt als tragische Verflochtenheit von individuellem, auf das eigene Glück gerichteten Willen und der beständigen Aufhebung dieses Willens und damit des Glücks durch das Schicksal: „Wirklich ist was unserm Leben seinen wunderlichen und zweideutigen Charakter gibt. Dieses, daß darin zwei einander diametral entgegengesetzte Grundzwecke sich beständig kreuzen: der des individuellen Willens, gerichtet auf chimärisches Glück, in einem ephemeren, traumartigen, täuschenden Daseyn, wo hinsichtlich des Vergangenen Glück und Unglück gleichgültig sind, das Gegenwärtige aber jeden Augenblick zum Vergangenen wird; und der des Schicksals, sichtlich genug gerichtet auf Zerstörung unseres Glücks und dadurch auf Mortifikation unsers Willens und Aufhebung des Wahnes, der uns in den Banden dieser Welt gefesselt hält.“ A.a.O., Bd. 2, 829. 140 141
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
Das zweideutige Venedig wird Simmel – im Rahmen seiner lebensphilosophischen Kritik – zum Sinnbild für eine instrumentell beherrschte Welt, die entleert und oberflächlich geworden ist, der das Leben und die Tiefe abhandengekommen sind. Demgegenüber beschwört Simmel die Eindeutigkeit der Stadt Florenz als positive Gegenfolie zu Venedigs Oberflächlichkeit: Im Stadtbild und der Kunst von Florenz schimmert für Simmel das tieferliegende Sein durch und lässt Florenz damit zur „unverstellten Sprache eines wirklichen Lebens“142 werden, die „der Seele die herrlich eindeutige Sicherheit einer Heimat“143 geben kann. Demgegenüber bietet Venedig in seiner Wurzellosigkeit der Seele nur den Charakter eines „Abenteuers“144, eines Dahintreibens ohne tiefere Verbindung zum wirklichen Leben. Die spannende Wendung an Simmels Kontrastierung von Zwei- und Eindeutigkeit und die damit verbundene – ungewöhnliche – Wertung anhand der beiden Kunststädte liegt nun darin, dass Venedig erst dadurch ‚zweideutig‘ im Sinne der Täuschung wird, dass es die tatsächliche Doppelstruktur des Lebens von Oberfläche und Tiefendimension nicht repräsentiert und stattdessen reine Oberfläche ist. Demgegenüber sieht Simmel Florenz gerade darin als eindeutig an, dass es diese Doppelstruktur zwischen äußerer Form und tieferliegendem Sein, die das Leben charakterisiert, wahrheitsgetreu zum Ausdruck zu bringen vermag. Oder anders gesagt: Die Zweideutigkeit der Täuschung beruht auf einer Vordergrund-Hintergrund-Struktur, die Simmel als grundlegende Signatur des Lebens zugrunde legt. Eindeutigkeit bedeutet dann, eben diese Struktur wahrheitsgemäß zum Ausdruck zu bringen; Zweideutigkeit hingegen stellt eine Folge der Reduktion und damit eine Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse dar. Dementsprechend ist für Simmel auch nur diejenige Kunst gelungen, die das wirkliche Sein in ihren Schein zu integrieren vermag, indem sie es transparent werden lässt. Der Zweideutigkeit haftet damit eine deutlich negative Bewertung an; Eindeutigkeit hingegen wird hier – ganz anders als dies im ersten Fall dieser Arbeit häufig beobachtet wurde (vgl. I) mit einer Positivwertung versehen. Ebenfalls in Verbindung mit dem Phänomen der Täuschung findet sich der Begriff der Zweideutigkeit auch bei Friedrich Gogarten, einem Generationsgenossen Tillichs, auf dessen Begriff Tillich später auch explizit Bezug nimmt.145 In Gogartens Werk Die religiöse Entscheidung von 1921 heißt es dazu: „Kein gewaltigeres Werk schuf der Mensch als die Religionen […] Aber eben: sie SIMMEL, Venedig, 247. A.a.O., 250. 144 Ebd. 145 In Tillichs Vorlesung Das System der religiösen Erkenntnis, der Weiterführung der Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927) aus den Jahren 1927/1928, zitiert Tillich explizit Gogartens Werk Die religiöse Entscheidung von 1921 mit der entsprechenden Stelle. Hier ist also möglicherweise eine direkte Rezeption erfolgt. Vgl. die Notiz der Herausgeber der Vorlesung, in: EN XIV, 35, Fn. 2. 142 143
2.4 Erste Anbahnungen der Zweideutigkeit
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sind Sein Werk, sie sind Menschenwerk. Und sie sind das zweideutigste und verhängnisvollste Werk des Menschen“.146 Die Zweideutigkeit, der Tillich bei dem dialektischen Theologen Gogarten begegnet, steht also in enger Verbindung mit der Charakterisierung von Religion und weist entsprechend der Religionskritik der dialektischen Theologie eine negative Bewertung auf, ja, wird in einem Atemzug mit dem Verhängnis genannt. Wirft man einen Blick in den Kontext des entsprechenden Zitats in Die religiöse Entscheidung, findet sich dort auch eine nähere Begründung für die Zweideutigkeit der Religionen. Gogarten schreibt: Das zweideutigste [Werk] sind sie [die Religionen, Anm. Vfin.] darum: Sie sind Produkte der menschlichen Kulturgeschichte, geboren aus der geheimnisvollen, bunten, unerschöpflichen und unergründlichen Tiefe der Menschenseele, aus ihren erfülltesten Ahnungen, ihren zitterndsten Ängsten, ihrem gespanntesten Willen. Und um dieser ihrer geheimnisvollen Herkunft aus den niemals zu erforschenden Tiefen der Menschenseele willen scheinen sie das Werk der anderen Welt, das Werk der Götter, das Werk Gottes selbst zu sein.147
Für Gogarten liegt die Zweideutigkeit der Religion also darin, den Anschein göttlicher Herkunft zu erwecken und damit ein Missverständnis ihrer Herkunft zu ermöglichen, wenn nicht gar nahezulegen. ‚Zweideutigkeit‘ bezeichnet hier also zunächst die Möglichkeit, zwei verschiedenen Interpretationen zugänglich zu sein – von denen nach Gogarten die eine zutrifft, die andere eine Täuschung darstellt. Diese Zweideutigkeit der Religion als die Möglichkeit, richtig und falsch gedeutet zu werden, resultiert dabei aus ihrer „geheimnisvollen Herkunft aus den […] Tiefen der Menschenseele“, die ihr zugleich den Charakter als „wunderbarste[s], gewaltigste[s], reichste[s], tiefsinnigste[s] Werk“ des Menschen einhandelt – Gogarten bewertet den Ursprung der Zweideutigkeit der Religion hier also überraschend positiv. Nicht so allerdings die Folge der Verwechslung: Die Religion, die der falschen Deutung anheimfällt oder, anders gesagt, zur falschen Seite hin vereindeutigt wird, macht Gott „zu einer Sache, zu einem Inhalt, zu einem Gegenstand, wenn auch zu einem heiligen“.148 In dieser Vergegenständlichung Gottes liegt für Gogarten dann auch der Verhängnischarakter der Religion begründet. In beiden Fällen, bei Simmel wie bei Gogarten, begegnet das Ambige also unter der Bezeichnung der Zweideutigkeit in Verbindung mit Phänomenen wie der Täuschung, dem Betrug oder dem Schein. Gleichwohl denkt Gogarten die Herkunft der Religion eigentlich eindeutig (nämlich als Menschenwerk) und führt die Zweideutigkeit als Begründung für die Fehldeutung der Religion als Gottes Werk an. Bei Simmel hingegen scheint der Aspekt eines bleibenden Schimmerns und Oszillierens in der Zweideutigkeit stärker betont, das ‚Wedernoch‘ zwischen Land und Wasser. Beide Zuordnungen Venedigs stimmen und GOGARTEN, Die religiöse Entscheidung, 20. Ebd. 148 Ebd. 146 147
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
stimmen doch nicht ausschließlich. Der Eindruck der Eigentlichkeit weicht damit insgesamt dem Eindruck, dass diese Eigentlichkeit nicht authentisch ist, irgendetwas mit der Darstellung nicht stimmt. Insgesamt scheint es Simmel also bei der Verwendung des Zweideutigkeitsbegriffs mehr um die Beschreibung eines (modernen) Lebensgefühls zu gehen als, wie im Falle Gogartens, um die Begründung der Möglichkeit einer (eindeutigen) Fehlinterpretation. Gleichwohl findet sich bei beiden Denkern eine deutlich negative Bewertung der Zweideutigkeit, die in Bezug auf den Umgang zumindest eine Skepsis, wenn nicht gar die Vermeidung nahelegt. Eine noch einmal andere Version von Zweideutigkeit findet sich bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. In der Auseinandersetzung mit Schelling begegnet der Begriff auch erstmals bei Tillich. 2.4.2 Frühe Belege Was die Herkunft des Begriffs der Zweideutigkeit bei Tillich betrifft, muss man es nicht bei indirekten Verweisen aus dem intellektuellen Umfeld belassen. Auch die werkgeschichtliche Rückschau bringt Aufschluss, erwähnt Tillich doch bereits in seiner philosophischen Dissertation Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie aus dem Jahr 1910 die Termini ‚Zweideutigkeit‘/‚zweideutig‘ sowie das entsprechende Fremdwort ‚amphibolisch‘ mehrfach:149 So macht Tillich in der Abgrenzung Schellings gegenüber Kant und Fichte im Rahmen der erkenntnistheoretischen Grundlegung seiner Arbeit in Schellings Konstruktion des Willens „eine ursprüngliche Doppelheit der Willensrichtung“150 aus. Diese bestehe darin, so das entsprechende Schellingzitat, „daß wir […] in einer und derselben Handlung zugleich passiv und aktiv, zugleich bestimmt und bestimmend sind, kurz, daß eine und dieselbe Handlung Realität (Nothwendigkeit) und Idealität (Freiheit) in sich vereinigt.“151 Diesen Kernpunkt von Schellings Identitätsphilosophie, die Einheit von Realität und Idealität oder von Natur und Geist, bezeichnet Tillich als den „amphibolische[n] Charakter des Willens“ 152. Die Einsicht in den amphibolischen Willen wird nun, so Tillich, in Schellings Freiheitslehre von 1809 in den Gottesgedanken selbst verlegt:153 Gott 149 Vgl. TILLICH, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie (1910), in: EW IX, 154–272, etwa 166.193f.196, Fn. 2.216.267. 150 A.a.O., 166. 151 SCHELLING, FRIEDRICH W ILHELM JOSEPH, Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt (1794), in: Ders., Sämmtliche Werke, hg. v. Karl Friedrich August Schelling, I. Abtheilung, Bd. 1 1792–1797, Stuttgart/Augsburg: J. G. Cotta 1856, 411. Bei Schelling selbst ist hier allerdings nicht von „Amphibolie“, sondern von „Antithesis“ und „Entgegensetzung“ die Rede. 152 TILLICH, Die religionsgeschichtliche Konstruktion, 166. 153 Vgl. SCHELLING, FRIEDRICH W ILHELM JOSEPH, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Stuttgart: Reclam 1964. Hier findet sich der Begriff „zweideutig“ auf Seite 89.
2.4 Erste Anbahnungen der Zweideutigkeit
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werde dabei gerade darin als Gott bestimmt, dass er über die Macht verfügt, in Widerspruch zu sich selbst zu treten.154 Dabei bestehe dieses In-WiderspruchTreten darin, dass Gott sich als reines Sein (erste Potenz) außerhalb von sich selbst als ein anderes Sein (zweite Potenz) setzt, dass er also zu einem Sein wird, das anders ist als er selbst. Dieses außerhalb von Gott gesetzte Sein, das Sein im Widerspruch, wird schließlich, so Tillichs Rekonstruktion des Schelling’schen Gedankens, im dialektischen Weltprozess mittels des Geistes (dritte Potenz) wieder in das reine Sein (erste Potenz) zurückgeführt.155 Die Besonderheit Gottes bestehe also darin, die Potenzen seiner selbst in Spannung setzen und dabei doch eine Einheit bleiben zu können. Dem Menschen, in dessen Geist sich die Potenzen wiederholen, gelinge dies jedoch nicht. Als gefallenes Wesen, als materialisierter Widerspruch, wird in ihm das Andere, das Dunkle, der Abgrund der Naturphilosophie aktualisiert – jedoch nicht in einer spannungsvollen Einheit mit dem Grund oder Licht, sondern als Zerrissenheit.156 Im Menschen, so Tillichs Interpretation von Schelling, tritt also die „Potenz aller Zweideutigkeit aus ihrer Verborgenheit empor[…]“.157 Die „Zweideutigkeit des Resultats der Naturphilosophie“158, der Mensch als Grund und Abgrund, als Sein und Nicht-Sein(-Sollendes) bzw. Hang zum Bösen zugleich, führe zur Notwendigkeit eines neuen Prozesses im menschlichen Bewusstsein, des Kulturprozesses, der die Zerrissenheit überwinde und in die Einheit zurückführe. Die „zweideutige Natur“159, die Möglichkeit, sich selbst als ein anderes Sein zu setzen bzw. das Nicht-Sein zu denken (im Menschen als die Möglichkeit zum Bösen aktualisiert), fungiert bei Schelling, so Tillich, „als Erklärung für alles andere“.160 Mit diesem Rückgriff auf Schellings Naturphilosophie bzw. Freiheitsschrift – vermittelt durch Tillichs Interpretation – begegnet noch einmal eine andere Form der Zweideutigkeit als bei Simmel bzw. Gogarten: Die Zweideutigkeit tritt hier als ein erkenntnistheoretisches beziehungsweise als ontologisches Prinzip in Erscheinung, als die Verkörperung von Widerspruch oder Differenz bzw., theologisch gesprochen, von Sünde.161 Damit erhält der Begriff mit Blick 154 „Die unmittelbare Möglichkeit dazu ist ihm in dem amphibolischen Charakter der ersten Potenz gegeben“, so Tillichs Rekonstruktion von Schelling in: Ders., Die religionsgeschichtliche Konstruktion, 185. 155 Vgl. a.a.O., 167. 156 Vgl. a.a.O., 194; SCHELLING, Freiheit, 89. 157 TILLICH, Die religionsgeschichtliche Konstruktion, 193. 158 A.a.O., 216. 159 A.a.O., 194. 160 A.a.O., 216. 161 Vgl. hier den Verweis Tillichs auf Schellings Satanologie: „Der Satan ist ihm [Schelling, Anm. Vfin.] eben jener durch den Fall aktualisierte Wille des Grundes, dessen Charakter Zweideutigkeit ist. Insofern er ist, ist er das Nicht-sein-Sollende, insofern er nicht ist, ist er die Basis alles Seins. Im übrigen [sic!] kann die Satanologie, deren Ausführungen an
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auf die Koordinate der Bewertung zugleich seine bisher negativste Definition. Nichtsdestotrotz wird die Zweideutigkeit hier, gerade in ihrer radikalen Negativität, zum Ausgangspunkt für die göttliche Offenbarung, ja, zur notwendigen Voraussetzung für diese.162 Die Zweideutigkeit wird bei Schelling damit als ein Zustand des Seins innerhalb einer umfassenderen Einheitsvorstellung gedacht, die sowohl den Ursprung der Zweideutigkeit wie auch deren Ziel darstellt. Auf diese Weise wird die radikale Negativität der Zweideutigkeit letzten Endes wieder entschärft beziehungsweise in einen Gesamtprozess mit positivem Vorzeichen eingebettet. Im Gegenüber zu Zweideutigkeit als einem ästhetischen bzw. kulturkritischen Begriff, wie er etwa in Simmels Text erscheint, begegnet bei Schelling Zweideutigkeit als umfassender Strukturbegriff mit einer Letztbegründung im Gottesgedanken. Diese Verwendung von Zweideutigkeit als Bezeichnung für das strukturelle Ineinander von Grund und Abgrund, die Tillich in der frühen Schellinganalyse gebraucht, taucht auch Anfang der 1920er Jahre, im Rahmen von Tillichs Auseinandersetzung mit den Protagonisten der Dialektischen Theologie, Karl Barth und Friedrich Gogarten noch einmal auf.163
Goethes Zeichnung des Mephistopheles erinnert, hier übergangen werden, da sie nur ein konkreter Ausdruck für den einheitlichen Willen des irrationalen Grundes ist und auf die Konstruktion der Religionsgeschichte keinen Einfluß geübt hat.“ A.a.O., 196, Fn. 175. 162 „Denn wenn Gott als Geist die unzertrennliche Einheit beider Prinzipien ist, und dieselbe Einheit nur im Geist des Menschen wirklich ist, so würde, wenn sie in diesem ebenso unauflöslich wäre, als in Gott, der Mensch von Gott gar nicht unterschieden sein; er ginge in Gott auf, und es wäre keine Offenbarung und Beweglichkeit der Liebe. Denn jedes Wesen kann nur in seinem Gegenteil offenbar werden, Liebe nur in Haß, Einheit in Streit. Wäre keine Zertrennung der Prinzipien, so könnte die Einheit ihre Allmacht nicht erweisen; wäre nicht Zweitracht, so könnte die Liebe nicht wirklich werden. Der Mensch ist auf jenen Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Prinzipien ist in ihm kein notwendiges, sondern ein freies. Er steht am Scheidepunkt; was er auch wähle, es wird seine Tat sein, aber er kann nicht in der Unentschiedenheit leben, weil Gott notwendig sich offenbaren muß, und weil in der Schöpfung überhaupt nichts Zweideutiges bleiben kann.“ SCHELLING, Freiheit, 89. 163 Im Jahr 1923/24 findet in den Theologischen Blättern ein öffentlicher Disput zwischen Paul Tillich auf der einen und Karl Barth und Friedrich Gogarten auf der anderen Seite statt. Der Disput umfasst eine Stellungnahme Paul Tillichs, deren Betitelung Kritisches und positives Paradox der gesamten Debatte ihren Namen gegeben hat; des Weiteren enthält die Sammlung eine Antwort Karl Barths, sowie eine weitere Antwort von Seiten Friedrich Gogartens, vgl. TILLICH, Kritisches und positives Paradox, 216–225 bzw. 246. Größere Verbreitung fand die Debatte über die spätere Publikation Anfänge der dialektischen Theologie, vgl. MOLTMANN, JÜRGEN (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie. Teil I: Karl Barth– Heinrich Barth–Emil Brunner, München: Chr. Kaiser 1962, 165–197. Für die Hintergründe vgl. HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 437–454. Für die Beziehung zwischen Paul Tillich und Karl Barth vgl. die Beiträge des Sammelbandes von Hébert, Mireille/Reijnen, Anne Marie (Hg.), Paul Tillich et Karl Barth: Accords et antagonismes théologiques (Tillich-Stu-
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Im Rahmen dieser Auseinandersetzung verfasst Tillich im Jahr 1923 den öffentlichen Brief Kritisches und Positives Paradox.164 Tillich setzt hier der reinen Negation, die er bei der ‚Theologie der Krisis‘ gegenüber der Wirklichkeit oder Welt auszumachen meint, sein Konzept des ‚positiven Paradoxes‘ gegenüber, das als Voraussetzung der Krisis das uneingeschränkte ‚Ja‘ von Schöpfung und Gnade postuliert. Von dieser positiven Voraussetzung, so Tillich, kann jedoch immer nur paradox gesprochen werden, und zwar auf dreifache Weise: als von dem ewigen Ursprung, dem Grunde und Abgrunde, der unanschaulich und ungegeben durch alles Wirkliche in Ja und Nein dem Glauben offenbar wird. Und als von der ewigen Erlösung, die unanschaulich und ungegeben, nur dem Glauben offenbar, durch die Geschichte und ihre Schöpfungen hindurchgeht als verborgene, in Christus mit vollkommener Symbolkraft sich darstellende Heilsgeschichte. Und als ewige Vollendung, als unanschauliche Verheißung, in der die Zweideutigkeit des Ursprungs und der Kampf des Göttlichen und Dämonischen aufgehoben ist in der ewigen Einheit in Gott. 165
Ähnlich der in der Schellingdissertation herausgearbeiteten Konstruktion findet sich die Zweideutigkeit hier als Prinzip der Zweiheit, das im Gottesgedanken letztbegründet ist und sich in der Heilsgeschichte als Kampf zwischen ‚Göttlichem‘ und ‚Dämonischem‘, zwischen Grund und Abgrund, Licht und Dunkel, realisiert, bis es „in der ewigen Einheit in Gott“ zu seiner Aufhebung kommt.166 Mit anderen Worten: ‚Zweideutigkeit‘ taucht 1910 in der Beschrei-
dien 23), Wien: Lit Verlag 2016 sowie mit Blick auf eine Theologie der Kultur DANZ, CHRISDie Religion in der Kultur. Karl Barth und Paul Tillich über die Grundlagen einer Theologie der Kultur, in: Ders./Werner Schüßler, Paul Tillichs Theologie der Kultur, 211– 227. 164 Vgl. TILLICH, Kritisches und positives Paradox, 216–225. 165 A.a.O., 225. 166 Danz und Schüßler weisen auf das Auftauchen des Dämonischen als Schlüsselbegriff in Tillichs Schriften der Nachkriegszeit hin und bezeichnen das Dämonische dabei als eine „Kategorie des Zweideutigen“ bzw. „Kategorie des Ambivalenten“, DANZ, CHRISTIAN/ SCHÜßLER, WERNER, Die Wirklichkeit des Dämonischen. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Das Dämonische, 1–10, hier 2. In ebendieser Einleitung verweisen die Autoren auch auf Georg Lukács Theorem der transzendentalen Obdachlosigkeit und damit den Einheitsverlust der modernen Kultur, in dessen Zusammenhang Lukács den Aufstieg der Kategorie des Dämonischen sieht, vgl. a.a.O., 5. Zu Tillichs Geschichtstheologie im Zusammenhang mit der Kategorie des Dämonischen vgl. auch ROSENAU, HARTMUT, Die Realität des Dämonischen und die Frage nach dem Sinn der Geschichte. Grundzüge der gnostischen Geschichtstheologie Paul Tillichs, in: Jörg Frey/Enno Edzard Popkes (Hg.), Dualismus, Dämonologie und diabolische Figuren (Wissenschaftliche Untersuchtungen zum Neuen Testament 2. Reihe 484), Tübingen: Mohr Siebeck, 369–393 sowie DANZ, CHRISTIAN, Das Göttliche und das Dämonische. Paul Tillichs Deutung von Geschichte und Kultur, in: Ders. u.a. (Hg.), The Interpretation of History (International Yearbook for Tillich Research 8), Berlin/Boston: De Gruyter 2013, 1–14. TIAN,
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
bung Schellings sowie 1923 in der Kontroverse mit Barth und Gogarten zunächst in Form einer Binnendifferenzierung innerhalb einer geschichtsphilosophischen Einheitskonstruktion auf. Die Rede von ‚Grund‘ und ‚Abgrund‘ des Ursprungs steht dabei im Kontext des sinntheoretischen Religionsbegriffs. Sie bezeichnet die Doppelheit des Unbedingten als konstituierender Sinngrund aller Einzelsinne und des Sinnzusammenhangs auf der einen, und als Sinnabgrund, der das ‚Nein‘ über dieses Sinnganze spricht, auf der anderen Seite. Mit der Formel vom ‚Abgrund‘ markiert Tillich dabei die unaufhebbare Differenz zwischen dem Unbedingten und den durch das Unbedingte konstituierten innerweltlichen Sinnvollzügen.167 Das Unbedingte geht in den bedingten Sinnvollzügen eben nicht auf, sondern bleibt immer das ‚Andere‘, ein ‚Mehr‘, das sich nicht in seiner lebensschaffenden, sinnkonstituierenden Seite erschöpft.168 ‚Zweideutigkeit‘ bezeichnet hier also auf Seiten des Subjekts eine ‚Sowohl-als-auch‘-Erfahrung des Unbedingten als konstituierender Sinngrund und darüber hinausweisender Sinnabgrund, als das, was alle Sinnvollzüge sowohl ermöglicht wie auch relativiert, als das ‚Ja‘ und ‚Nein‘, das „dem Glauben offenbar wird.“169 Zugleich manifestiert sich diese Zweideutigkeit des Ursprungs im „Kampf des Göttlichen und Dämonischen“ in der Geschichte – bei Schelling war dies das Stadium der Realisierung der zweiten Potenz, des Seins im Widerspruch. Im Zusammenhang mit der Gesamtargumentation in Kritisches und Positives Paradox geht es Tillich dabei zunächst – in Abgrenzung zu Gogarten – um die ‚Position‘ der menschlichen Autonomie, die der Negation vorausgeht. Tillich will die Autonomie vor dem Vorwurf des „an und für sich Gegengöttlichen“170, des Dämonischen, schützen, den er insbesondere in der Offenbarungslehre Gogartens gegeben sieht.171 Tillichs Rettung der Autonomie liegt dabei in einer Differenzierungsleistung: An sich ist die Autonomie „leer“ und wird, „wenn
Vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 71–75. Fritz weist darauf hin, dass Tillich mit dieser „Duplizität im Begriff des Grundes“ das „Prinzip des ‚religiösen Paradoxes‘ auf der Ebene des sinntheoretisch gefassten religiösen Objekts ein[löst]“, hier 71f. Heinemann sieht in der „nicht vermittelbaren Differenz“ schon einen Grundpfeiler der entstehenden Symbolkonzeption Tillichs gegeben, vgl. HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 444. 168 Dementsprechend ist im Zusammenhang mit der Abgründigkeit des Unbedingten auch immer wieder von „Unerschöpflichkeit“ oder „Unausschöpfbarkeit“ die Rede, vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 72. Fritz sieht hierin eine Distanzierung von pantheistischen Weltdeutungen, die mit einer Auflösung oder Verwirklichung des Unbedingten in den Kulturerscheinungen rechnen. 169 TILLICH, Kritisches und positives Paradox, 224. 170 A.a.O., 220. 171 Die Auseinandersetzung mit Gogartens Offenbarungsverständnis weist schon voraus auf die Mitte der 1920er Jahre, wenn Gogarten, nicht Barth, als Gegenspieler Tillichs fungiert, so etwa in der Dogmatik-Vorlesung (1925–1927), vgl. II.3.3.1. Auf diesen Punkt hat auch Heinemann hingewiesen, vgl. HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 438, Fn. 109. 167
2.4 Erste Anbahnungen der Zweideutigkeit
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nicht der Gehalt der Offenbarung sie erfüllt, […] zur Beute des Dämonischen“172. Eine solche „dämonisch verzerrte Autonomie“173 fällt unter die Krisis, nicht aber die Autonomie ‚an sich‘. Die Autonomie an sich wiederum beschreibt Tillich als „Einheit von Gnade und Gericht“, in der „immer Offenbarung und immer Verhüllung, immer Göttliches und immer Dämonisches“174 gegeben sind, kurz, die unter dem (positiven) Paradox von ‚Ja‘ und ‚Nein‘ steht. Interessanterweise sind es gerade diese Gegensatzpaare von ‚Offenbarung‘ und ‚Verhüllung‘, von ‚göttlich‘ und ‚dämonisch‘, die im Schlüsseljahr 1925 als erste Explikationen der Zweideutigkeit auftauchen. So heißt es etwa in der Offenbarungslehre der Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927): „Die Wirklichkeit und ihre endlichen Formen weisen nicht nur auf das, dessen Ausdruck sie sind, sondern auch auf sich selbst. […] Die Wirklichkeit ist also zweideutig in Bezug auf das Unbedingte. Sie ist Verhüllung und Offenbarung.“175 Ebenso wird der Kampf zwischen ‚göttlich‘ und ‚dämonisch‘ ab 1925 zur Bühne für den Auftritt des Zweideutigkeitsbegriffs.176 In beiden Fällen spielt der Zusammenhang zwischen der Zweideutigkeit und ihren positiven wie negativen Vereindeutigungen eine entscheidende Rolle. Auch der 1923 entfaltete „Widerspruch[]“ aller Wirklichkeit (sei es des Gewissens, der Kunst, der Wissenschaft, der Gemeinschaft, der Religion), „die Stätte der Offenbarung – und des Gerichtes“ zu sein, antizipiert in nuce bereits eine weitere Definition von Zweideutigkeit, nämlich die der Zweideutigkeit als Widerspruch, die Tillich in der Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927) im Kontext seiner Sündenlehre entfaltet (vgl. II.3.3.3).177 Es deuten sich also bereits vor 1925, insbesondere im Zusammenhang mit dem Paradoxgedanken, bestimmte Strukturen an, die Tillich ab 1925 als ‚zweideutig‘ beschreiben wird. Damit ist auch die Spur gegeben, der im folgenden Abschnitt nachzugehen sein wird, nämlich die der Zweideutigkeit als innerer Differenzierung der Einheitsfigur, die sich in Zusammenhang mit dem Paradox herausbildet. Dabei soll es noch einmal um die drei Momente des religiösen
TILLICH, Kritisches und positives Paradox, 220f. A.a.O., 221. 174 Ebd. 175 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 20. 176 Vgl. II.3.3.1. und 3.3.3. 177 „Es ist gesagt, daß mit dem Hinweis, den das Seiende als Seiendes auf das Unbedingte in sich trägt, ein Widerspruch verknüpft ist, der bei jeder Betrachtung des Seienden in der Offenbarung aktuell wird; daß aber dieser Widerspruch selbst wieder in seiner Zweideutigkeit Offenbarungssymbol werden kann. Oder: Auch die Zweideutigkeit, auch das im Widerspruch-Stehen schützt das Seiende nicht vor Durchbruch und Erschütterung. Oder zeugt das Seiende nicht als einfaches Ja für Gott, so zeugt es in der Zweideutigkeit von Ja und Nein für ihn. Ein Ja bleibt immer: entweder ein reines oder ein Nein des Nein.“ A.a.O., 177. 172 173
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Teil II – Kap. 2. Die Anbahnung der Zweideutigkeit
Paradoxes gehen, die, so die These, alle auf verschiedene Weise in die Konzeption der Zweideutigkeit einfließen. 2.4.3 Das Paradox und die Zweideutigkeit Das ‚religiöse Paradox‘ ist Ausdruck für eine doppelte Struktur, die Tillich jedem religiösen Erlebnis attestiert.178 Grund für diese Doppelheit ist das „Bewußtsein um etwas Absolutes“, das jedem religiösen Erlebnis zueigen ist,179 die Bezogenheit auf etwas „das jeder Bedingtheit, jeder Begründung, jeder Einschränkung enthoben ist, das in sich seine Wurzel, seine Ruhe, sein Ziel hat.“180 Aus dieser „Losgelöstheit“ des Absoluten ergibt sich für Tillich die „Doppelheit des Erlebens des Absoluten, eine negative und eine positive Richtung“181, in Kürzeln gesprochen ein ‚Nein‘ und ein ‚Ja‘. Das Negativerlebnis kann dabei in verschiedenen Formen auftreten; stets jedoch ist sein Modus der einer „Verneinung, Vernichtung, Entwertung alles Relativen“.182 Eine Grundform solcher Negativitätserfahrung ist die Gewahrwerdung der eigenen Endlichkeit, eine andere die Relativierung aller kulturellen Werte, bzw. die Einsicht in die Nichtigkeit alles geschichtlichen Daseins. Eine dritte Grundform stellt für Tillich das Erlebnis der „persönlichen Wertlosigkeit“183 oder der eigenen Schuld dar. Nun ist jedoch eine solche Negativerfahrung noch nicht per se religiös. Sie kann auch „philosophisch-pessimistisch“184 gedeutet werden. Religiös wird sie erst dann, wenn sie als „die negative Kehrseite zu einem Positiven, eben dem Absoluten“185 erfahren wird: der Tod wird zu einer Seite, in der das Lebendige in seiner Begrenztheit zum Absoluten im Verhältnis steht; ihr gegenüber steht als andere, positive Seite die Partizipation, das Anteilhaben an jener absoluten Die folgenden Abschnitte sind vorwiegend an Tillichs Erläuterung des ‚religiösen Paradoxes‘ im Rahmen der Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart von 1919 orientiert, da es an dieser Stelle nur um eine möglichst knappe und systematische Vorstellung der Struktur, nicht um eine werkgenetische Behandlung des Paradoxgedankens gehen soll. Eine solche hat umfangreich Lars Heinemann geliefert, vgl. DERS., Sinn – Geist – Symbol, insbesondere 136–172. FRITZ, Menschsein als Frage, 31–35 beschäftigt sich hingegen insbesondere mit dem rechtfertigungstheologischen Kern des ‚religiösen Paradoxes‘, wie Tillich ihn 1919 in seinem Aufsatz Rechtfertigung und Zweifel anschließend an den Briefwechsel mit Hirsch formuliert hat. 179 Hier bildet Husserls Intentionalitätsidee den Hintergrund, vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 34. Für Tillichs Rezeption von Husserl vgl. BARTH, Religion und Sinn. Betrachtungen zum frühen Tillich, 445; DERS., Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs; sowie HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 277–305.325–341.393–400. 180 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 43. 181 Ebd. 182 A.a.O., 43f. 183 A.a.O., 44. 184 Ebd. 185 Ebd. 178
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Realität. Genauso steht es um die Relativierung der Kulturwerte, die als die Negativseite zur Teilhabe an einer „absoluten Wertrealität“186 gedeutet wird. Die persönliche Wertlosigkeit, als dritte Form der Nichtigkeitserfahrung, stellt schließlich die „Kehrseite des absoluten Wertes, der absoluten Heiligkeit dar.“187 Als die Doppelheit des simul iustus et peccator ist die dritte Form in der protestantischen Rechtfertigungslehre zu ihrer wirkmächtigsten Formulierung gelangt.188 Die Einheit beider Momente, des negativen und positiven Erlebnisses, wird von Tillich mit dem Begriff ‚Paradox‘ tituliert. Das ausschlaggebende Kriterium des Paradoxes definiert er darüber, dass „das schlechthin Negative und das schlechthin Positive in eins gedacht werden müssen, in der letzten philosophischen und religiösen Sphäre“189. Es wird also mit dem Paradoxbegriff eine solche Struktur des Verhältnisses zwischen Unbedingtem und Bedingtem zum Ausdruck gebracht, die als Widerspruchseinheit oder als eine ‚Einheit in Spannung‘ charakterisiert werden kann – und damit die geschichtsphilosophische Einheitskonstruktion Schellings in die Struktur religiöser Erfahrung hineinverlegt. Es ist ebendiese Widerspruchseinheit, die Tillich 1923 erstmals als „Zweideutigkeit des Ursprungs“ (Sinngrund und Sinnabgrund) für die Seite der religiösen Erfahrung mit dem Ausdruck ‚Zweideutigkeit‘ fasst. Dabei ist das Prius des Negativen, des ‚Nein‘ oder der Nichtigkeitserfahrung lediglich als im Erleben vorgeordnet zu verstehen. So verwendet Tillich Verben wie ‚hinführen‘ oder ‚sich gründen auf‘, ‚hinwegführen lassen‘190, um die Bewegung des religiösen Bewusstseins von der Negativerfahrung zum sogenannten „schlechthinnige[n] Realitätserlebnis“191 zu beschreiben. Zugleich deutet sich schon hier die logische Vorherrschaft des Positivmoments an, wenn Tillich postuliert, die Nichtigkeit sei gerade nur dann radikal zu denken, wenn sie „eingeschlossen“ ist in ein „Positivitätserlebnis von gleicher Bedeutung und Kraft“.192 Das Positive wird hier also als logische Voraussetzung angenommen, um das Negative überhaupt radikal denken zu können. Dem geschilderten ‚absoluten Paradox‘ ordnet Tillich das ‚konkrete Paradox‘ unter: Das religiöse Bewusstsein des Subjekts kann nämlich, so Tillich, nicht anders, als die Erfahrung von Nichtigkeit und Realität, die ihm wider-
A.a.O., 47. Ebd. 188 Vgl. für diese Einsicht FRITZ, Menschsein als Frage, 31f. 189 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 47. 190 A.a.O., 46. 191 Ebd. 192 A.a.O., 45. Zur Reihenfolge von ‚Nein‘ und ‚Ja‘ vgl. auch H EINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 148f. 445: „Mag dem Nein auch eine logische Prävalenz zukommen, so wird dem Ja gleichsam eine höhere Dignität zugesprochen. Das Ja ist zwar nur über das Nein zu gewinnen, es gilt aber als dessen Voraussetzung.“ 186 187
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fährt, auf die Sphäre des Relativen zu beziehen; es vergegenständlicht die abstrakte religiöse Erfahrung in Vorstellungen, Gegenständen und Personen. Auf diese Weise entstehen religiöse Symbole als „Träger des religiösen Erlebens“193. Der Paradoxcharakter an dieser konkreten Form ist nun nicht mehr „der doppelte Sinn, absolut nichtig und absolut real zu sein“, wie es beim ‚absoluten Paradox‘ der Fall war. Vielmehr wird nun ein endlicher Gegenstand – Tillich führt Steine, Bäume, Tiere, Menschen, Geistwesen, Orte, Eigenschaften etc. als mögliche Beispiele an – als ‚heilig‘ und damit „trotz seiner Endlichkeit für absolut erklärt“194. Im Fortgang durch die Religionsgeschichte markiert Tillich unterschiedliche Repräsentationsformen dieses ‚konkreten Paradoxes‘ zwischen bedingtem Gegenstand und unbedingter Bedeutung: Die Repräsentationen reichen von sinnlichen Gegenständen in primitiven religiösen Stadien bis hin zu abstrakteren Vorstellungen im Monotheismus mit dem Einsatz von Mittlergestalten (Engeln, Priestern, etc.). Stets versucht der Geist, seine Erfahrung des Absoluten im Endlichen zu fixieren.195 Religionsgeschichtlich schließlich gipfelt das ‚konkrete Paradox‘ in der christlichen Inkarnationsvorstellung, der Anschauung des Absoluten in Jesus Christus, als einer konkreten historischen Persönlichkeit.196 Das konkrete Moment des Paradoxes führt nach Tillich „in eine konflikthaltige Sphäre […], die des Relativen, der Unterschiede, des Kampfes, des Werdens und Vergehens“.197 Tillich weist darauf hin, dass dieser Konflikt „vielerlei Untergegensätze in sich trägt: Kirche und Staat, Gemeinde und Gesellschaft, Kultur und Kunst, Dogma und Wissenschaft, Frömmigkeit und Sittlichkeit.“198 Die Aufzählung erinnert, hier in Negativform als Gegensatzpaare aneinandergereiht, an die bereits detaillierter ausgeführte Einheitsvision Tillichs, die eben all diese Gegensätze vereint wissen wollte (vgl. II.2.3).199 So überrascht es wenig, dass es im Vorlesungsmanuskript gleich im nächsten Satz heißt: „Aber dieser Gegensatz soll nicht sein vom absoluten Standpunkt, obwohl er sein muß vom relativen.“200 Zweierlei deutet sich hier bereits an: erstens, eine gewisse Widerwilligkeit, mit der Tillich die aufgezählten Gegensätze bestehen lässt („soll nicht sein“, „muß“), verbunden mit der Einschränkung auf die relative Sphäre. Zusammen A.a.O., 48. A.a.O., 48f. 195 Allerdings bedeutet eine solche Fixierung, wie Fritz festgestellt hat, „nicht nur die Missachtung der unaufhebbaren Transzendenz des Absoluten und der entsprechenden lebendigen Dynamik seiner Selbstmanifestation, sondern auch einen Verlust an religiöser Spannung in der fraglichen Gemeinschaft“, FRITZ, Menschsein als Frage, 34. 196 Vgl. TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 49. 197 A.a.O., 50. 198 Ebd. 199 Vgl. II.2.3. 200 Ebd., 50. 193 194
2.4 Erste Anbahnungen der Zweideutigkeit
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mit der Erwähnung von Begriffen wie ‚Kampf‘, ‚konflikthaft‘ sowie der Formulierung des „tiefsten Konflikts“ legt sich eine tendenziell negative Wertung von Gegensätzlichkeit hier ebenso nahe wie deren Notwendigkeit eingeräumt wird. Zweitens deutet sich neben der absoluten Paradoxie, die als „Zweideutigkeit des Abgrundes und Grundes“ dem Glauben anschaulich wird eine weitere Anbahnung der Zweideutigkeit an, die sich im Umkreis des konkreten Paradoxes, in der Sphäre des Konfliktes zwischen Autonomie, Heteronomie, Theonomie befindet. Angesprochen sind die Möglichkeiten der Verzerrung bzw. negative Formen der Vereindeutigung, die in der Sphäre des ‚konkreten Paradoxes‘ geschehen können und sich in den Begriffspaaren ‚profan‘/‚heilig‘, und ‚göttlich‘/‚dämonisch‘ wiederspiegeln. Letztere tauchen bereits 1923 in unmittelbarer Nähe zur Zweideutigkeit von Grund und Abgrund auf; erstere dann in der Dogmatik-Vorlesung von 1925 (vgl. II.3.3.1). Bezüglich der Aufbaumomente des absoluten und konkreten Paradoxes findet sich in der Vorlesung von 1919 – entsprechend der pejorativen Einordnung der Konflikthaftigkeit, die mit dem konkreten Moment verbunden ist – noch ein drittes Moment: das der Überwindung des Widerspruchs, das ‚ideale‘ Moment.201 Mehr noch: Das ‚konkrete Paradox‘ mit seinen Konflikthaftigkeiten in der relativen Sphäre ist selbst eines, das „dialektisch weiterdräng[t]“202 auf die eigene Aufhebung. Das Aufhebungsmoment fordert die „Heiligkeit alles Konkreten, der schlechthinnigen Aufhebung des Gegensatzes von heilig und profan“203; kann also, wie bereits im ersten Teil des Kapitels dargelegt mit der Einheitsvision der gegenseitigen Durchdringung von Religion und Kultur identifiziert werden; es formuliert einen „Zielbegriff“ oder ein „Kulturideal“204. Mit der hier anvisierten Einheit, so wird es auch 1923 erstmals explizit formu-
201 Mit der Kombination aus absolutem und konkretem Paradox sowie dem Moment der Aufhebung sind zugleich die drei Aufbaumomente des sogenannten ‚theologischen Prinzips‘ benannt, das Tillich 1919 unter der Fragestellung „Was ist das Christentum?“ in seiner Vorlesung einführt. Die Identifikation des Paradoxes mit dem ‚theologischen Prinzip‘ reicht allerdings in die Systematische Theologie 1913 zurück, vgl. hierfür sowie für die ideengeschichtlichen Hintergründe des Paradoxgedankens insbesondere HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol, 136–172, sowie GERT HUMMEL (Hg.), Das theologische Paradox. Interdisziplinäre Reflexionen zur Mitte von Paul Tillichs Denken, Berlin/New York: De Gruyter 1995. 202 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 68. Wenige Zeilen später ist von „dialektisch übergehen“ und „aufgesogen werden von der religiösen Kulturidee“ die Rede. Die dialektische Dynamik ist also unübersehbar. 203 A.a.O., 50. 204 A.a.O., 51. Dementsprechend verteilt Tillich die Zuständigkeitsbereiche der verschiedenen Momente des ‚Theologischen Prinzips‘ auf verschiedene Wissenschaften: Mit der Befassung des Wesens von Religion im Allgemeinen wird die Religionsphilosophie betraut, mit den konkreten Vergegenständlichungen religiöser Erfahrung im geschichtlichen und kulturellen Leben die Geschichtsphilosophie, mit der Formulierung des Kulturideals die Theologie der Kultur, vgl. a.a.O. 67f.
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liert, ist also zugleich die Aufhebung der Zweideutigkeit in einer eschatologischen Einheit verbunden, die damit also – ähnlich wie bei Schelling – als ein Durchgangsstadium in einer größeren Einheitskonstruktion konzipiert wird, deren Ziel das Wiedereingehen in eine göttliche Einheit ist. Versucht man die in I.1 erarbeiteten Koordinaten an diese ersten Belege von ‚Zweideutigkeit‘ anzulegen, lässt sich Folgendes feststellen: Tillich wählt die Bezeichnung ‚Zweideutigkeit‘, die hier zunächst einmal zwei Deutungen des Absoluten im Glauben bezeichnet (Grund und Abgrund). Die Lokalisation der Zweideutigkeit liegt damit auf der Ebene des (religiösen) Bewusstseins, das im religiösen Erleben das Unbedingte als zweideutig wahrnimmt, als dasjenige, das alle Sinnvollzüge trägt und dennoch richtet. Ihrer Aufbaulogik nach stellt sich diese Zweideutigkeit als ein asymmetrisch konstruierter Widerspruch von ‚Ja‘ (logisch vorgeordnet, im Erleben nachgeordnet) und ‚Nein‘ (logisch nachgeordnet, im Erleben vorgeordnet) dar, beinhaltet also ein positives und ein negatives Element. Mit den einzelnen Elementen geht damit eine klare Bewertung einher, ebenso mit der Zweideutigkeit als Ganzes, die als Teil eines Durchgangsprozesses als ein zwar notwendiger, dennoch aber defizitärer Konfliktzustand erscheint. Als Typus liegt damit eine Mischung aus Bedeutungsund Bewertungszweideutigkeit vor, deren Umgang für Tillich in einer synthetisierenden Aufhebung in einer größeren Einheit liegt. Der Zweideutigkeit scheint hier die Funktion zuzukommen, das Verhältnis von Unbedingtem und Bedingtem im religiösen Erleben zu strukturieren. Dabei geht es Tillich theologisch vor allem um zwei Dinge: zum einen darum, die Transzendenz Gottes gegenüber einer totalen Auflösung in Sinnvollzügen zu schützen; zum anderen (im Zusammenhang mit dem Kampf zwischen göttlich und dämonisch) darum, die Autonomie des Menschen zu wahren. Zugleich scheinen die verschiedenen Paradoxstrukturen, die sich durch starke Dichotomien (‚Ja‘/‘Nein‘) sowie eine ‚Trotzdem‘ oder ‚Dennoch‘-Struktur auszeichnen – der endliche Sinn wird affirmiert (‚Ja‘) trotz seiner Negation (‚Nein‘), ein Gegenstand wird heilig (‚Ja‘) trotz seiner Bedingtheit (‚Nein‘), die Endlichkeit wird bejaht (‚Ja‘) trotz ihrer Begrenztheit durch den Tod (‚Nein‘) –, im Erleben prozesshaft und teleologisch angeordnet und durch einen Umschlagmoment gekennzeichnet sind, in der Konzeption der Zweideutigkeit näher zusammenzurücken: Statt des starken Umschlagmoments scheint Tillich hier eher ein weicheres Hin- und Herschimmern, ein Nebeneinander beider Momente zu setzen: Das Unbedingte ist eben nicht erst Sinnabgrund, dann Sinngrund, sondern schimmert im religiösen Erleben ständig zwischen diesen beiden Erfahrungen hin und her. Mit der Zweideutigkeit wird aber auch schon ein gewisser Vorbehalt in die Vision der religiösen Kultursynthese eingebaut, wie die wiederholten Anklänge auf die konflikthafte Sphäre und den Kampf zwischen ‚göttlich‘ und ‚dämonisch‘ andeuten. Mit anderen Worten: Zweideutigkeit wird zur inneren Differenzierung der Einheit herangezogen.
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2.5 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Erste Weichenstellungen 2.5 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Erste Weichenstellungen
Diesem ersten werkgeschichtlichen Kapitel lagen zwei Anliegen zugrunde: Zunächst sollten die Grundpfeiler und zentralen Intentionen der Tillich’schen Theologie ab 1919 vorgestellt werden. Damit verbunden war die Absicht, die Rahmenbedingungen für etwaige Verschiebungen und Neujustierungen auszuloten, die mit dem Zweideutigkeitsbegriff ab Mitte der 1920er Jahre einhergehen und im folgenden Kapitel dieser Arbeit Betrachtung finden (vgl. II.3). In einem zweiten Schritt ging es darum, mögliche Inspirationsquellen für Tillichs Zweideutigkeitsbegriff aufzuspüren, den vereinzelten, frühen Belegen in Tillichs Schriften selbst nachzugehen und danach zu fragen, welche ersten Weichenstellungen in diesen ersten Verwendungen vorgenommen werden. Beide Anliegen sollen hier noch einmal eine kurze Zusammenfassung finden. Mit dem Programmvortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur aus dem Frühjahr 1919 und der etwa zeitgleich konzipierten Berliner Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart beginnt Tillich die Ausarbeitung seiner theologischen Neuausrichtung in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dabei tritt – wie die erste Hälfte des vorliegenden Kapitels entfaltete (vgl. II.2.1–2.3) – prominent die Vision einer umfassenden Kultursynthese hervor, in der auf Grundlage des sinntheoretischen Religionsbegriffs alle Geistes- und Gesellschaftsbereiche in einer neuen Einheit zusammengeführt werden. Die Sehnsucht nach einer solchen Einheit kann dabei mit Rückgriff auf Tillichs eigene und ähnliche zeitgenössische Krisendiagnosen als Reaktion auf die Ausdifferenzierungs- und Fragmentierungsprozesse der Moderne interpretiert werden. Drei Grundpfeiler der theologischen Neuausrichtung wurden in der ersten Kapitelhälfte genauer in den Blick genommen (vgl. II.2.3): Der sinntheoretischen Fassung des Religionsbegriffs kommt innerhalb der skizzierten Rahmenbedingungen die Funktion zu, die Dimension unbedingten Sinnes als tieferliegende Einheit hinter der Fragmentierung der modernen Lebensrealität zu garantieren. Die ‚Theologie der Kultur‘ wird im Kontext des modernen Wissenschaftssystems mit der Aufgabe betraut, diese Einheit durch das Aufzeigen der Unbedingtheitsdimension in allen kulturellen Formen nachzuweisen, ihre Anwesenheit zu affirmieren und ihre Verdeckung zu kritisieren. Im Zuge dessen wird allerdings eine spezifisch protestantisch geprägte religiöse Erfahrung universalisiert und zum Maßstab für die neue Kultursynthese erhoben. Mittels des Kairosbegriffs stilisiert Tillich schließlich die eigene Gegenwart zu einem Wendepunkt für die Realisierung der neuen Einheit – und betont zugleich deren Unverfügbarkeit. Mit diesem letzten Punkt ist strukturell auch der Übergang zum zweiten Teil des Kapitels angedeutet: Die Konzeption der neuen Einheit erfolgt unter dem Widerspruch, einerseits zur aktiven Mitarbeit an deren Verwirklichung aufgerufen zu sein und der wiederholten Betonung ihres unverfügbaren und gnadenhaften Eintretens andererseits. Mit dem Verweis auf
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die vorläufige Unerreichbarkeit der Einheit hat Tillich also ein grundsätzlich widerständiges Moment in deren Konzeption eingebaut – ein Moment, das es auch in den weiteren Ausführungen im Blick zu behalten gilt. Dieses Moment von Widerständigkeit wird – so die Analysen des zweiten Kapitelteils (vgl. II.2.4.3) – um mehrere Differenzierungsmomente ergänzt, die sich in der Verwendung von Paradoxstrukturen niederschlagen. Mit Hilfe der Paradoxstrukturen konzeptualisiert Tillich den Vollzug von Religion als ein komplexes und in sich differenziertes Verhältnis. Dabei bezeichnet das ‚absolute Paradox‘ die Erfahrung des Bejahtseins trotz der eigenen Nichtigkeit; das ‚konkrete Paradox‘ die Manifestierung der Offenbarung im Gegenstand trotz dessen Bedingtheit; das ‚positive Paradox‘ die Vorordnung von Schöpfung und Gnade trotz der Sünde. Die auf verschiedenen Ebenen angesiedelten Paradoxverhältnisse sind jeweils durch starke Dichotomien (‚Ja‘/‚Nein‘), einen Aufbau als ‚Trotzdem‘-Verhältnis sowie die dialektische Bewegung über einen Umschlagmoment (von Sinnleere zum unbedingten Sinn) gekennzeichnet. Dabei ist auch der Moment des Umschlagens selbst nicht verfügbar, sondern stellt eine Erfahrung von Offenbarung dar. Mit der Gesamtausrichtung auf die neue Einheitskultur gehen also zugleich bereits Momente der Widerständigkeit sowie innere Differenzierungen und potentielle Bruchlinien dieser Einheit einher, in deren Umfeld nun auch die ersten Belege von ‚Zweideutigkeit‘ auftauchen. Die ersten Verwendungen von ‚Zweideutigkeit‘ (vgl. II.2.4.2) bei Tillich deuten eine Übernahme der ‚Ja‘/‚Nein‘-Struktur des Paradoxes an, wenngleich mit einer anderen Akzentuierung: Statt der Anordnung als ‚Trotzdem‘-Verhältnis deutet sich nun eine ‚Sowohl-als-auch‘-Aufbaulogik der Elemente an und statt des dialektischen Umschlagmoments findet sich ein oszillierendes und bleibendes Nebeneinander. Gegenüber den Belegen von 1910, in denen der Begriff im Kontext der Interpretation von Schellings Potenzenlehre als ein ontologisches Prinzip auftaucht, das den Widerspruch der Sünde innerhalb einer größeren geschichtsphilosophischen Einheitskonstruktion thematisiert, bezeichnet ‚Zweideutigkeit‘ 1923 zwei Erfahrungsweisen des Unbedingten im Glauben (Grund und Abgrund). ‚Zweideutigkeit‘ wird damit auf der Ebene des (religiösen) Bewusstseins lokalisiert, das in seinem Erleben das Unbedingte ‚zweideutig‘ wahrnimmt als dasjenige, was alle Sinnvollzüge trägt und doch zugleich immer jenseits all dieser Vollzüge steht und sie richtet. ‚Zweideutigkeit‘ erscheint hier als ein asymmetrisch konstruierter Wiederspruch eines Positiv- und eines Negativelements und stellt eine Mischung zwischen Bedeutungs- und Bewertungszweideutigkeit dar. Auch geht die Zweideutigkeit als Ganze mit einer Wertdimension einher, stellt sie doch als Teil einer geschichtsphilosophischen Einheitskonstruktion einen zwar notwendigen, aber dennoch defizitären Konfliktzustand dar, der auf seine eigene Überwindung in einer höheren Synthese hindrängt. Insgesamt scheint die Zweideutigkeit in diesen ers-
2.5 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Erste Weichenstellungen
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ten Zusammenhängen die Funktion zu übernehmen, das Verhältnis von Unbedingtem und Bedingtem im religiösen Erleben adäquat zu beschreiben. Dabei verfolgt Tillich theologisch vor allem zwei Anliegen: Zum einen soll die Transzendenz Gottes gegenüber einer totalen Auflösung in innerweltlichen Sinnvollzügen geschützt werden (Grund und Abgrund), zum anderen die Eigenständigkeit des Menschen (Autonomie) gewahrt bleiben. Unter diesen Voraussetzungen konzipiert Tillich die Erfahrung des Göttlichen als zwischen zwei Modi hin- und herschwankend: Das Unbedingte ist eben nicht erst Sinnabgrund, dann Sinngrund, sondern schwankt im Erleben ständig zwischen diesen beiden Erfahrungen hin und her. Damit wird (moderne) Religiosität als ein differenziertes, und in sich unstetes Unterfangen beschrieben, das zwischen dem Empfinden von Sinnlosigkeit und Sinnhaftigkeit verortet ist. Zugleich baut Tillich mit der Zweideutigkeit einen gewissen Vorbehalt in die Vision der religiösen Kultursynthese ein, wie die wiederholten Anklänge auf die konflikthafte Sphäre und den Kampf zwischen ‚göttlich‘ und ‚dämonisch‘ andeuten. Damit kommt der Zweideutigkeit zuvorderst die Funktion zu, widersprüchliche Erfahrungen religiös-modernen Lebens, die in und trotz einer propagierten Einheit stattfinden, begrifflich einzuholen. Fasst man mit Blick auf die Anliegen und Fragestellungen des ersten Teils dieser Arbeit die wichtigsten Punkte von Tillichs Ambiguitätsbegriff zusammen, so ergeben sich folgende Punkte: Erstens wählt Tillich mit ‚Zweideutigkeit‘ eine Begrifflichkeit, die binär strukturiert ist und bringt diese Struktur auch inhaltlich mit Gegensatzpaaren in Verbindung (etwa Grund/Abgrund, göttlich/dämonisch, etc.). Tillichs Ambiguitätsbegriff scheint also zunächst einer zu sein, der bestimmte Wiedersprüchlichkeiten auf den Begriff zu bringen sucht – Widersprüchlichkeiten, die jedoch im Modus des Hin- und Herschimmerns, eines Oszillierens vorgestellt werden. Im Vergleich zu den binär strukturierten Ambivalenzbegriffen im Eingangsteil – etwa der Ambivalenz von Religion bei Ulrich Beck (vgl. I.3.3) – fällt auf, dass Tillich, erstens, nicht zu denken scheint, dass diese Binarität eine ist, die, etwa zugunsten einer Logik des Mehrdeutigen oder im Rahmen eines Pluralisierungsprozesses aufzulösen ist. Er scheint sie vielmehr als ein grundlegendes Strukturmoment jeder religiösen Erfahrung zu denken, unabhängig der jeweiligen Epoche oder Religionszugehörigkeit. Wenngleich damit die durchaus problematische Universalisierung eines spezifisch protestantischen Religionsbegriffs noch einmal angesprochen ist, stellt dieser Fokus auf die Struktur religiöser Erfahrung statt auf Religion als soziologische Größe eine interessante, theologische Perspektive dar. Diese gilt gerade mit Blick auf die Frage nach dem subversiven Potential von Religion gegenüber Pluralisierungs- bzw. Uniformierungsprozessen im Blick zu behalten. Als weiterer Punkt lässt sich bei Tillich – im Gegenüber zu der tendenziell sehr positiven Einordnung von Ambiguität im Bereich der soziologischen und
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kulturwissenschaftlichen Analysen des ersten Teils – eine gewisse Negativwertung der Gegensätzlichkeit oder Konflikthaftigkeit feststellen, die mit der Zweideutigkeit verbunden ist. Es liegt damit also eine latent negative Wertung von Ambiguität als Zweideutigkeit vor, verbunden mit einem Hindrängen auf die Überwindung von Ambiguität in einer höheren Einheit der Gegensätze, nach einer Form von Widerspruchsfreiheit oder positiv verstandener Eindeutigkeit. Wird die hier festgestellte Negativwertung auch im Zusammenhang mit der Einführung von Zweideutigkeit als Zentralbegriff ab Mitte der 1920er Jahre fortbestehen? Behält Tillich auch hier stets den Drang zur Überwindung dieser Gegensätzlichkeit, den Wunsch nach ihrer Synthetisierung in einer wie auch immer gearteten Einheitskonstruktion bei? Diesen Fragen gilt es im nächsten Kapitel nachzugehen.
Kapitel 3
Die Etablierung der Zweideutigkeit als religionstheoretische Denkfigur. Die Dresdener Dogmatik (1925–27) Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit Die Etablierung der Zweideutigkeit
„Seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts sind verschiedene Systeme protestantischer Theologie entwickelt worden, einige über eine ganze Periode von drei Jahrzehnten und mehr hinweg. (Auch ich betrachte meine Vorlesung über ‚Systematische Theologie‘ in Marburg im Jahre 1924 als den Anfang meiner Arbeit an dem vorliegenden System)“1, so erinnert Paul Tillich in der Einleitung zum dritten Band seiner Systematischen Theologie, erschienen im Jahr 1963, an den Entstehungsprozess seines späten Hauptwerks. Mit dieser Anmerkung nimmt Tillich Bezug auf seine im Sommersemester 1925 in Marburg begonnene und ab dem Wintersemester 1925/26 in Dresden und Leipzig wiederholte und fortgesetzte Vorlesung, die postum im Jahr 1986 veröffentlicht und 2005 in neuedierter Fassung herausgegeben wurde.2 Die Schlüsselstellung der Dresdener Dogmatik für Tillichs werkgeschichtliche Entwicklung hin zu seinem Opus Magnum stellt einen Konsens der Tillich-Forschung dar – wenngleich die Nichterwähnung der Systematischen Theologie von 1913 in der eingangs zitierten Rückschau ein gewisses „Rätsel“3 TILLICH, Systematische Theologie III, 17. Das Jahr 1924 ist hier fälschlich genannt, es handelt sich tatsächlich um das Jahr 1925. Vgl. auch SCHÜßLER, WERNER/STURM, ERDMANN, Historische Einleitung, in: Tillich, Dogmatik-Vorlesung, V.XI–XVII. 2 Vgl. zur Textedition die Einleitung dieser Arbeit, 4, Fn.12. Zu ergänzen ist hier, dass die Neuedition von 2005 neben Textkorrekturen anhand von Vorlesungsnachschriften zwei Beilagen zu weiteren Systementwürfen enthält, zum einen „Die Gestalt der religiösen Erkenntnis (Gliederung und Lehrsätze)“, zum anderen „Der Ort der religiösen Erkenntnis (Prolog)“, vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 393–431.433–440. Vgl. zu den Beilagen auch SCHÜßLER, WERNER, Die ‚Dogmatik‘ Paul Tillichs in neuem Licht. Zwei Funde von Bedeutung für die Tillich-Forschung, in: Theologie und Philosophie 62 (1987), 243–252. 3 So die Herausgeber der Ausgabe von 2005, a.a.O., XXI. Keineswegs bildet nämlich die Dresdener Dogmatik den Anfangspunkt von Tillichs Systembildung – Vorläufer gab es durchaus: Bereits ein Jahr nach Abschluss seiner theologischen Lizentiaten-Dissertation, entfaltete Tillich im Jahr 1913 sein erstes vollständig ausgeführtes System, die Systematische Theologie von 1913. Im Gegensatz zur Dogmatik von 1925–1927, die ein Fragment blieb, liegt Tillichs erstes System als vollständiges Manuskript vor, das sich in die drei Teile Apologetik, Dogmatik und Ethik gliedert. Vgl. TILLICH, Systematische Theologie von 1913, 1
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
bleibt. Nach der Wissenschaftstheorie von 1923 und der Religionsphilosophie aus demselben Jahr komplettiert die Dogmatik-Vorlesung Tillichs Ambitionen auf ein vollständiges theologisches System.4 Als Entfaltung der zentralen christlichen Symbole ‚Schöpfung‘, ‚Erlösung‘ und ‚Vollendung‘ bildet sie zugleich die materiale Durchführung des in der Religionsphilosophie vorgestellten Programms der Dogmatik.5 Mannigfache Verbindungen zur sinntheoretischen und kulturtheologischen Schaffensphase der frühen 1920er Jahre sind auch zur Zeit der Dresdener Dogmatik gegeben: Nicht zuletzt beweist die Veröffentlichung von Aufsätzen wie Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), dass die kulturtheologischen Topoi der unmittelbaren Nachkriegszeit Tillich weiter beschäftigen.6 Zugleich aber markiert die Vorlesung als explizite Hinwendung zur Materialdogmatik einen Übergang von religionsphilosophischen und kulturtheologischen Themen hin zu explizit dogmatischen Fragestellungen.7 Bedingt ist dieser werkgeschichtliche Neueinsatz unter anderem durch die biografische Zäsur im Jahr 1924: Mit dem Wechsel nach Marburg ist für Tillich der Schritt vom pulsierenden, avantgardistischen Berlin und der dort praktizierten Ausrichtung der Theologie auf die „Troeltsch’en Fächer“8 in die provinziell anmutende Kleinstadt mit einem erstarkenden Einfluss der sogenannten „neuen Orthodoxie“ verbunden, die den jungen Professor – nach einer kurzen Phase der Niedergeschlagenheit – zur Suche nach einem wiederum „neue[n] Weg“9 motivierte. in: EW IX, 278–434. Zu den Stadien der Tillich’schen Systembildung vgl. DIENSTBECK, Transzendentale Strukturtheorie. 4 Vgl. TILLICH, Religionsphilosophie (1925), in: GW I, 295–364; Ders, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), in: GW I, 109–293. Vgl. auch FRITZ, Menschsein als Frage, 115. 5 Vgl. TILLICH, Religionsphilosophie (1925), 353: „Dogmatik ist Lehre von der theonomen Metaphysik oder vom Mythos mit autonomen Symbolen. Sie ist eine zentrale synthetische Aufgabe jeder Periode. Der Mythos stellt sich in dreifacher Richtung dar. Als Mythos des Seins, als Mythos der Geschichte und als Mythos der absoluten Idee, mythisch gesprochen als Schöpfung, als Erlösung und als Vollendung.“ Hervorhebung im Original. 6 Vgl. TILLICH, Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), in: GW X, 9–92. Vgl. auch FRITZ, Menschsein als Frage, 115. 7 Vgl. a.a.O., 23f. 8 So Tillich in einem Brief an Reinhold Seeberg vom 5.11.1924. Vgl. SCHÜßLER/STURM, Historische Einleitung, XXV. 9 Tillich schreibt rückblickend in seinen „Autobiographische Betrachtungen“ aus dem Jahr 1952 über den Wechsel nach Marburg: „Während einer dreisemestrigen Vorlesungszeit dort erlebte ich die ersten radikalen Auswirkungen der neuen Orthodoxie auf die Theologiestudenten: das theologische Denken befaßte sich nicht mehr mit kulturellen Problemen. Theologen wie Schleiermacher, Harnack, Troeltsch, Otto wurden verachtet und verworfen, soziale und politische Gedanken aus der theologischen Diskussion verbannt. Der Gegensatz zu meinen Berliner Erlebnissen war überwältigend, zuerst deprimierend, dann anfeuernd – ein neuer Weg mußte gefunden werden. Damals begann ich in Marburg – es war 1925 – die
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Die Hinwendung zur Materialdogmatik als werkgeschichtliche Zäsur ist dabei mit der Einführung eines neuen Religionsbegriffs verbunden:10 Die geist-, sinn- und kulturphilosophische Religionstheorie der frühen 20er Jahre weicht einem konkret-existentiellen Religionsbegriff, der in der Formel von ‚dem, was uns unbedingt angeht‘ seinen sich bis ins Spätwerk durchziehenden Ausdruck findet.11 Die Bedeutung des Religionsbegriffs als Letztbegründung aller geistig-kulturellen Operationen tritt nun zugunsten von „Religion als Betroffenheit der konkreten individuellen ‚Existenz‘ in ihrem fundamentalen Streben nach Gehalt und Halt“12 in den Hintergrund. Die Modifikation des Religionsbegriffs als Hinwendung zur konkreten ‚Existenz‘ fällt dabei zusammen mit der zunehmenden Verwendung ontologischer Begrifflichkeiten,13 die sich aus unterschiedlichen und letztlich nicht eindeutig zu klärenden Quellen speist.14
Arbeit an meiner ‚Systematischen Theologie‘, deren erster Band 1951 erschienen ist. TILAutobiographische Betrachtungen, 69. Zu Marburg als einem – Tillichs Darstellung zum Trotz – intellektuellen Treffpunkt einflußreicher Denkerpersönlichkeiten wie Rudolf Otto, Martin Heidegger, Rudolf Bultmann uvm. vgl. JOHNSON, WENDELL G., Marburg ca. 1900–1925. The Treffpunkt of Theology, Philosophy, and New Testament, in: Journal of Religious and Theological Information 17/1 (2018), 1–7. 10 Diese These hat Martin Fritz in seiner Habilitation umfassend begründet, vgl. dazu FRITZ, Menschsein als Frage, 25. 28f., sowie für die Entfaltung der These 114–307. 11 Vgl. a.a.O., 25.28f. 12 A.a.O., 28. 13 A.a.O., 15. 14 Bezüglich der Datierung der sog. ‚ontologischen Wende‘ in Tillichs Denken herrscht in der Forschung Uneinigkeit. So datiert etwa Neugebauer die „ernsthafte Wendung zur Ontologie […] ungefähr ab 1927“, vgl. NEUGEBAUER, Tillichs frühe Christologie, 349, während Fritz die Einführung des ‚Seins‘ als Grundbegriff bereits im Jahr 1923 festmacht, vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 311. Bezüglich der Inspirationsquellen für Tillichs ontologische Redeweise ist zum einen auf einen allgemeinen Trend der 1920er Jahre zu verweisen, der im Anschluss an Denker wie Georg Simmel die Begriffe ‚Sein‘ und ‚Seiendes‘ vermehrt auftauchen lässt. Davon zu unterscheiden ist jedoch die ‚Ontologie‘ als Strukturanalyse des menschlichen Seins, wie sie unter dem Stichwort Phänomenologie prominent von Martin Heidegger betrieben wird. Eine Rezeption seitens Tillich gilt hier erst ab 1927 mit der Veröffentlichung von Sein und Zeit gegeben, vgl. etwa die Bezugnahmen in TILLICH, PAUL, Religiöse Verwirklichung (1930), Berlin: Furche 21950, 22f. oder der Verweis in TILLICH, Auf der Grenze, 36. Allerdings konstatieren die Herausgeber der kritischen Edition schon in der Dresdener Dogmatik eine Nähe zur Ontologie Heideggers, vgl. SCHÜßLER/STURM, Historische Einleitung, XXXV. Als dritter Strang ist die sogenannte ‚neue Ontologie‘ der 20er Jahre mit Vertretern wie Nicolai Hartmann zu nennen, dem es um die Konstruktion der Wirklichkeit als umfassende Realität auf Basis einer Stufenordnung geht, vgl. HARTMANN, NICOLAI, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921), Berlin/Boston: De Gruyter 51965. Auf beide, Heidegger und Hartmann, verweist Tillich in der Frankfurter Zeit in einem Gutachten, vgl. STURM, Historische Einleitung, in: TILLICH, PAUL, Vorlesungen über Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Frankfurt 1929/30) [= EW XV], Berlin/Boston: De Gruyter 2007, XXIII–LIX, hier XLII; vgl. auch: FRITZ, Menschsein als Frage, 311. 370f. LICH,
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
Mit der noch tastenden Etablierung dieses neuen existential-ontologischen Paradigmas fällt auch das plötzliche und gehäufte Auftauchen des Terminus ‚Zweideutigkeit‘ zusammen. Die ‚Wirklichkeit‘, die ‚Heilsoffenbarung‘, die ‚Wesenserfassung‘ – alles ist mit einem Mal ‚zweideutig‘. Die Termini ‚zweideutig‘/‚Zweideutigkeit‘ dominieren zunächst vor allem in den Prolegomena zu den Topoi Offenbarung und Erkenntnis- bzw. Wissenschaftstheorie die Ausführungen.15 In der Materialdogmatik avanciert die Zweideutigkeit im Zusammenhang mit der Sündenlehre zu einem Zentralbegriff, gipfelnd in der ersten ausführlichen Definition von Zweideutigkeit.16 Als ein Konstruktionsprinzip für das Ineinander von Schöpfungs- und Sündenlehre mündet sie schließlich in einen theoretischen Metabegriff.17 Angesichts des unvermittelten Auftretens,18 der plötzlichen systematischen Zentralstellung und den wechselnden Konstellationen drängt sich sofort die Frage nach der Bestimmung des Begriffs und dem dahinterliegenden Sachverhalt auf: Was ist es, das Tillich mit der ‚Zweideutigkeit‘ zum Ausdruck bringen will? Erste Mutmaßungen – in Verbindung mit den bisher genannten Verschiebungen – weisen in Richtung einer gewissen Ernüchterung bezüglich Tillichs Traum einer religiös durchdrungenen und sozialistisch realisierten Einheitskultur, die sich Mitte der 1920er Jahre allmählich einstellt. Während die frühen Nachkriegsjahre von Aufbruchsschwung und enthusiastischer Hoffnung geprägt sind – „Wir können fühlen, daß sie [die neue Geistes- und Gesellschaftseinheit, Anm. Vfin.] kommt, kommen muß, wir können ihr entgegengehen, und wir wollen es in diesen Stunden […]“19 –, schleicht sich Mitte der 1920er Jahre bezüglich dieser Hoffnung auf die große Synthese ein desillusionierter Ton ein: „Es ist als ob ein Reif gefallen wäre auf all die Dinge, […] heißen sie Jugendbewegung oder Lebensphilosophie, heißen sie Expressionismus oder religiöser Sozialismus! War nicht doch alles Romantik, Rausch, Utopie?“20, so befragt Tillich in seinem zweiten Kairos-Aufsatz aus dem Jahr 1926 die eigenen Ambitionen. Im Rahmen der hier anklingenden Ernüchterung muss konsequenterweise auch die theologische Antwort neu und anders gedacht werden. Die hier zu entfaltende These lautet demzufolge, dass der Begriff der Zweideutigkeit im Rahmen dieser Neuausrichtung, die Tillich ab 1926 unter dem Stichwort ‚Gläubiger Realismus‘ fasst, als zentraler Begriff etabliert wird. Dabei wird im Verlauf der Vorlesung deutlich, dass Tillich selbst noch auf der Suche nach einem geeigneten theoretischen Standort für seinen Begriff ist, ihn in verschiedenen Zusammenhängen platziert und auch verschiedentlich definiert. Vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 19–50.83–105. Vgl. a.a.O., 177. 17 Vgl. a.a.O., 223–267. 18 Zu vereinzelten Vorkommen vor 1925 vgl. II.2.4.2. 19 TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 28. 20 TILLICH, Kairos II. Ideen zur Geisteslage der Gegenwart (1926), in GW VI, 29–41, hier 41. 15 16
3.1 Problemhorizonte 1925/26
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Dementsprechend wird es im Folgenden darum gehen, die verschiedenen Zusammenhänge, in denen der Begriff fällt, abzuschreiten und die vorkommenden Belege zu analysieren. So wird sukzessive der Zweideutigkeit im Kontext der offenbarungs- und wissenschaftstheoretischen Prolegomena sowie den materialdogmatischen Topoi ‚Schöpfung‘, ‚Sünde‘ und ‚Erlösung‘ nachgegangen. Dabei wird analysiert, welcher Sinn dem Begriff jeweils zukommt und auf welche Phänomene er sich erstreckt (vgl. II.3.3). Dem vorgeschaltet ist eine Auseinandersetzung mit der Problemlage Mitte der 1920er Jahre, die paradigmatisch – und in Ergänzung zu der Beschäftigung mit dem Expressionismus im vorigen Kapitel – anhand der Kunstrichtung der Neuen Sachlichkeit stattfindet (vgl. II.3.1). Im Anschluss daran wird Tillichs Antwort auf die neuen Herausforderungen, das Programm eines ‚Gläubigen Realismus‘, in Kürze skizziert (vgl. II.3.2).
3.1 Problemhorizonte 1925/26 3.1 Problemhorizonte 1925/26
„Brutalität! Klarheit, die wehtut! Zum Einschlafen gibt's genügend Musiken! […] Pinsle, was das Zeug hält – fang die rasende Zeit ein […]“21, so lautet der programmatische Aufruf des Malers George Grosz, einem führenden Vertreter der Neuen Sachlichkeit. Eindringlich kritisiert Grosz die „Wolkenwanderungstendenzen“ der zeitgenössischen Malerei, „deren Anhänger über Kuben und Gotik nachsannen, während die Feldherren mit Blut malten.“22 Die Kunst, so das Votum der Neuen Sachlichkeit, muss nach Avantgarde und Ausbruch wieder zurück zu den Dingen selbst, zum Gegenstand, und mit Klarheit die Brutalität der Welt anprangern. Vom 14. Juni bis zum 13. September 1925 findet in der Kunsthalle Mannheim unter dem Titel Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus die einzig größere Kunstaustellung zur Neuen Sachlichkeit in Deutschland statt. Eingeladen sind Künstler, „die der positiven greifbaren Wirklichkeit mit einem bekennerischen Zug treu geblieben oder wieder treu geworden sind“, nämlich als Vertreter der „Ding-Entdeckung nach der IchKrise“23, so der Einladungstext Gustav Friedrich Hartlaubs, Direktor der
21 22
KNUST, HERBERT, George Grosz. Briefe 1913–1959, Hamburg: Rowohlt 1979, 62. GROSZ, GEORGE /HERZFELDE, WIELAND, Die Kunst ist in Gefahr, Berlin: Malik 1925,
22f. WETZEL, CHRISTOPH, Art. Neue Sachlichkeit, in: Ders., Reclams Sachlexikon der Kunst, Stuttgart: Reclam 2007, 332f., hier 332. Im Ausstellungskatalog selbst beschreibt Hartlaub die neue Strömung explizit als nachexpressionistisch statt anti-expressionistisch, eine Kategorisierung, die auch Tillich in seinen Beschreibungen der neuen Sachlichkeit hervorhebt (vgl. TILLICH, Gläubiger Realismus II, 88). So schreibt Hartlaub: „So mag man zugeben, daß einige Maler unserer Ausstellung in der Art, wie sie die Dinge aktuellster Wirk23
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
Mannheimer Kunsthalle, aus dem Jahr 1923. Die Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim trifft den Nerv der Zeit und erregt großes Aufsehen, so dass sie anschließend durch mehrere Städte Sachsens und Thüringens tourt und unter anderem in Dresden Station macht24 – wo sie vermutlich auch Paul Tillich zu Gesicht bekam (vgl. II.3.2). Als einer führenden Kunstrichtung der Weimarer Republik geht es der ‚Neuen Sachlichkeit‘ (vertreten u.a. durch George Grosz, Otto Dix, Christian Schad, Georg Schrimpf, Rudolf Schlichter und Max Beckmann) also um eine Rückbesinnung auf die sichtbaren Formen der Welt. Mit der Hinwendung zu Gegenstand und Alltagsobjekt, einem klaren Bildaufbau und einer realistischen, detailgenauen Darstellung finden Eindrücke des modernen (Groß-) Stadtlebens, rauchende Fabriktürme, Architekturbilder, Stillleben sowie Porträts, nicht selten von der ‚Neuen Frau‘ mit Bubikopf und Zigarette ihren Weg auf die Leinwand. Auch die Revolutionierung des Alltags durch Technik und Massenkultur ist, oft in kritischer Perspektive, allgegenwärtig.25 In der sogenannten ‚veristischen‘ Strömung der Neuen Sachlichkeit finden zudem explizit politische Themen – Armut, Verelendung, Kriegsversehrung – Berücksichtigung. Diese sind in der Regel getragen von einer sozialistischen oder kommunistischen Gesinnung.26 Kurzum: Es geht darum, die Welt zu zeigen, wie sie ist, und gerade auch darin gesellschaftliche und politische Verhältnisse zu kritisieren. Interessanterweise fällt die große Popularität der Neuen Sachlichkeit Mitte der 1920er Jahre mit einer Phase zumindest „relativer Stabilisierung“27 der polichkeit anpacken, stark abweichen von den gegenstandslosen, fast übersinnlichen Ausdruckserfindungen gewisser ‚Expressionisten‘. Sieht man aber auf die hemmungslose Intensität, mit der die Einen ihre inneren Gesichter, die Anderen ihre äußeren Konstatierungen herausschleudern, oder beachtet man den konstruktiven Zug, den die heutige Wirklichkeitskunst nicht weniger betont, als die Kubisten und Futuristen von gestern, so ergibt sich viel Gemeinsames.“ HARTLAUB, GUSTAV F., Zum Geleit, in: Ders./Eberhard Roters (Hg.), Ausstellungskatalog „Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“, Mannheim: Städt. Kunsthalle 1925 (Nachdruck Köln: König 1988). 24 Nach Mannheim machte die Ausstellung Station in Dresden, Chemnitz, Erfurt und Dessau, sowie in deutlich reduzierter und veränderter Auswahl in Halle, Jena und Essen. In Dresden war sie vom 18. Oktober bis zum 22. November 1925 im Sächsischen Kunstverein Dresden zu sehen, vgl. DAHME, STEPHAN/RENNER, KATI, Die Dresdener Neue Sachlichkeit im Spiegel nationaler und internationaler Entwicklungen: zwei wegweisende Ausstellungen 1925/26, in: Birgit Dalbajewa (Hg.), Neue Sachlichkeit in Dresden, Dresden: Sandstein 2012, 98–103, hier 98f. 25 Vgl. EBERLE, M ATTHIAS, Der Weltkrieg und die Künstler der Weimarer Republik. Dix, Grosz, Beckmann, Schlemmer, Stuttgart/Zürich: Belser 1989, 9–30. 26 Zur Unterscheidung von ‚Veristen‘ und ‚Klassizisten‘ innerhalb der ‚Neuen Sachlichkeit‘ und der Tragfähigkeit dieser Unterscheidung vgl. HARTLAUB, Zum Geleit. 27 W IRSCHING, A NDREAS, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, München: Oldenbourg 22008, 15.
3.1 Problemhorizonte 1925/26
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litischen und sozialen Verhältnisse der jungen Republik zusammen. Die Jahre von 1924 bis 1928 gelten weithin als die „ruhigen Jahre“28, im Gegenüber zur Gründungs- und zur Endphase der Weimarer Republik. Nach ständiger politischer und wirtschaftlicher Instabilität kulminierend in der Hyperinflation von 1923 bringt die Einführung der ‚Rentenmark‘ im November 1923 ein gewisses Maß an finanzieller Stabilisierung und die plötzliche Verfügbarkeit von Lebensmitteln und Konsumgütern.29 Auch außenpolitisch findet eine gewisse Konsolidierung, symbolisiert in der Person Gustav Stresemanns, statt, der maßgeblich am Zustandekommen des Dawes-Plans 1924, den Verträgen von Locarno 1925 sowie Deutschlands Eintritt in den Völkerbund 1926 beteiligt war.30 So bringt die Mitte des Jahrzehnts für viele ein lange ersehntes Gefühl von Normalität. Der Schriftsteller Stefan Zweig schreibt hierzu im Rückblick: Man konnte wieder arbeiten, sich innerlich sammeln, an geistige Dinge denken. Man konnte sogar wieder träumen und auf ein geeintes Europa hoffen. Einen Weltaugenblick schien es, als sollte unserer schwer geprüften Generation wieder ein normales Leben beschieden sein.31
Gleichwohl mischt sich in diesen Anschein äußerlicher Ruhe und Konsolidierung auch ein gewisses Gefühl des Unbehagens32 und der Melancholie33 – auch schon, bevor sich abzeichnet, dass es sich nicht um eine längerfristige Stabilität handelt. Der „epochenspezifische Januskopf“34 der Weimarer Jahre kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass im sozialstaatlichen Fortschritt auch die „Gefahr eines technokratisch-utilitaristischen ‚social-engineering‘“35 lauert und dass Effizienzsteigerung, Produktivität und (vermeintlicher) Aufschwung zugleich die Erosion traditioneller Lebensformen und -milieus bedeuten.36 Nicht zuletzt ist mit den Jahren der Stabilisierung eben auch das Scheitern manch größerer Hoffnungen und gesellschaftspolitischer Visionen der frühen KLUGE, ULRICH, Die Weimarer Republik, Paderborn u.a.: Schöningh 2006, 95. WIRSCHING, Weimarer Republik, 15. 30 Vgl. K LUGE, Weimarer Republik, 95–128. 31 ZWEIG, STEFAN, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M.: Fischer 442019, 360. Vgl. auch WIRSCHING, Weimarer Republik, 15. 32 Stefan Zweig schreibt dazu, allerdings mit Rückblick auf das Jahr 1931: „Wäre es wirklich gut […], wenn Dein Leben so weiterginge, so windstill, so geregelt, so einträglich, so bequem, so ohne neue Anspannung und Prüfung? Ist sie dir, ist sie dem Wesentlichen in Dir nicht eher unzugehörig, diese privilegierte, ganz in sich gesicherte Existenz?“ ZWEIG, Die Welt von Gestern, 404. 33 Vgl. R EESE, B EATE, Melancholie in der Malerei der Neuen Sachlichkeit, Frankfurt a.M.: Lang 1998, 13–19.26–28. Die Deutung geht dabei auf den französischen Kunsthistoriker Jean Clair zurück. 34 W IRSCHING, Weimarer Republik, 49, hier in Beschreibung von Detlev J. K. Peukerts Deutung der Weimarer Zeit, vgl. PEUKERT, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, 46. 35 Ebd. 36 Vgl. W IRSCHING, Weimarer Republik, 49f. 28 29
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
Weimarer Jahre verbunden. All diese Themen werden in den Werken der Neuen Sachlichkeit thematisiert, in denen schließlich auch Paul Tillich eine Inspiration für die Neuausrichtung seines eigenen Denkens Mitte der 1920er Jahre findet.
3.2 Paul Tillich und die Neue Sachlichkeit. Revisionen der frühen Euphorie 3.2 Paul Tillich und die Neue Sachlichkeit
In seiner kleinen Schrift Die geistige Welt im Jahr 1926 beschreibt Tillich das Jahr 1926 als „ein Jahr der Beruhigung, der Müdigkeit, der Resignation und – des Atemholens, der verborgenen Schöpfung.“37 Das Jahr, in dessen Kontext die erste Hochkonjunktur des Begriffs der Zweideutigkeit im Werk Tillichs fällt,38 trägt für Tillich also selbst zweideutige Züge: Auf der einen Seite äußert er eine gewisse Ernüchterung, was die enthusiastischen Aufbruchsphantasien der Nachkriegszeit angeht – es ist von „Müdigkeit“ und „Resignation“ die Rede. Auf der anderen Seite bezeichnet Tillich 1926 als ein Jahr, in dem neue, andere Möglichkeiten ausgelotet werden, dem überraschend beharrlichen „Geist der bürgerlichen Gesellschaft“39 und damit der Diesseitsfixierung einer „sich absolut setzenden Endlichkeit“40 produktiv zu begegnen: Es ist die Zeit, in der Tillich beginnt, von ‚Gläubigem Realismus‘ zu sprechen. Die Verschiebungen, die sich hier gegenüber den euphorischen Visionen der unmittelbaren Nachkriegszeit abspielen, parallelisiert Tillich selbst mit der zeitgleich stattfindenden Zäsur in der zeitgenössischen Kunst: Während sich um die Jahrhundertwende und in den ersten beiden Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts das anti-bürgerliche Aufbegehren in der expressionistischen Kunst Ausdruck verschafft habe, indem dort der „Abgrund des Seienden […] in Li-
37 TILLICH, Die geistige Welt im Jahr 1926, 99. Auch a.a.O., 84: „Das Jahr 1926 hat nun vielleicht darin seinen besonderen Charakter, daß der Geist in ihm auf mancherlei Gebieten und in mancherlei Art eine Atempause macht, nicht eine Pause seiner produktiven Arbeit – die gibt es nicht –, aber eine Pause in der Ruhelosigkeit des Übergehens, des Weiterdrängens, des Sich-Weiter-Entfernens von seinem Ausgangspunkt, den Spannungen der Jahrhundertwende.“ Auch hier kommt eine gewisse Stabilisierung zum Ausdruck, wie sie sich auch in den Schilderungen von II.3.1 findet. 38 An dieser Stelle sei nochmals erwähnt, dass Tillich seine Dogmatik-Vorlesung zwar in seinem letzten Marburger Semester (Sommersemester 1925) begonnen, jedoch hier vermutlich nur ein Drittel der Vorlesung gehalten hat. Den weitaus größeren Teil trägt er in Dresden in den Jahren 1926 und 1927 vor, vgl. SCHÜßLER/STURM, Historische Einleitung, XXVIIf. 39 TILLICH, Die religiöse Lage der Gegenwart, 33. 40 Ebd.
3.2 Paul Tillich und die Neue Sachlichkeit
181
nien, Farben und plastischen Formen“41 als Antipode zur Diesseitigkeit heraufbeschworen wurde, korrespondiert für Tillich die Lage der Mittzwanzigerjahre mit dem künstlerischen Stil der Neuen Sachlichkeit. Tillich erwähnt die neue Kunstrichtung in mehreren Aufsätzen Mitte der 1920er Jahre.42 Sie gilt ihm als Ausdruck einer neuen Geisteshaltung, die „die Elemente des Subjektiven und Romantischen in der vorhergehenden Epoche [verwirft], ohne die Tiefe und den kosmischen Symbolismus ihrer Vorgänger [der Expressionisten, Anm. Vfin.] aufzugeben.“43 Vielmehr versuche der neue Realismus „durch die Verwendung der gegebenen Formen, auf den Sinngehalt des Wirklichen hinzudeuten“44. Er interessiere sich also „nicht für die natürlichen Formen der Dinge um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer Ausdruckskraft für tiefere Schichten und als Ausdruck des objektiven Gehaltes, der inneren Mächtigkeit der Dinge.“45 Mit dieser Deutung kann Tillich auch weitergehen zu behaupten, die Kunst seiner Zeit treibe eben auf einen solchen ‚Gläubigen Realismus‘ zu, auf eine „Gesamthaltung zur Wirklichkeit“ also, die „in sich in aller Entschiedenheit zwei Elemente vereinigt, das Wirkliche und die transzendierende Macht des Glaubens.“46 Tatsächlich ist die Neue Sachlichkeit bisweilen auch in der Kunstwelt als ‚Magischer Realismus‘ bezeichnet worden, wobei sich die Bezeichnung „‚magisch‘ hier auf die ambivalente Darstellungsmethodik dieser Stilrichtung bezieht.“ Trotz der Tendenz zu scharfen Konturen, strengem Bildaufbau und emotionsloser Darstellung lässt sich in den Werken eine „engagierte Perspektivik des Künstlers erkennen“, die die „Mehrschichtigkeit der Wirklichkeit hinter ihrer Oberflächenfassade freilegt.“47 Wenngleich Tillichs Kunstdeutungen mit einer gewissen Vorsicht begegnet werden muss,48 liegt damit doch die Nähe bestimmter Intentionen Tillichs zu seinen künstlerischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf der Hand: Die Hinwendung zu den Dingen selbst bei gleichzeitiger Transzendierung ihrer Dinglichkeit, verbunden mit dem Hinweis auf tiefere Wirklichkeitsschichten, stellt ein grundlegendes 41 TILLICH, Die religiöse Lage der Gegenwart, 34. Tillich verweist hier auf Cézanne, van Gogh und Munch als Vorläufer des Expressionismus, während er für letzteren vor allem die Maler des ‚Brücke-Kreises‘ (Schmidt-Rottluf, Nolde, Kirchner, Heckel) nennt. 42 So etwa TILLICH, Gläubiger Realismus II, 88f.; TILLICH, Die religiöse Lage der Gegenwart, 33–37; TILLICH, Die geistige Welt im Jahr 1926, 94.98f. 43 TILLICH, Gläubiger Realismus II, 88. 44 A.a.O., 89. 45 Ebd. 46 Ebd. Auf den Zusammenhang von Neuer Sachlichkeit und Gläubigem Realismus verweist auch NONNENMACHER, BURKHARD, Tillichs ‚Gläubiger Realismus‘ im Spannungsfeld von Reformation und Revolution, in: Asmar, Reformation und Revolution, 173–188, hier 182. 47 THOMAS, K ARIN, Art. Neue Sachlichkeit, in: Dies. (Hg.), DuMonts Kunstlexikon des 20. Jahrhunderts. Künstler. Stile und Begriffe, Köln: DuMont 22006, 292–294, hier 293. 48 Vgl. II.2.1.
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
Moment von Tillichs Konzeption eines ‚Gläubigen Realismus‘ dar, der in der Dresdener Dogmatik sichtbar wird. Verbunden ist damit eine gewisse Revision der starken Einheitsvisionen von 1919, die Tillich – zumindest partiell – als gescheitert ansieht. Den Grund für das Scheitern seiner Hoffnungen sieht Tillich in der Beharrlichkeit des Geistes der bürgerlichen Gesellschaft gegeben, in seiner „dämonische[n] Kraft“.49 In diesem Zusammenhang, wie bereits in der kleinen Schrift Die geistige Welt im Jahre 1926 deutlich wird, greift Tillich zum Begriff ‚Gläubiger Realismus‘, um zwischen der utopischen Hoffnung auf Revolution und „resignierter Beunruhigung“ 50 angesichts der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu vermitteln. So fordert ein solcher Realismus einerseits, „daß wir uns auf allen Gebieten der konkreten, realen Lage zuzuwenden haben“, einschließlich der Einsicht in die gescheiterten Hoffnungen, die gezeigt haben, „daß das Gericht vom Unbedingten her [über die eigenen Illusionen, Anm. Vfin.] nicht nur Dialektik, sondern eine höchst reale, uns bis an die Grenzen der Verzweiflung treibende Macht ist.“51 Andererseits aber bedeutet diese Zuwendung zum Konkret-Realen für Tillich auch, in diesem etwas anderes zu sehen als die reine Diesseitigkeit. In diesem Zusammenspiel von Realitätshingabe und Transzendierung der Realität stehen nun auch die ersten Belege von ‚Zweideutigkeit‘ in der Dresdener Dogmatik.
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik 3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
Geht man den einzelnen Belegen für ‚Zweideutigkeit‘ in der Dresdener Dogmatik nach, fällt, wie bereits erwähnt, auf, dass sich der Begriff in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen findet: Zunächst fällt er gehäuft in der Offenbarungslehre in Zusammenhang mit den Unterscheidungen von ‚heilig‘/‚profan‘ und ‚göttlich‘/‚dämonisch‘ sowie in den erkenntnistheoretischen Grundlegungen der Prolegomena im Zusammenhang mit der ‚Vieldeutigkeit der Wesenserfassung‘.52 Gerade in den offenbarungstheologischen Erläuterungen sticht die Prominenz des Begriffs ins Auge – doch muss die Leserin oder der Leser bis zu den materialdogmatischen Ausführungen der Sündenlehre warten, 49 TILLICH, Gläubiger Realismus II, 89. Für die Hinwendung zum Begriff des Dämonischen verbunden mit Tillichs sozialistischer Entwicklung, vgl. STURM, ERDMANN, Tillichs religiöser Sozialismus im Rahmen seines theologischen und philosophischen Denkens, in: Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Religion und Politik, Münster/Wien: Lit 2008, 15–34. 50 TILLICH, Die geistige Welt im Jahre 1926, 117. Vgl. auch C HRISTOPHERSEN, Kairos, 114f. 51 TILLICH, Kairos II, 41. 52 Vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 20.42.50.88f. Darüber hinaus findet sich ein Beleg in der Schriftlehre über die „Zweideutigkeit der Kanonizität“, vgl. 72.
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
183
um eine ausführliche Definition von Zweideutigkeit zu erhalten.53 Nach diesem ersten Gipfelpunkt einer näheren Bestimmung, die in einiger Diskontinuität zur Begriffsverwendung in den Prolegomena steht, überrascht im weiteren Verlauf der Vorlesung eine Abkehr von der eigenen Definition und die Etablierung der ‚Zweideutigkeit‘ als Konstruktionsprinzip von Schöpfungs- und Sündenlehre.54 Mit anderen Worten: Die Vorlesung vermittelt ein Zeugnis von einem Denkprozess Paul Tillichs, der, so scheint es, selbst noch auf der Suche nach einem geeigneten theoretischen Standort für die Zweideutigkeit ist. Diese erste Diagnose wird flankiert von der Tatsache, dass Tillich seine Vorlesung weder an einem Stück gehalten – die dreisemestrige Vorlesung wird zunächst im Sommersemester 1925 zu einem Drittel in Marburg, dann ab dem Wintersemester 1925/26 noch einmal von vorne in Dresden und Leipzig gehalten – noch, und das mag noch wichtiger sein, an einem Stück verfasst hat. Vielmehr hat Tillich an seinem Manuskript der Vorlesung über knapp zwei Jahre hinweg kontinuierlich geschrieben, dieses immer wieder überarbeitet und ausgebessert. Die Vorlesung und die darin zu beobachtende Denkbewegung Paul Tillichs zur Zweideutigkeit kann somit als ein ‚work-in-progress‘ verstanden werden. Mitzuführen als Frage bei der Begehung dieses Werks ist damit vor allem das Verhältnis der mehrfachen ‚Zweideutigkeiten‘ zueinander: Begegnet hier derselbe Begriff angewendet auf verschiedene phänomenale Gegenstandsbereiche (Offenbarung, Wesenserfassung etc.) und liegt damit bereits ein fundamentaler Strukturbegriff, ein hermeneutischer Schlüssel zu Tillichs Werk vor? Oder nimmt Tillich mit der Anwendung auf verschiedene Gegenstände noch Änderungen an der inhaltlichen Bestimmung des Begriffs vor? Bevor diesen Alternativen nachgegangen wird, sei für einen besseren Überblick bezüglich der einzelnen Belege an dieser Stelle kurz auf den Aufbau der Vorlesung eingegangen:55 Die Grundanlage der Dresdener Dogmatik folgt einem dreigliedrigen Schema mit vorgeschalteten Prolegomena. Die Prolegomena der Vorlesung, betitelt Das Wesen der Dogmatik, umfassen knapp ein Drittel des Textkorpus der Vorlesung und bilden die fundamentaltheologische Grundlegung der materialdogmatischen Ausführungen in den Teilen I bis III. In sechs Kapiteln entfaltet Tillich darin sein Verständnis von Dogmatik in Bezug auf Begriff, Gegenstand, Normen, Form, Aufbau und Zweck der Dogmatik und verhandelt innerhalb dieses Rahmens alle gängigen fundamentaltheologischen Topoi, unter anderem, für die folgenden Ausführungen besonders relevant, seine Offenbarungslehre und Erkenntnistheorie (vgl. II.3.3.1 und II.3.3.2).
Vgl. a.a.O., 177–222. Vgl. a.a.O., 223–267. 55 Für die Gliederung vgl. a.a.O., VII–X. 53 54
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
Im Anschluss daran folgt zunächst der erste materialdogmatische Teil, der mit Das Seiende als Natürliches in der vollkommenen Offenbarung und Von der Schöpfung. Theologische Seinsdeutung überschrieben ist und die dogmatischen Topoi ‚Schöpfung‘, ‚Gotteslehre‘ und ‚Sünde‘ behandelt. Auch dieser Teil wird im Folgenden detailliert behandelt, wobei unterschieden wird zwischen dem Kontext der Sündenlehre und dem Kontext des Ineinanders von Schöpfung und Sünde (vgl. II.3.3.3 und 3.3.4). Im zweiten Teil, Das Seiende als Geschichtliches in der vollkommenen Offenbarung oder Von der Erlösung. Theologische Geschichtsdeutung, verhandelt Tillich neben der Vielfalt der Religionen in erster Linie die Christologie und Soteriologie. Auch hier finden sich Belege für ‚Zweideutigkeit‘, wenngleich weniger gehäuft.56 Allerdings steht nun die Erlösung als Überwindung der Zweideutigkeit im Vordergrund. Darauf wird unter Kapitel II.3.3.4. genauer einzugehen sein. Mitten im zweiten Teil, vor Beginn der Ekklesiologie, endet das Vorlesungsmanuskript. Der geplante Aufbau des dritten Teils – Das Seiende jenseits von Natürlichkeit und Geschichtlichkeit in der vollkommenen Offenbarung oder Von der Vollendung. Theologische Sinndeutung, der lediglich aus der vorliegenden Gliederung hervorgeht – sollte zentral die Eschatologie behandeln. Im Folgenden werden also fünf Kontexte – Offenbarung, Erkenntnis-/Wissenschaftstheorie, Sündenlehre, Schöpfungs- und Sündenlehre, Erlösungslehre – jeweils separat behandelt. Dabei variiert die Länge der Auseinandersetzung je nach Voraussetzungsreichtum und Komplexität der Kontexte, die für das Verständnis des Zweideutigkeitsbegriffs zu erhellen sind. 3.3.1 Ambige Religion. Zweideutigkeit in der Offenbarungslehre Bei der Sichtung der Belege in der Offenbarungslehre57, dem chronologisch ersten Kontext, fällt auf, dass ‚Zweideutigkeit‘ hier in zwei verschiedenen 56 Vgl. a.a.O., 271.274.305f., v.a. aber 344–346.355–362.382f. Auf 326 auch im ganz alltäglichen Sinne des Wortes verwendet. 57 Die Offenbarung wird im zweiten Teil der Prolegomena als Gegenstand der Dogmatik bestimmt. Diese Bestimmung führt Tillich in der Dresdener Dogmatik zweifach aus, einmal durch die intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsbegriff als Voraussetzung der Dogmatik in den §§ 4–13 (14–60), zum zweiten formal durch die Konzeption der gesamten Vorlesung als dreigliedrige Entfaltung von Natürlichem, Geschichtlichem, und Eschaton in der ‚vollkommenen Offenbarung‘. Mit der zweiten Bestimmung erweist sich die gesamte Vorlesung als Durchführung einer Dogmatik auf Grundlage des Offenbarungsbegriffs. Damit stellt die Offenbarung also nicht nur einen Gegenstand innerhalb der Dogmatik dar, sondern die Dogmatik als solche fungiert als Explikation des Offenbarungsbegriffs. Vgl. die Gliederung der Vorlesung a.a.O., VII–X. Die Wendung ‚vollkommene Offenbarung‘ ist das Resultat von Tillichs Auseinandersetzung mit Troeltschs Absolutheitsbegriff und wird als geschichtliche Dynamik von Durchbruch, Realisierung und Protest aufgefasst, a.a.O., 49–55. Christian Danz sieht darin das Resultat der neuen prinzipientheoretischen Grundlegung der Theologie, die mit der Dresdener Dogmatik zum Tragen
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
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Konstellationen auftaucht: zum einen, mehrfach, als Charakterisierung der Welt oder der Wirklichkeit als „zweideutig“58; zum anderen als die „Zweideutigkeit des inneren Heilswegs“59, also als die Zweideutigkeit konkreter Offenbarungen. Dabei steht die erste Verwendung in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Profanisierung, die zweite hingegen mit dem Begriff der Dämonisierung als zweier religiöser Extrempole, die im Folgenden nacheinander analysiert werden sollen. Um einen besseren Einblick zu gewähren, welche Funktion der Zweideutigkeit in beiden Fällen zukommt, soll ein kurzer Einblick in Tillichs Offenbarungsverständnis der Analyse vorangehen. Tillichs Offenbarungsbegriff, wie er ihn in der Dresdener Dogmatik entfaltet, verdankt sich einer zweifachen Abgrenzung, nämlich einerseits gegenüber der idealistischen Position, andererseits gegenüber einer supranaturalistischen Fassung des Offenbarungsbegriffs. Ausnahmsweise schärft Tillich seinen Offenbarungsbegriff mittels konkreter Beispiele, von denen im Folgenden eines zur Illustration herangezogen werden soll: das Gewitter.60 Plötzlicher Regen, stürmischer Wind, heller Blitz und grollender Donner können, so Tillich, auf verschiedene Weise als ‚Offenbarung‘ verstanden werden: So sieht die idealistische Auffassung die „offenbarerische Kraft“ des Naturschauspiels „durch seine Erhabenheit, durch seine Kraft und Fruchtbarkeit“61 gegeben. In der Natur selbst also, so ließe sich die idealistische Position nach Tillich zusammenfassen, liegen die Charakteristika, die dem Gewitter seinen Offenbarungscharakter verleihen. Anders gesprochen: das Unbedingte ist hier in der Natur „verwirklicht“62, in ihr aufgegangen. Demgegenüber liegt der Offenbarungscharakter des Gewitters für den Supranaturalismus hinter oder über der Natur, oder, wie Tillich schreibt, in der „Naturunform des Gewitters“63: Das Gewitter geschieht „aus heiterem Himmel, [als] der besondere wunderbare Akt, der aus Temperatur und Luftdruck nicht zu erklären ist.“64 Das besondere Moment des Gewitters wird hier also außerhalb der Natur verortet, während etwa der Einfluss aerodynamischer Schwankungen negiert wird. In einem solchen Ansatz, so Tillich, werde die Wirklichkeit oder Welt als Zusammenhang bedingter Formen durch die Offenbarung des Unbedingten aufgehoben, also „zerstört“65. komme, vgl. DERS., Paul Tillichs Systematische Theologie. Eine werkgeschichtliche Einleitung, in: Ders., Paul Tillichs ‚Systematische Theologie‘, Berlin: De Gruyter 2017, 1–13, hier 6. 58 So etwa TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 20. 59 Vgl. a.a.O., 42. 60 Vgl. a.a.O., 26. 61 A.a.O., 26. 62 Zur Ablehnung des Begriffs der Verwirklichung, vgl. a.a.O., 19. 63 A.a.O., 26. 64 Ebd. 65 Zur Abgrenzung vom Begriff der Zerstörung, a.a.O., 19.
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
Zwischen diesen Extrempositionen von „Verwirklichung“ und „Zerstörung“66 verortet Tillich nun seinen eigenen Offenbarungsbegriff, den er mit der Metapher des Durchbruchs als „Erschütterung“ und „Umwendung“67 konkretisiert. Die bedingten Formen der Welt bleiben dabei – anders als in der supranaturalistischen Fassung – in ihrem Zusammenhang erhalten, werden jedoch in ihrer Selbstbezüglichkeit und ihrem Ruhecharakter hinterfragt – hierin liegt die Modifikation gegenüber dem Idealismus –, so dass sie für das Unbedingte transparent werden. Den Offenbarungsbegriff sieht Tillich da erfüllt, wo die Wirklichkeit als ständiger Hinweis, als Symbol für das Unbedingte fungiert.68 Gewendet auf das Gewitter bedeutet dies, „daß Gott im Wetter erscheint wie dem Hiob, d.h. daß durch die Erhabenheit hindurch die Irrationalität des Transcendenten in einem Augenblick offenbar wird, auf uns zukommt.“69 So stellt also das Erlebnis eines Gewitters, selbst in seiner Erhabenheit, in der Regel nichts Außeralltägliches oder gar Erschütterndes dar. Vielmehr, so ließe sich Tillichs Beispiel weiter ausführen, werden die Erscheinungsformen des Gewitters, Donner, Blitz, Regen und Wind gerade vom modernen Menschen als ‚gewöhnliche‘ Naturerscheinungen ohne tiefere Bedeutung eingeordnet; sie sind das, was Tillich als „in-sich-ruhende“ Endlichkeit bezeichnet.70 Hie und da aber ereignen sich Momente, in denen diese alltägliche Weltansicht71 zur 66 Stellvertretend für die erstere Position zitiert Tillich Hegel, für die zweite bringt er Gogartens Offenbarungsbegriff in Stellung, vgl. a.a.O., 22.35. Danz sieht in der Entfaltung des Offenbarungsbegriffs eine Auseinandersetzung zwischen Adolf von Harnacks Wesensbestimmung des Christentums auf der einen, und Friedrich Gogartens Offenbarungsbegriff auf der anderen Seite, vgl. DANZ, Paul Tillichs Systematische Theologie, 5. 67 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 19ff. 68 An dieser Stelle verknüpft Tillich den Offenbarungsbegriff mit seiner Symboltheorie: Das Verborgene kann nicht anders in die Wirklichkeit treten als „in indirekten Worten, in Symbolen“ (a.a.O., 17), die auf das Unbedingte hinweisen, ohne diesem seine Verborgenheit zu nehmen. Die Relation von Unbedingtem und Bedingtem ist hier also derart gestaltet, dass das Bedingte oder die Wirklichkeit in ihrer Symbolfunktion zum Medium für den Durchbruch des Unbedingten werden. 69 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 26. 70 Vgl. zum ‚In-sich-Ruhen‘ der endlichen Formen a.a.O., 19.21.44. Für dieses ‚In-sichRuhen‘ als Ausdruck des bürgerlichen Geistes siehe TILLICH, Die religiöse Lage der Gegenwart, 19: „Wir kommen aus einer Zeit des auf sich selbst gerichteten Daseins, der in sich selbst ruhenden und dem Ewigen gegenüber sich absperrenden Lebensformen. Und keine Seite des Lebens, aus dem wir kommen, auch nicht die ausdrücklich religiöse, ist von dieser Haltung ausgenommen. Ja, selbst die Gegenkräfte sind ihr weithin zum Opfer gefallen. Wir kommen aus einer Zeit, die keine Symbole mehr hatte, in denen die Zeit über sich selbst hinauswies. Unerschüttert ruhte die bürgerliche Gesellschaft in ihrer endlichen Form.“ 71 Zum Begriff der naturalistischen und religiösen Weltansicht vgl. O TTO, R UDOLF, Naturalistische und religiöse Weltansicht (1904), Tübingen: Mohr 31929. Zum Bezug des Begriffs zu Tillichs Schöpfungslehre vgl. FRITZ, MARTIN, Mut und Schwermut der Kreatur. ‚Schöpfung‘ nach Tillich, in: Roderich Barth/Andreas Kubik/Arnulf von Scheliha (Hg.), Erleben und Deuten: Dogmatische Reflexionen im Anschluss an Ulrich Barth, Tübingen: Mohr
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Seite geschoben wird und den Blick freigibt auf etwas Tieferliegendes, das durch dieses Alltägliche hindurch zum Ausdruck kommt. In solchen besonderen Momenten der Klarheit, im „Durchbruch“, wird der Donner eben nicht mehr als Resultat bestimmter aerodynamischer Schwankungen wahrgenommen, sondern durch ihn hindurch tritt das Unbedingte an uns heran.72 Tillich weist jedoch sogleich darauf hin, dass eine solche Wahrnehmung des Göttlichen im Gewitter keinesfalls auf die rein subjektive Interpretation zurückzuführen ist, sondern vielmehr in der subjektiven Wahrnehmung das gesehen wird, „was in der Tat im Gewitter liegt, nämlich da, wo das Gewitter wie jede Naturerscheinung in der Tiefe wurzelt.“73 Das, was im Gewitter erfasst wird, liegt also „in der Wechselwirkung von Subjekt und Objekt“74, ja, existiert nur und ausschließlich in dieser. Erneut kommt hier das bereits erwähnte ‚ontologische‘ Motiv zum Tragen. Tillich verortet seinen Offenbarungsbegriff also jenseits des Gegensatzes von revelatio naturalis und supranaturalis in einem ‚Dazwischen‘ – Offenbarung geschieht durch die Natur hindurch, aber nicht in ihr, sie ist übernatürlich, aber nicht widernatürlich, sie braucht die Wahrnehmung des Subjekts, doch nur, um zu sehen, was längst da ist. In diesem Sinne ist sie, so könnte man
Siebeck 2015, 79–106, insbesondere 89ff. Zur Otto-Rezeption Paul Tillichs vgl. SCHÜZ, PERudolf Otto und Paul Tillich – biographische und theologische Überlegungen, in: Thorsten Dietz/Harald Matern (Hg.), Rudolf Otto. Religion und Subjekt, Zürich: Theologischer Verl. 2012, 197–236; DANZ, CHRISTIAN, Zwischen Transzendentalphilosophie und Phänomenologie. Die methodischen Grundlagen der Religionstheorien bei Otto und Tillich, in: Jörg Lauster u.a. (Hg.), Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, 335–345; SCHÜßLER, WERNER, Gott erfahren – Gott denken. Paul Tillich im Anschluss an Rudolf Otto, in: a.a.O., 347–359 sowie DERS., „My very highly esteemed friend Rudolf Otto“. Die Bedeutung Rudolf Ottos für das religionsphilosophische Denken Paul Tillichs, in: Christian Danz u.a. (Hg.), The Interpretation of History, Berlin: De Gruyter 2013, 153–174. 72 Zur Verwendung der Partikel ‚in‘ und ‚über‘ hat sich Tillich in seiner Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart von 1919 im Zusammenhang mit dem theologischen Prinzip und seiner Verortung pointiert geäußert: „Aber wohl zu beachten, nicht logisch ist dies ‚Über‘ gemeint. Das würde jenen schlechten Supranaturalismus ergeben, […]; sondern es ist das Symbol für ein in keine Kategorie faßbares Erlebnis. Statt des ‚Über‘ können wir ebenso gut und ebenso schlecht die Vorstellung ‚In‘ anwenden […]. Ob wir nun das eine oder das andere Symbol anwenden, ob wir uns durch das ‚Über‘ mehr hinwegführen lassen von den Dingen oder durch das ‚In‘ mehr in ihre Tiefe zu dringen suchen, das ergibt zwar zwei Richtungen des religiösen Erlebens, aber im letzten Grunde keinen Gegensatz. Nur wenn das ‚Über‘ supranaturalistisch oder das ‚In‘ pantheistisch mißdeutet wird, entstehen Gegensätze“, in: TILLICH, Christentum und Gesellschaftsprobleme, 46. Um jedoch Missverständnisse zu vermeiden wird sich hier an die Partikel ‚durch‘/‚hindurch‘ gehalten, die Tillich selbst anführt. 73 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 26. 74 Ebd. TER,
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sagen, ‚Gläubiger Realismus‘. Die Abgrenzungen vom Idealismus beziehungsweise Supranaturalismus dienen Tillich im Zuge der Erarbeitung seines Offenbarungsbegriffs dazu, den ‚Durchbruch‘ weder als Auflösung des Unbedingten in die endlichen Formen (also als Pantheismus), noch als scharfe Gegenüberstellung beider Größen (Gottes absolute Transzendenz) zu verstehen. Vielmehr findet über die teils bekannten Begriffe wie „Tiefe“75, „unergründlicher Grund“76 und „transzendenter Grund“77 eine Verhältnisbestimmung im Sinne einer immanenten Transzendenz statt, die die selbstständige Erhaltung beider garantiert und doch eine Vermittlung zwischen ihnen zulässt. Dabei erweist sich der symboltheoretisch konkretisierte Offenbarungsbegriff nicht nur als Verschränkung zwischen unbedingtem Gehalt und bedingten Formen, sondern wird darüber hinaus auf mehrfache Weise als einheitsstiftendes Moment konzeptualisiert: So kennzeichnet das „Wesen des Offenbarungsdurchbruchs“78 eine Erschütterung der „fixierten Antithesen“79 von Subjekt und Objekt, von Theorie und Praxis, sowie von der Offenbarung ‚an sich‘ und ihren mannigfaltigen Heilswegen. Tillich postuliert die Offenbarung als ein Geschehen der „Widerherstellung ursprünglicher Einheit“80, in der die Dichotomien der Wirklichkeit aufgehoben sind. Gleichwohl wird nun jedoch das momenthafte dieser Einheit deutlich betont, während der Normalzustand als ‚zweideutig‘ beschrieben wird: Die Wirklichkeit und ihre endlichen Formen weisen nicht nur auf das, dessen Ausdruck sie sind, sondern auch auf sich selbst. […] Die Wirklichkeit ist also zweideutig in Bezug auf das Unbedingte. Sie ist Verhüllung und Offenbarung. Der Begriff der natürlichen Offenbarung erfüllt nicht den Offenbarungsbegriff. Er ist erst da erfüllt, wo das Element der Verhüllung beseitigt ist, wo also das Tragende, das zugleich das Verborgene ist, in einer Weise in die Wirklichkeit tritt, daß die Offenbarung eindeutig wird, also in der revelatio supranaturalis, im Durchbruch. Das, was durchbrochen wird, ist also die Sphäre der zweideutigen Wirklichkeit, der auch auf sich selbst weisenden endlichen Form.81
Ebd. A.a.O., 27. 77 Ebd. 78 A.a.O., 32. 79 Ebd. 80 So etwa: „Dem Wesen nach aber ist das Objekt-Subjekt-Verhältnis ein unzerreißbarer Lebensstrom, der die Alternative unmöglich macht. Was in den Dingen als Offenbarungstiefe sich erschließt, ist immer zugleich objektiv und subjektiv, und was im Subjekt als Offenbarungserschütterung durchbricht, ist immer zugleich subjektiv und objektiv. Je tiefer eine Geisteslage diesen einheitlichen Strom kennt, desto eher ist Offenbarung in ihr möglich. Und wo Offenbarung da ist, da ist sofort dieser einheitliche Strom da, der ursprünglicher und wesenhafter ist als die Zertrennung beider. Insofern liegt in jeder Offenbarung Wiederherstellung ursprünglicher Einheit […].“ A.a.O., 33. 81 A.a.O., 20. 75 76
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In adjektivischer Form tritt ‚zweideutig‘ hier als nähere Beschreibung der „Wirklichkeit und ihre[r] endlichen Formen“ auf. Als Begründung für die Unzulänglichkeit des natürlichen Offenbarungsbegriffs und die daraus resultierende Notwendigkeit der revelatio supranaturalis bzw. der Momente des ‚Durchbruchs‘ haftet ihr zunächst ein pejorativer Ton an: Sie bezeichnet den doppelten Verweischarakter der Wirklichkeit, die zwar auf das Unbedingte verweist und doch zugleich auf sich selbst, beziehungsweise die nach einem Durchbruch momentaner Eindeutigkeit in einen zweideutigen Zustand zurück „verfällt“.82 Als vom Unbedingten Getragene wird die Welt zwar durch ihr Sein ‚an sich‘ immer schon als Hinweis auf das Unbedingte, also als seine ‚Offenbarung‘, bestimmt;83 zugleich jedoch wirkt sie durch ihr ‚In-sich-Ruhen‘, durch ihre Selbstbezüglichkeit, auch als dessen ‚Verhüllung‘. Das Bedingte zeichnet sich also durch eine Gleichzeitigkeit aus, durch zwei verschiedene Modi des Wirkens, die mit unterschiedlichen Weltansichten, einer religiösen und einer alltäglichen, auf Seiten des Subjekts korrelieren. Angewendet auf das Beispiel des Gewitters erweist sich der Donner also darin als ‚zweideutig‘, dass zwar als Seiendes ‚an sich‘ der Hinweis auf das Unbedingte in ihm mitschwingt, jedoch – außer in Momenten des Durchbruchs – nicht explizit wird, sondern der Donner für sich wahrgenommen wird, als Phänomen mit einer gewissen Eigenständigkeit. ‚Zweideutig‘ bezeichnet hier im Sinne einer Eigenschaft also eine doppelte Verweisfunktion des Bedingten, eine ‚Sowohl-alsAuch‘-Struktur zweier gleichzeitig vorhandener Elemente. Dabei räumt Tillich der Eigenständigkeit, negativ konnotiert in dem Element der ‚Verhüllung‘ auf den Begriff gebracht, innerhalb der Zweideutigkeit großen Raum ein, spricht er doch davon, dass bei einem „Gleichgewicht“ von Transparenz und Selbstverweis die Unbedingtheitsdimension der Wirklichkeit dem Menschen unzugänglich bleibt: Die natürliche Offenbarung ist „weil in ih[r] Offenbarung und Verhüllung im Gleichgewicht stehen, in Wahrheit Verhüllung.“84 An dieser Stelle wird die natürliche Zweideutigkeit der Wirklichkeit für das Subjekt vereindeutigt – sie erscheint als radikal autonome, sinnentleerte Form; sie ist profanisiert.85 Mit dieser (asymmetrischen) Vorrangstellung des Verhüllungselements, beziehungsweise der mit ihr einhergehenden profanen Weltansicht, gesteht Tillich der alltäglichen und vornehmlich areligiösen Weltsicht seiner Zeit ein deutliches Eigenrecht zu, oder anders gesagt: ‚Gläubiger Realismus‘ ist eben A.a.O., 20. Mit diesem Modus, den Tillich auch als ‚Kreatürlichkeit‘ oder ‚Geschöpflichkeit‘ fasst (vgl. a.a.O., 125ff.) beschäftigt sich ausführlich im Zusammenhang mit Tillichs Schöpfungslehre FRITZ, Mut und Schwermut, 89ff. 84 A.a.O., 28. 85 Die „Profanisierung“ als ein Extrempol des Verhältnisses von Sinngrund- und Sinnformorientierung ergibt sich in Folge einer „radikale[n] Formorientierung bei gleichzeitiger Unfähigkeit zur Repräsentation des Gehaltes“, FRITZ, Menschsein als Frage, 111. 82 83
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gerade darin ‚realistisch‘, die Eigenständigkeit der Dinge bis zu ihrer vollständigen Profanität ernst zu nehmen. Darin liegt eine deutliche Verschiebung gegenüber Tillichs frühen Visionen der Nachkriegszeit (vgl. II.2). In seiner Zeitdiagnose aus dem Jahr 1926 Die religiöse Lage der Gegenwart führt Tillich diese prominente Weltansicht auf den Siegeszug von Naturwissenschaften, Technik und Wirtschaft zu Ende des 19. Jahrhunderts zurück.86 Die Selbstständigkeit und Eigengesetzlichkeit der Phänomene, den Hang zur Zweckrationalität, aber auch die Tendenz zur Abwendung und Absperrung87 gegenüber der eigenen Tiefendimension verbindet Tillich mit diesem Siegeszug der ‚modernen‘ Wissenschaften. Dabei stellt die Abwendung gegenüber jeder Form von Unbedingtheits- oder Sinndimension, die Entleerung von religiösem Gehalt oder die Diesseitigkeitstendenz der Wirklichkeit – als ‚Profanisierung‘ auf den Begriff gebracht – für Tillich den Inbegriff der bürgerlich-modernen Geisteshaltung dar.88 Obwohl diese Geisteshaltung durchaus dominiert, denkt Tillich den alltäglichen Modus des ‚In-sich-Ruhens‘ keineswegs als eindimensionalen Zustand, in dem die Möglichkeit zu einer religiösen Wirklichkeitsdeutung völlig verschwunden wäre. Vielmehr changieren auch hier beide, alltägliche oder naturwissenschaftlich begründete und religiöse Empfindung, hin und her. Das Potential der Wirklichkeit, als Offenbarungsmedium zu wirken, ist auch abseits der Durchbruchsmomente in der Wirklichkeit selbst mitgedacht, und konstituiert erst ihren zweideutigen Charakter. Tillich geht also davon aus, dass auch der zweite Modus der Wirklichkeit stets implizit mitschwingt. Was Tillich hier als ‚Mitschwingen‘ dieses zweiten Elements der Zweideutigkeit beziehungsweise der ‚gläubigen‘ Dimension des ‚Gläubigen Realismus‘, konkret vor Augen gehabt haben mag, wird durch einen weiteren Blick in Die religiöse Lage der Gegenwart deutlich. Tillich spricht hier von den „Fragen und Fragwürdigkeiten“, die sich in der gegenwärtigen Lage „[a]n allen Punkten [erheben]“89 und die bürgerliche Kultur mitsamt ihrem naturwissenschaftlich-technisch dominierten Weltbild in Frage stellen. Die sich überall auftuenden „Abgründe“ und das damit verbundene Ringen der „Seele um Erfüllungen“, der wachsende Zweifel an der „durchgängigen Vernünftigkeit der drei großen Mächte Wissenschaft, Technik, Wirtschaft“90 prägen nach Tillichs Deutung die gegenwärtige Lage und rufen nach einer Antwort, „die aus den tieferen Schichten des Lebens dringt.“91
TILLICH, Religiöse Lage der Gegenwart, 17f. A.a.O., 19. 88 Vgl. ebd. sowie TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 41ff. 89 TILLICH, Religiöse Lage der Gegenwart, 20. 90 Ebd. 91 Ebd. 86 87
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Tillich deutet seine Zeit also als eine, in der sich Risse am herrschenden Weltbild auftun, Risse, durch die tiefere Schichten der Wirklichkeit an die Oberfläche drängen. Gleichwohl – und hier klingt die Ernüchterung durch, die sich Mitte der 1920er Jahre in Tillichs Denken niederschlägt – setzt Tillich nach, dass „dieses Ringen [nicht immer] erfolgreich“ ist; zu groß sind die Beharrungskräfte der „auf sich selbst gerichteten Zeit, der Rationalität und des Mechanismus“92 Das Gewicht, das Tillich dem Verhüllungselement der Wirklichkeit zuspricht, mag also durchaus von diesen Eindrücken geprägt sein. Damit fungiert die Zweideutigkeit in dieser ersten offenbarungstheologischen Konstellation zunächst einmal als ein Scharnier, das die Anerkennung der profanen Weltansicht – als die geforderte Hinwendung zur konkret-realen Lage der Gegenwart93 – bei gleichzeitiger Ermöglichung des ‚Mitschwingens‘ religiöser Konnotationen, die in Momenten der Klarheit zum vollen Durchbruch kommen können, ermöglicht. Dafür werden im Rahmen der Offenbarungslehre revelatio naturalis und supranaturalis zwar als konkurrierende Größen konstruiert, jedoch zugleich in der Aufbaulogik der Zweideutigkeit so nahe zueinander gesetzt, dass ein Oszillieren, dass Andeutungen und Ahnungen der religiösen Tiefendimension durch die Wirklichkeit hindurch möglich werden. Damit kommt der Zweideutigkeit in dieser Konstellation die Funktion zu, die Kompatibilität von areligiöser Weltsicht und religiösen Erfahrungsmomenten modernitätssensibel auf den Begriff zu bringen: Während auf der einen Seite die areligöse Weltansicht zum ‚Normalfall‘ erhoben wird, wird auf der anderen Seite über die Zweideutigkeit eine weitere Bedeutungsdimension in, beziehungsweise über diese Weltsicht hinaus, integriert. Die zweideutige Wirklichkeit wird also, so ließe sich sagen, im Sinne einer Vordergrund-Hintergrund-Struktur gedacht, bei der dem Element der ‚Verhüllung‘ respektive der Eigenständigkeit der Formen die Rolle des Vordergrunds zukommt, während die religiöse Dimension im Hintergrund mitläuft und an bestimmten Punkten durchbricht. Damit ist mit der Zweideutigkeit durchaus ein ‚ontologisches Motiv‘ verbunden, in dem Sinne, dass hier eine Aussage über die Beschaffenheit der Wirklichkeit gemacht wird, die überhaupt erst verschiedene Deutungen des Subjekts ermöglicht. Dem Subjekt kommt innerhalb dieser Konstruktion allerdings eine erstaunlich passive Rolle zu. Zum einen ist es durch seine mangelnde Wahrnehmung der strukturellen Zweideutigkeit der Welt einer aktiven Positionierung gegenüber der Zweideutigkeit in gewisser Weise enthoben – was natürlich die Frage
92 Ebd.: „Wie sollte es auch möglich sein, in einem Anlauf zu überwinden, was seit fast fünf Jahrhunderten Geist und Seele in Anspruch genommen hat! Und doch werden Siege errungen, vor allem der Sieg, daß man weiß: der Kampf darf nicht mehr aufhören, bis eine Gegenwart da ist, deren Dasein und Formen Gefäß sein wollen des ewigen Gehalts.“ 93 Vgl. TILLICH, Kairos II, 41.
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nach der Erkenntnismöglichkeit der Zweideutigkeit bei Tillich aufwirft. Zugleich geschieht die Transformation von der Zweideutigkeit zur Eindeutigkeit einzig und allein durch das Unbedingte, das im Moment des Durchbruchs die Wirklichkeit für sich allein beansprucht. Das Subjekt kann mithin nicht intentional entscheiden, ob es die Wirklichkeit eindeutig als Offenbarung oder künstlich vereindeutigend als Verhüllung wahrnimmt – es scheint der einen oder anderen ‚Eindeutigkeit‘ gewissermaßen ausgeliefert. Damit einher geht auch die Annahme der religiösen Weltsicht als unverfügbar: sie ist den Zeitgenossen nicht demonstrierbar, sondern nur durch Mitteilung des Unbedingten erfahrbar. Der Rolle der Dogmatik als „Angriff“, wie sie Tillich in der Einleitung zur Dresdener Dogmatik avisiert,94 stellt sich damit ein durchaus passives Moment entgegen. Diesem passiven Moment entspricht auch die unterschiedliche Zuordnung der Begrifflichkeiten ‚Zweideutigkeit‘ und ‚Eindeutigkeit‘. So ist im Gegenüber zur ‚zweideutigen‘ Wirklichkeit ja gerade nicht von einer ‚eindeutigen Wirklichkeit‘, sondern von einer Eindeutig-Werdung der Offenbarung die Rede. Tillich kontrastiert also nicht eine zweideutige und eine eindeutige Wirklichkeit miteinander, sondern stellt der zweideutigen Wirklichkeit die eindeutige Offenbarung gegenüber. Die Möglichkeit zur Eindeutigkeit wird also an den Offenbarungsbegriff geknüpft und damit an dessen Unverfügbarkeit gebunden. Zugleich jedoch wird das Potenzial zur Eindeutigkeit als ein ‚mitschwingendes‘ Element innerhalb der Zweideutigkeit dargestellt, als der Riss, durch den das Andere der Wirklichkeit durchschimmert. ‚Zweideutigkeit‘ und ‚Eindeutigkeit‘ werden also insofern konzeptuell ineinander verschränkt, als die Eindeutigkeit als flexibel und reziprok organisiertes Potential in die Konzeption von Zweideutigkeit integriert wird. Anders gesprochen: Die zweideutige Wirklichkeit ist Ausgangspunkt aller Eindeutigkeit durch Offenbarung aufgrund ihrer strukturellen Verfasstheit, die temporär aufhebbar ist. Während aber wahre Eindeutigkeit – näherhin bestimmt als die Offenbarung von Einheit – nur im Moment des Durchbruchs vorliegt, findet künstliche Vereindeutigung sowohl im Falle der Profanisierung, also der Selbstauflösung der Religion, aber auch im Fall der Dämonisierung, des religiösen Abweges statt. Tillich bestimmt an dieser Stelle also verschiedene Formen von Eindeutigkeit: die eine,
94 „Die Methode der Preisgabe ist nicht mehr anwendbar, weil nichts mehr preisgegeben werden kann. Der Gegner hat das ganze Land erobert. Da bleibt nichts übrig, als mitten im Lande, im ganzen Lande sich zu erheben und zu zeigen, daß zwar ein Verteidigungssystem zerstört ist, daß das Land aber nicht mit diesem identisch ist, sondern ein ursprüngliches und unzerstörbares Leben in sich trägt. Darum nicht Verteidigung, dazu ist es zu spät, sondern Angriff, centraler und allseitiger Angriff.“ TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 2. Der Verweis auf Nietzsches Zarathustra („Muth nämlich ist der beste Todtschläger, - Mut, welcher angreift, denn in jedem Angriffe ist klingendes Spiel.“) erfolgt eine Seite vorher mit der Wendung: „In jedem Angriff ist klingendes Spiel“, vgl. a.a.O., 1, Fn. 3.
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
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positive und ungefährliche Form, stellt sich nur momenthaft ein und ist unverfügbar; die anderen, negativ konnotierten und bisweilen gefährlichen Formen der Vereindeutigung werden intentional vom Menschen hergestellt und können insofern, freilich als Täuschungen, auch von größerer Dauer sein. In Zusammenhang mit der Dämonisierung als einer Form der Vereindeutigung steht auch die zweite Bestimmung von ‚Zweideutigkeit‘ in der Offenbarungslehre, auf die nun im Folgenden eingegangen wird. Tillich führt diese in Zusammenhang mit der Gegenüberstellung von profanisierter Wirklichkeit und dämonischer Entstellung der Offenbarung ein: Wenn irgendein Gegenstand, der nicht Offenbarung ist, der profanisiert ist, von sich redet, so ist das natürlich und entspricht der Zweideutigkeit der revelatio naturalis. Wenn aber ein Gegenstand, in dem die Offenbarungserschütterung zum Ausdruck gekommen ist, von sich selbst spricht, so ist das die eigentliche metaphysische Perversion, der wir den Namen ‚das Dämonische‘ geben.95
Tillich hebt an dieser Stelle die bereits besprochene Zweideutigkeit der revelatio naturalis als „natürliche“ Charakteristik der Wirklichkeit mit ihrer doppelten Verweisstruktur hervor. Dieser vergleichsweise harmlosen Zweideutigkeit als Vordergrund-Hintergrund-Struktur von Profanität und religiöser Tiefendimension wird nun als „metaphysische Perversion“ das Dämonische gegenübergestellt, dessen Entstehung Tillich folgendermaßen beschreibt: Es gibt keine Offenbarung, die nicht im Moment des Durchbruchs Heilsoffenbarung wäre; aber in jeder Offenbarung wird ein bestimmtes Konkretes, ein bestimmter Heilsweg als das uns unbedingt Angehende erlebt. […] Dieses ist aber zugleich das Verhängnis der Offenbarung, die Möglichkeit des Dämonisch-Werdens. Denn der Heilsweg ist ja der Weg zum Unbedingten, und er spricht vom Unbedingten; aber als Weg spricht er auch von sich. Und wenn es etwa der Sohn ist, der zum Vater führt, weil der Vater größer ist als er, so ist doch der Sohn auch der, der von sich sagen muß: ‚Ich bin der Weg‘. Und hier ist die unendlich feine Grenze zwischen göttlich und dämonisch: Ist der Sohn ‚der Weg‘ ‚aus dem Eigenen‘, so ist er der Dämon. Ist er der Weg, insofern nicht er wirkt, sondern der Vater in ihm, so ist er der wahre Sohn. – Dieses [ist] das Beispiel für die innere Zweideutigkeit jedes Heilsweges.96
A.a.O., 42f. A.a.O., 42. Christian Danz verweist in diesem Zusammenhang auch auf folgende Stelle in Tillichs Rechtfertigung und Zweifel von 1924: „Um dieser Zweideutigkeit der Grundoffenbarung willen wird die Offenbarung des Göttlichen zur Heilsgeschichte, zur Überwindung des Dämonischen in der Menschheitsreligion. Die Überwindung aber des Dämonischen, die Vollendung der zweideutigen Grundoffenbarung zur eindeutigen göttlichen Heilsoffenbarung ist da erfolgt, wo Gott sich als Geist und Liebe zeigte, unbeschadet seiner Majestät und Verborgenheit.“ (TILLICH, Rechtfertigung und Zweifel (1924), in: GW VIII, 85–100, hier 98), vgl. DANZ, CHRISTIAN, Das Dämonische. Zu einer Deutungsfigur der modernen Kultur bei Georg Simmel, Georg Lukács, Leo Löwenthal und Paul Tillich, in: Ders./Schüßler (Hg.), Das Dämonische, 147–183, 176. 95 96
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Diesmal in substantivischer Form erscheint ‚Zweideutigkeit‘ mit dem Zusatz ‚innere‘ als Näherbestimmung der Beschaffenheit jedes konkreten Heilswegs.97 Der Heilsweg, soviel wird aus obigem Zitat deutlich, ist stets Teil des endlichen Zusammenhangs, eine bedingte Form, die jedoch im Zustand des Durchbruchs als reiner Verweis auf das Unbedingte fungiert, nur Offenbarung ist, keine Verhüllung. Das eine hintergründige Element der zweideutigen Wirklichkeit hat sich durchgesetzt, es herrscht momentane Eindeutigkeit. Nun allerdings konzipiert Tillich diese Eindeutigkeit im Moment des Durchbruchs mit einem inhärenten Verhängnispotential, mit dem Hang zur Dämonie. Dieses Verhängnis tritt dann ein, wenn der Offenbarungsgegenstand im Zustand der Offenbarung beginnt von sich zu reden, wenn er „bei sich als Offenbarung festhält und den Hinweis auf das in [ihm] durchbrechende Unbedingte verliert“.98 Die Eindeutigkeit, die hier mit dem Offenbarungsbegriff verbunden wird, beschreibt Tillich also als eine höchst fragile, momenthafte Angelegenheit, die stets von der Dämonie bedroht ist. ‚Zweideutigkeit‘ bezeichnet an dieser Stelle also das Potential des Offenbarungsgegenstands, nach einem erfolgten Durchbruch selbstbezüglich zu werden und unbedingten Gehalt für sich zu reklamieren.99 Die hier stattfindende Selbstüberhöhung des Offenbarungsmediums wird gegenüber dem natürlichen Selbstbezug der profanisierten Wirklichkeit deutlich negativer eingestuft, was daran liegen mag, dass das wiederholt aufgeführte „von sich reden“ jeweils ein anderes Ergebnis mit sich bringt: Im Falle der ‚Zweideutigkeit der Wirklichkeit‘ hat Tillich die rein immanente Selbstbezogenheit der Welt, ihre radikale Autonomie vor Augen – es geht um die Wirklichkeit, die „in sich und ihren endlichen Formen ruht“100, aber nicht mehr sein will, als sie ist. Bei der ‚Zweideutigkeit des Heilsweges‘ hingegen liegt das moralisch scharf verurteilte Vergehen in der Täuschung des Mediums, etwas anderes zu sein als ein endlich Bedingtes, nämlich das Unbedingte selbst. Bei Gogarten, aber auch bei Simmel war die Zweideutigkeit als eine solche Täuschung, als Verwechslung von Schein und Sein bereits thematisiert worden (vgl. II.2.4.1). Bei Tillich findet sie ihre begriffliche Schärfe im Begriff der Dämonie. Während Tillich die Vereindeutigung der Wirklichkeit im Modus des Selbstbezugs in gewisser Weise Zur Unterscheidung von Grund- und Heilsoffenbarung vgl. auch WITTEKIND, FOLKGrund- und Heilsoffenbarung. Zur Ausformung der Christologie Tillichs in der Auseinandersetzung mit Karl Barth, in: Christian Danz u.a., Jesus of Nazareth and the New Being in History, Berlin/Boston: De Gruyter, 2011, 89–118. 98 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 41. 99 Fritz spricht in diesem Zusammenhang von der „radikale[n] Gehaltsorientierung bei gleichzeitigem Widerstand gegen die Formforderung […], in der das Religiöse, unter Absolutsetzung bestimmter, als vollkommene und endgültige Orte der Präsenz des absoluten Grundes fixierter Formen, zur sinnwidrigen Weihung von Vitaltrieben instrumentalisiert wird.“ FRITZ, Menschsein als Frage, 111. 100 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 19. 97
ART,
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
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für ‚natürlich‘ hält, fällt die Vereindeutigung im Modus der Selbstüberhöhung unter die Kategorie der „metaphysische[n] Perversion“.101 Gleichwohl wird auch hier der Übergang zwischen ‚göttlich‘ und ‚dämonisch‘ als „unendlich feine Grenze“ moduliert: Auch im Moment des Durchbruchs also, in der Eindeutigkeit, ist der Verfall ganz nah, ist die Eindeutigkeit fragil; durch sie hindurch schimmert schon die Möglichkeit der Verdrehung, des Abwegs durch. Dennoch wird – im Gegensatz zur ‚Zweideutigkeit der Wirklichkeit‘ – der Übergang in das Dämonische anders akzentuiert: Zum einen wird er als eine Möglichkeit konstruiert, die je nach Symbolfähigkeit des Gegenstands verschieden stark vorliegt; zum anderen verläuft der Übergang göttlich-dämonisch im Modus einer ‚Entweder-Oder‘-Struktur: Entweder der Offenbarungsgegenstand fungiert rein medial, dann ist die Offenbarung göttlich; oder der Offenbarungsgegenstand macht sich selbst zur Offenbarung, dann ist die Offenbarung dämonisch. Die beiden Verhaltensweisen existieren also nur in ihrer Potentialität gleichzeitig; realisieren sie sich, so kippt die Offenbarung entweder ins Dämonische oder verbleibt als göttliche. Bemerkenswert ist, dass Tillich in Bezug auf dieses Kippen zunächst eine gewisse Intentionalität zu unterstellen scheint: So spricht er von dem Offenbarungsgegenstand, der „von sich sagen muß: ‚Ich bin der Weg‘“102 und unterstellt damit in gewisser Weise einen Entscheidungsspielraum. Auf der anderen Seite jedoch deutet die mangelnde Symbolfähigkeit, die Tillich den Gegenständen zuspricht, die der Dämonie verfallen, dafür, dass sich manche Gegenstände für die reine Medialität besser eignen als andere, und dies nichts mit einer intentionalen Entscheidung des Gegenstands selbst zu tun hat. Ist eine Offenbarung einmal dämonisch geworden, ist der Rückweg zum Göttlichen versperrt. Die Entwicklung verläuft hier monodirektional. Lediglich in den ‚natürlichen‘ Zustand der Zweideutigkeit kann der einmal dämonisch gewordene religiöse Symbolgegenstand zurückfallen.103 Mit anderen Worten: Während im Zustand der Profanität ein gleichzeitiges ‚Mitschwingen‘ 101 Während die Profanisierung ein typisches Charakteristikum der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, sieht Tillich im Dämonischen „das Merkmal autonom entleerter Zeiten und die eigentliche Gegenbewegung gegen die werdende Theonomie in unserer Zeit“, vgl. TILLICH, Grundlinien des religiösen Sozialismus, 113. Zur Kategorie des Dämonischen in der Dresdener Dogmatik vgl. WITTEKIND, FOLKART, Das Dämonische in Tillichs Dresdener Dogmatik. Theologie- und werkgeschichtliche Hintergründe der schöpfungstheologischen Sündenlehre und ihrer Bezüge zur Kultur- und Geschichtsphilosophie, in: Danz/Schüßler (Hg.), Das Dämonische, 69–124. 102 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 42. 103 „Eine Offenbarung, die einmal dämonisch geworden ist, kann als Offenbarung nicht wiederkehren. Solange sie dämonische Qualitäten hat, ist sie der Gegensatz von Offenbarung, geradezu das, was als die Perversion des Durchbruchs aufs Tiefste verabscheut wird. Freilich zeigt sich in diesem Abscheu noch der ursprüngliche Offenbarungscharakter, aber doch als das Gegenteil. Klingt die dämonische Qualität ab, so kann die Offenbarung profanisiert werden.“ A.a.O., 43.
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religiöser Konnotationen für Tillich durchaus denkbar scheint, verbietet sich solches für den Zustand der Dämonie. Damit zeigt Tillich auf der einen Seite gegenüber modernetypischen Phänomenen wie der areligiösen Autonomie durchaus eine gewisse Toleranz, die sich gegenüber 1919 deutlich erweitert hat. Hingegen werden alle Vereindeutigungsversuche durch Täuschung im Namen des Absoluten scharf verurteilt. Damit gehen mit den zwei Näherbestimmungen von Zweideutigkeit in der Offenbarungslehre zwei ganz unterschiedliche Bewertungen einher. Mit der zweiten Konstellation der Zweideutigkeit im Rahmen der Offenbarungslehre komplettiert Tillich das Feld religiös vorstellbarer (Miss-)Verhältnisse und gestaltet dieses Feld als ein in sich dynamisches beziehungsweise zirkuläres: So integriert die ‚Zweideutigkeit‘ als natürliche Hintergrundstruktur der Wirklichkeit – auch wenn die Vereindeutigungstendenz der Profanisierung (‚Verhüllung‘) dominiert – als einen ihrer Modi das Element der Offenbarung, oder auch: das Potenzial, Symbol für das Unbedingte zu werden. Gleichzeitig wird in ebendieses Potenzial zur grundsätzlich positiv konnotierten Eindeutigkeit auch wieder die Zweideutigkeit, hier in ihrer radikalen Form als Möglichkeit zur Dämonie, integriert. Diese zweite, gefährliche Vereindeutigungstendenz religiöser Erfahrungen wird jedoch wiederum an die ‚Zweideutigkeit‘ als Vordergrund-Hintergrund-Struktur zurückgebunden, in die sie jederzeit zurückfallen kann. Die doppelte Verschränkung von Zwei- und Eindeutigkeit erinnert der Struktur nach durchaus an Simmels Beschreibungen von Venedig und Florenz (vgl. II.2.4.1), in der die Eindeutigkeit von Florenz gerade in deren Transparenz für die Tiefendimension des Lebens lag, während die Zweideutigkeit von Venedig in einem Täuschungsmanöver der Oberfläche bestand, die für sich Absolutheit beansprucht. Der Zweideutigkeit in Tillichs Offenbarungslehre kommt damit die Funktion eines vermittelnden Scharniers für verschiedene Formen der religiösen und nicht-religiösen Wirklichkeitsdeutung zu. Durch ihre gegenseitige Verschränkung wird hier ein dynamisch-flexibles und durch monodirektionale, aber auch reziproke Transformationen strukturiertes Gesamtgebilde konstruiert, das die religiöse Vielfalt der Moderne abzubilden vermag. Dass gleichwohl dieser Vielfalt eine umfassende Einheitsvorstellung zugrunde liegt, die als eigenes Element – ‚Offenbarung‘ – in diese Vielheit integriert wurde, erweist durchaus Anknüpfungspunkte an die Gedanken von 1919. Doch scheint die Vorstellung von Eindeutigkeit nun, erstens, zeitlich auf momenthafte Erfahrungen beschränkt zu sein, und zweitens durch die verschiedenen Konstellationen um die ‚Zweideutigkeit‘ um Differenzierungen und pluralistischere Verhältnisse bereichert. Für die Frage nach dem Verhältnis der zwei hier aufgerufenen Zweideutigkeitsbestimmungen bleibt zunächst festzuhalten, dass Tillich hier zwei verschiedene Typen vor Augen zu haben scheint: Während erstere als reziprok organisierte Vordergrund-Hintergrund-Struktur der Wirk-
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lichkeit erscheint, ist die zweite, gefährlichere Zweideutigkeit als ein monodirektionales Kippverhältnis organisiert, das unumkehrbar ist. So liegen an diesem Punkt nicht nur verschiedene Gegenstandsbereiche von ‚Zweideutigkeit‘, sondern durchaus auch verschiedene inhaltliche Bestimmungen des Begriffs vor. Es gilt nun zu sehen, wie diese Bestimmungen sich zu dem nächsten Kontext der Vorlesung verhalten. 3.3.2 Wahrheit als Vagheit. Zweideutigkeit in der Erkenntnistheorie Während die vorausgegangenen Ausführungen die Bestimmung der Zweideutigkeit im Kontext der Offenbarungslehre behandelten, thematisiert dieser Abschnitt den Zweideutigkeitsbegriff im Rahmen der erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Fragestellungen der Prolegomena.104 So steht nun statt der Offenbarung als Gegenstand der Dogmatik die Wissenschaft bzw. wissenschaftliche Rede als Form der Dogmatik im Zentrum von Tillichs Ausführungen. Wissenschaft wird dabei definiert als das „methodische Begreifen von Wesenszusammenhängen“105, welches danach strebt, das Wesen der Dinge hinter den Widersprüchen des unmittelbaren Lebens zu ermitteln. In diesem Aufspüren des grundlegenden Zusammenhangs der Dinge sieht sich die wissenschaftliche Erkenntnis jedoch mit einer Vieldeutigkeit der Wesenserfassung konfrontiert, die, so Tillich, „in der Verschiedenheit der Auffassungen [der Subjekte, Anm. Vfin.] zum Ausdruck kommt.“106 Mit der Vieldeutigkeit der Auffassungen ist an dieser Stelle bereits eine Thematik angesprochen, die Tillich später, zu Beginn der Sündenlehre, zum Ausgangspunkt seiner Definition von Zweideutigkeit machen wird (vgl. II.3.3.3): Dort bemüht sich Tillich sichtbar um eine starke Abgrenzung zwischen ‚Zweideutigkeit‘ und ‚Vieldeutigkeit‘, indem er letztere mit der Vielzahl an Subjekten und ihren jeweiligen Ausdeutungen der Wirklichkeit in Zusammenhang bringt, während ‚Zweideutigkeit‘ stärker an die innere Beschaffenheit einer Sache als doppelte Struktur gebunden wird.107 Ein solches ontologisches Motiv war auch in der Offenbarungslehre bezüglich der Verortung der Zweideutigkeit
Vgl. a.a.O., 83–109. A.a.O., 86. 106 A.a.O., 88. 107 Die Definition von ‚Zweideutigkeit‘ zu Beginn der Sündenlehre setzt folgendermaßen ein: „Der Begriff der Zweideutigkeit enthält dieses in sich, daß eine Sache, ein Begriff nicht nur in Bezug auf ein Subjekt verschiedener Ausdeutungen fähig ist. Die innere Unendlichkeit jeder Wirklichkeit läßt soviele Ausdeutungen zu, als aufnehmende und verarbeitende Subjekte im Laufe der Geschichte mit dem Gegenstand in Beziehung treten. Zweideutig wird eine Sache aber erst in dem Augenblick, wo sie in sich selbst, abgesehen von dem deutenden Subjekt, eine Zweiseitigkeit hat, die sich darin wirksam erweist, daß, wenn die eine Seite angerührt wird, die andere, in irgendeiner Art von Gegensatz stehende mitschwingt.“ A.a.O., 177. Vgl. II.3.3.3. 104 105
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präsent, insistierte Tillich doch immer wieder darauf, die Zweideutigkeit gerade nicht auf die subjektive Wahrnehmung allein zurückzuführen, sondern ihr eine ontologische Anbindung in der Struktur des Seins zu verschaffen. Umso mehr verwundert es, dass Tillich seine Erläuterungen zur Vieldeutigkeit der Wesenserfassung im Rahmen der erkenntnistheoretischen Prolegomena mit den Worten schließt, es sei „nun deutlich gemacht, woher die Zweideutigkeit der Wesenserfassung kommt.“108 Damit drängt sich sogleich die Frage auf, ob an dieser Stelle – entgegen der (freilich erst später erfolgenden) starken begrifflichen Abgrenzung in der Definition – eine synonyme Verwendung der Begrifflichkeiten ‚Vieldeutigkeit‘ und ‚Zweideutigkeit‘ vorliegt. Lässt sich die Zweideutigkeit der Wesenserfassung selbst als Vieldeutigkeit begreifen? Löst Tillich hier die strikte Gebundenheit von ‚Zweideutigkeit‘ an eine binäre Logik auf? Oder hat er mit der ‚Viel-‘ respektive ‚Zweideutigkeit‘ unterschiedliche Sachverhalte vor Augen, die jedoch in einem engen Zusammenhang miteinander stehen? Bevor diesen Fragen, die im Zentrum des vorliegenden Abschnitts stehen, vertieft nachgegangen wird, soll zunächst in den Kontext der entsprechenden Belege eingeführt werden. Dabei liegt der Fokus insbesondere darauf, die Implikationen der Bestimmung von Wissenschaft als Wesenserfassung für die Vieldeutigkeit/Zweideutigkeit der Wesenserfassung zu verstehen. a) Wissenschaft als Wesenserfassung Nach einer kurzen Vorschaltung zum Verhältnis von Offenbarung und Vernunft definiert Tillich zu Beginn des §18. Satzes der Prolegomena Wissenschaft als methodische Erfassung von Wesens- bzw. Seinszusammenhängen:109 Wissenschaft ist methodische Erfassung von Seinszusammenhängen. Darin liegt zunächst dies, daß Wissenschaft es immer mit Zusammenhängen zu tun hat. Ob der Zusammenhang in berechenbaren Gesetzen oder in erschaubaren Gestalten oder in zeitlichen Folgen besteht, ob es sich um mathematische Gebilde oder geistige Sinneinheiten handelt, immer sind es
A.a.O., 89. Hervorhebung durch Vfin. Die Termini ‚Wesenszusammenhang‘ bzw. ‚Seinszusammenhang‘ werden hier synonym verwendet. Dies überrascht zunächst, da der Seinszusammenhang im Kontext der Wissenschaftstheorie von 1923 der zweiten Gruppe der Wissenschaften, den Seinswissenschaften (Biologie, Psychologie, Soziologie), zugeordnet wird, während der Fluchtpunkt der vorliegenden Vorlesung als wissenschaftliche Rede vom dogmatischen Symbol ja in den Bereich der dritten Gruppe, die normativen Geisteswissenschaften, fällt und dementsprechend mit dem „Sinnzusammenhang“ befasst ist. Dennoch wählt Tillich hier als Einstieg die Seinswissenschaften und nähert sich erst darüber vermittelt der Metaphysik bzw. Dogmatik. So erwähnt er als Beispiel für einen zu ermittelnden Zusammenhang von Wissenschaft das Wesen der Pflanze, also ein Beispiel aus der Biologie, einer Seinswissenschaft, vgl. a.a.O., 87. Ein ‚Wesenszusammenhang‘, so lässt sich festhalten, kann entweder ein ‚Seinszusammenhang‘ sein (zweite Gruppe) oder ein ‚Sinnzusammenhang‘ (dritte Gruppe). 108 109
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Zusammenhänge, in die das Erkennen das Einzelne einordnet, nachdem es sie im Einzelnen entdeckt hat.110
Wissenschaftliche Erkenntnis wird hier als das Aufspüren, als „Entdecken“ von Zusammenhängen, und als Einordnung des Einzelnen in diese Zusammenhänge bestimmt. Interessanterweise macht Tillich diese Definition von Wissenschaft für alle Wissenschaftszweige geltend: Berechenbare Gesetze, wie die der Physik, werden hier ebenso erwähnt wie „erschaubare Gestalten“ – hier wäre etwa an Pflanzen im Bereich der Biologie oder Institutionen in dem der Soziologie zu denken – sowie „zeitliche Folgen“ als Gesetzmäßigkeiten in der Geschichtswissenschaft. Die hier angedeutete Einteilung der Wissenschaften in Gesetzeswissenschaften, Gestaltwissenschaften und Folgewissenschaften entspricht dem Dreierschema, welches Tillich in seinem System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden aus dem Jahr 1923 für die Binnendifferenzierung der sogenannten Seinswissenschaften geltend macht.111 Mit der Erwähnung der „mathematischen Gebilde“ und „geistigen Sinneinheiten“ sind die Denk- oder Idealwissenschaften sowie die Geistes- oder Normwissenschaften als die anderen beiden Wissenschaftsgruppen aus dem System ebenfalls benannt.112 Mit dieser Dreiteilung der Wissenschaften unterscheidet sich Tillichs Systematik deutlich von der zu seiner Zeit weitaus populäreren zweiteiligen Unterscheidung in Formal- und Realwissenschaften, Natur- und Geisteswissenschaften oder Natur- und Kulturwissenschaften, wie er selbst anmerkt.113 Er lehnt diese traditionelleren Einteilungen mit der Begründung ab, der Gesichtspunkt ihrer Einteilung – sei es die Ordnung nach Gegenständen oder nach Methoden – sei „zufällig aufgegriffen“114. Demgegenüber will er selbst in seinem System eine
A.a.O., 86. Vgl. TILLICH, Das System der Wissenschaften, 135–209. Vgl. hier auch GRAF, FRIEDRICH WILHELM, Ein unbekannter Systementwurf Paul Tillichs. Zur Entstehungsgeschichte von Paul Tillichs Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 27/1 (2020), 26–170. 112 Vgl. TILLICH, Das System der Wissenschaften, 124–134.210–283. Georg Raatz hat auf die stiefmütterliche Behandlung der Denk-/Idealwissenschaften hingewiesen, die mit einem Textkorpus von zehn Seiten gegenüber den anderen beiden Wissenschaftsgruppen (jeweils ca. 70 Seiten) stark abfallen, vgl. RAATZ, GEORG, Kulturwissenschaft oder Sinnlehre? Zur Genese von Paul Tillichs wissenschaftssystematischem Begriff der Theologie zwischen 1917 und 1923, in: Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm (Hg.), Tillich und Nietzsche, Wien/Münster: Lit 2007, 141–173, hier 163. Zur Wissenschaftstheorie des Systems der Wissenschaften vgl, auch MOOS, THORSTEN, Paul Tillichs Interpretation der Naturwissenschaften im „System der Wissenschaften“ von 1923, in: Christian Danz u.a. (Hg.), Theology and Natural Science (International Yearbook for Tillich Research 7), Berlin/Boston: De Gruyter 2012, 1–31. 113 Vgl. ebd; TILLICH, Das System der Wissenschaften, 117. 114 Ebd. 110 111
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prinzipientheoretische Einteilung auf Basis der „Idee des Wissens selbst“115 vorlegen. Diese prinzipientheoretische Einteilung vollzieht Tillich in Anschluss an den Phänomenologen Edmund Husserl mithilfe der Zweiteilung des Wissens in Akte des Meinens, in denen sich „das Bewußtsein im Interesse gegenständlicher Erfassung auf irgendetwas richtet“116, und des Gemeinten als das, worauf sich das Bewußtsein richtet.117 Den Vollzug des Bewusstseins, das Meinen, will Tillich fortan als ‚Denken‘ bezeichnen, die Gegenstände, wie sie in diesen Vollzügen erscheinen, als ‚Sein‘. Auf mögliche Missverständnisse bei der Verwendung der durchaus problembehafteten Termini ‚Denken‘ und ‚Sein‘ weist Tillich selbst hin. So will er eine intellektualistische bzw. psychologistische Reduktion des Denkens als Nachdenken oder Reflektieren ebenso vermieden wissen wie eine Identifikation des Seins mit „Vorstellungen von einem seienden Ding oder einer seienden Substanz“, also eine ontologische Reduktion.118 Vielmehr spricht er hier von „Urbegriffen“ oder „Urelementen“119 des Wissens, die in der Welt immer schon gemischt, in ein Verhältnis zueinander gesetzt, auftreten. Drei solcher Verhältnisbestimmungen von Meinen und Gemeintem, von Denken und Sein, sind nach Tillich möglich: Erstens, dass das Sein im Denken gesetzt ist als Denkbestimmung, als das Umfasste, Begriffene. Das Sein wird hier aufgelöst in die Einheit des Denkens, es herrscht reines Denken. Zweitens, dass sich das Denken auf das Sein richtet, und zwar im Modus der Suche nach dem Fremden, Unfassbaren, Widerstrebenden. Hier steht das Denken vor der Widerständigkeit des Seins, seiner Fremdheit, und der „unendlichen Kluft, die zwischen beiden gesetzt ist“120. Drittens, die „merkwürdige Tatsache“121, dass Ebd. A.a.O., 118. 117 Zu den Begriffen des ‚Meinens‘ und ‚Gemeinten‘ vgl. H USSERL, EDMUND, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913), Hamburg: Felix Meiner 2009, 200–224. Für die Hintergründe von Tillichs Husserl-Rezeption mit Blick auf die Sinntheorie vgl. BARTH, Die sinntheoretischen Hintergründe des Religionsbegriffs, 89– 123. 118 „Dabei ist aber von dem ‚Denken‘ in unserem Sinne alles fernzuhalten, was mit dem psychologischen Akt des Nachdenkens zu tun hat. Das Nachdenken, das Reflektieren, der ganze psychologische Denkprozeß ist eine Erscheinungsweise des Denkens, sein Dasein in einem leib-seelischen Einzelwesen; aber alle diese Beziehungen müssen wir hier abschneiden, wo es sich um das reine ‚Wesen‘ des Wissens handelt […]. Dasselbe gilt für den Begriff des ‚Seins‘, es sind alle Vorstellungen von einem seienden Ding oder von einer seienden Substanz fern zu halten.“ TILLICH, System der Wissenschaften, 118. Raatz weist darauf hin, dass trotz dieser Warnung Tillich selbst „in der Regel einfach von Denken und Sein spricht“, Ratz, Kulturwissenschaft oder Sinnlehre?, 163. 119 TILLICH, Das System der Wissenschaften, 118. 120 A.a.O., 119. 121 Ebd. 115 116
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das Denken zu seinem eigenen Gegenstand werden kann, indem es sich auf sich selbst richtet und sich zu einem Seienden, das es beobachtet, macht: Damit wird das Denken „ein Stück Existenz“ im „‚Inneren‘ der bewußten Wesen“122. Aus diesen drei Verhältnisbestimmungen zwischen Denken und Sein, den beiden Urelementen des Wissens, ergibt sich nach Tillich die grundlegende Dreiteilung der Wissenschaft in Denkwissenschaften, Seinswissenschaften und Geisteswissenschaften, die im System der Wissenschaften angelegt ist. Soweit die Kontextualisierung durch die wissenschaftstheoretische Schrift von 1923. In den Prolegomena der Dresdener Dogmatik zwei Jahre später erscheint diese Dreiergruppe als die Erwähnung von mathematischen Erkenntnissen, Erfahrungswissenschaften und normativen Geisteswissenschaften, die, so Tillich, sich in erster Linie darin unterscheiden, wie sich die Widersprüche, die sich der Dualität von Denken und Sein verdanken, in ihnen auswirken:123 Im Falle der mathematischen Erkenntnisse treten keine Widersprüche auf, was Tillich darauf zurückführt, dass „es bei ihnen überhaupt nur Wesen gibt und nichts Erscheinendes.“124 In der Mathematik, so ließe sich also sagen, ist die Prädominanz des reinen Denkens, der Begriffslogiken und formalen Gesetze, so stark, dass die Realität des Seins in die Einheit dieser Logiken aufgelöst bzw. von ihr außen vor gelassen, vernachlässigt wird. Ein konkretes Beispiel hierfür wären mathematische Axiome.125 In der zweiten Gruppe, den Seins- oder Erfahrungswissenschaften, hingegen finden sich durchaus Widersprüche. Hier wird das Sein in seiner Fremdheit, Andersartigkeit zum Problem, weil es durch die „Mannigfaltigkeit des Individuellen“126 den Einheitstendenzen des Denkens widerstrebt, sich ihnen entgegenstellt. Versucht man Tillichs Ausführungen an diesem Punkt in einem Beispiel zu konkretisieren, so wäre etwa an den Versuch der vollständigen Kategorisierung der Pflanzenwelt mit Hilfe von Kriterien wie Größe, Aussehen, Blattart, Stoffwechsel, Fortpflanzungsweise usw. in Abteilungen, Klassen, Ordnungen, Familien und Gattungen zu denken. Eine solche Kategorisierung kann als ein Versuch des Denkens angesehen werden, in der Vielheit der Natur (begriffliche) Einheit herzustellen. Nun aber, so ließe sich weiterdenken, kann A.a.O., 120. Vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 88. 124 Ebd. 125 „Im Gebiet der Denkwissenschaften wird der Widerstreit von Denken und Sein nicht aktuell, das Denken bleibt bei sich selbst. Wohl werden die Formen festgestellt, unter denen alles Sein gedacht werden muß; aber es wird mit den Formen nicht wirkliches Sein gedacht. Die logischen Axiome drücken diese Sachlage aus: der Satz der Identität schließt alles Sein in der reinen Einheit des Denkens zusammen, während der Satz des Widerspruchs auf das Problem des ‚Anderen‘, des Fremden, des nicht zur Einheit gebrachten Seins hinweist. Aber auch dieser Hinweis bleibt im Denken; die Einheit bleibt gewahrt; das ‚Andere‘ wird nicht reales Problem.“ TILLICH, Das System der Wissenschaften, 135. Hervorhebung im Original. 126 Ebd. Hervorhebung im Original. 122 123
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eine bestimmte Pflanze vielleicht nicht vollständig einer Kategorie zugeordnet werden, sondern weist Merkmale auf, die der Kategorisierung nach zu einer anderen Gattung gehören. Außerdem, um noch weiterzugehen, ist jede einzelne Pflanze einer Gattung wiederum so individuell und einzigartig, was die Anzahl ihrer Blätter, ihre Form, Größe, etc. angeht, dass eine perfekte Kategorisierung aller Pflanzen sich schlichtweg als unmöglich erweist: Das Denken, das Streben nach Einheit, scheitert also an der Mannigfaltigkeit des Seins als Individuellem. Mit dieser Widerständigkeit des Seins aufgrund von Mannigfaltigkeit oder Individualität wird hier zum Thema gemacht, was in Zusammenhang mit der Zweideutigkeit bereits anklang und als ‚ontologisches Motiv‘ bezeichnet wurde. Dabei steht die Einsicht Tillichs im Vordergrund, dass im Gegenstand selbst etwas sein muss, das ein zweideutiges Verständnis des Subjekts überhaupt erst ermöglicht. Ein Gegenstand ist also der subjektiven Interpretation nicht willkürlich ausgesetzt und kann von ihr kaum in jede Richtung geformt werden, sondern weist eine nicht zu überwindende Eigenständigkeit auf, mit der das Denken, so könnte man sagen, kooperieren muss. Gleichwohl spricht Tillich im Falle der zweiten Gruppe von Möglichkeiten, genauer: methodischen Wegen, die eine sukzessive Überwindung der Widersprüche zwischen Denken und Sein ermöglichen. Zu denken wäre hier etwa daran, an das obige Beispiel anknüpfend, eine genauere, zutreffendere Kategorisierung der Pflanzenwelt zu erzielen, etwa durch die sukzessive Verbesserung der Forschungsmethoden und -instrumente (heute etwa durch DNA-Sequenzierung), und damit eine Annäherung zwischen Denken und Sein zu ermöglichen.127 In der dritten Gruppe schließlich, den normativen Geisteswissenschaften, treten die schärfsten Gegensätze auf. Mit den geistigen Gebilden entsteht aus den Urelementen des Wissens eine dritte Form, die Vereinigung von Denken und Sein als seiendes Denken, als Denken, das sich losreißt von der Bedingtheit der endlichen Formen und ihnen als Forderung, als Geltung gegenübertritt: so etwa in einem Kunstwerk, im Rechtssystem oder einer ethischen Regel. Alle drei sind Sein gewordene Denkbestimmungen, Schöpfungen des Geistes, die ‚Wirklichkeit‘ geworden sind, und zwar als Sinngebilde.128 Bei dieser dritten Gruppe treten die Widersprüche von Denken und Sein als „Gegensätze [auf], die dem Denken unüberwindlich scheinen, weil die Wege, die Methoden selbst ja gerade das Fragliche sind.“ Tillich spielt hier darauf an, dass die Geisteswissenschaften ein „eigentümliches Verhältnis zu ihrem Objekt aufweisen“129, indem sie es stets mitschaffen, ihm produktiv gegenüberstehen. Hier kommt also
Vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 88. Vgl. TILLICH, Das System der Wissenschaften, 222. 129 A.a.O., 218. 127 128
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Troeltschs berühmte Formel „Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung“130 zum Tragen. Ungeachtet dieser besonderen Stellung der Geisteswissenschaften betont Tillich jedoch, dass die Unterschiede zwischen den drei Wissenschaftsgruppen letztendlich nicht so groß sind, wie zunächst angenommen, sondern „daß jedes Element in jeder mehr oder weniger stark vertreten ist“131 und dementsprechend eine radikale Trennung bei näherem Hinsehen nicht vorliegt. Für die Kontextualisierung der wissenschaftstheoretischen Grundlegung in den Prolegomena lässt sich also festhalten, dass Tillich in der Dresdener Dogmatik, erstens, der prinzipientheoretischen Einteilung der Wissenschaften anhand der Dualität von Denken und Sein und den daraus resultierenden Verhältnisbestimmungen, die er in seiner Wissenschaftstheorie 1923 grundlegt, weiter folgt. Die Theologie bzw. die Dogmatik fällt in dieser Einteilung unter das Gebiet der (normativen) Geisteswissenschaften, die mit der Erfassung und Produktion von Sinnzusammenhängen betraut sind.132 Damit gilt die Problematik der unüberwindlich erscheinenden Gegensätze zwischen Denken und Sein, zweitens, auch für das Gebiet der Dogmatik: Auch sie steht ihrem Objekt nicht „äußerlich gegenüber“, sondern alle Erkenntnis dogmatischer Symbole ist zugleich „Mitarbeit am dogmatischen Symbol“133. Gleichwohl bleibt die Dogmatik stets mittelbare Erkenntnis vom Unbedingten: als wissenschaftliche Rede von dogmatischen Symbolen, nicht als Wissenschaft vom Unbedingten selbst. Es gilt nun zu fragen, was gerade innerhalb dieser doppelten Sonderstellung der Dogmatik mit der Vieldeutigkeit und Zweideutigkeit der Wesenserfassung gemeint sein könnte. Drittens bestimmt Tillich – ungeachtet der erwähnten Unterschiede zwischen den Wissenschaftsgruppen – alle Wissenschaften als Versuche der Überwindung der auftretenden Widersprüche durch die Herstellung von Einheit und Zusammenhang.134 Auf diese Weise relativiert er letztlich die aufgemachten Unterschiede zwischen den Wissenschaftsgebieten zugunsten
130 TROELTSCH, ERNST, Was heißt ‚Wesen des Christentums‘? (1903), in: Ders., Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen: Mohr 1913, 386–451, hier 431. Vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 90. 131 A.a.O., 88. 132 A.a.O. 96–107. Gleichwohl gilt auch hier der Satz der Erschütterung und Umwendung aller Wesenserfassung durch die vollkommene Offenbarung. 133 A.a.O., 90. 134 So etwa TILLICH, System der Wissenschaften, 113: „Erkannt ist, was als notwendiges Glied einem Zusammenhang eingeordnet ist. Das Einzelne in seiner Vereinzelung ist kein Gegenstand der Erkenntnis. Wo ein übergreifender Zusammenhang fehlt, da wird wohl angeschaut, aber nicht erkannt. Das gilt für jeden Gegenstand und für jede Wissenschaft, und alles Folgende wird zeigen, daß es gilt und wie es gilt.“ Dabei wird die Einheit alles Einzelnen als „ungeheure Befriedigung“ und „höchstes Begehren“ des Geistes genannt, a.a.O., 114.
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der Herstellung von übergreifender Einheit, wenngleich er diese „nur“ als Formalsystem135 verwirklicht wissen will. Das Streben nach Einheit der frühen Nachkriegsjahre bildet sich dennoch auch hier fort. Welche Funktion dieser Einheit im Zusammenhang mit der Viel- bzw. Zweideutigkeit zukommt, gilt es nun zu erörtern. b) Die Vieldeutigkeit der Wesenserfassung Die ‚Vieldeutigkeit der Wesenserfassung‘ erwähnt Tillich erstmals im §18. Satz der Prolegomena im Zusammenhang mit der Hingabe der wissenschaftlichen Erkenntnis an ihre Gegenstände. Er schreibt: Die wissenschaftliche Erkenntnis gibt sich den Gegenständen hin und sucht ihr Wesen zu ermitteln, in dem die Widersprüche des unmittelbaren Lebens aufgehoben sind. Dabei entdeckt sie, daß die Naivität dieser Hingabe nicht aufrecht zu erhalten ist, weil die Wesenserfassung vieldeutig bleibt und diese Vieldeutigkeit in der Verschiedenheit der Auffassungen zum Ausdruck kommt. Die zerstörte Naivität der Sachhingabe ist Besinnung über das Wesen der Sachhingabe – eben infolge der Widersprüche, in die sie geführt hat –, ist Erkenntnislehre, Kritik oder dergleichen.136
Die Hingabe der Erkenntnis an die Gegenstände, die Tillich hier erwähnt, bildet im Kontext der Wissenschaftstheorie die grundlegende Haltung der Seinswissenschaften:137 Anders als die Idealwissenschaften, die sich auf die Beobachtung der ihnen eigenen Denkbestimmungen, auf das reine Denken, konzentrieren, richtet sich das Erkennen in den Seinswissenschaften auf das ‚Andere‘, das Sein in seiner Andersartigkeit und Fremdheit in dem Wunsch, das Wesen dieses Seins aufzuspüren. Dabei, so Tillichs Analyse, stößt die Erkenntnis an Grenzen; sie entdeckt die „Naivität dieser Hingabe“, die meint, die Kluft zwischen Denken und Sein überwinden zu können und das Sein vollständig ist das Denken aufnehmen zu können, es zu erfassen. Diesem Streben des Erkennens gegenüber „bleibt“ die Wesenserfassung vieldeutig, was in der „Verschiedenheit der Auffassungen zum Ausdruck kommt.“138 Dabei ist mit der Formulierung „bleiben“ ausgedrückt, dass hier ein fortwährender Zustand der Widersetzung vorliegt und eine Annäherung an irgendeine Form von Eindeutigkeit definitiv nicht gelingt. Zum anderen zeigt die Wendung von der ‚Vielzahl der
135 „Wie ist diese Einheit zu erreichen? Unwiederbringlich verloren ist uns der Glaube daran, daß es möglich sei durch ein Realsystem alles Wissens, in das jede Einzelerkenntnis eingeschlossen wäre. […] Ein Realsystem des Wissens ist ein Ideal, aber keine denkbare Wirklichkeit. Wohl aber ist für jedes Zeitalter erreichbar und notwendig ein Formalsystem des Erkennens, in welchem das Reich, das der Geist beherrscht, die Gegenstände, und die Art, wie er es beherrscht, die Methoden, zum Bewußtsein gebracht werden.“ Ebd. 136 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 88. 137 Vgl. TILLICH, Das System der Wissenschaften, 144. 138 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 88.
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Auffassungen‘ an, dass sich die Vieldeutigkeit auf der Ebene der aufnehmenden Subjekte artikuliert. Hier erinnert Tillichs Bestimmung von ‚Vieldeutigkeit‘ an diejenige Nietzsches, der mit dem Begriff auf die Multiperspektivität von Wahrheit anspielte (vgl. I.1.2). Bei Nietzsche wurzelte die Vieldeutigkeit in der „unendliche[n] Ausdeutbarkeit der Welt“139 auf der einen und der Perspektivität des jeweiligen individuellen Lebens auf der anderen Seite. Die Rede von der ‚inneren Unendlichkeit‘ der Wirklichkeit findet sich auch in Tillichs System der Wissenschaften. Sie bildet hier einen Grundpfeiler von Tillichs Wissenschaftsverständnis in der Verortung seines Systems zwischen neukantianischer und phänomenologischer Theoriebildung.140 Von hier aus findet sie auch in die Definition der ‚Zweideutigkeit‘ in der Dresdener Dogmatik Eingang (vgl. II.3.3.3). Im System der Wissenschaften lässt sich die Formulierung der ‚inneren Unendlichkeit‘ in erster Linie als Abgrenzung gegenüber Husserls Phänomenologie deuten. Zwar fühlt sich Tillich der Phänomenologie sehr verbunden, insbesondere in dem Punkt, dass sie die Erklärung der Existenz eines Phänomens von der „Erfassung seines unmittelbar erscheinenden Wesens“141 abhängig macht, also von einer inneren, intuitiven Wesensschau. Tillich konstatiert in dieser intuitiven Wesenserfassung eine entscheidende und positiv zu bewertende Gegenbewegung zur modernen Wissenschaft mit ihrer zweckrationalen Einstellung, die dazu neigt, „Wirklichkeiten, die sich dieser Mechanisierung nicht einfügen, wegzudeuten (z.B. das Lebendige, das Geistige, usw.).“142 So werde etwa im technischen Bereich dem Teil einer Maschine jeder Wesenscharakter abgesprochen und dieser Teil nur als Zweck für das Maschinenganze verstanden. Alle Eigenständigkeit jenseits von Effizienz und Dienstbarkeit geht hier, so Tillichs Wissenschaftskritik, verloren. Demgegenüber stellt die Phänomenologie eine „ehrfurchtsvolle Hinwendung zu der lebendigen Wirklichkeit selbst“143 dar. Damit weist sie deutliche Ähnlichkeiten zu der Gruppe der Gestaltwissenschaften (Biologie, Soziologie, etc.) im Gefüge der Seinswissenschaften auf: Die einzelnen Gegenstandsformen, die Gestalten der Wirklichkeit, werden ernstgenommen, indem man sich ihnen in ihrer Einzigartigkeit widmet.144
NIETZSCHE, Nachgelassene Fragmente Herbst 1885 – Herbst 1887, VIII 1, 118. Vgl. MOXTER, MICHAEL, Kritischer Intuitionismus. Tillichs frühe Religionsphilosophie zwischen Neukantianismus und Phänomenologie, in: Christian Danz/Werner Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919– 1920) (Tillich-Studien 20), Wien: Lit 2008, 173–195. 141 TILLICH, Das System der Wissenschaften, 133. 142 A.a.O., 133. 143 Ebd. 144 Gerade hier zeigt sich auch die Abgrenzung gegenüber der neukantianischen Philosophie, v.a. badischer Ausprägung, wie sie schon in Tillichs Vorlesung Religionsphilosophie aus dem Jahr 1920 deutlich wird. Hier spricht Tillich von der doppelten Bedeutung der phä139 140
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Jedoch kritisiert Tillich die phänomenologische Richtung dafür, dass ihr „die innere Unendlichkeit des Seins gegen das Denken unbekannt“145 sei. Stattdessen wolle die phänomenologische Wissenschaft, „daß diese Dinge zur Einseitigkeit gebracht werden könnten, genau wie die logischen und mathematischen Sätze.“146 Das Sein, so der Vorwurf Tillichs, wird in seinem Widerstand gegen das Denken also nur insofern ernst genommen, als dieser Widerstand negativ, als Hinderung des Denkens wahrgenommen wird.147 Die Existenz der Dinge in ihrer Positivität hingegen wolle die Phänomenologie nicht gelten lassen. Demgegenüber betont Tillich die Widerständigkeit des Seins als Schöpferreichtum und Produktivität, als „irrational-dynamisches Moment“148, das zu neuen Formen treibt, und damit das Denken immer auch mitbestimmt, ihm seine je eigene individuelle Prägung und Färbung aufdrückt. Es ist also die Individualität, die unerschöpfliche Besonderheit der Einzelerscheinungen, die dem Denken ihren stets neuen, eigenen Charakter einprägt. So kommt Tillich schließlich auch zu dem Schluss, dass gerade nicht das ungeformte, sondern das am meisten vom Denken geformte Sein, das individuell-geistige Gebilde, dasjenige ist, das dem Denken den größten Widerstand entgegenbringt. Damit ist schon angedeutet, dass sich der Gegensatz zwischen Denken und Sein in den Geisteswissenschaften am stärksten ausprägt, da deren Gebilde als Sein gewordenes Denken die engste Verflechtung beider Urelemente aufweisen. Als Reaktion auf die Unerschöpflichkeit des Seins, auf den „Abgrund und das ewige Jenseits jeder Einzelform“, schafft das Denken „endliche Formen in unendlicher Zahl, deren keine das Sein selbst erschöpft.“149 Das Denken produziert also immer neue Formen, in dem Versuch, der Widerständigkeit des Seins Herr zu werden; es muss aber vor der Aussichtslosigkeit dieses Unter-
nomenologischen Methode: „Sie zeigt mit Recht, daß vor den genetischen Erklärungsversuchen die zu erklärende Sache erst einmal in ihrer Eigentümlichkeit erfaßt sein muß und daß darum die Beschreibung der Erklärung vorausgehen muß. Zweitens von höchster Wichtigkeit die Forderung der Intuition, der Anschauung, des inneren Meinens vor jeder Erklärung und Bewertung. Es ist der Beginn des 20. Jahrhunderts, der in Ablehnung der rein formalistischen neukantischen Methode sich bemerkbar [macht.]“ TILLICH, Religionsphilosophie (1920), in: GW XII, 333–636, hier 380f. Hervorhebung im Original. 145 TILLICH, Das System der Wissenschaften, 134. Hervorhebung im Original. 146 Vgl. a.a.O., 132–134. 147 Vgl. ebd. Dabei ist es nicht so, dass Tillich diesen Widerstand nicht auch negativ wahrnimmt, spricht er doch an anderer Stelle von der „Brutalität der Existenz“ für das Denken. Diese liegt jedoch vor allem darin, dass das Denken sich im Sein selbst erblickt, als eine Form des Seins, und damit auch die eigene Möglichkeit des Nicht-Seins vor Augen hat, vgl. TILLICH, Religionsphilosophie (1920), 398f. 148 TILLICH, Das System der Wissenschaften, 134. 149 A.a.O., 227. Schon in der Religionsphilosophie von 1920 spricht Tillich in diesem Zusammenhang von der „Unendlichkeit der einzelnen Erkenntnissetzungen“, TILLICH, Religionsphilosophie (1920), 395.
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fangens kapitulieren. Oder, wie es die Religionsphilosophie von 1925 formuliert: „Es [das Denken, Anm. Vfin.] muß die unendliche Transzendenz alles Seins gegen das Denken anerkennen. Gerade auf dieser Transzendenz des Seins gegenüber dem Denken beruht die Realität aller erkennenden Setzung.“150 Damit lässt sich festhalten: Die ‚innere Unendlichkeit‘ beruht auf einem ‚Überschuss‘ des Seins als unendlicher Fülle individueller Erscheinungen. Damit liegt die Unendlichkeit der Wirklichkeit zum einen in der numerischen Unendlichkeit der Einzelgestalten begründet, die sich in der Wirklichkeit finden. Diese Einzelerscheinungen stellen jedoch ihrerseits „Ausschüttungen“151 der inneren Unendlichkeit einer Idee, eines Wesens dar, das zu immer neuen Verwirklichungen drängt. So kann die innere Unendlichkeit der Wirklichkeit dahingehend verstanden werden, dass Tillich die Einzelerscheinungen der Wirklichkeit gerade nicht als Gegenüber zum Wesen, als defizitäre Verwirklichung einer vollendeten Idee, konzeptualisiert. Das wäre ja nach Tillich die Position der phänomenologischen Schule, die der Existenz selbst nichts Positives zuerkennt. Demgegenüber versteht Tillich die Erscheinung selbst als Wesen, das im historischen Schicksal verwirklicht ist, als „Heraustreten der inneren Unendlichkeit der Idee“152. Damit lässt sich, zum anderen, die ‚innere Unendlichkeit‘ nicht nur als numerische Kategorie begreifen, sondern bezeichnet für jede Einzelerscheinung auch das ihr eigene unendliche Potenzial, das auf Verwirklichung drängt.153 Die ‚innere Unendlichkeit‘ bezieht sich hier also auf den unerschöpflichen Gehalt, die Tiefe jeder Einzelerscheinung. Auf diese doppelte Unendlichkeit der Wirklichkeit, einmal die horizontale verstanden als numerische Unendlichkeit, einmal die vertikale verstanden als inneres Potenzial, reagiert das Denken mit einer unendlichen Produktion an Einzelformen in dem Versuch, die Unendlichkeit des Seins im Denken zu erfassen.154 Die Wesenserkenntnis, so formuliert Tillich es 1926 in seinem Aufsatz Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Metaphysik der Erkenntnis hat damit „teil an der inneren Unendlichkeit jedes Wesens“.155 An diesem Punkt trifft sich nun die ‚innere Unendlichkeit‘ mit der ‚Vieldeutigkeit der Wesenserfassung‘. Dabei lässt sich Vieldeutigkeit bestimmen als ebenjene Uneindeutigkeit der Wesenserkenntnis, die durch die Vielzahl an Einzelformen entsteht, die das Denken ständig hervorbringt. ‚Vieldeutigkeit‘ TILLICH, Religionsphilosophie (1925), 324. TILLICH, Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Metaphysik der Erkenntnis (1926), in: GW IV, 43–117, hier 69. 152 Ebd. 153 In Kairos und Logos wird diese Doppelheit in der Idee, als „Unruhe“, als „Zweideutigkeit“ bezeichnet. 154 So spricht Tillich auch in Kairos und Logos von dem konkreten Material der Erkenntnis, „einer geformten, vieldeutigen Wirklichkeit“, a.a.O., 55. 155 A.a.O., 69. 150 151
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steht damit für den niemals zu bewerkstelligenden Versuch des Denkens, das Sein zu überwältigen, und damit den Fluss immer neuer Verwirklichungen zum Halten zu bringen. Sie markiert einen deutlichen Kontrast zu der phänomenologischen Überzeugung, die Wesensschau zu einem absehbaren Zeitpunkt zum Abschluss bringen zu können.156 Damit aber lässt sich die Vieldeutigkeit als ein Plädoyer für geistig-schöpferische Entwicklung lesen, die eben nicht zu einem Stillstand kommen will, sondern den Gehalt der Wirklichkeit mit immer neuen Formen zu erfassen sucht. Hier klingt das „irratonal-dynamische Element“157 des Seins an, das deutliche Bezüge zu Schellings irrationalem Willen beziehungsweise Henri Bergsons ‚elán vital‘ aufweist und damit gegenüber der Phänomenologie die lebensphilosophisch-existenzialistische Prägung Tillichs geltend macht.158 Mit der Einsicht in das naive Streben des Denkens, mit der Zerstörung der „Naivität der Sachhingabe“, führt die Vieldeutigkeit der Wesenserfassung erst zur „Besinnung über die Sachhingabe“, also zur Erkenntnistheorie. Damit setzt Tillich die Vieldeutigkeit nicht nur als Chiffre für die Offenheit geistiger Entwicklung, sondern zugleich zur Voraussetzung und zum Ausgangspunkt jeder transzendentalen Kritik. c) Die Zweideutigkeit der Wesenserfassung Entsprechend der Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstbesinnung der Erkenntnis mündet der Kommentar zur ‚Vieldeutigkeit der Wesenserfassung‘ in der Dresdener Dogmatik in die Einteilung der Wissenschaftsgebiete nach ihren jeweiligen Gegenständen (mathematische Erkenntnis, Erfahrungswissenschaft, normative Geisteswissenschaft) – mit dem bereits erwähnten Vermerk, dass die Unterschiede bezüglich der Widersprüchlichkeiten von Denken und Sein zwischen ihnen lediglich relativ seien. Damit steht die darauffolgende Behandlung der normativen Geisteswissenschaften und der in ihnen als unüberwindlich erscheinenden Widersprüche als Prototyp für alle Wissenschaften. Im Modus der Kritik, zu dem das Erkennen durch die Vieldeutigkeit gezwungen ist, kommt das wissenschaftliche Erkennen nun zu der Einsicht, „daß im Gegenstand etwas ist, durch das das Erkennen als eine nicht erschöpfende Haltung ihm gegenüber gekennzeichnet wird.“159 Mit anderen Worten: Wissenschaftliche Erkenntnis ist noch keine umfassende Erkenntnis des Gegenstands. Das Erkennen kann weitergehen und andere Möglichkeiten, einen Gegenstand zu erfassen, identifizieren: die ästhetische Anschauung (Kunst), den praktischem Handlungsbezug (Ethos) und die Bedeutung für die Gemeinschaft Vgl. TILLICH, Religionsphilosophie, 380. TILLICH, System der Wissenschaften, 134. 158 Auf beide Bezüge, Schelling (im Anschluss an Jacob Böhme) und Bergson, weist Tillich in diesem Zusammenhang in seiner Vorlesung zu Religionsphilosophie aus dem Jahr 1920 hin, vgl. TILLICH, Religionsphilosophie, 395. 159 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 88. 156 157
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(Gemeinschaft/Recht). Tillich benennt andere ‚Haltungen‘ oder Akte, die das Denken zwar erkennen und kritisieren, aber nicht in sich auflösen kann. Hingegen wird, so Tillichs Schluss, auch das Denken selbst zum Objekt von Kunst, Ethos und Recht gemacht.160 Das Subjekt-Objekt-Problem, die Widerständigkeit des Seins gegenüber der Vereinnahmung des Denkens, wird hier also auf die Vollzüge der Erkenntnis selbst übertragen. Diese Überlegungen schließt Tillich folgendermaßen: Damit ist nun deutlich gemacht, woher die Zweideutigkeit der Wesenserfassung kommt. Das Erkennen will ja das Wesen der Dinge erfassen, aber es erfaßt durch Erkennen nur die Erkenntnisseite der Dinge zulänglich, das Wesen aber unzulänglich. Will es nun doch das Wesen erfassen, so kann es das nur durch Aufnahme der übrigen Seiten in das Erkennen, womit das Erkennen zwar an Wahrheit gewinnt, an erkenntnismäßiger Eindeutigkeit jedoch verliert. Je formaler, desto richtiger und unwahrer. Der vollendete Formalismus wäre die vollendet richtige und vollendet unwahre Wesenserfassung, während eine sachgemäße Erkenntnis ohne Verlust der Richtigkeit, aber unter Verlust der formalistischen Eindeutigkeit der Wahrheit nahekommen könnte.161
An dieser Stelle taucht nun die Wendung der ‚Zweideutigkeit der Wesenserfassung‘ auf, die Tillich als Resultat seiner bisherigen Erklärungen vorstellt – und damit überhaupt erst die hier zu erörternde Frage aufwirft, in welchem Verhältnis ‚Vieldeutigkeit‘ und ‚Zweideutigkeit‘ zueinanderstehen. ‚Zweideutigkeit‘ erscheint hier zur Bezeichnung verschiedener Möglichkeiten der Annäherungen an einen Gegenstand. Dabei steht auf der einen Seite, als das eine Element der Zweideutigkeit, das Erkennen im Sinne wissenschaftlicher Denkanstrengung, das jedoch lediglich die „Erkenntnisseite der Dinge“ zulänglich erfasst und damit einen Gegenstand formal und richtig, allerdings nur „unwahr“ erfassen kann. Dem formalen Erkennen oder wissenschaftlichen Denken gegenüber steht als das andere Element der Zweideutigkeit die Integration der „übrigen Seiten“, also der kurz zuvor eingeführten ästhetischen Anschauung, des praktischen Handlungsbezugs und der Bedeutung für die Gemeinschaftssphäre, die den Gegenstand jeweils auf ihre Art erschließen.162 Unter Einbezug dieser anderen Möglichkeiten in das wissenschaftliche Erkennen, verliert dieses zwar an „formalistischer Eindeutigkeit“, gewinnt jedoch an Wahrheit. Oder anders gesprochen: Wahrheit gibt es nur als (formalistische) Vagheit.163
160 Die Einteilung der Erkenntnisakte entspricht der in der Wissenschaftstheorie von 1923 vorgenommenen Differenzierung der Gegenstände der Geisteswissenschaft in eine theoretische (Wissenschaft, Kunst, Metaphysik) und eine praktische Reihe (Recht, Gemeinschaft, Ethik), vgl. TILLICH, System der Wissenschaften, 246–283. 161 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 89. 162 Vgl. a.a.O., 88. 163 Eine ausführliche Analyse der Dogmatik-Vorlesung mit Blick auf die Frage nach (absoluter) Wahrheit nimmt Sabrina Söchtig in ihrer Dissertation vor, vgl. SÖCHTIG, SABRINA,
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
Tillich beschreibt die Zweideutigkeit der Wesenserfassung hier als eine Waage oder eine Wippe, die sich zwischen zwei Seiten aufspannt – der erkenntnismäßigen „Eindeutigkeit“, auch „vollendeter Formalismus“ genannt auf der einen Seite, und der „Wahrheit“, auch „sachgemäße Erkenntnis“ genannt auf der anderen Seite. Nur eins kann jeweils erreicht werden; wenn die Waage auf der einen Seite nach oben schwingt, sinkt zugleich die andere Seite nach unten. Die Zweideutigkeit zwischen Genauigkeit oder „Eindeutigkeit“ und dem Gesamteindruck oder der „sachgemäßen Erkenntnis“ erfolgt also in einer ‚Je-Desto‘-Struktur: Je mehr Eindeutigkeit, desto weniger Wahrheit – und andersherum. Tillich wählt in seinem Beispiel dafür sehr anschaulich die Verben des ‚Gewinnens‘ und ‚Verlierens‘, um die gleichzeitige Zu- bzw. Abnahme der beiden Gegensätze zu beschreiben.164 Auffällig ist hier, dass Tillich ‚Wahrheit‘ eben gerade nicht mit der Eindeutigkeit identifiziert, sondern sie ihr vielmehr gegenübergestellt: Etwas, das ‚eindeutig‘ ist, mag „vollendet richtig“ und formal vollkommen sein, aber es ist eben nicht wahr. Dieser Beobachtung korrespondiert die Einsicht, dass Eindeutigkeit zwar nicht als ‚falsch‘, aber durchaus als ‚unwahr‘ kategorisiert wird. Tillich reduziert die Eindeutigkeit hier auf eine Übereinstimmung zwischen Erkennen und Erkanntem bezüglich einer Seite des Gegenstands, nämlich der formalen Erkenntnis. Diese Übereinstimmung kann nach Tillich vollständig erreicht werden und damit „vollendet richtig“ sein. Die Erfassung der Wahrheit hingegen geschieht im Modus der unendlichen Annäherung unter Einbezug einer gewissen Ungenauigkeit oder Vagheit („Verlust der formalistischen Eindeutigkeit“). Sie wird mit der „sachgemäßen Erkenntnis“ gleichgesetzt, bezeichnet also die Übereinstimmung zwischen Meinen und Gemeintem oder Denken und Sein. Als Beispiel für Tillichs Ausführungen mag die Erfassung eines literarischen Werks dienen. Natürlich lässt sich solch ein Werk mit wissenschaftlichen Methoden erfassen: man untersucht Aufbau, Komposition, Motive, aber auch die Sprache, usw. mit den Methoden literaturwissenschaftlichen Arbeitens, aber auch Entstehungskontext, politische und gesellschaftliche Hintergründe mit den Methoden weiterer Wissenschaften (Geschichtswissenschaft, Soziologie, etc.). So ließe sich allmählich eine eindeutige Erfassung des Werks erreichen – zumindest, was die formale Erkenntnis hin angeht. Allerdings wäre damit noch nicht das Werk als Kunst erfasst, nichts über seine Bedeutung für die Gemeinschaft ausgesagt, in der es kursiert, und auch nichts über seinen Einfluss auf die Handlungen einzelner Individuen. Wenn allerdings all diese Absolute Wahrheit und Religion. Der Wahrheitsbegriff des frühen Tillich und seine Beurteilung außerchristlicher Religionen (Tillich Research 19), Berlin/Boston: De Gruyter 2020, 325–432. 164 Diese Verben finden sich auch an entsprechender Stelle in der Wissenschaftstheorie, vgl. TILLICH, Das System der Wissenschaften, 246.
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Aspekte erfasst würden, dann verlöre die Erkenntnis des Werks an wissenschaftlicher Genauigkeit, weil es eben anderer Instrumentarien bedürfe (etwa der ästhetischen Anschauung). Die Zweideutigkeit fungiert hier also als Beschreibung für die Struktur eines Vollzugs, der durch zwei gegenläufige Tendenzen gekennzeichnet ist: auf der einen Seite steht die Tendenz, durch Wissenschaftlichkeit formalistische Richtigkeit bzw. die vollständige Einordnung eines Gegenstands in die Formen des Denkens zu erzielen – im obigen Beispiel wäre das die Kategorisierung des literarischen Werks anhand bestimmter auffindbarer Merkmale. Auf der anderen Seite steht die Tendenz, den Gegenstand in seinem ‚An-Sich‘, in seinem Wesen zu erfassen, unter Einbeziehung verschiedener Erkenntnismöglichkeiten – im Beispiel repräsentiert durch die Wahrnehmung der Literatur als Kunst, als identitätsbildend für eine Gemeinschaft oder als handlungsleitend für ein Individuum. Hier geht es um dasjenige am Gegenstand, das allein vom Denken nicht erfasst werden kann, weil der Gegenstand als Seiendes das Denken transzendiert. Vielmehr müssen unterschiedliche Erkenntnisoperationen ineinandergreifen, miteinander agieren, um dem Wesen des Gegenstandes nahezukommen. Jedoch bleibt auch dann die Wahrheit ein unerreichbares Ziel, auf das sich nur ausgerichtet werden kann, das aber nicht vollständig erreicht werden kann. Eine Zwischenstellung zwischen formalistischer Eindeutigkeit und wesensgemäßer Wahrheit nimmt dabei die Kategorie der Richtigkeit ein, die zunächst eher dem Formalismus zugeordnet scheint, jedoch nicht preisgegeben werden muss, um der Erfassung des Wesens näherzukommen. Hier scheint Tillich sicherstellen zu wollen, dass ein Näherkommen der Wahrheit keinen Verlust von wissenschaftlicher Eindeutigkeit impliziert. Formalistische Eindeutigkeit oder Richtigkeit wird hier also als ein Aspekt von Wahrheit konzeptualisiert, der zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist. Damit verortet sich Tillich mit seiner Konzeption zwischen den stark formalistischen Tendenzen einer kritischen Philosophie neukantianistischer Prägung und dem „alogisch-dogmatischen Charakter“ der Phänomenologie.165 Verbunden wird diese Konzeption mit der Etablierung der metalogischen Methode als der adäquaten Methode für die Geisteswissenschaft, die formbestimmtes und gehaltbestimmtes Denken kombiniert.166 165 TILLICH, Das System der Wissenschaften, 236f. Tillich grenzt seine metalogische Methode hier ab von dem Logismus des neukantianischen Formalismus auf der einen Seite, der den „Geist logisiert und alles Wirkliche rationalisiert“, und dem Alogismus der phänomenologischen Denkrichtung auf der anderen Seite, der „das dynamische Verhältnis von Wirklichkeit und Geist fremd ist“ und die deshalb „den sinnerfüllenden Charakter des Geistes bestreite[t] und den Sinn in den Wesenheiten selber verwirklicht finden“ muss. Vgl. auch MOXTER, Kritischer Intuitionismus, 175–186. 166 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 89; D ERS., Das System der Wissenschaften, 122f.235– 238.
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Wirft man einen Blick auf die entsprechende Stelle in der Wissenschaftstheorie von 1923, so erscheint die in der Dogmatik-Vorlesung beschriebene Zweideutigkeit noch unter dem Stichwort der „Doppelrichtung“: Die Wissenschaft ist also notwendig auf die Formen der Dinge als Formen gerichtet; sie ist immer formal; aber sie braucht nicht formalistisch zu sein; sie braucht nicht zu vergessen, daß im Erkennen ein reales Verhältnis der Sinnerfüllung zur Wirklichkeit hergestellt ist. Vergißt sie es, so nähert sie sich den reinen Formen der Logik und verliert die Wirklichkeit. Gibt sie dagegen ihren formalen Charakter auf, so nähert sie sich der ästhetischen Gehaltserfassung und verliert die Eigenformen der Dinge. Die metalogische Methode wahrt die Selbstständigkeit der Wissenschaft ebenso gegenüber dem Logischen wie gegenüber dem Ästhetischen. Sie zeigt in den Eigenformen der Dinge das Seinselement, den Gehalt. 167
Die „Doppelrichtung“, die Tillich hier beschreibt, bezieht sich auf die Erkenntnis des Wesens zwischen formbestimmter Erfassung, nämlich Logik, und gehaltsbestimmter Erfassung, hier Ästhetik. Ebenso wie in der Dresdener Dogmatik wird mit den Begrifflichkeiten des ‚Verlierens‘ beziehungsweise ‚Annäherns‘ eine dynamische ‚Je-Desto‘-Struktur etabliert,168 die der gerade besprochenen Aufbaulogik der Zweideutigkeit in der Dogmatik-Vorlesung ähnelt. Allerdings ist die hier beschriebene „Doppelrichtung“ doch anders strukturiert, da jede Richtung nur einen Pol – Logik bzw. Ästhetik – beinhaltet, während im Beispiel der „Zweideutigkeit der Wesenserfassung“ die zweite Seite die Integration mehrerer Sinnakte (Ästhetik, praktischer Handlungsbezug, Bedeutung der Gemeinschaftssphäre) umgreift. Tillich hat hier noch diejenigen Akte integriert, die in der Kulturtheorie als Gegenstände der praktischen Reihe, nämlich Recht, Gemeinschaft und Ethos, thematisiert werden.169 Damit steht nicht nur die Ästhetik isoliert der Logik gegenüber, sondern eben das Miteinander von Ästhetik, Ethos und Recht. Allerdings schließt Tillich auch in der Dogmatik-Vorlesung seine Überlegungen zur Wesenserfassung mit dem Hinweis auf zwei sich ergänzende Akte, wenn er zum Versuch der Erfassung des Unbedingten schreibt: Ein solches Reden nun hatten wir symbolisch genannt. Es ist Erkennen darin; es ist auch Anschauung darin wie im Ästhetischen; aber es ist doch noch etwas anderes als beides zusammen; nicht nur Wesenserfassung, nicht nur Bedeutungserfassung ist beabsichtigt, nicht um eine Verbindung dieser beiden Akte handelt es sich, sondern um etwas, das im Jenseits beider liegt, was sich jedem Zusammenhang entzieht. 170
Hier spricht Tillich ebenfalls nur von zwei Akten, die dem logischen Streben nach Form und der ästhetischen Anschauung von Gehalt entsprechen. Auflösen
A.a.O., 246. Dem entspricht die Darstellung der „metalogischen Methode“ als eine dynamische, vgl. TILLICH, Das System der Wissenschaften, 123. 169 Vgl. a.a.O., 257–271. 170 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 89. 167 168
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lässt sich diese Widersprüchlichkeit bezüglich des inneren Aufbaus der Zweideutigkeit nur insofern, als die anderen beiden Gebiete, Recht und Gemeinschaft, das Form-Gehalt-Schema von Logik und Ästhetik wiederholen, jedoch bezogen auf die praktische Sphäre, die für den Fluchtpunkt von Tillichs Ausführungen innerhalb der Vorlesung, den Wissenschaftscharakter der Dogmatik, nicht so stark von Belang ist. Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass die ‚Zweideutigkeit‘ hier insofern eine Erweiterung gegenüber der ‚Doppelrichtung‘ der Wissenschaftstheorie darstellt, als die praktischen Akte in die Erkenntnis von wissenschaftlicher Wahrheit ebenfalls integriert werden. Damit entsteht jedoch innerhalb der Zweideutigkeit eine Asymmetrie: auf der einen Seite findet sich allein das formbestimmte Denken, die wissenschaftliche Logik, auf der anderen Seite das gehaltbestimmte Denken als Kunst, Ethos, sowie das formbestimmte Denken seiner praktischen Seite nach, als Recht. Die Einbeziehung der anderen geistigen Vollzugsakte dient Tillich dazu, so die hier vertretene These, ein Verständnis von Wissenschaft zu etablieren, das zwar formalistische Eindeutigkeit der Form nach garantiert – hier lehnt sich Tillich an die Prinzipien des kritischen Neukantianismus an – jedoch zugleich eine gewisse Unschärfe in Kauf nimmt, um der Form und dem Gehalt der Dinge zugleich gerecht zu werden. An diesem Punkt schlägt sich die Abgrenzung zur phänomenologischen Methode nieder. Die Dogmatik sprengt jedoch, wie im obigen Zitat angedeutet, diese ‚Zweideutigkeit der Wesenserfassung‘ zwischen Form- und Gehaltorientierung. Dies geschieht insofern, als sie immer auch der Hinweis auf das Jenseits zwischen Form und Gehalt, auf das Wesen des Wesens bzw. die Wahrheit ist, zu der sich jede Wissenschaft im Modus unendlicher Annäherung befindet. Zweideutigkeit wird in den wissenschaftstheoretischen Prolegomena der Dogmatik-Vorlesung also zu einer Chiffre für Tillichs metalogische Methode und steht damit, erstens, für eine Warnung gegenüber der Vorherrschaft der Logik in Belangen wissenschaftlicher Wahrheitssuche, wie Tillich sie zu seiner Zeit in der philosophischen Strömung des Neukantianismus gegeben sah. Zweitens markiert die Zweideutigkeit den Versuch der Integration anderer Erkenntnisvollzüge in den Wahrheitsbegriff, der damit zwar an Unschärfe und Unerreichbarkeit zunimmt, aber um eine lebensphilosophisch-existentialistische Dimension erweitert wird. Schließlich ist, insbesondere mit Blick auf die Dogmatik als Wissenschaft, mit der ‚Zweideutigkeit der Wesenserfassung‘ der Hinweis auf die Vorläufigkeit aller innerweltlichen Etablierung von Wahrheit oder Sinn und damit – auch hier – das Angewiesensein auf Erschütterung und Umwendung durch Offenbarung ausgedrückt.171
171 Moxter spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „Sinn unhintergehbar und zugleich nie definitiv stabilisierbar ist“, MOXTER, Kritischer Intuitionismus, 197.
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d) Das Verhältnis von Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit der Wesenserfassung Im Anschluss an die nun erfolgte Bestimmung der ‚Zweideutigkeit der Wesenserfassung‘ lässt sich nun auch das Verhältnis zwischen Zweideutigkeit und Vieldeutigkeit folgendermaßen auf den Punkt bringen: Vieldeutigkeit und Zweideutigkeit bezeichnen bei Tillich jeweils unterschiedliche Aspekte der Wesenserfassung. Der Begriff der Vieldeutigkeit dient Tillich dazu, gegenüber der phänomenologischen Ausrichtung der Philosophie seiner Zeit die Unerschöpflichkeit des Seins gegenüber dem Denken festzuhalten und damit seine Positivität als Garant für geistig-schöpferische Weiterentwicklung. Hier zeigt sich Tillichs Nähe zu einer existenzialistisch geprägten Lebensphilosophie (v.a. zu Henri Bergson). Der Zweideutigkeitsbegriff hat hingegen eine andere Funktion: Gegenüber formalistischen Tendenzen in der zeitgenössischen Wissenschaftskultur (Neukantianismus) versucht Tillich die Suche nach Wahrheit von einer Engführung auf wissenschaftlichen Formalismus zu befreien und die Wahrheit dabei zugleich als innerweltlich nur annäherungsweise erreichbar darzustellen. Die Vieldeutigkeit der Wesenserfassung bezeichnet die Artikulation einer ontologischen Struktur. Sie steht für die Vielzahl der Denkformen, die das Denken hervorbringt in seinem Bestreben, das Sein zu erfassen und zu kategorisieren. Dabei steht die Vieldeutigkeit in engem Zusammenhang mit Tillichs Konzeption der „inneren Unendlichkeit jeder Wirklichkeit“172, die eine doppelte Bedeutung hat: Zum einen bezeichnet Tillich damit die numerische Unendlichkeit aller Einzelerscheinungen, die dazu führt, dass das Sein mit seiner individuellen Vielfalt den Kategorisierungen des Denkens widerspricht. Zum anderen weist die Formulierung auch darauf hin, dass hier die ‚vertikale Richtung‘ innerhalb jeder Einzelerscheinung angesprochen ist. Damit verdankt sich die ‚Vieldeutigkeit der Wesenserfassung‘ nicht nur der numerischen, horizontalen Unendlichkeit, sondern auch dem unerschöpflichen Potential, der vertikalen Individualität jedes Einzeldings. Die ‚Zweideutigkeit der Wesenserfassung‘ bezeichnet demgegenüber einen asymmetrisch strukturierten Vollzug (‚Je-Desto‘-Struktur) und steht in engem Zusammenhang mit zeitgenössischer Wissenschaftskritik. Die Zweideutigkeit kann ihrem Aufbau als ‚Je-Desto‘-Struktur nach als der Versuch verstanden werden, auf eine formalistische Engführung in der zeitgenössischen Wissenschaftskultur (Neukantianismus) hinzuweisen. Dies geschieht durch die Gegenüberstellung von formalistischer Eindeutigkeit auf der einen, und Wahrheit auf der anderen Seite. Letzterer ist nur unter Einbeziehung anderer Erkenntnisvollzüge (ästhetische Anschauung, praktischer Handlungsbezug, etc.) näher zu
172
TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 177.
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
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kommen, auch wenn das Erkennen damit an Schärfe verliert. Der Wahrheitsbegriff wird damit auf Kosten einer gewissen Uneindeutigkeit gedacht und stets im Modus der unendlichen Annäherung präsentiert. Gegenüber den in der Offenbarungslehre thematisierten Typen von Zweideutigkeit steht also hier nochmals ein anders gearteter Typus zur Disposition: Neben der ‚Sowohl-als-Auch‘-Struktur der Wirklichkeit sowie der ‚EntwederOder‘-Struktur der Offenbarung liegt hier eine ‚Je-Desto‘-Struktur vor, deren zwei Elemente gegeneinander verschiebbar erscheinen (mit der Zunahme des einen Elements, ist die Abnahme des jeweils anderen Elements verbunden und umgekehrt). Mit der ‚Zweideutigkeit der Wesenserfassung‘ ist anders als im Falle der anderen beiden Zweideutigkeiten auch erstmals ein neutraler Begriff von Zweideutigkeit vorhanden; Tillichs Bewertung fällt hier ungleich nüchterner aus als im Falle der anderen beiden Belege, nämlich im Modus einer sachlichen Feststellung à la: So ist die Wesenserfassung eben strukturiert. Kurzum: Es lässt sich festhalten, dass zwar der Ausdruck (‚Zweideutigkeit‘) in allen drei Fällen derselbe ist, allerdings nicht nur der Gegenstand, also das Bezeichnete, sich jeweils ändert (‚Wirklichkeit‘, ‚Heilsweg‘, ‚Wesenserfassung‘), sondern eben ganz wesentlich auch Aufbau, Wertdimension und Funktion des Begriffs. Es gilt unter diesem Eindruck nun, sich den materialdogmatischen Kontexten von ‚Zweideutigkeit‘ in der Dresdener Dogmatik zuzuwenden. 3.3.3 Affirmation der Negation. Zweideutigkeit in der Sündenlehre Mit der in den letzten beiden Abschnitten vorgenommenen Verortung von ‚Zweideutigkeit‘ in der Offenbarungslehre und der Erkenntnistheorie ist die Behandlung der Kontexte in den Prolegomena vorerst abgeschlossen. Mit dem vorliegenden Abschnitt steht nun die erste Verortung von ‚Zweideutigkeit‘ in den materialdogmatischen Ausführungen der Dresdener Dogmatik zur Debatte. Fast alle einschlägigen Belege zu ‚Zweideutigkeit‘ finden sich dabei im ersten Teil der Materialdogmatik, in den Ausführungen Das Seiende als Natürliches in der vollkommenen Offenbarung. (Von der Schöpfung. Theologische Seinsdeutung)173. In den anderen beiden Teilen, der Geschichtsdeutung und der Sinndeutung, die nur als Fragmente vorliegen, geht die Häufigkeit der Belege – auch relativ gesehen – deutlich zurück.174 Damit lässt sich zunächst 173 Vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 123–267. Hier findet sich der Terminus ‚Zweideutigkeit‘ 67-mal, das dazugehörige Adjektiv ‚zweideutig‘ 18-mal. Schon an der nun deutlich überproportionalen Verwendung des Substantivs zeigt sich die Transformation der ‚Zweideutigkeit‘ zu einem eigenen ‚Stand‘ bzw. ihre Ontologisierung. In der Teilung in ‚Sein‘ und ‚Sinn‘ bzw. ‚Natur‘ und ‚Geschichte/Kultur‘ sieht Fritz einen Reflex auf die Schelling’sche Doppelung von Natur- und Geist- bzw. Geschichtsphilosophie. Dogmatisch wird dieser Dual ausgedrückt in den Symbolen Schöpfung und Erlösung, denen als drittes die Vollendung hinzugefügt wird, vgl. FRITZ, Mut und Schwermut, 87. 174 Vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 271–391. Hier finden sich 29 bzw. 19 Belege.
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rein quantitativ eine Nähe des Zweideutigkeitsbegriffs zur Gegenstandssphäre des Seins, auch bezeichnet als Symbolgebiet der Natur oder Schöpfung175, konstatieren. ‚Zweideutigkeit‘, so lässt sich hier schon erahnen, betrifft an dieser Stelle das Sein in seinem ‚So-sein‘, in seiner ontologischen Struktur176 – die natürlich ebenso den anderen Teilen, Geschichtlichkeit und Sinndeutung, zugrunde liegt.177 Zwei entscheidende Verschiebungen kennzeichnen nun den Übergang von den Prolegomena zu den materialdogmatischen Kontexten von ‚Zweideutigkeit‘: Erstens findet eine gewisse Hypostasierung bzw. ‚Ontologisierung‘ der Zweideutigkeit statt. Diese Tendenz kommt in erster Linie in bestimmten sprachlichen Konstellationen zum Ausdruck, die so in den Prolegomena noch nicht vorkamen. Während ‚Zweideutigkeit‘ dort in der Regel attributiv auf ein gewisses Gegenstandsgebiet oder einen Vollzug angewendet wurde – so etwa als „zweideutige Wirklichkeit“178 oder „Zweideutigkeit der Wesenserfassung“179 –, wird sie in der Materialdogmatik zu einem eigenständigen „Stand“, beziehungsweise zu einer „Sphäre“, in der alles Seiende steht.180 Dementsprechend findet sich auch gehäuft die Formulierung „in der Zweideutigkeit“181. Dabei unterscheidet Tillich den Begriff des Standes deutlich vom einmaligen und vorübergehenden Zustand, indem er in ihn als „etwas in dem wir wesentlich stehen“182 definiert, als eine ständige Qualifiziertheit alles Seienden. In So heißt es zur ersten Gruppe des Seienden: „Darum ist es richtig, mythisch und metaphysisch, als erste Gruppe die des unmittelbar Seienden, das in seinem Seinscharakter ruht, [ihm] verfallen bleibt, zu [nennen]. Man könnte das auch Natur nennen.“ A.a.O., 123. Einfügungen durch die Herausgeber der Kritischen Edition. 176 Tillich spricht in diesem Zusammenhang auch von „theologischer Ontologie“ und will damit seine Schöpfungslehre als „mythisch erfüllte Ontologie“ bzw. als Kosmologie im Sinne des Systems der endlichen Formen verstehen. A.a.O., 124. Zu Tillichs Schöpfungslehre vgl. auch FRITZ, Mut und Schwermut, 79–106. 177 „Wir unterscheiden das Seiende in seiner Unmittelbarkeit und meinen damit die gesamte Sphäre des Seienden, insofern es ist, also das an den anderen Gruppen, was diesen Charakter ausdrückt. Und sowohl das geistige wie das ideale Sein hat diesen Charakter; es ist, es gehört zum Seienden, insofern es ist.“ TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 123. Hervorhebung im Original. 178 A.a.O., 20. 179 A.a.O., 89. 180 So etwa a.a.O., 137.170.185f.201. 181 A.a.O., 178.185f.187f.192.200f.204.209. Hervorhebung durch Vfin. 182 A.a.O., 126: „Vor allem ist deutlich, daß es sich hier nicht um einen einmaligen Vorgang handelt, um einen Zustand der einmal war und dann verloren ist; das ist eine Mythologisierung, die in der Offenbarungserschütterung nicht gegeben ist. Sondern es handelt sich hier um einen Stand, also um etwas, in dem wir wesentlich stehen.“ Oder: „Dieser Stand ist auch im gegenwärtigen Stand wirksam […].“ A.a.O., 156. Der Begriff ist damit eng verknüpft mit dem Versuch, „im Rahmen einer modernen, religionstheoretisch aufgeklärten und erfahrungsnahen Dogmatik den Schöpfungsbegriff zum Sprechen zu bringen […] ‚Schöpfung‘ markiert nicht mehr die anfängliche Setzung von Welt und Mensch, der die ‚Erlösung‘ 175
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seiner Schöpfungslehre kontrastiert Tillich dem Aufbau nach zunächst den „Stand der Eindeutigkeit“183 mit dem „Stand der Zweideutigkeit“184, bevor die Wirklichkeit als konkretes Ineinander beider Stände zur Sprache kommt.185 Im Zuge dieser Kontrastierung findet sich auch die zweite entscheidende Neuerung gegenüber den Prolegomena: In ihrer hypostasierten Gestalt begegnet ‚Zweideutigkeit‘ in der Materialdogmatik gleichzeitig als Explikation zweier verschiedener Sachverhalte: Zunächst finden sich viele der Belege in Zusammenhang mit der Beschreibung der Wesenswidrigkeit alles Seienden, theologisch gesprochen: der Sünde.186 Hier findet sich auch die einzige einschlägige Definition des Begriffs ‚Zweideutigkeit‘ in der Dresdener Dogmatik – prominent platziert leitet sie in die Themen Sünde, Erbsünde, Versuchung und Gericht ein.187 Demgegenüber finden sich jedoch auch andere Belegstellen, in denen ‚Zweideutigkeit‘ das konkrete Ineinander von Wesensgemäßheit und Wesenswidrigkeit, oder von Eindeutigkeit und Zweideutigkeit bezeichnet. Hier bewegt sich die Bestimmung auf der Ebene eines Strukturbegriffs, der das, was vormals ‚Zweideutigkeit‘ genannt wurde, als ein Element integriert (allerdings dann unter dem Ausdruck „Wesenswidriges“).188 Es stellt sich mit Blick auf diese Verschiebung also die Frage, was es mit dieser wechselnden Bestimmung von ‚Zweideutigkeit‘ auf sich hat: Gebraucht Tillich den Begriff nicht stringent? Oder hat er im Laufe der Erstellung des Manuskripts die inhaltliche Füllung, aber auch theoretische Position der Zweideutigkeit so tiefgreifend verändert? Im Folgenden soll den hier angedeuteten Fragen nachgegangen werden, indem zunächst die ‚Positivfolie‘, der ‚Stand der Eindeutigkeit‘, behandelt wird. Anschließend wird der ersten Bedeutung von ‚Zweideutigkeit‘ im Zusammenhang mit der Sünde nachgegangen. Dabei wird die Definition der Zweideutigkeit, die Tillich hier vorlegt, im Zentrum stehen. Schließlich wird die Zweideutigkeit in ihrer Stellung als Metabegriff für die beiden Strukturmomente der Wirklichkeit, Wesensgemäßheit und Wesenswidrigkeit, behandelt. Hier soll als das den ‚Fall‘ kompensierende Heilshandeln Gottes logisch folgt; vielmehr fungieren beide Begriffe als Zentralkategorien für die religiöse Deutung bestimmter Seiten oder Schichten von Welt und Existenz“, FRITZ, Mut und Schwermut, 104. 183 Behandelt in Teil A. der Schöpfungslehre Das Seiende als Wesensgemäßes in der vollkommenen Offenbarung (Von Gott und Welt in ihrer Verbundenheit), TILLICH, DogmatikVorlesung, 125–176. 184 Behandelt in Teil B. der Schöpfungslehre Das Seiende als Wesenswidriges in der vollkommenen Offenbarung (Von Gott und Welt in ihrer Getrenntheit), a.a.O., 177–222. 185 Vgl. Teil C. der Schöpfungslehre Das Seiende im Zusammenhang von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der vollkommenen Offenbarung (Von Gott und Welt in dem Zusammensein von Getrenntheit und Verbundenheit), a.a.O., 223–267. 186 Vgl. insbesondere a.a.O., 177f.183–188.190–193.200f. 187 Vgl. a.a.O., 177. 188 Vgl. a.a.O., 223.225.227.
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sich die Analyse besonders dahingehend fokussieren, wie sich diese Verhältnisbestimmung zu der in der Offenbarungslehre behandelten ‚zweideutigen Wirklichkeit‘ verhält. a) Eindeutigkeit als Chiffre für Erfahrungen von Einheit Tillich beginnt seine Schöpfungsdeutung bzw. die Lehre vom Sein in seiner Unmittelbarkeit mit einer Definition von ‚Eindeutigkeit‘, die also rein formal mit der Definition von ‚Zweideutigkeit‘ zu Beginn der Sündenlehre kontrastiert wird. So heißt es zu Beginn des ersten Teils der Schöpfungslehre: Die Unmittelbarkeit des Seienden schließt seine Eindeutigkeit nicht ein. Unter Eindeutigkeit verstehen wir ein solches Verhältnis des Seienden zu dem Unbedingt-Tragenden, daß dieses, das Tragende, durch jenes, das Getragene, schlechthin bejaht wird. Wenn wir nun das Seiende zum Symbol machen, also etwa Gott unbedingtes Sein zusprechen, dann ist damit zunächst dieses Verhältnis gemeint, daß das Seiende qua Seiendes das unbedingt Seiende bejaht. Damit ist das Seiende eindeutig in seiner Symbolkraft dem Unbedingten zugesprochen.189
Tillich beginnt seine Definition mit einer klaren Abgrenzung: Das Symbolgebiet190 der Natur als unmittelbar Seiendes bedeutet gerade nicht eine Gleichsetzung von Unmittelbarkeit und Eindeutigkeit. Vielmehr unterscheidet Tillich im Rahmen seiner Schöpfungslehre drei verschiedene Verhältnisbestimmungen zwischen Unbedingtem und Seiendem, welche die jeweils unterschiedliche
A.a.O., 125. Die Entwicklung des Tillich’schen Symbolbegriffs seit 1919 bis in die Zeit der Dresdener Vorlesung hat Lars Heinemann ausführlich nachgezeichnet: HEINEMANN, LARS, Symboltheoretische Anfänge. Paul Tillichs frühe Privatdozentenjahre in Berlin (1919/1920), in: Danz/Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, 233–257. Die kaum überschaubare Fülle an Forschungsliteratur zu Tillichs Symbolbegriff wurde jüngst durch die Studie von Lars Heinemann bereichert (vgl. HEINEMANN, Sinn – Geist – Symbol). Hervorzuheben sind außerdem der 2007 erschienene Sammelband: DANZ, CHRISTIAN/SCHÜßLER, WERNER/STURM, ERDMANN (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion, Wien/Berlin: Lit 2007, die Dissertation von Gunther Wenz mit dem Vorwurf des „univoken Symbolismus“ (WENZ, Subjekt und Sein, 161–180) sowie die (kritischen) Beiträge Joachim Ringlebens, vgl. RINGLEBEN, JOACHIM, Symbol und göttliches Sein (I), in: Ders.: Gott denken. Studien zur Theologie Paul Tillichs (Tillich Studien 8), Münster: Lit 2003, 87–101; DERS., Tillichs Symboltheorie (II), in: a.a.O., 139–164. Das Verhältnis zu Ernst Cassirers Symboltheorie hat Christian Danz herausgearbeitet, vgl. DANZ, CHRISTIAN, Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer, in: Dietrich Korsch/Enno Rudolph (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen: Mohr Siebeck 2000, 201– 228. Auch die Rezeption von Tillichs Symboltheorie in der Psychologie sei erwähnt, vgl. SEELIG, AMARESH MARKUS, Das Selbst als Ort der Gotteserfahrung. Ein Vergleich zwischen Carl Gustav Jung und Paul Tillich, Frankfurt a.M.: Lang 1995, sowie COOPER, TERRY D., Paul Tillich and Psychology. Historic and Contemporary Explorations in Theology, Psychotherapy and Ethics, Macon: Mercer University Press 2006. 189 190
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Symbolkraft des Seienden gegenüber dem Unbedingten thematisieren.191 Dabei wird das erste Verhältnis, das der Eindeutigkeit, mit den Worten „schlechthin bejahen“ oder das Unbedingte als „Seiendes qua Seiendes bejahen“ näher beschrieben. Es thematisiert also die unbedingte Zusage des Seienden zu seinem Grund. Allerdings deutet sich in der Formulierung „qua Seiendes“ an, dass diese Zusage nicht in einem intentionalen, bewusst gesprochenen ‚Ja‘ besteht, sondern dem Seienden schon aufgrund seiner Disposition als Seiendes zukommt, also einer bewussten Zusage vorgängig ist. Das Seiende kann in diesem Sinne also gar nicht anders als das Unbedingt-Seiende schlechthin bejahen – es tut es bereits durch sein Da-Sein. Dieser Einsicht korrespondiert die Aussage, dass das Seiende dem Unbedingten „eindeutig in seiner Symbolkraft […] zugesprochen“ ist. In der sprachlichen Passivkonstruktion drückt sich nochmals die Unabsichtlichkeit des Seienden aus: es ist durch seine Geschöpflichkeit schlechthin Symbol für das Unbedingte, oder: es ist nicht bereitwillig und bewusst, sondern ‚unschuldig‘ Symbol, einfach weil es ‚da ist‘.192 So wird das Symbolverhältnis der Eindeutigkeit an anderen Stellen mit Rückgriff auf die Statuslehre der altprotestantischen Orthodoxie auch als „Stand der Unschuld“193, „eindeutige Kreatürlichkeit“194, oder „Stand der reinen Kreatürlichkeit“195 bezeichnet. Jedoch belässt es Tillich nicht bei diesen abstrakten Bestimmungen, sondern konkretisiert das, was mit dem Symbolstand der Eindeutigkeit gemeint ist, mit Hilfe des Begriffspaars von ‚Schwermut‘ und ‚Mut‘.196 Beide Begriffe stehen dabei für ‚Gestimmtheiten‘, die dem Seienden aufgrund seines Selbstseins zu eigen sind:197 Jedes Seiende, ob das Selbstsein eines Einzeldings oder das 191 So heißt es im Anschluss an die Definition: „Es ist damit die andere im nächsten Kapitel zu behandelnde Möglichkeit abgegrenzt, daß das Seiende zwar auch Symbolkraft hat für das unbedingte, aber nicht in einer eindeutigen Bejahung, sondern in einer Bejahung, die sich darstellt als ein verneintes Nein, also als Stehen in einem in sich zerbrechenden Widerspruch. Es ist drittens damit abgegrenzt eine Aussage über die Symbolkraft des Seienden im Zusammen der Eindeutigkeit und Zweideutigkeit.“ TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 125. 192 „Das unmittelbar eindeutige Seiende ist das unschuldig Seiende.“ A.a.O., 154. 193 A.a.O. 154 („Die Unschuld ist der Stand der reinen Kreatürlichkkeit.“) sowie 263. 194 A.a.O., 129. 195 A.a.O., 137.138 („reiner Stande seiner Kreatürlichkeit“), 156 („der eindeutigen reinen Kreatürlichkeit“), 184 („Sphäre der reinen Kreaürlichkeit“). 196 Auch dieses Paar zieht sich durch Tillichs Schriften und gelangt, insbesondere in den USA mit TILLICH, The Courage to Be, New Haven: Yale University Press 1952 endgültig zu großer Popularität, vgl. dt. TILLICH, Der Mut zum Sein (1952), in: GW XI, 13–139; zu Tillichs Konzept der Schwermut vgl. LEINER, MARTIN, Depression und Sünde – Tillichs Konzept der Schwermut, in: Lucie Kaennel/Bernard Reymond (Hg.), Les peurs, la mort, l'espérance: autour de Paul Tillich (Tillich-Studien 21), Münster: Lit 2007, 161–171. 197 Martin Fritz hat in diesem Punkt auf die Doppelheit der Affektbegriffe als Objektgefühl und subjektivem Zuständlichkeitsbewusstsein zugleich hingewiesen, vgl. DERS., Mut und Schwermut, 89f.
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Weltsein des Zusammenhangs, hat nach Tillich ein solches Selbstsein, „auf Grund dessen ihm die Qualität des Seienden zukommt.“198 Im Modus der alltäglichen Selbst- und Welterfahrung ist es in der Regel dieses Selbstsein der Dinge, ihre Eigenständigkeit, die wir wahrnehmen – dies war an anderer Stelle mit dem Begriff der ‚Profanisierung‘ auf den Punkt gebracht (vgl. II.3.3.1). Die alltägliche Weltsicht wird jedoch – punktuell, wenn sich Offenbarung ereignet – durch die religiöse Weltsicht durchbrochen:199 In der Wahrnehmung der eigenen Kreatürlichkeit stellt sich das Selbstsein der Dinge plötzlich als ein Defizitäres dar – es wird ‚erschüttert‘. Den Menschen trifft plötzlich die Einsicht, dass er selbst für sein Dasein nichts kann, sein Selbstsein also gar kein wirklich unabhängiges Selbstsein darstellt. Diesen Zustand der Erschütterung greift Tillich mit dem Begriff der ‚Schwermut‘. Als Gewährsmann für den Begriff steht hier einmal mehr Schelling mit seiner Naturphilosophie, die „den Blick hatte für die Schwermut in der Natur, auch in der Tierwelt, und der diese Erschütterung nicht nur als ein Durchgangsmoment des unendlichen Processes, sondern als tatsächliches Gehaltensein des Endlichen faßte.“200 Die Erfahrung der Erschütterung, die sich in der Gestimmtheit der Schwermut ausdrückt, wird von Tillich im Anschluss an Schelling auf die gesamte Natur- und Tierwelt ausgeweitet und als Stigma alles Seienden verstanden. Jedoch nährt sich diese Gestimmtheit gerade nicht nur aus dem Innewerden der eigenen Kontingenz und Vergänglichkeit, sondern bezeichnet als Negativmoment der Kreatürlichkeit auch eine grundsätzliche „Unerfülltheit des Seienden mit Seinsgehalt und Lebensgehalt“201. Martin Fritz hat diesen Umstand mit der Formel von der ‚ontologischen Defizienz‘ auf den Begriff gebracht und die Verbindung zu anderen schöpfungstheologischen Passagen Tillichs aufgezeigt.202 Was genau mit dieser „Unerfülltheit“ des Seienden gemeint sein
TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 126. Hier deutet sich erneut Tillichs Nähe zu Rudolf Otto an, insbesondere zu dessen Frühschrift: Naturalistische und religiöse Weltansicht von 1904, vgl. insbesondere zur Rezeption der Frühschrift FRITZ, Mut und Schwermut, 91f.102f. 200 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 128. Auch die Kritik an Hegel deutet sich hier an. Bei Schelling findet sich in der Freiheitsschrift folgende Passage, auf die Tillich wohl anspielt: „Dies ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit, und wenn auch in Gott eine wenigstens beziehungsweise unabhängige Bedingung ist, so ist in ihm selber ein Quell der Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens.“ SCHELLING, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 119. Hervorhebung durch Vfin. 201 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 128. 202 FRITZ, Mut und Schwermut, 87–93, hier 89. Dabei werden vor allem folgende Manuskripte Tillichs behandelt: Mythos und Metaphysik (1923), in: EW X, 356–370, sowie Natürlichkeit und Kreatürlichkeit (1926/27), in: EW XI, 33–39. Außerdem wird der Aufsatz Eschatologie und Geschichte (1927), in: MW VI, 107–125 ausführlich analysiert als einzige 198 199
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könnte, wird, wie Fritz zeigt, durch einen Blick in den Aufsatz Eschatologie und Geschichte aus dem Jahr 1927 erhellt. Tillich spricht hier von der „Ungesichertheit des Seins“, als Ausdruck dafür, „daß es in seinem Sein etwas Schwebendes hat, eine Gewichtslosigkeit, einen Hinweis auf mögliches Nichtsein, einen Mangel an unbedingtem Gewicht.“203 Mit poetischen Worten und mit dem Bild des Schwebens bringt Tillich hier ein Grundgefühl des Lebendigen zum Ausdruck, einen ihm inhärenten Mangel, eine fundamentale Unselbstständigkeit. Hier findet sich die Figur des religiösen Paradoxes, wie sie im vorigen Kapitel entfaltet wurde (vgl. II.2.4.3), ihrer einen Seite nach, der Negation, auf die Schöpfungslehre angewendet. Dementsprechend stellt Tillich dieser Negation des Seienden auch eine Position gegenüber: Mit der Infragestellung des Seienden in der Schwermut drängt sich dem religiösen Bewusstsein zugleich die „Ernsthaftigkeit“ des Seins auf als Ausdruck „für die Unabschiebbarkeit, Unerfindbarkeit des Seins, für die Undurchdringlichkeit des Seinskerns jedes Dinges.“204 Das erschütterte Selbstsein wird sich also zugleich bewusst darüber, dass es ‚trotz allem‘ ja da ist, unabweislich und unabschiebbar. Angesichts dieser Tatsächlichkeit, der Faktizität des Da-Seins des Seienden, triumphiert in der Kreatürlichkeitserfahrung der Mut als die Qualität des Seienden, „dieses ihr bedingtes Sein, ihren Mangel an Seins- und Lebensfülle zu bejahen als Getragenes von der unbedingten Seins- und Lebensfülle.“205 Damit findet sich in dem Begriff vom ‚Mut‘ die Positivseite des religiösen Paradoxes wieder. Zugleich begegnet im Zusammenhang mit dem Mut erneut die sprachliche Formulierung des „Bejahens“ und damit schließt sich der Kreis zurück zur Frage nach der Eindeutigkeit: ‚Eindeutigkeit‘ bezeichnet hier also ein Verhältnis der Kreatur, das um die eigene Begrenztheit und Labilität weiß (‚Schwermut‘), jedoch angesichts dieser nicht verzweifelt, sondern sie positiv annimmt, indem sie sie als vom Unbedingten getragen versteht (‚Mut‘). Zieht man die
Publikation der 1920er Jahre, in der Tillich das Thema Schöpfung intensiver behandelt, wenngleich im Rahmen einer metaphysischen Geschichtsdeutung. 203 TILLICH, Eschatologie und Geschichte, 110. Hervorhebung im Original. 204 Ebd. In der Dresdener Dogmatik zieht Tillich an dieser Stelle die Verbindung zur erkenntnistheoretischen Fragestellung, indem er von der Unmöglichkeit spricht, das Seiende mittels einer Funktion des Geistes (etwa dem praktischen Handlungsbezug oder der logischen Erkenntnis) zu erfassen: „[D]ann können wir bei jeder Funktion, mit der wir herangehen, das Gleiche feststellen: Es zeigt sich uns in dem Maße, in dem wir dem Sein des Seienden näherkommen, eine innere Bestimmtheit, durch die wir gerade von ihm weggeführt werden“ TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 127. Erneut ist hier die ‚Zweideutigkeit der Wesenserfassung‘ angesprochen (vgl. II.3.3.2). 205 A.a.O., 129. Tillich verweist an dieser Stelle auch auf Luthers ‚Trotz‘ angesichts der Sünde, auch wenn „diese Steigerung hier noch nicht geboten“ ist. Auch bei Hiob und den Psalmen „klingt der Mut des Seienden durch alle Schwermut hindurch“, a.a.O., 130.
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Linie zurück zur Offenbarungslehre der Prolegomena, in der der Begriff ‚Eindeutigkeit‘ als ein integratives Moment der ‚Zweideutigkeit der Wirklichkeit‘ vorgestellt wurde (vgl. II.3.3.1), lässt sich feststellen, dass genau die Bereitschaft zu vollständiger Medialität, die für die Eindeutigkeit konstitutiv war, auch hier die entscheidende Rolle spielt: Das Bedingte wird transparent für das Unbedingte, wird dessen ständiger Hinweis, indem es sein Selbstsein negiert beziehungsweise nur durch das Unbedingte hindurch versteht. Damit lässt sich festhalten, dass Tillich in seinen materialdogmatischen Ausführungen in extenso die Verhältnisbestimmung der Eindeutigkeit aufgreift, die er bereits in der Offenbarungslehre angelegt hatte, und diese ontologisch als ständige Qualität des Seienden versteht. In der Materialdogmatik schildert Tillich das Symbolverhältnis der Eindeutigkeit aber auch in seinen lebenspraktischen Auswirkungen. Zwar betont er im Falle von ‚Schwermut‘ und ‚Mut‘ gerade deren metaphysische Qualität und grenzt beide vom innerlich-subjektivem Gefühl ab; jedoch kommt der Stand der reinen Kreatürlichkeit auch innerlich, im Subjekt als Empfindung zum Ausdruck, und zwar „in der Einheit von Schmerz und Lust“206. Tillich etabliert an dieser Stelle also ein weiteres Begriffspaar, um in gewisser Weise auf einer anderen Ebene zu thematisieren, wie sich das Symbolverhältnis der Eindeutigkeit für das Subjekt in seiner Lebensrealität auswirkt, oder „zur Empfindung kommt“207. ‚Lust‘ und ‚Schmerz‘ sind also die Empfindungen, durch die das Subjekt seiner Kreatürlichkeit gewahr wird.208 Zentral für die Empfindung von Schmerz und Lust als Ausdruck des eindeutigen Kreaturverhältnisses ist ihr Vorkommen als eine Einheit. Tillich verwendet das Beispiel der biologischen und geistigen Zeugung, um diese Struktur zu versinnbildlichen: Diese Einheit [die mit dem Stand der reinen Kreatürlichkeit/Eindeutigkeit verbunden ist, Anm. Vfin.] von Schmerz und Lust ist also in ihrer Bedeutung und ihrem Wesen ins Auge zu fassen. Sie ist unzweifelhaft die jederzeit erfahrbare Tiefe unseres unmittelbaren Lebens. Ein Lebensvorgang, in dem etwas bezweckt ist, dem Lustcharakter zukommt, ist für unser Bewußtsein flach, insofern in ihm nicht der Schmerz der Mühe, der Hingabe, des Opfers unmittelbar schmerzloser Lust verbunden ist. Am tiefsten ist diese Einheit von Schmerz und Lust in der schöpferischen Lust der biologischen wie der geistigen Zeugung enthalten.209
Mit dem Begriff der „Tiefe“ hebt Tillich nochmals die metaphysische Qualität von Schwermut und Mut hervor, die in der Einheit von „Lust“ und „Schmerz“ A.a.O., 131. A.a.O., 132. 208 Tillich betont in diesem Zusammenhang, dass es diese Empfindungen natürlich auch jenseits der Offenbarungserschütterung gibt. In diesem Fall weiß das Subjekt nichts davon, dass sie Ausdruck seiner Kreatürlichkeit sind. Schmerz und Lust sind in ihrer Alltäglichkeit symbolunkräftig. Erst in der Erschütterung, als Erfahrung von Todesschmerz und Schöpfungslust, werden sie symbolkräftig, a.a.O., 132.134. 209 A.a.O., 133. 206 207
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„jederzeit erfahrbar“ wird. Diese Tiefe wird jedoch nach Tillich nur dann erfahrbar, wenn beide Elemente als miteinander verbunden auftreten. Lust verliert ihre Tiefe, ihren Gehalt, wenn sie verzwecklicht wird, also als das Streben nach dem Lustprinzip vom Schmerz abgekoppelt wird. Sie wird ‚flach‘ – man könnte auch sagen: zur reinen Form; sie wird profanisiert.210 Die ideale Einheit von Schmerz und Lust sieht Tillich in der biologischen wie der geistigen Zeugung beispielhaft gegeben. Im zweiten Falle könnte Tillich etwa das zähe, mühevolle Heranwachsen eines Textes vor Augen stehen, dessen Produktion dem Autor oder der Autorin gleichermaßen Schmerz, wie der allmählich sich einstellende Erfolg Lust generiert. Im ersten Fall, der biologischen Zeugung, stellt sich angesichts der nicht direkt naheliegenden Verbindung der Lust mit dem Schmerz die Frage, ob hier vielleicht in Anspielung auf Platon das Miteinander von Zeugungsakt und Geburtsvorgang gemeint sein könnte,211 oder ob an dieser Stelle eventuell gewisse sexuelle Vorlieben Tillichs anklingen.212 Die Krönung der Einheit von Lust und Schmerz stellt für Tillich jedenfalls das Ineinander von Zeugungslust und Todesschmerz dar. Dieses tritt nicht momenthaft auf, etwa in Angesicht eines nahenden Todes, sondern durchformt als tiefe Qualität das gesamte Leben. Tillich sieht darin „nicht nur biologische Tatsache, nicht nur ein seelisches Widerfahrnis, sondern auch eines der stärksten Motive mythischer Symbolschöpfung“213. Als Sinnbild für diese Einheit von Todesschmerz und Schöpfungslust zieht Tillich Nietzsches Figur des Dionysos214 heran, den er, anders als Nietzsche 210 A.a.O., 134. Tillich spricht hier von der „Profanisierung der schöpferischen Lust“ und spielt damit wohl auf das modernitätsaffine Streben nach Lustmaximierung an. 211 Entsprechend der Doppeldeutigkeit des griechischen Wortes τόκος (Geburt/Zeugung) sowie das Spiel mit dieser Doppeldeutigkeit in der Rede der Diotima in Platons Symposium, vgl. auch MOST, GLENN W., Sechs Bemerkungen zum platonischen Eros, in: Christian Begemann/David E. Wellbery (Hg.), Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit, Freiburg i.Br.: Rombach 2003, 37–49. Zur Anwendung der Metapher Zeugung/Geburt auf die künstlerische Produktion vgl. insbesondere den Einleitenden Aufsatz des Sammelbandes von WELLBERY, DAVID E., Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur, in: Begemann/Ders. (Hg.), Kunst – Zeugung – Geburt, 9–36. 212 So findet sich in einem Brief Hannah Arendts, die eine freundschaftliche Bekanntschaft mit Tillich, vor allem aber eine sehr enge Freundschaft mit Tillichs 1950 verstorbener Geliebten Hilde Fränkel verband, eine recht eindeutige Schilderung von deren sexueller Beziehung, in der sie unter anderem von der „riesigen pornographische[n] Literatur“ berichtet, „die ausschliesslich von Sadismus-Masochismus und Flagellantentum handelte, unbeschreiblich langweilig für normale Erdenbürger wie mich, und die dazu diente, mehr Varianten des Gleichen zu erfinden […]“, CHRISTOPHERSEN, ALF/SCHULZE, CLAUDIA (Hg.), Hannah Arendt – Paul Tillich. Briefwechsel, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 9 (2002), 131–156, hier 154. 213 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 134. 214 „Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen […]. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein
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selbst, gerade nicht als Gegensatz zum gekreuzigten Christus verstehen will.215 Vielmehr ist es Tillichs Ansinnen, das „Dionysische in die christliche Dogmatik“216 aufzunehmen, also Tod und Schmerz in die Kreatürlichkeit zu integrieren. Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass Tillich in seiner Analyse von Lust und Schmerz auf die Theodizeefrage217 hinaus will: es geht ihm darum, die Entstehung beziehungsweise den Sinn von Schmerzen und Leiden zu thematisieren. Dabei dient die Einheit von Schöpfungslust und Todesschmerz, versinnbildlicht am Symbol des Dionysos als Erweis dafür, dass Tod und Schmerz zum Kreatursein dazugehören, aber solange nicht zur Verzweiflung treiben, als sie in Einheit mit der Lust bestehen. Der ‚Stand der Eindeutigkeit‘, so lässt sich nach diesen Einblicken festhalten, artikuliert sich also in der Lebenswirklichkeit dadurch, dass eine Empfindung in ihrem scheinbar widersprüchlichen Gegenpol aufgeht, eine Integration stattfindet. Diese geschieht sowohl von der einen, wie der anderen Seite her: Lust wird flach, wenn sie nicht mit Schmerz verbunden ist (Zeugung/Geburt), Schmerz wird unerträglich, wenn er nicht in die Lust eingeht (Schöpfungslust/Todesschmerz). Tillichs zentrales Anliegen liegt dabei darin, zu betonen, dass Mut und Schwermut bzw. Lust und Schmerz zur reinen Kreatürlichkeit gehören, anders gesprochen: zum Wesen des Geschöpfseins vor dem Fall. Eindeutigkeit bedeutet also gerade keine Abwesenheit von Tod und Schmerz, sondern deren Integration in eine vom Unbedingten getragene Einheit. Tillich liegt hier also daran, eine Idealisierung der eindeutigen Kreatürlichkeit im Sinne
muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hereinzublicken […] Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust […]; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbort, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das eine Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind.“ NIETZSCHE, FRIEDRICH, Die Geburt der Tragödie, III, 1, 105. 215 So schreibt Nietzsche: „Dionysos gegen den ‚Gekreuzigten‘: da habt ihr den Gegensatz. Es ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums, - nur hat dasselbe einen anderen Sinn. Das Leben selbst, seine ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung … Man erräth: das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn … Im ersten Fall soll es der Weg sein zu einem seligen Sein, im letzteren gilt das Sein als selig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen. Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu.“ NIETZSCHE, FRIEDRICH, Nachgelassene Fragmente Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889, VIII, 3, 58. 216 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 135. 217 So wird in den Paragraphen §§ 27 und 37 die Theodizeefrage explizit als Thema genannt, einmal im Teil zur ‚Eindeutigkeit‘, einmal im Teil zur ‚Zweideutigkeit‘.
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eines Paradieszustands abzuwehren.218 Zugleich ist die Betonung der Einheitsfigur von einem starken sozialethischen Impetus getragen: So setzt sich Tillich entschieden zur Wehr gegen bestimmte theologiegeschichtliche Tendenzen, die eine Isolierung der Elemente Lust und Schmerz zugunsten einer Seite präferieren oder sich von beiden gleichermaßen distanzieren (etwa die Askese im ersten Fall, oder die spätantike Ethik, insbesondere die Stoa, im zweiten)219. Stattdessen erachtet er es für unabdingbar, sowohl „unschöpferische Weichlichkeit wie eine dämonisierte Brutalität verneinen und damit der Sozialethik ein angemessenes Fundament zu geben“220. ‚Eindeutigkeit‘ bedeutet also hier gerade keine Vereinseitigung der Geschöpflichkeit in Richtung der einen oder anderen Seite, sondern die Akzeptanz der eigenen Kreatürlichkeit mit der ihr eigenen Kontingenz und Fragilität und die Gewissheit ihrer Aufgehobenheit im Unbedingten. b) Zweideutigkeit als in sich zerbrechender Widerspruch Gegenüber der Eindeutigkeit als ständiger Qualifiziertheit des Seienden grenzt Tillich in der Einleitung zu seiner Schöpfungsdeutung eine zweite Möglichkeit ab, die er in extenso in Teil B unter dem Titel Das Seiende als Wesenswidriges in der vollkommenen Offenbarung. (Von Gott und Welt in ihrer Getrenntheit) verhandelt.221 Interessanterweise ist diese Überschrift mit einem Vermerk der Herausgeber versehen, der auf eine Überarbeitung hinweist: So lautete die Überschrift in der ursprünglichen Fassung der Vorlesung: Das Seiende in seiner Zweideutigkeit als Offenbarungssymbol (Von Gott und Welt in ihrem Widerspruch)222. Diese ursprüngliche Version leuchtet zunächst insofern ein, als der Kontrast zur vorher besprochenen Eindeutigkeit durch die sich nun anschließende Vorstellung der Zweideutigkeit sachlich logisch erscheint. Entsprechend beginnt Tillich diesen Teil seiner Vorlesung auch mit einer Definition des Begriffs ‚Zweideutigkeit‘. Dennoch streicht Tillich bei einer Überarbeitung der Vorlesung ‚Zweideutigkeit‘ aus der Überschrift und ersetzt sie
TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 137. Vgl. a.a.O., 132f. 220 A.a.O., 138. 221 A.a.O., 125: „Es ist damit die andere im nächsten Kapitel zu behandelnde Möglichkeit abgegrenzt, daß das Seiende zwar auch Symbolkraft hat für das unbedingte, aber nicht in einer eindeutigen Bejahung, sondern in einer Bejahung, die sich darstellt als ein verneintes Nein, also als Stehen in einem in sich zerbrechenden Widerspruch.“ Zu Tillichs Sündenlehre in der Dogmatik-Vorlesung vgl. die einschlägige Studie von MURRMANN-KAHL, ULRIKE, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theologie der Sünde, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 2000, insbesondere 63–96. 222 Vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 177, Fn. 1. 218 219
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
durch den Terminus des ‚Wesenswidrigen‘.223 Stattdessen taucht ‚Zweideutigkeit‘ nun in der Unterüberschrift zum dritten Teil der Schöpfungslehre224 auf, in dem laut vorheriger Ankündigung eigentlich eine „Aussage über die Symbolkraft des Seienden im Zusammen der Eindeutigkeit und Zweideutigkeit“225, also eine Synthese von Teil A und B erfolgen soll, und ersetzt dort die Wendung des „Vollzugs der Geschöpflichkeit“226. Hier scheint die schon angesprochene Bedeutungsverschiebung vorzuliegen, der nun, beginnend bei Teil B, nachgegangen werden soll. Tillichs Definition von ‚Zweideutigkeit‘ eröffnet das zweite Kapitel des ersten Teils der Dresdener Dogmatik: Der Begriff der Zweideutigkeit enthält dieses in sich, daß eine Sache, ein Begriff nicht nur in Bezug auf ein Subjekt verschiedener Ausdeutungen fähig ist. Die innere Unendlichkeit jeder Wirklichkeit läßt soviele Ausdeutungen zu, als aufnehmende und verarbeitende Subjekte im Laufe der Geschichte mit dem Gegenstand in Beziehung treten. Zweideutig wird eine Sache aber erst in dem Augenblick, wo sie in sich selbst, abgesehen von dem deutenden Subjekt, eine Zweiseitigkeit hat, die sich darin wirksam erweist, daß, wenn die eine Seite angerührt wird, die andere, in irgendeiner Art von Gegensatz stehende mitschwingt. Ein Geschenk, z.B. ist zweideutig, insofern es einerseits wirklich eine Gabe ist, andererseits aber eine Schädigung. Ein Wort ist zweideutig, nicht wenn es einen mehrfachen Sinn hat – wie etwa die ‚Weise‘ oder ‚Mehr‘ oder ‚ist‘; sondern wenn die zweite Bedeutung einer Schicht angehört, die zu der Schicht, der die eine Bedeutung angehört, in einem gefühlsmäßigen Widerspruch steht. Darauf beruht die sexuelle Zweideutigkeit, in der die Assoziation aus der konventionellen in die konventionswidrige Bedeutung getrieben wird.227
Tillichs Definition des Zweideutigkeitsbegriffs setzt ein mit der deutlichen Abgrenzung von einer (intersubjektiven) Vieldeutigkeit. Tillich will seinen Begriff also gerade nicht als Deutungspluralität verstanden wissen, die durch die individuelle Verschiedenheit und jeweilige Perspektivität verschiedener Subjekte zustande kommt. Gleichwohl wird auch diese Mehrdeutigkeit, die durch die disparate Wirklichkeitsinterpretation entsteht, nicht nur mit dem Deutungs-
223 Dem entspricht eine Substitution der ‚Eindeutigkeit‘ durch den Terminus ‚Wesensgemäßes‘ in Teil A, vgl. a.a.O., 125, Fn. 1, sowie die Ersetzung von ‚Eindeutigkeit‘ und ‚Zweideutigkeit‘ durch ‚Wesensgemäßes‘ und ‚Wesenswidriges‘ in Teil C, vgl. 223, Fn. 1. 224 Vgl. a.a.O., 225 A.a.O., 125 sowie die ursprüngliche Überschrift zu C, 223, Anm. 1. 226 So lauten die Titel in Teil C ursprünglich: Das Seiende im Zusammen von Eindeutigkeit und Zweideutigkeit als Offenbarungssymbol (Von Gott und Welt in dem Zusammenhang von Getrenntheit und Verbundenheit). I. Das Seiende im Vollzug seiner Geschöpflichkeit (Weltordnung und Schicksal). Dies wird geändert zu: Das Seiende im Zusammenhang von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der vollkommenen Offenbarung (Von Gott und Welt in dem Zusammensein von Getrenntheit und Verbundenheit). I. Das Seiende in der Zweideutigkeit seiner Geschöpflichkeit (Welterhaltung und Weltregierung), vgl. a.a.O., 223, Fn. 1f. 227 A.a.O., 177.
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
227
prozess verschiedener Subjekte verknüpft, sondern nimmt ihren Ausgangspunkt bei der „inneren Unendlichkeit jeder Wirklichkeit“ (vgl. zur Interpretation II.3.3.2). Tillich setzt also voraus, dass die Wirklichkeit verschiedene Ausdeutungen der Subjekte überhaupt erst „zulässt“, sie ermöglicht. Man könnte in diesem Zusammenhang also von einer gewissen Deutungs-Vorgegebenheit der Wirklichkeit sprechen, an die sich die subjektiven Interpretationen anschließen. 228 Gegenüber der Vielheit der Interpretationen nimmt Tillich für die Zweideutigkeit eine Zweiseitigkeit in der Sache selbst in Anspruch, die als Grundlage für die Zweideutigkeit fungiert. Dementsprechend wird die Zweiseitigkeit einer Sache zunächst unabhängig vom deutenden Subjekt angenommen, gewissermaßen als eine innere Beschaffenheit der Sache, die das Subjekt in einem zweiten Schritt, dem der Aufnahme, zum Klingen bringen kann. Mittels der klaren Abgrenzung von ‚Vieldeutigkeit‘ lokalisiert Tillich die Zweideutigkeit also ganz klar nicht im Subjekt selbst, als Resultat des Interpretationsprozesses, sondern setzt in der Wirklichkeit einen gewissen Widerstand voraus, der als Grundlage für die subjektive Interpretation angenommen wird: es handelt sich dabei um das „fähig“-Sein einer Sache oder eines Begriffs, das Tillich zu Beginn seiner Definition anspricht. Hier begegnet erneut das bereits erwähnte ‚ontologische Motiv‘, das sich in der Dresdener Dogmatik als ein Neueinsatz in Tillichs Denken niederschlägt. Gleichwohl artikuliert sich die Zweiseitigkeit einer Sache erst dann als Zweideutigkeit, wenn sie durch das Subjekt „angerührt wird“. Ontologisches Motiv und subjektive Rezeption werden hier also als miteinander agierende, sich in einer gewissen Abhängigkeit voneinander befindliche Größen gedacht: Die Beschaffenheit der Wirklichkeit und ihre deutende und interpretative Aufnahme durch das Subjekt erscheinen hier eng aufeinander bezogen. Nach der Abgrenzung der Zweideutigkeit von der Vieldeutigkeit und ihrer Lokalisation im ‚Dazwischen‘ von Wirklichkeit und Subjekt, beschreibt Tillich die Entstehung der Zweideutigkeit als das ‚Mitschwingen‘ einer gewissen Gegensätzlichkeit, die durch das Anrühren der einen Seite der Sache oder des Begriffs hervorgerufen wird. Er verdeutlicht seine bis dahin recht theoretische Hier macht sich der Einfluss Edmund Husserls auf Tillich bemerkbar. Dieser spricht unter dem Stichwort der Intentionalität davon, dass „[…] das intentionale Erlebnis Bewusstsein von etwas“ ist und dementsprechend „seinem Wesen nach, z.B. als Erinnerung, als Urteil, als Wille usw. [ist], und so können wir fragen, was nach seiten dieses ‚von etwas‘ wesensmäßig auszusagen ist“, siehe HUSSERL, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, 181. Anders als Kant geht Husserl davon aus, dass es Bewusstsein an sich nicht gibt, sondern Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist. Tillich studierte Husserl bereits in seinen Kriegsjahren, vgl. in einem Brief an Hirsch vom Dezember 1917: „So habe ich denn begonnen, meine größte Lücke auszufüllen, und habe die moderne Philosophie energisch in Angriff genommen. […] Am lebhaftesten interessiert mich die von Husserl begründete phänomenologische Schule.“ TILLICH, Paul Tillich – Emanuel Hirsch, 98f. 228
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
Einführung sodann an mehreren Alltagsbeispielen. Als erstes Beispiel dient ihm die kulturelle Praxis des Schenkens: Die Zweideutigkeit eines Geschenks sieht er dadurch zustande kommen, dass es gleichzeitig gegensätzlich wirkt, nämlich eine Gabe wie auch eine Schädigung für den Empfänger darstellt. Zu denken wäre hier etwa an die Schenkung eines technischen Gegenstandes, z.B. eines Autos, das der oder dem Beschenkten zwar einen größeren Bewegungsradius und einen gewissen Grad an mobiler Unabhängigkeit verschafft – und dementsprechend einerseits eine Gabe darstellt – jedoch zugleich mit einem finanziellen Aufwand für Reparaturen, Instandhaltung und Versicherungen verbunden ist, der der Empfängerin oder dem Empfänger gleichzeitig ungefragt auferlegt wird – hier könnte man den Schädigungscharakter des Geschenks ausmachen. Das Geschenk oszilliert also zwischen beiden Wirkweisen, zwischen Gabe und Schädigung, hin und her. Entscheidend ist dabei erneut, dass beide Charakteristika im Geschenk selbst bereits angelegt sind und die Grundlage für die Wahrnehmung der Empfängerin oder des Empfängers bilden:229 Zweideutigkeit wird hier also ihrer Entstehung nach erst als das Ergebnis einer Interaktion zwischen Anlage und Interpretation, zwischen Gegenstand und Subjekt, gedacht. Das zweite Alltagsbeispiel, das Tillich heranzieht, betrifft die Zweideutigkeit im Bereich der Rhetorik (vgl. I.1). Jedoch will er an dieser Stelle keineswegs auf ein lexikalisches oder phonetisches Verständnis von ‚Zweideutigkeit‘ im Sinne der Äquivokation hinaus – das klassische Beispiel wäre hier die ‚Bank‘, die sowohl eine Parkbank als auch ein Geldinstitut bezeichnen kann. Vielmehr spricht er von den „Schichten“230 eines Wortes, die in einem „gefühlsmäßigen Widerspruch“ zueinanderstehen. Als Konkretion dient ihm an dieser Stelle der Verweis auf die sexuelle Zweideutigkeit, bei der „die Assoziation aus der konventionellen in die konventionswidrige Bedeutung getrieben wird.“ Auch in diesem Beispiel ist die Verflechtung von ontologischer Vorgegebenheit, also einer im Wort angelegten Zweiseitigkeit, und der durch den Rezeptionsprozess des Subjekts entstehenden Zweideutigkeit impliziert: Veranlasst durch die dem Wort inhärenten „Schichten“, braucht es dennoch das Subjekt als Gegenüber, um den „gefühlsmäßigen Widerspruch“, hier zwischen konventionell und konventionswidrig zu evozieren bzw. zu empfinden. In diesem zweiten Beispiel charakterisiert Tillich den Oszillierungscharakter der Zweideutigkeit als Bedeutungsverschiebung, als eine Bewegung von der einen Bedeutung in die andere hinein. Daran wird deutlich, dass zwar die
229 Zur Ambivalenz der Gabe aus kulturwissenschaftlicher Perspektive vgl. M AUSS, MARCEL, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. 230 Für eine Ontologie der Schichten vgl. H ARTMANN, N ICOLAI, Neue Wege der Ontologie, Stuttgart: Kohlhammer 21947.
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
229
Bedeutungen wie auch die mit ihnen einhergehenden moralischen Bewertungen als „gegensätzlich“ gedacht werden; gleichwohl liegt diese Gegensätzlichkeit hier – ähnlich wie in der Konzeption der ‚zweideutigen Wirklichkeit‘ (vgl. II.3.3.1) – sehr nahe beieinander. Der Übergang zwischen beiden Bedeutungen vollzieht sich im Modus des Schimmerns eher denn des scharfen Umkippens, was Tillich mit dem Ausdruck ‚Mitschwingen‘ auf den Begriff bringt. Tillich strukturiert den inneren Aufbau der Zweideutigkeit also anhand zweier gegensätzlicher Wirkweisen – etwa Gabe und Schädigung – gestaltet jedoch den Übergang zwischen diesen Gegensätzen so weich, dass hier bezüglich der Koordinate der Aufbaulogik eben kein ‚Entweder-Oder‘, sondern vielmehr ein komplementäres ‚Sowohl-als-Auch‘ der Gegensätze gemeint sein muss. Beide Alltagsphänomene, die Praxis des Schenkens sowie die rhetorische Zweideutigkeit, dienen Tillich im Fortgang seiner Definition dazu, eine wesentlich allgemeinere Ebene anzusteuern, die sich mit dem „Sein in seiner Zweideutigkeit“ befasst. So führt er seine Definition folgendermaßen fort: Wenn wir nun sagen, daß das Sein in seiner Zweideutigkeit Offenbarungssymbol sein kann, so ist damit gemeint, daß es durch ein Nein seiner Offenbarungsbedeutsamkeit hindurch Offenbarungsbedeutsamkeit gewinnt. Es ist gesagt, daß mit dem Hinweis, den das Seiende als Seiendes auf das Unbedingte in sich trägt, ein Widerspruch verknüpft ist, der bei jeder Betrachtung des Seienden in der Offenbarung aktuell wird; daß aber dieser Widerspruch selbst wieder in seiner Zweideutigkeit Offenbarungssymbol werden kann. Oder: Auch die Zweideutigkeit, auch das im Widerspruch-Stehen schützt das Seiende nicht vor Durchbruch und Erschütterung. Oder zeugt das Seiende nicht als einfaches Ja für Gott, so zeugt es in der Zweideutigkeit von Ja und Nein für ihn. Ein Ja bleibt immer: entweder ein reines oder ein Nein des Nein.231
In diesem zweiten Teil seiner Definition leitet Tillich von den Alltagsbeispielen zur Verwendung des Zweideutigkeitsbegriffs in der Dresdener Dogmatik über. Der Sachverhalt, auf den sich der Begriff ‚Zweideutigkeit‘ nun bezieht, ist nicht mehr ein bestimmter Gegenstand oder Begriff, wie es bei den Beispielen des Geschenks oder auch der sprachlichen Zweideutigkeit der Fall war. Vielmehr geht es nun auf einer wesentlich allgemeineren Ebene um die Zweideutigkeit alles Seienden gegenüber dem Unbedingten. Tillich leitet mit dieser Definition also in den zweiten Stand der Kreatürlichkeit, den „Stand der Zweideutigkeit“232, ein. Deutlich wird schon an dem obigen Zitat, dass die Entstehung der zweideutigen Kreatürlichkeit mit einem ‚Nein‘ seitens der Kreatur zu tun hat, mit einem „Widerspruch verknüpft ist“. Gegen das ‚Ja‘ und das ‚Bejahen‘ der Eindeutigkeit tritt hier also ein ‚Nein‘ und ein ‚Verneinen‘ in Richtung des Unbedingten. Trotz dieser Verneinung, so der Fortgang des obigen Zitats, „schützt“ die Zweideutigkeit das Seiende TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 177f. Vgl. etwa a.a.O., 180 („Stand der zweideutigen Kreatürlichkeit“), sowie 185f.201 („Stand der Zweideutigkeit“). 231 232
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
nicht davor, Hinweischarakter für das Unbedingte anzunehmen, wenn auch in der Struktur eines ‚Nein des Nein‘. In der doppelten Negation erinnert diese Formulierung an das Nein als „verneintes Nein, also als Stehen in einem in sich zerbrechenden Widerspruch“233, das Tillich bereits zu Beginn seiner Schöpfungslehre als kurze Explikation der Zweideutigkeit angeführt hatte. Geht man dieser Formulierung nach, so ist erneut bei dem Selbstsein der Kreatur beziehungsweise ihrem ‚Anderssein‘ gegenüber dem Unbedingten als Ausgangspunkt für den Widerspruch anzusetzen: Bereits in seinen Ausführungen zum Stand der reinen Kreatürlichkeit beschreibt Tillich dieses „Anderssein gegenüber dem Schaffenden“ als das „Problem der Schöpfung“234. Positiv betrachtet liegt in diesem Anderssein zwar erst der „Möglichkeitsgrund des Selbstseins und Weltseins“235, also kurz gesagt: die Freiheit der Kreatur begründet.236 Allerdings hat dieses Selbstsein der Kreatur, das im Stand der reinen Kreatürlichkeit seinen Mangel in einen ständigen Hinweis auf das Unbedingte transformiert, die „Tendenz, den Seinsmangel nicht in der Anerkennung der Unbedingtheit des Schöpfers zu bewähren“, sondern stattdessen „den Seinsmangel aufzuheben durch Aneignung der Unbedingtheit auf dem Boden der Kreatürlichkeit.“237 Dieses Vortäuschen von Unbedingtheit bezeichnet Tillich als Wesenswidrigkeit, oder Sünde. Mit dieser Bestimmung rückt er die Sünde in die Nähe der Kategorie des Dämonischen (vgl. II.3.3.1): Sie liegt darin, dass sich das Selbst eben nicht verneinen lässt, sondern für sich Unbedingtheit beansprucht und damit Widerspruch erhebt gegen die Unbedingtheit des Schöpfers. Was aber treibt das Selbst überhaupt dazu, diesen Schein aufzurichten? Warum verneint das Geschöpf die Unbedingtheit des Schöpfers? An dieser Stelle kommt die Kategorie der Versuchung ins Spiel, die für Tillich aus der unerträglichen Spannung zwischen der begrenzten Form eines Einzeldings und seiner Unerschöpflichkeit, die sich in dieser Form aktualisiert, resultiert. „Schöpfung ist Individuation“, schreibt Tillich, ist Besonderung und „unbedingte Einmaligkeit“, eine Form, die aus der „Allgemeinheit und Notwendigkeit heraustritt und den Widerstand der Selbstheit gegen den Übergang ins Allgemeine trägt.“238 Mit der Absonderung vom Allgemeinen, mit der Setzung des Individuellen ist also für Tillich ein Widerstand verbunden, die Abwehr, als Einzelnes austauschbar zu sein, nur ein Durchgangsstadium für ein größeres Ganzes darzustellen. Erneut, wie ähnlich schon in Zusammenhang mit der erkenntnistheoretischen Vieldeutigkeit (vgl. II.3.3.2), spricht Tillich in
A.a.O., 125. A.a.O., 139. 235 Ebd. 236 So spricht Tillich auch im Zusammenhang mit dem „Stand der Zweideutigkeit“ davon, dass „sich ja hier das Selbst erst durchringt“, a.a.O., 185. 237 A.a.O., 178f. 238 A.a.O., 195f. 233 234
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
231
diesem Zusammenhang von der „innerlichen Unerschöpflichkeit“239 des Selbst: Diese innere Unerschöpflichkeit, die jede Individualität erst konstituiert, muss vom Wesen, vom Allgemeinen getragen sein. Dadurch aber gerät das Individuelle in eine ständige Bedrängnis, seine Individualität zu verlieren und dem Allgemeinen zu verfallen.240 Diese Bedrängnis äußert sich als Wille der individuellen Unerschöpflichkeit, sich der Form zu bemächtigen, sich zur Existenz zu bringen.241 Es ist also schon im Wesen selbst eine Spannung enthalten, eine dynamische Struktur, etwas das überfließt und sich selbst verwirklichen will. In seinem Aufsatz Kairos und Logos, zur Zeit der Dresdener Dogmatik verfasst, spricht Tillich interessanterweise genau in diesem Zusammenhang von der „Zweideutigkeit“ als „eine[r] Drohung, eine[r] Kraft, mit sich selbst in Widerspruch zu treten“242. Er verweist hier auf die Ideenlehre von Jacob Böhme und des späten Schelling, deren Ideenbegriff „fort[treibt] zur Geschichte, nicht deduktiv, sondern im Sinne eines Sprunges, der nahegelegt ist in der Idee, der die innere Versuchung der Idee ist.“243 Die Böhme’sche Idee wird dabei bezeichnet als „eine Einheit von Ruhe und Unruhe, ein bewegliches, in sich fragwürdiges, von unendlichen Spannungen schwangeres Wesen“, das „innere Unendlichkeit hat“244. Die Zweideutigkeit wird hier also bereits in die Idee, in das Wesen der Dinge selbst verlegt, als das Element der Unruhe, als Drohung, als Widerspruch zum Statischen. In der Dresdener Dogmatik ist hingegen in diesem Zusammenhang lediglich von einer „Spannung“245 die Rede, die erst zur Zweideutigkeit führt. Die Zweideutigkeit wird hier also nicht im Inneren der Idee
239 A.a.O., 196: „Dieses, die innerliche Unerschöpflichkeit des Selbst, seine Individualität, könnte nun doch nie zur Existenz kommen, wenn sie nicht vom Wesen getragen wäre, wenn nicht das Allgemeine […] in ihm wäre. Dadurch aber ist das Individuelle ständig in der Bedrängnis, dem Allgemeinen zu verfallen, also seine existenzielle Tiefe zu verlieren. An dieser Stelle setzt die Versuchung ein. Man kann sie beschreiben als die Angst des Individuellen, seine Individualität zu verlieren, oder als den Willen der individuellen Unerschöpflichkeit, sich der Form zu bemächtigen. Man kann die Versuchung in gleicher Weise herleiten von der Angst der Schwermut, sein Selbst zu verlieren, oder von der Ekstase des Mutes die Unerschöpflichkeit zu verwirklichen, man kann sie Angst um die Individualität und Machtwillen der Individualität nennen.“ 240 Vgl. ebd. 241 Bei Schelling kommt dies als das dunkle Prinzip vor: „Das Prinzip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel ist, ist der Eigenwille der Kreatur, der aber, sofern er noch nicht zur vollkommnen Einheit mit dem Licht (als Prinzip des Verstandes) erhoben ist (es nicht faßt), bloße Sucht oder Begierde, d.h. blinder Wille ist.“ SCHELLING, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 76. 242 TILLICH, Kairos und Logos, 67. 243 Ebd. 244 Ebd. 245 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 195.
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
lokalisiert, sondern entsteht erst dadurch, dass die Kreatur sich vom Allgemeinen absondert und in der Bejahung ihres Selbstseins das Unbedingte verneint. Dieses ‚Nein‘ kann jedoch nicht als absolutes Nein stehen bleiben, da die Unbedingtheit Gottes wesensmäßig ist und nicht aufgelöst werden kann.246 Das ‚Nein‘ ist also eine unmögliche Reaktion, die sich selbst in Widerspruch verstrickt: sie ist selbst immer schon mit einem ‚Nein‘ versehen, kann also als solche nicht existieren.247 Damit drückt die Zweideutigkeit die grundsätzliche Lage des Seienden gegenüber dem Unbedingten aus, die Tillich andernorts auch als die „Ursprungssünde“ 248 bezeichnet: Das Seiende verneint das Unbedingte und muss es doch wider Willen bejahen.249 Es will nicht Hinweis sein, sondern nur Selbst, und wird doch wider Willen zum Hinweis. Das ‚Nein‘ der Kreatur wird also zu einem ‚Nein‘ und ‚Ja‘, es ist ‚zweideutig‘, ein „Schweben zwischen Ja und Nein“250, wie Tillich in Kairos und Logos pointiert formuliert. Dabei betrifft die hier angesprochene Allgegenwärtigkeit des Zweideutigen auch die Erkenntnis der Sünde: Als „Stand der Zweideutigkeit“ bezieht sich Sünde gleichermaßen auf das menschliche Erkenntnisvermögen und kann damit selbst immer nur „zweideutig“ 251 erkannt werden. Erst in der Offenbarungserschütterung, in der Erschütterung der Erkenntnis, ist es dem Menschen möglich, die Sünde zu durchschauen und als Wesenswidrigkeit zu entlarven.252 Es kann an dieser Stelle also festgehalten werden, dass Zweideutigkeit im Gegenüber zur Eindeutigkeit des Schöpfungszustands als Explikation für die
246 Auch hier klingt die Nähe zu Schelling an: „Der Urgrund zur Existenz wirkt auch im Bösen fort, wie in der Krankheit die Gesundheit noch fortwirkt, und auch das zerrüttetste, verfälschteste Leben bleibt und bewegt sich noch in Gott, sofern er Grund von Existenz ist. Aber es empfindet ihn als verzehrenden Grimm, und wird durch das Anziehen des Grundes selbst in immer höhere Spannung gegen die Einheit, bis zur Selbstvernichtung und endlichen Krisis, gesetzt.“ SCHELLING, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, 123f. 247 Vgl. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 184. 248 „Der Ausdruck Ursprungssünde bezeichnet also die zweideutige Lage des Seienden vor dem unbedingt Seienden überhaupt. Die einzelne Sünde ist Ausdruck dieser Lage. Von hier aus wird vor allem dieses klar: Wir dürfen unsere Existenz nicht so ansehen, als ob wir lebten und dabei auch sündigten, als ob es eine Reihe bestimmter sündiger Akte gäbe neben nichtsündigen. Vielmehr ist unser Sein sündig, unsere gesamte Wirklichkeit in der Zweideutigkeit und darum jede unserer Handlungen zweideutig.“ A.a.O., 192. 249 Vgl. a.a.O., 205. 250 TILLICH, Kairos und Logos, 51: „[…] [I]st nicht das Stehen im Zweideutigen schon eine Entscheidung gegen das Unbedingte. Ist nicht, religiös gesprochen, das Schweben zwischen Ja und Nein Gott gegenüber ein Nein?“ 251 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 201: „Von der Sünde kann man aber immer nur als Zeugnis reden. Sie ist nie ein Gegenstand, sondern immer nur ein Stand, nämlich der Stand der Zweideutigkeit. Dieser Stand bezieht sich auch auf das Erkennen. Wir können im Stande der Zweideutigkeit auch die Sünde nur zweideutig erkennen.“ 252 Vgl. hierzu II.3.3.5.
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
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Sünde fungiert. Als eine grundsätzliche Lage bringt sie die schwebende Haltung alles Seienden gegenüber dem Unbedingten zum Ausdruck: Zwischen Selbstbehauptung und Scheitern ebendieser Selbstbehauptung schwankt die Kreatur zwischen dem Willen zum ‚Nein‘ und dem Zwang zum ‚Ja‘ gegenüber dem Unbedingten. Oder anders gesagt: Jeder Widerspruch gegen das Unbedingte bleibt zugleich immer auf dieses bezogen. Damit aber reicht die Zweideutigkeit „bis an die metaphysische Wurzel unserer Existenz.“253 Zugleich, und das betont Tillich immer wieder, ist „diese Wurzel nicht getragen von einem metaphysisch negativen Prinzip.“254 Es gibt kein zweites, negatives Prinzip neben dem Göttlichen, die Zweideutigkeit wurzelt nicht im Gottesgedanken selbst – sonst, so Tillichs Konsequenz, wäre das Göttliche ja selbst dämonisch.255 Der Übergang von der Eindeutigkeit zur Zweideutigkeit kann also für Tillich nicht anders verstanden werden als mithilfe der Kategorie des ‚Sprungs‘. Auch hier bedient sich Tillich hier Schelling’scher Kategorien, um zu verdeutlichen, dass der Übergang von Schöpfung zu Fall, von Eindeutigkeit zu Zweideutigkeit eben nicht den Charakter von Notwendigkeit, sondern den Charakter des Sprungs hat. Tillich versucht an dieser Stelle also einen Balanceakt: Auf der einen Seite will er die Allgegenwärtigkeit und Notwendigkeit der Sünde etablieren, ohne jedoch ein negatives Prinzip, und damit die Zweideutigkeit selbst im Gottesgedanken zu verankern. Zwar gibt es dort durchaus zwei Prinzipien – etwa die von ‚Klarheit‘ und ‚Tiefe‘ –, aber eben vereint in einer spannungsvollen Einheit. Erst in der Zweideutigkeit fallen diese Prinzipien auseinander. Das Auseinanderfallen der Prinzipien äußert sich für das Seiende in einer Isolation und einem Zerfall der Einheit von Schwermut und Mut, beziehungsweise Schmerz und Lust;256 sie resultiert in Verzweiflung und Verbitterung. Kurzum: Während Eindeutigkeit sich in der Lebensrealität derart manifestiert, dass die Struktur des Lebens zwischen zwei Polen im Gleichgewicht gehalten wird, bewirkt die Zweideutigkeit ein Auseinanderbrechen der Einheit A.a.O., 193. Ebd. 255 Vgl. a.a.O., 200: „Gibt es aber das Element der Notwendigkeit, so entsteht die Frage nach der Beziehung der Zweideutigkeit zum Unbedingten, nach ihrer letzten metaphysischen Dignität. Wäre sie so in dem Unbedingten verwurzelt, daß sie wesensmäßig zur Kreatur gehörte, daß also der tragende Grund wesensmäßig, nach innerer Notwendigkeit Zweideutiges trüge, so wäre das Göttliche dämonisch, das Unbedingte zerspalten, also bedingt.“ 256 A.a.O., 206f.: „Wir kennen alle Zustände, in denen unser Selbst gespalten ist, […] solche, in denen gleichsam zwei Zentren da sind, die sich in der Herrschaft abwechseln und eine einheitliche Formung nicht aufkommen lassen: Das Selbst will mit der Kraft des Abgrundes die ihm gesetzte Form durchbrechen. Damit aber zerspaltet es sich selbst und kommt überhaupt nicht zur Form. Es gibt nichts, was wir schmerzlicher empfinden als die Zerrissenheit, Verworrenheit unseres Seins. Und wir unterscheiden dieses Bewußtsein gänzlich von der Schwermut unserer Begrenztheit, die gerade dann am deutlichsten ist, wenn wir eine gewisse Form gefunden haben.“ 253 254
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
von Gegensätzen und eine Isolation der einzelnen Pole. Lust tritt ohne Schmerz auf; Schmerz ohne Lust; die Schwermut wird nicht vom Mut getragen, sondern wandelt sich in Verzweiflung, während der Mut sich zur Hybris steigert. Gegenüber der reinen Affirmation des Unbedingten durch das Seiende bezeichnet die ‚Zweideutigkeit‘ im Kontext der Sündenlehre also ein widersprüchliches Verhältnis. In seinem Anderssein gegenüber dem Unbedingten liegt für das Seiende die Versuchung, sich selbst unbedingt zu bejahen und damit das Unbedingte zu verneinen. Durch die wesensmäßige Bindung an das Unbedingte, die ein absolutes ‚Nein‘ des Seienden verunmöglicht, verstrickt sich das Seiende damit in einen radikalen Widerspruch: Es will das Unbedingte verneinen und bleibt in seinem Seinscharakter doch stets Hinweis auf das Unbedingte. ‚Zweideutigkeit‘ bedeutet damit also eine gleichzeitige Haltung des ‚Nein‘ und ‚Ja‘ gegenüber dem Unbedingten, die sich in der Lebensrealität darin artikuliert, dass die Begrenztheit und Fragilität des Seienden sich isolieren und destruktiv äußern. Fragt man nach der theoretischen Funktion von ‚Zweideutigkeit‘ an dieser Stelle, so scheint man an die Ausführungen Tillichs zum ‚positiven Paradox‘ verwiesen (vgl. II.2.4.2). Hier plädiert Tillich in einer Auseinandersetzung mit den Vertretern der Dialektischen Theologie, Karl Barth und Friedrich Gogarten, dafür, die Negation der Welt, die Sünde, nicht absolut zu denken, sondern als durch das vorgängige ‚Ja‘ von Schöpfung und Gnade getragen. Oder anders: ein ‚Nein‘ braucht immer ein ‚Ja‘, gegen das es sich auflehnen kann. Mit anderen Worten: Tillich denkt auch den Zustand der Sünde, das ‚Nein‘, als ein ‚Ja‘ und ‚Nein‘, und etabliert damit eine Sündenlehre, die die Verbundenheit von Gott und Welt auch in ihrer Getrenntheit postuliert. Damit eignet dem Zweideutigkeitsbegriff trotz seiner Verbindung zum Sündenbegriff und der damit einhergehenden negativen Bewertung257 schlussendlich eine positive Funktion. 3.3.4 Wirklichkeit als Synthese. Zweideutigkeit als Konstruktionsprinzip der Materialdogmatik Die Bilanz seiner Sündenlehre fängt Tillich im dritten Teil258 über das Seiende als Unmittelbares mittels einer Relativierung ein: Die ersten beiden Teile sind abstrakt. Der Stand der reinen Kreatürlichkeit hat nicht existiert und der Stand der Wesenswidrigkeit kann nicht existieren. Sie sind nur im Ineinander existent. Dort mußte so vorgegangen werden, daß Elemente herausgegriffen wurden, die so nie rein vorkommen, weder positiv noch negativ. Die Wirklichkeit aber entspricht diesem Teil. Er ist konkret.259
Vgl. etwa a.a.O., 129.132f.137.231. „Es ist drittens [nach A und B] damit abgegrenzt eine Aussage über die Symbolkraft des Seienden im Zusammen der Eindeutigkeit und Zweideutigkeit.“ A.a.O., 125. 259 A.a.O., 223. 257 258
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
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Gegenüber dem eindeutigen ‚Ja‘ als Paradieszustand, der niemals existierte, und dem in sich zerbrechenden Widerspruch der Wesenswidrigkeit als nicht möglichem Zustand führt Tillich nun die Wirklichkeit als Mischform beider Stände an. Der Wirklichkeit eignen also stets beide Qualitäten; sie ist ein Ineinander von positiv und negativ, und damit – die Ausführungen des letzten Abschnitts aufnehmend – ein Ineinander von ‚Ja‘ und dem Schweben zwischen ‚Ja‘ und ‚Nein‘. Damit ist die Wirklichkeit ein Zusammen der Verbundenheit und Getrenntheit von Gott und Welt, wie es die Kapitelüberschrift nahelegt.260 Während dieser Fortgang der Argumentation nicht weiter überraschend scheint, ist umso bemerkenswerter, dass der Begriff der Zweideutigkeit, der im vorangegangenen Abschnitt synonym mit dem Ausdruck der Wesenswidrigkeit oder der Getrenntheit verwendet wurde, nun für genau dieses Ineinander von Wesensgemäßheit und Wesenswidrigkeit verwendet wird. So heißt es etwa direkt im ersten Unterabschnitt: Die Lehre vom Wesenswidrigen ist ja wie die vom Wesensgemäßen abstrakt. Erst die Lehre vom Zweideutigen ist konkret.261
Hier wird „das Zweideutige“ ganz klar als Synonym für das Ineinander von Wesenswidrigkeit und Wesensgemäßheit, das im dritten Teil der Schöpfungslehre behandelt wird, verwendet. Auch die Abschnittsüberschriften, etwa Das Seiende in der Zweideutigkeit seiner Geschöpflichkeit262, legen nahe, dass hier die konkrete Wirklichkeit mit dem Begriff der Zweideutigkeit gefasst wird; ‚Zweideutigkeit‘ also nun für das Ineinander von ‚Ja‘ und ‚Ja und Nein‘ steht.263 Diese Beobachtung bedeutet jedoch, dass Tillich mit dem Begriff ‚Zweideutigkeit‘ im ersten Teil seiner Materialdogmatik zwei unterschiedliche Dinge bezeichnet: zunächst die Wesenswidrigkeit alles Seienden, das ‚Ja‘ und ‚Nein‘ gegenüber dem Unbedingten; dann das Ineinander von Wesensgemäßheit und Wesenswidrigkeit, also das ‚Ja‘ und das ‚Ja und Nein‘. Verfolgt man die verschiedenen, in der kritischen Edition angegebenen Versionen des Textes, so wird deutlich, dass Tillich die Vorlesung in diesem Punkt mehrfach überarbeitet hat: Oftmals gibt es eine erste Fassung, in der der Begriff ‚Zweideutigkeit‘ steht, der dann in einer späteren Version durch den Begriff der Wesenswidrigkeit ersetzt wird. Analog dazu wird der Begriff der Eindeutigkeit in der späteren Fassung durch ‚Wesensgemäßheit‘ substituiert. Dafür erscheint ‚Zweideutigkeit‘ erst in der späteren Fassung als Bezeichnung für das Ineinander von
260 Vgl. „C. Das Seiende im Zusammenhang von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der vollkommenen Offenbarung (Von Gott und Welt in dem Zusammensein von Getrenntheit und Verbundenheit)“, ebd. 261 A.a.O., 225. 262 A.a.O., 223. 263 Vgl. die entsprechenden Belege a.a.O., 174.223.225.252.255.305.355.382.
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
Wesensgemäßheit und Wesenswidrigkeit.264 Die ‚Zweideutigkeit‘ wird also von einer Bezeichnung für den Widerspruch des Seienden gegenüber dem Göttlichen zu einem Ausdruck für das Ineinander von Bejahung und Widerspruch, in dem alles Seiende gegenüber dem Unbedingten steht. Allerdings hat Tillich die Überarbeitung vor allem bei den Überschriften vorgenommen, also bei der – nachträglich! – erstellten Gliederung, während sich im Fließtext selbst die ältere Fassung weiterhin findet. Gründe für diese Überarbeitung hat Tillich selbst nicht angegeben. Eine mögliche Erklärung wäre, dass in den Begriffsverschiebungen letztlich eine philosophisch-theologische Grundfrage aufscheint, nämlich die, wie das Negative oder das Böse überhaupt konsistent gedacht werden kann. Tillich für seinen Teil hat zunächst versucht, die Unmöglichkeit des Widerspruchs mit dem Begriff der Zweideutigkeit zu bezeichnen, ist aber vermutlich beim Fortgang der Vorlesung dazu übergegangen, die Zweideutigkeit als Konstruktionsprinzip für das Ineinander von Schöpfungs- und Sündenlehre zu verwenden. Gleichzeitig wurden im Zuge dieses Abstraktionsvorgangs die Begriffe der Wesensgemäßheit und der Wesenswidrigkeit eingeführt, deren Position später, etwa in der Systematischen Theologie, die Begrifflichkeiten von ‚Essenz‘ bzw. ‚Existenz‘ übernehmen. Mit dieser Beobachtung einher geht selbstverständlich auch eine veränderte Bewertung der Zweideutigkeit, die im Zusammenhang mit der Thematik der Sünde eindeutig negativ ausfällt,265 während im zweiten Fall eine wertneutralere Beurteilung vorliegt.266 Interessanterweise bringt Tillich diese Zweideutigkeit des Ineinanders im Folgenden insbesondere mit der Kategorie des Dämonischen in Verbindung,267 und zwar dahingehend, dass das Dämonische in seiner Verbindung von „zugleich tragende[m] und auflösende[m], formende[m] und formzerstörende[m], göttliche[m] und widergöttliche[m] Charakter“ als Ursache für die „Zweideutigkeit alles Seienden“268 bestimmt wird. Das Dämonische scheint jedoch durch die Aufzählung der Gegensatzpaare selbst zweideutig zu sein, und so überrascht es kaum, dass Tillich wenige Zeilen später auch von der „Doppelseitigkeit, Zweideutigkeit“ spricht, die „in Bezug auf das Unbedingt-Tragende gesehen, […] das Dämonische [ist].“269 Tillich scheint hier also die Zweideutigkeit des Ineinanders und das Dämonische seiner Struktur nach zu parallelisieren270 – und damit dem Dämonischen nun noch einen größeren Stellenwert
Vgl. etwa a.a.O., 125.177.223. Vgl. etwa a.a.O., 129.132f.137.231. 266 Etwa a.a.O., 225.227. 267 Vgl. a.a.O., 224–228. 268 A.a.O., 224. 269 Ebd. 270 Wittekind spricht hier von dem Dämonischen als einem „Oberbegriff für die Verbindung von Schöpfungslehre und Sündenlehre zugunsten einer auf die reale geschichtliche 264 265
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
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zuzusprechen als noch zu Beginn der Vorlesung, als die Frontstellung gegenüber der profanen Wirklichkeit dominierte.271 Allerdings scheinen auch hier die Verhältnisse, zumindest was die Zweideutigkeit angeht, sehr im Fluss zu sein, titelt doch die Überschrift von der Erhaltung des Seins in der Zweideutigkeit des Kreatürlichen und legt mit dem Untertitel Das Dämonische und das Schöpferische nahe, die Zweideutigkeit des Kreatürlichen konkretisiere sich als Zweideutigkeit zwischen dämonisch und schöpferisch. Im einführenden Paragraphen wird dann jedoch das Dämonische als „Verbindung des Schöpferischen mit dem Wesenswidrigen“272 beschrieben, so dass die Kategorie des Dämonischen selbst als in sich zweideutig in den Blick kommt, was im Fortlauf der Argumentation durch die Reihung der Gegensatzpaare bestätigt wird.273 Diese Konkretisierung von Zweideutigkeit als Ineinander in Verbindung mit dem Dämonischen wird im nächsten Kapitel noch genauer betrachtet werden, sowohl in Zusammenhang mit den Technikdeutungen Paul Tillichs, wie auch in den dogmatischen Schriften, die sich an die Dresdener Dogmatik anschließen (vgl. II.4.1 und 4.3). Was aber bedeutet nun zunächst die Verschiebung des Zweideutigkeitsbegriffs auf der allgemeineren Ebene der Beschreibung der menschlichen Lebensrealität? Stand die Eindeutigkeit der Schöpfungslehre für ein Leben mit Polaritäten, die in einer spannungsvollen Einheit integriert sind, manifestierte sich die Zweideutigkeit – mit Rückgriff auf Schellings Zweideutigkeitsbegriff – als ein Auseinanderfallen dieser Einheit und eine destruktive Isolation der einzelnen Pole. Die Quintessenz der Zusammenführung von Schöpfungs- und Sündenlehre in der Wirklichkeit selbst liegt also darin, dass Erfahrungen der gelungenen Einheit der Pole, wie auch ihrer Zerrissenheit im Leben selbst ineinander verwoben sind. Das Ineinander von Affirmation und Widerspruch gegenüber dem Unbedingten artikuliert sich also in einem Ineinander von gelingenden und misslingenden Lebensvollzügen. Die Positionierung von ‚Zweideutigkeit‘ in der Dresdener Dogmatik mündet also in einer Bestimmung als Ineinander von Affirmation und Widerspruch Welt zielenden Theorie des geschichtlichen Handelns des Menschen“, vgl. WITTEKIND, Das Dämonische in Tillichs Dresdener Dogmatik, 121. 271 Die zeitliche Nähe zur Abfassung des Aufsatzes TILLICH, Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte (1926), in: MW V, 99–123, ist förmlich greifbar. Zur Ambiguität des Dämonischen vgl. auch ASMAR, L’ambiguïté du démonique chez Paul Tillich, 319–334. 272 Ebd. 273 Wittekind spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „Tillichs Auskünfte über das Dämonische […] immer von dieser Doppelstruktur, dem Zusammensein von Ein- und Zweideutigkeit, aus[gehen]. Das Zusammensein ergibt dabei eine neue Qualität des Seins – es ist nicht nur eine weitere Ausführung des Zweideutigkeitscharakters.” Und spricht davon, dass eine umgekehrte Benennung wohl günstiger gewesen wäre. WITTEKIND, Das Dämonische in Tillichs Dresdener Dogmatik, 113.
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
des Seienden gegenüber dem Unbedingten. Die Realität religiöser Erfahrung in der Welt wird damit als unauflösliche Verflochtenheit von Erfahrungen der Einheit und Geborgenheit im Unbedingten und Erfahrungen der Getrenntheit und Verworfenheit gegenüber dem Unbedingten verstanden, die sich in den ‚Gestimmtheiten‘ und Lebensvollzügen artikulieren. Die Zweideutigkeit avanciert damit nicht nur zum Kontruktionsprinzip von Schöpfungs- und Sündenlehre in theoretischer Absicht, sondern kann als Versuch gedeutet werden, den changierenden Charakter religiöser Erfahrung zwischen Affirmation und Aufgehobenheit einerseits und Widerspruch und Getrenntheit andererseits begrifflich einzufangen. Darin ließe sich durchaus die Haltung eines ‚Gläubigen Realismus‘ erkennen – ‚gläubig‘ im Festhalten an und Vertrauen auf die Momente der Affirmation und Aufgehobenheit; ‚Realismus‘ in der Anerkennung dessen, dass diese Momente nicht absolut und durchgängig sind, sondern von Widersprüchlichkeiten und Eindrücken der Getrenntheit durchzogen und abgewechselt. 3.3.5 Eindeutigkeit als Erlösung. Zweideutigkeit in der Erlösungslehre Mit der Soteriologie liegt der letzte zu thematisierende Kontext von ‚Zweideutigkeit‘ in der Dresdener Dogmatik vor.274 Nach der Schöpfungslehre, die das Sein in seiner Unmittelbarkeit behandelte, wendet sich Tillich im zweiten Hauptteil der Dogmatik dem Sein als Geschichtlichem zu. Zentrales Thema dieses Teils ist die Erlösung. Die Behandlung des Seins als Geschichtlichem findet sich eingeteilt in die Sektionen Vorbereitung, Durchbruch und Aufnahme der vollkommenen Offenbarung, von denen lediglich die ersten beiden ausformuliert vorliegen.275 Wichtig für die Betrachtung der Zweideutigkeit ist nun vor allem, dass bereits zu Ende der Schöpfungslehre die „Überwindung der in der Zweideutigkeit stehenden Existenz“276 als der zentrale Fluchtpunkt der Heilsvorstellung angesprochen wurde. Auch in den weiteren Ausführungen finden sich mehrere Stellen, die verdeutlichen, dass die soteriologischen Ausführungen in erster Linie den Umgang mit der Zweideutigkeit betreffen: So findet sich etwa die Rede von Christus als dem „konkrete[n] Bild des in der Geschichte stehenden und doch nicht der Zweideutigkeit verfallene[n] Menschen“277 und von seinem Tod am Kreuz als „Anschauung des Nein über die in der Zweideutigkeit stehende Wirklichkeit mit unbedingter Eindeutigkeit“278. Die religiöse Wiedergeburt eines Glaubenden wiederum wird beschrieben als
Vgl. a.a.O., 271–388. Teil C als „Die Geschichte als Aufnahme der vollkommenen Offenbarung (Die Kirche)“ liegt nur noch als Gliederung vor, vgl. a.a.O., 388. 276 A.a.O., 263. 277 A.a.O., 370. 278 A.a.O., 361. 274 275
3.3 Kontexte der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik
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ein Zustand, welcher „der Zweideutigkeit nicht unterworfen ist“279, wenngleich er ihr nicht enthoben ist. Mit anderen Worten: Heil und Erlösung werden als grundlegende Veränderungen gegenüber der Wirksamkeit der Zweideutigkeit bestimmt. Gleichwohl betont Tillich an ebenso vielen Stellen die bleibende Macht der Zweideutigkeit, die eben als solche nicht verschwindet. Als grundsätzliche Lage des Seienden gegenüber dem Unbedingten prägt und durchformt sie auch weiterhin alles, was ist.280 Dementsprechend kann die Erlösung auch nur in paradoxen Formulierungen ausgedrückt werden: „eindeutig und doch im Zweideutigen, dem Unbedingten [gegenüber] gebunden und doch sich selbst bestimmend“281. Als paradoxes Geschehen findet Erlösung vom Geschichtlichen also im Geschichtlichen statt und kann nur verstanden werden als „Zusammentreffen beider Qualitäten [der vollkommenen Form des Geschichtlichen und dessen, was die Geschichte aufhebt, Anm. Vfin.] in einer Wirklichkeit“, nämlich dem transzendenten Sein in Jesus Christus. Tillichs Reformulierung der Zwei-Naturen-Lehre findet hier also mit Hilfe der Begrifflichkeiten von ‚eindeutig‘ und ‚zweideutig‘ statt. Wie genau dieses Miteinander – gerade gegenüber den Bestimmungen der Prolegomena und der Schöpfungslehre – zu denken ist, gilt es nun zum Abschluss genauer zu analysieren. Grundlage für die Reformulierung der Zwei-Naturen-Lehre stellt die Sphäre des Geschichtlichen als „Ort der Schuld“282 und „Sphäre der konkreten Entscheidungen“283 des Seienden gegenüber dem Unbedingten dar. Eine solche Entscheidung des Seienden gegenüber dem Unbedingten, schreibt Tillich, […] ist aber nie ein einfaches Für und Wider, sondern ist ein Konkretes zwischen Für und Wider, ist Zweideutigkeit. Und an dieser Zweideutigkeit, die sich darstellt im individuellen Schicksal, nimmt teil alle Schöpfung, die auf individuellem Boden entsprungen ist. Auch sie hat ihre letzte Tiefe in dem konkreten Hinweis-Charakter auf das Göttliche oder Dämonische. Das Individuelle in der letzten Tiefe gehört also in die Sphäre der Zweideutigkeit. In der Wesenswelt ist das Individuelle nur eine Möglichkeit, sofern es in der Wesenswelt nicht zur Geschichte kommt.284
Analog zu seiner letzten Bestimmung der Schöpfungslehre, die ‚Zweideutigkeit‘ als konkretes Ineinander von Affirmation und Widerspruch fasste,285 bestimmt Tillich ‚Zweideutigkeit‘ hier als „Konkretes zwischen Für und Wider“, Ebd. So etwa: „Denn da die Sünde, d.h. der zweideutige Zusammenhang der Welt, ja nicht verschwindet und die Sünde sich selbst Gericht ist, so ist auch das Gericht nicht aufgehoben oder eben nur so weit wie die Sünde.“ A.a.O., 357. 281 A.a.O., 383. 282 Ebd. 283 Ebd. 284 A.a.O., 383. 285 Vgl. a.a.O., 225: „Die Lehre vom Wesenswidrigen ist ja wie die vom Wesensgemäßen abstrakt. Erst die Lehre vom Zweideutigen ist konkret.“ 279 280
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
als eine Qualität, in der ‚Ja‘ und ‚Nein‘ als unauflösliches Gemisch auftreten. Statt schwarz oder weiß ist das Konkrete grau, es ist ein Schwanken zwischen Offenbarung und Dämonisierung (= Absolutsetzung der Wirklichkeit). Wie schon in der Schöpfungs- respektive Sündenlehre bestimmt Tillich auch hier das Anderssein der Kreatur, seine Vereinzelung, als Voraussetzung für die Zweideutigkeit – ja, das Individuelle konstituiert sich überhaupt erst in der Zweideutigkeit. In der Sphäre der Wesensgemäßheit (vormals dem ‚Stand der Eindeutigkeit‘) existiert das Individuelle und damit das Zweideutige noch nicht; erst mit der Geschichte wird es verwirklicht. Die Erlösung alles Zweideutigen findet nach Tillich nun dort statt, wo in der Sphäre der konkreten Entscheidungen eine Entscheidung sich durchsetzte, die eindeutig wäre, eine Individualität, die hingegeben wäre an das Unbedingte […].286
Es erstaunt, dass Tillich Erlösung an dieser Stelle mit Eindeutigkeit identifiziert – war doch mit dem Begriff der ‚Eindeutigkeit‘ in der Schöpfungslehre das ‚Ja‘ der Schöpfung, die reine Affirmation des Daseienden im Stand der Unschuld, bezeichnet. Diese Feststellung legt die Frage nahe, ob die Erlösung also im Sinne einer Wiederherstellung des Schöpfungszustands gedacht werden muss, oder ob hier eine neue, andere Eindeutigkeit vorliegt. Tillich beantwortet diese Frage deutlich zugunsten der zweiten Option. Er betont, dass der Stand der Unschuld gerade nicht wiederhergestellt wird, sondern es in der Erlösung darum geht, Selbstbestimmung als „Bestimmung zum Unbedingten hin, im konkreten, zweideutigen Material“287 zu verwirklichen. Das bedeutet also: Die Zweideutigkeit als Grundstruktur des (religiösen) Erlebens bleibt erhalten. Gleichwohl ereignen sich Momente, in denen es möglich ist, „ohne Rücksicht auf die vergangene und zukünftige Zweideutigkeit sich dem Unbedingten zuzuwenden.“288 Damit aber schließt sich der Kreis zurück zu der Bestimmung von ‚Zweideutigkeit‘ als Beschreibung der Wirklichkeit, mit der Tillich die Offenbarungslehre eröffnet hatte (vgl. II.3.3.1): Wenn sich Offenbarung ereignet, wenn das Unbedingte auf uns zukommt, ereignen sich innerhalb der Zweideutigkeit Momente der Eindeutigkeit, in denen das Unbedingte eindeutig erfahrbar wird. Erlösung kann in diesem Sinne also verstanden werden als die Erfahrung neuer, reiner Eindeutigkeit, unvermischter Gewissheit inmitten der Grautöne der Zweideutigkeit. Bezüglich der Begriffsbestimmung von ‚Eindeutigkeit‘ bedeutet dies, dass auch hier innerhalb der Vorlesung eine Verschiebung stattfindet. Während in den Prolegomena ‚Eindeutigkeit‘ im Zusammenhang mit Momenten der Offenbarung als unverfügbare Erfahrung der Gnade gedacht wird, dominiert in der Schöpfungslehre das Verständnis von ‚Eindeutigkeit‘ als vollkommener A.a.O., 383. Ebd. 288 A.a.O., 359. 286 287
3.4 Zwischenfazit: Zweideutigkeit(en). Eine Typologie
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Schöpfungszustand oder Wesensbegriff. Analog zu der Verschiebung der ‚Zweideutigkeit‘ von der Sünde hin zu einem Metabegriff, kristallisiert sich für den Begriff der Eindeutigkeit im Verlauf der Vorlesung eine Positionierung in der Erlösungslehre heraus: Mit ‚Eindeutigkeit‘ ist dann gerade nicht – wie noch in der Schöpfungslehre – das unschuldige ‚Ja‘ des Schöpfungsstands auf den Begriff gebracht, sondern ein bewusst entschiedenes ‚Ja‘ in der konkreten, schwebenden Realität der Grautöne. Die ‚Eindeutigkeit‘ des Schöpfungsstandes wird hingegen – auch hier analog zur ‚Wesenswidrigkeit‘ als Ersatz für die ‚Zweideutigkeit‘ – als ‚Wesensgemäßheit‘ begrifflich eingefangen. Damit lässt sich die Verhältnisbestimmung von ‚Zweideutigkeit‘ und Erlösung folgendermaßen zusammenfassen: Erlösung bedeutet Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit ohne die Zweideutigkeit aufzuheben. ‚Erlösung‘ wird dabei definiert als eine positiv verstandene Überwindung der Zweideutigkeit, wenn auch nur momenthaft, bei gleichzeitigem Bestehenbleiben der Zweideutigkeit als ontologischer Struktur. Inmitten der zweideutigen konkreten Wirklichkeit entwirft Tillich Erlösung als die Möglichkeit der reinen Ausrichtung auf das Unbedingte im religiösen Erleben. Eine solche Ausrichtung findet trotz und entgegen der vorausgehenden und weiterbestehenden zweideutigen Lebenslage statt und wird als bewusstes ‚Ja‘, als Entscheidung, konzipiert. Die kairologische Rede von der Entscheidung bildet sich hier also fort – mit der Einschränkung, dass eine solche Entscheidung dennoch nicht von der bleibenden Zweideutigkeit entbindet. Analog zur Verschiebung von ‚Zweideutigkeit‘ nimmt auch der Begriff der Eindeutigkeit im Verlauf der Vorlesung verschiedene Funktionen ein. Mit der soteriologischen Verwendung von ‚Eindeutigkeit‘ wird an die Bestimmung des Begriffs aus den Prolegomena angeknüpft. Entgegen der Bezeichnung des ‚Stands der Unschuld‘ in der Schöpfungslehre bezeichnet ‚Eindeutigkeit‘ nun die gnadenhaft ermöglichte Hinwendung des Seienden zum Unbedingten, die dem ‚Ja‘ der Schöpfung nachgeordnet ist. Gegenüber den künstlichen, negativ konnotierten Vereindeutigungen von Profanisierung und Dämonisierung, die in den Prolegomena der Vorlesung dominierten, stellt Tillich hier also einen positiven Begriff von Eindeutigkeit vor, der die gefährlichen Formen der Vereindeutigung um eine ungefährliche Form der Eindeutigkeit ergänzt.
3.4 Zwischenfazit: Zweideutigkeit(en). Eine Typologie 3.4 Zwischenfazit: Zweideutigkeit(en). Eine Typologie
In Tillichs Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925–1927), deren ausführliche Analyse Gegenstand dieses zweiten werkgeschichtlichen Kapitels war, begegnet ein ganz erstaunlicher Befund: In geradezu inflationärer Verwendung findet sich hier mit einem Male ein Begriff, der zwar den Geist der Zeit atmet und von Tillichs Zeitgenossinnen wie Ideengebern gleichermaßen verwendet wird,
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
jedoch in Tillichs Werk bis zu diesem Zeitpunkt nur vereinzelt fiel – der Begriff der Zweideutigkeit. Neben der plötzlichen Häufung des Begriffs erstaunt seine Verwendung in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen und mit verschiedenen Implikationen: So finden sich Belege in der Offenbarungslehre ebenso wie in der Erkenntnistheorie, in der Schöpfungs- bzw. Sündenlehre sowie schließlich in der Soteriologie. ‚Zweideutigkeit‘ taucht hier in gänzlich verschiedenen begrifflichen Konstellationen, sowohl in adjektivischer wie substantivischer Verwendung, mal beiläufig im alltäglichen Sinne, mal innerhalb einer philosophisch dichten Argumentation, bisweilen mit negativer Konnotation, dann wieder mit einer neutralen Bewertung auf. Das vorliegende Kapitel ging diesen verschiedenen Konstellationen und Verwendungsweisen nach und beleuchtete mit Hilfe des im ersten Teil der Arbeit erstellten Koordinatenrasters (vgl. I.1.6) die Frage, auf welche Weise, in welcher Position und mit welcher Funktion ‚Zweideutigkeit‘ innerhalb der Dogmatik-Vorlesung als ein Zentralbegriff der Tillich’schen Theoriebildung etabliert wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit der Dresdener Dogmatik ein ‚work-in-progress‘ vorliegt, das die allmähliche Etablierung dieses Begriffs eben gerade anhand verschiedenster Positionierungen, inhaltlicher Aufbaumomente und Funktionszuweisungen nachvollziehen lässt. Auf synchroner Ebene lässt sich also eine große begriffliche Heterogenität feststellen, so dass nach dieser ersten Auslotung mit Blick auf Tillichs Ambiguitätsverständnis von ‚Zweideutigkeiten‘ eher als von ‚Zweideutigkeit‘ gesprochen werden muss. Dabei lassen sich innerhalb der Vorlesung sowohl grundsätzliche Verschiebungen feststellen als auch entlang der fünf gesichteten Kontexte – Offenbarungslehre, Erkennntnistheorie, Sündenlehre, Soteriologie und Materialdogmatik als Ganze – fünf verschiedene Typen von ‚Zweideutigkeit‘ verfolgen, die sich jedoch ungleich auf die fünf Kontexte verteilen. Diese Typen ließen sich entlang der Koordinaten für eine differenzierte Analyse von Ambiguität wie folgt unterscheiden: Typ 1. Zweideutigkeit als Vordergrund-Hintergrund-Struktur (‚Sowohl-alsAuch‘). In der Offenbarungslehre wird ‚Zweideutigkeit‘ zunächst als Scharnierbegriff für verschiedene religiöse wie nicht-religiöse Wirklichkeitsdeutungen verwendet. Dabei etabliert Tillich die areligiöse Weltansicht der Moderne als den ‚Normalfall‘, als die vordergründige Oberfläche der Wirklichkeit, die sich allerdings als durchlässig für Momente der Klarheit in Form von religiösen Erfahrungen erweist. Die Möglichkeit oder das Potenzial für solche Durchbruchsmomente schimmert ständig im Hintergrund der profanen Wirklichkeit, so dass hier dem Aufbau nach von einer ‚Sowohl-als-Auch‘-Struktur der Zweideutigkeit gesprochen werden kann. Der Wechsel zwischen Zweideutigkeit und Eindeutigkeit wird hier als ein dynamisches und reziprokes Verhältnis konzeptualisiert. Im Fortlauf der Werkgeschichte findet sich dieser Typus (in
3.4 Zwischenfazit: Zweideutigkeit(en). Eine Typologie
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Kombination) auch weiterhin, etwa in Zusammenhang mit der Zweideutigkeit der Technik (vgl. II.4.1). Typ 2. Zweideutigkeit als monodirektionale Kippfigur (‚Entweder-Oder‘). Auch Abwege des religiösen Erlebens, sogenannte Dämonien, werden in das dynamisch konstruierte, vielschichtige Verständnis der Wirklichkeit integriert und mit dem Begriff ‚Zweideutigkeit‘ umschrieben. Diese ebenfalls im Kontext der Offenbarungslehre thematisierte Zweideutigkeit nimmt ihren Ausgangspunkt in der Eindeutigkeit der Offenbarung und bezeichnet das Potential des Symbolgegenstands, sich selbst für unbedingt zu erklären. Zweideutigkeit wird dabei als monodirektionale Kippfigur in der Struktur eines ‚EntwederOder‘ konzeptualisiert: die Offenbarung ist entweder göttlich oder dämonisch. Wenn sie einmal ins Dämonische gekippt, kann sie nicht mehr ins Göttliche zurückversetzt werden. Umgekehrt jedoch scheint das dämonische Potential bei jeder göttlichen Offenbarung als Potentialität mitzulaufen; die Zweideutigkeit ist ihrer Aufbaulogik nach also asymmetrisch konstruiert. Die hier beschriebene Zweideutigkeit wird von Tillich weitaus negativer bewertet als der vorige Typus. Das Dämonische findet sich im Fortlauf immer wieder als ein Element von Zweideutigkeit (vgl. insbesondere II.4.1; II.5.4); jedoch scheint sich die monodirektionale Struktur zugunsten einer flexibleren Struktur zu verschieben. Typ 3. Zweideutigkeit als Waage (‚Je-Desto‘). In den erkenntnistheoretischen Grundlegungen der Prolegomena begegnet ‚Zweideutigkeit‘ als Beschreibung für den Vollzug wissenschaftlicher Wahrheitssuche, der durch zwei gegenläufige Tendenzen gekennzeichnet ist – das Streben nach formalistischer Richtigkeit auf der einen Seite, den Wunsch nach wahrheitsgemäßer Erfassung eines Gegenstands auf der anderen Seite. Der Zweideutigkeit kommt hier die Funktion zu, ein Wissenschaftsverständnis zu legitimieren, das der Theologie beziehungsweise Dogmatik einen Platz jenseits der Alternative von formalistischer Logik und vereinseitigenden Wahrheitsansprüchen zuweist. Vielmehr kann man sich der Wahrheit lediglich multiperspektivisch und unter Einbezug einer gewissen Deutungsunschärfe (Vagheit) nähern, wobei die vollkommene Wahrheitskenntnis sich menschlichem Streben immer wieder entzieht. ‚Zweideutigkeit‘ ist hier dem Aufbau nach als eine Balkenwaage mit asymmetrischer ‚Je-Desto‘-Struktur konzipiert: Je mehr die Erkenntnis nach Richtigkeit strebt, desto weniger trifft sie die Wahrheit (und umgekehrt). Damit liegt ein dritter Typus – der erste ohne eine ausgeprägte Wertdimension – von ‚Zweideutigkeit‘ vor. Dieser allerdings findet im Fortgang kaum weitere Beachtung. Typ 4. Zweideutigkeit als Widerspruch (‚Ja‘ des ‚Nein‘). Die bisherigen Verwendungen von ‚Zweideutigkeit‘ gipfeln mit der Sündenlehre in der ersten und einzigen ausführlichen Definition des Begriffs, der die Zweideutigkeit als Sy-
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
nonym für das widersprüchliche Verhältnis des Seienden gegenüber dem Unbedingten bestimmt. ‚Zweideutigkeit‘ wird dabei zum Ausdruck für das Schweben alles Seienden zwischen der Abwendung vom Unbedingten und der Unmöglichkeit, diese Abwendung absolut zu vollziehen, oder anders gesprochen: der bleibenden Angewiesenheit auf das Unbedingte. Als unmöglicher, zum Scheitern verurteilter Widerspruch fungiert die Zweideutigkeit hier als eine Explikation für die Sünde, konzipiert jedoch diese Sünde in ständiger Verwiesenheit auf das Göttliche. Dies geschieht durch die Annahme, dass jeder Widerspruch immer schon eine Position, ein bestehendes Verhältnis, voraussetzt, zu dem sich in Widerspruch gesetzt wird. ‚Zweideutigkeit‘ findet sich hier als Reartikulation des ‚positiven Paradoxes‘ von 1923 wieder. Die Vorschaltung eines ‚Ja‘ vor das ‚Nein‘ macht eine Verabsolutierung der Sünde genauso unmöglich wie das Herausfallen aus dem ‚Ja‘ des Schöpfungszusammenhangs. Mit anderen Worten: Auch das zweideutigste Verhältnis zum Unbedingten steht unter dem bejahenden ‚Es-ist‘ der Kreatürlichkeit. ‚Zweideutigkeit‘ bezeichnet hier also ein Negativverhältnis, das von einem Positivverhältnis getragen wird. Bei diesem Typ Zweideutigkeit dominiert die starke Bewertung der einzelnen Elemente wie auch ihre asymmetrische Beziehung (das ‚Nein‘ ist abhängig vom ‚Ja‘). Im Fortgang der Vorlesung wird die Struktur dieser Zweideutigkeit in den nächsten Typus als ein Element (das ‚Nein‘) der Zweideutigkeit integriert. Der Sache nach bleibt diese Zweideutigkeit also erhalten, wenngleich die Bezeichnung wechselt (‚Wesenswidrigkeit‘, ‚Existenz‘). Typ 5. Zweideutigkeit als komplementäres Ineinander (‚Ja‘ und ‚Nein‘). Im Fortgang der Vorlesung wird ‚Zweideutigkeit‘ als Ausdruck für den Widerspruch durch den Begriff der Wesenswidrigkeit ersetzt und bezeichnet fortan das Ineinander von Affirmation und Widerspruch gegenüber dem Unbedingten, das die konkrete Wirklichkeit charakterisiert. Damit deutet sich hier schon eine Positionierung des Begriffs an, die sich als Ineinander von Essenz und Existenz in der Systematischen Theologie der 1950er und 1960er Jahre zu einem Grundbegriff des Systems fortbilden wird. Die Besonderheit dieser Konzeption liegt darin, dass die Verwendung der Zweideutigkeit als ein solches (theoretisches) Konstruktionsprinzip von Schöpfungs- und Sündenlehre zugleich als Beschreibung realer religiöser Erlebnisse verstanden werden kann. Dabei liegt die Stoßrichtung des Begriffs darin, das religiöse Erleben als ein dynamisches zu beschreiben, das zwischen Erfahrungen der Aufgehobenheit und Einheit mit dem Unbedingten und Erfahrungen der Verworfenheit und Getrenntheit vom Unbedingten, zwischen Affirmation und Widerspruch, changiert, diese Erfahrungen aber auch nicht eindeutig voneinander trennen kann. Damit bleibt der Oszillierungscharakter, die Diffusität und Unschärfe, die diesem Typ Zweideutigkeit anhaften, trotz der gegensätzlicher Elemente, die sie umfasst, erhalten, oder anders gesprochen: Zwar enthält die Zweideutigkeit mit
3.4 Zwischenfazit: Zweideutigkeit(en). Eine Typologie
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‚Ja‘ und ‚Nein‘ völlig konträre Elemente; als Ineinander generieren diese jedoch ein ‚Dazwischen‘, eine Diffusität, die weder dem ‚Ja‘ noch dem ‚Nein‘ klar zugeordnet werden kann. Neben diesen fünf Typen betreffen die grundsätzlichen Verschiebungen insbesondere den Übergang der Prolegomena hin zur Materialdogmatik: Entgegen der attributiven Verwendung in den Prolegomena wird ‚Zweideutigkeit‘ in der Materialdogmatik als ‚Stand‘ beziehungsweise eine eigene ‚Sphäre‘ vorgestellt; sie wird hypostasiert. Als Qualifizierung alles Seienden wird sie einerseits von der Zuordnung zu bestimmten Gegenstandsbereichen entbunden und in ihrer Anwendung gewissermaßen ausgeweitet. Andererseits verstärkt sich damit ihre ontologische Verankerung als eine Grundstruktur alles Seienden. Damit unterscheidet sich Tillich Begriff der Zweideutigkeit gerade von solchen aktuellen Begriffen von Ambiguität, die vor allem soziale oder diskursive Pluralität zu fassen versuchen (vgl. I.1.5 und I.1.6). In der Soteriologie, dem sechsten Kontext schließlich, findet sich kein eigener Typus, sondern es wird die Frage nach der Überwindung von Zweideutigkeit gestellt (vgl. II.3.3.5) Dabei legt Tillich großen Wert darauf, das innerweltliche Bestehenbleiben der Zweideutigkeit zu betonen – es handelt sich bei der Erlösung also keineswegs um eine Aufhebung der grundsätzlichen Zweideutigkeit. Vielmehr bleibt die Zweideutigkeit als Qualifiziertheit alles Seienden bestehen. Gleichwohl gibt es Momente, in denen eine eindeutige Hinwendung zum Unbedingten dennoch möglich wird. Als ‚Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit‘ lässt sich die Erlösungslehre hier jedoch nicht als Wiederherstellung der unschuldigen, unintendierten Eindeutigkeit, des ‚Ja‘ der Schöpfungslehre, lesen. Vielmehr findet auch hier eine begriffliche Verschiebung statt, die der Eindeutigkeit eine neue Position zuweist, und zwar im Kontext der Soteriologie im Sinne einer eindeutigen Entscheidung gegenüber dem Unbedingten. Neben den verschiedenen Typen von Zweideutigkeit finden sich damit also auch verschiedene Definitionen von Eindeutigkeit in der Dresdener Dogmatik wieder. Neben den hier benannten unausweichlichen und intendierten Formen positiver, ungefährlicher Eindeutigkeit kennt Tillich jedoch auch gefährliche Formen der Vereindeutigung, die insbesondere im Kontext der Offenbarungslehre mit den zwei religiösen Missverhältnissen von Profanisierung einerseits und Dämonisierung andererseits angesprochen waren (vgl. II.3.3.1). Tillich bereichert sein breites Spektrum von ‚Zweideutigkeiten‘ also um negative Formen der Vereindeutigung einerseits und positive Formen von Eindeutigkeit andererseits, welche mit der Zweideutigkeit in einem verschieden gearteten Wechselspiel stehen. Damit steht seine differenzierte Analyse des Verhältnisses von Ambiguität, (künstlichen) Vereindeutigung und (unverfügbarer) Eindeutigkeit in einem Kontrast zu den im ersten Teil der Arbeit analysierten sozial- und kulturwissenschaftlichen Verhältnisbestimmungen, die der Kategorie der Eindeutigkeit
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Teil II – Kap. 3. Die Etablierung der Zweideutigkeit
entweder Desinteresse oder eine stark ablehnende Haltung entgegenbrachten (vgl. insbesondere I.2.2 und I.2.3). Auch wird der im ersten werkgeschichtlichen Kapitel (vgl. II.2.5) Eindruck fortgeführt, Tillich beschreibe die Struktur religiöser Erfahrung eher denn die Charakteristika einer Religion oder Religion als soziologischer Größe. Auch die misslungenen religiösen Verhältnisse der Profanisierung und Dämonisierung, die den Optionen religiöse Indifferenz versus religiöser Fundamentalismus bei Thomas Bauer der Intention nach ähneln (vgl. I.3.2), werden hier als Potential für jede religiöse Erfahrung in Anspruch genommen – wenngleich auch bei Tillich bestimmte Tendenzen, etwa die der Profanisierung, auch epochenspezifisch dominieren. Im Fortlauf der werkgeschichtlichen Analyse wird zu beobachten sein, wie sich diese Parallelen bzw. Eigenheiten zum aktuellen Ambiguitätsdiskurs weiterentwickeln. Mit der ‚Zweideutigkeit‘ in der Dresdener-Dogmatik ist ein Begriff zum Thema gemacht, der sich in kontinuierlicher Entwicklung befindet. Tillich hat in einem eineinhalbjährigen Schreib- und Überarbeitungsprozess der Vorlesung die Position und Funktion des Begriffs suchend, redigierend, überschreibend immer wieder verändert und bisweilen in seinen verschiedenen Verwendungsweisen doch nebeneinander stehengelassen. Gleichwohl versucht er mit der Zweideutigkeit, gerade in ihrer letzten Gestalt als Beschreibung der dynamischen, uneindeutigen Struktur religiösen Erlebens, zwei Aspekten besonders gerecht zu werden, die in der Wendung ‚Gläubiger Realismus‘ zum Ausdruck kommen: Zum einen bemüht sich Tillich sichtlich um die von ihm geforderte ‚Hinwendung zur konkreten Lage‘, zu einer adäquaten Beschreibung der religiösen Lage seiner Zeit. Diese spiegelt sich in der Vorlesung etwa in der asymmetrischen Gewichtung der Profanität oder areligiösen Weltsicht (Vordergrund) wider. Zum anderen bemüht sich Tillich in die Konkretheit, in den Realismus seiner Wirklichkeitsanalyse, dennoch eine Offenheit für das Göttliche einzubauen. Diese Offenheit wird als potenzielle Hintergrundstruktur, als zweite Dimension der Wirklichkeit (Hintergrund), konzipiert, die sich in eindeutigen Durchbruchserfahrungen durch die Oberfläche der Profanität Bahn bricht. Sie kann dann, so die letzte Konzeption von Eindeutigkeit als momenthafte Überwindung der widersprüchlichen Erfahrungen des Seins in der Schwebe wirken. Sie ist Erlösung, oder anders: Erfahrung von Eindeutigkeit in der Zweideutigkeit. In Verbindung mit der Haltung eines ‚Gläubigen Realismus‘ lassen sich die hier herausgearbeiteten heterogenen Zweideutigkeitsbegriffe als Versuch der produktiven Bewältigung einer Ernüchterung verstehen, die sich Mitte der 1920er Jahre für Tillich einstellt. Statt der vollkommenen Einheit von Religion und Kultur, der ständigen religiösen Durchdrungenheit von Politik, Wissenschaft und Kunst als Vision seines Denkens wird nun die Realität der religiösen Lage als Ausgangspunkt alles theologischen und dogmatischen Überlegens gesetzt. Damit führt Tillich, wenngleich in modifizierter Weise, sein Anliegen der unmittelbaren Nachkriegszeit fort, der Religion – nun unter Zuhilfenahme
3.4 Zwischenfazit: Zweideutigkeit(en). Eine Typologie
247
des Zweideutigkeitsbegriffs – zu einem Platz in der modernen Weltsicht und Gesellschaftsstruktur zu verhelfen. Zugleich deutet sich in der Dresdener Dogmatik bereits eine Entwicklung an, die mit der ‚Methode der Korrelation‘ der Systematischen Theologie ihren populären Durchbruch erfahren wird: das Ansetzen aller Theologie bei der fragilen und fragwürdigen, bei der zweideutigen Lebenswirklichkeit (vgl. II.5.3.1). Die Dresdener Dogmatik stellt damit selbst ein exzellentes Exempel von Tillichs Werk zwischen Diskontinuität und Kontinuität dar.
Kapitel 4
Zwischenzeiten. Die Weiterentwicklung der Zweideutigkeit in drei Linien (1927–1958) Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten Zwischenzeiten
Das vorliegende Kapitel trägt die Überschrift Zwischenzeiten und behandelt die Entwicklung des Zweideutigkeitsbegriffs in den Jahren von 1927 (im Anschluss an die Dresdener Dogmatik) bis 1958 und damit bis in die Zeit der Veröffentlichung der Systematischen Theologie. Mit der Betitelung soll jedoch nicht impliziert sein, dass in diesen Jahren des ‚Dazwischens‘ keine entscheidenden Verschiebungen stattfänden, was die Konzeptualisierung der Zweideutigkeit betrifft. Auch haben die Ereignisse und Umbrüche, die Tillichs Leben in diesem Vierteljahrzehnt kennzeichnen, gerade nicht den Charakter des ‚Sekundären‘, der der Überschrift anhaftet: Seit 1929 als Nachfolger von Hans Cornelius auf dem Lehrstuhl für Soziologie, Philosophie und Sozialpädagogik in Frankfurt ist Tillich im Jahr 1933 einer der ersten nicht-jüdischen Professoren, dem seine Lehrerlaubnis an einer deutschen Universität durch die Nationalsozialisten entzogen wird. Von Freunden gedrängt folgt Tillich einer Einladung Richard Niebuhrs an das Union Theological Seminary in New York auf eine zunächst befristete Gastprofessur – und kehrt, Besuche ausgenommen, nie wieder nach Deutschland zurück.1 Trotz anfänglicher Sprachschwierigkeiten und dem fremden philosophischen wie kulturellen Kontext macht der deutsche Gelehrte in den USA eine so ungeahnte wie steile Karriere: Neben Professuren an exzellenten Universitäten (u.a. Harvard University, University of Chicago) und zahlreichen Gastvorlesungen und -vorträgen avanciert Tillich in den USA zu einer Art ‚public intellectual‘, einem Intellektuellen des öffentlichen Lebens. Er schreibt für Zeitungen, hält Radioansprachen und Festvorträge, wie
1 Vgl. SCHÜßLER/STURM, Paul Tillich, 15f. Für die Zeit des Exils vgl. auch die instruktiven Beiträge des Bandes Paul Tillich im Exil, insbesondere DANZ, CHRISTIAN/SCHÜßLER, WERNER, Between two worlds – Paul Tillich im Exil, in: Dies. (Hg.), Paul Tillich im Exil (Tillich Research 12), Berlin/Boston: De Gruyter 2017, 1–10 sowie GRAF, FRIEDRICH WILHELM, Paul Tillich im Exil, in: a.a.O., 11–80. Zu den deutschsprachigen Netzwerken im amerikanischen Exil vgl. hier auch KUCHER, PRIMUS-HEINZ, Kulturelle Netzwerke des deutschsprachigen Exils in den USA, in: a.a.O., 81–101. Zu Paul Tillich und Reinhold Niebuhr vgl. auch STONE, RONALD H., Politics and Faith. Reinhold Niebuhr and Paul Tillich at Union Seminary in New York, Macon: Mercer University Press 2012.
Zwischenzeiten
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etwa die Rede zum 40jährigen Jubiläum des renommierten Time Magazine.2 Auch was die theologische Entwicklung Tillichs angeht, ist der Titel Zwischenzeiten eventuell missverständlich, sind doch die zahlreichen Aufsätze, Vorlesungen, Vorträge, die Tillich in diesen Jahren verfasst, weit mehr als eine Zwischenstation auf dem Weg von der Dresdener Dogmatik hin zur Systematischen Theologie. Mit dem Titel ist also vielmehr der Status des Kapitels innerhalb der vorliegenden Arbeit angesprochen, die das Anliegen verfolgt, werkgeschichtlichen Überblick und vereinzelte textliche ‚Tiefenbohrungen‘ miteinander zu verbinden. Nach der vertiefenden Detailansicht der Dresdener Dogmatik sollen im vorliegenden Kapitel also etwas weitere Linien gezogen werden, die anhand von verschiedenen Schriften Tillichs den Zweideutigkeitsbegriff schlaglichtartig in seiner Entwicklung in die amerikanische Zeit hinein verfolgen. Drei Linien wird dabei nachgegangen: erstens, der kulturtheologischen Verwendung von ‚Zweideutigkeit‘ im Zusammenhang mit den technikkritischen Schriften in der Frankfurter Zeit (vgl. II.4.1); zweitens, der Implementierung des Zweideutigkeitsbegriffs in den sozialistischen Texten bis kurz vor der Emigration (vgl. II.4.2); drittens, der Weiterführung der Zweideutigkeit in dogmatischen Entwürfen der amerikanischen Zeit (vgl. II.4.3). Da mit den angesprochenen Themen ein denkbar großer Zeitraum durchschritten wird, verzichtet dieses Kapitel auf das Zusammenspiel von Problemhorizont und Tillichs ‚Antwort‘, das in den vorigen Kapiteln verfolgt wurde. Stattdessen wird nachvollzogen, welche der in II.3 herausgearbeiteten Typen von Zweideutigkeit sich in den angesprochenen zweieinhalb Jahrzehnten fortbilden und welche Modifikationen sie dabei erfahren. Die drei Linien und die mit ihnen einhergehenden Verschiebungen seien im Folgenden schlaglichtartig vorgestellt. In Zuge der ersten Linie lässt sich zunächst die Konkretisierung von Zweideutigkeit als einer ‚Sowohl-als-Auch‘-Struktur der Wirklichkeit auf dem Gebiet der Technik beobachten. Als Professor an der Technischen Universität Dresden von 1926–1929 bieten sich für Tillich mehrere Gelegenheiten, das Thema moderne Technik in Vorträgen und Aufsätzen zu bedenken.3 Auch in dieser thematischen Fokussierung zeigt sich die Nähe zur Kunstrichtung der Neuen Sachlichkeit, die im vorangegangenen Kapitel thematisiert wurde (vgl. II.3.1). Das Gefühl „ganz unter dem Eindruck gewaltigster Umstürze und Schwankungen unseres Lebens und seiner Werte“4 zu stehen, manifestierte TILLICH, Die Situation des Menschen. Rede zum 40jährigen Bestehen des ‚Time Magazine‘ in New York am 6.5.1963, in: GW XIII, 429–433. 3 So etwa der Vortrag Die technische Stadt als Symbol (1928), den Tillich zur Eröffnung der Ausstellung Die technische Stadt in Dresden hielt, in: GW 307–311, sowie die Vortragsgliederungen zu Religion und Technik sowie zu Der natürlich-schöpfungsmächtige und geschichtlich-eschatologische Sinn der Technik, die schwer zu datieren sind, vermutlich aber in den Zeitraum 1929/30 fallen, vgl. EW XI, 248f. sowie a.a.O., 250f. 4 Vgl. H ARTLAUB, Zum Geleit. 2
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
sich jedoch in der Kunst Neuen Sachlichkeit als vornehmend negative Haltung gegenüber der technischen Durchdringung des Alltags.5 Bei Tillich hingegen wird die Technik als ein ‚zweideutiges‘ Phänomen beschrieben, „zweideutig, wie alles was ist; nicht zweideutiger als der reine Geist, nicht zweideutiger als die Natur, aber ebenso wie sie.“6 Die Technik kann als ein Beispiel dafür gelten, wie der Zweideutigkeitstopos im Zusammenhang mit einem realistischgläubigen Wirklichkeitsverständnis auf einen Kulturbereich hin konkretisiert wird und dabei die Funktion erhält, eine grundsätzlich bejahende, aber zugleich jeden Absolutheitsanspruch kritisierende Haltung gegenüber der bedingten Wirklichkeit einzunehmen. Mit dem zweiten Aspekt klingt zugleich an, dass der Kategorie des Dämonischen hier – der Aufsatz Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte wird 1926 veröffentlicht7 – eine zentrale Bedeutung zugemessen wird (vgl. II.4.1). Zeitgleich mit dieser kulturtheologischen Konkretion der Zweideutigkeit im Bereich der Technik erhält der Begriff in den Jahren nach der Dogmatik-Vorlesung auch Einzug in die sozialistischen Schriften Tillichs. Als ein Beispiel kann hier der Vortrag Klassenkampf und religiöser Sozialismus geltend gemacht werden, den Tillich in den Jahren 1928 bzw. 1929 vor den sozialistischen Studentenschaften in Marburg und Frankfurt gehalten hat.8 Hier spricht Tillich von der „Zweideutigkeit der sozialistischen Formen“9, die aus der „indirekt-religiös[en]“ Haltung des Sozialismus resultieren. Ähnlich den Technikdeutungen der 1920er Jahre taucht auch hier ‚Zweideutigkeit‘ als Begleiterin der Geisteshaltung des ‚Gläubigen Realismus‘ oder, so eine alternative Formulierung, der ‚Gläubigen Sachlichkeit‘10 auf und beschreibt in kritischer Funktion die zweideutige Stellung des Sozialismus zwischen Immanenz und Transzendenz. In seiner letzten Veröffentlichung aus der Frankfurter Zeit, Die sozialistische Entscheidung von 1933, begegnet hingegen eine anders gelagerte Zweideutigkeit, nämlich die „Zweideutigkeit des Ursprungs“11 als Ausdruck für eine anthropologische Grundstruktur zwischen Vorfindlichkeit und Forderung zur Selbst- und Weltgestaltung. Diese zweite Entwicklungslinie greift die frühe Formulierung der ‚Zweideutigkeit des Ursprungs‘ von 1923 wieder auf (vgl. II.2.4.2), bezieht sie nun aber nicht auf die Struktur religiösen Bewusstseins, sondern auf die Wesensbestimmung des Menschen. Dabei werden bestimmte anthropologisch-existenzphilosophische Motive, die schon in der Vgl. EBERLE, Der Weltkrieg und die Künstler der Weimarer Republik, 28. TILLICH, Logos und Mythos der Technik (1927), in: GW IX, 297–306, hier 306. 7 Vgl. TILLICH, Das Dämonische, 99–123, sowie W ITTEKIND, Das Dämonische in Tillichs Dresdener Dogmatik, 69–124. 8 TILLICH, Klassenkampf und religiöser Sozialismus (1930), in: GW II, 175–192. 9 A.a.O., 187–190. 10 Vgl. a.a.O., 190–192. 11 Vgl. TILLICH, Die sozialistische Entscheidung (1933), in: GW II, 219–365, hier etwa 229. 5 6
Zwischenzeiten
251
Dresdener Dogmatik anklangen, aufgegriffen. Es findet also eine anthropologische Zuspitzung der Zweideutigkeit statt (vgl. II.4.2). Eine dritte Entwicklungslinie deutet sich in den dogmatischen Arbeiten der Exiljahre an: Während in den Manuskripten Das System religiöser Erkenntnis (1927/28)12 sowie Die Gestalt religiöser Erkenntnis (1929)13 die Verschiebung der Zweideutigkeit von offenbarungstheologischen in anthropologische Zusammenhänge schon sichtbar wird, entfernt sich Tillich in der Frankfurter Zeit (1929–1933) gemäß der Ausrichtung seines Lehrstuhls sowie dem dortigen kollegialen Umfeld zunächst von dogmatischen Fragen. Erst die Beschäftigung am Union Theological Seminary ab dem Jahr 1934 bringt eine erneute Hinwendung zu spezifisch dogmatischen Fragen mit sich. In den Jahren 1936–38 hält Tillich am Union den viersemestrigen Vorlesungszyklus Advanced Problems in Systematic Theology, den er bis in die 1950er Jahre hinein regelmäßig wiederholt und der als ein entscheidender Meilenstein auf dem Weg der Ausarbeitung seiner späteren Systematic Theology/Systematischen Theologie gelten kann.14 Interessanterweise ist jedoch in diesen frühen Vorlesungen der Begriff ‚Zweideutigkeit‘ bzw. die englische Übersetzung ‚ambiguity‘ sehr rar gesät.15 Dort, wo verwendet, bezeichnet ‚ambiguity‘ ein grundlegendes Merkmal des Lebensprozesses, nämlich das Ineinander von Essenz und Existenz, und setzt damit – unter veränderten Begrifflichkeiten – den letzten Typus von Zweideutigkeit aus der Dresdener Dogmatik fort. Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges, in den Berliner Vorlesungen16, gewinnt die Zweideutigkeit in dogmatischen Zusammenhängen wieder an Konjunktur: In den Jahren 1951, 1952 und 1958 hält Tillich an der Freien Universität Berlin drei Gastvorlesungen, von denen sich die letzte unter dem Titel Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse auch explizit mit der Zweideutigkeit befasst. In dieser Vorlesung entfaltet Tillich ‚Zweideutigkeit‘ als grundlegendes 12 Das Manuskript ist in zwei unabgeschlossenen Versionen erhalten und publiziert in TILLICH, Das System religiöser Erkenntnis (1927/1928), in: EW XI, 76–174. Zur durchaus komplexen Geschichte der geplanten und gescheiterten Veröffentlichung diverser Systementwürfe Ende der 1920er Jahre vgl. a.a.O., 76–78, sowie SCHÜßLER/STURM, Historische Einleitung [zu EW XIV], XXX–XXXVI. 13 Vgl. die beiden Beilagen zur Dresdener Dogmatik, Beilage 1 „Die Gestalt der religiösen Erkenntnis. Gliederung und Lehrsätze“, sowie Beilage 2 „Der Ort der religiösen Erkenntnis. Prolog“. TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 393–440. 14 Vgl. TILLICH, PAUL, Advanced Problems in Systematic Theology. Courses at Union Theological Seminary, New York, 1936–1938 [= EW XIX], hg. v. Erdmann Sturm, Berlin/Boston: De Gruyter 2016. 15 Vereinzelte Belege finden sich a.a.O., 69.146.167.203. Der spätere Teil IV der Systematic Theology „Life and Spirit“, in der die ‚ambiguity‘ zum Zentralbegriff avanciert, fehlt in der Gliederung noch vollständig, vgl. STURM, Historische Einleitung, in: Advanced Problems, XXI–LVII, hier VII–XIV. 16 Vgl. TILLICH, PAUL, Berliner Vorlesungen III (1951–1958) [= EW XVI], hg. v. Erdmann Sturm, Berlin/Boston: De Gruyter 2009.
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
Charakteristikum aller individuellen und sozialen Lebensprozesse, die sich als spannungsvolles Mischverhältnis zwischen polaren Strukturen artikuliert. Die Verknüpfung von ‚Zweideutigkeit‘ und Lebensbegriff sowie ihre Verwendung als Bezeichnung für das Ineinander essentieller und existentieller Strukturen setzt auch hier den letzten Typus aus der Dresdener Dogmatik fort. Zugleich ist in den Vorlesungen ab 1952 erstmalig eine umfassende Systematisierung des Zweideutigkeitsbegriffs gegeben, die mit der Erhebung von Zweideutigkeit als dem „letzten Ausdruck der menschlichen Situation“17 einhergeht (vgl. II.4.3). Mit der Formulierung der Zweideutigkeit als Grundfrage der menschlichen Situation, ihrer zunehmenden Systematisierung sowie ihrer kulturkritischen Anwendung auf verschiedene gesellschaftliche Themen sind schließlich auch diejenigen Entwicklungen benannt, die in der Systematischen Theologie die Grundpfeiler des Zweideutigkeitsbegriff bilden (vgl. II.5.3.1–5.3.3). Den geschilderten drei Linien wird nun nachgegangen.
4.1 Kulturtheologische Konkretion. Die Zweideutigkeit der Technik 4.1 Kulturtheologische Konkretion
Der 1927 entstandene Aufsatz Logos und Mythos der Technik ist Teil der materialen Kulturanalysen, in denen Tillich in den 1920er Jahren sein Programm einer ‚Theologie der Kultur‘ einlöst.18 Schon der Titel des Aufsatzes deutet an, dass das etablierte Zweierschema von Form und Gehalt, das das Fundament der Kulturtheologie darstellte, hier weiter entfaltet wird: Während ‚Logos‘ die Form eines kulturellen Gebildes auf den Begriff bringt, also etwa eine konkrete Maschine bezeichnet, steht ‚Mythos‘ für deren Gehaltdimension, den in ihr
TILLICH, Die menschlichen Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse (1952), in: EW XVI, 169–334, hier 334. 18 Vgl. M OOS, THORSTEN, Paul Tillichs Technikdeutung im Kontext seiner wissenschaftssystematischen und religionsphilosophischen Schriften der 1920er Jahre, in: AnneMaren Richter/Christian Schwarke (Hg.): Technik und Lebenswirklichkeit. Philosophische und theologische Deutungen der Technik im Zeitalter der Moderne, Stuttgart: Kohlhammer 2014, 71–96, hier 72. Für Paul Tillichs Technikdeutung vgl. auch BULMAN, RAYMOND F., Theonomy and Technology. A Study in Tillich’s Theology of Culture, in: John J. Carey (Hg.), Kairos and Logos. Studies in the Roots and Implications of Tillich’s Theology, Macon: Mercer University Press 1978 (Neuausgabe 1984), 213–233 sowie CHAN, KEITH KAFU, Life as Spirit. A Study of Paul Tillich’s Ecological Pneumatology (Tillich Research 17), Berlin/Boston: De Gruyter 2018, 171–175 (zur Ambiguität der Technik). Eine werkgeschichtliche Untersuchung von Tillichs Technikbegriff inclusive des zeitgeschichtlichen Hintergrunds haben vorgelegt: LEONHARDT, ROCHUS/NEUGEBAUER, GEORG, Technik als Problem theologischer Kulturhermeneutik. Der Beitrag Paul Tillichs, in: Heimbrock (Hg.), Evangelische Theologie und urbane Kultur, 13–38. 17
4.1 Kulturtheologische Konkretion
253
enthaltenen Unbedingtheitshinweis.19 Tillich geht also ebenso wie bei der Natur, der Kunst oder dem Recht davon aus, dass der Technik20 ein Transzendenzmoment eignet, dass in ihr etwas von dem letzten „Lebenssinn“21 durchscheint, und fordert dementsprechend, ihr gerecht zu werden: Die Technik hat die Welt umgestaltet, und diese umgestaltete Welt ist unsere Welt und keine andere. Auf ihr müssen wir bauen, müssen mehr als bisher die Technik einbauen in den letzten Lebenssinn [...].22
Deutlich grenzt sich Tillich von den „Maschinenstürmern“23, wie er sie nennt, ab, die sich nach einer anderen Zeit zurücksehen, in der die Technik noch nicht allgegenwärtig war, und die Neuerungen durch die Technik radikal ablehnen. Nach Tillich führt kein Weg in diese Zeit zurück; vielmehr würde es romantische Verklärung – und damit eben kaum Realismus – darstellen, den technischen Fortschrittsprozess rückgängig machen zu wollen. Stattdessen fordert Tillich eine aktive Integration der Technik in den allgemeinen Kulturzusammenhang und damit das kulturelle Symbolsystem. An dieser Stelle wird erneut klar: Nicht rückwärtsgewandte Romantik, sondern Hinwendung zur Realität und deren Affirmation ist Tillichs vorderstes Anliegen. Wieder kommt hier die ‚realistische‘ Seite des ‚Gläubigen Realismus‘ zum Tragen. Dennoch weist Tillich auf der anderen Seite jeden Technikoptimismus, der auf eine grundsätzliche Befreiung des Menschen durch die Technik abzielt, deutlich in seine Schranken. Als Begründung dafür wird der zweideutige Charakter der Technik angeführt. Er fährt an oben zitierter Stelle fort: [...] wohl wissend: Ist sie [die Technik, Anm. Vfin.] göttlich, ist sie schaffend, ist sie befreiend, so ist sie auch dämonisch, knechtend und zerstörend. Sie ist zweideutig, wie alles, was ist; nicht zweideutiger als der reine Geist, nicht zweideutiger als die Natur, aber ebenso wie
Vgl. MOOS, Paul Tillichs Technikdeutung, 74. Tillichs Definition von Technik hebt dabei die Universalität von Technik hervor: Technik (griech. τεύχειν/gelingen) ist überall dort, wo Mittel zur Erreichung eines Ziels eingesetzt werden (vgl. TILLICH, Logos und Mythos, 297). Tillich unterscheidet weiter drei Arten von Technik, die ‚verwirklichende Technik‘, die ‚entfaltende Technik‘ sowie die ‚umgestaltende Technik‘ (vgl. a.a.O., 298f.). Die drei Technikarten unterscheiden sich dabei, erstens, bezüglich des handelnden ‚Subjekts‘, das im Falle der „verwirklichenden Technik“ die Natur, in den anderen beiden der Mensch ist. Zweitens liegt eine Differenzierung vor, was die Intention der Technik angeht (Selbstzweck versus Fremdzweck). Die moderne Technik, der sich Tillich hier widmet, ist durchweg ‚umgestaltende Technik‘. Die Bezeichnung von Fähigkeiten der Natur als ‚Technik‘ ist in aktuellen Technikdeutungen unüblich geworden, vgl. GRUNWALD, ARMIN, Technik, in: Ders. (Hg.), Handbuch Technikethik, Stuttgart/Weimar: Metzler 2013, 13–17, hier 13. Hingegen wird heutzutage oft zwischen Technik im Sinne von hergestellten Gegenständen (Maschinen, Werkzeug, etc.) und Technik im Sinne von Praktiken (Meditationstechnik, Judotechnik, etc.) unterschieden, vgl. a.a.O., 13. 21 TILLICH, Logos und Mythos, 297. 22 A.a.O., 306. 23 A.a.O., 305. 19 20
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
sie. Auch sie, die Befreiende, muß befreit werden; auch ihr Mythos muß einmünden in den großen Mythos vom Seufzen aller Kreatur und der Sehnsucht nach einem neuen Sein, in dem Geist und Natur versöhnt sind.24
Die Zweideutigkeit der Technik wird hier – in Analogie zur Zweideutigkeit von Natur und Geist – zunächst über den Dual von ‚göttlich‘ und ‚dämonisch‘ eingeführt. Als weitere Positivmerkmale werden in Verbindung mit dem Göttlichen ihr schaffender und befreiender Charakter sowie auf der Gegenseite ihre knechtenden und zerstörenden Seiten genannt. Was aber ist mit einer ‚göttlichen‘ bzw. ‚dämonischen‘ Technik gemeint? Inwiefern ist eine Technik bzw. ein technisches Gebilde, etwa eine Maschine, schaffend und befreiend, und inwiefern dämonisch und destruktiv? Wendet man sich den positiv konnotierten Eigenschaften der Technik zu, begegnet zunächst die erstaunliche Formulierung von der Technik als ‚göttlich‘. Erinnert man sich an die Offenbarungslehre der Dresdener Dogmatik, so tauchten die Modi ‚göttlich‘/‚dämonisch‘ dort als geglückter beziehungsweise missglückter Modus des Verhältnisses von Unbedingtem und Bedingtem auf (vgl. II.3.3.1). Auf den Bereich der Technik gewendet würde dies bedeuten: Technik ist dann ‚göttlich‘, wenn sie als transparenter Hinweis für das Unbedingte fungiert, wenn sie als konkrete Form zum Symbol für den übergreifenden, unbedingten Gehalt wird, an dem sie teilhat. Solange die Technik ihr eigenes Erlösungspotential verneint bzw. es vom Menschen verneint wird, kann sie in dieser Verneinung Hinweis auf das Unbedingte sein – und wäre somit ‚göttlich‘. Vielleicht aber wird das, was hier mit ‚göttlich‘ umschrieben wird, auch über die weiteren Charakterisierungen elaboriert: Als zweite Positiveigenschaft begegnet bei Tillich der schaffende Charakter der Technik. Womöglich ist hier ein Gedanke fortgesetzt, den Tillich einige Abschnitte vorher expliziert – nämlich der Umstand, dass in der Technik durch den Menschen der natürliche Schöpfungsprozess fortgesetzt wird: Etwas, das eine Möglichkeit war, tritt aus der Möglichkeit heraus und wird Wirklichkeit – es kommt „zur Existenz“25. Der Techniker ruft mit der hervorgebrachten Erfindung eine neue Gestalt ins Leben und wird damit selbst zum Schöpfer. „Seine Erfindung“, so Tillich, „ist eine Urfindung, ein erstmaliges Setzen.“26 Tillich weist darauf hin, dass es sich bei diesem Schöpfungsgeschehen natürlich nicht um eine Schöpfung „im unbedingten Sinn“27 handelt – denn menschliche Schöpfungen sind keine sogenannten „Urgestalten“28. Sie veralten, sind irgendwann nicht mehr aktuell, haben keinen dauerhaften Bestand. Und doch, so Tillich, wirkt in ihnen etwas A.a.O., 306. Ebd. 26 A.a.O., 304. 27 Ebd. 28 Ebd. 24 25
4.1 Kulturtheologische Konkretion
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fort, das „teilhat an der Ewigkeit jeder wahren Gestalt“29, an der Unerschöpflichkeit des Seinsgrundes. Der schaffende Charakter, so ließe sich an dieser Stelle weiterdenken, prägt aber auch die Technik unabhängig vom Menschen als ‚Schöpfer‘, wird doch Technik überall eingesetzt, um ‚etwas zu schaffen‘, um mit Mitteln zu einem Ziel zu gelangen. Möglicherweise klingen beide Bedeutungen im ‚schaffenden‘ Charakter der Technik an. Aber Technik besteht nicht nur im Schaffen, sondern auch im Beherrschen von Gestalten – beginnend beim simplen An- und Ausschalten oder Lenken einer Maschine – und dadurch vermittelt in dem Versuch, die Natur zu beherrschen. Mit diesem Herrschaftscharakter eng verbunden ist für Tillich der dritte positive Aspekt, das Befreiungspotenzial aller Technik: Insbesondere die ‚moderne‘ Technik, so Tillich, erfüllt den Genesismythos von der Beherrschung der Erde und Mitgeschöpfe („Macht euch die Erde untertan!“, Gen 1,28) auf eine Weise, wie es sich die Menschen damals kaum hätten träumen lassen. Aufgrund ihrer Funktion als naturbeherrschendes Werkzeug wirkt die Technik dabei in mehrfacher Hinsicht befreiend:30 Sie befreit den Menschen, erstens, von harter körperlicher Arbeit und damit von der Reduktion auf mechanische Tätigkeiten – man denke hier etwa an die Ablösung von Feldarbeiterinnen und Feldarbeitern durch die Erfindung landwirtschaftlicher Maschinen oder an Automatisierungsprozesse im Industriebereich. Die Technik befreit den Menschen, zweitens, zumindest bis zu einem gewissen Grad von seiner Wehrlosigkeit gegenüber der Natur – der ‚moderne‘ Mensch ist der Natur nicht mehr völlig ausgeliefert. Er hat sich gegenüber verschiedensten Wetterlagen, aber auch Naturkatastrophen wie Überschwemmungen sowie nicht zuletzt gegen Krankheiten technische Hilfsmittel zu seinem Schutz geschaffen. Drittens ermöglicht die Technik eine gewisse Befreiung von der Begrenztheit des Menschen, die ihm durch Raum und Zeit auferlegt ist. Hier ist etwa an die Mobilitätsexplosion des zurückliegenden Jahrhunderts zu denken, und damit verbunden an die sukzessive Überwindung vorher schwer überwindlicher Distanzen (zum Beispiel zwischen den Kontinenten). Schließlich befreit die Technik den Menschen auch von einem gewissen Unbehagen der Natur gegenüber: Der Mensch eignet sich die Natur an und verliert dadurch die Angst vor „dem Unheimlichen, Dämonischen in den Dingen, vor ihrer Unantastbarkeit“31. Hier fühlt sich die Leserin oder der Leser leicht an Max Webers These von der ‚Entzauberung‘ der Welt durch die Prozesse der Rationalisierung erinnert. Mit diesem Verweis ist jedoch auch schon auf ‚die andere Seite der Medaille‘ verwiesen, die dem Transzendenzmoment, dem schaffenden Charakter sowie dem befreienden Potential der Technik gegenübersteht.
Ebd. Für die folgenden Ausführungen vgl. a.a.O., 305. 31 Ebd. 29 30
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
Die Reihung beginnt mit dem ‚dämonischen‘ Charakter und reaktualisiert die Bestimmung des Dämonischen, die in der Dresdener Dogmatik in Verbindung mit dem letzten Typus von Zweideutigkeit gegeben wurde (vgl. II.3.3.4): Sie [die Dämonie, Anm. Vfin.] hat immer zugleich tragenden und auflösenden, formenden und formzerstörenden, göttlichen und widergöttlichen Charakter. Sie schafft die Zweideutigkeit alles Seienden […].32
Das Dämonische erhält seinen Doppelcharakter dadurch, dass „ursprünglich Göttliches ohne Verlust seiner Göttlichkeit widergöttliche Qualitäten angenommen hat“33. Dies geschieht durch den Versuch der Aneignung des Absolutheitsanspruchs durch das Seiende selbst (vgl. II.3.3.1 und II.3.3.2). Für den Bereich der Technik scheint diese Verkehrung für Tillich nahezuliegen: Zu groß ist angesichts ihrer Potentiale die Versuchung zu meinen, die Technik könne den Menschen grundsätzlich aus seiner Lage der Kontingenz und Bedingtheit befreien und damit seine Erlösung sein. Findet eine solche Verkehrung statt, wird die Technik zum ‚Götzen‘ statt Hinweis auf das Unbedingte zu sein, ihr Charakter verkehrt sich ins Dämonische. Die Technik wird verabsolutiert, statt dass anerkannt wird, dass „sie, die Befreiende, […] befreit werden [muss]“34, wie es im obigen Zitat lautet. Die knechtenden und zerstörenden Seiten der Technik, die den Gegenpart zu dem schaffenden und befreienden Charakter bilden (allerdings wohl in umgekehrter Reihenfolge), leitet Tillich aus dem Herrschaftsmoment der Technik, ihrer Tendenz zur Naturbeherrschung, ab. Durch die Aneignung der Natur durch die Technik, durch eine zweckrationale Haltung ihr gegenüber mit dem Ziel der eigenen Befreiung verliert der Mensch die Verbindung zur Natur – es tritt, so die Formulierung, „Gewalt […] an Stelle des eros, der Wesen mit Wesen verbindet.“35 Durch ebendiese „Gewalt der Rationalität“ gebeugt, […] sprechen sie [die Dinge, Anm. Vfin.] nur noch als rationale zu uns, darum schneiden sie uns ab von dem lebendigen Strom, der durch alle Wesen geht, darum lassen sie nur die Kräfte in uns, die der Rationalität zugewandt sind, darum versuchen sie uns durch die unbegrenzte Möglichkeit, und wir erliegen der Versuchung und verlieren unseren Sinn und unsere Notwendigkeit.36
Tillich beschreibt hier mit pathetischen Worten einen Wirklichkeitsumgang, der durch die Haltung der Zweckrationalität geprägt ist.37 Drei Folgen werden 32 32 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 224. Tillich fügt einige Zeilen später hinzu, dass diese „Doppelheit“ sich in Natur und Geist findet. Die Technik wird 1927 als Teil der Kultur als ein Drittes verstanden. 33 TILLICH, Logos und Mythos, 305. 34 A.a.O., 306. 35 A.a.O., 305. 36 Ebd. 37 Im heutigen Kontext erinnert die Beschreibung Tillichs vor allem an die sozialphilosophischen Debatten um das Thema ‚Resonanz‘. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht im
4.1 Kulturtheologische Konkretion
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explizit benannt: erstens, das Abgeschnittensein des Menschen von der lebendigen Verbindung mit anderen Wesen und von der gemeinsamen Verwurzelung im Grund; zweitens, die Reduktion des menschlichen Geistes auf seine rationale Funktion; drittens, die Versuchung der „unbegrenzte[n] Möglichkeit“, die durch die Überbetonung des Pols der Freiheit die Polarität von Freiheit und Schicksal zum Zerreißen bringt – und damit den Menschen um seine Bestimmung. Schließlich findet sich auch der Mensch selbst durch die eigene Geisteshaltung bestimmt: Nicht nur „der Baum wird zum Holz, das Tier zur Arbeitskraft, der Fels zum Baustein, die Erde zum Damm, das Wasser zur Straße, das Eisen zur Maschine“, sondern auch der Mensch unterwirft sich im Vollzug dieser Geisteshaltung derselben; er wird „zum Werkzeug, zur Maschine, zur Arbeitskraft.“38 Damit ist der zweite Negativaspekt der Technik benannt: die Unterwerfung des Menschen unter die eigene zweckrationale Einstellung. Das befreiende Potenzial der Technik ist hier in ihr Gegenteil verkehrt. Der dritte Negativaspekt, das Destruktionsmoment, bildet vermutlich – trotz verkehrter Reihung bei Tillich selbst – den Gegenpol zum schaffenden Charakter. Nahe liegt hier der erneute Verweis auf den Zusammenhang von ‚formschaffend‘ und ‚formzerstörend‘ bei der Kategorie des Dämonischen. Möglicherweise ist aber auch an die Zerstörungen zu denken, die die moderne Technik, etwa im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, hervorgebracht hat, oder aber die massiv destruktiven sozialen Folgen von technischer Innovation im Zusammenhang mit Industrialisierungsprozessen. Die Zweideutigkeit der Technik besteht also darin, dass sich jeweils zwei Elemente in konträren Gegensatzpaaren artikulieren,39 die jeweils ein Positivmoment und ein Negativmoment umfassen. Tillichs Aufzählung der Reihung Falle eines solchen Abgeschnittenseins von einem Weltverhältnis, das uns „stumm, starr, sogar kalt erscheint“ und eben das Gegenteil darstellt zu „so etwas wie ein[em] vibrierende[n] Draht zwischen uns und der Welt“, „einem responsiven, elastischen fluiden, vielleicht kann man auch sagen: anschmiegsamen Weltverhältnis“, das ihm als Sinnbild für ein resonantes, gelingendes Leben dient. Wenn, so eine zentrale Einsicht Rosas, Arbeit, Familie, Hobby und Freizeit schlechterdings unter dem Gesichtspunkt des „um zu“ betrieben werden (arbeiten, um Geld zu verdienen, Sport treiben, um fit zu bleiben, Familie haben, um nicht einsam zu sein), so bleiben die „Resonanzachsen zwischen Selbst und Welt […] stumm.“ Wer hingegen sich den Dingen um ihrer selbst willen widmet, sie achtet, schätzt und ehrt, der hat das Gefühlt, die Welt „zu erreichen“ und „erfährt sich auch selbst als beweglich, als berührbar“. Interessant ist, dass auch Rosa an dieser Stelle die reziproke Wirkung des Welt- und Selbstverhältnisses betont: Ein resonanzarmes bzw. -reiches Weltverhältnis wirkt immer auch auf die eigene Selbstwahrnehmung zurück und kann nicht losgelöst von dieser betrachtet werden. Vgl. ROSA, HARTMUT, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2016, 24–26. Hervorhebungen im Original. 38 TILLICH, Gläubiger Realismus II, 80. 39 Thorsten Moos spricht in diesem Zusammenhang von der „Ambiguität der Technik“ bei Tillich, vgl. MOOS, Paul Tillichs Technikdeutung, 78. In seiner Argumentation bestimmt
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
legt dabei nahe, dass die Positivmomente zugleich immer die Negativmomente hervorrufen („Ist sie [die Technik, Anm. Vfin.] göttlich, ist sie schaffend, ist sie befreiend, so ist sie auch dämonisch, knechtend und zerstörend.“40 Als eine ‚Sowohl-als auch‘-Struktur scheint die Technik stets beides zu beinhalten: Transzendierung und Vergötzung, Schöpfung und Zerstörung, Befreiung und Knechtschaft. Es gibt das befreiende Potential der Technik nicht ohne die Unterwerfung unter die Zweckrationalität, es gibt keine Schöpfungen des Menschen, die nicht auch destruktiv wirken, und keinen irdischen Gott, der nicht Götze ist. Hier scheint also eine ‚Sowohl-als-Auch‘-Struktur im Sinne zweier gegenläufiger Tendenzen, die gleichzeitig vorliegen, gemeint zu sein. Gegenüber den verschiedenen Typen von Zweideutigkeit, die im Kontext der Dresdener Dogmatik ausfindig gemacht wurden, sind damit durchaus Verschiebungen festzustellen: In der Dresdener Dogmatik war die Zweideutigkeit von ‚göttlich‘/‚dämonisch‘ als eine monodirektionale Kippfigur, aber auch im letzten Typus des Ineinanders von ‚Ja‘ und ‚Nein‘ aufgetaucht, während das ‚Sowohl-als-Auch‘ insbesondere der profan-religiösen Wirklichkeitsstruktur zugeordnet war. Von der Dämonie führte, zumindest nach dem zweiten Typus, kein Weg zurück zum Göttlichen. Im Zusammenhang mit der Technik taucht nun das Begriffspaar ‚göttlich‘/‚dämonisch‘ in Form einer ‚Sowohl-als-Auch‘Struktur auf. Diese ist allerdings nicht als Vordergrund-Hintergrund-Figur konzipiert, wie dies im Falle des ersten Typs in der Dresdener Dogmatik der Fall war. Vielmehr scheint hier ein gleichzeitiges, symmetrisch organisiertes Bestehen beider Momente avisiert zu sein, das eher an den letzten Typus von Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik, an das Ineinander zweier gegenläufiger Elemente, erinnert. Mit anderen Worten: Tatsächlich ist hier keine konsistente oder gar systematische Fortführung der Typen festzustellen, sondern verschiedene Merkmale scheinen rekombiniert. Dies gibt zu der Frage Anlass, ob nicht der Zweideutigkeitsbegriff von Tillich zwar ab Mitte der 1920er Jahre inflationär, jedoch eben nicht konsistent verwendet wird. Positiv gewendet hieße das, dass er dann drei „Ambivalenzen“ im Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, erstens die von Potentialitäts- und Entgrenzungsmoment, zweitens die des Menschen zwischen Schöpfersubjekt und verdinglichtem Objekt, drittens die zwischen Verfügung und Bedrohung durch die Maschine: „Alle drei Ambivalenzen haben es mithin mit dem Doppelcharakter moderner Technik zu tun, einerseits gleichsam der Höhepunkt rationaler wie ingeniöser Welt- und Selbstgestaltung zu sein, andererseits dem Menschen als neue, quasi-naturhafte Bedingung und Begrenzung seines Lebens entgegenzustehen. In der technisierten Welt findet sich der Mensch als Gestalter und Getriebener, als Schöpfersubjekt und unterworfenes Subjekt, als Verfügender und unheimlich Bedrohter. Technik ist durch und durch ambig und damit in ihrem ‚Lebenssinn‘ ambivalent.“ A.a.O., 85. Moos verwendet also den Ambiguitätsbegriff für den Charakter der Technik, Ambivalenz hingegen für die Verhältnisse, die daraus entstehen. 40 TILLICH, Logos und Mythos, 306.
4.2 Anthropologische Zuspitzung
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Tillich den Begriff fortlaufend weiter anpasst und nach seiner Funktion im jeweiligen Kontext ausrichtet. Im Falle der Technik liegt diese Funktion darin, die technische Entwicklung erstmal grundsätzlich als ‚gut‘ zu bejahen, dennoch aber aufgrund ihrer negativen Seiten einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen. Diese Kritik betrifft das, was der Mensch sich von der Technik erhofft und gilt zugleich auch für alle anderen Bereiche der Wirklichkeit (Natur, Geist): Die Technik kann den Menschen nicht aus seiner Lage erlösen, da sie selbst Teil dieser Lage ist. Daher schließt Tillich seinen Aufsatz auch mit der Anmerkung, dass auch „sie, die Befreiende […] befreit werden“ muss, „ihr Mythos […] einmünden [muss] in den großen Mythos vom Seufzen aller Kreatur und der Sehnsucht nach einem neuen Sein.“41 Die Technik als Kulturbereich kann also nie selbst erlösend wirken – gerade in diesem Wunsch liegt ja ihr dämonischer Charakter – , sondern nur in all ihrer Zweideutigkeit auf die Notwendigkeit von Erlösung und damit auf das Unbedingte hinweisen. Damit wird jeder Technikoptimismus – ebenso wie jeder Technikpessimismus – deutlich in seine Schranken verwiesen. ‚Zweideutigkeit‘, so lässt sich abschließend feststellen, übernimmt in ihrer Konkretion auf ein Kulturgebiet hier die Funktion eines kulturkritischen Begriffs, der sich in gläubig-realistischer Haltung der Wirklichkeit affirmativ zuwendet, und sie dennoch – in Bezug auf ihren Unbedingtheitsanspruch – kritisch in ihre Schranken weist.
4.2 Anthropologische Zuspitzung. Die Zweideutigkeit des Ursprungs 4.2 Anthropologische Zuspitzung
Die Hinwendung zum ‚Gläubigen Realismus‘, die Tillich Mitte der 1920er Jahre vollzieht, schlägt sich mit aller Deutlichkeit auch in seinen sozialistischen Schriften nieder. Einsetzend mit dem zweiten Kairos-Aufsatz von 1926 lassen sich zwei Entwicklungen in Tillichs religiös-sozialistischem Denken beobachten, die die sozialistischen Schriften bis zum Exil durchziehen: Erstens, die deutliche Distanzierung von einer utopischen Stoßrichtung42, die mit der A.a.O., 306. TILLICH, Kairos II, 34.41: „Eine wirkliche Utopie aber ist erst da, wo der unbedingte Zustand als Zustand in der Zeit erwartet wird, wo der Gedanke an das Gericht, das vom Unbedingten über jedes Bedingte ergeht, ausgeschaltet ist. Gerade darum aber fällt eine solche Utopie notwendig unter das Gericht. Sie will in der Zeit die Ewigkeit verwirklichen und vergißt, dass das Ewige die Erschütterung der Zeit und all ihrer Inhalte ist. Darum führt die Utopie notwendig zur Enttäuschung […].“ Sowie einige Seiten später: „War nicht doch alles Romantik, Rausch, Utopie? Eins ist sicher: es vollzieht sich an all dem, und das heißt an uns, an den Schicksalserfülltesten von uns wieder mal das Gericht.“ Eine deutliche Abkehr von der Utopie findet sich dann schon 1928 in Klassenkampf und Religiöser Sozialismus, in: GW II, 175–192, hier 190f., sowie in Die sozialistische Entscheidung, in: a.a.O., 210–365, 41 42
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schrittweisen Ersetzung des Kairos-Begriffs (vgl. II.2.3.3) durch das Konzept der ‚Erwartung‘ einhergeht;43 zweitens, eine allmählich systematische Gestalt annehmende „anthropologische Grundlegung“44. Ein erster Aufschlag, in dem sich die genannten Entwicklungen mit dem Begriff der Zweideutigkeit verbinden, ist der Vortrag Klassenkampf und religiöser Sozialismus von 1928, den Tillich vor den sozialistischen Studentenschaften in Marburg bzw. Frankfurt hielt, und der erstmals 1930 in dem Sammelband Religiöse Verwirklichung publiziert wurde.45 Dieser wird nun im Folgenden analysiert. a) Klassenkampf und religiöser Sozialismus (1928/1929) Schon die Einleitung in den Vortrag liest sich als eine Wiedergabe der Grundgedanken eines ‚Gläubigen Realismus‘ – und zugleich als eine Kritik an den übersteigerten, eigenen Erwartungen von einst: So stellt Tillich die Anmerkung an den Anfang, dass der Klassenkampf eine „Realität“ sei, und warnt, wer „in seinen nach vorn gerichteten Gedanken an dieser Realität vorbeisieht, verfehlt
wo der „immer wiederkehrende Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung, von Utopie und erzwungenem Kompromiß“ als Folge des inneren Widerstreits des Sozialismus gedeutet wird, den es aufzulösen gilt, a.a.O., 284. Für Tillichs Utopieverständnis der Frankfurter Jahre vgl. DANZ, CHRISTIAN, Geschichte und Utopie. Geschichtsphilosophie bei Paul Tillich und Max Horkheimer, in: Gerhard Schreiber/Heiko Schulz (Hg.), Kritische Theologie (Tillich Research 8), Berlin/Boston: De Gruyter 2015, 307–322. 43 So etwa in TILLICH, Protestantisches Prinzip und proletarische Situation (1931), in: MW III, 219–248. Mit der ‚Erwartung‘ setzt Tillich ein transzendentes Letztgemeintes, verbunden mit dem Bewusstsein, „in einer Bewegung aus der Bestimmungswidrigkeit zur erfüllten Bestimmung zu stehen“, SCHÜßLER/STURM, Paul Tillich, 104. Oder, um Tillich anzuführen: Es „verbindet sich darin die Gewissheit von dem Kommen des Erwarteten mit dem Gefühl der Verantwortung dafür, daß es kommt“, MW III, 230. 44 FRITZ, Menschsein als Frage, 349. Für Fritz vollzieht Tillich 1927/28 den entscheidenden Schritt von den „Ansätze[n] fundamentaltheologisch-anthropologischer Reflexion“ in der Dresdener Dogmatik hin zum „ausdrücklichen Konzept einer anthropologischen Fundierung der Theologie“ (346). Als entscheidende Textstellen für eine solche „anthropologische Basiskonzeption“ nennt Fritz neben „Klassenkampf und religiöser Sozialismus“, 175– 178 auch den 1928 gehaltenen Vortrag Die protestantische Verkündigung und der Mensch der Gegenwart (1930), in: Religiöse Verwirklichung, 31–34, sowie das Vortragsmanuskript Die religiöse Lage der Gegenwart (1929), in: EW XI, 214–216, vgl. FRITZ, Menschsein als Frage, 349, Anm. 235. Auch die Weiterführung der Dresdener Dogmatik, Das System der religiösen Erkenntnis (1927/8), setzt, anders als die Dresdener Dogmatik, mit einer „anthropologischen ‚Hinführung‘“ ein, a.a.O., 347. Vgl. TILLICH, Das System der religiösen Erkenntnis, 82–85. 45 Die hier analysierten beiden politischen Schriften Tillichs ließen sich natürlich um weitere ergänzen, so etwa mit Blick auf die amerikanische Zeit um den Aufsatz Man and Society in Religious Socialism aus dem Jahr 1943. Vgl. dazu auch WAGONER, BRYAN, Ambiguity as Finite Freedom. Tillich and Adorno on Anthropology, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 157–171.
4.2 Anthropologische Zuspitzung
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mit der Tiefe der Gegenwart auch den Sinn der Zukunft.“46 Jedoch stehe der Sozialismus, insofern er religiös (also ‚Gläubiger‘ Realismus) sei, „zugleich jenseits der bloß tatsächlichen Lage“47, der gegenüber er die Macht habe, kritisch zu sein. Daher sei bereits mit dem Thema des Vortrags die „Einheit von unbedingtem Ernstnehmen der tatsächlichen Lage und unbedingter Freiheit ihr gegenüber angedeutet.“48 In diesen wenigen Zeilen finden sich also in nuce die Grundgedanken des ‚Gläubigen Realismus‘ deutlich wiedergegeben: Affirmation der Realität statt idealistischer Vision, zugleich Kritik der Realität und Versuch ihrer Transzendierung. Anders jedoch als in den offenbarungstheologischen Passagen der Dresdener Dogmatik beziehungsweise der kulturtheologischen Anwendung in Logos und Mythos der Technik liegt die Emphase nun ganz explizit auf der Möglichkeit von Kritik und damit dem Potential für konkrete sozialpolitische Veränderung. Dabei wird diese Möglichkeit zur Kritik nun anthropologisch fundiert: Das menschliche Sein ist die Erhebung des Seins über sich selbst oder die Erhebung des Seins zur Freiheit. Im Menschen kommt das Sein los von sich, von seiner Gebundenheit, von dem Zwang und der Dumpfheit des unmittelbaren, ungebrochenen Lebensprozesses. Im Menschen ist der Lebensprozess gebrochen und darum frei von sich selbst und darum Geist. Frei zu sein von sich selbst, gebrochen zu sein in sich selbst, das ist menschliches Wesen, das ist seine Größe und seine Gefahr. Denn mit der Erhebung über das Sein ist zugleich die Möglichkeit gegeben, das Sein zu verfehlen. Der Mensch hat das Sein nicht mehr unmittelbar gegenwärtig, er fragt nach ihm. Und er kann es in der Antwort verfehlen.49
Die Doppelbewegung des ‚Gläubigen Realismus‘ – Hinwendung zur realen Lage und Transzendierung derselben – findet hier eine Strukturanalogie in der Doppelheit von ‚Sein‘ und ‚Freiheit‘ im Menschen. Tillich nutzt „seine alte anthropologische Strukturformel von der ‚Erhebung des Seins über seine Unmittelbarkeit in den Sinn‘, um daraus eine strukturelle Existenznot herzuleiten“50, die dann wiederum als Begründungsfigur für das Religiöse dient. Als geistiges Wesen findet sich der Mensch in Distanz zum „unmittelbaren, ungebrochenen Lebensprozess“51 vor. Anders als bei der Pflanze oder dem Tier ist menschliches Sein immer reflexiv verfasst: Als geistiges Wesen kann und muss sich der Mensch zu seinem gegebenen Sein verhalten, er ist losgelöst „von dem Zwang und der Dumpfheit“ der reinen Vorfindlichkeit und gleichermaßen gezwungen wie frei, sein Sein aktiv zu gestalten, etwas aus sich zu machen. In dieser „Entkopplung von gegebenem und gesolltem Sein“52 sieht Tillich zugleich „Größe und Gefahr“ des menschlichen Seins gegeben – denn der TILLICH, Klassenkampf und religiöser Sozialismus, 175. Ebd. 48 Ebd. 49 A.a.O., 176. 50 So FRITZ, Menschsein als Frage, 350. 51 TILLICH, Klassenkampf und religiöser Sozialismus, 176. 52 FRITZ, Menschsein als Frage, 351. 46 47
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Mensch als ein Wesen, das die Frage nach dem (gesollten) Sein stellt, kann die Antwort auf diese Frage verfehlen.53 Die Freiheit des Menschen ist also stets bedroht, sie steht „zwischen Sinnerfüllung und Nichterfüllung des Sinnes, zwischen Sinn und Sinnwidrigkeit, zwischen Erfüllung und Nichterfüllung“54. In einem solchen „Zwiespalt“, so folgert Tillich weiter, ist „in Wahrheit die Nichterfüllung, die Sinnwidrigkeit herrschend. Die Freiheit ist in Wahrheit Unfreiheit.“55 Der Mensch als Wesen zwischen Sein und Freiheit ist also eigentlich unfrei. In Diktion und Wortwahl erinnern die Formulierungen an bestimmte offenbarungstheologische Passagen aus der Dresdener Dogmatik56 sowie an das zweideutige Schweben zwischen ‚Ja‘ und ‚Nein‘ aus Kairos und Logos.57 Jedoch fällt der Begriff der Zweideutigkeit nun in diesen Zusammenhängen nicht – er taucht erst im Zusammenhang mit der Besprechung des realgeschichtlichen Sozialismus auf. Stattdessen spricht Tillich von einem „Zwiespalt“ und deutet damit kein Schweben, sondern vielmehr einen Graben an: Der Mensch ist von der unmittelbaren Gegebenheit des Seins getrennt, er kann nicht zurück in den Status der Pflanze oder des Tieres. Zugleich erfährt er sich als unfähig, die Frage, die Forderung, die an ihn mit der Gestaltung seines Seins gestellt ist, zu erfüllen. Diese Unfähigkeit begegnet ihm als Bedrohung durch das Nicht-Sein, „einem Nicht-Sein, das in einer ganz anderen, viel tieferen Schicht
53 Fritz sieht hier gegenüber den frühen 1920er Jahren, insbesondere dem Aufsatz Rechtfertigung und Zweifel (1919) eine deutliche Verschiebung weg von der drohenden Sinnleere hin zu der Drohung der Seins- bzw. Sinnsverfehlung, vgl. a.a.O., 351–359, hier 358. Deutlich klingen dabei existenzialistische Grundmotive an (man denke an Heideggers Rede von der ‚Uneigentlichkeit‘, der ‚Verfallenheit an das Man‘ oder, später, an Sartres ‚Unaufrichtigkeit‘). So schreibt Heidegger: „Das Seiende, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, verhält sich zu seinem Sein als seiner eigensten Möglichkeit. Dasein ist je seine Möglichkeit und es ‚hat‘ sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes. Und weil Dasein wesenhaft je seine Möglichkeit ist, kann dieses Seiende in seinem Sein sich selbst ‚wählen‘, gewinnen, es kann sich verlieren, bzw. nie und nur ‚scheinbar‘ gewinnen. Verloren haben kann es sich nur und noch nicht sich gewonnen haben kann es nur, sofern es seinem Wesen nach mögliches eigentliches, das heißt sich zueigen ist. Die beiden Seinsmodi der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit […] gründen darin, daß das ein überhaupt durch Jemeinigkeit bestimmt ist.“ HEIDEGGER, Sein und Zeit, 43. Hervorhebung im Original. 54 TILLICH, Klassenkampf und religiöser Sozialismus, 176. 55 Ebd. 56 Zur „Zweideutigkeit“ der revelatio naturalis: Die natürliche Offenbarung als „ideeller Reflex echter Offenbarung […] hat nichts uns unbedingt Angehendes, er hat keinerlei Durchbruch. Er ist, weil in ihm Offenbarung und Verhüllung im Gleichgewicht stehen, in Wahrheit Verhüllung“, TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 28, siehe auch II.3.3.1. 57 TILLICH, Kairos und Logos, 51: „[…] ist nicht das Stehen im Zweideutigen schon eine Entscheidung gegen das Unbedingte. Ist nicht, religiös gesprochen, das Schweben zwischen Ja und Nein Gott gegenüber ein Nein?“.
4.2 Anthropologische Zuspitzung
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liegt als das leibliche Nicht-Sein, als der Tod.“58 Menschliches Sein wird hier als Bedrohtheit durch radikale Verlorenheit beschrieben, eine Verlorenheit, die weiter und tiefer reicht als leibliche Vergänglichkeit. Angesprochen ist dabei die Verfehlung des eigentlichen, wahren Seins, das Vorbeileben an der eigenen Bestimmung. Dieser Negativdeutung menschlichen Seins als existenzphilosophische Interpretation der Erbsünde stellt Tillich im Fortgang der Argumentation in Klassenkampf und religiöser Sozialismus die Getragenheit des Menschen voran, die jedoch „nicht, wie die Bedrohtheit, unmittelbar mit dem menschlichen Sein gegeben ist.“ Sie entstammt „aus dem Jenseits dieses Widerspiels, aus dem Jenseits von Sein und Freiheit“59. Als primäre, aller Bedrohtheit vorausgehende Gewissheit stellt sie die Grundvoraussetzung für menschliches Sein in seiner Verhängnisstruktur dar. Deutlich finden sich hier die beiden Kategorien von eindeutiger Verbundenheit (Schöpfungslehre) und zweideutiger Getrenntheit (Sündenlehre), die im Zusammenhang mit der Dresdener Dogmatik erläutert wurden (vgl. II.3.3.3), in abgewandelter Terminologie aktualisiert. Die Brücke zwischen dieser anthropologischen Grundlegung und dem realgeschichtlichen Sozialismus wird nun über den Begriff der Lebensformen geschlagen: Laut Tillich verschafft sich die Doppelheit von Bedrohtheit und Getragenheit im Denken und Handeln des Menschen Ausdruck, jedoch auf unterschiedliche Weise. Während solche Lebensformen, die die Doppelheit direkt zur Darstellung bringen, „im eigentlichen und engeren Sinne religiös sind“60 (zu denken wäre hier etwa an den christlichen Gottesdienst), bringen andere Lebensformen lediglich das Wechselspiel von Sein und Freiheit direkt zum Ausdruck, während „die Bedrohtheit und Getragenheit des menschlichen Seins demgemäß im Hintergrund bleibt und nur indirekt zum Ausdruck kommt.“61 Solche Lebensformen sind für Tillich „kulturell“ und damit „indirekt, mittelbar, verhüllt religiös“62. Das Paradebeispiel für eine solche „indirekt-religiöse Haltung“63 stellt der Sozialismus dar. Daraus resultiert seine Zweideutigkeit: Ausdrücklich religiöse Symbole werden durchweg verworfen, im besten Fall dem Privaten und der Innerlichkeit überlassen, niemals aber ausdrücklich gemeint. Daraus ergibt sich die eigentümliche Dialektik, die tiefe Zweideutigkeit, die allen Lebensäußerungen des Sozialismus anhaftet.64
58 TILLICH, Klassenkampf und religiöser Sozialismus, 176. Fritz deutet diesen radikalen Totalverlust des Selbst als ein „existenzphilosophisches Äquivalent der mythischen Höllenvorstellung“, FRITZ: Menschsein als Frage, 361. 59 TILLICH, Klassenkampf und religiöser Sozialismus, 177. 60 A.a.O., 178. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 A.a.O., 187.
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‚Zweideutigkeit‘, so lässt sich diesem Zitat entnehmen, bezieht sich hier auf alle Lebensformen oder „Lebensäußerungen“ des Sozialismus – beispielhaft führt Tillich die sozialistische Haltung gegenüber der Wissenschaft, der Politik und Stellung zur Partei sowie die Zielsetzung des Sozialismus an. Allesamt sind sie zweideutig. Die Ursache für diese Zweideutigkeit sieht Tillich im Umgang des Sozialismus mit (im engeren Sinne) religiösen Symbolen. Explizite Religiosität wird vom Sozialismus abgelehnt, was wiederum zur „eigentümliche[n] Dialektik, [der] tiefe[n] Zweideutigkeit“ seiner Formen führt. ‚Dialektik‘ und ‚Zweideutigkeit‘ werden hier überraschenderweise in einem Atemzug genannt und quasi synonym verwendet; zudem werden sie als „eigentümlich“ und besonders „tief“ geschildert. Etwas verständlicher werden diese kryptischen Formulierungen durch die Beispiele, die Tillich im Folgenden ausführt, etwa die Zweideutigkeit der sozialistischen Politik und Stellung zur Partei: Sie [die Politik, Anm. Vfin.] ist real, sie ist innerweltlich, sie arbeitet mit allen Mitteln politischer Taktik und Strategie. Und durch alles hindurch schwingt der Glaube, daß auf diese Weise der klassenlose Staat, das Reich der Gerechtigkeit, das Reich Gottes herbeigeführt würde. Nichts wäre törichter, als wollte man diese Haltung eindeutig auffassen und widerlegen. Jeder einzelne Schritt kann als fehlerhaft, ja verhängnisvoll aufgewiesen werden, die tiefe Profanität und Verderbtheit alles politischen Handelns kann aufgezeigt werden, das alles ändert den Glauben nicht, daß auf diese Weise das Ziel erreicht wird. Auch die Stellung zur Partei enthält die gleiche Zweideutigkeit. Sie ist für den Proletarier unendlich viel mehr als eine politische Partei. Sie ist für ihn immer auch religiöse Gemeinde, in der er getragen ist, die ihn von der Sinnlosigkeit seiner Existenz befreit, die ihm eine Berufung und ein letztes unbedingtes Ziel gibt.65
Die hier explizierte Zweideutigkeit besteht darin, dass „durch“ die Diesseitigkeit und Profanität von taktischer Strategie und politischer Partei „hindurch“ der Glaube an die Verwirklichung einer transzendenten Reich-Gottes-Idee „schwingt“. Hier begegnet also genau eine solche zweideutige Struktur, die in der Dresdener Dogmatik mit ähnlichen Formulierungen in Zusammenhang mit der profan-religiösen Wirklichkeitsstruktur thematisiert wurde (vgl. II.3.3.1): Dort ging es um die im Hintergrund einer profanen Weltansicht stets mitschwingende religiöse Dimension, die sich momenthaft zu einer eindeutigen Offenbarung verdichten kann. Hier allerdings bezieht sich der ‚mitschwingende Glaube‘ gerade nicht auf das Unbedingte, sondern auf eine innerweltliche Größe: Sie glaubt, mit den (profanen) Mitteln der Politik, das Reich Gottes herbeiführen zu können. Damit liegt eine „Vergötzung“66 oder Dämonisierung der Wirklichkeit vor. Diese Täuschung trotzt, so Tillich, jedem Versuch rationaler Widerlegung. An dem Glauben, dass durch innerweltliche Strategie ein jenseitiges Ziel erreicht wird, hält der Sozialismus fest.
65 66
A.a.O., 188. A.a.O., 189.
4.2 Anthropologische Zuspitzung
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Mit einem solch implizit religiösen Weltverhältnis sind nun nach Tillich zwei Gefahren unterschiedlicher Tragweite verbunden: Die erste ‚harmlosere‘ Gefahr liegt in einer vollständigen Profanisierung der Formen, dem Nachlassen der religiösen Wirklichkeitsdimension. Hier schlägt die Dämonisierung in eine Profanisierung um und, um im Beispiel zu bleiben, die politische Taktik wird als innerweltliche Strategie politischen Handelns erkannt. Die zweite, schwerwiegendere Gefahr sieht Tillich in der „metaphysische[n] Enttäuschung“67, die droht, wenn die „Vergötzung“68 der endlichen Wirklichkeit als eine Verirrung enttarnt wird. Eine solche Enttäuschung endet, so Tillich, in der Regel entweder in Verzweiflung oder aber „in Abstumpfung, in Kompromiß und müdem Fortschrittsglauben“69, also denjenigen Phänomenen, die, so Tillich, die zeitgenössische Kritik am realgeschichtlichen Sozialismus anprangert. Durch die Zweideutigkeit seiner Formen – hier als die stets mitgegenwärtige Absolutsetzung einer bedingten Größe – steht der Sozialismus für Tillich also vor der Alternative zwischen völliger Profanisierung und radikaler Enttäuschung, die letztlich in einen schwunglos-resignierten Fortschrittsglauben mündet. In diesen beiden möglichen Bewegungen zwischen Überhöhung, Entleerung und Enttäuschung liegt womöglich auch das, was Tillich im obigen Zitat als „eigentümliche Dialektik“ bezeichnet hatte. An diesem Punkt wird die Zweideutigkeit als Kippfigur, wie sie auch in der Dresdener Dogmatik in Zusammenhang mit der Kategorie des Dämonischen verhandelt wurde (vgl. II.3.3.1 bzw. II.3.4), mit einer Bewegung verbunden: Die Spannung, die innere Dynamik der Zweideutigkeit äußert sich hier als realgeschichtliche Dialektik. Auch wird erneut deutlich, dass das Dämonische Mitte der 1920er Jahre zu einer zentralen Deutungskategorie für Tillich avanciert. Anders als im Falle der Technik findet sich nun jedoch erneut die Kippfigur: Einmal dämonisch geworden, gibt es nur den Ausweg der vollständigen Profanisierung oder in die verzweifelte Enttäuschung. ‚Zweideutigkeit‘ bezeichnet hier also keine ‚Sowohl-als-Auch‘-Struktur von positiven und negativen Elementen, sondern steht für ein Täuschungsmanöver, für die Vorgabe, etwas anderes als eine bedingte, endliche Größe, nämlich das Unbedingte selbst, zu sein. Die Lösung der beiden skizzierten Konsequenzen der dämonischen Zweideutigkeit – Profanisierung oder metaphysische Enttäuschung – liegt für Tillich nun in der eingangs angestrebten Kritik, die ihre Bestimmung darin findet, dem Sozialismus vorzuhalten, „was eigentlich in ihm gemeint ist und daß er das Gemeinte zur kritischen Norm des Tatsächlichen macht.“70 Ein zentrales Stichwort, das in diesem Zusammenhang fällt, ist das der ‚Enthüllung‘ der „dä-
Ebd. Hervorhebung im Original. Ebd. 69 Ebd. 70 Ebd. 67 68
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
monische[n] Situation“71, in der das Proletariat, respektive der Sozialismus, stecken. ‚Enthüllung‘ als Überwindung der zweideutigen, dämonischen Struktur fällt dabei in eins mit der „Erscheinung einer Gestalt der Gnade in der Wirklichkeit“72, der „Fülle der Zeit“73 oder „Kairos-Idee“74, in der „die Linie nach vorn mit der Linie nach oben“75 verbunden wird. Tillich hat hier als ‚Erlösung‘ von den Schwankungen des Sozialismus eine Haltung vor Augen, die sich weder in immanenten Fortschrittsfantasien noch in weltferner Jenseits-Frömmigkeit verliert, sondern anerkennt, dass das „Jenseits des Seins“76 innerweltlich nicht zu erreichen ist und dennoch nur von hier aus eine Kritik der eigenen innerweltlichen Lage möglich ist. Eine solche Haltung nennt Tillich „die der reinen oder gläubigen Sachlichkeit“77 und kommt damit erneut auf den ‚Gläubigen Realismus‘ zurück – hier verknüpft mit der Funktion der Gesellschaftskritik.78 In einer solchen Kritik, die vom Unbedingten her als Gnade, als Kairos momenthaft verfügbar wird, bestimmt Tillich schließlich die Aufgabe des Religiösen Sozialismus, der die Einheit von Sozialismus und Religion oder, wie zu Beginn des Vortrags angedeutet, die „Einheit von unbedingtem Ernstnehmen der tatsächlichen Lage und unbedingter Freiheit ihr gegenüber“79 verwirklichen kann. Mit anderen Worten: Die Erfahrungen des Unbedingten sind notwendig, um in den Verstrickungen der Zweideutigkeit einen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus die zweideutige Lage erst erkannt und damit – zu einem gewissen Grad – überwunden werden kann. Damit werden (religiöse) Erfahrungen von Eindeutigkeit, auch wenn der Begriff an dieser Stelle selbst nicht fällt, zu notwendigen Orientierungspunkten in der Weltgestaltung, die mit dem Zweideutigen umzugehen hat. Zusammenfassend lässt sich bis zu diesem Punkt festhalten, dass Tillich in seinem Vortrag Klassenkampf und religiöser Sozialismus erstens ‚Zweideutigkeit‘ erneut als Verkehrung eines innerweltlichen Elements in das Unbedingte selbst versteht. Die grundlegend zweideutige Struktur der Wirklichkeit, die in Ebd. A.a.O., 191. 73 Ebd. 74 A.a.O., 190. 75 Ebd. 76 A.a.O., 191. 77 Ebd. Hervorhebung im Original. „Sachlichkeit“, so führt Tillich weiter aus, „nimmt die Sache so, wie sie in sich ist, sie tut nichts hinzu, und sie nimmt nichts hinweg, sie bläht nicht auf, und sie vergewaltigt nicht. Sie ist Gehorsam gegen die innere Notwendigkeit dessen, was ist, aber sie sucht die innere Notwendigkeit in der letzten Schicht des Seins, für die sie nur den Namen hat: ‚Jenseits des Seins‘. Erst dort schaut sie den letzten unbedingten Sachgehalt an, die Sache in ihrer eigentlichen Mächtigkeit.“ 78 Auf die Funktion von Theologie als Kritik und nicht nur Analyse oder Deskription weist im Zusammenhang mit Tillichs Schriften um 1930 auch Re Manning hin, vgl. RE MANNING, Do not be conformed, 223. 79 A.a.O., 175. 71 72
4.2 Anthropologische Zuspitzung
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den Prolegomena der Dresdener Dogmatik offenbarungstheologisch begründet wurde, wird hier auf die realgeschichtlichen Phänomene des Sozialismus angewendet. Anders jedoch als in der Dresdener Dogmatik und auch in Logos und Mythos der Technik wird die Überwindung dieser zweideutigen Wirklichkeit mit einer anthropologischen Grundstruktur verbunden. Dem Menschen als Wesen im „Zwiespalt“ zwischen Sein und Freiheit gelingt die Überwindung der dämonischen Strukturen der Wirklichkeit durch die Einsicht, dass das vorgefundene Sein nur von einer Freiheit aus kritisiert werden kann, die nicht erreicht, sondern nur erfahren werden kann. Tillichs ‚Gläubiger Realismus‘ als Kritik einer Gesellschaft, die bestimmte endliche Bereiche für unbedingt oder erlösungsrelevant erklärt, wird hier im Menschen selbst als einem Wesen zwischen Vorfindlichkeit und Überschreitung dieser Vorfindlichkeit gegründet. Diese Verknüpfung der Zweideutigkeit und deren Überwindung mit einer anthropologischen Argumentation erreicht in der Schrift Die sozialistische Entscheidung wenige Jahre später ihre vollständige Ausgestaltung, wie im folgenden Abschnitt zu zeigen sein wird. b) Die sozialistische Entscheidung (1933) Fünf Jahre nach der Abfassung des Vortrags Klassenkampf und Religiöser Sozialismus steht man an einem Wendepunkt im Leben Tillichs, der zu diesem Zeitpunkt als Professor an der noch relativ jungen Frankfurter Universität wirkt. Als „die Glanzzeit meines Lebens“80 hat Tillich im späten Rückblick die prägenden Jahre an der Frankfurter Universität bis zu seiner Emigration im Jahr 1933 bezeichnet.81 Nach dem überraschenden Tod von Max Scheler wird Tillich im Jahr 1929 als Nachfolger von Hans Cornelius auf den Lehrstuhl für Philosophie, Soziologie und Sozialpädagogik an der noch jungen Frankfurter Universität berufen. Im Kreis seiner Kollegen trifft er unter anderem auf die Begründer des Instituts für Sozialforschung und die Protagonisten der Kritischen Theorie: Max Horkheimer, Friedrich Pollock, Leo Löwenthal und Theodor W. Adorno.82 Neben gemeinsamen Kollegs und Lehrveranstaltungen 80 Brief Paul Tillichs vom 3. September 1961 an den Rektor der Universität Karl Hax (1901–1978), Universitätsarchiv Frankfurt am Main, Abt. 4, Nr. 226, Blatt 32, zitiert nach SCHREIBER, GERHARD/SCHULZ, HEIKO, Paul Tillich in Frankfurt (1929–1933). Einleitung, in: Dies. (Hg.): Kritische Theologie, 1–12, hier 1. 81 Zu den Frankfurter Jahren vgl. LINDE, G ESCHE, „daß Leute, die den Kapitalismus stützen, von uns als Vertreter des Protestantismus im echten Sinn nicht angesprochen werden können.“ Paul Tillich (1886–1965) und Ernst Foerster (1865–1945) in Frankfurt am Main, in: Gerhard Schreiber/Heiko Schulz, Kritische Theologie, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, 13–132. Zum Standort Frankfurt vgl. auch WRIEDT, MARKUS, Theologie am Ende der ersten deutschen Demokratie. Frankfurt am Main und Paul Tillich, in: a.a.O., 133–194. 82 Im Kreise der Kollegen befanden sich außerdem Adolf Löwe, Karl Mannheim und Carl Mennicke, sowie Kurz Riezler, der damalige Kurator der Universität. Vgl. SCHREIBER/SCHULZ, Paul Tillich in Frankfurt, 2; BRITTAIN, CHRISTOPHER CRAIG, Adorno’s Debt
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etabliert sich unter den Kollegen bald auch ein fester Gesprächskreis, das sogenannte ‚Kränzchen‘, das sich im Café Laumer in der Frankfurter Innenstadt regelmäßig zum Diskutieren trifft; auch das ausgiebige Feiern kommt in diesen Jahren nicht zu kurz.83 In diese intellektuell höchst produktive Zeit fällt auch die Abfassung einer höchst umstrittenen Schrift Tillichs, Die sozialistische Entscheidung, die auf der einen Seite Tillichs Weg ins Exil im Spätjahr 1933 zur Folge hatte,84 auf der anderen Seite eine – im Text selbst angelegte – sehr ambivalente Rezeptionsgeschichte nach sich zog.85 Das Anliegen Tillichs mit dieser Schrift ist kein geringeres, als die politisch konträren Lager seiner Zeit (teilweise) zu versöhnen, indem sie über ihren „zweideutigen Ursprung“86 aufgeklärt werden. Zu diesem Ziel bündelt Tillich zahlreiche frühere Argumentationslinien in einen Gesamtentwurf, der den literarischen Versuch darstellt, die Dichotomie zwischen konservativem Bewahrungsstreben und utopischen Revolutionsphantasien, die den gegenwärtigen Sozialismus beutelt, schreibend zu überwinden.87 to Tillich. On Parataxical Theologie, in: Gerhard Schreiber/Heiko Schulz, Kritische Theologie, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, 343–360. Zu gegenseitigem Einfluss, Überschneidungen und Differenzen zwischen Tillich und den Protagonisten der Frankfurter Schule vgl. auch MURRMANN-KAHL, MICHAEL, „Urgeschichte der Subjektivität“. Mythos und Aufklärung bei Tillich und Adorno/Horkheimer, in: Christian Danz/Werner Schüßler, Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext (Tillich Studien 5), Berlin: De Gruyter 2015, 235–253 sowie WAGONER, BRYAN, Religious Socialism as Critical Theory. Tillich and the Institute in Frankfurt, in: Schreiber/Schulz (Hg.), Kritische Theologie, 323– 342. Zur Fortsetzung der Verbindung im amerikanischen Exil vgl. DANZ, CHRISTIAN, Frankfurter Streitkultur im Exil. Horkheimer, Adorno und Tillich über Anthropologie, in: Ders./Schüßler, Paul Tillich im Exil, 125–140. 83 Vgl. G RAF, FRIEDRICH W ILHELM, Februar 1932, Party bei den Tillichs. Reale Dialektik in Frankfurt, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 9/4 (2015), 111–120. Vgl. zur Frankfurter Zeit auch WÖRN, KATHARINA, Tiefe Entfremdung. Zur (Un-)Möglichkeit einer Kritik religiöser Lebensformen bei Paul Tillich, in: Katharina Eberlein-Braun/Dietrich Schotte (Hg.), Gelingen und Misslingen religiöser Praxis. Auseinandersetzungen mit Rahel Jaeggis ‚Kritik von Lebensformen‘, Münster: Lit 2020, 63–92, hier 63f. 84 Vgl. SCHÜßLER/STURM, Paul Tillich, 16. 85 So wurde die Veröffentlichung in linken Kreisen als prophetische Programmschrift gefeiert, während etwa Tillichs Freund Emmanuel Hirsch in ihr „Tillichs spürbare Hinüberentwicklung zum Nationalsozialismus“ eindeutig gegeben sah; hier zitiert nach GRAF, ‚Old harmony‘?, 362.Wieder andere sahen in der Schrift den Erweis, dass Tillich eindeutig Jude sein müsse, vgl. der Brief von Fritz Otto Hermann Schulz an Tillichs Vater bei STURM, ERDMANN, ‚Die Zugehörigkeit Paul Tillichs zum Judentum als feststehende Tatsache …‘, in: Folker Siegert (Hg.), Grenzgänge. Menschen und Schicksale zwischen jüdischer, christlicher und deutscher Identität, Festschrift für Diethard Aschoff, Münster u.a.: Lit 2002, 255– 269. 86 TILLICH, Die sozialistische Entscheidung, 229. 87 So die These meines Aufsatzes „Antizipative Einheit. Zum Verhältnis von Zweideutigkeit und Revolution in Paul Tillichs Sozialistischer Entscheidung“, in: Asmar, Reformation und Revolution, 191–204. Teile der hier vorgelegten Argumentation sind inhaltlich an
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Auch hier sucht Tillich die Vermittlung zwischen Weltzugewandtheit oder Realitätsempfinden und dem Glauben an Erneuerung, die unter dem Stichwort ‚Gläubiger Realismus‘ bereits mehrfach thematisiert wurde. Was die Verwendung von ‚Zweideutigkeit‘ betrifft, bildet sich das argumentative Grundgerüst aus Klassenkampf und Religiöser Sozialismus von 1928 – anthropologische Begründungsfigur, realgeschichtliche Auswirkung, Überlegungen zur Überwindung der Zweideutigkeit – fort. Gleichwohl finden entscheidende Verschiebungen statt, insbesondere was die Lokalisierung und Begründung der Zweideutigkeit betrifft: War 1928 im Zusammenhang mit der anthropologischen Wesensbestimmung des Menschen zwischen Sein und Soll noch nicht von der Zweideutigkeit die Rede, begegnet genau diese Bestimmung 1933 als „Zweideutigkeit des Ursprungs“.88 Hingegen werden nun die realgeschichtlichen Zerwürfnisse des Sozialismus nicht mehr mit dem Begriff Zweideutigkeit eingefangen, sondern als „Antinomien“89 bezeichnet. Die Kategorie des Dämonischen tritt im Zusammenhang mit der ‚Zweideutigkeit‘ zurück, hingegen bezieht sich die Forderung nach ‚Enthüllung‘ nun auf die Zweideutigkeit des Ursprungs selbst. Der zweideutige Charakter des Ursprungs bezeichnete 1923 noch die doppelte Wahrnehmung des Unbedingten als Sinngrund und -abgrund (vgl. II.2.4.2). 1933 wird die Formel von der Ursprungszweideutigkeit auf das Wesen des Menschen selbst bezogen und als ontologisch-anthropologische Beschreibungskategorie für das Menschsein zwischen Vorfindlichkeit und Aufruf zur Selbstgestaltung verwendet. Dieser neuen Konstellation soll im Folgenden nachgegangen werden. Tillich beginnt seine Analyse der gegenwärtigen Situation des Sozialismus mit einer Rückführung alles politischen Denkens auf zwei Wurzeln des Menschen:90 die Frage nach seinem ‚Woher‘ und die Frage nach seinem ‚Wozu‘. Dabei wird der Mensch als „Einheit in der Doppelung“91 von Sein und Bewusstsein – eine bereits aus Klassenkampf und religiöser Sozialismus vertraute Charakterisierung – als Voraussetzung für die beiden, ihn prägenden Wurzeln bestimmt. Das Frage nach dem ‚Woher‘, oder die erste Wurzel des Menschen, deutet Tillich als eine Reaktion auf die immer schon gegebene Vorfindlichkeit
die dortige Detailanalyse angelehnt. Zu Tillichs Ambiguitätsbegriff in Die sozialistische Entscheidung, vgl. auch MATHOT, BENOIT, Le socialisme comme dénonciation de la nonambiguïté politique, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 143–156. 88 TILLICH, Die sozialistische Entscheidung, 229. 89 A.a.O., 281. 90 Vgl. hierzu auch D ANZ, C HRISTIAN, Die politische Macht des mythischen Denkens. Paul Tillich und Ernst Cassirer über die Macht des Mythos, in: Ders./Werner Schüßler (Hg.), Die Macht des Mythos. Das Mythosverständnis Paul Tillichs im Kontext (Tillich Studien 5), Berlin/Boston: De Gruyter 2015, 119–141, besonders 127–132. 91 A.a.O., 227.
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menschlichen Seins. Er greift dafür auf Heideggers Terminus der „Geworfenheit“92 zurück: „Der Mensch findet sich vor“93 in der Welt, nimmt wahr, dass er einen „Ursprung“94 hat, der nicht er selbst ist, der ihn „entspringen“95 lässt. Tillich betont dabei vor allem die zyklische Kraft dieser ersten Ursprungswurzel: Zwar setzt der Ursprung den Menschen als Eigenen, Neuen; jedoch trägt, hält und nimmt er ihn auch immer wieder zurück. Im Ursprung als einer zyklischen Macht wurzelt der ewige Kreislauf von Geburt, Entfaltung und Tod, den der Mensch durchläuft. Hier lokalisiert Tillich aber auch diejenigen gesellschaftspolitischen Mächte, die zu konservativen und ‚romantischen‘ Bewegungen in der Politik führen. Er greift hier auf gängige Ausdrücke völkisch-nationalistischen Beiklangs zurück – ‚Boden‘, ‚Blut‘, ‚Rasse‘ und ‚Nation‘ – um bestimmte Bindungen zu beschreiben, die den Menschen prägen. Da Tillich keineswegs vorhat, ebendiese Kräfte zu hinterfragen oder zu dekonstruieren (durchaus aber bestimmte Auswüchse zu kritisieren), deuten sich an dieser Stelle bereits problematische Positionierungen der Schrift an. Diese ‚gegebenen Bindungen‘ des Menschen identifiziert Tillich nun – wiederum nicht unproblematisch – mit aktuellen konservativen und ‚romantischen‘ Bewegungen in der Politik, so auch mit der nationalsozialistischen Partei als Ausdruck einer ‚revolutionären Romantik‘.96 Kurzum: Bestimmte politische Orientierungen werden hier auf eine anthropologische Grundkonstante – Herkunft – und ein damit einhergehendes Weltverhältnis – ein zirkuläres – zurückgeführt. Demgegenüber denkt Tillich die Frage nach dem ‚Wozu‘ nicht durch die reine Vorfindlichkeit beschränkt; sie ist die „unbedingte Forderung“97, die an den Menschen herantritt, das ‚Soll‘ als Hinaustreiben über die Grenzen des ‚Seins‘. Die Antwort auf das ‚Wozu‘ liegt also jenseits des Kreislaufs von Geburt und Tod; sie wird als ein radikal Neues gedacht, als grundsätzliche Loslösung von den ‚gegebenen Bindungen‘, als die Realisierung von Gerechtigkeit. 92 Die terminologische Nähe zu Heidegger wird auch an der Formulierung der beiden Fragen deutlich. So schreibt Heidegger: „Diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten, aber an ihm selbst um so unverhüllter erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ‚Daß es ist‘ nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-derWelt-sein das Da ist.“ HEIDEGGER, Sein und Zeit, 135. Zu Adornos Kritik an Tillichs Ursprungsbegriff respektive Heidegger vgl. MOXTER, MICHAEL, Symbolischer Realismus. Tillichs Mythostheorie im Horizont der zwanziger Jahre, in: Schreiber/Schulz (Hg.), Kritische Theologie, 195–213, hier besonders 208–211. 93 TILLICH, Die sozialistische Entscheidung, 227. 94 Die im Wort ‚Ursprung‘ etymologisch enthaltene Zweideutigkeit von zeitlichem Anfang im Sinne des Entspringens als erstem Moment der Entstehung eines Seienden und von Wirkungsmacht im Sinne eines ersten Entstehungsgrundes wird hier aufgenommen. Zu Begriff und Etymologie vgl. HOLZEY, HELMUT/SCHOELLER-REISCH, DONATA, Art. Ursprung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 11 (2001), 417–424. 95 TILLICH, Die sozialistische Entscheidung, 227. 96 Vgl. a.a.O., 227f. 97 A.a.O., 228. Hervorhebung im Original.
4.2 Anthropologische Zuspitzung
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Der Mensch, so könnte man zusammenfassen, ist also nicht nur das, wo er herkommt, sondern hat auch die Aufgabe, aus dieser Herkunft herauszutreten und etwas neues Ungegebenes zu schaffen. Analog zur ersten Wurzel wird auch die Frage nach dem ‚Wozu‘ als Ausgangspunkt realer politischer Größen konstruiert, in diesem Falle sind es allerdings die liberalen, demokratischen und sozialistischen Gruppierungen.98 Die Verhältnisbestimmung zwischen Ursprung und Forderung, dem Sein und Soll des Menschen erfolgt sodann mit Hilfe des Zweideutigkeitsbegriffs: Der Ursprung ist zweideutig. In ihm ist eine Spaltung zwischen wahrem und wirklichem Ursprung. Das wirklich Ursprüngliche ist nicht das in Wahrheit Ursprüngliche. Es ist nicht die Erfüllung dessen, was mit dem Menschen vom Ursprung her gemeint ist. Die Erfüllung des Ursprungs ist vielmehr das, was dem Menschen als Forderung, als Soll gegenübersteht. Das Wozu des Menschen ist das, worin sich sein Woher erfüllt. Der wirkliche Ursprung wird von dem wahren Ursprung verneint; nicht schlechthin und in jeder Beziehung; denn der wirkliche Ursprung hat, damit er Wirklichkeit sein kann, teil an dem wahren Ursprung; er ist sein Ausdruck, aber ist auch seine Verhüllung und Entstellung.99
Die Zweideutigkeit des Ursprungs wird hier als „Spaltung“ innerhalb des Ursprungs gedacht. Der ‚Zwiespalt‘ zwischen Sein und Soll aus Klassenkampf und religiöser Sozialismus wird hier also zum einen zur ‚Zweideutigkeit‘ umgestaltet, zum anderen mittels der Rede vom Ursprung auf eine ontologische Ebene verlegt. Die sich nicht entsprechenden Anteile des Ursprungs, die Tillich mit den Begriffen ‚wirklich‘ und ‚wahr‘ einander gegenüberstellt, stehen jedoch nicht in einem symmetrischen Verhältnis zueinander. Zum einen betont Tillich das asymmetrische Verhältnis beider Ursprungselemente – das Soll wird dem Sein kategorial übergeordnet; erst in der Realisierung der Forderung nach Gerechtigkeit liegt die Erfüllung des ganzen Menschen, auch die seiner Herkunft, begründet. Auch braucht der wirkliche Ursprung den wahren, transzendenten Ursprung, um überhaupt bestehen zu können. Zum anderen stehen die beiden Ursprungselemente in einem symbolischen Verhältnis zueinander: Der wirkliche Ursprung oder die Herkunftsbindungen des Menschen sind Ausdruck eines wahren, transzendenten Ursprungs; zugleich aber seine „Verhüllung“ und „Entstellung“. Deutlich erinnern Tillichs Formulierungen an die offenbarungstheologische Einführung der zweideutigen Wirklichkeit in der Dresdener Dogmatik (vgl. II.3.3.1). Auch hier war in Zusammenhang mit der profanisierten Weltsicht von einer „Verhüllung“ die Rede und es erfolgte die Gegenüberstellung zwischen der Wirklichkeit und der Wahrheit der Wirklichkeit.100 Hier bezog sich die Metaphorik auf das Verhältnis von immanent-bedingter Wirklichkeit und dem transzendent-Unbedingten, das durch die Wirklichkeit ver- bzw. enthüllt Vgl. ebd. A.a.O., 229. 100 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, 11. 98 99
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wird. Nun verlegt Tillich diese Zweideutigkeit in die Frage nach dem Wesen des Menschen im Kontext einer existential-anthropologischen Analyse: Im Ursprung des Menschen findet sich ebenjenes asymmetrische Symbolverhältnis wieder, das Tillich zuvor als Konstruktion einer semipermeablen, profan-religiösen Wirklichkeit entfaltet hatte (vgl. II.3.3.1). Der Fokus liegt nun also nicht mehr auf der zweideutigen Wirklichkeit als ganzer, sondern es findet eine Konzentration auf die Zweideutigkeit in ihrer Bedeutung für Grundstrukturen des Menschseins statt. Zweideutigkeit wird damit zu einer ontologisch-anthropologischen Kategorie,101 mit deren Hilfe Tillich zu klären sucht, wie es zu den
101 Die beiden Stoßrichtungen der Ontologisierung und Anthropologisierung, die die Entwicklung des Zweideutigkeitsbegriffs Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre kennzeichnen, verweisen auf existenzphilosophische Einflüsse (v.a. Karl Jaspers und Martin Heidegger). Tillich selbst bezieht sich in seinem 1944 in den USA publizierten Aufsatz „Existenzphilosophie“, der dieselbe in der Neuen Welt bekannt machen sollte, explizit auf Karl Jaspers Rede vom „Ursprung“ in dessen dreibändiger Philosophie von 1932 (JASPERS, KARL, Philosophie, 3 Bde., Berlin: Springer 1932). Tillich erwähnt Jaspers Ursprungsbegriff beispielhaft für das Anliegen der Existenzphilosophie, „durch den ‚Subjekt-Objekt-Unterschied‘ durchzustoßen und jenen Bereich des Seins zu erreichen, den zum Beispiel Jaspers den ‚Ursprung‘ nennt“. Um dieses Anliegen zu verfolgen, „müssen wir die Sphäre der ‚objektiven‘ Dinge hinter uns lassen und durch die entsprechende ‚subjektive‘ innere Erfahrung des Schöpferischen oder des ‚Ursprungs‘ kommen.“ TILLICH, Existenzphilosophie (1944), in: GW IV, 145–173, hier 158. Sucht man das Jaspers-Zitat im Originaltext auf, so findet sich der Ursprungsbegriff im Zusammenhang mit der Erläuterung der ‚Existenz‘: „Existenz ist, was nie Objekt wird, Ursprung, aus dem ich denke und handle […]; Existenz ist, was sich zu sich selbst und darin zu seiner Transzendenz verhält.“ (Bd. 1, 15. Hervorhebung im Original. Tillich zitiert diesen Satz bis zur Auslassung, vgl. TILLICH, Existenzphilosophie, 158.) Existenz wird hier synonym gesetzt mit Ursprung, „zwar nicht Ursprung des Seins überhaupt, aber Ursprung für mich im Dasein“ (Bd. 1, 18). Jaspers fährt in seinen Ausführungen fort, die Seinsweise der Existenz oder das „Sein als Freiheit“ dem „Sein als Bestand“ (Bd. 1, 17. Hervorhebung im Original) gegenüberzustellen. Letzteres kennzeichnet sich durch das Sein als Objekt, als etwas, das angesehen werden kann, als erkennbares Sein. Beide Seinsweisen sind für Jaspers „faktisch so sehr in Berührung, daß die Durchführung der Scheidung für ein Bewußtsein, das gleich mögliche Existenz ist, eine unendliche Aufgabe ist, in deren Erfüllung die Erkenntnis des Weltseins und die Erhellung der Existenz in einem sich hervorbringt“ (Bd. 1, 17). Beide Seinsweisen, „sind aufeinander bezogen, aber schlechthin unvergleichlich; Sein im Sinne von Objektsein und Sein im Sinne von Freisein schließen sich aus“ (Bd. 1, 18). Jaspers denkt den „Ursprung“ also etwas anders geartet als Tillich: Zum einen setzt er lediglich die Seite der Freiheit, der ‚Existenz‘ als synonym mit dem „Ursprung“, während das ‚Sein als Bestand‘ eben gerade nicht als ‚Ursprung‘ gefasst wird. Zum zweiten diagnostiziert Jaspers zwischen Sein und Soll, so scheint es, einen größeren Graben als Tillich, der beide Kategorien unter dem Begriff des „Ursprungs“ eben durch den Begriff der Zweideutigkeit eng miteinander verschränkt. Dennoch ist ein möglicher direkter Einfluss Tillichs durch Jaspers nicht von der Hand zu weisen. Zur existenzphilosophischen bzw. anthropologischen Wende vgl. auch FRITZ, MARTIN, ‚The doctrine of man as the present approach to theology‘. Tillichs Anthropologie im Übergang von Deutsch-
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realpolitischen Entwicklungen der damaligen Zeit kommt – und wie diese zu lösen sind. Im Fortgang der Argumentation der Sozialistischen Entscheidung verknüpft Tillich seine Analyse des menschlichen Daseins mit der gegenwärtigen Lage des deutschen Sozialismus.102 Die vorgelegte Analyse setzt die Grundgedanken zur „Zweideutigkeit der sozialistischen Formen“103 aus Klassenkampf und religiöser Sozialismus von 1928, teilweise mit den identischen Beispielen, fort. Allerdings wird die hier geschilderte Zerrüttung des Sozialismus nun nicht mehr als ‚Zweideutigkeit‘, sondern als „Widerstreit“ bzw. „‚Antinomie‘, d.h. ‚Gesetzliches Gegeneinander‘“104 bezeichnet. Mit dem Verweis auf Kant grenzt Tillich „Antinomie“ als „innerer Widerstreit“ vom subjektiv-willkürlichen „Widerspruch“ ab: Ein „innerer Widerstreit ist ein solcher, der aus dem Gesetz der Sache selbst kommt.“105 Eine Antinomie kann, so Tillich, anderes als ein Widerspruch, nicht „durch eine Bewegung im Subjekt beseitigt werden“, sondern nur durch eine „Wandlung der Struktur, aus der der innere Widerstreit notwendig hervorgeht“, dadurch, dass „der Sozialismus zu einer neuen Gestalt seiner selbst kommt.“106 Diese „Wandlung der Struktur“ bzw. „neue Gestalt“ verknüpft Tillich in Die sozialistische Entscheidung mit der ‚Enthüllung‘ der Ursprungszweideutigkeit. Dies lässt sich etwa an der Antinomie des sozialistischen Glaubens beispielhaft zeigen: Ganz ähnlich dem oben dargelegten Beispiel aus Klassenkampf und religiöser Sozialismus beschreibt Tillich dabei den Sozialismus als eigenwillige Verflechtung von rationalisierter, weltimmanenter Gesellschaftsordnung und -gestaltung und transzendenter, teleologischer Vollkommenheitserwartung.107 Tillich spricht in diesem Zusammenhang von dem Glauben an einen „Sprung“, „der in keiner Weise aus der gegebenen Wirklichkeit verständlich gemacht werden kann“, weil er Glaube an „das schlechthin Neue“108 ist. Der „innere Widerstreit“ oder die Antinomie des Proletariats besteht nun darin, land in die USA, in: Danz/Schüßler, Paul Tillich im Exil, 287–321 sowie SCHÜßLER, WERTillichs ‚existentialistic turn‘. Seine Wende von der Transzendentalphilosophie zur Existenzphilosophie in der Zeit des Übergangs von Deutschland in die USA, in: a.a.O., 323– 345. 102 Die gegenwärtige Lage des Sozialismus zeigt sich vor allem in der Lage des Proletariats bestimmt. Zum Zusammenhang von Protestantismus und proletarischer Situation bei Paul Tillich vgl. LEINER, MARTIN, Protestantisme et la situation prolétarienne chez Paul Tillich et Karl Barth, in: Marc Boss/Doris Lax/Jean Richard (Hg.), Éthique sociale et socialisme religieux. Actes du XVe Colloque International Paul Tillich Toulouse 2003, Münster: Lit 2005, 17–30. 103 TILLICH, Klassenkampf und religiöser Sozialismus, 187–190. 104 TILLICH, Die sozialistische Entscheidung, 281. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Vgl. a.a.O., 283ff. 108 Ebd. NER,
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dass es seine Zukunftserwartung gezwungenermaßen als rein immanente propagiert, um nicht seitens des Bürgertums in eine vertröstende Jenseitserwartung hineingedrückt und in seiner „revolutionäre[n] Energie“109 gelähmt zu werden. Das Proletariat gerät damit aber in die verworrene Lage, alles Transzendente verneinen zu müssen, statt es zur Bekämpfung des Bürgertums zu nutzen, und zugleich das, was es eigentlich zerbrechen will – den rein immanenten Fortschrittsglauben des Bürgertums – zu bejahen.110 Diese Lage, die aus dem Widerstreit resultiert, bezeichnet Tillich dann auch wieder als „Zweideutigkeit“111. ‚Zweideutigkeit‘ benennt hier also tatsächlich keinen Widerstreit, sondern einen Widerspruch, der durch eine „klare[] Entscheidung“112, also die schon im Titel geforderte sozialistische Entscheidung, überwunden werden kann. Die Wandlung der Struktur, die – als Voraussetzung für die Entscheidung – mit Tillichs Schrift als literarische ‚Enthüllung‘ vorliegt, erfolgt durch die Erkenntnis, dass der Sprung als Erwartung des radikal Neuen bereits Teil des eigenen menschlichen Ursprungs ist. Der sozialistische Glaube – etwa an die klassenlose Gesellschaft – wird also nicht als zum rationalen Wirklichkeitsverständnis entgegengesetzt gedacht, sondern als Überschreitung desselben, als der ‚wahre Ursprung‘, der den ‚wirklichen Ursprung‘ verneinen muss, um ihn zu erfüllen.113 Das Proletariat wird mit dieser Erkenntnis in die Lage versetzt, die eigene Enderwartung nicht als „Antinomie“ zum eigenen rationalen Weltverständnis, sondern als die im eigenen Ursprung begriffene Überschreitung desselben zu begreifen.114 Die ‚Lösung‘ und Neuaufstellung des Sozialismus, die Tillich in seiner Schrift zu eröffnen sucht, basiert also letztlich darauf, dass das Menschsein in seiner Zweideutigkeit, seinem Stehen zwischen Vorfindlichkeit und Forderung, zwischen status quo und Transzendierung des status quo verstanden wird, und dass die unentrinnbare Bezogenheit beider Größen aufeinander und deren zweideutiges Verhältnis als Wesen des Menschen durchschaut wird. Erst dann verstrickt sich der Mensch nicht in Widersprüche, sondern versteht, dass die Verneinung der Herkunftsbindungen in dialektischer Aufhebung auch deren Erfüllung darstellt.115 In Die Sozialistische Entscheidung vollzieht Tillich bezüglich der Zweideutigkeit zwei entscheidende Schritte: Erstens verlegt er die anthropologische
A.a.O., 284. Vgl. a.a.O., 282–285. 111 A.a.O., 283. 112 Ebd. 113 Vgl. a.a.O., 309ff. 114 Vgl. a.a.O., 335. 115 Die höchst problematische realpolitische Konsequenz ist, dass Tillich für eine Fusion zwischen sozialistischen Kräften und dem linken Flügel der NSDAP, dem sog. Grasserflügel, plädiert. Vgl. a.a.O., 334. 109 110
4.2 Anthropologische Zuspitzung
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Begründungsfigur von Sein und Soll, die bereits in Klassenkampf und religiöser Sozialismus zu finden war, auf eine ontologische Ursprungsebene vor und verbindet sie mit dem Begriff ‚Zweideutigkeit‘. Diese Zweideutigkeit wird als eine in sich gespaltene Einheit gedacht, die asymmetrisch strukturiert und durch ein Symbolverhältnis gekennzeichnet ist. Innerhalb dieses Symbolverhältnisses sind verschiedene Beziehungen zwischen den Elementen – „wirklicher“ und „wahrer“ Ursprung (Sein und Soll) – möglich: Ersterer kann letzteren „verhüllen“ oder „entstellen“ (was einer Profanisierung oder Dämonisierung gleichkäme), oder er kann ihn durch Selbstverneinung zur Darstellung bringen (Transparenzverhältnis; an anderen Stellen als ‚Eindeutigkeit‘ gefasst). Hier werden also erneut die verschiedenen religiösen Optionen, die schon in der Dresdener Dogmatik entfaltet wurden, aufgerufen und – und das ist die zweite entscheidende Verschiebung – auf realgeschichtliche Größen bezogen. Die Figur des zweideutigen Ursprungs scheint hier als ‚Antwortversuch‘ auf die politisch-verworrenen Verhältnisse von Tillichs Zeit zu fungieren und die fortschreitende Polarisierung der Gesellschaft zwischen nationalsozialistischen, liberal-demokratischen und sozialistischen Kräften erklären und, zumindest partiell, auflösen zu wollen. Tillich liefert für die politisch gegensätzlichen Kräfte seiner Zeit eine – durchaus zweifelhafte – Begründung mit der anthropologisch-ontologischen Figur der Ursprungszweideutigkeit. Diese ist letztlich auf eine Überwindung ihrer inneren Spaltung angelegt und nimmt damit die Funktion einer Versöhnungsfigur ein. Tillich hat, so muss man allerdings anmerken, mit seiner Schrift Die sozialistische Entscheidung vor allem gezeigt, wie durchlässig die vermeintlichen politischen Fronten damals waren und wie uneindeutig die Positionierung seitens vieler Zeitgenossinnen und Zeitgenossen – eingeschlossen Tillichs selbst. Auch er operiert in Die sozialistische Entscheidung mit Begriffen, Argumentationsmustern und Forderungen, die zumindest aus heutiger Perspektive als sehr problematisch einzuschätzen sind und eine klare (politische) Einordnung der Schrift erschweren. Der Begriff der Zweideutigkeit, so viel kann aber abschließend festgehalten werden, antwortet hier auf eine völlig andere Fragestellung, als dies in der Dresdener Dogmatik der Fall war: Statt auf die Frage nach der Möglichkeit religiöser Erfahrung in der modernen, naturwissenschaftlich geprägten Welt zu reagieren (vgl. II.3.3.1) oder die Art theologischer Wissenschaftlichkeit zu rechtfertigen (vgl. II.3.3.2), dominiert hier die Auseinandersetzung mit realpolitischen Herausforderungen.116 Im Zuge dieser Verschiebung wird die Zweideutigkeit weiter als Grundstruktur des menschlichen Daseins etabliert.
116 Zur Sozialistischen Entscheidung als Tillichs Antwort auf den Nationalsozialismus, vgl. auch ATCHADÉ, Philosophie der Macht, 173–176.
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
4.3 Dogmatische Fortschreibung. Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse 4.3 Dogmatische Fortschreibung
Nachdem bisher die Entwicklung des Zweideutigkeitsbegriffs in den kulturtheologischen Schriften sowie in den dezidiert politischen Schriften Paul Tillichs nachgezeichnet wurde, sollen nun die dogmatischen Arbeiten, die sich an die Dresdener Vorlesung 1925–1927 anschließen, in den Blick genommen werden. Mit Unterbrechungen arbeitet Tillich in den Jahren vor dem Exil, wie auch danach, ständig an der Ausarbeitung eines dogmatischen Entwurfs, sei es in Vorlesungen, Vorträgen oder Verlagsmanuskripten. Eine Schwierigkeit der Textinterpretation liegt dabei darin, dass gewisse Motive beständig mitgeführt werden, allerdings unter veränderten Grundparadigmen sowie teilweise veränderlichen Begrifflichkeiten. Diesen in der Regel sehr fließend sich vollziehenden und schwer greifbaren Veränderungen unterliegt auch der Zweideutigkeitsbegriff. Aufgrund der Fülle des vorhandenen Materials sowie der Zwischenstellung des vorliegenden Kapitels soll sich daher auf die wichtigsten Verschiebungen in wenigen zentralen Texten begrenzt werden. Dies sind zunächst die Vorlesungen beziehungsweise Verlagsmanuskripte Das System der religiösen Erkenntnis sowie Die Gestalt der religiösen Erkenntnis aus den Jahren 1927 und 1928 der Dresdener Zeit; dann der mehrsemestrige Vorlesungszyklus Advanced Problems in Systematic Theology, den Tillich in den Jahren 1936 bis 1938 erstmalig am Union Theological Seminary gehalten und dann mehrfach wiederholt hat sowie die sogenannten Berliner Vorlesungen zu Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse (1952) und Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse (1958), die direkte Vorarbeiten zu dem zweiten und dritten Band der Systematischen Theologie darstellen. a) Das System und die Gestalt religiöser Erkenntnis (1927–29) Am Anfang der Reihe der dogmatischen Entwürfe, die auf die Dresdener Dogmatik folgen, stehen zwei Fortschreibungen, die örtlich wie chronologisch noch im unmittelbaren Kontext der Vorlesung stehen: Zunächst hält Tillich im Wintersemester 1927/28 in Leipzig und ebenfalls in Dresden eine Vorlesung mit dem Titel Das System der religiösen Erkenntnis, beruhend auf einem gleichnamigen Buchmanuskript, das vermutlich für die Veröffentlichung im Otto Reichl Verlag Darmstadt bestimmt war.117 Das Buchprojekt wurde allerdings nie verwirklicht; stattdessen versandte der Verlag im Jahr 1929 eine Ankündigung, in der Tillichs Werk unter dem Titel Die Gestalt der religiösen Erkenntnis aufgeführt wurde.118 Während das System zwar unvollständig, aber dennoch in ausformulierter Form – und noch dazu in einem ungewöhnlich 117 118
Vgl. TILLICH, System religiöser Erkenntnis, in: EW XI, 76–174. Vgl. die Einführung der Herausgeber in EW XI, 77.
4.3 Dogmatische Fortschreibung
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‚wissenschaftlichen‘ Stil mit verhältnismäßig vielen Anmerkungen119 – vorliegt, ist Die Gestalt der religiösen Erkenntnis nur als Gliederung in 171 Lehrsätzen vorhanden, von denen lediglich die einleitenden Worte des ersten Paragraphen ausgeführt wurden.120 Gegenüber der Dresdener Dogmatik lassen sich jedoch bereits in diesen fragmentarischen Textmanuskripten entscheidende Entwicklungen feststellen. Zunächst fällt auf, dass der Begriff der Erkenntnis, der in der Dresdener Dogmatik lediglich als Teil der Prolegomena verhandelt wurde,121 in den Fortschreibungen zu einem Leitbegriff avanciert, während der Begriff ‚Dogmatik‘ verschwindet. Diese Hinwendung zur Erkenntnis begründet Tillich in der zweiten Version des Systems der religiösen Erkenntnis zunächst negativ: Er plädiert hier für eine Distanzierung von der Verbindlichkeit kirchlicher Dogmen, die, so sein Argument, im Dogmatikbegriff keinen Ausdruck finde.122 Den Titel ‚Glaubenslehre‘ hingegen verwirft er mit der Begründung einer damit einhergehenden missgeleiteten Fokussierung, nämlich auf die „subjektive Seite der religiösen Wirklichkeit […] statt auf die im religiösen Meinen gegebenen Gegenstände, auf die es ankommt.“123 ‚Systematische Theologie‘, so der Titel seines späteren Hauptwerks, klingt ihm hier noch zu sehr „nach dem akademischen Betrieb der Theologischen Fakultäten.“124 Also: „Religiöse Erkenntnis“, und zwar im Sinne von „Erkenntnisinhalten“ oder „Gegenstand der religiösen Erkenntnis“125, wie bereits in der Gliederung ersichtlich wird. Mit der Änderung des Titels hebt Tillich also zum einen das religiöse Subjekt in seiner Bedeutung für religiöse Vollzüge hervor – vermutlich hier im Gegenüber zur institutionalisierten Dogmenbildung, welche die Absage an den Dogmatikbegriff zur Folge hatte.126 Zugleich aber hebt er den unerlässlichen Gegenstandsbezug aller religiösen Vollzüge hervor, nämlich insofern, als der religiöse Akt nicht ein „reines Schwingen“127 darstelle, sondern sich immer auf etwas richte und beziehe. Dieses etwas, diesen „Akt-Gegenstand“128 will Tillich jedoch nicht im
Vgl. a.a.O., 76. Vgl. TILLICH, Gestalt religiöser Erkenntnis, in: EW XIV, 393–440. 121 Dies geschieht hauptsächlich in §18 in Zusammenhang mit dem Charakter der Dogmatik als Wissenschaft, vgl. a.a.O., 86–90. 122 Vgl. TILLICH, System religiöser Erkenntnis, 116f. 123 A.a.O., 117. 124 Ebd. 125 TILLICH, Dogmatik-Vorlesung, XXXIII. 126 So schreibt Tillich: „Der Nichtgebrauch des Namens Dogmatik soll besagen, daß die unmittelbare Bindung der theologischen Arbeit an das kirchliche Dogma nicht mehr wirklich ist und darum auch im Namen keinen notwendig irreführenden – Ausdruck findet.“ TILLICH, System religiöser Erkenntnis, 117. 127 A.a.O., 127, Fn. 21. Tillich verwendet diese Formulierung allerdings in einer später gestrichenen Passage der Erläuterung. 128 Ebd. 119 120
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Sinne eines Objekts verstanden wissen, sondern als das Unbedingte, das jede Gegenständlichkeit transzendiert.129 Dann beginnt das System religiöser Erkenntnis, anders als die Dresdener Dogmatik, mit einer ausführlichen ontologischen Analyse menschlichen Seins, die in ihren Grundzügen an Klassenkampf und religiöser Sozialismus von 1928 erinnert (vgl. II.4.2). Deutlich ist hier die Verschiebung hin zu einer existentialanthropologischen Grundlegung der Theologie spürbar, die in der Gestalt der religiösen Erkenntnis weiter ausgearbeitet wird und die im vorliegenden Kapitel bereits diskutiert wurde. Schließlich wachsen die Prolegomena gegenüber der Dogmatik-Vorlesung deutlich an, während in der Materialdogmatik ein zweiteiliges Schema (Schöpfung und Erlösung) vorliegt statt noch wie in der Dresdener Dogmatik ein dreiteiliges (Schöpfung, Erlösung und Vollendung). Deutlich wird an den genannten Verschiebungen, dass sich Tillichs Systembildung hier in einer außerordentlich produktiven Phase befindet, ständig neue Entwürfe publiziert und wieder verworfen werden und neue Theoriebildungen – etwa Das religiöse Symbol von 1928130 sowie die allmählich sich durchsetzende Grundlagenfunktion der Anthropologie – sich in den Entwürfen niederschlagen. Für die Entwicklung des Zweideutigkeitsbegriffs lässt sich aus der Lektüre des Systems der religiösen Erkenntnis kaum schöpfen, was in erster Linie dem fragmentarischen Charakter des Manuskripts geschuldet ist. So finden sich lediglich die Paragrafen §§1–27 ausformuliert wieder und für alles Weitere fehlt leider auch die avisierte Gliederung. Allerdings lässt auch das Fehlen des Zweideutigkeitsbegriffs in diesen einleitenden Paragrafen einige wichtige Schlüsse zu: Erstens findet sich hier ‚Zweideutigkeit‘ rein terminologisch noch nicht in der anthropologischen Grundlegung des Systems. Ähnlich wie in dem politischen Vortrag Klassenkampf und religiöser Sozialismus (1928) bestimmt Tillich in der ersten Version seines Manuskripts den Menschen als Sein, das sich von sich selbst losreißt, als „Erhebung des Seins über sich selbst, [als] die Brechung des Seins durch den Sinn“131. Auch hier fallen, ähnlich dem im Jahr zuvor formulierten Vortrag, Begriffe wie „Freiheit“, „Bedrohtheit“, „NichtSein“ und „Sicherung“ gegenüber der Möglichkeit des Nicht-Seins. Auch hier fehlt im Zusammenhang mit dieser Beschreibung menschlichen Seins als ein in sich gespaltenes der Zweideutigkeitsbegriff, der sich nur wenige Jahre später in Die sozialistische Entscheidung (1933) bereits an ebendieser Stelle finden wird (vgl. II.4.2). Ebenso aber fehlt der Begriff bei der Beschreibung derjenigen Struktur, die noch in der Offenbarungslehre der Dresdener Dogmatik als ‚zweideutig‘ bezeichnet worden war: der Wirklichkeit zwischen Selbstbezüglichkeit und Vgl. a.a.O., 129f. TILLICH, Das religiöse Symbol (1928), in: GW V, 196–212. 131 TILLICH, System religiöser Erkenntnis, 83. 129 130
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Transzendenzhinweis (vgl. II.3.3.1). Stattdessen heißt es nun im Manuskript des Systems an entsprechender Stelle: So haben wir also das Doppelurteil, daß das Letztgemeinte des religiösen Aktes jeden Inhalt transcendiert, daß es aber zugleich aus der Gesamtheit möglicher Akte die inhaltliche Bestimmung finden muß, ohne die es überhaupt nicht gemeint werden kann. – Es ist schwer, für diese[s] einmalige Verhältnis einen Begriff zu finden, der der Sache völlig angemessen ist. Aber der Begriff des Hinweises drückt zu wenig das positive Verhältnis zwischen den religiösen Inhalten und dem Letztgemeinten aus.132
Deutlich wird in diesen Worten Tillichs Ringen um eine angemessene begriffliche Fassung des Symbolverhältnisses greifbar. So fährt er fort, verschiedene mögliche Begrifflichkeiten zu erörtern – „Symbol“, „Vertretung“, „Zeichen“ – , um schließlich die grundlegende Schwierigkeit religiöser Begrifflichkeiten zu thematisieren: Die Vorstellungen und Begriffe, die verwendet werden, stellen keinen Gegenstand vor, greifen keine Sache […] Je schärfer sie begrifflich ausgeformt werden, desto deutlicher wird der innere Widerspruch, der jedem echten religiösen Begriff anhaftet, das Paradoxon, das nicht auflösbar ist.133
Tillich umkreist hier mit Begriffen wie ‚Doppelurteil‘, ‚innerer Widerspruch‘ und ‚Paradoxon‘ den Sachverhalt, dass das Letztgemeinte sich nicht anders Ausdruck verschaffen kann als in endlichen Gegenständen, Begriffen und Vorstellungen, die jedoch das Letztgemeinte niemals fassen können. Obwohl an dieser Stelle manche Formulierungen an die Dresdener Dogmatik erinnern, fällt der Zweideutigkeitsbegriff nicht, oder anders gesagt: die ‚Zweideutigkeit‘ wird nun nicht mehr verwendet, um das Symbolverhältnis zwischen Wirklichkeit und Letztgemeintem zu vermitteln.134 Zugleich aber wird der Zweideutigkeitsbegriff noch nicht verwendet, um in der ontologisch-existentialen Analyse des Menschen den Zwiespalt zwischen Sein und Freiheit zu beschreiben, wie dies nur einige Jahre später in Die sozialistische Entscheidung geschieht. Stattdessen findet sich der Begriff, blickt man in die Lehrsätze der Gestalt der religiösen Erkenntnis, im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Wesensmäßigem und Wesenswidrigem, oder Schöpfung und Sünde, das bereits in der Dogmatik-Vorlesung als letzte Bestimmung von ‚Zweideutigkeit‘ auftauchte (vgl. II.3.3.4).135 Auch die bekannten Schwierigkeiten aus der Dresdener Dog-
A.a.O., 129f. A.a.O., 131. 134 Gleiches gilt für „Die Gestalt der religiösen Erkenntnis“; hier ist in demselben Zusammenhang von der „Doppelrichtung der religiösen Erkenntnis auf das Seiende und das Jenseits des Seins“ die Rede, siehe TILLICH, Gestalt religiöser Erkenntnis, 412. 135 Vgl. TILLICH, Gestalt religiöser Erkenntnis, 420–428. Ebenso wird auch hier die Frage nach der Aufhebung der Zweideutigkeit gestellt, die auch in der Dresdener Dogmatik thematisiert wurde vgl. II.3.3.5. 132 133
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matik bleiben bestehen: Legt noch die in der Überschrift eingeführte „Zweideutigkeit des Kreatürlichen“ mit dem Untertitel „Das Schöpferische und das Dämonische“136 nahe, der Begriff beziehe sich hier auf die Verbindung von schöpferischen und dämonischen Elementen in der Kreatur, wird im ersten Paragraphen des entsprechenden Teils das Dämonische selbst als Verbindung von Schöpferischem und Wesenswidrigem beschrieben, die „immer zugleich tragenden und auflösenden, formenden und formzerstörenden, göttlichen und widergöttlichen Charakter hat“.137 Die dualen Aufzählungen, die hier deutlich an die Charakterisierung der Technik als ‚zweideutig‘ erinnern (vgl. II.4.1), geben Anlass zur Annahme, ‚Zweideutigkeit‘ bezeichne hier eben nicht die Verbindung von Schöpfung und Dämonie wie in der Überschrift angedeutet, sondern fungiere vielmehr als eine Umschreibung für das Dämonische selbst. Es scheint an dieser Stelle müßig, eine Klärung der genaueren inhaltlichen Bestimmung herbeiführen zu wollen – zu knapp sind hier Tillichs Ausführungen, zu sehr im Fluss die Begriffsverwendung zwischen Schöpfung, Dämonie und Wesenswidrigkeit, oder aber zu willkürlich die Platzierung des Begriffs. Gleichwohl lässt sich eine gewisse Kontinuität zur Dresdener Dogmatik insofern festhalten, als ja auch dort die Verortung schwankte zwischen der Zweideutigkeit als Alternativbegriff für die Sünde, der Zweideutigkeit als ein Strukturbegriff für das Ineinander von Schöpfung und Sünde und einer Beschreibung für das Dämonische (vgl. II.3.3.3 und II.3.3.4). Es bleibt also nun zu sehen, ob und in welche Richtung sich diese uneindeutige Begriffsverwendung im weiteren Verlauf von Tillichs dogmatischer Entwicklung auflöst. b) Advanced Problems in Systematic Theology (1936–38) Zwischen den dogmatischen Vorlesungen in Dresden beziehungsweise den Veröffentlichungsansätzen in Frankfurt und der Vorlesung Advanced Problems in Systematic Theology liegt im wahrsten Sinne des Wortes ein Ozean: Im November 1933 emigriert der 47-jährige Paul Tillich, zu diesem Zeitpunkt Ordinarius in Frankfurt, mit seiner Frau und der kleinen Tochter in die Vereinigten Staaten. Er, der kaum Englischkenntnisse besitzt, verlässt damit nicht nur seine Heimat, Sprache und einen immensen Freundes- und Kollegenkreis, sondern auch den geistesgeschichtlichen Kontext, in dem seine Theologie entstanden und gewachsen war.138 Obwohl dieser biographische Einschnitt in seiner A.a.O., 420. A.a.O., 421. 138 Vgl. G RUBE, D IRK-M ARTIN, Tillich und die anglo-amerikanische Philosophie. Seine Auseinandersetzung mit dem Erfahrungsbegriff, in: Ders., Offenbarung, absolute Wahrheit und interreligiöser Dialog (Tillich-Studien 14), Berlin/Boston: De Gruyter 2019, 175–203 sowie STENGER, MARY ANN, Tillich’s American Theology on the Boundary between Native and Alien, in: Danz/Schüßler, Paul Tillich im Exil, 229–249 und PARRELLA, FREDERICK J., Tillich and American Theology, in: a.a.O., 251–263. Zur Ausbürgerung der Familie Tillich 136 137
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Erschütterung nicht zu unterschätzen ist, lähmt er Tillichs Produktivität ganz und gar nicht. Die kollegiale Aufnahme im Professorenkreis des Union Theological Seminary sowie die berufliche Einbettung in einen akademischen Kontext ermöglichen es Tillich – wenngleich mit erheblichen finanziellen und sozialen Hindernissen –, seine Arbeit fortzusetzen. Zugleich bringt die Anstellung am Union auch eine Rückkehr zu dogmatischen Themen: Tägliche Andachten, die regelmäßige Teilnahme am Sonntagsgottesdienst sowie klassische Dogmatik-Vorlesungen stehen – im größtmöglichen Unterschied zum Frankfurter Milieu – nun auf Tillichs Agenda.139 So fällt in den Beginn seiner akademischen Tätigkeit in den Vereinigten Staaten auch der viersemestrige Vorlesungszyklus Advanced Problems in Systematic Theology.140 In einem Brief an den Freund Hermann Schafft kündigt Tillich im Jahr 1934 die Vorbereitung einer „‚historisch-existenziellen Dogmatik‘“141 an, für die er mit seinen aktuellen Vorlesungen bereits Material sammle. Die Advanced Problems können als Entwurf dieser Dogmatik gelten – Tillich liest sie bis in die 1950er Jahre hinein immer wieder, überarbeitet, fügt hinzu, stellt um, so dass sich die Vorlesungen immer weiter in Richtung seines Opus Magnum, der Systematic Theology (1951–1963),142 entwickeln. Zu Beginn der Vorlesungen 1936/37 liegt noch ein vierteiliger Aufbau vor: Dem ersten Teil Revelation and Reason folgen God and the World, Christology and Human Existence sowie The Kingdom of God and History143. Es fällt auf, dass die ‚Methode der Korrelation‘144 im berühmt gewordenen ‚Frage‘-‚Antwort‘-Schema hier bereits Anwendung findet, allerdings noch in umgekehrter vgl. GRAF, FRIEDRICH WILHELM, Die Ausbürgerung Paul Tillichs und seiner Familie im Jahr 1939, in: Christian Danz u.a., Theology and Natural Science (International yearbook for Tillich research 7), Berlin/Boston: De Gruyter 2012, 255–282. 139 Vgl. G RAF, ‚Old harmony‘?, 372. 140 Vgl. auch STURM, ERDMANN, Tillichs New Yorker Vorlesungszyklus ‚Advanced Problems in Systematic Theology‘ (1936–1938), in: Danz/Schüßler, Paul Tillich im Exil, 267–286. 141 Vgl. Tillichs Brief an Hermann Schafft vom 14.9.1934, in: GW VI, 228. 142 TILLICH, Systematic Theology I–III, Chicago 1951–63. Im Folgenden wird, soweit für die inhaltliche Ausrichtung nicht relevant, aus der deutschen Übersetzung zitiert, die ab 1955 in der Evangelischen Verlagsanstalt Stuttgart, ab 1958 bei De Gruyter erscheint, vgl. TILLICH, PAUL, Systematische Theologie I–III, Berlin/New York: De Gruyter 4 bzw. 81987. Das englische Original wird immer dann herangezogen, wenn die Abweichungen zwischen Original und Übersetzung für die vorliegende Thematik von Belang sind. 143 Das dreiteilige Schema der Dresdener Dogmatik von ‚Schöpfung‘, ‚Erlösung‘ und ‚Vollendung‘ entspricht den drei Teilen Gott und die Welt, Christologie und menschliche Existenz, Reich Gottes und Geschichte [Übersetzung der Vfin.]. 144 Vgl. zur ‚Methode der Korrelation‘ STURM, ERDMANN, Auf dem Weg zur Methode der Korrelation. Tillichs New Yorker Vorlesungszyklus Advanced Problems in Systematic Theology (1936–38), in: Christian Danz u.a. (Hg.), The Method of Correlation (International yearbook for Tillich research 12), Berlin: De Gruyter 2017, 45–65; außerdem CLAYTON,
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Reihenfolge – die Antwort wird jeweils der Frage vorangestellt. Erst im akademischen Jahr 1938/1939 ändert Tillich die Reihenfolge zu der aus der Systematischen Theologie bekannten Version,145 ohne allerdings davon abzulassen, dass auch hier die Frage die Antwort bereits voraussetzt. Des weiteren sticht bei der Sichtung des Aufbaus ins Auge, dass der spätere Teil IV der Systematischen Theologie, nämlich Life and the Spirit, in der Urfassung der Vorlesung noch fehlt, und damit genau der Teil, in dem die Zweideutigkeit zum Grundbegriff ausgebaut wird. Tillich wird diesen Teil erst 1940/41 hinzufügen.146 Gleichwohl findet die Zweideutigkeit auch in den frühen Versionen der Advanced Problems Verwendung – allerdings nun im Gewand des englischen Terminus ‚ambiguity‘. Mit dieser Anmerkung ist zugleich eine ganz grundsätzliche Problematik verbunden, nämlich die der Übersetzung von Tillichs Schriften: Mit seiner Emigration in der Lebensmitte tritt Tillich sehr spät in einen für ihn weitgehend unbekannten Sprachraum ein. Mit unermüdlicher Energie erarbeitet er sich die fremden Begrifflichkeiten, hält Vorträge, liest und schreibt in der neuen Sprache. Die meisten seiner Manuskripte erscheinen ab dem Zeitpunkt der Emigration zuerst in Englisch und werden anschließend, oft mit einiger Verzögerung, ins Deutsche zurückübersetzt. Wenn auch natürlich jede Übersetzung vor dem unüberwindbaren Problem steht, den Text durch das Hinüberführen in eine andere Sprache unfreiwillig abzuwandeln und gegebenenfalls auch seinen Inhalt zumindest geringfügig zu verändern, ist dies umso mehr der Fall, wenn der Autor plötzlich selbst in einer anderen Sprache schreibt, für die er noch wenig Gefühl besitzt. Es gilt also gerade hier, auch
JOHN POWELL, The Concept of Correlation. Paul Tillich and the Possibility of a Mediating Theology, Berlin/New York: De Gruyter 1980; DERS., Was heißt ‚Korrelation‘ bei Paul Tillich?, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 20 (1978), 175–191; DERS. Was ist falsch in der Korrelationstheologie?, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 16 (1974), 93–111 sowie GALLES, PAUL, Situation und Botschaft. Die soteriologische Vermittlung von Anthropologie und Christologie in den offenen Denkformen von Paul Tillich und Walter Kasper (Tillich Studien 3), Berlin/Boston: De Gruyter 2012 sowie GRUBE, DIRKMARTIN, Kontextinvariante Wahrheit in geschichtlicher Vermittlung? Eine Analyse von Tillichs Methode der Korrelation, in: Ders., Offenbarung, absolute Wahrheit und interreligiöser Dialog. Studien zur Theologie Paul Tillichs (Tillich research 14), Berlin: De Gruyter 2019, 157–174 und DE JONG, MARIJN/SCHMIEDEL, ULRICH, Compromised Correlation? Experience in Paul Tillich’s Concept of Correlation, in: Russel Re Manning/Samuel Shearn (Hg.), Returning to Tillich. Theology and Legacy in Transition (Tillich Research 13), Berlin/Boston: De Gruyter 2018, 41–51. Vgl. auch die Beiträge des Sammelbands von DANZ, CHRISTIAN u.a. (Hg.), The Method of Correlation (International yearbook for Tillich Research 12), Berlin/Boston: De Gruyter 2017. 145 Vgl. TILLICH, Advanced Problems, XIIIf. 146 Ebd.
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möglichen Bedeutungsverschiebungen durch Übersetzung auf der Spur zu bleiben.147 So fällt in den Vorlesungen über die Advanced Problems etwa auf, dass Tillich mehrfach eine kurze Erläuterung einfügt, wann immer er den Terminus ‚ambiguous‘ verwendet.148 So etwa relativ zu Beginn der Vorlesung, wenn er im Offenbarungskapitel über den ambigen Charakter von Orakelsprüchen spricht und damit an die aristotelische Tradition anknüpft (vgl. I.1): Therefore it has not the character of a report about the coming, but an ambiguous character of threat and promise; ambiguous means that it never is independent of interpretation; and the interpretation is depended on the character; and the character is decisive for the future. This ambiguity expressed in Heraclit about Delphi, in Macbeth and the witches.149
Der ambige Charakter des Orakels wird hier dadurch beschrieben, dass der Ausspruch nie von der Interpretation der Rezipientin oder des Rezipienten unabhängig ist, die wiederum jedoch mit dem Charakter des zu interpretierenden Gegenstandes beziehungsweise Ausspruchs zusammenhängt. Im Spruch des Orakels selbst liegt also eine Zweiseitigkeit (vgl. die Definition der Zweideutigkeit in II.3.3.2), die je nach Empfängerin oder Empfänger des Spruchs verschieden ausgelegt wird. Damit stellt Tillich ‚ambiguous‘ an dieser Stelle als (begrenzte) Deutungsoffenheit vor, die jedoch an ihren Gegenstand ontologisch rückgebunden bleibt. Im weiteren Verlauf der Vorlesung finden sich die Termini ‚ambiguous‘/‘ambiguity‘ auch in dieser Vorlesung in der schon in der Dresdener Dogmatik vorfindbaren Vielzahl unterschiedlicher Zusammenhänge. Besonders hervorzuheben ist der Beleg in der Offenbarungslehre: Hier spricht Tillich von der „double theonomy“ als „ambiguous towards the divine and demonic as well as towards holy and secular“150 und nimmt damit Bezug auf die beiden
Explizit äußert sich Tillich erst später zu der Übersetzungsthematik. In der deutschen Übersetzung der Systematischen Theologie weist etwa eine Fußnote der Herausgeberinnen darauf hin, dass der englische Begriff ‚ambiguity‘ die „grundsätzliche und bleibende Problematik einer Sache [mehr betone] als das deutsche Wort ‚Zweideutigkeit‘“, vgl. TILLICH, Systematische Theologie III, 42, Fn. 1. Dieser grundsätzliche Charakter wird von Tillich selbst in ähnlicher Weise in seiner Berliner Vorlesung Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse (1952) hervorgehoben, wenn er dem deutschen Ausdruck „Zweideutigkeit des Lebens“ einen banalen Beiklang attestiert, „als ob es sich um Zweideutigkeiten handelte, die man im Leben findet neben anderen Dingen“, vgl. TILLICH, Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse (1952), in: EW XVI, 169–334, hier 301. Gegenüber diesem Eindruck betont er die Zweideutigkeit „als ein Charakteristikum von Leben als Leben“ (ebd.), deren Bedeutung in verschiedenen Beziehungen zu erörtern sei. 148 Vgl. TILLICH, Advanced Problems, etwa 103.167. 149 A.a.O., 25. 150 A.a.O., 60. 147
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Konstellationen von Zweideutigkeit, die in der Dresdener Dogmatik in den offenbarungstheologischen Prolegomena entfaltet wurden (vgl. II.3.3.1). Allerdings finden sie sich hier bereits zusammengeführt als doppelte Ambiguität der Religion und gemeinsam mit den Begriffspaaren ‚göttlich‘/‚dämonisch‘ und ‚heilig‘/‘profan‘, die auch in der Systematischen Theologie in diesem Zusammenhang fallen.151 Dabei treten die verschiedenen Funktionsweisen (reziprok, monodirektional, etc.), die Tillich noch in der Dresdener Dogmatik betonte, zurück. Beide Abwege werden hier gleichwertig und gleichrangig nebeneinandergestellt. In der Sündenlehre der Advanced Problems ist dann von der „ambiguity of the demonic“152 die Rede, die aus den soeben besprochenen Vorlesungen bereits bekannt ist. Schließlich findet sich die ‚ambiguity‘ auch im Zusammenhang mit der Rede von Essential- und Existenzialstrukturen des Seins. Hier wird sie in einem Zug mit ‚possibility‘, ‚daring‘, ‚venture‘ genannt153; auch wird Erlösung als „overcoming of the ambiguity of the original situation“154 gedeutet. Tillich führt also die unterschiedlichen Zweideutigkeitsbegriffe der Dresdener Dogmatik unter dem Banner der ‚ambiguity‘ fort – allerdings werden sie in den Advanced Problems weder weitergehend expliziert noch weiterentwickelt oder ausgebaut. Anders sieht die Sachlage jedoch ab den 1940er Jahren und insbesondere den 1950er Jahren aus, wenn Tillich sich dezidiert mit der Vorbereitung auf den dritten Band seiner Systematischen Theologie beschäftigt. Für diese Phase sollen beispielhaft zwei Vorlesungen – gehalten wieder auf deutschem Boden – herangezogen werden. c) Berliner Vorlesungen 1952 und 1958 In den Jahren 1951, 1952 und 1958 folgt Tillich einer Einladung als Gastprofessor an die Freie Universität Berlin und hält in diesem Zusammenhang die Vorlesungen Ontologie (1951), Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse (1952) und die Kurzvorlesung Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse (1958).155 Alle drei Vorlesungen stehen im Kontext der Vorarbeiten beziehungsweise der Abfassung von Tillichs dreibändigem 151 TILLICH, Systematische Theologie III, 120: „Im Gegensatz zu den anderen Bereichen ist die Zweideutigkeit der Selbst-Transzendierung im Bereich der Religion eine doppelte. Es ist erstens die schon besprochene Zweideutigkeit der Größe, die ein universales Charakteristikum alles Lebens ist und die in der Religion als die ‚Zweideutigkeit von Heiligem und Profanem‘ erscheint; und es ist zweitens die ‚Zweideutigkeit von Göttlichem und Dämonischem‘. Man kann sagen, daß sich die Religion immer zwischen den zwei Gefahrenpunkten – Profanisierung und Dämonisierung – bewegt.“ 152 TILLICH, Advanced Problems, 184. 153 A.a.O., 146. Einige Seiten später (155) fällt der Verweis auf Böhme und Schelling, allerdings ohne den Ambiguitybegriff. 154 A.a.O., 203. 155 Vgl. TILLICH, Berliner Vorlesungen III [= EW XVI], 1–168.169–334.335–409.
4.3 Dogmatische Fortschreibung
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Hauptwerk der Systematischen Theologie, die zeitgleich erfolgt. Gerade in Bezug auf den Begriff der Zweideutigkeit, auf den in den Vorlesungen von 1952 und 1958 näher eingegangen wird, lassen sich anhand der Manuskripte wichtige Entwicklungen nachzeichnen, die schließlich in die Systematische Theologie Eingang finden: Die erste entscheidende Veränderung, die in beiden Vorlesungen festzustellen ist, ist die allmähliche Systematisierung des Zweideutigkeitsbegriffs, die mit der Erhebung zu einem „universalen Begriff“156 einhergeht. Die Systematisierung erfolgt dabei mittels einer abstrakten Definition von ‚Zweideutigkeit‘ als einer Grundstruktur und einer darauffolgenden Konkretisierung verschiedener ‚Zweideutigkeiten‘, die bisherige Beispiele von Zweideutigkeit (etwa die der Technik) integriert und ihnen innerhalb der Systematik einen bestimmten Ort zuweist.157 Zweitens wird die Etablierung der Zweideutigkeit als Charakteristikum des Lebens mit bestimmten Analysen des Zeitgeschehens zusammengeführt, die erkennen lassen, dass Tillich die ontologische Fassung des Begriffs mit einer kulturkritischen Funktion kombiniert.158 Drittens wird Zweideutigkeit erstmals explizit als eine Grundfrage menschlicher Existenz formuliert, auf die die christliche Botschaft Antwort geben kann und muss.159 Mit diesen drei Neuerungen sind diejenigen Punkte benannt, die in der Systematischen Theologie zu ihrer vollständigen Ausgestaltung gelangen. Es gilt nun die entscheidenden Verschiebungen dorthin pointiert nachzuzeichnen. Die Definition von Zweideutigkeit, die Tillich 1952 vorlegt, lautet: In jedem lebenden Wesen wie im Leben als Ganzem sind essentielle und existentielle Elemente zweideutig vermischt. Zweideutig besagt, dass wir in keinem Einzelfall eindeutig bestimmen können, dass dies essentiell und dies existentiell ist. Es ist niemals möglich, schwarz und weiß zu malen. Wer das tut, ist ein idealistischer Phantast. Das gibt es nicht, es gibt keine Realität, von der man eine unzweideutige Aussage machen kann über ihr GutSein. Das ist das, was ich mit dem Begriff des Lebens meine, und ich will dann in vier großen Zweideutigkeiten die zweideutige Struktur des Lebens durchführen.160
An dieser Definition stechen verschiedene Aspekte hervor: Zunächst erfolgt die Erläuterung von ‚zweideutig‘ in der Zusammenstellung mit dem Lebensbegriff und dessen Beschreibung als zweideutige Vermischung von essentiellen und existentiellen Strukturen. ‚Zweideutig‘ taucht hier also als die Beschreibung der Beschaffenheit eines bestimmten Mischungsverhältnisses zwischen zwei Elementen auf. Eine zweideutige Vermischung bedeutet, dass eine TILLICH, Theologie und Existentialanalyse, 334, ähnlich TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 373. 157 Vgl. etwa TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 380f. 158 Etwa ebd., sowie TILLICH, Theologie und Existentialanalyse, 305.329. Neben der Technik sind auch der Ost-West-Konflikt und die fortschreitende Säkularisierung der Kultur angesprochen. 159 Vgl. a.a.O., 334, sowie TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 408f. 160 TILLICH, Theologie und Existentialanalyse, 299f. 156
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klare, eindeutige Trennung der Elemente in der Mischung nicht möglich ist und damit ein Urteil über bestimmte Lebensvollzüge als nur essentiell oder nur existentiell obsolet. Oder, um es am Beispiel der Farben zu beschreiben: Zweideutig heißt, dass das Leben nie ganz schwarz oder ganz weiß ist, sondern immer ein (wie auch immer nuanciertes) Grau, oder, anders gesprochen ein Schatten.161 Weitere Bestimmungen von Zweideutigkeit, die im Umfeld der Definition fallen, betonen die „zweideutige Mischung“162, die „zweideutige Vereinigung“163, die „Einheit beider Elemente“164 und deren „gegenseitige Durchdringung“165 sowie deren gegenseitige Abhängigkeit.166 Dann erfolgt die Bestimmung der Zweideutigkeit in der Definition im Kontext der Frage nach Urteilen, genauer Werturteilen, und führt damit explizit eine ethische Implikation – die Frage nach ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ mit sich.167 In diesem Zusammenhang spricht Tillich im Fortgang der Vorlesung auch von einer „Ambivalenz der Werte“168, die jede eindeutige Einteilung in gut oder böse, positiv oder negativ, jeden „undialektischen Moralismus“169 verunmöglicht. Der Begriff ‚Ambivalenz‘ fällt an dieser Stelle das einzige Mal synonym zum Begriff der Zweideutigkeit.170 In Rückgriff auf die Implikationen des Ambivalenzbegriffs, der dem Kontext der Psychoanalyse entstammt (vgl. I.1), betont der Begriff hier insbesondere den Antagonismus der Elemente (positivnegativ), hebt möglicherweise aber auch hervor, dass die Zweideutigkeit der Werte mit zweischneidigen Gefühlen oder Reaktionen auf Seiten des Subjekts einhergeht; zumindest aber als eine Wahrnehmung auf das menschliche Urteilsvermögen zurückgeführt werden kann, das die Scheidung eben nicht voll-
161 Sehr kunstvoll und eindrücklich hat die Bedeutung des Schattens für das eigentliche, ‚Dazwischen‘ beschrieben FAVERO, PAOLO S.H., Notes on Blackness, Darkness, and Shadowlands, in: Pascal Gielen/Nav Haq (Hg.), The Aesthetics of Ambiguity. understanding and addressing monoculture (Antennae 29),Amsterdam: Valiz 2020, 195–206. 162 A.a.O., 298. 163 Ebd. 164 A.a.O., 299. 165 A.a.O., 301. 166 Vgl. a.a.O., 316. 167 So folgert Tillich etwa als eine Konsequenz der obsoleten „Schwarz-Weiß-Scheidung“, dass in Bezug auf den Ost-West-Konflikt weder auf der einen noch auf der anderen Seite das „absolut Gute“ oder das „absolut Schlechte“ zu finden ist, a.a.O., 305. 168 Ebd. 169 Ebd. Dem „undialektischen Moralismus, der die Menschen und die Dinge einteilt in gut und böse, in schöpferisch und zerstörerisch, in die mit gutem Willen und die mit bösem Willen“ wird die „Zweideutigkeit des Schöpferischen und Zerstörerischen, diese Zweideutigkeit der Werte“ entgegengestellt. 170 Martin Leiners These, im Ambivalenzbegriff fände sich Tillichs Verständnis von Ambiguität treffender ausgedrückt, findet sich hier umgewandelt. Vgl. LEINER, L’ambivalence du sacré et l’ambiguïté de la vie, 263–273. Vgl. auch II.1.1.
4.3 Dogmatische Fortschreibung
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ziehen kann. Zweideutigkeit wird also hier in den Bereich der Frage nach einem angemessenen ethischem Urteil, nach der Orientierung in einer komplexen Lebenswelt verschoben. Schließlich wird die Darstellung von „vier großen Zweideutigkeiten“ angekündigt, an denen die Zweideutigkeit des Lebens expliziert werden soll. Diese Darstellung erfolgt dann interessanterweise anhand von vier „Polarität[en]“171 des Lebens: den Polaritäten von schöpferischem versus zerstörerischem Charakter, ganzheitlichem versus fragmentarischem Charakter, Größe versus Tragik sowie Heiligkeit versus dämonischem Charakter des Lebens. Dabei wird stets der erste Pol mit der essentiellen Struktur, der zweite Pol als dessen negative Verkehrung mit der existentiellen Struktur des Lebens identifiziert.172 Die beiden Elemente der Zweideutigkeit werden also hier als konträre, sich gegenüberstehende Pole (der zweite Pol stellt jeweils eine Negativverkehrung des ersten dar) konzipiert. Diese Polaritäten wiederum aktualisieren sich im Leben zweideutig, also als nicht mehr voneinander zu unterscheidende Mischung. ‚Zweideutigkeit‘ bezeichnet also nicht die „Grundstruktur von Leben“173 in Polaritäten, sondern das Verhältnis dieser jeweiligen Pole zueinander. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Eine Form, in der sich die Polarität des schöpferischen und zerstörerischen Charakters des Lebens zweideutig, also „eins im andern“174, vollzieht, ist das „Prinzip des Wachsens“. Wo Leben ist, so Tillichs These, ist Wachstum, etwa zu sehen am Beispiel eines Baumes, der neue Äste und Blätter ausbildet, seine Wurzeln immer weiter verzweigt, etc. In diesem Wachsen – das die Aktualisierung des schöpferischen Pols darstellt – gerät der Baum jedoch immer mit anderen Pflanzen in Konflikt, also etwa, was Sonneneinstrahlung, Platz, Wasser, etc. angeht.175 Jedes Wachstum ist also zugleich – hier mag man sich an Albert Schweitzers berühmte, von Tillich leicht abgewandelte Formulierung erinnert fühlen – „Konflikt zwischen Leben und Leben“.176 Indem Leben als Wachstum also immer auch Begrenzung bedeutet, verwirklicht sich darin der zerstörerische Pol der Grundstruktur. Kurzum: Wachstum ist nie nur Wachstum, sondern im Wachstum auch Begrenzung und darin zweideutig.
TILLICH, Theologie und Existentialanalyse, 301. So liest man etwa bezogen auf die Religion: „Religion hat alle vier Charakteristika positiver Art. Sie hat Heiligkeit, sie hat Größe, sie eint und sie schafft und als solche ist sie unmittelbarer Ausdruck des endlichen Grundes alles geistigen Lebens [und damit esseniell, Anm. Vfin.]. Und zugleich hat Religion dämonische, tragische, zerreißende und zerstörerische Elemente in sich, weil sie ja immer auch der Ausdruck der Formen existentieller Endlichkeit ist.“ A.a.O., 331. 173 A.a.O., 312. 174 A.a.O., 302. 175 Vgl. a.a.O., 303. 176 A.a.O., 304. 171 172
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
Interessant ist die Wahl des Polaritätsbegriffs als Rahmung für die Bestimmung von Zweideutigkeit insofern, als die Pole durch eine gegenseitige Abhängigkeit geprägt sind: ein Pol kann ohne den anderen nicht existieren; die Zerstörung eines Pols bewirkt auch die des anderen. Diese Verhältnisbestimmung ebenso wie die symmetrische Anordnung von Polen als solche scheint mit der Identifizierung von Essenz und Existenz nicht ganz leicht kompatibel zu sein, liegt doch die Beschreibung von Essenz und Existenz auf einer anderen Ebene, die auch die Elemente von Gelingen und Misslingen einschließt. Vielleicht hat Tillich auch aus diesem Grund schon in der Vorlesung von 1958 die vier Polaritäten von 1952 ersetzt durch die drei „Prozesse“ oder „Funktionen“177 des Lebens, die er, wenngleich auch unter teilweise anderen Begrifflichkeiten in die Systematische Theologie übernimmt: Selbstintegration versus Desintegration, Selbstproduktion versus Selbstzerstörung, Selbstmanifestation versus Selbstverbergung. Mit diesen Prozessen sind die grundlegenden Bewegungen bezeichnet, die das Leben in all seinen Dimensionen178 ausmachen und sich zweideutig, d.h. als Einheit in Spannung179 verwirklichen. Bereits 1951 hatte Tillich unter den vier Polaritäten verschiedene konkrete Zweideutigkeiten verhandelt: etwa die Zweideutigkeit von Lust und Schmerz, die Zweideutigkeit von Möglichkeit und Wirklichkeit, die Zweideutigkeit von heilig und dämonisch.180 Hier finden sich nun auch einige derjenigen Beispiele eingeordnet, die in den vorangegangenen Kapiteln einzeln diskutiert wurden, so etwa die Zweideutigkeit des Werks (vorher als Zweideutigkeit der Technik)181 oder die Zweideutigkeit von göttlich/nun heilig und dämonisch.182 1958 wird das System nochmals differenzierter: Tillich teilt das Leben selbst in verschiedene Dimensionen (anorganisch, organisch, psychisch, seelisch, geistig, geschichtlich)183 ein, in denen sich die drei Funktionen (Selbstintegration, produktion, -manifestation) in jeweils verschiedenen Zweideutigkeiten realisieren. Die Anordnung der Konkretionen von Zweideutigkeit gleicht nun schon weitaus mehr der Systematischen Theologie. Noch 1952 hatte Tillich für das geistige Leben davon gesprochen, dass hier eine „neue Zweideutigkeit, sozusagen eine Zweideutigkeit zweiten Grades“184 auftauche, weil sich im Geist TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 352f. Auch der Begriff der „Dimension“ wird 1958 neu eingeführt, vgl. a.a.O., 344. 179 Vgl. TILLICH, Theologie und Existentialanalyse, 335f. „[…] ich möchte in den drei Abenden mich beschränken auf diejenige Einheit, die zunächst gegeben ist mit dem Begriff des Lebens selbst, und den Spannungen, die notwendig aus den Lebensprozessen kommen – ich nenne diese Spannungen die Zweideutigkeiten des Lebens […].“ Auch fällt hier wieder öfter der Begriff des „Widerspruchs“ als Erläuterung für die Zweideutigkeit, vgl. 347. 180 Vgl. a.a.O., 307.310.318. 181 Vgl. 302f. 182 Vgl. 318. 183 Vgl. a.a.O., 354. 184 TILLICH, Theologie und Existentialanalyse, 324. 177 178
4.3 Dogmatische Fortschreibung
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nicht nur – analog zum übrigen Leben – die essentiellen und existentiellen Strukturen zweideutig, also „vereint“185, darstellten, sondern der Geist auch fähig sei, sich dem Leben und seinen Zweideutigkeiten gegenüberzustellen und damit überhaupt erst die Frage nach deren Überwindung zu stellen. 1958 manifestiert sich diese zweite Zweideutigkeit nur noch in der Religion, die als Funktion der Selbstmanifestierung (später -transzendierung) verstanden wird (vgl. die Ausführungen im nächsten Kapitel vgl. II.5.4). Mit dem Verweis auf diese zweite Zweideutigkeit, die mit der Fähigkeit des Geistes, die Zweideutigkeiten zu erkennen entsteht, ist auch ein weiterer Aspekt der Verschiebungen angesprochen, die eingangs festgestellt wurden: die Konzeption der Zweideutigkeit als Frage der menschlichen Existenz. Beide Vorlesungen laufen darauf zu, die Zweideutigkeit als „letzten Ausdruck der menschlichen Situation“186, als „Zentralbegriff“187 des Lebens zu etablieren und damit die Frage zu stellen, die im Leben selbst liegt. So heißt es dazu 1951: „Wie können wir in der Zweideutigkeit eine Eindeutigkeit haben, die die Zweideutigkeit in sich aufnimmt?“188 1958 formuliert Tillich: „Wo ist eine Einheit jenseits der Einheit und der Zerspaltenheit der Lebensprozesse?“189 und später „Gibt es Erfahrungen, in denen uns das Unzweideutige oder Ewige, das ewige Leben gegenüber den Zweideutigkeiten des Lebens erscheint?“190 Die Analyse der Zweideutigkeiten des Lebens hat in den Vorlesungen nun also die Funktion die Frage zu formulieren, auf die die christliche Botschaft eine Antwort sein soll.191 In den Vorlesungen bleibt Tillich dabei stets auf der Ebene der Fragestellung; erst in der Systematischen Theologie kommt es auch zur Formulierung der Antwortseite. Wie sich die Beschreibungen der ‚Antwort‘ als Eindeutigkeit und Einheit zueinander verhalten, soll dementsprechend dort geklärt werden (vgl. II.5.4). Klar ist jedoch bereits hier die Grundmotivation, die hinter Tillichs Analyse steckt, nämlich „mit dem Positiven an[zu]fangen und dann [zu] zeigen, warum wir das Positive nicht haben in der Zweideutigkeit“192 – und um aus dieser Struktur die Sehnsucht und Notwendigkeit von Offenbarung zu entwickeln. Die Dringlichkeit einer solchen Analyse der menschlichen Situation leitet Tillich immer wieder aus zeitgeschichtlichen Problemen her, womit noch der dritte Aspekt, der einleitend aufgeführt wurde, angesprochen ist. Ein Beispiel für eine solche realgeschichtliche Anknüpfung ist der Ost-West-Konflikt, den
Ebd. A.a.O., 334. 187 TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 355. 188 TILLICH, Theologie und Existentialanalyse, 334. 189 TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 336. 190 A.a.O., 408. 191 Vgl. ebd., sowie D ERS., Theologie und Existentialanalyse, 334. 192 TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 408. 185 186
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
die Vorlesung von 1952 thematisiert. Dabei plädiert Tillich aufgrund der Zweideutigkeit dafür, weder im Westen noch im Osten das „absolut Gute“ oder „absolut Schlechte“193 zu sehen – selbst wenn man der Meinung ist, sich für die ‚richtige‘ Seite entschieden zu haben. Tillich argumentiert hier keineswegs dafür, sich der Entscheidung zu enthalten – im Gegenteil. Nur fordert er dazu auf, Entscheidungen mit dem Wissen um die Zweideutigkeit zu fällen. Der Zweideutigkeit kommt hier die Funktion zu, so formuliert er an anderer Stelle 1958, „uns daran [zu] hindern, nach der einen oder anderen Seite [abzugleiten], und das ist notwendig.“194 Tillich verbindet die Zweideutigkeit an dieser Stelle also erneut mit einem versöhnenden Anliegen. Wichtiger noch scheint jedoch die Tatsache, dass die Zweideutigkeit hier endgültig zu einer hermeneutischen Kategorie geworden ist, um die gegenwartspolitischen Ereignisse zu deuten. Eine Tendenz, die sich bereits in den technikkritischen und sozialistischen Schriften angedeutet hatte, bildet sich also hier fort. Die Systematisierung zwischen Strukturbegriff und Konkretion, die Etablierung als Frage der menschlichen Situation, eine zeitdiagnostische Kategorie – so lassen sich die wichtigsten Änderungen im Bereich der dogmatischen Schriften zum Zweideutigkeitsbegriff zwischen 1927 und 1958 auf den Punkt bringen. Abschließend sollen nun diese Einsichten nochmals mit den Analysen der ersten beiden Linien zusammengeführt werden.
4.4 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Auf dem Weg zu einem integrativen Systembegriff 4.4 Zwischenfazit: Auf dem Weg zu einem integrativen Systembegriff
Im vorliegenden Kapitel wurde dem Zweideutigkeitsbegriff in Tillichs Werk von Dresden über Frankfurt nach New York, durch die Jahre 1927 bis 1958, von den Kulturanalysen zur Technik bis hin zu den Vorarbeiten des dritten Bandes der Systematischen Theologie gefolgt. In drei Linien wurden dabei drei thematische Konstellationen analysiert: die Zweideutigkeit der Technik als kulturtheologische Konkretion, die Zweideutigkeit des Ursprungs als anthropologische Zuspitzung, die Zweideutigkeit der Lebensprozesse als dogmatische Fortschreibung. Die erste dieser Konstellationen stand noch ganz im Kontext der Geisteshaltung des ‚Gläubigen Realismus‘ (vgl. II.4.1): Mit der Charakterisierung der Technik als ‚göttlich‘ und ‚dämonisch‘ war dabei das Anliegen verbunden, eine bejahende Hinwendung zur ‚realen Lage‘ mit einem kritischen Impetus gegenüber jeglicher Verabsolutierung dieser Lage zu verbinden. Die Zweideutigkeit tauchte hier als Kombination verschiedener Aspekte aus der Dresdener TILLICH, Theologie und Existentialanalyse, 305, sowie DERS., Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 371f. 194 A.a.O., 390. 193
4.4 Zwischenfazit: Auf dem Weg zu einem integrativen Systembegriff
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Dogmatik auf und fungierte als Begrenzung für technikoptimistische wie -pessimistische Tendenzen. Mit der zweiten Konstellation war der Übergang von der Haltung eines ‚Gläubigen Realismus‘ hin zur Anthropologie verbunden (vgl. II.4.2). Diese zeigte sich ganz deutlich am Vergleich der beiden diskutierten Schriften: Stand in Klassenkampf und Religiöser Sozialismus von 1928 die Zweideutigkeit noch, ähnlich der Technikdeutung, im Kontext des ‚Gläubigen Realismus‘ und der Etablierung der Kategorie des Dämonischen, tauchte sie dennoch schon in Begleitung einer anthropologischen Fundierung der realgeschichtlichen Zusammenhänge auf. Diese anthropologische Fundierung wurde wenige Jahre später in Die sozialistische Entscheidung von 1933 mittels der Rede vom menschlichen Ursprung mit der Zweideutigkeit verbunden. Als Beschreibung der Stellung des Menschen zwischen Sein und Soll, zwischen Vorfindlichkeit und Realisierung des Neuen wurde die Zweideutigkeit dabei mit dem Anliegen verknüpft, die realpolitisch verworrenen Verhältnisse der Zeit erstens zu erklären, zweitens mittels einer Aufdeckung der Zweideutigkeit (partiell) zu überwinden. In beiden Konstellationen, Technik wie Sozialismus, erfüllte die Zweideutigkeit eine kritische Funktion in der Aufdeckung von innerweltlichen Verabsolutierungen oder Fehlentwicklungen. Die dritte Konstellation stand im dogmatischen Kontext als Beschreibung der Grundstrukturen des Lebens, die als zweideutige Mischung essentieller und existentieller Strukturen aufgefasst wurden. In Fortschreibung des fünften Typus der Dresdener Dogmatik ging dabei mit der Erhebung der Zweideutigkeit zu einem Zentralbegriff auch eine immer differenzierter werdende Systematisierung einher. Als Strukturbegriff, der sich auf verschiedenen Ebenen konkretisiert, integriert dieser späte Zweideutigkeitsbegriff viele der vorher thematisierten einzelnen Zweideutigkeiten. Dabei wird jedoch nun der Aufbau von Zweideutigkeit als eine ‚Sowohl-als-Auch‘-Struktur gedacht, deren Elemente entgegengesetzte Pole beziehungsweise Tendenzen darstellen, die sich in einer spannungsvollen, nicht mehr zu differenzierenden Einheit miteinander befinden. Obgleich auch hier die binäre Aufbaulogik der Zweideutigkeit beibehalten wird, lassen sich die beiden gegenläufigen Elemente in der Erfahrung selbst nicht eindeutig voneinander trennen: die Lebenswirklichkeit stellt sich als uneindeutiges Gemisch dar. Die strukturelle Zweideutigkeit resultiert also in einer wahrgenommenen Uneindeutigkeit, oder einfacher gesprochen: aus schwarz und weiß wird grau. Mit dem hier nachgezeichneten Weg der drei Linien ist die Etablierung der Zweideutigkeit zu einem integrativen Systembegriff verbunden. Das bedeutet dreierlei: Erstens, erfährt der Zweideutigkeitsbegriff, wie im letzten Abschnitt entfaltet, selbst eine immer weiter fortschreitende Systematisierung als eine Grundgegebenheit, die sich in unendlich vielen Einzelfällen konkretisiert. Es entsteht dabei in Zusammenhang mit dem Lebensbegriff und den Dimensionen
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Teil II – Kap. 4. Zwischenzeiten
des Lebens eine differenzierte Katalogisierung der Zweideutigkeit und ihrer jeweiligen Artikulationen. Zweitens wird Zweideutigkeit damit zu einem integrativen Begriff, der es möglich macht, unendlich viele Situationen des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens durch dieselbe ‚Brille‘, nämlich die der Zweideutigkeit, zu interpretieren. Damit erfüllt der Begriff mehr und mehr die Funktion, Komplexität zu bündeln, Einheit in der Vielheit herzustellen, und stellt gerade darin einen ‚Systembegriff‘ dar. Bei Tillich ist mit dieser Funktion außerdem der Aspekt der Zeitdiagnose und Kulturkritik verbunden; hier stellt sich eine neue Verbindungslinie zu den gegenwartsdiagnostischen Ambiguitätsdebatten dar, die im ersten Teil der Arbeit analysiert werden (vgl. insbesondere I.2 und I.3). Drittens, und darauf weisen die fortlaufenden Zusammenstellungen mit den Begriffen von Einheit und Eindeutigkeit hin, steht der Zweideutigkeitsbegriff stets im Kontext einer größeren Gesamtkonzeption, die er differenziert, auf die er zuläuft, die er ergänzt und herbeisehnt. Zweideutigkeit, und auch hier deutet sich – ähnlich der binären Aufbaulogik – eine starke Kontinuität innerhalb der Tillich’schen Werkgeschichte und gleichzeitig eine gewisse Differenz zur interdisziplinären Debattenlage an, ist bei Tillich stets ein Begriff, der zur eigenen Überschreitung neigt oder gar auf diese hindrängt. Ob der Zweideutigkeit damit schließlich innerhalb des übergeordneten Systems stets ein Mangelcharakter zukommt oder ob sie gerade darin eine systemrelevante und damit ‚positive‘ Funktion übernimmt – dies gilt es nun anhand von Tillichs Systematischer Theologie herauszufinden.
Kapitel 5
Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff. Die Systematic Theology/Systematische Theologie (1951–1963) Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
Schon die Einleitung zum ersten Band von Tillichs spätem Hauptwerk, der Systematischen Theologie (1951–1963), gibt eine Spur, auf welche Weise sich die bisher festgestellten Entwicklungen der Zweideutigkeit weiter vertiefen. Drei Fragen sind es, in deren Zusammenhang ‚Zweideutigkeit‘ hier erwähnt wird: die „Frage der Zweideutigkeit des Lebens“1, die „Frage [...] der Zweideutigkeit der Vernunft“2, sowie die „Frage der Zweideutigkeit aller Geschichte“3, die jeweils – so die Ankündigung – in verschiedenen Teilen des Werks verhandelt werden. Die erste Vorschau des dreibändigen Opus stellt die Zweideutigkeit also bei aller Verschiedenheit der zugeordneten Topoi (Leben, Vernunft, Geschichte) als Frage vor. Dieser Befund wird ergänzt durch die Beobachtung, dass sich die Mehrzahl der Belege von ‚Zweideutigkeit‘ dem Aufbau des Gesamtwerks nach mit der Seite der ‚Situation‘ verbinden, also den Teilen der Systematischen Theologie, in denen Tillich die Grundfragen menschlichen Daseins entfaltet.4 Zugleich spielt die Zweideutigkeit auf der anderen Seite des Systems, der Explikation der christlichen Symbole, keine signifikante Rolle und wird nur insofern erwähnt, als es um ihre Überwindung durch die ‚Antwort‘ der christlichen Botschaft geht.5 Zweideutigkeit als eine Frage – so lautet dementsprechend eine Beobachtung, der in diesem Kapitel nachgegangen wird. Dabei geht es darum, festzustellen, warum Tillich die TILLICH, Systematische Theologie I, 81f. Im Folgenden wird aufgrund der Fülle der Zitationen der Kurztitel ‚ST‘ verwendet. 2 TILLICH, ST I, 82. 3 Ebd. Hervorhebung im Original. 4 Vgl. C LAYTON, JOHN POWELL, Art. Tillich, in: Theologische Realenzyklopädie 33 (1976), 553–565, hier 559: „Jeder Hauptteil der Systematischen Theologie beginnt mit einer Analyse der wesentlichen Merkmale von Vernunft, Sein, Existenz, Leben und Geschichte. Dann folgt eine Analyse der jeweiligen Zweideutigkeiten, wie sie unter den tatsächlichen Bedingungen menschlicher Existenz begegnen. Von diesen Zweideutigkeiten wird behauptet, sie würfen Fragen auf, die innerhalb jener Bedingungen keine Beantwortung fänden; diese Fragen forderten eine Antwort, die nur von jenseits der Grenzen kommen könne.“ 5 Etwa TILLICH, ST I, 162.174; TILLICH, ST II, 177.190; TILLICH, ST III, 165.173.202– 250.282–323.437–445.454–456.S 1
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
Zweideutigkeit als eine der großen, wenn nicht die Frage der menschlichen Situation, diagnostiziert (vgl. II.5.3.1). Was ist so frag-würdig an der Zweideutigkeit? Welche Herausforderungen und Probleme stellt sie an das menschliche Dasein? Nachdem der Modus der Zweideutigkeit als Frage geklärt wurde, wird im vorliegenden Kapitel dem Status der Zweideutigkeit als Grundbegriff für die menschliche Situation nachgegangen (vgl. II.5.3.2).6 Dabei steht die Verbindung zwischen der Zweideutigkeit und dem Lebensbegriff, mit der das letzte Kapitel geschlossen hatte und die im dritten Band der Systematischen Theologie extensiv entfaltet wird, im Fokus der Betrachtung: Tillich bestimmt hier die Zweideutigkeit des Lebens als untrennbares Ineinander von essentiellen und existenziellen Strukturen.7 Neben dieser Bestimmung als abstrakter Strukturbegriff finden sich im vierten Teil aber auch etliche Erwähnungen konkreter Zweideutigkeiten (etwa der Kultur, der Moralität und der Religion), in denen die Zweideutigkeit des Lebens zwischen den Polen von Integration und Desintegration, Produktivität und Zerstörung, Transzendierung und Profanisierung aufgespannt wird. Wie verhält sich nun aber die abstrakte Definition zu den konkreten Manifestationen? Wie hängen Zweideutigkeit und Zweideutigkeiten zusammen? Und damit auch: Wie stehen die erwähnten Zweideutigkeiten des Lebens, der Vernunft und der Geschichte zueinander? In einem dritten Punkt stehen die konkreten Zweideutigkeiten von Moral, Kultur und Religion, die die Grundlage für die Frage des Menschen nach unzweideutigem Leben bilden, im Zentrum der Betrachtung (vgl. II.5.3.3). In detailreichen Analysen entwirft Tillich ein Bild von menschlicher Moralität, Kultur und Religion, das aufgrund seiner bleibenden Zweideutigkeit stets auf die Auflösung oder Überwindung dieses Zustands hindrängt.8 In diesem Zusammenhang avanciert die Zweideutigkeit, so die These, zu einem kulturkritischen Begriff, der auf alle geistigen Schöpfungen des Menschen anwendbar ist – und überhaupt erst die menschliche Angewiesenheit auf Religion erklärt. Dementsprechend wird nach den Betrachtungen der Zweideutigkeit als existentielle Frage, als ontologischer Grundbegriff sowie als kulturkritisches Analyseinstrument das Verhältnis von Religion und Zweideutigkeit in den Blick genommen (vgl. II.5.4). Wie alle Moral und Kultur bestimmt Tillich auch die Religion als ein zutiefst zweideutiges Phänomen. Zugleich wird sie jedoch als der Ort angeführt, an dem die Zweideutigkeit des Lebens überwunden wird und Vgl. TILLICH, ST III, 327: „Die menschliche Situation, aus der die existentiellen Fragen aufsteigen, ist durch drei Begriffe charakterisiert: Endlichkeit – im Hinblick auf das essentielle Sein des Menschen als Geschöpf; Entfremdung – im Hinblick auf das existentielle Sein des Menschen in Raum und Zeit; Zweideutigkeit – im Hinblick auf die Partizipation des Menschen am universalen Leben.“ Hervorhebung im Original. 7 TILLICH, ST III, 41: „[...] das Leben ist zweideutig, weil es essentielle und existentielle Elemente in sich vereinigt.“ 8 Vgl. a.a.O., 21–133. 6
Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
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die sogenannte „transzendente Einheit unzweideutigen Lebens“9 erfahrbar wird.10 Damit gilt es zum einen die Funktion von Religion angesichts der zweideutigen Wirklichkeit in Tillichs Werk zu klären: Ermöglicht Religion dem Menschen ein gelasseneres Verhältnis zu seiner ambigen Lebenswirklichkeit und trägt damit zu einer Kompetenz bei, die man als „negative capability“11 bezeichnen könnte und die heute unter dem Stichwort ‚Ambiguitätstoleranz‘ populär ist? Oder erfüllt Religion für Tillich vielmehr die Funktion, selbst eine Antwort auf die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und damit eine Vereindeutigung der Wirklichkeit zu sein? In diesem Zusammenhang gilt es auch zu klären, wie die Begriffe von Einheit, Eindeutigkeit und Unzweideutigkeit, die in diesem Zusammenhang fallen, sich zueinander verhalten. Zum anderen steht hier Tillichs Bewertung der Zweideutigkeit zur Diskussion. Ist Zweideutigkeit für Tillich ausschließlich ein defizitärer Zustand, der mit einer positiv konnotierten Eindeutigkeitsvision kontrastiert wird, oder gesteht er der Zweideutigkeit auch an sich eine positive Funktion oder zumindest einen neutralen Stellenwert zu? Dabei wird auch die Frage zu beantworten sein, welche Position die Zweideutigkeit in der Gesamtkonzeption des Systems einnimmt. Das vorliegende Kapitel stellt der gerade skizzierten Analyse von Tillichs Spätwerk zwei Abschnitte voran: Zunächst wird im Sinne der Problemhorizonte in die US-amerikanische Situation der 1950er Jahre eingeführt, auf die sich die Systematische Theologie als eine Antwort versteht (vgl. II.5.1). Daran schließt sich analog zu dem zweiten und dritten Kapitel der Werkanalyse ein Abschnitt an, in dem anhand von Wystan H. Audens im Jahr 1948 veröffentlichen Gedicht The age of anxiety dem existenzialistischen Anspruch von Tillichs später Theologie nachgegangen wird (vgl. II.5.2).
A.a.O., 156.158–167.173.181.187f. et passim. Vgl. a.a.O., 67. Tillich bestimmt hier Religion als „de[n] Ort, an dem die Antwort auf die Frage nach dem Unzweideutigen empfangen wird.“ 11 Der Begriff geht auf den englischen Dichter John Keats zurück, der damit eine Haltung bezeichnet „when man is capable of being in uncertainties, mysteries, doubts without any irritable reaching after fact and reason“, vgl. SCUDDER, HORACE ELISHA (Hg.), The Complete Poetical Works of John Keats, Boston u.a.: Houghton 1899, 277. In Anlehnung an die Rezeption des Begriffs in der britischen Psychoanalyse (Wilfried Bion) versteht Klessmann ‚negative capability‘ als die Fähigkeit „das anfängliche Chaos des Nichtverstehens, der Ratlosigkeit und Unsicherheit in der Begegnung mit einer anderen Person [zu] ertragen im Vertrauen darauf, dass sich Sinn mitten im Chaos vorübergehend und probeweise einstellen wird“, vgl. KLESSMANN, MICHAEL, Ambivalenz und Glaube. Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss, Stuttgart: Kohlhammer 2018, 264. 9
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
5.1 Problemhorizonte 1950–1960 5.1 Problemhorizonte 1950–1960
Im Jahr 1925, also ein Vierteljahrhundert vor Abfassung der Systematischen Theologie, wird das Gericht einer kleinen 1800-Einwohner-Stadt zum Schauplatz einer religiösen Grundsatzdebatte. In Dayton, Tennessee, im Süden der USA sitzt der 24-jährige Biologielehrer John T. Scopes auf der Anklagebank, weil er in einer staatlichen Schule die Evolutionslehre Darwins gelehrt haben soll.12 Mehr als zehn Tage lang, vom 10. bis 21. Juli 1925, dauert der Prozess, der von einer aufgeheizten Atmosphäre und unzähligen Schaulustigen begleitet wird – Anhänger beider Lager campieren auf der Wiese vor dem Gerichtsgebäude, Souvenirs mit Affen werden verkauft, die auf die ‚wahre‘ Abstammung des Menschen hinweisen, mehr als hundert Journalisten sind anwesend und berichten via Radio und Zeitung in neuer massenmedialer Manier in alle Winkel des Landes.13 Der Prozess, bekannt geworden unter dem Namen ‚Scopes Trial‘ oder auch ‚Monkey Trial‘, stellt den Höhepunkt der religiösen Auseinandersetzung zwischen den sogenannten ‚Fundamentalists‘ und ‚Modernists‘ in den 1920er und 1930er Jahren dar, der mit einem Schisma innerhalb der presbyterianischen und baptistischen Denominationen endete: Auf der einen Seite standen die ‚Fundamentalists‘14, überzeugt von der Unfehlbarkeit der biblischen Schriften, 12 Tatsächlich handelte es sich bei der Verhandlung um einen provozierten Prozess: Der Bundesstaat Tennessee hatte kurz zuvor den sogenannten Butlers Act veranlasst, der das Lehren der Evolutionstheorie in Universitäten und staatlichen Schulen gesetzlich verbot. Daraufhin startete die liberale Vereinigung American Civil Liberties Union einen Aufruf, dieses Gesetz herausfordern zu wollen. Eine Gruppe von Bürgern, die ihrer Kleinstadt Dayton in die öffentliche Aufmerksamkeit verhelfen wollten, überredeten Scopes dazu, sich für den Testfall zur Verfügung zu stellen. Scopes, der sich nach eigener Aussage nicht daran erinnerte, ob er die Evolutionslehre in seinem Unterricht erwähnt habe oder nicht, stimmte zu – hatte wohl aber kaum das Aufsehen erwartet, das der Prozess mit sich bringen würde. Die Hauptpersonen des Prozesses waren vielmehr Clarence Darrow, Staranwalt und Vertreter liberaler Ansichten, der Scopes verteidigte, sowie sein Gegenspieler William Jennings Bryan, ehemaliger Staatssekretär, öffentlicher Redner und ehemaliger Präsidentschaftskandidat der Kandidaten. Letzterer starb fünf Tage nach dem Prozess an Herzversagen und erlangte demzufolge unter seinen konservativen Anhängern einen Märtyrerstatus. Für den Hergang der Ereignisse, sowie die Protagonisten beider Lager vgl. BUTLER, JON/WACKER, GRANT/BALMER, RANDALL, Religion in American Life. A short history, Oxford: Oxford University Press 2003, 328f., sowie LIENESCH, MICHAEL, In the Beginnings. Fundamentalism, The Scopes Trial, and the Making of the Antievolution Movement, Chapel Hill: Uni of North Carolina 2007, 139–170. 13 Vgl. B UTLER, Religion in American Life, 329f. 14 Die Bezeichnung geht zurück auf eine Publikation mit dem Titel The Fundamentals, die zwischen 1910 und 1915 von zwei wohlhabenden Californiern gesponsert wurde und weite Verbreitung fand. Die Kollektion von zwölf Heften, die zur theologischen Grundlage einer Bewegung mit dem Namen ‚Fundamentalismus‘ avancierte, wurde von berühmten englischen, kanadischen und US-amerikanischen Evangelikalen verfasst und beeinhaltete
5.1 Problemhorizonte 1950–1960
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inklusive der Historizität des alttestamentlichen Schöpfungsberichts, und dementsprechend abwehrend gegen eine Evolutionslehre à la Darwin. Demgegenüber verfolgten die ‚Modernists‘ oder ‚Liberals‘ die Agenda, die christlichen Lehren mit moderner Wissenschaft, unter anderem mit historisch-kritischer Bibelauslegung und naturwissenschaftlicher Evolutionstheorie, zu vereinbaren. Der ‚Scopes Trial‘ endete zwar mit einer formalen Verurteilung des Biologielehrers Scopes zu einem Bußgeld von 100 Dollar,15 spielte jedoch in Bezug auf seine Breitenwirkung in der religiösen Öffentlichkeit den ‚Modernists‘ in die Hände: Infolge der Positionierung für die eine oder andere Seite ging insbesondere in den nördlichen Staaten der USA die religiöse Vormachtstellung in Gemeinden, Kirchenverwaltung und theologischen Lehreinrichtungen an die Liberalen über. Bis zum evangelikalen Revival der 1970er Jahre blieb hingegen der Einfluss der ‚Fundamentalists‘ vorwiegend auf die Südstaaten begrenzt. In der amerikanischen Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts steht der ‚Scopes Trial‘ exemplarisch für eine interne Ausdifferenzierung des ‚Mainline‘-Protestantismus. Neben den Positionierungskämpfen entlang dem Verhältnis zur modernen (Natur-)Wissenschaft, die insbesondere die presbyterianischen und baptistischen Gemeinden bestimmten, entstanden jedoch Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auch jenseits traditioneller Kirchlichkeit mächtige religiöse Bewegungen insbesondere evangelikaler Couleur: Ein Beispiel hierfür stellt das sogenannte holiness movement dar, das sich aus der methodistischen Kirche heraus entwickelte oder aber die US-amerikanische Pfingstkirchenbewegung, die im Azuza Street Revival von 1906 ihren Anfang nahm. Charismatische evangelikale Predigerinnen und Prediger, wie Aimee Sample McPherson, die pfingstlerische Predigerin der 1920er Jahre, oder zwei Jahrzehnte später der evangelikale Prediger Billy Graham tourten durch die Lande, gründeten die ersten Mega-Churches und gewannen neben zahlreichen Anhängern auch massenmediale Popularität und monetären Einfluss. Spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts also war der amerikanische Protestantismus – wenn auch numerisch als Ganzes anderen Konfessionen und Religionen gegenüber in der Mehrheit – in viele, mitunter unversöhnliche Lager gespalten.16
etwa ein wörtliches Verständnis der Bibel, die Unfehlbarkeit der Bibel, den Glauben an die Jungfrauengeburt und die neutestamentlichen Wunder, sowie die Historizität des Schöpfungsberichts, vgl. Butler, Religion in American Life, 326f., sowie WILLIAMS, PETER W., Religion in the United States in the twentieth century: 1900–1960, in: Christopher Bigsby (Hg.), The Cambridge Companion to Modern American Culture, Cambridge: Cambridge University Press 2006, 96–112, hier 100. 15 Die Verurteilung wurde später wegen eines Formfehlers zurückgenommen, vgl. B UTLER, Religion in American Life, 330. 16 Vgl. W ILLIAMS, Religion in the United States, 111.
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
Dieser interne Pluralisierungsprozess des Protestantismus war insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg flankiert von einem Verlust an religiöser Vorherrschaft und kultureller Autorität innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft.17 Zu dieser Entwicklung trug maßgeblich der Aufstieg katholischer und jüdischer Einwanderer bei, die mit den 1950er Jahren in der ‚Mitte der Gesellschaft‘ angekommen waren und ihre Teilhabe an der amerikanischen Religionskultur beanspruchten. So erklärte im Jahr 1952 – unvorstellbar für frühere Generationen – der damalige Präsident Dwight Eisenhower die amerikanische religiös-politische Identität mit den folgenden Worten: „Our form of government makes no sense unless it is founded in a deeply felt religious faith, and I don’t care what it is.“18 Die Wahrnehmung solch religiöser Pluralisierung führte bei einer Vielzahl der Amerikanerinnen und Amerikaner zu einer gewissen Verunsicherung und einem Gefühl des Unbehagens. Gleichwohl waren die Reaktionen auf diese Prozesse unterschiedlich: Während die konservativen Protestanten sich eher auf sich selbst zurückzogen, wuchs in liberaleren protestantischen Kreisen, insbesondere in Folge des Bekanntwerdens der Schrecken der Schoah, die moralische Verpflichtung die Neuankömmlige in ihre religiös-nationale Identität zu inkludieren.19 Hierfür griff man auf die Formel der ‚Judeo-Christian tradition‘ zurück. Bereits seit den 1930er Jahren kursierte die Rede von einer ‚jüdisch-christlichen Tradition‘ vor allem im Modus der Abwehr gegenüber anderen religiösen Strömungen, unter anderem der Pfingstkirchenbewegung.20 Im Nachkriegsamerika erreichte die Formel von einer religiösen Solidargemeinschaft zwischen Juden, Katholiken und Protestanten schließlich auch die weitere Öffentlichkeit und wurde durch verschiedene Publikationen wirksam popularisiert. Die wohl prominenteste dieser Veröffentlichungen lieferte Will Herberg, ein jüdischer Theologe, mit seiner Schrift Protestant, Catholic, Jew von 1955, der die drei religiösen Gemeinschaften eng mit dem Prinzip des ‚American Way of Life‘ verknüpfte: „The three great religious communions – Protestantism, Catholicism, and Judaism – constitute the three great American religions, the ‚religions of democracy‘.“21 Andere religiöse Gemeinschaften, wie etwa Buddhisten, Hindus, Taoisten, Muslime, Humanisten hingegen wurden in dieser Definition amerikanischer Religion explizit ausgeklammert.22 Die Rede von der amerikanischen jüdisch-christlichen Identität war jedoch nicht nur in Zeiten religiöser Verunsicherung für viele Amerikaner attraktiv, Vgl. ebd. BUTLER, Religion in American Life, 343. 19 Vgl. ebd. 20 A.a.O., 345. 21 H ERBERG, W ILL, Protestant – Catholic – Jew. An Essay in American Religious Sociology, Garden City: Doubleday 1955, 262. Vgl. auch BUTLER, Religion in American Life, 346. 22 Ebd. ebenso W ILLIAMS, Religion in the United States, 109. 17 18
5.1 Problemhorizonte 1950–1960
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sondern erfüllte darüber hinaus eine Funktion im Kampf gegen den ‚gottlosen‘ Kommunismus der Sowjetstaaten. Der Glaube an Gott sowie die Zugehörigkeit zu einer religiösen (= jüdisch/christlichen) Gemeinschaft wurden in den 1950er Jahren damit nicht nur zu Eckpfeilern der individuellen Selbstvergewisserung, sondern auch zu einer ‚nationalen Waffe‘ im Kalten Krieg.23 So postulierte die protestantische Zeitschrift Christian Century im Jahr 1951 kämpferisch: „America should be grateful for the spiritual tide which flows unceasingly into our national life through its institutions of religion. This Christian heritage can survive even if our civilization falls.“24 Drei Jahre später, im Jahr 1954, folgte entsprechend die Erweiterung der Pledge of Alliance, des Treueschwurs gegenüber der amerikanischen Nation und Flagge, um die Worte „under God“, so dass die USA sich fortan als „one nation, under God, indivisible, with liberty and justice for all“ verstanden.25 Mit den 1950er Jahren wurde also angesichts einer sich intern ausdifferenzierenden religiösen Landschaft und im Zuge der kommunistischen Bedrohung von außen eine neue religiös-nationale Einheit in Stellung gebracht. Für diese Einheit wurde ganz selbstverständlich der Gott der jüdisch-christlichen Tradition als verbindendes Element in Anspruch genommen, während andere religiöse Traditionen von der öffentlichen Bildfläche verdrängt wurden. Die Gewissheit, ‚God’s chosen people‘ zu sein, diente in den ersten Jahren des Kalten Krieges zur Bekräftigung des nationalen Überlegenheitsgefühls. Gleichwohl ließ sich mit dieser Strategie weder die voranschreitende religiöse Pluralisierung aufhalten noch die tiefgreifende Verunsicherung durch den Wettlauf gegen den kommunistischen Staatsfeind langfristig deckeln. Spätestens im Jahr 1957 erreichte die kollektive Beunruhigung mit der Nachricht von der ersten bemannten Weltraumfahrt ‚Sputnik‘ ein neues Level. In panischer Sorge, von den Sowjets technisch überholt zu werden, wurde im darauffolgenden Jahr der National Defense Education Act verabschiedet, der in großem Ausmaß Gelder für Investitionen in Wissenschaft und Technik bereitstellte. Im Jahr 1961 versprach der demokratische Präsident John F. Kennedy vor den Abgeordneten des amerikanischen Kongresses, noch vor Ende des Jahrzehnts einen (amerikanischen) Menschen auf den Mond zu senden.26 Mit diesem Versprechen schließt sich der Kreis zum ‚Scopes Trial‘ von 1925: Dieser hatte nicht wenige Amerikanerinnen und Amerikaner mit einer latenten Skepsis gegenüber moderner Wissenschaft zurückgelassen. Mit der Landung des Sputniks und der Präsidentschaft Kennedys jedoch änderte sich Vgl. BUTLER, Religion in American Life, 352f. „Twelve Great Churches“, in: Christian Century (3. Januar 1951), 7. Zitiert nach BALMER, RANDALL, Grant Us Courage. Travels Along the Mainline of American Protestantism, New York/Oxford: Oxford University Press 1996, 145. 25 Vgl. B UTLER, Religion in American Life, 353. 26 A.a.O., 365. 23 24
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
diese Haltung fundamental: Amerika, auch und gerade in seinen konservativen Milieus, wird nun zu einem Hort der Technikgläubigen, überzeugt davon, der technologische Fortschritt werde nicht nur den Sieg über den Kommunismus besiegeln, sondern auch die Probleme der Welt, insbesondere Hunger und Krankheit, lösen. Ihren symbolischen Zenit erreicht die Technikhörigkeit der Nachkriegszeit wohl mit der New Yorker World’s Fair Ausstellung im Jahr 1964/5 und Neil Armstrongs erstem Schritt auf dem Mond am 20. Juli 1969 – der zu diesem Zeitpunkt längst ermordete Präsident hatte also Wort gehalten. Gleichwohl war auch hier das Gefühl der eigenen Überlegenheit nicht ungebrochen: Insbesondere die junge Generation empfand immer größer werdende Zweifel – am optimistischen Fortschrittsglauben, der technologischen Hörigkeit, der Kriegspropaganda (erst in Korea, dann in Vietnam) und nicht zuletzt an der selbstverständlichen Religiosität der Elterngeneration. Die zunehmende Desillusionierung der Jugend kulminierte schließlich in den Studentenrevolutionen und der ‚counter-culture‘ der späten 1960er Jahre, die auf der religiösen Bühne mit einer deutlichen Hinwendung zu fernöstlichen Religionen einherging. So vielfältig die hier nur angerissenen Umwälzungen und Verschiebungen im Nachkriegsamerika der 1950er und 1960er Jahre sein mögen, so lassen sie sich doch auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Sie alle charakterisiert ein starkes Schwanken – zwischen religiöser Pluralisierung und jüdisch-christlicher Konsolidierung, zwischen nationaler Selbstvergewisserung und individueller Identitätskrise, zwischen ekstatischem Überlegenheitsgefühl und atomaren Katastrophenszenarien, zwischen religiösem Technikskeptizismus und ‚moderner‘ Fortschrittsgläubigkeit. Die 1950er Jahre, oft beschrieben als Dekade wirtschaftlichen Wachstums und spießiger Behaglichkeit, das Jahrzehnt der amerikanischen Vorstädte, bargen ‚hinter der Fassade‘ tatsächlich ein reichhaltiges Potenzial für individuelle und kollektive Verunsicherung. Eine Verunsicherung, die in der Formel des ‚Age of Anxiety‘ von Wystan H. Auden nicht ohne Grund eine ihrer wirkmächtigsten Formulierungen fand – und, so zumindest die Deutung Paul Tillichs, an die Theologie seiner Zeit ganz neue Herausforderungen stellte.
5.2 Paul Tillich und The Age of Anxiety. Existentialismus als Programm 5.2 Paul Tillich und The Age of Anxiety
Im Jahr 1950, also zur Zeit der Abfassung des ersten Bandes der Systematischen Theologie, formuliert Tillich in einem Brief an die Freunde in Deutschland die Einsicht, […] daß sich in diesem Lande etwas geöffnet hat, was vor 15 Jahren und sogar 10 Jahren noch verschlossen war und daß man uns eigentlich erst jetzt ganz brauchen kann. […] Es ist
5.2 Paul Tillich und The Age of Anxiety
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ein Hunger nach strenger systematischer Theologie und nach einer Verbindung von Theologie und Existentialismus im weitesten Sinne des Wortes vorhanden. Das bezieht sich in gleicher Weise auf Dichtung wie auf Kunst wie auf Psychologie. In all diesen Gebieten will man die theologische Antwort hören; und die Theologie muß die Fragen aufnehmen, die ihr von dorther entgegengebracht werden.27
Die Verschiebungen in der amerikanischen Gesellschaft, die einen gesteigerten Bedarf an ‚theologischen Antworten‘ nach sich ziehen, bringt Tillich im Fortgang seines Briefs mit der gesellschaftspolitischen Gesamtlage in Verbindung. Der „Druck der geschichtlichen Lage“, die „unglaubliche[…] Verbreitung der psychischen Erkrankungen“, aber auch die „Wirkung vertiefter Einsicht in die Abgründe des menschlichen Seins und der Existenz überhaupt“28 hätten dazu geführt, dass der englische Terminus ‚anxiety‘ mittlerweile die Bedeutung des deutschen Angstbegriffs mit seinen Anklängen von Kierkegaard und Freud angenommen habe.29 Paradigmatisch für die Vertiefung der ängstlichen Grundgestimmtheit der Nachkriegszeit führt Tillich das Gedicht des britischen Dichters Wystan H. Auden The Age of Anxiety30 an. Es dient ihm als Beispiel für die ‚Fragen‘, die der Theologie von Seiten der Dichtung, Kunst und Psychologie entgegengebracht werden und die den „Hunger nach strenger systematischer Theologie und nach einer Verbindung von Theologie und Existentialis-
Brief Tillichs an die deutschen Freunde vom 14. März 1950, in: GW V, 325f. Ebd. 29 Zur Entwicklung des Angstbegriffs als Deutung der Moderne insbesondere seit den 1950er Jahren und dem Verhältnis von Religion und Angst vgl. SCHÜZ, PETER, Mysterium tremendum. Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto (Beiträge zur historischen Theologie 178), Tübingen: Mohr Siebeck 2016, 32–42.58–91, mit besonderem Verweis auf Tillichs Schrift Der Mut zum Sein 74–78. Tillichs ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Angstbegriff findet sich in TILLICH, The Courage to Be, New Haven/CT: Yale University Press 1952, dt.: Der Mut zum Sein, Hamburg: Furche 1965. Hier entfaltet Tillich den Gedanken, dass die Angst gerade nicht von der Religion überwunden oder ausgelöscht werden kann und soll, sondern der Glaube als Mut eine Bejahung und ein Aufsichnehmen der Angst ermöglicht. Glaube und Angst bilden damit ein korrelatives Verhältnis. Zum Angstbegriff bei Tillich vgl. auch SCHÜZ, PETER, Der Begriff Angst im Kontext der Kulturtheologie Paul Tillichs, in: Danz/Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur, 327– 345; KOCH, TRAUGOTT, Gott: Die Macht des Seins im Mut zum Sein. Tillichs Gottesverständnis in seiner ‚Systematischen Theologie‘, in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt a.M.: Athenäum 1989, 169–206; OTT, HEINRICH, Die Sinn-Angst und der Mut zum Sein. Ein Versuch über Paul Tillich, in: Johannes Fischer/Ulrich Gäbler (Hg.), Angst und Hoffnung. Grunderfahrungen des Menschen im Horizont von Religion und Theologie, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 1997, 149–165. Zu Tillichs Angstbegriff in transdisziplinärer Perspektive vgl. IHBEN-BAHL, SABINE JOY, Angst und die eine Wirklichkeit. 30 Vgl. A UDEN, W YSTAN H., The Age of Anxiety. A Baroque Eclogue, hg. v. Alan Jacobs, Princeton: Princeton University Press 2011. 27 28
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mus“ in der amerikanischen Gesellschaft geweckt haben.31 Es mag also nützlich sein, einen kurzen Blick in Audens Dichtung zu werfen, um ein genaueres Bild von ebendiesen Fragen zu gewinnen, auf die Tillich mit seiner Systematischen Theologie antworten will. Wystan H. Auden, ein Brite, der 1939 nach New York emigriert war, begann mit der Abfassung seines längsten und vielleicht wirkmächtigsten Gedichts The Age of Anxiety im Jahr 1944.32 Die Dichtung, die 1948 den Pulitzerpreis gewann und 1949 vom Komponisten Leonhard Bernstein mit einer gleichnamigen Symphonie vertont wurde, ist zweifelsohne berühmt – zumindest was die häufige Zitation des Titels zu verschiedensten Anlässen angeht. Gelesen haben es hingegen vermutlich nur wenige – darunter mutmaßlich Paul Tillich –, was an der Länge des Gedichts ebenso liegen mag wie an seiner nicht unmittelbaren Zugänglichkeit. So merkt der Herausgeber der Neuausgabe von 2011 ironisch an: „The Age of Anxiety, then, is extraordinarily famous for a book so little read; or, extraordinarily little read for a book so famous.“33 Das Gedicht, zwar in der Nachkriegszeit veröffentlicht, spielt zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs in einer New Yorker Bar auf der Third Avenue. Die vier Protagonisten, drei Männer und eine Frau, sind allesamt Fremde, Gestrandete im New Yorker Nachtleben, die zufällig aufeinandertreffen und einen Abend gemeinsam verbringen. Die Gemeinsamkeiten der vier reichen dabei weit über den Ort ihres Zusammentreffens hinaus: Sie alle teilen eine Stimmung, die von tiefer Unsicherheit, immer wieder aufscheinenden Zweifeln und Gefühlen der eigenen Unzulänglichkeit geprägt ist. Eine Bar, so heißt es direkt im Prolog des Gedichts, mag zu Friedenszeiten wahrlich kein Ort sein, mit dem man zu Reichtum kommt. „But in war-time“, so schreibt Auden, when everybody is reduced to the anxious status of a shady character or a displaced person, when even the most prudent become worshippers of chance, and when in comparison to the universal disorder of the world outside, his [the barkeeper’s, Anm. Vfin.] Bohemia seems as cosy and respectable as a suburban villa, he can count on making his fortune.34
So überrascht es kaum, dass auch die vier Protagonisten im nächtlichen Bargeschehen allesamt „anxious“, „shady“ und „displaced“ wirken: Nicht nur sind drei von ihnen, wie Auden selbst, keine Amerikaner, sondern stammen aus Kanada, England und Irland und sind damit schon rein physisch „dis-placed“, sondern sie leiden auch allesamt und auf verschiedene Weise an ihrer Zeit.
31 Tillich kannte Auden persönlich und berichtet in dem Brief über eine gemeinsam abgehaltene Tagung. Ebenfalls verweist er auf zwei von ihm selbst gehaltene Vorträge zu den Themen „The Theology of Anxiety“ und „The Theology of Despair“, vgl. GW V, 326. 32 Vgl. für das Folgende die Einleitung von JACOBS, A LAN, Introduction, in: Wystan H. Auden, The Age of Anxiety, XI–XLIX. 33 JACOBS, Introduction, XII. 34 A UDEN, The age of anxiety, 3.
5.2 Paul Tillich und The Age of Anxiety
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Quant, ein „old widower“35 und Schreiber in einem Schifffahrtsbüro, wirft einen Blick in den Spiegel und stellt fest, dass er keine Übereinstimmung finden kann zwischen seiner „social or economic position and his private mental life“, eine Tatsache, die, „often happens in the modern world“ und die zu „much restlessness, envy and self-contempt“36 führt. Malin, Mitglied der kanadischen Airforce, ist froh, seine Uniform für ein paar Tage ablegen zu können, die ihn an ein Leben erinnert, das ihm „at once disjointed and mechanical, alternately exhausting and idle“37 vorkommt. Rosetta, britische Immigrantin und erfolgreiche Einkäuferin eines großen Kaufhauses, findet Amerika trotz ihres monetären Erfolgs „so big and empty and noisy and messy“38, sucht erfolglos nach der großen Liebe und flüchtet sich in Tagträumereien über die Landschaften ihrer englischen Heimat und darin stattfindende Detektivgeschichten. Emble, der einzige Amerikaner und bei der amerikanischen Marine beschäftigt, „suffers from that anxiety about himself and his future which haunts, like a bad smell, the minds of most young men“39 mit der zusätzlichen Belastung, dass er annimmt, mit dieser mentalen Verfassung allein und sicherlich nicht normal zu sein. Die verschiedenen Spielarten von Entfremdung und Angst, die bereits mit der Einführung der Charaktere entfaltet werden, reichert Auden damit an, dass die vier Charaktere jeweils für ein Vermögen des Menschen stehen (Intellekt, Sinnlichkeit, Intuition und Gefühl), die – so suggeriert der Auftritt als vier, jeweils unterschiedliche Personen – sich in der modernen Welt voneinander getrennt und isoliert haben. Die Dichtung führt die Protagonisten in sechs Kapiteln auf eine abenteuerliche, teils imaginäre, teils real stattfindende Reise auf der Suche nach Gemeinschaft, Sinn und Erlösung von ihrem Leiden. Zwar bleiben die Charaktere als Personen voneinander getrennt, doch ihre geteilte Erfahrung stellt eine gewisse Harmonie, vielleicht sogar eine Einheit, zwischen ihnen her.40 Die literarische
A.a.O., 4. Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 A.a.O., 5. 40 Auden versucht hier wohl zu versprachlichen, was er einst als ‚local understanding‘ bezeichnet hat, das gegenseitige Verstehen und Sich-Nahe-Fühlen von Menschen, die realisieren, miteinander einen Ort und eine Zeit zu teilen, vgl. a.a.O., VII.XI. Auden schildert, eine solche Erfahrung in seinen Mittzwanzigern während seiner Lehrtätigkeit an der Downs School in Colwall gemacht zu haben: „One fine summer night in June 1933 I was sitting on a lawn after dinner with three colleagues, two women and one man. …We were talking casually about everyday matters when, quite suddenly and unexpectedly, something happened. I felt myself invaded by a power which, though I consented to it, was irresistible and certainly not mine. For the first time in my life I knew exactly – because, thanks to the power, I was doing it – what it means to love one’s neighbor as oneself. I was also certain, though the conversation continued to be perfectly ordinary, that my three colleagues were having 35 36
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Schilderung einer Erkenntniseinheit durch existenziell geteilte Erfahrung weist interessante Parallelen mit Tillichs Bestimmung einer existentiellen Haltung seitens der Theologie auf: In Band II der Systematischen Theologie bestimmt Tillich die existentielle Haltung als „eine Erkenntnishaltung, in der das Element der Einung vorherrscht“41, also als eine Haltung, die sich gerade nicht distanziert gegenüber dem Erkenntnisobjekt verhält, sondern im Modus der Partizipation verfährt, „ein Einbringen des Erkennenden in den Erkenntnisprozess fordert“42. Damit wird schon etwas konturierter, was Tillich meinen könnte, wenn er im obigen Zitat von der geforderten „Verbindung von Theologie und Existentialismus“ spricht: eine Theologie, die im Modus der Partizipation nicht nur an der Situation des Menschen Anteil nimmt, sondern sich von dieser überhaupt formen lässt. Tillich hat eine eben solche Erkenntnishaltung existentieller Partizipation in der Systematischen Theologie mit seiner ‚Methode der Korrelation‘ umzusetzen versucht, indem er die Situation des Menschen und die daraus resultierenden Fragen die Antworten formen lässt, die sich aus der christlichen Botschaft ergeben. Doch nicht nur methodischer Natur, auch inhaltlicher Art lassen sich in Audens Werk Fragen erkennen, die die Systematische Theologie aufgreift – insbesondere an zwei Punkten der nächtlichen Reise der Charaktere: Erstens bildet den ‚Tiefpunkt‘ der Suche die diffuse Einsicht der Protagonisten, selbst schuldig zu sein, sich als Angeklagte zu fühlen, denen ein schreckliches Gericht bevorsteht.43 Auden schildert hier die ‚anxiety‘ der Protagonisten als ein tieferliegendes moralisches, beziehungsweise religiöses Problem, und zwar als die grundlegende Versuchung des Menschen zur Sünde.44 Die psychologische the same experience. (In the case of one of them, I was later able to confirm this.) My personal feelings towards them were unchanged – they were still colleagues, not intimate friends – but I felt their existence as themselves to be of infinite value and rejoiced in it.” Vgl. JACOBS, Introduction, VIII. 41 TILLICH, ST II, 32; Vgl. auch D IENSTBECK, STEFAN, Die Existenz und die Erwartung des Christus, in: Christian Danz, Paul Tillichs ‚Systematische Theologie‘, Berlin: De Gruyter 2017, 143–170, hier 151. 42 Ebd. Eine solche „existentielle Haltung“ unterscheidet Tillich wiederum vom Existentialismus als philosophische Schule. Dieser wird als „natürlicher Bundesgenosse des Christentums“ beschrieben (ST II, 33), weil er die Situation des Menschen im Zustand der Entfremdung beschreibt. Allerdings gibt er damit kein wirklichkeitsgetreues Bild des menschlichen Daseins wider, sondern ein einseitiges, da nach Tillichs Meinung Menschsein immer essentielle und existentielle Elemente in sich vereinigt. 43 Auden hat die gesamte Dichtung mit drei Versen aus dem mittelalterlichen Hymnus Dies Irae (Tage des Zorns) überschrieben, die da lauten: Lacrimosa dies illa // Qua resurget ex favilla // Iudicandus homo reus (Jener tränenreiche Tag // an dem aus Asche aufersteht // der angeklagte Mensch, der gerichtet werden muss). Dieses Motto wird gewissermaßen am Tiefpunkt der Reise explizit gemacht, vgl. JACOBS, Introduction, XXXI. 44 1941 hatte Auden in einer Rezension von Reinhold Niebuhrs The Nature and Destiny of Man die Einsicht in die Verbindung von Angst und Sünde thematisiert: „the temptation
5.2 Paul Tillich und The Age of Anxiety
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Grundgestimmtheit der Angst wird dabei mit Hilfe von harmatiologischen Kategorien gedeutet und damit als eine religiöse Frage interpretiert – zumal die Protagonisten erkennen, dass sie sich von ihrem Zustand weder selbst erretten noch auf halb-göttliche Kräfte, wie einen politischen Führer, vertrauen können.45 Eine ähnliche Verschränkung der Topoi von Angst und Sünde findet sich auch in der Systematischen Theologie: Hier bestimmt Tillich die Angst des Menschen, seine ‚anxiety‘, als doppelte Angst, nämlich „die Angst, sich zu verlieren durch Selbstverwirklichung und die Angst, sich zu verlieren durch Nichtverwirklichung“46. Stets entscheidet sich der Mensch angesichts dieser Wahl für die Selbstverwirklichung und verlässt damit den „Zustand träumender Unschuld“47. Während aber der Wunsch zur Selbstverwirklichung und die damit verbundene Angst für Tillich essentiell zum Menschsein dazugehört und die Bedingung seiner Individualität ist, schlägt dieser Wunsch in die Versuchung zur Sünde um, wenn der Mensch das, was er ist, nämlich ‚endliche Freiheit‘, vergisst und selbst ‚unendliche Freiheit‘ sein will. Sünde im Sinne der Entfremdung von Gott definiert Tillich dementsprechend dann als den Wunsch die eigene endliche Freiheit zur unendlichen zu wandeln.48 Angst und Sünde wurzeln dabei in derselben Notwendigkeit: dem Übergang des Menschen zu einem selbstzentrierten Individuum. Beide, Tillich und Auden, interpretieren also die unruhig-ängstliche Grundgestimmtheit ihrer Gesellschaft religiös mittels der Kategorie der Sünde. Dementsprechend eröffnet sich in beiden Fällen die Frage nach der Erlösung von diesem Zustand, der in Audens Dichtung gegen Ende des gemeinsamen Abends explizit wird. Die Protagonisten sind inzwischen gestrandet in Rosettas Apartment. Erst hier finden sich nun explizite Referenzen zum Thema Religion. Diese finden ihren Ausdruck in zwei langen Monologen von Rosetta und Malin, die sich angesichts ihrer Situation an ihren Gott wenden, der – Rosetta ist Jüdin, Malin Christ – selbstverständlich als derselbe Gott angerufen wird.49 Man mag hier eine Aktualisierung der jüdisch-christlichen religiösen Allianz sehen oder nicht
to sin is what the psychologist calls anxiety, and the Christian calls lack of faith.“ MENDELSON, EDWARD (Hg.) The Complete Works of W.H. Auden. Prose Vol II: 1939–1948, Princeton: Princeton University Press 2002, 134. Vgl. JACOBS, Introduction, XIII. 45 The Age of Anxiety ist eines der ersten englischen Gedichte, das den Völkermord an den Juden thematisiert, vgl. JACOBS, Introduction, XIII. Vgl. zur Thematik allgemein auch ROBERTS, BETH ALLEN, W.H. Auden and the Jews, in: Journal of Modern Literature 28/3 (2005), 87 –108. 46 TILLICH, ST II, 42. 47 Ebd. 48 Vgl. auch D IENSTBECK, Die Existenz und der Christus, 158f. 49 Vgl. JACOBS, Introduction, XXXV; A UDEN, Age of Anxiety, 100 –108.
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(vgl. II.5.1) – beiden Protagonisten ist jedenfalls eine Lösung möglich, die ihren nicht-religiösen Gefährten verwehrt bleibt, nämlich das Bekenntnis der eigenen aussichtslosen Lage vor ihrem Gott: Temporals pleading for eternal life with // The infinite impetus of anxious spirits, // Finite in fact yet refusing to be real, // Wanting our own way, unwilling to say Yes // To the SelfSo which is the same at all times // That Always-Opposite which is the whole subject // Of our not-knowing, yet from no necessity //… // His Truth makes our theories historical sins, // It is where we are wounded that is when He speaks // Our creaturely cry, concluding His children // In their mad unbelief to have mercy on them all // As they wait unawares for His World to come.50
Der unendliche Antrieb endlicher, ängstlicher Wesen, selbst ewig zu sein und darüber die eigentliche Endlichkeit wie das ‚Ja‘ zu Gott unwillig abzuwehren, findet hier seine Wendung in der Gewissheit, dass selbst der „irrwitzige Unglaube“ des Menschen in der göttlichen Gnade aufgehoben ist. Die New Yorker Reise mit ihren Desillusionierungen und Desorientierungen endet also zumindest für zwei Protagonisten mit der Erfahrung, inmitten der stetigen Bewegung einen Moment des Friedens zu finden. Oder wie der Herausgeber pointiert formuliert: „[…] the characters grow disoriented, dizzy, and faint. In the midst of this constant change Rosetta and Malin find only one still point.“51 An diesem Punkt soll noch einmal an den Brief Tillichs erinnert werden, der zu Beginn des Abschnitts zitiert wurde: Tillich spricht hier von einer neuen Öffnung in der amerikanischen Gesellschaft, die aus der „vertiefte[n] Einsicht in die Abgründe des menschlichen Seins und der Existenz überhaupt“52 resultiert, und von den Fragen, die sich von Seiten der Psychologie, Kunst und Dichtung an die Theologie richten. Der Blick in Audens Dichtung The Age of Anxiety, auf die Tillich in seinem Brief verweist, macht nicht nur die Fragen konturierter, die sich an eine Nachkriegstheologie richten – der Umgang mit (Kollektiv-)Schuld, Desillusionierung, Orientierungslosigkeit, Angst –, sondern gibt auch eine erste Idee davon, was es mit einer Antwort durch die Theologie auf sich haben könnte: Nach der ausführlichen Schilderung menschlicher Entfremdungs- und Verlorenheitserfahrungen lässt Auden seine Dichtung mit der Hoffnung enden, dass in der Religion Antworten liegen können, nicht nur auf die existentielle Angst des Menschen, sondern auch auf den Taumel („dizzyness“), den das (moderne) Leben nicht zuletzt durch seine Uneindeutigkeiten verursacht. Tillich hat diese Herausforderungen an die Theologie, „antwortende Theologie“53 zu sein, in seiner Systematischen Theologie methodisch wie inhaltlich umzusetzen versucht. Dieser gilt es sich nun zuzuwenden.
A.a.O., 108. JACOBS, Introduction, XL. 52 Ebd. 53 TILLICH, ST I, 12. 50 51
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/ Systematischen Theologie 5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
„A help in answering questions: this is exactly the purpose of this theological system”54 – mit diesem Anspruch endet das Vorwort zur englischen Originalausgabe des ersten Bandes der Systematischen Theologie im Jahr 1951.55 Explizit richtet sich Tillich hier an seine Studierenden in den USA und Deutschland, denen das Werk eine Hilfe auf die Fragen sein will, die sie von Menschen „inside and outside their churches“56 gestellt bekommen. Der dezidiert apologetische Anspruch von Tillichs Hauptwerk, der sich nicht zuletzt in der Anlage der Topoi nach der ‚Methode der Korrelation‘57 niederschlägt, wiederholt sich an verschiedenen Stellen des Systems.58 Zwei dieser Stellen sind besonders hervorzuheben und lassen sich darüber hinaus entlang von Tillichs Unterscheidung eines „innerhalb“ der Kirchen auf der einen, und „außerhalb“ der Kirchen auf der anderen Seite anordnen, die er im Vorwort erwähnt. Auf der einen Seite, „innerhalb“ der Kirchen, verortet Tillich seine Theologie zwischen dem „theologischen Liberalismus der letzten Periode amerikanischer Theologie“ und der „Neuorthodoxie […], die sich in den letzten Jahrzehnten in Kontinental-Europa durchgesetzt hat“59. In letzterer sieht er gewisse Verwandtschaft zur amerikanischen Ausprägung des Fundamentalismus vorliegen, insbesondere dahingehend, dass beide die „unveränderliche Wahrheit des Kerygmas, der Botschaft oder Verkündigung, im Gegensatz zu den wechselnden Forderungen der Situation stark beton[en]“60. Demgegenüber scheint es für ihn das Manko aller liberalen Theologie zu sein, sich in den „Relativitäten der Situation [zu] verlieren“ beziehungsweise „selber zu einem Teil der
TILLICH, Systematic Theology I, VIII. Vgl. auch GRAF, FRIEDRICH WILHELM, Zur Publikationsgeschichte von Paul Tillichs „Systematic Theology“. Teil 1, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 23/2 (2016), 192–217 sowie DERS., Zur Publikationsgeschichte von Paul Tillichs „Systematic Theology“. Teil 2, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 24/1 (2017), 51–121. Zur Problematik der Übersetzung sowie der Frage nach der Authentizität von Tillichs Texten vgl. SCHÜßLER, WERNER, Ist das Letztgültige wirklich „ein Gegenstand neben anderen“? Zum Problem der Authentizität von Tillich-Texten, in: Christian Danz u.a., The Courage to Be (International Yearbook for Tillich Research 13), Berlin/Boston: De Gruyter 2018, 245–258. Zu Stellung von Tillichs Spätwork in der Forschung vgl. auch DIENSTBECK, STEFAN, Von der Sinntheorie zur Ontologie. Zum Verständnis des Spätwerks Paul Tillichs, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 57/1 (2015), 32–59. 56 Ebd. 57 Vgl. zur ‚Methode der Korrelation‘ II.4.3, insbesondere die Fn. 137. 58 Vor allem natürlich TILLICH, ST I, 7.12 –15, aber auch ST I, 40; D ERS., ST III, 16.226f. 59 TILLICH, ST I, 7. 60 A.a.O., 11. 54 55
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
Situation [zu] werden“61 – diese Tendenz teilen Tillichs Ansicht nach auch der Nationalismus der Deutschen Christen und die fortschrittsgläubigen Humanisten in den USA. Tillich verortet seine Systematische Theologie damit also transnational: Sie will amerikanischen wie deutschen Studierenden in ihrer gegenwärtigen Lage eine Antwort sein, sie zieht Parallelen zwischen dem Erstarken der kerygmatischen Theologie in Europa und fundamentalistischen Tendenzen in den USA, und betont die gemeinsame Hingabe an den ‚Zeitgeist‘, der dem Nationalismus Deutscher Christen ebenso eignet wie der amerikanischen Ausprägung humanistischer Fortschrittsgläubigkeit. Den einen wie anderen wirft er eine Vereinseitigung vor; ersteren, weil sie die Botschaft überbetonen, zweiten, weil sie sich in der Situation verlieren. Tillich hingegen verfolgt den Anspruch, beide Pole – Situation und Botschaft – zur Sprache kommen zu lassen und damit dem Anspruch der Theologie überhaupt erst gerecht zu werden. Auf der anderen Seite, „außerhalb“ der Kirchen, wird diese grundsätzliche Verortung von Tillichs Theologie im ersten Band durch eine Schilderung Tillichs der „kirchengeschichtlichen Situation“62 ergänzt, die sich in der Einleitung zur englischen wie deutschen Ausgabe des dritten Bandes 1963 findet. Tillich spricht hier von der Charakterisierung der Situation durch „Ereignisse […], die die religiöse Bedeutung alles nur traditionell Theologischen weit überschreiten.“63 Gemeint ist damit die „Begegnung der geschichtlichen Religionen mit dem Säkularismus und den quasi-Religionen, die dem Säkularismus entstammen.“64 Als quasi-Religionen werden dabei der liberale Humanismus, der Nationalismus und der Sozialismus benannt. „Quasi-religiös“ nennt Tillich diese politisch-geistigen Bewegungen aufgrund ihres Unbedingtheitsanspruchs, den sie mit religiöser Hingabe vertreten und verfolgen. Auch in dieser Kontextualisierung der Systematischen Theologie tauchen, ähnlich wie in der ersten Verortung zwölf Jahre zuvor, Nationalismus und Humanismus, diesmal ergänzt durch den Sozialismus wieder auf. Allen drei quasi-religiösen Bewegungen hat sich Tillich in seinem zeitgleich erschienenen Aufsatz Christianity and the Encounter of the World Religions/Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen65 von 1963 ausführlich gewidmet. Darin beschreibt Tillich die Gefahr der quasi-Religionen als eine Verneinung der Vergänglichkeit und Zweideutigkeit von Nationen 61 Ebd. Die Gefahr wird hier erwähnt als eine, die der Theologie anheimfallen kann, wenn sie keine kerygmatischen Impulse erhält. Implizit ist hier vermutlich die liberale Theologie gemeint, insbesondere in Verbindung mit dem Hinweis auf die Zeit des Nationalsozialismus. 62 TILLICH, ST III, 16 sowie D ERS., Systematic Theology III, 6. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 TILLICH, Christianity and the Encounter oft he World Religions (1963), New York: Columbia University Press 1963. Die deutsche Übersetzung findet sich unter: TILLICH, Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen (1963), in: GW V, 51–98.
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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oder gesellschaftlichen Systemen. Stattdessen werden das ‚tausendjährigen Reich‘ oder die ‚klassenlose Gesellschaft‘ absolut gesetzt und mit einer letztgültigen Bedeutung versehen: Nations and social orders as such are transitory and ambiguous in their mixture of creativity and destructiveness. If they are taken as ultimates in meaning and being, their finitude must be denied. This has been done, e.g. in Germany by the use of the old eschatological symbol of a „thousand-year period“ for the future of Hitler’s Reich, a symbol which originally signified the aim of all human history. The same thing has been done in Russia in terms of the Marxian type of eschatological thinking (classless society). In both cases it was necessary to deny the ambiguities of life and the distortions of existence within these systems, and to accept unambiguously and unconditionally their evil elements, e.g., by glorifying the suppression of individual criticism and by justifying and systematizing lie and wholesale murder – as happened in Italy and Germany and in Russia under Stalin.66
Die Überhöhung der jeweiligen totalitären Vision geht für Tillich „notwendigerweise“ mit einer Leugnung der Zweideutigkeit des Lebens einher. Eine Leugnung, so expliziert er, bedeutet, dass die unausweichliche Verflochtenheit von Positiv- und Negativelementen eines Systems verneint wird, mit anderen Worten, die Negativseiten, Bruchstellen, Schwachpunkte eines Systems als solche nicht zur Sprache kommen und keiner Kritik unterzogen werden, die, so ließe sich ergänzen, diese Aspekte eindämmen und in Schach halten kann. Stattdessen wird jeder Versuch von Kritik verhindert, beziehungsweise deren Unterdrückung sogar „verherrlicht“. Die Auflistung, die daraufhin folgt – Lüge, legitimierter und organisierter Massenmord – deutet die jüngste Geschichte und die menschenverachtenden und menschenvernichtenden Auswirkungen von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus als „unvermeidliche“ Folgen dieser ursprünglichen Negation der „ambiguities of life“. Die totalitären Systeme Italiens, Deutschlands und Russlands werden dabei als quasi-religiöse Ideologien in einem Zuge genannt; die Schoah, die stalinistischen Säuberungen und Mussolinis Völkermord in Abessinien zugleich als potentiell wiederholbare Grauen thematisiert. Die Zusammenstellung von Ursache und Wirkung – Negation der Zweideutigkeit und Völkermord – mag auf den ersten Blick drastisch und etwas unverhältnismäßig wirken; zu geringfügig scheint die benannte Ursache für die ihr folgenden Verbrechen. Doch wird gerade an dieser Zusammenstellung klar, dass für Tillich der Umgang mit Zweideutigkeit keine Frage abstrakter Gedankenspielerei darstellt, sondern dabei die Grundfesten von Demokratie, Rechtsstaat und friedlichem Zusammenleben 66 TILLICH, Christianity and the Encounter, 6f. In der deutschen Übersetzung findet sich für die „ambiguities of life“ die „Zweideutigkeit des Lebens“ im Singular. Im Englischen werden somit die konkreten Manifestationen, im Deutschen eher die Zweideutigkeit als ontologische Struktur betont. Der Ausdruck „unambiguously“ wird interessanterweise nicht mit „eindeutig“, sondern mit „unkritisch“ übersetzt, was wiederum die Funktion der Zweideutigkeit als Kritik betont. Vgl. TILLICH, Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, 53f.
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
auf dem Spiel stehen – und bestimmte Formen der Vereindeutigung keine lapidare Angelegenheit sind, sondern ihnen eine grundgefährliche Tendenz innewohnt. In der Lehre von der Zweideutigkeit, wie sie im dritten Band der Systematischen Theologie, der zeitgleich mit dem Aufsatz erscheint, vorliegt, vollzieht sich also unter anderem Tillichs Auseinandersetzung mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts. Schlägt man den Bogen zurück zu den beiden vorgenommenen Verortungen der Systematischen Theologie, lässt sich festhalten, dass sich Tillich – innerkirchlich durch die Neoorthodoxie bzw. den Fundamentalismus, außerkirchlich durch nationalistische, sozialistische oder humanistische Strömungen – mit transnationalen Vereinseitigungs- und Vereindeutigungstendenzen konfrontiert sieht: Auf kirchlich-religiöser Seite besteht die Vereinseitigung in einer ausschließlichen Konzentration auf den Pol der Botschaft mit dem Resultat, dass kontextuell bedingte Ausformungen der christlichen Symbole als ewige Wahrheit verstanden und als absolut vereindeutigt werden. Auf quasi-religiöser, säkularer Seite hingegen wird eine Situation selbst der Zweideutigkeit enthoben und für unbedingt und letztgültig erklärt. Schon diese ersten Einsichten lassen zwei forschungsleitende Thesen aufstellen, die es im Folgenden zu prüfen gilt: zum einen die These, dass Tillich selbst die Zweideutigkeit des Lebens in seiner Systematischen Theologie kaum verneinen oder leugnen wird, sondern einen Umgang vorschlagen wird, der das Abgleiten in (quasi-)religiöse Ideologien in Form von gefährlichen Formen der Vereindeutigung zu vermeiden versucht. Die Antwort auf die Fragen seiner Zeit, die Herausforderung der Nachkriegstheologie, sieht Tillich also, so die Annahme, maßgeblich mit der Frage nach dem adäquaten Umgang mit der Zweideutigkeit gegeben. Zum anderen ist der These nachzugehen, dass Tillich bezogen auf die theologischen Tendenzen seiner Zeit eine Balancierung in Richtung der Seite der Situation verfolgen wird; hingegen im Falle der politischen Vereindeutigungsversuche gegen jede Form der Dämonisierung anschreiben wird. Zuvor sei noch in Kürze der Aufbau der Systematischen Theologie thematisiert: Das dreibändige Hauptwerk gliedert sich in fünf Teile, von denen die mittleren drei – Sein und Gott (II), Die Existenz und der Christus (III), Das Leben und der Geist (IV) – den Hauptteil darstellen.67 Alle drei Teile, so die Erläuterung der Einleitung, „umfassen die christlichen Antworten auf die Fragen der Existenz“68, entfalten die trinitarischen Symbole Gott, Christus und Geist als Antworten auf die menschliche Existenz, die jeweils in den Teilen Sein, Existenz und Leben dargelegt werden. Der erste und letzte Teil, Vernunft und Offenbarung (I), also die erkenntnistheoretischen Prolegomena, sowie der letzte Teil, Die Geschichte und das Reich Gottes (V), sind aus methodischen
67 68
Vgl. TILLICH, ST I, 82. Ebd.
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
311
und inhaltlichen Gründen ausgegliedert – der erste Teil wird gesondert behandelt, um erkenntnistheoretische Grundannahmen zu legen und die Zentralstellung der Offenbarung, auf die alle Antworten der anderen Teile zurückgehen, zu betonen.69 Der letzte Teil wird aufgrund der thematischen Fülle sowie der Zentralstellung der Frage nach dem Reich Gottes ausgegliedert.70 Da die Fülle der Zweideutigkeitsbelege in der Systematischen Theologie, insbesondere im dritten Band (in den Teilen IV und V), schier unerschöpflich ist, wird das Vorgehen in den folgenden Analysen im Gegenüber zu den vorangehenden Kapiteln mehrfach angeglichen: Zunächst konzentriert sich dieses Kapitel besonders auf diejenigen Teile des Werks, die sich explizit der Zweideutigkeit widmen, also Teil I, Teil IV und Teil V. Dann wird fokussiert den drei eingangs festgestellten Bestimmungen von Zweideutigkeit als existentielle Frage, als ontologischer Grundbegriff sowie als kulturanalytische Kategorie nachgegangen. Schließlich geschieht diese Fokussierung anhand eines ‚close-readings‘ von Bestimmungen, die jeweils wichtige, ergänzende, konträre Aspekte zum Zweideutigkeitsbegriff beitragen. Damit wird nicht ausgeschlossen, dass auch noch weitere Aspekte zu finden sein könnten, die diese erste Systematisierung im Anschluss an die vorliegende Arbeit erweitern, vertiefen und verfeinern können. 5.3.1 Zweideutigkeit als existentielle Frage Zunächst soll nun der ersten Beobachtung nachgegangen werden, die eingangs als der Status der Zweideutigkeit bezeichnet wurde, nämlich ihr Charakter als Frage oder frag-würdiges Merkmal menschlichen Lebens. Um diesen Aspekt der Zweideutigkeit genauer zu beleuchten, scheint es sinnvoll, sich noch einmal die Kontexte in Erinnerung zu rufen, anhand derer Tillich in seiner Einleitung zum ersten Band ebendiesen Fragecharakter der Zweideutigkeit hervorhebt. Hier wurden die „Frage der Zweideutigkeit des Lebens“71, die „Frage [...] der Zweideutigkeit der Vernunft“72 sowie die „Frage der Zweideutigkeit aller Geschichte“73 genannt. Folgt man diesen drei Spuren in den jeweiligen Teilen des Systems, stellt man fest, dass in allen drei Zusammenhängen der Inhalt der Frage, die in der Zweideutigkeit liegt, etwas anders akzentuiert ist. Insofern soll den drei Fragen nun jeweils einzeln und in chronologischer Reihenfolge, wie sie innerhalb der Systematischen Theologie erörtert werden, nämlich in den Teilen Vernunft (Teil I), Leben (Teil IV), Geschichte (Teil V), gefolgt werden.
Vgl. a.a.O., 82f. Vgl. TILLICH, ST III, 342. 71 TILLICH, ST I, 81f. 72 TILLICH, ST I, 82. 73 Ebd. 69 70
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
Im Zusammenhang mit der Vernunft folgt der Beschreibung der essentiellen Struktur der Vernunft der Abschnitt Die Vernunft in der Existenz mit der Unterüberschrift Die Endlichkeit und die Zweideutigkeit der aktuellen Vernunft74 Hier kommt Tillich in einem größeren Zusammenhang auf die Frage der Zweideutigkeit der Vernunft zu sprechen: Die Vernunft als Struktur des Geistes und der Wirklichkeit ist aktuell in den Prozessen des Seins, der Existenz und des Lebens. Das Sein ist endlich, die Existenz ist gespalten, und das Leben ist zweideutig. Die aktuelle Vernunft hat teil an diesen Merkmalen der Wirklichkeit. Sie hat teil an den Kategorien der Endlichkeit, den selbstzerstörerischen Konflikten, der Zweideutigkeit, und sie stellt die Frage nach dem, was jenseits der Gebundenheit an die Kategorien, jenseits des Konflikts liegt und was unzweideutig ist.75
Tillich bestimmt hier die Vernunft als eine ontologische Struktur sowohl des Geistes, als auch der Wirklichkeit und nimmt damit auf den zuvor erläuterten Zusammenhang zwischen subjektiver Vernunft (Struktur des Geistes) und objektiver Vernunft (Struktur der Wirklichkeit) Bezug.76 Diese ontologische Struktur der Vernunft bleibt jedoch nicht theoretisch abstrakt, sondern partizipiert an den „Merkmalen der Wirklichkeit“, die als Endlichkeit des essentiellen Seins, Gespaltenheit der Existenz und Zweideutigkeit des Lebens beschrieben werden und damit den drei Hauptteilen der Systematischen Theologie entsprechen (Teile II–IV). Die Vernunft in ihrer Struktur hat, so Tillich, Anteil an all diesen Merkmalen und dementsprechend auch an den Fragen, die in diesen Merkmalen liegen. Für die Zweideutigkeit des Lebens, so endet obiges Zitat – ist dabei die Frage nach dem verbunden, was „unzweideutig“ ist. Einige Zeilen später wird diese Formel genauer erläutert. Hier heißt es: Im aktuellen Leben der Vernunft ist ihre essentielle Struktur nie ganz verloren. Wäre sie verloren, so wäre die Vernunft genau so wie die Wirklichkeit im selben Augenblick, in dem beide ins Dasein treten, schon zerstört. Im aktuellen Leben der Vernunft sind essentielle und existentielle Kräfte, Kräfte der Schöpfung und Kräfte der Zerstörung zugleich miteinander vereinigt und getrennt.77
Mit dieser Explikation geht Tillich nun genauer auf das Leben – als dritte Größe gegenüber Sein und Existenz – ein. Er vertritt in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass die Aktualisierung des Lebens (der Übergang von potentiellem zu aktuellem Sein, also die Realisierung des Seins)78 nicht mit einem voll-
Vgl. a.a.O., 99–101. A.a.O., 99. 76 Vgl. a.a.O., 91–96. 77 A.a.O., 101. 78 Vgl. dazu TILLICH, ST III, 21f. Hier definiert Tillich seinen Lebensbegriff in aristotelischer Tradition als „‚Aktualisierung des Seins‘“ und fährt fort: „Dieser Lebensbegriff vereinigt zwei Hauptqualitäten des Seins, die meinem ganzen theologischen System zugrunde 74 75
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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ständigen Verlust der essentiellen Vernunftstruktur einhergeht. Mit der essentiellen Struktur sind die Polaritäten von Struktur und Tiefe, von statischen und dynamischen Elementen und von formalen und emotionalen Elementen der Vernunft angesprochen. Bezüglich der strukturellen Verschiebungen gegenüber der Vorlesung von 1951 (vgl. II.4.3) ist dabei zu bemerken, dass die dortige „Polarität“ von Schöpfung und Zerstörung nun vollends auf die Ebene von Essenz und Existenz verlegt wurde, während die Polaritäten (Tiefe und Struktur, Formalismus und Emotion, etc.) eben nicht mehr mit der Essenz als positivem Pol und Existenz als negativem Pendant identifiziert werden. Das bedeutet, dass die hier beschriebene Zweipoligkeit die Gleichwertigkeit beider Pole betont. Essentiell bedeutet nun nicht mehr eine Verschiebung Richtung des Positivpols, sondern eine balanciertes Miteinander-Wirken beider Pole. Greift man zur näheren Erläuterung etwa die letzte Polarität heraus, stellt man fest, dass Tillich hier verschiedene Zugriffe meint, mit denen die Vernunft innerhalb ihrer verschiedenen Funktionen (kognitive, ordnende, ästhetische und gemeinschaftsbildende Funktion) die Wirklichkeit erfasst. Dabei dominiert etwa bei einem kognitiven Zugriff das formale, man könnte auch sagen das distanzierte, auf formale Logik und instrumentelle Beherrschung ausgerichtete Element, während bei der ästhetischen Betrachtung ein emotionales, sich mit dem Gegenstand vereinendes Erkennen dominiert.79 Jedoch finden sich beide Aspekte, formales und emotionales Erkennen, in allen Funktionen wieder, nur eben in unterschiedlichen Graden. Dementsprechend ist die Musik liegen. Die beiden Qualitäten sind das ‚Essentielle‘ und das ‚Existentielle‘. Aber nur diejenige Essenz, die die Potentialität hat, aktuell zu werden, ist Teil des Lebens. Potentialität ist diejenige Weise des Seins, die die Macht (dynamis) hat, aktuell zu werden (z.B. die Potentialität eines jeden Baumes ist seine ‚Baumheit‘, die bewirkt, daß er sich als Baum entfaltet). Es gibt andere Essenzen, die diese Macht nicht haben; dazu gehören die geometrischen Formen (z.B. das Dreieck). Diejenigen Formen, die aktuell werden, unterwerfen sich den Bedingungen der Existenz – der Endlichkeit, der Entfremdung, dem Konflikt, usw. Das bedeutet nicht, daß sie damit ihren essentiellen Charakter verlieren (Bäume bleiben Bäume), aber es bedeutet, daß sie unter die Struktur der Existenz fallen und dem Wachstum, dem Verfall und dem Tod unterworfen sind. Ich gebrauche das Wort ‚Leben‘ als Ausdruck für eine ‚Mischung‘ von essentiellen und existentiellen Strukturen.“ Für den problemgeschichtlichen Hintergrund, sowie die werkgeschichtliche Entwicklung siehe SCHÜZ, PETER, Das Leben, seine Zweideutigkeiten und die Frage nach dem unzweideutigen Leben, in: Christian Danz, Paul Tillichs ‚Systematische Theologie‘, Berlin: De Gruyter 2017, 197–226. Vgl. auch NEUGEBAUER, MATTHIAS, Auf der Grenze. Der Lebensbegriff Paul Tillichs und die Grenze zur Naturwissenschaft, in: Christian Danz u.a., Theology and Natural Science (International yearbook for Tillich research 7), Berlin/Boston: De Gruyter 2012, 123–149. Zur Rezeption des Lebensbegriffs in der protestantischen Theologie zur Zeit Tillichs vgl. PFLEIDERER, GEORG, Zum Lebensbegriff in der protestantischen Theologie, in: Stephan Schaede/Gerald Hartung/Tom Kleffmann, Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs (Religion und Aufklärung 22), Bd. 2, Tübingen: Mohr Siebeck 2012, 185–219. 79 Vgl. TILLICH, ST I, 110.
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dem emotionalen Erkennen näher als der Roman, während die Mathematik vollends auf Seiten der formalen Logik verortet werden kann.80 Der entscheidende Punkt jedoch ist, dass im Falle der essentiellen Struktur beide Polaritäten, wie es im obigen Zitat heißt, „miteinander vereinigt“ vorliegen, das heißt die ästhetische Anschauung, aber auch die kognitive Erfassung beinhalten immer beide Pole des Erkennens, formales und emotionales Moment. Anders sieht es hingegen in der Existenz aus: Hier ist das Verhältnis der Polarität von Trennung und Konflikt geprägt: „Unter den Bedingungen der Existenz bricht die Einheit auseinander. Die Elemente bewegen sich gegeneinander und bringen Konflikte hervor, die […] tief und zerstörerisch sind“81, schreibt Tillich. Im Falle der kognitiven Funktion bedeutet dies zum Beispiel, dass das formale Erkennen überhandnimmt, es „überbetont“82 wird. Die Einheit der kognitiven Funktion wird „dem beherrschenden Element [untergeordnet] und jede[r] andere[…] Zugang zur Wahrheit [geleugnet]“83. Mit dieser Beschreibung ist genau diejenige Problematik angesprochen, die in der Dresdener Dogmatik unter dem Stichwort der ‚Zweideutigkeit der Wesenserfassung‘ verhandelt wurde und den dritten Typus von Zweideutigkeit repräsentierte (Zweideutigkeit als „Je-Desto“-Struktur, vgl. II.3.2 und II.3.4). Zweideutigkeit bezeichnete hier die Tatsache, dass eine Zunahme an formalistischer Richtigkeit zugleich eine Abnahme an wesensmäßiger Wahrheit bedeutet. Zwar ist auch diese Struktur in der Systematischen Theologie noch vorhanden, allerdings unter dem Begriff „Dilemma“.84 Zweideutigkeit hingegen bezeichnet nun das gleichzeitige Vorhandensein der essentiellen Einheit der polaren Elemente und ihrer existentiellen Getrenntheit im Leben selbst. So ist in dem obigen Zitat von Kräften der Schöpfung, also essentiellen, konstituierenden Kräften, und existentiellen, konflikthaftzerstörerischen Kräften die Rede, die „zugleich miteinander vereinigt und getrennt“85 auftreten. Um nochmals das verwendete Beispiel aufzurufen, bedeutet das, dass zwar formale und emotionale Aspekte etwa in der Erfassung eines Romans miteinander wirken, jedoch zugleich beide Elemente gegeneinander kämpfen und damit ihre Polarität durch eine zu starke Vereinseitigung auseinander zu brechen droht. Blickt man dementsprechend noch einmal auf die Frage, die sich mit diesem Zustand der Zweideutigkeit stellt, findet man im entsprechenden Abschnitt Formeln wie die „Frage nach einer neuen und universalen Integration“86, die
Vgl. a.a.O., 94. A.a.O., 108. 82 Ebd. 83 A.a.O., 109. 84 Vgl. a.a.O., 127. 85 A.a.O., 101. 86 A.a.O., 112. 80 81
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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„Frage nach der Wiedervereinigung von Form und Emotion“87 sowie nach der „Integration der in sich zwiespältigen Vernunft“88. Die Frage, die aus der Zweideutigkeit der Vernunft erwächst, ist also eine nach einer neuen Vereinigung, einer neuen Integration, die das zweideutige Verhältnis von Einheit und Zerspaltenheit der Polaritäten überwindet. Mit den Stichworten „Integration“ und „Wiedervereinigung“ liegt der Akzent bei dieser Fragestellung also auf dem Wunsch nach einer höheren Synthese gegenläufiger Tendenzen. Erweitert man diese erste Frage der Zweideutigkeit der Vernunft um die Frage der Zweideutigkeit des Lebens, so lässt sich diese Akzentuierung in eine andere Richtung ergänzen. So schreibt Tillich im Teil IV unter der Überschrift Die Frage nach unzweideutigem Leben und seine Symbole:89 In allen Lebensprozessen ist ein essentielles und ein existentielles Element – geschaffene Gutheit und Entfremdung – so miteinander verflochten, daß weder das eine noch das andere ausschließlich wirksam ist. Das Leben umfaßt immer essentielle und existentielle Elemente – das ist die Wurzel seiner Zweideutigkeit. Die Zweideutigkeit des Lebens erscheint in allen Dimensionen, in allen Prozessen, in allen Bereichen. Daher ist die Frage nach unzweideutigem Leben überall latent vorhanden. Alle Geschöpfe sehnen sich nach einer unzweideutigen Erfüllung ihrer essentiellen Möglichkeiten.90
An dieser Stelle wird die Zweideutigkeit als strukturelle Verflochtenheit von essentiellen und existentiellen Elementen beschrieben, in der die Elemente sich gegenseitig begrenzen: nie ist ein Element „ausschließlich wirksam“, weder die Essentialstruktur, noch deren existentielle Zerstörung. Nun aber wird die Frage, die in der Zweideutigkeit liegt, beschrieben als Sehnsucht „nach einer unzweideutigen Erfüllung ihrer [der Geschöpfe, Anm. Vfin.] essentiellen Möglichkeiten.“ Hier geht es also nicht vorrangig um die Frage nach Versöhnung auf höherer Ebene, sondern um die Frage nach dem Guten. Schon in der Vorlesung von 1958 Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse formulierte Tillich seinen Aufbau entgegen der „üblichen“ theologischen Argumentation von Gesetz – Evangelium oder Sünde – Erlösung als den Versuch, „mit dem Positiven an[zu]fangen und dann [zu] zeigen, warum wir das Positive nicht haben in der Zweideutigkeit“91. Tillichs Argumentation geht also von einem ursprünglichen Gut-Sein der Schöpfung aus, um dann angesichts der konflikthaften Lebensrealität die Frage zu stellen, warum sich dieses Gut-Sein unter den zweideutigen Bedingungen des Lebens nicht realisieren lässt. Das bedeutet, die Frage der
A.a.O., 113. Ebd. 89 Vgl. TILLICH, ST III, 130–133. 90 A.a.O., 130. Im englischen Original spricht Tillich an dieser Stelle wechselnd – und, wie es scheint, in synonymer Verwendung – von der „ambiguity of life“ und den „ambiguities of life“, vgl. TILLICH, Systematic Theology III, 107. 91 TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 408. 87 88
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Zweideutigkeit ist hier dahingehend akzentuiert, dass der Wunsch nach der Realisierung dessen, was der Mensch ‚eigentlich‘ ist und die Realisierung der Welt, wie sie ‚eigentlich‘ sein soll, ausgedrückt wird. In der Zweideutigkeit liegt also – neben dem Verlangen nach Integration und Wiedervereinigung – auch der von einer reinen „Erfüllung“ des Guten, des Gesollten, der mit dem Sein gegebenen Potentialitäten. Schließlich ist noch der Aspekt der Zweideutigkeit der Geschichte zu beleuchten. Sucht man den entsprechenden Abschnitt in Teil V auf, in dem diese Fragestellung entfaltet wird, trifft man auf folgendes Zitat: Die Geschichte läuft in allen Prozessen des Lebens auf Erfüllung zu, obwohl sie, während sie auf das Endgültige zuläuft, an das Vorläufige gebunden bleibt, und, indem sie der Erfüllung zu strebt, die Erfüllung verhindert. Sie kann der Zweideutigkeit des Lebens nicht entgehen, indem sie in allen Lebensprozessen dem Unzweideutigen zustrebt. […] Aber die Geschichte steht, wie das Leben im allgemeinen, unter der Negativität der Existenz und damit unter der Zweideutigkeit des Lebens. Das Streben nach universaler und vollkommener Zentriertheit, nach dem universal und vollkommen Neuen und nach universaler und vollkommener Erfüllung ist ein Problem und bleibt ein Problem, solange es gibt. Dieses Problem zeigt sich in der Zweideutigkeit alles Geschichtlichen.92
Einige Seiten später heißt es noch einmal zusammenfassend: Während die Geschichte auf ihr endgültiges Ziel zuläuft, verwirklicht sie ständig begrenzte Ziele; damit erfüllt und verneint sie zugleich ihr endgültiges Ziel. Alle Zweideutigkeiten der geschichtlichen Existenz sind Formen dieser fundamentalen Zweideutigkeit.93
Die „fundamentale“ Zweideutigkeit der Geschichte scheint Tillich im Verhältnis der Geschichte zu ihrem eigentlichen Ziel zu sehen: Sie strebt nach „Erfüllung“, die sie genau in diesem Streben „verhindert“; sie „erfüllt und verneint zugleich ihr endgültiges Ziel“. Hier wird die Zweideutigkeit als eine „JaNein“-Struktur, wie sie in der Dresdener Dogmatik häufig anzutreffen war, aktualisiert (vgl. II.3.3.1 und 3.3.4). Hier ist also – in Ergänzung zu der Frage nach Wiedervereinigung und der Frage nach der Erfüllung des Guten – der Akzent noch einmal verschoben hin zu einer Aufhebung gegenläufiger Strukturen. Darüber hinaus wird das eigentliche Ziel der Geschichte, das entlang der drei Lebensprozesse aufgegliedert wird,94 jeweils mittels der Begrifflichkeiten von „universal“ und „vollkommen“ beschrieben: als das „Streben nach universaler und vollkommener Zentriertheit, nach dem universal und vollkommenen Neuen und nach universaler und vollkommener Erfüllung“. Neben der Frage nach der Realisierung des unzweideutig Guten („vollkommen“), die auch TILLICH, ST III, 379f. Das englische Original spricht von „question“ statt „Problem“ und hebt damit noch einmal den Fragecharakter der Zweideutigkeit hervor. 93 A.a.O., 388. 94 Die drei Lebensprozesse Selbst-Integration, Selbst-Schaffen und Selbst-Transzendierung werden im nächsten Abschnitt gesondert behandelt, vgl. II.5.3.2. 92
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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schon im Zusammenhang mit der Zweideutigkeit des Lebens angesprochen war, tritt noch ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich der von „Universalität“. Dieser Aspekt ist auch derjenige, der an einer zentralen Stelle des dritten Bandes – Tillich bündelt hier die Situation des Menschen in den drei Zentralbegriffen seines Hauptwerks – im Zusammenhang mit der Zweideutigkeit auftaucht: Die menschliche Situation, aus der die existentiellen Fragen aufsteigen, ist durch drei Begriffe charakterisiert: Endlichkeit – im Hinblick auf das essentielle Sein des Menschen als Geschöpf; Entfremdung – im Hinblick auf das existentielle Sein des Menschen in Raum und Zeit; Zweideutigkeit – im Hinblick auf die Partizipation des Menschen am universalen Leben.95
Was ist aber mit dem Begriff von „Universalität“ jeweils gemeint? Im letzten Zitat scheint der Zusammenhang von menschlichem Leben und dem Leben im Allgemeinen zur Diskussion zu stehen. Der „universale[…] Lebensbegriff“, so bestimmt Tillich es zu Beginn des dritten Bandes, ist Grundlage des „ontologische[n] Lebensbegriff[s]“, der Leben als Aktualisierung von Potentialität versteht. Diesen universalen Lebensbegriff, den Tillich von der Lebensphilosophie her denkt, „[umfaßt] alles Seiende“96. Mit der Teilnahme am „universalen Leben“ ist also das Verhältnis vom Menschen zum allumfassenden Lebenszusammenhang als der Totalität alles Seienden angesprochen. Dementsprechend könnte auch die Frage nach universaler Zentriertheit, dem universal Neuen, und der universalen Erfüllung auf diesen Zusammenhang von menschlichem Leben und dem Rest der Schöpfung bezogen sein. Zweideutigkeit hieße also, dass jede Form der Erfüllung und Integration im Leben selbst nie universal ist, also den ganzen Lebenszusammenhang umfasst, sondern immer fragmentarisch einzelne Bereiche oder Individuen betrifft. Damit wird den bisher thematisierten Aspekten von Wiedervereinigung, Erfüllung von Potentialität und Aufhebung von Gegenläufigkeit noch der Aspekt der Einheit des Lebenszusammenhangs hinzugefügt. Damit lässt sich der Modus der Zweideutigkeit als Frage folgendermaßen zusammenfassen: Der Fragecharakter der Zweideutigkeit richtet sich auf zwei verschiedene Aspekte, nämlich auf der einen Seite eine neue Form von Einheit, die sowohl die Vereinigung und Zerspaltung der verschiedenen Polaritäten des Lebens in einer neuen Synthese betrifft, als auch die Einheit der Schöpfung in Form einer allumfassenden Totalität alles Seienden. Hier liegt das frag-würdige der Zweideutigkeit also im fragmentarischen Charakter oder der Unvollständigkeit alles Lebens. Auf der anderen Seite ist mit der Erfüllung des Guten und der Aufhebung von Gegenläufigkeit auf eine Eindeutigkeit beziehungsweise Unzweideutigkeit abgezielt. Hier scheint das frag-würdige der Zweideutigkeit also eher in dem Mischungsverhältnis von Positiv- und Negativelemen-
95 96
A.a.O., 327. TILLICH, ST I, 22.
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
ten und ihrer Ununterscheidbarkeit zu liegen, das dem Leben in der Zweideutigkeit zueigen ist, und damit in der (ethischen) Unvollkommenheit alles Seienden. Immerwährende Unvollständigkeit und immerbleibende Unvollkommenheit – darin liegt also die Frage, die mit der Zweideutigkeit an den Menschen gestellt ist.97 5.3.2 Zweideutigkeit als ontologischer Grundbegriff Folgt man der zweiten in der Einleitung dieses Kapitels gegebenen Spur – dem Status der Zweideutigkeit als ontologischem Grundbegriff – stößt man zwangsläufig auf die Zusammenstellung von Zweideutigkeit und Lebensbegriff, die der dritte Band der Systematischen Theologie extensiv entfaltet.98 Schon in der Berliner Vorlesung Die menschliche Situation im Lichte der Theologie und Existentialanalyse von 1952 (vgl. II.4.3) war Zweideutigkeit „als ein Charakteristikum von Leben als Leben“99 bezeichnet worden, mit dem Verweis, dass der deutsche Ausdruck „Zweideutigkeit“ für die Tragweite dieser Tatsache eigentlich zu „banal“100 klänge. Ganz ähnlich beginnt der grundlegende Abschnitt zu der Zweideutigkeit des Lebens in der Systematischen Theologie: Hier findet sich eine Fußnote der Herausgeberinnen der deutschen Ausgabe Marc Dumas hat auf das Verständnis von Ambiguität als ‚existentielle Realität‘ bei Tillich hingewiesen – im Gegenüber zu einem sprachlichen Verständnis (etwa in Bezug auf den Begriff des Geistes bei REISZ, FREDERICK JR., Ambiguities in the Use of the Theological Symbol ‘Spirit’ in Paul Tillich’s Theology, in: Tillich Studies. Papers Prepared for the Second North American Consultation on Paul Tillich Studies, Tallahassee: Florida State Univ Dept of Religion 1975, 89–103) oder ein konzeptuelles Verständnis wie bei STENGER, MARY ANN, The Ambiguity of the Symbol of the Cross. Legitimating and Overcoming Evil, in: William Cenker (Hg.), Evil and the Response of World Religion, New York: Paragon House 1997, 56–69. DUMAS, MARC, L’ambiguïté de la théologie chez Tillich…et aujourd’hui, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 235–247, hier 236. 98 Vgl. TILLICH, ST III, 21–133. Die zentrale Bedeutung, die insbesondere den eröffnenden Kapiteln zum Lebensbegriff bezüglich der Konstruktion des Gesamtwerks zukommt, ist mehrfach betont worden: Peter Schüz begreift den Beginn von Teil IV als „gemeinsamer Horizont“ der unterschiedlichen Teile des Systems, als „Wendepunkt oder zumindest eine Akzentverschiebung in der Gesamtanlage des Systems“, der dem Werk „einen gewissen Eigenständigkeitscharakter verleiht“, siehe SCHÜZ, Das Leben, seine Zweideutigkeiten und die Frage nach dem unzweideutigen Leben, 198. Ringleben verweist auf die Vermittlung der einzelnen Kapitel des Systems sowie deren Rückführung auf den eigenen Ausgangspunkt in der Darstellung der Lebensphilosophie, vgl. RINGLEBEN, JOACHIM, Der Geist und die Geschichte (Systematische Theologie Bd. III), in: Hermann Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt a.M.: Athenäum 1989, 230–255, hier 230f. Werner Schüßler und Erdmann Sturm sprechen vom „Höhepunkt“ des Hauptwerkes, vgl. DIES., Paul Tillich, 191. 99 TILLICH, Theologie und Existentialanalyse, 301. 100 Ebd. Tillich merkt hier an, „Zweideutigkeit“ sei „im Deutschen ein etwas schwieriger Ausdruck und eine etwas banal klingende Formulierung, als ob es sich um Zweideutigkeiten handelte, die man im Leben findet neben anderen Dingen.“ 97
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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mit der Anmerkung, dass „das englische Wort ambiguity […] die „grundsätzliche und bleibende Problematik einer Sache [mehr betone] als das deutsche Wort ‚Zweideutigkeit‘“.101 In dieser Anmerkung, die vermutlich auf die regelmäßigen Gespräche zwischen Tillich und seinen Übersetzerinnen zur deutschen Ausgabe der Systematic Theology zurückgeht, mag sich zunächst ganz grundsätzlich niederschlagen, dass im Deutschen unter dem Begriff ‚Zweideutigkeit‘ ab dem 18. Jahrhundert „zunehmend etwas Schlüpfriges, eine Zote oder zwielichtige, oft sexuelle Anspielung verstanden wurde“102, die einem grundlegenderen, gewichtigeren Bedeutung etwas im Weg steht. Die Notiz ist womöglich aber auch darauf zurückzuführen, dass das Bedeutungsspektrum des englischen Ausdrucks sehr breit ist und neben Zweideutigkeit auch verwandte Begriffe umfasst wie Mehrdeutigkeit, Unklarheit und Doppelbödigkeit.103 Mit einem solch umfassenden Begriff für jedwede Form von Uneindeutigkeit, so ließe sich argumentieren, ist womöglich das, was Tillich vor Augen hat, besser auf den Begriff gebracht. Andererseits trifft Tillich ja gerade nicht die Entscheidung, in der deutschen Übersetzung der Systematic Theology statt des Zweideutigkeitsbegriffs das deutsche Fremdwort ‚Ambiguität‘ zu verwenden. Stattdessen bleibt er beim Begriff der Zweideutigkeit, den er auch schon in der deutschen Zeit verwendet hatte. Dies mag dem gängigen Sprachgebrauch der damaligen Zeit geschuldet sein, in der ‚Zweideutigkeit‘ im Deutschen viel eher verwendet wird, oder auch die Kontinuität zum deutschen Werk und dem darin verwendeten Zweideutigkeitsbegriff garantieren wollen. Es könnten hier aber auch inhaltliche Gründe vorliegen, wie etwa die Tatsache, dass die Zweiheit mit dem deutschen Begriff – anders als mit dem Englischen – ausdrücklich betont wird. Die verschiedenen hier angestellten Überlegungen, die sich mit der Übersetzung von ‚ambiguity‘ zu ‚Zweideutigkeit‘ verbinden, gilt es bei der folgenden Analyse von Zweideutigkeit als ontologischem Grundbegriff im Blick zu behalten, um schließlich womöglich eine definitivere Aussage zu diesem Sachverhalt treffen zu können. Wie im letzten Unterkapitel soll auch hier ein zentrales Zitat aus der Systematischen Theologie die Analyse einleiten. So schreibt Tillich im erwähnten grundlegenden Abschnitt zum Leben und seinen Zweideutigkeiten:104
TILLICH, ST III, 42, Fn 1. ULLRICH, Begriffsgeschichte, 146. Vgl. I.1 und I.4. 103 K RIEGER, ,at war with the obvious‘, 15, Anm. 13. Krieger spricht in diesem Zusammenhang von Ambiguität als einem „Metaterminus“, der ein „semantisches Feld“ umfasst. Vgl. I.1. 104 Die Überschrift des entsprechenden Abschnitts lautet: „B. Die Selbstaktualisierung des Lebens und ihre Zweideutigkeiten. Grundlegende Betrachtung: Die Hauptfunktionen des Lebens und ihre Zweideutigkeit.“ TILLICH, ST III, 42. 101 102
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Jeder Lebensprozeß steht in der Zweideutigkeit, in der positive und negative Elemente gemischt sind, und zwar so, daß eine endgültige Trennung des Negativen vom Positiven nicht möglich ist: Das Leben ist in jedem Augenblick zweideutig. Meine Absicht ist, die einzelnen Funktionen des Lebens nicht in ihrem essentiellen Charakter, d.h. getrennt von ihrer existentiellen Verzerrung zu behandeln, sondern so, wie sie mit ihren Zweideutigkeiten im Prozeß ihrer Aktualisierung sich wirklich darbieten, denn das Leben steht weder in seiner reinen Essenz, noch in seiner reinen Existenz – es ist zweideutig.105
Zweideutigkeit wird an dieser Stelle zunächst beschrieben als etwas, „in der“ der Lebensprozess „steht“. Mit dieser Formulierung, die sich auch zu Ende des Zitats in Bezug auf Essenz und Existenz noch einmal findet, erscheint Zweideutigkeit zunächst als etwas statisches, eine Art Einzugsbereich oder Sphäre, in der etwas stattfindet, nämlich das Leben selbst. Ganz ähnlich war bereits in den materialdogmatischen Teilen der Dresdener Dogmatik von der Zweideutigkeit als ‚Stand‘ oder ‚Sphäre‘ die Rede gewesen (vgl. II.3.3.3).106 Inhaltlich näher bestimmt wird diese Zweideutigkeit dann als Mischung von Positiv- und Negativelementen, für die eine „endgültige Trennung“ nicht möglich ist. Mit der expliziten Fokussierung auf die Abtrennung des Negativen ist dabei erneut der Fragecharakter thematisiert, der im letzten Abschnitt entfaltet wurde (vgl. II.5.3.1), nämlich die Frage danach, „warum wir das Positive nicht haben in der Zweideutigkeit“107. Nach dieser inhaltlichen Konkretisierung folgt in Form einer Zuspitzung die Zentralaussage des Zitats, die im Vergleich zur einführenden Bestimmung plötzlich sehr alltagsnah klingt, nämlich dass das Leben „in jedem Augenblick zweideutig“ ist. Hier kommt ‚Zweideutigkeit‘ nicht als ein Bereich oder eine Sphäre, sondern vielmehr als eine Eigenschaft, eine Qualität des Lebens in den Blick, die dem konkreten Leben in jedem Einzelmoment anhaftet. Durch die adjektivische Verwendung wird dabei der attributive Charakter besonders hervorgehoben. Schließlich kommt gegen Ende des Zitats noch eine weitere Perspektive hinzu: der Zusammenhang mit den „einzelnen Funktionen des Lebens“, die, so die Ankündigung „mit ihren Zweideutigkeiten“ behandelt werden sollen. Hier klingt es, als ob konkrete, aber voneinander verschiedene Zweideutigkeiten sich zu einzelnen Lebensprozessen zuordnen lassen, dabei aber von diesen Lebensprozessen doch unterschieden werden können, als sie erst „im Prozeß ihrer Aktualisierung“ auftreten. Im Folgenden wird die These entfaltet, dass es sich bei diesen verschiedenen Aspekten des Zweideutigkeitsbegriffs um unterschiedliche Abstraktionsgrade eines sich ausdifferenzierenden Begriffs handelt. Dabei lassen sich drei verschiedene Ebenen unterscheiden: Zunächst wird Zweideutigkeit bei Tillich als Ebd., 44. In der englischen Fassung allerdings heißt es „Every life process has the ambiguity that the positive and negative elements are mixed in such a way […].“ Hier also fehlt die Assoziation zum ‚Stand‘ oder der ‚Sphäre‘ und es dominiert die Beschreibung von Ambiguität als Eigenschaft oder Qualität des Lebens. Vgl. TILLICH, Systematic Theology III, 32. 107 TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 408. 105 106
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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ontologisch-abstrakter Begriff im Sinne eines Strukturrahmens des Lebens als Mischung von Positiv- und Negativelementen bestimmt. Auf einer ontologisch-konkreten Ebene wiederum konkretisiert sich dieses Mischungsverhältnis in Zusammenhang „mit“ den Lebensfunktionen in Form von den drei Grundzweideutigkeiten des Lebens: die Zweideutigkeiten von Selbst-Integration/Desintegration, Selbst-Schaffen/Zerstörung, Selbst-Transzendierung/Profanisierung. In Form von konkreten, lebensweltlichen Realisierungen aktualisieren sich diese Grundzweideutigkeiten dann als erfahrbare Zustände, wie etwa Gesundheit und Krankheit im Falle des Lebensprozesses von Selbst-Integration und Desintegration. Zur Erläuterung dieser drei Ebenen der Systematisierung von Zweideutigkeit scheint es sinnvoll, sie zunächst in Verbindung mit den Grundzügen von Tillichs Lebensbegriff einzuführen. „Leben ist die ‚Aktualisierung des Seins‘“108, so lautet, mit Rückgriff auf die aristotelische Begriffsbestimmung Tillichs grundlegende Definition des Lebens zum Auftakt des dritten Bandes. Als ontologischer Lebensbegriff in existentieller Interpretation kombiniert Tillich in seiner Definition die Differenz von Aktualität und Potentialität mit den beiden „Hauptqualitäten des Seins“109, näherhin Essenz und Existenz. Jede Essenz, die sich potentiell aktualisieren respektive den Bedingungen der Existenz unterwerfen kann, wird als integraler Teil des Lebens bestimmt. Zugleich wird in Anlehnung an den universalen Lebensbegriff der Lebensphilosophie alles Seiende als „Leben“ gefasst und der Lebensbegriff damit gegenüber einem rein vitalistischen Verständnis zum Fundamentalbegriff erweitert.110 Damit kommt dem Lebensbegriff qua definitionem bereits eine die Wirklichkeit integrierende Funktion zu, als eine „Einheit, die zunächst gegeben ist mit dem Begriff des Lebens selbst“.111 Dieses Verständnis von Leben als Einheit der Totalität alles Seienden verbindet sich in Tillichs Konzeption mit dem Begriff der ‚Dimension‘.112 In Abgrenzung gegenüber einer hierarchischen Binnendifferenzierung des Lebens, die Anorganisches, Organisches, Psychisches und Geistiges als ‚Schichten‘ übereinander anordnet, wählt Tillich den Begriff der ‚Dimension‘, um die gegenseitige Durchdringung und die fließenden Übergänge zwischen den verschiedenen Bereichen des Lebens beziehungsweise verschiedenen Arten des Seienden (Materie, Pflanzen, Tiere, Menschen, Kultur, usw.) hervorzuheben. Damit kommt er, so die einleitende Einordnung, der grundlegenden Verfasst-
TILLICH, ST III, 21. Ebd. 110 Vgl. D ANZ, Religion als Freiheitsbewusstsein, 275. 111 So Tillich in der Vorlesung von 1958. TILLICH, Zweideutigkeit der Lebensprozesse, 336. 112 Vgl. TILLICH, ST III, 23–41. 108 109
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
heit des menschlichen Geistes nach, die „Mannigfaltigkeit des Seienden“113, die in der Welt begegnet, auf ein einendes Prinzip zu bringen – jedoch ohne antagonistische Dualismen zu erzeugen: So begründet er den Vorteil der Metapher der ‚Dimension‘ im Gegenüber zur ‚Schicht‘ als eine Beschreibung der „Verschiedenheit der Seinsbereiche in einer solchen Weise, daß diese nicht in Konflikt miteinander geraten können. […] Sie kreuzen sich, ohne sich zu stören.“114 So werde dem Anspruch Genüge getan, dass „die Einheit des Lebens jenseits seiner Konflikte sichtbar wird.“115 An dieser Stelle wird Tillichs Bestreben sichtbar, eine ursprüngliche Einheit des Lebens jenseits seiner Konflikte argumentativ abzusichern.116 Zugleich jedoch sollen ebendiese Konflikte nicht negiert, sondern lediglich in ihrem Ursprung klar benannt werden: „Sie sind Folge der Zweideutigkeit aller Lebensprozesse und daher überwindbar, ohne daß eine angebliche Schicht durch eine andere zerstört würde.“117 Es wird damit also nicht der Gegensatz zwischen verschiedenen Schichten des Lebens als Ursprung der Konflikte benannt – ein solches Verständnis würde sich etwa in einem Leib-Seele-Dualismus niederschlagen. Vielmehr beansprucht Tillich, dass sich die Zweideutigkeit des Lebens nicht als Kampf zwischen den Dimensionen artikuliert, sondern sich innerhalb der jeweiligen Dimensionen (Anorganisches, Organisches, Psychisches, usw.) lokalisieren lässt. Damit vertritt Tillich gegenüber dualistischen Lebensbegriffen das Konzept eines differenzierten Monismus118, innerhalb dessen die Konflikte des Lebens nicht aus den Differenzen zwischen verschiedenen Dimensionen resultieren, sondern alle Dimensionen gleichermaßen angehen. Die (differenzierte) Einheit des Lebens wird also auch insofern als Einheit begriffen, als alle Dimensionen von demselben Grundkonflikt betroffen sind, der aus der Zweideutigkeit des Lebens selbst resultiert. Direkt mit dem ontologischen Lebensbegriff verknüpft findet sich nun auch die Definition des Lebens „als Ausdruck für eine ‚Mischung‘ von essentiellen und existentiellen Strukturen“119 und damit die Grundlage für die ontologisch113 So schreibt er: „Die Mannigfaltigkeit des Seienden hat von jeher den menschlichen Geist veranlaßt, nach der Einheit in der Mannigfaltigkeit zu suchen, weil der Mensch die ihm begegnende Mannigfaltigkeit der Dinge nur mit Hilfe einender Prinzipien verstehen kann.“ TILLICH, ST III, 23. 114 A.a.O., 25f. 115 A.a.O., 26. 116 Dieses wiederkehrende „Plädoyer“ für die Einheit jenseits aller Pluralität hat Werner Schüßler jüngst am Beispiel der Vernunft in der Systematischen Theologie analysiert, vgl. SCHÜßLER, WERNER, Vernunft. Paul Tillichs Plädoyer für deren Einheit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 60/61 (2018/2019), 301–319. 117 TILLICH, ST III, 26. 118 So treffend Jari Ristiniemi, Life, Being, and Spirit in Paul Tillich’s Differential Monism. Presuppositions and Consequences, in: ASMAR, Revolution und Reformation, 287–299, hier etwa 287. 119 A.a.O., 22.
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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abstrakte Bestimmung von Zweideutigkeit: Der Prozess der Aktualisierung von Potentialität, den Tillich ‚Leben‘ nennt, besteht darin, dass bestimmte Formen in die Existenz übergehen; sie realisieren sich und werden aktuell. Die Idee der ‚Baumheit‘, so Tillichs Beispiel, realisiert sich etwa in der Entwicklung eines einzelnen Baums, der wächst, sich verzweigt, Blätter kriegt, Wurzeln schlägt usw. Dabei geht die essentielle Struktur dieses Baumes nicht verloren, sondern sie realisiert sich unter bestimmten Bedingungen: „[…] Bäume bleiben Bäume[…], aber es bedeutet, daß sie unter die Struktur der Existenz fallen und dem Wachstum, dem Verfall und dem Tod unterworfen sind.“120 In diesem Vorgang der Aktualisierung von potentiellem zu aktuellem Sein liegt damit die erste ontologisch-abstrakte Bestimmung von Zweideutigkeit begründet, nämlich dass Leben seiner grundlegenden Bestimmung nach immer nur gegeben ist als „zweideutige[…] Manifestationen, […] jene Mischung von Essentiellem und Existentiellem, die wir Leben nennen.“121 Damit wird deutlich: Die Zweideutigkeit als ein Abstraktum, in der die Lebensprozesse ‚stehen‘, ist eine Beschreibung der Struktur des Lebens selbst, das als Einheit nicht nur die Totalität des Seienden, sondern auch alles Seiende in seiner Widersprüchlichkeit zwischen dem, was es ‚eigentlich‘ sein soll und dem, was es realiter unter den Bedingungen der Existenz ist, umfasst. Diese erste Fundamentalbestimmung des Lebens als Aktualisierung potentiellen Seins und seiner darin gegebenen zweideutigen Grundstruktur wird im Verlauf der Argumentation weiter ausdifferenziert, insbesondere durch die Beschreibung der Lebensfunktionen, die den ontologischen Begriff als prozesshaftes und dynamisches Geschehen explizieren.122 Der Übergang von Potentialität zu Aktualität wird dabei als dreigliedrige Bewegung des Gleichbleibensmit-sich-selbst (Selbst-Identität), des Herausgehens-aus-sich-selbst (SelbstVeränderung) und der Rückkehr-zu-sich-selbst gefasst.123 Als grundlegende Dynamik ist diese dialektische Bewegung in den Hauptfunktionen des Lebens stets wirksam, einmal als zirkuläre Bewegung der Selbst-Integration unter dem Prinzip der Zentriertheit, dann als horizontale Bewegung des Sich-Schaffens Ebd. A.a.O., 41. 122 Tillich greift hier auf die Lebensphilosophie zurück: „Wir können die grundlegende Erkenntnis der Lebensphilosophie – zum Beispiel eines Böhme, Schelling, Heidegger oder Nietzsche – heranziehen, wonach alles Leben über sich hinausstrebt und zu sich zurückstrebt. Wo das Leben aufhört, über sich hinauszustreben, zum Beispiel über eine gegebene Situation, eine kulturelle Tradition, ein vorhandenes Dogma, eine philosophische Lage – wo immer das der Fall ist, da ist Tod und nicht mehr Leben. Und andererseits, wenn das Leben über sich hinausgeht, möchte es dennoch bleiben, was es ist, es möchte sich nicht verlieren, es möchte zurückkehren. Wenn es aber nicht zurückkehren kann, dann hat der Tod ebenfalls das Leben verdrängt.“ In: TILLICH, Der philosophische Hintergrund meiner Theologie. Vortrag an der ‚St. Paul’s University‘ in Tokio am 17.5.1960, in: GW XIII, 477–488, hier 484. 123 Vgl. TILLICH, ST III, 42ff. 120 121
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unter dem Prinzip des Wachstums, schließlich in der vertikalen Richtung der Selbst-Transzendenz unter dem Prinzip des Heiligen. Tillich charakterisiert das Leben an dieser Stelle als Einheit verschiedener Prozesse von Selbstunterscheidung und Selbstvermittlung. Damit wird ‚Leben‘ nicht nur als Vermittlungsbegriff zwischen einer monistischen und dabei doch ausdifferenzierten Wirklichkeit gefasst, sondern integriert mittels seiner dialektischen Struktur auch die Distanzierung von sich selbst.124 Mit diesem Verständnis grenzt sich Tillich klar gegenüber biologistischen Lebenskonzepten ab und erweitert seinen Lebensbegriff zu einem, der auch die geistige Dimension in sich fassen kann.125 Christian Danz spricht in diesem Zusammenhang vom Leben als einer „Einheit […], welche Vielheit gerade nicht ausschließt, sondern einschließt.“126 Gleichzeitig gelingt Tillich hier die Vermittlung zwischen einem ontologischen Lebensbegriff und dem prozesshaften Verständnis des Lebens in der Lebensphilosophie. Die drei Lebensfunktionen oder Grundbewegungen des Lebens (Integration, Schaffen, Transzendierung) versteht Tillich dabei jeweils als Realisierungen einer der ontologischen Polaritäten, die im ersten Band der Systematischen Theologie entfaltet wurden: Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form, Schicksal und Freiheit.127 So bildet etwa in der Funktion der Selbst-Integration die ontologische Polarität von Individualisation und Partizipation die der Funktion zugrundlegende Struktur.128 Im Prozess der Aktualisierung bezeichnet ‚Integration‘ dann das Gleichgewicht beider Pole in einer spannungsvollen Einheit, ‚Desintegration‘ das Zerreißen dieses Gleichgewichts: Jedes Leben versucht ein ausbalanciertes Gleichgewicht zu erreichen zwischen der Etablierung und dem Schutz eines eigenen Zentrums, das sich von anderem
124 Joachim Ringleben spricht hier von der „Möglichkeit, in der Wendung gegen sich selbstmehr zu sein, als es selbst in seiner Unmittelbarkeit“ und vom Leben als einer „sich in sich bewegende[n] Einheit“, vgl. RINGLEBEN, Der Geist und die Geschichte, 231f. 125 Mit der Lehre von der Selbst-Transzendenz erinnert Tillichs Lebensbegriff an die Konzeption Georg Simmels, der vom Leben als „Mehr-Leben“ und „Mehr-als-Leben“ spricht und damit auch schon über Bergsons ‚élan vital‘ im Sinne eines Lebensschwungs nach vorne hinausgeht, vgl. STURM, Selbstbewusstsein zwischen Dynamik und SelbstTranszendenz des Lebens und unbedingter Realitätserfassung, 46. 126 D ANZ, Religion als Freiheitsbewusstsein, 293. Allerdings versteht Danz die LebenGeist-Duplizität als Voraussetzung der vieldimensionalen Einheit des Lebens. Mir scheint der Geist vielmehr integratives Element der Einheit zu sein, der zwar über die Fähigkeit zur bewussten Selbstunterscheidung verfügt, dem jedoch kein Prius gegenüber den anderen Dimensionen zukommt, sondern der ein spätes Entwicklungsstadium des Lebens darstellt. Zum Konzept der Polaritäten, insbesondere der von Dynamik und Form, vgl. auch HALME, LASSE, The Polarity of Dynamics and Form. The Basic Tension in Paul Tillich’s Thinking (Tillich-Studien – Beihefte 4), Münster: Lit 2003. 127 Vgl. TILLICH, ST I, 206–218. 128 Vgl. TILLICH, ST III, 45ff.
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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Leben unterscheidet (Individualisation) und der Teilhabe an der Welt außerhalb von sich selbst, der Aufnahme von Beziehungen (Partizipation). Nun sind jedoch die Lebensfunktionen als Einheit unter den Bedingungen der Existenz ständiger Bedrohung ausgesetzt: Der Selbst-Integration droht Desintegration, dem Sich-Schaffen droht Zerstörung, und der Selbst-Transzendenz drohen Profanisierung und Dämonisierung. ‚Desintegration‘ hieße auf das verwendete Beispiel bezogen, dass entweder der eine Pol oder der andere Pol dominieren: Entweder schafft es ein Leben nicht mehr aus sich herauszugehen, zu partizipieren und erstarrt damit am Pol der Zentriertheit; oder es verliert sich in der Zerstreutheit der Welt, in der Mannigfaltigkeit des Außen und schafft nicht mehr die Rückkehr zu sich selbst. In beiden Fällen bedeutet der Verlust eines Pols auch den des anderen – und damit schließlich das Ende des (jeweiligen) Lebens. Mit dieser Beschreibung des Lebens als dynamisches und prozesshaftes Geschehen kommt nun die zweite angesprochene Beschreibungsebene von Zweideutigkeit zum Tragen, die sich als ontologisch-konkrete Zweideutigkeit als die Grundzweideutigkeiten des Lebens von Selbst-Integration und Desintegration, Sich-Schaffen und Zerstörung sowie Selbst-Transzendierung und Profanisierung/Dämonisierung darstellt. Die „Zweideutigkeit von Selbst-Integration und Desintegration“129 bezeichnet dabei etwa die Tatsache, dass „[i]ntegrierende und desintegrierende Kräfte […] in jeder Situation miteinander [kämpfen], und jede Situation […] ein Kompromiß [ist] zwischen diesen Kräften.“130 Das bedeutet, dass die erste abstrakte Bestimmung von Zweideutigkeit als Mischungsverhältnis essentieller und existentieller Elemente hier dahingehend konkretisiert wird, dass sie einen „Kompromiß“, eine situative Momentaufnahme zwischen Integration (die Pole von Individualisation und Partizipation befinden sich in einer spannungsvollen Einheit) und Desintegration (die Pole kämpfen gegeneinander und die Einheit droht zu zerbrechen) bezeichnet.131 Die Komplexität des bis hierhin thematisierten Aufbaus der verschiedenen Abstraktionsgrade von Zweideutigkeit muss man sich noch einmal eigens vergegenwärtigen: Es wird hier, erstens, eine Struktur des Seins in ontologischen Polaritäten (= Individualisation/Partizipation, usw.) grundgelegt. Diese Polaritäten realisieren sich im Leben, zweitens, als eine Mischung von Essenz und Existenz (= ontologisch-abstrakte Ebene der Zweideutigkeit). Dabei bilden es-
A.a.O., 47. Ebd. 131 A.a.O., 55: „Integration ist der Zustand des Gleichgewichts zwischen den beiden Polen. Desintegration ist das Zerreißen des Gleichgewichts. Beide Tendenzen sind unter den Bedingungen der existentiellen Entfremdung im aktuellen Lebensprozeß stets wirksam. Das menschliche Leben vereint zweideutig essentielle Zentriertheit und existentielle Zerrissenheit. Es gibt keinen Augenblick im menschlichen Lebensprozeß, in dem das eine oder das andere ausschließlich vorherrschte.“ 129 130
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
sentiell beide Pole eine spannungsvolle Einheit (= Integration), während existentiell diese Einheit von Zerspaltung betroffen ist (= Desintegration). Zweideutigkeit bedeutet hier, drittens, dass diese Mischung selbst so beschaffen ist, dass beide Kräfte, Integration und Desintegration, gleichzeitig wirken und nicht klar voneinander getrennt werden können (= ontologisch-konkrete Ebene der Zweideutigkeit als Grundzweideutigkeit). Eben gleiches gilt für die anderen beiden Polaritäten (Dynamik/Form, Freiheit/Schicksal) und Funktionen (Sich-Schaffen/Zerstörung, Selbst-Transzendierung/Profanisierung und Dämonisierung). Nun lässt sich diese Systematik jedoch weiter konkretisieren, da sich in allen Dimensionen des Lebens, etwa der anorganischen, organischen, psychischen usw. konkrete Zweideutigkeiten der drei Grundzweideutigkeiten finden. So schlägt sich etwa die Grundzweideutigkeit von Selbst-Integration und Desintegration als Gesundheit und Krankheit nieder. Dabei deutet Tillich Gesundheit als einen Zustand der Integration, Krankheit hingegen als Zustand der Desintegration, der sich im Bereich des organischen Lebens folgendermaßen präsentiert: Viele Krankheiten, insbesondere Infektionskrankheiten, können als eine Unfähigkeit des Organismus verstanden werden, in seine Selbst-Identität zurückzukehren. Er kann die fremden Elemente, die er nicht assimilieren konnte, nicht mehr ausscheiden. Aber Krankheit kann auch die Folge einer zu großen Selbstbeschränkung der zentrierten Ganzheit sein, der Tendenz, die Selbst-Identität aufrechtzuerhalten, indem die Gefahren des Aus-sich-Herausgehens vermieden werden: Lebensschwäche manifestiert sich z.B. in der Weigerung, sich zu bewegen, die notwendige Nahrung aufzunehmen, an der Umwelt teilzunehmen, etc.132
Krankheit wird hier als ein Zustand definiert, in dem die Polarität von Individualisation und Partizipation durch desintegrierende Kräfte entweder der einen oder der anderen Seite nach gestört ist. Tillich spielt diese Zweideutigkeit von Gesundheit und Krankheit insbesondere für die organische und die psychische Dimension durch, spricht aber selbst im Fall der Dimension des Anorganischen von der „Möglichkeit zur Integration und Desintegration“.133 Auf diese Weise wird dem Anspruch genüge getan, zu zeigen, dass ein Konflikt – etwa das Ringen von Gesundheit und Krankheit – eben nicht als Kampf zwischen einzelnen ‚Schichten‘ zu verstehen ist (Körper, Geist, usw.), sondern sich durch die Dimensionen des Organischen und Psychischen gleichermaßen durchzieht. Die Dimension des Geistes schließlich, die dem menschlichen Leben vorbehalten ist, zeichnet sich dadurch aus, dass sich ein Selbst über die Dynamiken der Selbst-Integration, des Sich-Schaffens und der Selbst-Transzendierung bewusst wird.134 Dies bedeutet, dass der Mensch als geistiges Wesen partiell A.a.O., 48. Vgl. a.a.O., 46–51, hier 47. 134 Vgl. SCHÜZ, Das Leben, seine Zweideutigkeiten und die Frage nach unzweideutigem Leben, 221. 132 133
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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von seiner Verbindung in den Lebenszusammenhang herausgelöst wird und sich dem Leben gegenüberstellen kann: „Der Mensch lebt in einer ‚Umwelt‘, aber er hat eine ‚Welt‘.“135 Diese Möglichkeit des ‚Welt-Habens‘ ist nach Tillich Voraussetzung dafür, dass sich Menschen als Personen in einer Gemeinschaft konstituieren. Diesen Vorgang der Konstituierung der Person als Person, die die Selbst-Integration in der Dimension des Geistigen ist, nennt Tillich Moralität.136 Analog zur Kultur als geistige Form der zweiten Funktion, des SichSchaffens des Lebens und der Religion als geistige Form der dritten Funktion der Selbst-Transzendierung ist Moralität derjenige Akt, in der die Selbst-Integration des Lebens in der Dimension des Geistes stattfindet. Und auch hier differenziert sich die Grundzweideutigkeit von Selbst-Integration und Desintegration in konkreten Zweideutigkeiten aus, die mit der Moralität einhergehen, so etwa die Zweideutigkeit des Opfers. Die Zweideutigkeit des Opfers geht darauf zurück, dass jede Person im Prozess der Selbst-Integration, also dem Schwanken zwischen Bewahrung der zentrierten Einheit der Person und der Erweiterung dieser Einheit, entweder, so Tillichs Formulierung, die Wirklichkeit für die Möglichkeit opfern muss, oder umgekehrt. Um dies an einem Beispiel zu konkretisieren: Eine Person kann sich entscheiden, in ihrem aktuellen Job zu bleiben und damit bestimmte Möglichkeiten, nämlich andere Jobs, aber auch eine Weltreise oder ähnliches für das Wirkliche zu opfern. Sie kann aber ebenso ihren aktuellen Job kündigen und etwas anderes ausprobieren und darin die Wirklichkeit der Möglichkeit opfern. Zweideutig ist dieser grundsätzliche Opfercharakter des Lebens dadurch, dass das Opfer „ein Wagnis und nichts unzweideutig Gutes ist“137, weil im Opfer selbst – egal ob zur Seite der Möglichkeit oder Wirklichkeit hin – fragwürdige Motive stecken, egoistische Tendenzen, ein Zweckcharakter oder weil diejenigen, die das Opfer empfangen, es nicht verdienen. Die Verbindung der Zweideutigkeit von Integration und Desintegration und dieser konkreten Zweideutigkeit ist an diesem Punkt nicht mehr unmittelbar einleuchtend; jedoch scheint sie darin zu liegen, dass die Funktion der Selbst-Integration das Opfer zur Verwirklichung von Zentriertheit braucht, und damit zugleich stets die Desintegration dieser Zentriertheit erwirkt. Neben der Zweideutigkeit des Opfers finden sich im Abschnitt über Selbstintegration in Zu-
TILLICH, ST III, 51. Vgl. a.a.O., 51: „Moralität ist die Funktion des Lebens, durch die der Bereich des Geistes konstituiert wird. Ein moralischer Akt ist daher nicht ein Akt, in dem göttliche oder menschliche Gebote befolgt werden, sondern ein Akt, in dem das Leben sich in der Dimension integriert, und das bedeutet, daß es sich als Person in einer Gemeinschaft von Personen konstituiert. Moralität ist die Totalität derjenigen Akte, in denen ein potentiell Personhaftes aktuell zur Person wird. Solche Akte sind nicht einmalig, sondern ein sich immerfort wiederholendes Geschehen.“ 137 A.a.O., 57. 135 136
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sammenhang mit der Moralität noch zahlreiche weitere konkrete Zweideutigkeiten, so etwa die Zweideutigkeit des moralischen Imperativs, die Zweideutigkeit des moralischen Gesetzes, sowie der moralischen Integration, die sich alle darin gleichen, dass dasjenige, was angestrebt wird, im selben Akt zugleich unterlaufen wird.138 An diesem Punkt der Argumentation ist also die Ebene der konkreten Zweideutigkeiten des Lebens erreicht, von denen Tillich insbesondere für die Dimension des Geistes in den Hauptfunktionen Moralität, Kultur, und Religion zahlreiche aufzählt. Stets scheinen ihm dabei konkrete Widersprüchlichkeiten des individuellen wie sozialen Lebens vor Augen zu stehen, so etwa im Falle der Zweideutigkeit des Opfers die Tatsache, dass die Realisierung der eigenen Talente und Fähigkeiten immer mit dem Verzicht und der Vernachlässigung anderer Fähigkeiten einhergeht und die Entscheidung darüber stets auch fragliche Motive, Unsicherheiten, usw. beinhaltet. Stets beansprucht Tillich, dass sich eben hier die „menschliche Situation in ihrer Mischung von essentiellen und existentiellen Elementen [zeigt] und die Unmöglichkeit, diese in unzweideutiger Weise in gute und schlechte zu scheiden.“139 Damit wird der Kreis geschlossen zu jener ersten Ebene der ontologisch-abstrakten Bestimmung von Zweideutigkeit, und zugleich noch ein letzter Aspekt angesprochen, nämlich derjenige der Rezeption oder Wahrnehmung von Zweideutigkeit. Ein entscheidender Punkt im eingangs erwähnten Zitat war die folgende Aussage: „Das Leben ist in jedem Augenblick zweideutig.“140 Damit schloss Tillich – merkwürdig alltagspraktisch anmutend – die Bestimmung des Lebens als Mischung aus essentiellen und existentiellen Elementen. Nach den bisherigen Ausführungen kann diese Aussage jedoch auch als Abwehrbewegung verstanden werden: Das konkrete Leben nämlich präsentiert sich doch oft genug vermeintlich eindeutig: gesund oder krank, gut oder böse, gutes Opfer oder schlechtes Opfer. Diese vereindeutigende Alltagswahrnehmung mag ein Resultat des Umstands sein, dass sich die zweideutige Mischung eben nicht trennen lässt, wie auch der Tatsache, dass die Mischungen graduierbar und beweglich zu denken sind: Eine Person mag sich also eher gesund als krank fühlen, oder umgekehrt. Jedoch plädiert Tillich ganz entschieden dafür, dass ein Quäntchen der jeweils anderen Qualität in jeder Situation vorhanden ist. Das bedeutet, dass sich zwar der eigene körperliche Gesundheitszustand eher ‚gesund‘ oder ‚krank‘ anfühlen mag, tatsächlich jedoch stets ein Mischverhältnis beider Tendenzen darstellt. Möglicherweise zielte die Betonung von ‚ambiguity‘ als einer grundsätzlichen und bleibenden Problematik auch in Richtung dieser potenziellen Täuschung im Alltag.
Vgl. a.a.O., 57–63. Ebd. 140 A.a.O., 44. 138 139
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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Die Denkbewegung, der im vorliegenden Abschnitt gefolgt wurde, vollzog sich von einer abstrakten Ebene der Zweideutigkeit als Mischungsverhältnis von Essential- und Existentialstrukturen hin zu mannigfachen Konkretionen dieser abstrakten Definition in verschiedenen Dimensionen und Bereichen des Lebens. Die sich ausdifferenzierende Systematik, die im Nachvollzug dieser Denkbewegung von abstrakter hin zu konkreter Ebene sichtbar wird, bildet womöglich rein logisch die umgekehrte Reihenfolge ab: Sie kann als der Versuch gedeutet werden, die unendlich vielen widersprüchlichen Situationen, Konstellationen, Vollzüge der individuellen wie sozialen Lebensrealität begrifflich zu fassen und zu theoretisieren. Für dieses Anliegen hat Tillich in Verbindung mit dem Lebensbegriff eine komplexe Systematik mit verschiedenen Abstraktionsgraden geschaffen, die aufgrund ihrer Ausdifferenzierung sehr unterschiedliche Gegenstände zu erfassen vermag. Dieser abschließenden Hypothese, dass in der ‚top-down‘ präsentierten Bestimmung der Zweideutigkeit als ontologischem Grundbegriff sich letztlich das Anliegen wiederspiegelt, konkrete Lebensprobleme gewinnbringend zu theoretisieren – und damit eigentlich ‚bottom-up‘ vorzugehen – wird nun im folgenden Abschnitt nachgegangen. 5.3.3 Zweideutigkeit als kulturkritische Analysekategorie Setzt man in diesem Abschnitt in gewisser Weise umgekehrt als im vorherigen bei den konkreten Zweideutigkeiten an, so wird deutlich, dass Tillich mit der Zweideutigkeit das Anliegen verfolgt, bestimmte individuelle, vor allem aber gesellschaftliche Herausforderungen auf einen Begriff zu bringen und damit der Kritik zugänglich zu machen. Zwei Beispiele unterschiedlicher Art werden im vorliegenden Abschnitt herausgegriffen, um diesen Zugriff zu veranschaulichen: zunächst die Kritik technischen Fortschritts, dann die Kritik des totalitären Imperialismus. Der Technik als einer der Hauptfunktionen der Kultur widmet sich Tillich innerhalb der Systematischen Theologie im Abschnitt Das Sich-Schaffen des Lebens und seine Zweideutigkeiten.141 Wie schon in seiner Technikkritik der späten 1920er Jahre (vgl. II.4.1) betont Tillich auch hier das befreiende Potential der Technik für den Menschen – um dann jedoch umso stärker auf die „Perversion“ sinnloser Produktion aufmerksam zu machen: Die befreiende Macht der Werkzeuge besteht darin, daß es durch sie möglich wird, Zwecke zu verwirklichen, die nicht im organischen Prozeß selbst enthalten sind. […]. Demgegenüber [dem organischen Prozeß, Anm. Vfin.] sind die äußeren Zwecke der technischen Produktion nicht beschränkt, sondern stellen unendliche Möglichkeiten dar. Raumfahrt, z.B. ist ein technisches Ziel und eine technische Möglichkeit, aber sie ist nicht durch die organischen Notwendigkeiten eines Lebewesens bestimmt. Sie ist Sache freier Wahl. Diese Tatsachen führen
141
Vgl. TILLICH, ST III, 64–107, besonders die Unterabschnitte 72–78.91–96.
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
zu einer Spannung, die viele Konflikte in unserer heutigen Kultur hervorrufen. Der unbegrenzte Charakter der technischen Möglichkeiten kann eine Perversion schaffen, eine Umkehrung von Mitteln und Zwecken. […] Eine solche Verkehrung kann eine ganze Kultur bestimmen, in der die Produktion der Mittel zum Ziel geworden ist, über das hinaus es kein Ziel mehr gibt. Mit dem Hinweis auf dieses Problem in unserer Kultur ist die Bedeutung der Technik nicht geleugnet, sondern ihre Zweideutigkeit aufgezeigt.142
Explizit nimmt Tillich hier auf die Raumfahrtsbestrebungen seiner Zeit Bezug, die spätestens seit Präsident Kennedys Versprechen aus dem Jahr 1961, noch vor dem Ende des Jahrzehnts eine bemannte Mondmission zum Gelingen zu bringen, ein dominierendes gesellschaftspolitisches Thema sind. Tillich dient die Raumfahrtsidee jedoch als Exempel für eine grundsätzliche, tieferliegende Problematik, nämlich die Verselbstständigung technischer Innovation und Produktion, bei der ohne letzte, auf den Menschen bezogene Ziele innoviert und produziert wird. Die konflikthaften Folgen einer solchen Verkehrung von Mittel und Zweck, die „eine ganze Kultur bestimmen [kann]“ – hier ist von der amerikanisch-westlichen Nachkriegsmentalität die Rede – liegen in erster Linie in einer empfundenen Leere: Das technisch mögliche wird zur immer neuen Versuchung für Mensch und Gesellschaft. Das Suchen nach Erfindungen – wichtigen oder spielerisch anreizenden (gadgets) – wird zum Zweck an sich, da ein höherer Zweck nicht vorhanden ist. Diese Zweideutigkeit ist weithin verantwortlich für die Entleertheit unseres gegenwärtigen Lebens.143
Mit der hier näher erläuterten „‚Zweideutigkeit von Mittel und Zweck‘“144 bringt Tillich also eine lebensweltlich drängende Problematik auf eine theoretische Formel; ein Lebensgefühl, das sich als „Entleertheit“ und in der Frage „Wozu das alles?“145 äußert. ‚Zweideutigkeit‘ wird hier also dafür verwendet, eine gesamtgesellschaftliche Tendenz, einen Mechanismus, in dem die gegenwärtige Kultur verfangen ist, theoretisch zu fassen. Dabei wird mit ihr eine grundsätzliche Verkehrung, nämlich die von Mittel und Zweck, auf den Begriff gebracht. Wie schon im vorigen Abschnitt zum ontologischen Grundbegriff bemerkt (vgl. II.5.3.2), wird hier deutlich, dass es auf der Ebene der konkreten Zweideutigkeiten nicht immer direkt einleuchtet, wie die jeweilige Zweideutigkeit mit Tillichs Schema von Essential- und Existentialstrukturen, beziehungsweise der Grundzweideutigkeit von Sich-Schaffen und Destruktion, in Verbindung A.a.O., 77f. A.a.O., 92. Hervorhebung im Original. „Gadget“ definiert Tillich später folgendermaßen: „Das Wort ist unübersetzbar, es bezeichnet Erfindungen, die teils den täglichen Umgang mit technischen Dingen erleichtern, teils ihren spielerischen Zweck in sich selbst haben. Das gadget an sich ist kein Übel; aber wenn ein ganzes Wirtschaftssystem auf seine Produktion eingestellt und so die Frage nach dem letzten Zweck aller technischen Güter verdrängt wird, wird es zu einem Übel.“ A.a.O. 297. 144 A.a.O., 92. 145 Ebd. 142 143
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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steht: Denn mit „Mittel“ und „Zweck“ als den beiden Bestandteilen der Zweideutigkeit sind eben nicht analog Essenz und Existenz oder Schöpfung oder Zerstörung bezeichnet, sondern erst in ihrem Verhältnis zueinander äußert sich das Mischungsverhältnis der beiden Strukturen, beziehungsweise der darunterliegenden Polarität von Dynamik und Form. Auf das Beispiel angewendet: Sind Mittel und Zweck aufeinander bezogen und befinden sich in einem ausbalancierten Gleichgewicht, so kann man von schöpferischen Kräften oder einem essentiellen Verhältnis sprechen, was aber in der Existenz stets von einem zerstörerischen Verhältnis des Kampfes zwischen beiden Elementen (hier zugunsten der Mittel) begleitet wird. Zwar lässt sich auch hier der Rückbezug zu den abstrakteren Ebenen des Zweideutigkeitsbegriffs herstellen, doch wird auch klar, dass es Tillich letztlich nicht um eine astreine Systematik geht, sondern eben um konkrete widersprüchliche Zusammenhänge in der Lebenswelt, die sich eben auch selbst nicht in ein widerspruchsloses oder völlig kohärentes und schlüssiges System bringen lassen. So nutzt Tillich auch immer wieder wechselnde Benennungen derselben Problematik, wie etwa in der zeitdiagnostischen Festrede zum 40-jährigen Jubiläum des renommierten Time Magazine am 6.5.1963.146 Hier taucht die Problematik der Zweideutigkeit von Mittel und Zweck als Teilproblem der „Zweideutigkeit der Expansion“ auf.147 Tillich ist zu diesem ehrwürdigen Anlass gebeten, zur gegenwärtigen Situation des Menschen zu sprechen und charakterisiert diese mittels zweier Zweideutigkeiten, der „Zweideutigkeit der Vollkommenheit“148 und der „Zweideutigkeit der Expansion“149. Von letzterer spricht Tillich als der Zweideutigkeit, der „in besonderem Maße unsere Zeit ausgesetzt ist“:150 Sie beruht auf der Tatsache, daß unsere Kultur eindimensional ist, bestimmt durch Tendenzen, die sich in der horizontalen Linie bewegen, zum Beispiel das Bestreben, in den Weltraum vorzustoßen, die Produktion immer neuer und besserer Werkzeuge, die Vermehrung der Kommunikationsmittel, aber all dies ist eindimensionale, horizontale Ausdehnung. Und darum ist es der ‚Zweideutigkeit der Expansion‘ unterworfen.151
Erneut findet sich hier die Raumfahrt als ein Paradebeispiel für die Grundhaltung der gegenwärtigen Kultur, die, so die Implikation, auf leeren Fortschritt ausgerichtet ist. Daneben wird die immer weiter fortschreitende und sich verbessernde Produktion von Werkzeugen, der Zuwachs an Kommunikation – hier ist vermutlich auf die Entstehung von Massenmedien angespielt, auf die TILLICH, Die Situation des Menschen, 429–433. Vgl. hierzu auch JUNKER, THÉO, Ambiguïtés e la vie politique, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 137–141, besonders 137. 147 Vgl. a.a.O., 430. 148 Ebd. 149 Ebd. 150 Ebd. 151 Ebd. 146
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auch in der Systematischen Theologie verwiesen wird152 – und der erleichterte Zugang zu Kulturgütern genannt. All diese Aspekte sind für Tillich Anzeichen der Eindimensionalität der gegenwärtigen Kultur; sie vollziehen sich horizontal im Sinne der Kultur als Funktion des Sich-Schaffens neuer Möglichkeiten, allerdings ohne Verbindung zu einem tieferen Sinn: Der eigentliche Zweck von Produktion geht mehr und mehr verloren; Fortschritt wird nur betrieben, um „an der Spitze der Entwicklung zu sein“153, vor allem, so muss man ergänzen, gegenüber dem kommunistischen Erzfeind; Kulturgüter werden konsumiert statt innerlich angeeignet, „Warten und Besinnung [werden] beinahe unmöglich.“154 Eben diesen „Mechanismus“155 von Ausdehnung und gleichzeitiger Entleerung, dem eine auf Fortschritt ausgerichtete kapitalistischen Gesellschaftsordnung verfallen ist, bezeichnet Tillich als „Zweideutigkeit der Expansion“. Der Preis für diesen blinden Fortschritt, so könnte man sagen, ist der Verlust der ‚Tiefendimension‘, die bei Tillich – in Abwandlung der kulturtheologischen Grundannahmen – die Chiffre für Religion bildet.156 Bis hierhin lässt sich also festhalten, dass Tillich den Begriff der Zweideutigkeit insofern als kulturkritische Analysekategorie gebraucht, als mit dessen Hilfe bestimmte Disbalancen und Fehlentwicklungen der gegenwärtigen Gesellschaft aufgezeigt werden können. Die Zweideutigkeit eignet sich für diese Funktion gerade aufgrund ihrer inneren Beschaffenheit, eben nicht „gleichbedeutend mit böse“157 zu sein, sondern als eine Bezeichnung für „die untrennbare Mischung von Gut und Böse, von Wahr und Falsch, von schöpferischen und zerstörerischen Kräften – sowohl im individuellen wie im gesellschaftlichen Bereich“158 zu fungieren. Auf diese Weise lassen sich mit ihr bestimmte Zusammenhänge überhaupt erst aufzeigen – wie etwa der zwischen horizonta-
TILLICH, ST III, 397. TILLICH, Die Situation des Menschen, 432. 154 Ebd. 155 Ebd. 156 So schreibt Tillich in seinem Aufsatz „Die verlorene Dimension“ (1958), in: GW V, 43–50, hier 45: „Unser tägliches Leben in Beruf und Familie, mit Auto- und Flugreisen, bei Gesellschaften und Konferenzen, beim Lesen von Unterhaltungsblättern und Reklamen, beim Fernsehen und am Radio ist ein einziges großes Beispiel für ein Leben ohne die Dimension der Tiefe, für ein Leben, das vergeht, indem es jeden einzelnen Augenblick mit etwas ausfüllt, das getan, gesagt, gesehen oder geplant werden muß. Aber der Mensch kann nicht erfahren, was Tiefe ist, ohne stille zu stehen und sich auf sich selbst zu besinnen.“ 157 TILLICH, Die Situation des Menschen, 431: „Zweideutigkeit ist nicht gleichbedeutend mit böse. Die rein negativen Kritiker unserer Situation verwechseln diese beiden Begriffe; sie sind nicht mal in der Lage, die positiven Quellen zu erkennen, aus denen selbst ihre Kritik gespeist wird. Wenn alles negativ wäre, könnte es nicht als negativ erkannt werden. Das Leben ist nicht rein negativ, bei tieferer Betrachtungsweise erkennen wird, daß es in seinem innersten Wesen zweideutig ist.“ 158 A.a.O., 429. 152 153
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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ler Expansion und dem Verlust an Tiefendimension – und in Folge dessen auch vorhandene Disbalancen kritisieren. Bevor nun die Frage nach der Lösung ebensolcher Disbalancen im Fokus steht, soll noch auf die zweite Zweideutigkeit eingegangen werden, die in der Festrede angesprochen wird, die „Zweideutigkeit der Vollkommenheit“159, deren Thematik in der Systematischen Theologie als „Zweideutigkeit des Imperialismus“160 auftaucht. Tillich beginnt den inhaltlichen Teil seiner Festrede mit einem Plädoyer für die Einsicht in diese Zweideutigkeit: In einer Versammlung wie dieser, die so große Errungenschaften auf vielen Gebieten des Lebens repräsentiert, mag es angebracht sein, von der ‚Zweideutigkeit der Vollkommenheit‘ zu sprechen. Wer nicht die Zweideutigkeit in sich selbst und seinem Werk – auch dem vollkommensten – erkennt, ist nicht menschlich reif, und eine Nation, die nicht die Zweideutigkeit ihrer Größe gewahr wird, zeigt einen Mangel an Reife. So müssen wir uns fragen: Sind wir als Nation reif, erkennen wir die Zweideutigkeit auch des Besten in uns?161
Tillich setzt hier das Stadium individueller wie gesellschaftlicher „Reife“ in enge Beziehung zur Einsicht in die Zweideutigkeit des eigenen Schaffens. Die Frage, mit der das Zitat endet – die Frage nach der „Zweideutigkeit auch des Besten in uns“, also der amerikanischen Nation – lässt schon vermuten, in welche Richtung Tillich seine Rede fortsetzen wird: Es geht im Folgenden in respektvollen, aber dennoch sehr deutlichen Worten um eine Stellungnahme zur Ost-West-Spaltung. Dabei macht Tillich in mehreren Beispielen klar, was Einsicht in die eigene Zweideutigkeit in dieser Hinsicht bedeutet: nämlich, erstens, die Anerkenntnis, „daß die amerikanische Form der Demokratie – obwohl sie den meisten anderen politischen Systemen vorzuziehen ist – keineswegs als geschichtliche Vorsehung gelten kann“162; zweitens, die Einsicht in die Schwachpunkte des eigenen Erziehungs- und Bildungssystems; drittens, das Verständnis, dass der Erfolg des eigenen Wirtschaftssystems dieses nicht zum „unzweideutige[n] Maßstab für alle anderen Wirtschaftssysteme“163 erhebt. Diesen Zeichen von Reife stehen jedoch gegenläufige Tendenzen gegenüber, nämlich ebenjene, die keine Einsicht in die Zweideutigkeit der Vollkommenheit zeigen und dementsprechend „alles Menschliche [einteilen] in zwei Bereiche“: Der eine Bereich umfaßt alles, was unzweideutig richtig ist – und zu dem sie sich selbst zählen –, und der andere Bereich umfaßt alles, was unzweideutig falsch ist – und wenn es die Hälfte der Menschheit wäre. Das ist Unreife, die sich von Unwissenheit und Fanatismus nährt und von einer auf Furcht und Haß gegründeten Propaganda. Ich meine, es sollte die
Ebd. TILLICH, ST III, 388. 161 TILLICH, Die Situation des Menschen, 429. 162 A.a.O., 430. 163 Ebd. 159 160
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Aufgabe all derer sein, die ihre Stimme erheben können, die geschilderte Situation zu erkennen.164
In Tillichs Aufruf klingen Aspekte an, die auch in Zusammenhang mit Else Frenkel-Brunswiks Konzept der Ambiguitätstoleranz im Zusammenhang mit den Studien zum autoritären Charakter herausgearbeitet wurden (vgl. I.1): Gerade hier war die Einteilung in Schwarz-Weiß-Raster und die Suche nach eindeutig positiven und negativen Lösungen als ein Hauptmerkmal solcher Persönlichkeiten aufgewiesen worden, die eine niedrige Ambiguitätstoleranz besaßen. Tillich argumentiert hier ganz ähnlich und wendet dabei diejenigen Kategorien, die Frenkel-Brunswik in Auseinandersetzung mit dem Autoritarismus und Totalitarismus erforscht hatte, auf die aktuelle US-amerikanische Gemütslage im Ost-West-Konflikt an. Sein Plädoyer – immerhin ausgesprochen vor sämtlichen Größen der amerikanischen Polit- und Kulturszene – wirbt dabei für nichts weniger als die Einsicht, dass auch auf der anderen Seite, bei der anderen „Hälfte der Menschheit“ nicht alles falsch und böse sein kann – ebenso wenig, wie auf der eigenen Seite alles richtig und gut ist. Mit der Zweideutigkeit der Vollkommenheit ist also auf den Begriff gebracht, dass Vollkommenheit innerweltlich eben nicht zu erreichen ist, sondern stets mit Unvollkommenheit gemischt auftritt – und dass nur mit der Einsicht in diese Struktur überhaupt ein friedvolles Zusammenleben möglich ist. Ganz ähnlich argumentiert auch der dritte Band der Systematischen Theologie, in der vor allem im Teil V Die Geschichte und das Reich Gottes165 auf den Ost-West-Konflikt Bezug genommen wird: Hier behandelt Tillich die Thematik unter dem Stichwort der „Zweideutigkeit des Imperialismus“166. Er führt dabei die „tiefste[…] und universaliste[…] Spaltung der Menschheit“ auf das „Streben nach Universalität und Totalität“167 zurück, dem sowohl Amerika wie auch Russland verfallen sind. Der Versuch, das eigene System und die eigene Weltanschauung allumfassend durchzusetzen, hat das genaue Gegenteil, nämlich eine Spaltung der Menschheit, zur Folge, und nicht zuletzt auch oft den Niedergang des eigenen Imperiums. Die Zweideutigkeit bezeichnet hier die Tatsache, dass in der Ausdehnung von Imperien zugleich immer „integrierende, schöpferische und sublimierende“ wie auch „zersetzende, zerstörerische und entwürdigende Seite[n]“168 kombiniert sind, die mit „tragischen Folgen“169 verbunden und „zum Untergang der Menschheit“170 führen können.
Ebd. Vgl. TILLICH, ST III, 341–477. 166 A.a.O., 388. 167 Ebd. 168 A.a.O., 389. 169 Ebd. 170 Ebd. 164 165
5.3 Zweideutigkeit in der Systematic Theology/Systematischen Theologie
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An dieser Stelle schließt sich auch der Kreis zur Kritik der Technik, nimmt Tillich doch genau hier noch einmal Bezug zu den technischen Entwicklungen, und zwar auf zweifache Weise:171 Zunächst insofern, als die Technik erst im 20. Jahrhundert überhaupt die Idee einer „Menschheit“ oder „Weltgeschichte“172 möglich gemacht habe – und zwar durch eine sukzessive Überwindung des Raumes durch Transport- und Kommunikationsmittel. Umso tragischer ist es, so Tillich, dass das erste Ergebnis dieser Möglichkeiten eben nicht nur die Spaltung, sondern zugleich die Drohung der „Zerstörung der gesamten Menschheit“173 ist. Damit ist vermutlich auf die Entwicklung von Atomwaffen angespielt, die auch an anderen Stellen explizit thematisiert wird,174 und mit der sich die beiden Zweideutigkeiten von technischer Expansion und politischem Universalisierungsstreben auf unheilvolle Weise verbinden. Das Anliegen Tillichs lässt sich hier durchaus als eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Totalitarismus während der nationalsozialistischen Herrschaft interpretieren. So spricht Tillich im Zusammenhang mit der Frage nach der Überwindung der Zweideutigkeit des Imperialismus davon, dass mit der Niederlage von „Hitlers Deutschland“ der „falsche[…] Anspruch einer nationalen Gruppe auf Letztgültigkeit enthüllt“ wurde; und genau dieser Sieg den „Besiegern des Nationalsozialismus […] jedoch noch keinen unzweideutigen Anspruch darauf [gibt], selbst als Träger der Wiedervereinigung der Menschheit zu gelten.“175 Indem nämlich dieser Anspruch vertreten wird, erweisen „sie eben damit ihre Unfähigkeit, ihn zu erfüllen.“176 Tillich geht also davon aus, dass im Streben nach Universalität und Letztgültigkeit eine grundlegende Bedrohung liegt und die gegenwärtigen Weltmächte USA und Russland verkennen, dass auch sie nicht davor gefeit sind, gewisse Fehler zu wiederholen oder fortzusetzen, die in der jüngeren Vergangenheit geschehen sind. Die „Zweideutigkeit der Vollkommenheit“, so vertritt es Tillich in seiner Festrede beim Time Magazine, trifft „auf alle menschlichen Lebensumstände“177 zu und vor ihren Konsequenzen ist demnach keine Zeit geschützt. 171 Vgl. im Zusammenhang mit der technischen Entwicklung und bezogen auf das Potenzial von Tillich für die heutigen Probleme insbesondere STENGER, MARY ANN, Tillich’s Theology of Culture in the United States. Present and Possible Future Impact, in: Danz/Schüßler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur, 453–480, besonders 472–474. 172 Ebd. 173 Ebd. 174 Vgl. etwa a.a.O., 298.397. Vgl. zur Thematik auch W EAVER, M ATTHEW LON, The Berlin Crisis and the Defiance of Estrangement, in: Christian Danz u.a., Brokenness and Reconciliaton (Internationayl Yearbook for Tillich research 14), Berlin: De Gruyter 2020, 185–201. 175 A.a.O., 439. 176 Ebd. Tillich nimmt hier erneut Bezug auf die „Haßpropaganda in Amerika“ und den „Absolutismus Sowjet-Rußlands“. 177 TILLICH, Die Situation des Menschen, 430.
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
Damit wird an dieser Stelle deutlich: Es gibt für Tillich bestimmte Zweideutigkeiten – wie etwa die der Expansion – die, so könnte man sagen, modernetypische Artikulationen der grundsätzlichen Zweideutigkeit des Lebens sind.178 Daneben gibt es solche Zweideutigkeiten – etwa die der Vollkommenheit – die immer wieder und zu verschiedenen Zeiten der Geschichte auftauchen, wann immer ein System oder Imperium zu letztgültiger Absolutheit und Universalität strebt. Damit erweist sich die Zweideutigkeit zunächst als eine Kategorie, mit der bestimmte Tendenzen der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft kulturkritisch gedeutet werden können. Die Hochmoderne zur Zeit Tillichs artikuliert die fundamentale Zweideutigkeit des Lebens eben auf eine spezifische Weise. Demgegenüber lassen sich auch solche Zweideutigkeiten finden, die eine Kontinuität der Moderne zu anderen Epochen der Menschheitsgeschichte beanspruchen, wie etwa der Drang nach Verabsolutierung bestimmter Weltanschauungen oder Systeme. Zweideutigkeit wird hier zu einem Interpretament der Geschichte, das, aufgrund seiner inneren Ausdifferenzierung sowohl Kontinuitäten als auch neue Artikulationen von Zweideutigkeit zu benennen vermag. In dem vorliegenden Abschnitt klang bereits mehrfach an, dass es Tillich um ein Aufdecken, eine Bewusstwerdung und Einsicht in die grundlegende Zweideutigkeit des Lebens geht – wohl in der Hoffnung, ihre schlimmsten Konsequenzen zu verhindern. Gerade aber dann, wenn die Zweideutigkeit bewusst wird, stellt sich umso dringender die Frage nach ihrer Überwindung oder Auflösung, die für Tillich eng mit der Stellung und Rolle der Religion verbunden ist. Dieser soll nun im folgenden Kapitel abschließend nachgegangen werden.
5.4 Zwischen Ein- und Zweideutigkeit. Zum Verhältnis von Ambiguität und Religion 5.4 Zwischen Ein- und Zweideutigkeit
Das komplexe Verhältnis von Ambiguität und Religion bildet den Dreh- und Angelpunkt des vierten Bandes der Systematischen Theologie. Zu Abschluss der Analyse der Zweideutigkeiten des Lebens schreibt Tillich zusammenfassend: Da die Religion die Selbst-Transzendierung des Lebens im Bereich des Geistes ist, stellt der Mensch die Frage nach unzweideutigem Leben zuerst in der Religion, und in der Religion
Vgl. dafür auch die instruktive Studie von YIP, FRANCIS CHING-WAH, Capitalism as Religion. A Study of Paul Tillich’s Interpretation of Modernity (Harvard Theological Studies 59), Cambridge: Harvard University Press 2010, 101–107. Yip hebt hier auch die Bedeutung eines theologischen Modernebegriffs gegenüber soziologischen Gesellschaftstheorien hervor. 178178
5.4 Zwischen Ein- und Zweideutigkeit
337
erhält er die Antwort auf sie. Aber die Antwort ist nicht identisch mit der Religion, denn die Religion ist selbst zweideutig.179
Im vorliegenden Unterkapitel soll dieses Zitat verständlich gemacht werden. Dazu gehört die Klärung von drei Aspekten: erstens, die Bestimmung von Religion als „Selbst-Transzendierung im Bereich des Geistes“; zweitens, der Charakter der Antwort auf die „Frage nach unzweideutigem Leben“, der in der Religion empfangen wird und damit die Überwindung der Zweideutigkeit; drittens, die Differenzierung zwischen dieser unzweideutigen Antwort und der zweideutigen Religion.180 Der erste Aspekt der Bestimmung von Religion als Selbst-Transzendierungsfunktion des Geistes erfolgt analog zur Bestimmung von Moralität und Kultur. Er findet sich argumentativ am Ende des Durchgangs der Selbst-Transzendierungsfunktion durch alle Dimensionen des Lebens. Die Funktion der Selbst-Transzendierung bezeichnet dabei die Fähigkeit des Lebens, „zu einem gewissen Grade frei von sich selbst [zu sein], d.h. von der totalen Gebundenheit an seine Endlichkeit.“181 Tillich führt hier Paulus mit Röm 8, 19–22182 und Aristoteles’ Lehre vom unbewegten Beweger an, um hervorzuheben, dass alles Seiendes sich auf gewisse Weise selbst transzendiert. Im Menschen als geistigem Wesen wird dieser Prozess des Über-sich-Hinausgehens allerdings erst bewusst.183 Mit dieser Bewusstwerdung ist zugleich auch schon das Alleinstellungsmerkmal der Funktion der Selbst-Transzendierung gegenüber den anderen beiden Funktionen des Lebens (Selbst-Integration und Sich-Schaffen) angesprochen: Während im Falle von Selbst-Integration und Sich-Schaffen empirische Manifestationen (so etwa kulturelle Formen oder moralische Imperative) vorliegen, kann man von der Selbst-Transzendierung „nur in Worten re-
TILLICH, ST III, 130. Zum Verhältnis von Religion und Ambiguität in Tillichs Systematischer Theologie vgl, auch RICHARD, JEAN, Les ambiguïtés de la religion d’après le cours de Tillich sur la Théologie Systematique, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 249–262. 181 A.a.O., 107. 182 Röm 8,19–22: „19 Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. 20 Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; 21 denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.“ Hier zitiert nach DEUTSCHE BIBELGESELLSCHAFT (Hg.), Lutherbibel revidiert 2017. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung (Mit Apokryphen), Stuttgart: Bibelgesellschaft 2017. 183 Vgl. a.a.O., 107. 179 180
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
den, die die Spiegelung der Selbst-Transzendierung im menschlichen Bewußtsein beschreiben, denn der Mensch ist der Spiegel, in dem die Beziehung eines jeden Endlichen zum Unendlichen bewußt wird.“184 Religion als Selbst-Transzendierung des Lebens in der Funktion des Geistes wird damit also als Bewusstwerdung der vertikalen Ausrichtung alles Lebens zum Unendlichen hin verstanden. Als Essentialstruktur ist diese Ausrichtung im Sinne einer ‚Tiefendimension‘ in allen moralischen und kulturellen Akten stets vorhanden: Moralität, Kultur und Religion als die drei Lebensfunktionen in der Dimension des Geistes liegen wesensmäßig ineinander: „In ihrer Einheit konstituieren sie die essentielle Struktur des Geistes, in der sie zwar unterscheidbar, aber nicht voneinander trennbar sind.“185 Diese wesensmäßige Einheit der Struktur des Geistes bedeutet, dass der Essenz nach alle drei Bereiche sich gegenseitig durchdringen, etwa dahingehend, dass die Religion der Moralität den Unbedingtheitscharakter ihrer Imperative verleiht und den kulturellen Formen ihre Substanz.186 Hier findet sich also die kulturtheologische Einheitsvision der frühen 1920er Jahre als Essentialstruktur des Geistes aktualisiert (vgl. II.2.3). Allerdings wird diese Einheit von Moralität, Kultur und Religion im Spätwerk Tillichs nicht mehr realgeschichtlich angestrebt, sondern als „‚übergeschichtliche Erinnerung‘ wie „‚utopische Vorwegnahme‘“187 bezeichnet. Sie ist damit sowohl eine Chiffre für den verlorenen Paradieszustand, die ‚träumende Unschuld‘, wie auch eine eschatologische Kategorie. In der Existenz hingegen treten die drei Funktionen auseinander und aktualisieren sich getrennt voneinander: Moralität, Kultur und Religion existieren je für sich als voneinander getrennte Bereiche. Kulturelle Akte sind nicht zugleich Akte der Moralität; religiöse Akte eben nicht zugleich Akte der Moralität und Kultur. Stattdessen existieren sie für sich „mit ihren Zweideutigkeiten“188. Die jeweiligen Zweideutigkeiten der Funktionen erscheinen also als Konsequenz der Trennung der wesensmäßigen Einheit der drei Funktionen. Bis zu diesem Punkt lässt sich festhalten, dass Tillich gemäß der EssenzExistenz-Trennung einen doppelten Religionsbegriff entwickelt:189 Ihrer Essentialstruktur nach besteht Religion als Selbst-Transzendierungsfunktion des Geistes in einer Einheit mit Moralität und Religion. Ihrer Existenz nach ist Religion eine geistige und gesellschaftliche Sondersphäre, die von Moralität und Ebd. A.a.O., 116. 186 Für die ausführliche Darstellung der gegenseitigen Durchdringung, auch von den beiden anderen Funktionen her vgl. a.a.O. 116f. 187 A.a.O., 117. 188 Ebd. 189 Vgl. auch a.a.O., 126. Hier ist von dem „doppelten Begriff[…] der Religion […] als Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, und als besonderer Bereich konkreter Symbole“ die Rede. 184 185
5.4 Zwischen Ein- und Zweideutigkeit
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Religion getrennt ist. Im Leben als zweideutige Mischung von Essenz und Existenz bedeutet dies wiederum, dass beide Strukturen miteinander untrennbar vermischt auftauchen. Oder anders gesagt: Nur weil sowohl das Essentialbild der Religion als auch die „Vorwegnahme“ ihrer eschatologischen Wiedervereinigung mit Moralität und Kultur in der Wirklichkeit mit präsent sind, ist es möglich, überhaupt Kritik am Ist-Zustand zu üben.190 Mit dieser doppelten Bestimmung der Religion im Hintergrund soll nun der zweite Aspekt, die ‚Antwort‘, die die Religion empfängt und die als ‚utopische Vorwegnahme‘ der Wiedervereinigung bereits anklang, genauer betrachtet werden. Als das korrelative Gegenstück zur Entfaltung der Zweideutigkeiten des Lebens sind dafür die Kapitel Die Gegenwart des göttlichen Geistes und Der göttliche Geist und die Zweideutigkeiten des Lebens191 in der Systematischen Theologie heranzuziehen; der göttliche Geist wird also – so viel wird bereits durch den Aufriss der Gliederung deutlich – als die Antwort der christlichen Botschaft auf die Frage der Zweideutigkeiten des Lebens verstanden: Alle Zweideutigkeiten des Lebens wurzeln in der Trennung und dem Ineinander von essentiellen und existentiellen Elementen des Seins. Deshalb bedeutet Schöpfung unzweideutigen Lebens die Wiedervereinigung dieser Elemente im Lebensprozeß. Wiedervereinigung bedeutet, daß das aktuelle Sein der wahre Ausdruck des essentiellen Seins ist. Wiedervereinigung ist nicht Rückkehr zu dem Stand der ‚träumenden Unschuld‘, sie wird vielmehr auf dem Wege über Entfremdung, Kampf und Entscheidung erreicht. In der Wiedervereinigung von essentiellem und existentiellem Sein wird das zweideutige Leben über sich hinausgehoben zu einer Einheit, die es aus eigener Kraft nicht hätte erreichen können. Diese Einheit beantwortet die Fragen, die in den Lebensprozessen und in den Funktionen des Geistes enthalten sind. […] Die transzendente Einheit erscheint im menschlichen Geist als das ekstatische Erlebnis, das, von der einen Seite gesehen, Glaube, von der anderen Seite gesehen, Liebe genannt wird.192
Tillich beschreibt die Wirkung des göttlichen Geistes hier als eine „Wiedervereinigung“ (vgl. auch II.5.3.1). Zentral an diesem Gedanken ist erstens, dass die Wiedervereinigung inhaltlich als Realisierung essentiellen Seins gedacht 190 Vgl. a.a.O., 117: „Aber es ist mehr als ein äußeres Kriterium, insofern essentielle und existentielle Elemente im Leben stets gemischt sind und die Einheit der drei Funktionen genauso real ist wie ihr Getrenntsein. Diese Mischung ist der Grund aller Zweideutigkeiten in der Dimension des Geistes. Und nur weil das essentielle Element im Leben wirksam bleibt – wenn auch in zweideutiger Weise –, kann das Essentialbild als Kriterium für das Leben entworfen werden.“ 191 Vgl. a.a.O., 134–190.191–323. 192 A.a.O., 153f. Zur Frage nach der Überwindung der Zweideutigkeit vgl. Auch M ÜLLER, DENIS, „Transcender l’ambiguïté“ Introduction et perspective, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 337–347. Zum Zusammenhang von Ambiguität und Pneumatologie, vgl. DANZ, CHRISTIAN, Spirit and the Ambiguities of Life. Reflections on Paul Tillich’s Pneumatology, in: a.a.O., 359–366 sowie SCHÜßLER, WERNER, Les ambiguïtés des processus de la vie et le «healing power» de l’esprit divin. Sur le rapport entre salut (Heil) et guérison (Heilen) chez Paul Tillich, in: a.a.O., 367–378.
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
wird, sich also im Leben das Sein, wie es ‚eigentlich‘ sein soll, verwirklicht. Zweitens will Tillich diese Realisierung aber nicht als Rückkehrbewegung in einen Paradieszustand verstanden wissen, sondern – und hier erinnert die Schilderung des dialektischen Prozesses deutlich an die geschichtsphilosophische Konstruktion bei Schelling (vgl. II.2.4.2) – über „Entfremdung, Kampf und Entscheidung“ und damit über den Weg durch die Existenz. Ganz ähnlich wie dies auch in den frühen Einheitsvisionen für den Begriff des Kairos der 1920er Jahre der Fall war, bildet der Gegensatz der Rede von einer „Entscheidung“ auf der einen und des Herausgehoben-Werdens, das „es aus eigener Kraft nicht hätte erreichen können“, auf der anderen Seite eine entscheidende Spannung dieser Wiedervereinigung (vgl. II.2.3.3). Dem Menschen „erscheint“ die Einheit als „ekstatisches Erlebnis“, das Glaube von der einen, Liebe von der anderen Seite genannt wird. Glaube wird dabei im Fortgang der Argumentation als „der Zustand, in dem der Mensch vom göttlichen Geist ergriffen und für die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens geöffnet ist“193 beschrieben; Liebe hingegen als „Zustand des Hineingenommenseins in die transzendente Einheit unzweideutigen Lebens durch den göttlichen Geist“.194 Beide sind dem Menschen unverfügbar, der Mensch wird ‚ergriffen‘, ‚hineingenommen‘, ‚hineingezogen‘. Es ist also letztlich die Erfahrung göttlicher Offenbarung, die dem Mensch Antwort gibt auf die Fragen, die mit der Zweideutigkeit gestellt sind. Die „transzendente Einheit unzweideutigen Lebens“ wird im weiteren Verlauf der Argumentation mit der christologischen Figur des ‚Neuen Seins‘ verbunden, die als Sein „jenseits der Spaltung von Essenz und Existenz“195 durch den Geist gewirkt wird. Dieses ‚Neue Sein‘ als Realisierung essentiellen Seins unter den Bedingungen der Existenz – vollkommen verwirklicht lediglich in Jesus als dem Christus – ist für den Menschen jedoch innerweltlich immer nur „fragmentarisch“ und „antizipatorisch“196 zu haben. Das bedeutet, dass unzweideutiges Leben für den Menschen immer nur momenthaft und gleichsam einer Vorahnung gegenwärtig ist – in seiner vollständigen Erfüllung jedoch eine eschatologische Hoffnung darstellt. Mit anderen Worten: Unzweideutigkeit ist unter den Bedingungen der Existenz immer unverfügbar und nur bruchstückhaft erfahrbar. Nach Momenten solcher Erfahrung fällt das Leben immer wieder in seine zweideutigen Strukturen zurück. Dennoch sind ebensolche momenthaften Erfahrungen von Unzweideutigkeit – oder anders gesprochen: Erfahrungen ungefährlicher Eindeutigkeit – unabdingbar wichtig für das menschliche Bedürfnis nach Orientierung im Zweideutigen.197 A.a.O., 156. A.a.O., 160. 195 A.a.O., 165. 196 A.a.O., 166f. 197 Als Orientierungsmaßstab für ethisches Handeln hat Mary Ann Stenger die Wichtigkeit dieser Momente am Beispiel des Themas ‚justice‘ mit Blick auf Ungleichheit aufgezeigt, vgl. STENGER, MARY ANN, Ambiguities of Inequality. Connecting Tillich’s Analysis to 193 194
5.4 Zwischen Ein- und Zweideutigkeit
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Mit diesen Feststellungen sind zugleich zwei grundlegende Fragen thematisiert, die in der Einleitung dieses Kapitels bereits angesprochen waren: erstens, die Verhältnisbestimmung von Einheit, Eindeutigkeit und Unzweideutigkeit; zweitens, die Frage nach der Bewertung der Zweideutigkeit in der Systematischen Theologie. Anschließend gilt es im Folgenden auch noch die Funktion von Religion angesichts der ambigen Wirklichkeit zu klären. Oder anders gefragt: Inwieweit tragen Eindeutigkeitserfahrungen in der Religion nach Tillich dazu bei, Menschen ein gelasseneres Verhältnis zu Ambiguitäten zu ermöglichen? Und wann wirkt Religion selbst – im gefährlichen Sinne – vereindeutigend? Mit Blick auf die Verhältnisbestimmung von Einheit, Eindeutigkeit und Unzweideutigkeit, sei zunächst angemerkt, dass der Ausdruck Eindeutigkeit, der etwa in der Dresdener Dogmatik für den Durchbruch von Offenbarungsmomenten in die profane Lebenswelt verwendet wurde (vgl. II.3.3.1), nun quasi durchgängig vom Terminus der Unzweideutigkeit abgelöst wird. Dieser, im deutschen Sprachgebrauch recht ungewöhnliche Ausdruck, scheint auf eine direkte Übersetzung des Englischen ‚unambiguous‘ zurückzugehen. Dieses verdeutlicht in seiner schlichten Verneinungsform den Gegensatz zu ‚ambiguous‘, bzw. im Deutschen zu ‚zweideutig‘, ohne selbst eine direkte Bestimmung vorzulegen. Mit dem Terminus wird also nicht eine neue, andere Qualität positiv beschrieben, wie das etwa im Falle von ‚eindeutig‘ der Fall wäre, sondern dieses Neue über die Abwesenheit von Ambiguität bzw. Zweideutigkeit negativ bzw. indirekt bestimmt. Womöglich war es also Tillichs Anliegen, in der Wahl des Ausdrucks eine gewisse Unbeschreibbarkeit dieser anderen, unverfügbaren Lebensrealität – im Sinne einer negativen Theologie – auszusagen? Oder er hat mit der Wahl des (deutschen) Ausdrucks – sofern dieser in Absprache mit ihm festgelegt wurde – gerade den Abstand zu Negativformen von Vereindeutigung und Vereinseitigung auszudrücken gesucht. Vielleicht steht aber auch nur eine möglichst wortgetreue Übersetzung des Englischen durch die Übersetzerinnen im Hintergrund und der Verzicht auf die eigentlich gängige Wiedergabe mit ‚eindeutig‘ lässt sich so erklären. Leider lassen sich in diesem Zusammenhang nur Mutmaßungen anstellen. Wenn aber im Folgenden im Rahmen dieser Arbeit von positiven Formen von Eindeutigkeitserfahrungen die Rede ist, sind damit solche Formen gemeint, die Tillich mit dem Terminus ‚unzweideutig‘ umschreibt. Das Verhältnis von Unzweideutigkeit/Eindeutigkeit und Einheit wiederum ist derart geartet, dass die Einheit (etwa von Moralität, Kultur und Religion, aber auch die essentielle Einheit zwischen den verschiedenen Polen) im Moment der Eindeutigkeitserfahrung eben ‚unzweideutig‘ in Erscheinung tritt, also nicht mehr vermischt mit der existentiellen Erfahrung der Trennung oder Contemporary Discussions, in: Dumas/Richard/Wagoner, Les ambiguïtés de la vie selon Paul Tillich, 195–213, hier besonders 212f.
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
Zerrissenheit, sondern eben klar und unverzerrt einsehbar wird. Die essentielle Struktur der Wirklichkeit tritt also für einen Moment in ihrer Eigentlichkeit in Erscheinung – und wird damit zum Maßstab für jede Form der Kritik an der zweideutigen Lebensrealität. Mit dieser Klärung ist auch die zweite grundlegende Frage, die Bewertung der Zweideutigkeit in der Systematischen Theologie, angesprochen: Tatsächlich deutet schon der Fragecharakter der Zweideutigkeit darauf hin, dass Tillich der Zweideutigkeit ein defizitäres Moment zuschreibt bzw. in ihr angelegt ein Moment der Überschreitung ihrer selbst denkt. Wenngleich damit der Zweideutigkeit immer eine Vorläufigkeit und auch eine tendenziell pejorative Bewertung – mit Konsequenzen bis hin zu Zerrissenheit, Verzweiflung usw. – anhaftet, wird sie dennoch zugleich als so allgegenwärtig aufgefasst, dass sie, ähnlich der Endlichkeit des Menschen, nicht ständig und alltäglich hochdramatisch ins Bewusstsein tritt. Oder anders gesagt: Das Stigma der Zweideutigkeit gehört so unwiderruflich zu den Vollzügen menschlicher Lebensrealität dazu, dass es zwar grundsätzlich nach seiner Überwindung oder Auflösung fragen lässt, aber dennoch nicht in jedem Moment gleichermaßen negativ oder dringlich in Erscheinung zu treten scheint. Anschließend an die Klärung dieser beiden Fragen gilt es nun noch die Verortung und Funktion von Religion – und damit auch den dritten zu Beginn dieses Unterkapitels thematisierten Aspekt der Religion zwischen unzweideutiger Antwort und zweideutiger Lebenswirklichkeit – zu thematisieren. Die Schilderung der Trennung von Moralität, Kultur und Religion unter den Bedingungen der Existenz schließt mit der Erwähnung, der „tiefen Zweideutigkeiten“198 der Religion, während im Falle der anderen Funktionen der Zusatz der „tiefen“ fehlt. Tillich geht auf diese Unterschiedlichkeit bei der Schilderung der Zweideutigkeiten der Religion näher ein: Es ist dabei von der „doppelten“ Zweideutigkeit der Religion die Rede, beziehungsweise einer „Verdoppelung der Zweideutigkeiten in ihr [der Religion, Anm. Vfin.]“199. Während die Grundzweideutigkeiten im Falle der Selbst-Integration und im Falle des Sich-Schaffens jeweils die gegenteilige Tendenz darstellen – Desintegration zu Integration beziehungsweise Zerstörung zu Schaffen – liegen im Falle der Selbst-Transzendierung gleich zwei mögliche Abwege vor: die Profanisierung und die Dämonisierung, beziehungsweise die „‚Zweideutigkeit von Heiligem und Profanem‘“ und die „‚Zweideutigkeit von Göttlichem und Dämonischen‘“200:
A.a.O., 117. A.a.O., 120. 200 Ebd. 198 199
5.4 Zwischen Ein- und Zweideutigkeit
343
Man kann sagen, daß sich Religion immer zwischen den zwei Gefahrenpunkten – Profanisierung und Dämonisierung – bewegt. In jedem religiösen Akt sind beide stets gegenwärtig – offen oder versteckt.201
Im Gegensatz zur Selbst-Integration und dem Sich-Schaffen kann die SelbstTranszendierung also nach zwei Richtungen hin misslingen und beide Richtungen sind in jedem religiösen Akt stets vorhanden. Woher aber kommt die hier angesprochene Verdopplung der Zweideutigkeit, das mögliche Misslingen von religiösen Akten gleich nach zwei Seiten hin? Nach Tillich „behauptet die Religion, die Antwort auf die Zweideutigkeiten des Lebens in allen Dimensionen zu sein“202, indem sie deren spannungsvolle Konflikte transzendiert. Dadurch aber gerät sie „in noch größere Spannungen, Konflikte und Zweideutigkeiten“203 hinein. Dies hängt eng zusammen mit der Existenz von Religion als einer Sondersphäre, die auf der einen Seite die substanzielle Entleerung von Moralität und Kultur zur Folge hat, und auf der anderen Seite mit der Tendenz zur Verabsolutierung von endlichem Seienden innerhalb der Sondersphäre verbunden ist. Mit der Entleerung und Verabsolutierung sind zugleich die beiden gefährlichen Vereindeutigungen der Religion benannt, Profanisierung und Dämonisierung, die schon in den 1920er Jahren im Zusammenhang mit verschiedenen Typen von Zweideutigkeit als Abwege des Religiösen thematisiert wurden (vgl. II.3.3.1) und die nun in die späte Systematisierung der Zweideutigkeit als Teilelemente Eingang finden. Den ersten Fall, die Profanisierung als ein Element der ‚Zweideutigkeit zwischen heilig und profan‘ führt Tillich darauf zurück, dass sich in der Sphäre der Religion als „Manifestation des Heiligen“ die „Aufnahme von Offenbarungserfahrungen“204 vollzieht: Es entstehen heilige Gegenstände (Schriften, Gemeinschaften, Rituale, etc.), die „transparent“ werden für das Heilige selbst. In dieser Funktion, als Medium für das Unbedingte zu wirken, liegt nach Tillich die Größe und Heiligkeit der Religion. Auf der anderen Seite jedoch lauert hier auch die Gefahr der Profanisierung: Tillich schildert dabei zwei mögliche Formen von Profanisierung, einmal die „‚institutionelle‘“, einmal die „‚kritisch-reduktionistische‘“205. Die institutionelle Profanisierung bezeichnet die Entleerung von Ritualen und die Erstarrung von Vorschriften, Geboten und Lehrsätzen, die Teil der bedingten Wirklichkeit werden und ihren Medialitätscharakter – und damit die Fähigkeit zu einer Darstellung bzw. Vergegenwärtigung des Unbedingten – verlieren. Die kritisch-reduktionistische Profanisierung hingegen umfasst nach Tillich verschiedene Formen der Religionskritik, die von einer Reduktion der Religion auf Ästhetik, Moral oder Kultur hin zur Ebd. Ebd. 203 Ebd. 204 A.a.O., 120. 205 A.a.O., 121. 201 202
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
Kritik der Religion von Seiten der Psychologie oder Soziologie reichen. Tillich beschreibt hier mit der Kategorie der Profanisierung den allumfassenden Säkularisierungsprozess, der sich „nicht nur im kommunistischen Osten, auch im demokratischen Westen“206 vollzieht und bezeichnet diese Form als die einflussreichere – wenngleich ihr Gelingen letztlich immer nur die Religion als eine Sondersphäre betrifft; hingegen niemals die Gegenwart des Unbedingten selbst. Der zweite Fall, die Dämonisierung als Element der ‚Zweideutigkeit zwischen göttlich und dämonisch‘ stellt im Gegensatz zur Profanisierung keine Entleerung oder Verneinung, sondern eine Verzerrung des Göttlichen dar: Das Dämonische „verfälscht die Selbst-Transzendierung, indem es einen bestimmten Träger der Heiligkeit mit dem Heiligen selbst identifiziert“207 Auch hier spielt Tillich verschiedene Formen der Dämonisierung durch, die von der Dämonisierung von Personen bis zum Problem des Dogmas reichen. Für Tillich stellt sich im Zusammenhang mit der Dämonisierung interessanterweise auch die Frage nach der Brauchbarkeit des Religionsbegriffs, die er an dieser Stelle mit implizitem Verweis auf Karl Barth diskutiert.208 Tillich vertritt die Ansicht, dass Barths Kritik sich letztlich auf bereits dämonisierte Religion richtet, während sie übersieht, dass „jede Religion auf Offenbarung beruht und jede Offenbarung sich in der Form der Religion ausdrücken muß.“209 Religion wird damit nicht – wie bei Barth – als der menschliche Versuch verstanden, Gott zu erreichen oder sich seiner zu ermächtigen, sondern vielmehr als die Form, in der die – unzweideutige – göttliche Offenbarung aufgenommen wird, wenngleich stets bedroht von den beiden geschilderten Zweideutigkeiten. Damit wird erneut deutlich, dass die göttliche Offenbarung als göttliche Antwort den Charakter der Unzweideutigkeit hat, dieser allerdings unter den Bedingungen der Existenz zwangsläufig zweideutig wird. Zusammenfassend lässt sich damit für die Rolle der Religion festhalten, dass sie von Tillich auf eigentümliche Weise zwischen Ein- und Zweideutigkeit verortet wird: Auf der einen Seite ist Religion der Ort, an dem die unzweideutige Antwort auf die Zweideutigkeiten des Lebens als Offenbarung empfangen wird. An diesem Punkt liegt ihre Verbindung zu einer positiv konnotierten, produktiven Form von Eindeutigkeit, die für den Menschen orientierendes und stabilisierendes Potential wahrnimmt. Sobald allerdings die Aufnahme der unzweideutigen Offenbarung in der Religion – und ihren Geschichten, Bildern, Riten, Geboten, usw. – erfolgt, ist sie den beiden Gefahrenpolen von Profanisierung und Dämonisierung ausgesetzt wird damit Teil der (in diesem Falle
A.a.O., 123. A.a.O., 125. 208 Vgl. a.a.O., 126f. 209 Ebd. 206 207
5.5 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Zur Systematisierung eines Begriffsgefüges
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doppelten) allgemeinen Zweideutigkeit des Lebens. Damit wird religiösen Akten sowohl ein Moment positiv-produktiver Eindeutigkeit zugeschrieben, als auch vor den gefährlichen Vereindeutigungen dieses Moments (Profanisierung und Dämonisierung), die – so scheint es – aufgrund der strukturellen Zweideutigkeit der Lebensrealität unweigerlich stattfinden, gewarnt. Die ersten Bestimmungen von Zweideutigkeit, die in der Dresdener Dogmatik auftauchten und als zwei Prototypen von Zweideutigkeit analysiert wurden (vgl. II.3.3.1 sowie 3.4) tauchen hier also eingegliedert in die Systematik der Zweideutigkeit wieder auf. Geändert haben sich – neben der Tatsache der Eingliederung – dabei vor allem zwei Dinge: Erstens scheinen Profanisierung und Dämonisierung einander nun gleichgeordnet zu sein, was ihre Funktionsweise angeht. Auch die besondere Gefahr der Dämonisierung und damit die deutlich negativere Bewertung tritt nicht mehr so klar hervor, wie dies noch in der Dresdener Dogmatik der Fall war. Die wichtigere Verschiebung jedoch scheint zu sein, dass die bestimmende Grundfrage nun eine andere ist: Während die Dresdener Dogmatik das Konzept der Zweideutigkeit zunächst einmal nutzte, um der religiös-unsicheren Situation des modernen Menschen einen Platz in einer vornehmlich profanen Weltansicht einzuräumen, wird die Zweideutigkeit der Religion nun – zusammen mit allen anderen Zweideutigkeiten des Lebens – zum Ausgangspunkt der Frage nach einer Überwindung der Zweideutigkeit. Und damit zu einer Erklärung für die Sehnsucht und Notwendigkeit von göttlicher Offenbarung – oder positiv verstandener Eindeutigkeit – in der modernen Welt.
5.5 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Zur Systematisierung eines Begriffsgefüges 5.5 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Zur Systematisierung eines Begriffsgefüges
Mit der Systematischen Theologie erreicht die Entwicklung des Zweideutigkeitsbegriffs in Tillichs Werk ihren Kulminations- und zugleich ihren Endpunkt. Drei Aspekte wurden im vorliegenden Kapitel als entscheidende Merkmale dieses Stadiums des Zweideutigkeitsbegriffs in Tillichs Werk diskutiert: die Explikation der Zweideutigkeit als eine existentielle Frage, die Systematisierung der Zweideutigkeit als ein ontologischer Grundbegriff und die Verwendung der Zweideutigkeit als eine kulturkritische Analysekategorie (vgl. II.5.3.1–5.3.3). Die Ergebnisse dieser drei Zuspitzungen sollen im Folgenden jeweils nochmal einzeln beleuchtet werden und in ihrer Relevanz für die Fragestellungen der gesamten Arbeit hervorgehoben werden. Die Zweideutigkeit als existentielle Frage ist grundlegend mit der Ausweitung des Begriffs auf alle Lebensbereiche, ja, den Charakter des Lebens selbst verbunden. Insbesondere gegenüber der Dresdener Dogmatik hat sich die Zweideutigkeit in der Systematischen Theologie also von der Frage nach den
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
Rahmenbedingungen moderner Religiosität losgelöst und ist zu einem Grundcharakteristikum aller individuellen und sozialen Lebensvollzüge avanciert, von denen religiöse Akte nur eine Form darstellen. Die Zweideutigkeit thematisiert nun die Fragwürdigkeit des Lebens in seinem stets fragmentarischen und unvollkommenen Charakter. Oder andersherum formuliert: Die Zweideutigkeit fungiert – ausgehend von der Wirklichkeit des Lebens selbst – als die Erklärung dafür, warum das vollkommen Gute und die Ganzheit der Schöpfung im Leben selbst nicht zu haben sind. In ihrem Charakter als Frage wird die Zweideutigkeit somit auch zum Ausgangspunkt aller menschlichen Sehnsucht nach Eindeutigkeit, Ganzheit und Erfüllung, wie sie – im Sinne unzweideutiger Offenbarung – in der Religion empfangen wird. Ihr haftet damit zugleich eine tendenziell pejorative Bewertung an sowie ein in ihr angelegtes Überschreitungsmoment hin zu Erfahrungen von Eindeutigkeit. Die Zweideutigkeit ist also ein entscheidender Faktor für die Transzendierungs-, oder traditioneller gesprochen für die Erlösungsbedürftigkeit der individuellen wie sozialen Lebensrealität (vgl. II.5.3.1 und II.5.3.4). Mit der Zweideutigkeit als einem ontologischen Grundbegriff kommt als zweite Zuspitzung die systematische Binnendifferenzierung des Zweideutigkeitsbegriffs in den Blick, die – so die entfaltete These – letztlich darauf abzielt, einen Aspekt der konkreten Lebenswirklichkeit abzubilden: nämlich die inhärente Widersprüchlichkeit aller individuellen wie sozialen Lebensrealität. Um der Totalität des Lebens als eine solche Beschreibungskategorie gerecht werden zu können, entwirft Tillich die Zweideutigkeit als ein Begriffsgefüge mit verschiedenen Abstraktionsniveaus, die im vorliegenden Kapitel herausgearbeitet wurden. Bezüglich dieser verschiedenen Abstraktionsebenen können unterschieden werden: erstens, eine ontologisch-abstrakte Bestimmung von Zweideutigkeit als Mischung von Essenz- und Existenzstrukturen des Lebens; zweitens, eine ontologisch-konkrete Bestimmung in Form der Grundzweideutigkeiten von Selbst-Integration/ Desintegration, Sich-Schaffen/ Zerstörung und Selbst-Transzendierung/ Profanisierung, die die abstrakte Bestimmung in den Lebensfunktionen aktualisiert; schließlich, die konkreten Zweideutigkeiten als Artikulationen der Grundzweideutigkeiten in der konkreten Lebenswelt (Zweideutigkeit des Opfers, Zweideutigkeit der Technik usw.). Mit dieser inneren Systematisierung der Zweideutigkeit ist ein Begriffsgefüge geschaffen, das – in sich selbst mehrstufig und komplex – die konkrete Lebenswirklichkeit in ihrer Vielfalt zu fassen vermag und zugleich verschiedene, im Verlauf der Werkgeschichte bereits thematisierte Zweideutigkeiten in sich integriert. Tillich bleibt – gerade mit Blick auf die Rückübersetzung des englischen ‚ambiguity‘ mit ‚Zweideutigkeit‘ und dem Beibehalten einer binären Aufbaulogik – seiner Konzeption einer begrenzten Ambiguität einerseits treu. Andererseits vermag die komplexe Konstruktion des Begriffsgefüges nun verschiedenste
5.5 Zwischenfazit: Zweideutigkeit. Zur Systematisierung eines Begriffsgefüges
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Formen solcher begrenzten Ambiguitäten zu integrieren – und wird damit flexibel, die Unvollkommenheit, Widersprüchlichkeit, Fragwürdigkeit und damit letztlich auch die Vieldeutigkeit der Lebensrealität abzubilden (vgl. II.5.3.2). Mit der Zweideutigkeit als einer kulturkritischen Analysekategorie wurde schließlich die Funktion der Zweideutigkeit mit Blick auf Zeitdiagnose und Gegenwartskritik anhand der Beispiele der Technik und des Ost-West-Konflikts beleuchtet. Diese dritte Zuspitzung betonte das Anliegen Tillichs, mit Hilfe des Zweideutigkeitsbegriffs bestimmte Zusammenhänge offenzulegen, um auf Disbalancen und Fehlentwicklungen innerhalb dieser Zusammenhänge aufmerksam zu machen. So kann etwa die ‚Zweideutigkeit der Vollkommenheit‘ in Zusammenhang mit dem Ost-West-Konflikt als eine Auseinandersetzung mit den totalitären Systemen und imperialistischen Strukturen und ihren Auswüchsen im 20. Jahrhundert interpretiert werden. Der Begriff der Zweideutigkeit wird in dieser Hinsicht nicht nur zu einem Interpretament für die gegenwärtige gesellschaftspolitische und kulturelle Lage, sondern auch zu einer analytischen Bewältigungsstrategie für die jüngere Geschichte (vgl. II.5.3.3). Dabei kommt – ähnlich den soziologischen Diagnosen aus dem Eingangsteil (vgl. I.2) – eine für Tillich ungewöhnlich positive Konnotation der Zweideutigkeit in den Blick, nämlich diejenige, ein schmerzlicher und doch notwendiger Bestandteil von freiheitlichen Gesellschaften zu sein. Wo immer letztere die Einsicht in die eigenen Zweideutigkeiten – und damit die Fähigkeit zur Selbstkritik – verlieren, treten gefährliche Vereinseitigungen und Vereindeutigungen zu Tage, die totalitäre, imperialistische, oder zumindest verblendete Züge tragen. Mit der Beschreibung von bestimmten modernespezifischen Artikulationen von Zweideutigkeit wie etwa derjenigen des Ost-West-Konflikts geht bei Tillich jedoch zugleich, so eine zweite Einsicht dieser dritten Zuspitzung, der Aufweis tieferliegender Strukturen einher: Alle spezifischen Artikulationen wurzeln in der Zweideutigkeit als einer grundlegenden ontologischen Struktur. Damit schafft Tillich mit dem Zweideutigkeitsbegriff nicht nur eine Analysekategorie für aktuelle Problemlagen, sondern beansprucht auch eine Kontinuität dieser ‚modernen‘ Problemlagen mit anderen Epochen. Es wird im abschließenden Teil (vgl. III.2) zu sehen sein, wie sich diese Bestimmung im Diskursfeld um die Verhältnisbestimmung von Ambiguität und Moderne verorten lässt, das im Eröffnungsteil der Arbeit aufgespannt wurde (vgl. I.2). Wie bereits in vorangegangenen Bestimmungen von Zweideutigkeit ist auch in der Systematischen Theologie mit dem Begriff ein Überschreitungsmoment verbunden, das sich in dem Fragecharakter der Zweideutigkeit ebenso artikuliert, wie es zu der spannungsvollen Position führt, die der Religion in diesem Zusammenhang zukommt. Selbst verstrickt in die Zweideutigkeiten des Lebens, und zwar umso tiefer, als sie die Antwort auf die Zweideutigkeiten des Lebens zu sein beansprucht, ist und bleibt die Religion der Ort, an dem die unzweideutige Antwort auf die Frage der Zweideutigkeit empfangen wird. Sie
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Teil II – Kap. 5. Ambiguity als kulturanalytischer Grundbegriff
wird damit in einem ‚Dazwischen‘ von Ein- und Zweideutigkeit lokalisiert. Interessant sind an dieser Bestimmung vor allem zwei Aspekte: Erstens geht Tillich davon aus, dass es durchaus produktiv-positive Momente von Eindeutigkeit in der zweideutigen Lebensrealität gibt. Diese ereignen sich zwar immer nur momenthaft und bleiben fragmentarisch; gleichwohl liegt in ihnen die Antwort auf die Frage der Zweideutigkeit, die Gewissheit, Ganzheit und Geborgenheit, nach der sich menschliches Leben in der Zweideutigkeit sehnt und die es zu einer Orientierung im Zweideutigen braucht. Zugleich geht Tillich davon aus, dass diese unverfügbar sich ereignenden Momente von Eindeutigkeit in der zweideutigen Lebensrealität stets von gefährlichen Formen der Vereindeutigung bedroht sind. Im Falle der Religion sind diese als die Prozesse der Profanisierung oder Entleerung und der Dämonisierung oder Absolutsetzung bedingter Formen beschrieben. Tillich legt mit dieser Bestimmung von Religion zwischen produktiver Eindeutigkeit, struktureller Zweideutigkeit und gefährlicher Vereindeutigung eine differenzierte Analyse von Religion und Ambiguität vor. Gegenüber den im ersten Teil der Arbeit entfalteten Positionen (vgl. I.3) ist damit, zweitens, hervorzuheben, dass Tillich das Verhältnis von Religion und Ambiguität gerade nicht im Sinne soziologischer ‚Großnarrative‘ (etwa der Vereindeutigung versus der Pluralisierung) denkt, sondern ebenjene Tendenzen als inhärente Potentiale eines jeden religiösen Aktes begreift. Die Verhältnisbestimmung von Religion und Ambiguität erfolgt damit also kleinschrittiger und differenzierter; jedem religiösem Vollzug eignet stets von neuem das Potential zur Stabilisierung, aber auch zur Veränderung von übergeordneten Narrativen oder Prozessen. Fasst man die hier geschilderten Ergebnisse des vorliegenden Kapitels abschließend zusammen, fällt auf, dass insbesondere gegenüber den frühen Verhältnisbestimmungen von moderner Lebenswelt und Religion eine gänzlich andere Relation dieser Größen über den Zweideutigkeitsbegriff anvisiert wird: Statt eine begriffliche Lösung für die Unterbringung von Religion in der modernen Lebenswelt anzubieten, wie dies noch in Zusammenhang mit dem ‚Gläubigen Realismus‘ der Fall war, wird mit ‚Zweideutigkeit‘ nun die Frage der (modernen) Lebenswelt gestellt, auf die wiederum die Religion in Form von unzweideutiger Offenbarung antwortet. Das Verhältnis hat sich damit umgekehrt; die Zweideutigkeit ist von einer Lösungsstrategie für das Problem der Religion der Moderne zu einer Problembeschreibungskategorie für die Moderne (und darüber hinausgehende Epochen) selbst geworden. Gleichwohl lässt sich gerade die Frage nach unzweideutiger Einheit – wenngleich diese nur noch im Modus des Fragmentarischen und als eschatologische Kategorie vorhanden ist – auch als ein deutliches Kontinuitätsmoment zur Kulturtheologie von 1919 und damit zum Auftakt der werkgeschichtlichen Analyse diese Arbeit lesen. Es gilt nun im Folgenden, die hier gesammelten Aspekte in eine systematisierende Zusammenfassung von Tillichs Ambiguitätsbegriff einfließen zu lassen.
Kapitel 6
Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie. Ein Fazit Teil II – Kap. 6. Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie
‚Wandernde Begriffe‘ – mit dieser Formel lässt sich die These der niederländischen Kulturhistorikerin Mieke Bal zusammenfassen, die im ersten Teil dieser Arbeit als Ausgangspunkt für die interdisziplinären Betrachtungen des Ambiguitätsbegriffs diente (vgl. I.1). Begriffe sind demnach „nichts ein für allemal Feststehendes“, sondern sie „wandern: zwischen den Fächern, zwischen einzelnen Wissenschaftlern sowie zwischen historischen Perioden und geographisch verstreuten akademischen Gemeinschaften“1 – mit der Konsequenz, dass ihre Bedeutung, Reichweite und Funktion immer wieder neu erschlossen werden müssen. Diese These kann mit Blick auf die werkgeschichtlichen Analysen der letzten vier Kapitel auch für Tillichs Ambiguitätsbegriff gelten: Durch vier Jahrzehnte hindurch, auf zwei Kontinenten mit ihren jeweiligen akademischen Besonderheiten, und über thematisch sehr disparate Konstellationen hinweg wurde die komplexe Entwicklung des Begriffs der Zweideutkeit bzw. ambiguity nachgezeichnet. Dabei erwies sich die Zweideutigkeit als ein mit Tillichs werkgeschichtlicher Entwicklung stetig ‚mitwandernder Begriff‘ und im Zuge der verschiedenen theoretischen Verschiebungen als eine extrem adaptive Kategorie. Die Fähigkeit zur Adaption zeigte sich dabei nicht nur in der flexiblen Anwendbarkeit auf unterschiedliche Themenstellungen, sondern auch in der Ausbaufähigkeit des Begriffs, dessen innere Aufbaulogik sich ebenso stetig anpasst wie seine Reichweite und Funktion sukzessive erweitert werden. Auf diese Weise avanciert ‚Zweideutigkeit‘ allmählich zu einer Schlüsselkategorie in Tillichs Werk, die als charakteristisch für sein integratives, suchendes und doch systematisches Denken gelten kann. Im Folgenden werden die Ergebnisse der werkgeschichtlichen Analyse in fünf Punkten gebündelt: Zunächst werden die Diskontinuitäten des ‚wandernden‘ Zweideutigkeitsbegriffs beleuchtet und damit ein zusammenfassender Überblick über die werkgeschichtliche Entwicklung gegeben, wobei sowohl synchrone als auch diachrone Wandlungen des Begriffs im Fokus stehen. Im Anschluss wird das Augenmerk auf Kontinuitäten des Begriffs gelenkt, also
1
BAL, Kulturanalyse, 11.
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Teil II – Kap. 6. Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie
solche Merkmale, die sich über die Jahrzehnte und trotz der mehrfachen theoretischen Relokalisierungen in Zusammenhang mit der Verwendung von ‚Zweideutigkeit‘ als konstant erweisen. In einem dritten Punkt schließt ein werkgeschichtliches Fazit an, das noch einmal größere Linien der Werkgeschichte auch auf ihre aktuelle Relevanz hin in den Blick nimmt. Viertens wird anhand der erfolgten Auseinandersetzung mit Ambiguität die Bedeutung von Tillich als ein ‚Theologe der Moderne‘ konturiert, bevor fünftens das Fazit mit einer schließenden Betrachtung zu ‚Zweideutigkeit‘ als adaptiver Schlüsselkategorie zum interdisziplinären Schlussteil der Arbeit (vgl. III) überleitet.
6.1 Zweideutigkeiten statt Zweideutigkeit. Diskontinuitäten eines Begriffs 6.1 Zweideutigkeiten statt Zweideutigkeit
Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass es kaum sinnvoll ist, von der Zweideutigkeit im Werk Tillichs zu sprechen. Vielmehr ist es ein zentrales Ergebnis der Analysen, dass im Falle Tillichs von einem heterogenen Zweideutigkeitsbegriff ausgegangen werden muss, der sich über knapp vierzig Jahre in kontinuierlicher Bearbeitung, Wandlung und Neuapplikation befindet. Dabei lässt sich jedoch nicht nur eine diachrone Entwicklung des Begriffs feststellen, die sich etwa in den Differenzen zwischen den 1920er und 1950/60er Jahren niederschlägt und einen Begriff ‚im Fluss‘ nachzeichnet. Vielmehr findet sich – insbesondere in der frühen Phase – auch auf synchroner Ebene eine Heterogenität, die unterschiedliche Zweideutigkeitsbegriffe für ihren jeweiligen Kontext als erschließungskräftig ausweist. ‚Zweideutigkeit‘ bei Tillich ist also synchron und diachron als ein heterogener Begriff aufzufassen. 6.1.1 Diskontinuität auf der synchronen Ebene. Eine Typologie der Zweideutigkeit Auf der synchronen Ebene stehen die verschiedenen Verwendungen von ‚Zweideutigkeit‘ in der Dresdener Dogmatik paradigmatisch für die Heterogenität des Begriffs (vgl. II.3). Die erste Schrift Tillichs, in der die Zweideutigkeit prominent auftritt, lässt sich – mehr noch als die darüber hinaus anhaltenden Entwicklungen – in besonderer Weise als Suchbewegung nach der geeigneten Verwendung und theoretischen Positionierung des Begriffs verstehen. Fünf verschiedene thematische Kontexte wurden in Zusammenhang mit dem prominenten Auftreten der Zweideutigkeit in ebenjener Schrift analysiert: die Offenbarungslehre, die Erkenntnistheorie, die Sündenlehre, die Erlösungslehre sowie die Konstruktion der Materialdogmatik als Ganzes. Die Analyse dieser Kontexte entlang der Koordinaten für eine differenzierte Analyse von Ambiguität (vgl. I.1) ergab fünf Typen von Zweideutigkeit, die sich allerdings ungleich auf die Kontexte verteilen:
6.1 Zweideutigkeiten statt Zweideutigkeit
351
Typ 1. Zweideutigkeit als Vordergrund-Hintergrund-Struktur (‚Sowohl-alsAuch‘). In der Offenbarungslehre der Dresdener Dogmatik wird ‚Zweideutigkeit‘ zunächst als Scharnierbegriff für verschiedene religiöse wie nicht-religiöse Wirklichkeitsdeutungen verwendet. Dabei etabliert Tillich die areligiöse Weltansicht der Moderne als den ‚Normalfall‘, als die vordergründige Oberfläche der Wirklichkeit, die sich allerdings als durchlässig für Momente der Klarheit und Eindeutigkeit in Form von religiösen Erfahrungen erweist. Die Möglichkeit oder das Potenzial für solche Durchbruchsmomente schimmert ständig im Hintergrund der profanen Wirklichkeit, so dass hier dem Aufbau nach von einer ‚Sowohl-als-Auch‘-Struktur der Zweideutigkeit gesprochen werden kann. Der Wechsel zwischen Zweideutigkeit und Eindeutigkeit wird hier als ein dynamisches und reziprokes Verhältnis konzeptualisiert. Im Fortlauf der Werkgeschichte findet sich dieser Typus (in Kombination) auch weiterhin und wird in andere thematische Konstellationen übertragen, etwa in Zusammenhang mit der Zweideutigkeit der Technik (vgl. II.4.1). Typ 2. Zweideutigkeit als monodirektionale Kippfigur (‚Entweder-Oder‘). Auch Abwege des religiösen Erlebens, sogenannte Dämonien, werden in das dynamisch konstruierte, vielschichtige Verständnis der Wirklichkeit integriert und mit dem Begriff ‚Zweideutigkeit‘ umschrieben. Diese ebenfalls im Kontext der Offenbarungslehre thematisierte Zweideutigkeit nimmt ihren Ausgangspunkt in der – positiv verstandenen – Eindeutigkeit der Offenbarung und bezeichnet das mitgeführte Potential des Symbolgegenstands, sich selbst für unbedingt zu erklären. Zweideutigkeit wird dabei als monodirektionale Kippfigur in der Struktur eines ‚Entweder-Oder‘ konzeptualisiert: die Offenbarung ist entweder göttlich oder dämonisch. Wenn einmal ins Dämonische gekippt, kann sie nicht mehr ins Göttliche zurückversetzt werden. Umgekehrt jedoch scheint das dämonische Potential bei jeder göttlichen Offenbarung als Potentialität mitzulaufen; die Zweideutigkeit ist ihrer Aufbaulogik nach also asymmetrisch konstruiert. Die hier beschriebene Zweideutigkeit wird von Tillich weitaus negativer bewertet als der vorige Typus. Das Dämonische findet sich im Fortlauf der Werkgeschichte immer wieder als ein Element von Zweideutigkeit (vgl. insbesondere II.4.1; II.5.4); jedoch scheint sich die monodirektionale Struktur zugunsten einer flexibleren Struktur zu verschieben. Typ 3. Zweideutigkeit als Waage (‚Je-Desto‘). In den erkenntnistheoretischen Grundlegungen der Prolegomena begegnet ‚Zweideutigkeit‘ als Beschreibung für den Vollzug wissenschaftlicher Wahrheitssuche, der durch zwei gegenläufige Tendenzen gekennzeichnet ist – das Streben nach formalistischer Richtigkeit auf der einen Seite, den Wunsch nach wahrheitsgemäßer Erfassung eines Gegenstands auf der anderen Seite. Der Zweideutigkeit kommt hier die Funktion zu, ein Wissenschaftsverständnis zu legitimieren, das der Theologie beziehungsweise Dogmatik einen Platz jenseits der Alternative von formalisti-
352
Teil II – Kap. 6. Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie
scher Logik und vereinseitigenden Wahrheitsansprüchen zuweist. Vielmehr kann man sich der Wahrheit lediglich multiperspektivisch und unter Einbezug einer gewissen Deutungsunschärfe (Vagheit) nähern, wobei die vollkommene Wahrheitskenntnis sich menschlichem Streben immer wieder entzieht. ‚Zweideutigkeit‘ ist hier dem Aufbau nach als eine Balkenwaage mit asymmetrischer ‚Je-Desto‘-Struktur konzipiert: Je mehr die Erkenntnis nach Richtigkeit strebt, desto weniger trifft sie die Wahrheit (und umgekehrt). Damit liegt ein dritter Typus – der erste ohne eine ausgeprägte Wertdimension – von ‚Zweideutigkeit‘ vor. Dieser allerdings findet im Fortgang der Werkgeschichte kaum weitere Beachtung. Typ 4. Zweideutigkeit als Widerspruch (‚Ja‘ des ‚Nein‘). Die bisherigen Verwendungen von ‚Zweideutigkeit‘ gipfeln mit der Sündenlehre in der ersten und einzigen ausführlichen Definition des Begriffs, der die Zweideutigkeit als Synonym für das widersprüchliche Verhältnis des Seienden gegenüber dem Unbedingten bestimmt. ‚Zweideutigkeit‘ wird dabei zum Ausdruck für das Schweben alles Seienden zwischen der Abwendung vom Unbedingten und der Unmöglichkeit, diese Abwendung absolut zu vollziehen, oder anders gesprochen: der bleibenden Angewiesenheit auf das Unbedingte. Als unmöglicher, zum Scheitern verurteilter Widerspruch fungiert die Zweideutigkeit hier als eine Explikation für die Sünde, konzipiert jedoch diese Sünde in ständiger Verwiesenheit auf das Göttliche. Dies geschieht durch die Annahme, dass jeder Widerspruch immer schon eine Position, ein bestehendes Verhältnis, voraussetzt, zu dem sich in Widerspruch gesetzt wird. ‚Zweideutigkeit‘ findet sich hier als Reartikulation des ‚positiven Paradoxes‘ von 1923 wieder. Die Vorschaltung eines ‚Ja‘ vor das ‚Nein‘ macht eine Verabsolutierung der Sünde genauso unmöglich wie das Herausfallen aus dem ‚Ja‘ des Schöpfungszusammenhangs. Mit anderen Worten: Auch das zweideutigste Verhältnis zum Unbedingten steht unter dem bejahenden ‚Es-ist‘ der Kreatürlichkeit. ‚Zweideutigkeit‘ bezeichnet hier also ein Negativverhältnis, das von einem Positivverhältnis getragen wird. Bei diesem Typ Zweideutigkeit dominiert die starke Bewertung der einzelnen Elemente wie auch ihre asymmetrische Beziehung (das ‚Nein‘ ist abhängig vom ‚Ja‘). Im Fortgang der Vorlesung wird die Struktur dieser Zweideutigkeit in den nächsten Typus als ein Element (das ‚Nein‘) der Zweideutigkeit integriert. Der Sache nach bleibt diese Zweideutigkeit also erhalten, wenngleich die Bezeichnung wechselt (‚Wesenswidrigkeit‘, ‚Existenz‘). Typ 5. Zweideutigkeit als komplementäres Ineinander (‚Ja‘ und ‚Nein‘). Im Fortgang der Vorlesung wird ‚Zweideutigkeit‘ als Ausdruck für den Widerspruch durch den Begriff der Wesenswidrigkeit ersetzt. ‚Zweideutigkeit‘ bezeichnet fortan das Ineinander von Affirmation und Widerspruch gegenüber dem Unbedingten, das die konkrete Wirklichkeit charakterisiert. Damit deutet
6.1 Zweideutigkeiten statt Zweideutigkeit
353
sich hier schon eine Positionierung des Begriffs an, die sich als Ineinander von Essenz und Existenz in der Systematischen Theologie der 1950er und 1960er Jahre zu einem Grundbegriff des Systems fortbilden wird. Die Besonderheit dieser Konzeption liegt darin, dass die Verwendung der Zweideutigkeit als ein solches (theoretisches) Konstruktionsprinzip von Schöpfungs- und Sündenlehre zugleich als Beschreibung realer religiöser Erlebnisse verstanden werden kann. Dabei liegt die Stoßrichtung des Begriffs darin, das religiöse Erleben als ein dynamisches zu beschreiben, das zwischen Erfahrungen der Aufgehobenheit und Einheit mit dem Unbedingten und Erfahrungen der Verworfenheit und Getrenntheit vom Unbedingten, zwischen Affirmation und Widerspruch, changiert, diese Erfahrungen aber auch nicht eindeutig voneinander trennen kann. Damit bleibt der Oszillierungscharakter, die Diffusität und Unschärfe, die diesem Typ Zweideutigkeit anhaften, trotz der gegensätzlicher Elemente, die sie umfasst, erhalten, oder anders gesprochen: Zwar enthält die Zweideutigkeit mit ‚Ja‘ und ‚Nein‘ völlig konträre Elemente; als Ineinander generieren diese jedoch für das rezipierende Individuum ein ‚Dazwischen‘, eine Diffusität, die weder dem ‚Ja‘ noch dem ‚Nein‘ klar zugeordnet werden kann. Insgesamt – so wurde herausgearbeitet – scheinen die frühen Fassungen der Zweideutigkeit im Kontext der Auseinandersetzung mit der allgegenwärtigen Profanität einer stark am Diesseits orientierten, modernen Welthaltung zu stehen. Tillich charakterisiert die vorherrschende Geisteshaltung seiner Zeit dabei als von einem naturwissenschaftlich-technischen Weltverhältnis und einer rationalistischen Wissenschaftskultur geprägt, die der Religion und Theologie ihren Platz gleichermaßen streitig machen. Entsprechend dieser Frontstellung nutzt Tillich die Kategorie der Zweideutigkeit in ihren verschiedenen Typen, um diesen Platz der Religion und Theologie – sei es in Form einer Hintergrundstruktur der Wirklichkeit, einer spezifischen Erkenntnishaltung oder aber als Beschreibung der religiös-unsicheren Erfahrung des modernen Menschen – neu zu erkunden. Dabei wird der profane und instrumentelle Weltzugang – ebenso wie der religiöse Abweg der Dämonisierung – nicht verneint, sondern vielmehr in die Gesamtkonstruktion der Zweideutigkeit als eine Seite des Weltverhältnisses integriert, die auf der anderen Seite um ein überschreitendes ‚Mehr‘ ergänzt wird. Diese Strategie einer Erweiterung des Gegebenen durch ein ‚Mehr‘ oder ‚Darüber hinaus‘ lässt sich grundsätzlich als Haltung des ‚Gläubigen Realismus‘ interpretieren, die Tillich Mitte der 1920er Jahre favorisiert. Zusammenfassend lässt sich bezüglich der Funktion des Zweideutigkeitsbegriffs in der frühen Phase also festhalten: Die Zweideutigkeit dient zunächst der Bewältigung der Frage: Wie lässt sich in der profanen Welt der Moderne noch ein Ort für die Religion denken? Sie ist ein Vermittlungsbegriff, der die moderne, säkular ausgerichtete Welthaltung zumindest bis zu einem gewissen Grad anzuerkennen sucht; gleichwohl wohl aber an der Bedeutung
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Teil II – Kap. 6. Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie
von Religion (im Sinne eines immer vorhandenen, wenngleich nicht immer einsehbaren Bezugs zum Unbedingten) festhält. Während die geschilderten Typen alle in engem Zusammenhang mit den Rahmenbedingungen moderner Religiosität stehen, lassen sich im Nachgang der Dresdener Dogmatik bezüglich dieser Ausrichtung mehrere Verschiebungen feststellen: So findet zunächst eine Anwendung der Kategorie der Zweideutigkeit auf die materialen Kulturanalysen statt, wie exemplarisch am Beispiel der Technik erläutert (vgl. II.4.1). Hier ist eine Kombination der verschiedenen Typen von Zweideutigkeit in Verbindung mit der Kategorie des Dämonischen anzutreffen. Insbesondere in den sozialistischen Schriften kann sodann die allmähliche Abwendung von der Haltung des ‚Gläubigen Realismus‘ hin zu Fragen der Anthropologie beobachtet werden (vgl. II.4.2), die sich in Zusammenhang mit dem Religionsbegriff bereits in der Dresdener Dogmatik antreffen ließ. In den sozialistischen Schriften wird ‚Zweideutigkeit‘ in diesem Zuge allmählich dafür verwendet, die zwiegespaltene Situation menschlichen Seins zu beschreiben – um damit, so etwa in Die sozialistische Entscheidung aus dem Jahr 1933, realpolitische Verhältnisse auf eine anthropologische Begründung zurückzuführen und mittels dieser Rückführung neu verstehen und anders weiterdenken zu können. Damit ist eine weitere Verschiebung angesprochen: Von der Funktion der Zweideutigkeit als Vermittlung, die in der Dresdener Dogmatik dominierte, verschiebt sich der Begriff dahingehend, an bestehenden Verhältnissen Kritik zu üben und damit das theoretische Fundament für ihre Veränderung zu legen. Schließlich – und damit ist eine dritte Verschiebung thematisiert – wird die Zweideutigkeit in den dogmatischen Schriften der Exilszeit zu einem Charakteristikum des Lebensbegriffs und erfährt in diesem Zuge eine zunehmende Systematisierung (vgl. II.4.3). Viele der vorher behandelten Zweideutigkeiten werden nun in ein ‚System der Zweideutigkeit‘ eingeordnet – der Begriff selbst avanciert folglich zu einem integrativen Begriffsgefüge, als das er dann auch in die Systematische Theologie Einzug erhält. 6.1.2 Diskontinuität auf der diachronen Ebene. Die späte Fassung der Zweideutigkeit Der grundlegende Unterschied der späten Fassung von ‚Zweideutigkeit‘, wie sie sich in der Systematischen Theologie findet, gegenüber den frühen Formulierungen liegt in ihrer Loslösung von der Thematik des Religiösen und ihrer Ausweitung auf alle Lebensbereiche. ‚Zweideutigkeit‘ wird nun zu einem ontologischen Grundbegriff, der zunächst rein diesseitig operiert und in allen Bereichen des Lebens (Moral, Kultur, Religion) eine grundlegende Beschaffenheit auf den Begriff bringt. Dabei geht Tillich von einer ontologischen Grundstruktur des Lebens aus, die in Polaritäten organisiert ist (Individualisa-
6.1 Zweideutigkeiten statt Zweideutigkeit
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tion/Partizipation, Form/Dynamik, Schicksal/Freiheit). Diese Polaritäten aktualisieren sich im Leben ‚zweideutig‘ – als untrennbares Mischverhältnis zwischen Essenz- (die Pole bilden eine komplementäre, ausbalancierte Einheit) und Existenzstrukturen (die Pole treten in einem konflikthaften Verhältnis auf, das zu zerreißen droht), das sich in jeder individuellen wie sozialen Realität antreffen lässt. Analog zur komplex konstruierten Struktur des Lebens konzipiert Tillich die Zweideutigkeit nun als einen Begriff mit verschiedenen Abstraktionsgraden, die sich folgendermaßen unterscheiden lassen: Die Bestimmung als spezifisches Mischverhältnis von Essenz- und Existenzstrukturen, welches das Leben grundlegend ausmacht, kann als ontologisch-abstrakte Bestimmung von Zweideutigkeit verstanden werden, die auf der Ebene ontologischer Grundstrukturen operiert. Diese abstrakte Ebene konkretisiert sich in den drei Funktionen des Lebens als ontologisch-konkrete Zweideutigkeiten, die sich als drei Grundzweideutigkeiten (Selbst-Integration/Desintegration, Sich-Schaffen/Zerstörung, Selbst-Transzendierung/Profanisierung und Dämonisierung) den drei Lebensfunktionen zuordnen lassen. Schließlich resultiert aus diesen drei Grundzweideutigkeiten eine Vielzahl konkreter Zweideutigkeiten (der Technik, des moralischen Imperativs, des Heiligen etc.), die bestimmte widersprüchliche Zusammenhänge der Lebensrealität beschreiben. Wenngleich die hier geschilderte Systematik von der abstrakten hin zur konkreten (‚top-down‘) Bestimmung verläuft, scheint doch Tillichs Anliegen hinter dieser Systematisierung durch die umgekehrte Denkrichtung (‚bottom-up‘) bestimmt: Konkrete, widersprüchliche Konstellationen der individuellen wie sozialen Lebensrealität sollen mit der Zweideutigkeit auf den Begriff gebracht und damit anschaulich gemacht werden. Damit erhält der Zweideutigkeitsbegriff in Tillichs Werk neben den Funktionen der Vermittlung und der Kritik auch die Funktion, die Widersprüchlichkeiten im menschlichen Erleben denkerisch einzuholen und damit Komplexität begrifflich zu bündeln. Zwei Aspekte verbinden sich mit dieser Feststellung: erstens das Anliegen, mit der Benennung von ‚zweideutigen‘ Verhältnissen auf Disbalancen oder Fehlentwicklungen hinzuweisen, wie etwa im Zusammenhang mit der technischen Entwicklung oder der Einschätzung des Ost-West-Konflikts an konkreten Beispielen dargelegt wurde (vgl. II.5.3.3). Hier wird die Funktion der Zweideutigkeit als kulturkritische Analysekategorie weiter ausgebaut. Zweitens wird die Allgegenwärtigkeit von Zweideutigkeit und der damit verbundenen Erfahrungen von Unvollständigkeit und Unvollkommenheit (vgl. II.5.3.1) für Tillich zum Ausgangspunkt für die menschliche Frage nach dem Göttlichen, das momenthafte – positiv-produktive – Einheits- und Eindeutigkeitserfahrungen verspricht. Anders als in den frühen Fassungen der Zweideutigkeit stellt die Integration religiöser Erfahrungen in die moderne Weltdeutung also gerade nicht das ‚Problem‘ dar, um dessentwillen die Zweideutigkeit als Begriff ein-
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Teil II – Kap. 6. Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie
geführt wird. Vielmehr wird nun die Eindeutigkeit religiöser Offenbarungsmomente als Antwort auf die grundlegende Zweideutigkeit alles Lebens bestimmt. In gewisser Weise dreht sich damit die Reihenfolge gegenüber den frühen Zweideutigkeiten um: Kann die Zweideutigkeit in den 1920er Jahren noch als Antwortversuch auf die problematische Lage der Religion innerhalb der modernen Lebensrealität verstanden werden, ist nun die Zweideutigkeit der (modernen) Lebensrealität das Problem, auf das nur die Offenbarung antworten kann. Die Frontstellung, auf die Tillich hier zu reagieren scheint, ist dementsprechend nicht mehr die der völligen Profanisierung; vielmehr wird die grundsätzliche Uneindeutigkeit der (modernen) Lebenswelt selbst zum Problem bzw. zur Frage. Die Religion erhält im Zuge dessen selbst einen zweideutigen Status: Als der Ort, an dem die göttliche Offenbarung empfangen wird und somit produktiv-positive Eindeutigkeitserfahrungen stattfinden, beansprucht sie, die Antwort auf die Zweideutigkeit des Lebens zu sein. Zugleich ist sie als lebensweltliche Realität unter den Bedingungen der Existenz selbst in die Zweideutigkeit des Lebens verstrickt und schwankt zwischen Momenten der Transzendierung (= ungefährliche Eindeutigkeit) und der Profanisierung/Dämonisierung (= gefährliche Vereindeutigungen) hin und her. Sie stellt also eine besonders eigentümliche Verflechtung zwischen der unauflöslichen Verstrickung in die Zweideutigkeit des Lebens und der Hoffnung auf die Überwindung zweideutiger Strukturen durch Erfahrungen von Eindeutigkeit und Einheit dar. Diese positiv-produktiven Momente der Überwindung der zweideutigen Struktur sind selbst jedoch nur in der göttlichen Offenbarung gegeben und bleiben damit letztlich momenthaft, unverfügbar und Bestandteil der eschatologischen Verheißung (vgl. II.5.4).
6.2 Binarität, Wertdimension, Überschreitungsmoment. Kontinuitäten eines Begriffs 6.2 Binarität, Wertdimension, Überschreitungsmoment. Kontinuitäten
Während im letzten Punkt die zentralen Verschiebungen im Zusammenhang mit dem Zweideutigkeitsbegriff dargestellt wurden, lassen sich bei den verschiedenen Verwendungen von ‚Zweideutigkeit‘ über die Werkgeschichte hinweg durchaus auch Kontinuitätselemente herausdestillieren. Als bleibende ‚Säulen‘ von Tillichs Zweideutigkeitsbegriff fallen dabei insbesondere drei solcher Kontinuitäten ins Auge: die binäre Aufbaulogik, die in den meisten Fällen vorliegende Wertdimension und ein in der Zweideutigkeit selbst angelegtes Überschreitungsmoment hin zu verschiedenen Formen von Eindeutigkeit bzw. Vereindeutigung. Über alle Umbrüche und Veränderungen hinweg hält Tillich, erstens, an der Binarität und damit an der Begrenztheit seines Ambiguitätsbegriffs fest: Stets
6.2 Binarität, Wertdimension, Überschreitungsmoment. Kontinuitäten
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sind es zwei Elemente (profan/heilig, göttlich/dämonisch, Integration/Desintegration usw.), welche die Ambiguität konstituieren. Dementsprechend grenzt Tillich sein Verständnis von Zweideutigkeit auch immer wieder von der Vieldeutigkeit im Sinne der Pluralität subjektiver Interpretationen eines Begriffs, eines Gegenstands oder eines Phänomens ab (vgl. II.3.3.2 und 3). Die Vieldeutigkeit existiert zwar nach Tillich aufgrund der Unerschöpflichkeit der Welt sowie der Multiperspektivität von Individuen durchaus; sie ist jedoch für ihn von nachgeordnetem Interesse. Demgegenüber betont er die Zweideutigkeit als die ‚innere Beschaffenheit‘ einer Sache, die zwar durch die Interaktion zwischen wahrnehmendem Subjekt und Welt je erst aktualisiert wird, jedoch auch unabhängig vom jeweiligen Subjekt und seiner Wirklichkeitsdeutung vorliegt. Damit zielt Tillichs Ambiguitätsbegriff – im Gegensatz zu vielen aktuellen Verwendungen von Ambiguität – darauf ab, eine bestimmte Qualität der Lebensrealität zu erschließen, an die sich die Vielheit der Interpretationen überhaupt erst sekundär anschließt. Zweitens geht Tillichs Begriff von Ambiguität in der Regel mit einer Wertdimension einher. Dies gilt sowohl für die einzelnen Elemente oder Pole der Zweideutigkeit, die meist mit einer dichotomen Wertung versehen sind (‚göttlich‘ als positives Element, ‚dämonisch‘ als negatives Element), wie auch für die Zweideutigkeit als Ganze. Bezüglich letzterer schwankt die mitgeführte Wertdimension zwischen negativen und selbst ambigen Einschätzungen. Weitgehend neutrale Konstatierungen der Zweideutigkeit finden sich dagegen nur in Zusammenhang mit der Zweideutigkeit als profan-religiöse Wirklichkeitsstruktur oder der Zweideutigkeit als Beschreibung eines erkenntnistheoretischen Vollzugs (vgl. II.3.3.1 und 2). Eine äußerst negative Gesamtwertung hingegen findet sich in Verbindung mit der Kategorie des Dämonischen (vgl. II.3.3.1) sowie – etwas ausgewogener, aber dennoch im Modus des Defizitären – bei der Zweideutigkeit als Explikation der Sünde (vgl. II.3.3.3). Als ambig erweist sich etwa die Zweideutigkeit in ihrer späten Fassung, die sowohl Positivstrukturen wie auch Negativstrukturen umfasst. Hier kann von einer Ambiguität der Ambiguität gesprochen werden. Insgesamt haftet der Zweideutigkeit in Tillichs Werk jedoch immer ein Moment der Vorläufigkeit und der Unerfülltheit an, was etwa durch ihre Charakterisierung als Frage zum Ausdruck gebracht wird (vgl. II.5.3.1). Die Zweideutigkeit als Ganze steht hier als Ausdruck dafür, dass menschliche Erfahrung stets nur als Ineinander heiler und konflikthafter, vollkommener und zerspaltener Verhältnisse zu finden ist, und damit die Frage nach der Überwindung dieses Zustands stets mit sich führt. Dementsprechend ist, drittens, auch der Bezug auf ihre eigene Überschreitung stets in Tillichs Zweideutigkeit mitangelegt. Schon in den frühen Fassungen der Zweideutigkeit begegnet dieses Überschreitungsmoment auf zweifache Art und Weise: Auf der einen Seite denkt Tillich Eindeutigkeit als eine produktiv-positiv konnotierte Erfahrung der Klarheit und momenthaften Einsicht in die religiöse Tiefenstruktur der Wirklichkeit bzw. als momenthafte
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Teil II – Kap. 6. Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie
Überwindung der religiös-unsicheren Erfahrung des Hin- und Herschwankens in Form von Aufgehobenheit und Einheit mit dem Unbedingten (vgl. II.3.3.1, 3.3.4 und 3.3.5). Auf der anderen Seite konzipiert er mit der profanen Verhüllung der Wirklichkeit und ihrer dämonischen Absolutsetzung zwei Formen künstlicher Vereindeutigung, die als falsche, wenn nicht gar gefährliche Formen von Eindeutigkeit im Bereich des Religiösen gelten können. Damit legt Tillich eine differenzierte Darstellung verschiedener Formen von Eindeutigkeit vor, die der heute häufige anzutreffenden Tendenz der Reduktion von Eindeutigkeitserfahrungen überhaupt auf negative und gefährliche Formen von Eindeutigkeit gewinnbringend entgegensteuert (vgl. III.3). In der späten Fassung der Zweideutigkeit bildet die ‚transzendente Einheit unzweideutigen Lebens‘ die – momenthaft erfahrbare, positiv konnotierte – Aufhebung, auf welche die Zweideutigkeit als Frage hindrängt. Anders als in den frühen Visionen der geistes- und gesellschaftlichen Einheitskultur (vgl. II.2.3) ist diese Einheit in ihrer vollkommenen Realisierung nun als eschatologische Hoffnung und nicht mehr als zu realisierende Gesellschaftsstruktur konzipiert. Die frühe Einheitsvision wirkt hier also als eine eschatologische Perspektive fort. In der – im Diesseits nur momenthaft und fragmentarisch erfahrbaren – Verwirklichung der Essentialstruktur, in der die Polaritäten ‚unzweideutig‘ als komplementäre Einheit vorliegen, ist die Aufhebung der Zweideutigkeit jedoch gerade nicht als Aufhebung der Polaritäten zu verstehen, sondern als konfliktfreie Integration derselben. Auch in der späten Fassung der Zweideutigkeit wird an der differenzierten Unterscheidung von ungefährlichen, produktiven Eindeutigkeitsmomenten, die für die Orientierungsfähigkeit des Menschen in der zweideutigen Wirklichkeit unabdingbar sind, und gefährlichen Modi künstlicher Vereindeutigung festgehalten. Für den Bereich der Religion werden in diesem Zuge die ‚Abwege‘ von Profanisierung und Dämonisierung als jeweils ein Teil der (doppelten) Zweideutigkeit der Religion thematisiert (vgl. II.5.4). Insgesamt erweist das komplex konstruierte Wechselspiel von struktureller Zweideutigkeit, gefährlicher Vereindeutigung und produktiver Eindeutigkeit die Zweideutigkeit in Tillichs Werk als eingebunden in ein größeres Schema. Innerhalb dieser Konstruktion kommt ihr die Funktion zu, die Widersprüchlichkeit der Erfahrungswirklichkeit abzubilden und zugleich auf eine andere Wirklichkeit – inklusive der Möglichkeiten des Misslingens dieses Weges – hinzudrängen.
6.3 Von der ‚Theologie der Kultur‘ zum kulturkritischen Theologen
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6.3 Von der ‚Theologie der Kultur‘ zum kulturkritischen Theologen. Werkgeschichtliches Fazit 6.3 Von der ‚Theologie der Kultur‘ zum kulturkritischen Theologen
Die vorliegende Arbeit verband die begriffliche Erkundung von ‚Zweideutigkeit‘ mit dem exemplarisch erfolgenden Rückgriff auf realgeschichtliche Problemhorizonte (vgl. II.1.2). Auf diese Weise konnten die begrifflichen Verschiebungen immer wieder kontextualisiert und historisiert werden. Die Werkgeschichte als Ganze lässt sich somit als eine Bewegung im Austausch mit der jeweiligen Gegenwart verstehen – hier durchgeführt am Zweideutigkeitsbegriff. Entsprechend dieses Zugangs wurde etwa die Einführung des Zweideutigkeitsbegriffs als Reaktion auf eine Desillusionierungserfahrung Mitte der 1920er Jahre interpretiert, die sich mit dem Einbruch der euphorischen Einheitsvisionen von 1919 verbindet: Analog zum Übergang von der Kunstrichtung des Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit sieht Tillich seine Aufbruchsphantasien der frühen Nachkriegszeit als gescheitert an und wendet sich Mitte der 1920er Jahre der Haltung eines ‚Gläubigen Realismus‘ zu (vgl. II.3.1 und 2). Dieser Realismus ist verbunden mit einer partiellen Zurücknahme der frühen politisch-religiösen Einheitsvision, unter anderem durch die Unterscheidung von realistischem Vordergrund und gläubigem Hintergrund, auf deren Grundlage die ersten Bestimmungen der Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik erfolgen. Der Problemhorizont, auf den Tillichs Zweideutigkeit reagiert, kristallisiert sich also zu diesem Zeitpunkt in der Frage, wie die Religion innerhalb einer Welt, in der sich die politisch-religiösen Einheitsphantasien der frühen Nachkriegszeit als gescheitert erwiesen haben, überhaupt noch vorkommen kann. Schon mit dem Ende der 1920er Jahre verschiebt sich die Problemkonstellation jedoch hin zu anderen Fragestellungen: Wie lassen sich die zwei gegenwärtig stärksten politischen Strömungen – Konservativismus/Nationalsozialismus und Liberalismus/Sozialismus – anthropologisch verstehen? Welche Grundtendenzen lassen sich im Menschen feststellen, die ihn politisch auf der einen oder anderen Seite des Spektrums verorten? Und was lässt sich daran ändern? Tillichs ‚Zweideutigkeit des menschlichen Ursprungs‘, die er in seiner Schrift Die sozialistische Entscheidung von 1933 entwirft, führt die politischen Bewegungen seiner Zeit auf zwei Grundbedürfnisse des Menschen zurück: das nach Herkunft einerseits und das nach Aufbruch andererseits. In einer komplexen Versöhnungsfigur beider Elemente bestimmt er das Element der Entwicklung als Erfüllung des Herkunftsgedankens und versucht damit, den realexistierenden Sozialismus zu einer Allianz mit den linken Gruppierungen der Nationalsozialisten zu bewegen. Damit erweist sich die Zweideutigkeit des Ursprungs als Tillichs (sicherlich fragwürdige) Antwort auf die drängende poli-
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Teil II – Kap. 6. Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie
tische Situation Anfang der 1930er Jahre (vgl. II.4.2). Beide Beispiele verdeutlichen die Wandlung eines Begriffs in Auseinandersetzung mit realen sozialgeschichtlichen und politischen Fragestellungen und stehen damit paradigmatisch für ein Verständnis von Theologie als offenes, sich im Vollzug befindendes Reflexionsgeschehen. Mit diesem grundsätzlichen Verständnis von theologischer Gedankenentwicklung als einem historisch-reflexiven Geschehen lässt sich auf der Ebene der Werkgeschichte als Ganze eine in sich gegenläufige Bewegung verfolgen: Während sich die Theologie Tillichs von ihrer kulturtheologischen Phase über die Ontologisierung und Anthropologisierung ab Mitte der 1920er Jahre bis ins dogmatische Spätwerk hinein durchaus als Bewegung von fächerübergreifender Innovation hin zu einer theologisch-dogmatischen Konzentration verstehen lässt, erweist sich die Zweideutigkeit gerade in ihrer späten Fassung als besonders innovativ: Sie entwickelt sich von einer religionstheoretischen Denkfigur für die Verhältnisbestimmung von profaner Welt und Religion hin zu einem lebensphilosophischen wie kulturanalytischen Reflexionsbegriff, für den das ‚Dahinter‘ der Religion zunächst keine Rolle spielt. Damit lässt sich die Bewegung von kulturtheologischer Innovation hin zu dogmatischer Konzentration durchaus hinterfragen, ließe sich doch postulieren, dass sich Tillich erst mit seinem Spätwerk zu einem genuinen ‚Theologen der Kultur‘ entwickelt; nämlich einem, der die Kultur (ebenso wie die Moral, das Recht, etc.) in ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Religion gegenüber ernst nimmt und in ihnen ebenso wie in der Religion die Frage entdeckt, die zum ganz Anderen führt. Mit anderen Worten: Gerade die späte Theologie Tillichs lässt sich als ‚Kulturtheologie‘ verstehen, insofern sie nicht in oder hinter der Kultur das Religiöse sucht, sondern in der Kultur die Frage und die Sehnsucht nach dem Religiösen aufscheinen sieht. Mit einem so verstandenen Begriff von Kulturtheologie erweist sich der späte Tillich jedenfalls für aktuelle interdisziplinäre Debatten deutlich anschlussfähiger als der frühe. Diesem Punkt wird im Schlussteil dieser Arbeit (vgl. III.2 und 3) noch ausführlicher nachgegangen.
6.4 Tillich als ‚Theologe der Moderne‘. Eine kritische Relektüre 6.4 Tillich als ‚Theologe der Moderne‘
Tillich gilt der theologischen Tradition als ein wichtiger, wenn nicht der protestantische ‚Theologe der Moderne‘. Diese Verbindung von Tillich als theologischem Denker mit der Moderne als Epoche bezieht sich dabei – so die Vermutung – auf verschiedene Aspekte: erstens die rein zeitliche Verortung seines produktiven Schaffens, das sich auf die ersten beiden Drittel des 20. Jahrhunderts erstreckt und damit in die Zeit der Hochmoderne fällt; zweitens, mehr
6.4 Tillich als ‚Theologe der Moderne‘
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qualitativ als quantitativ, Tillichs grundlegende Moderneaffinität, die in seiner positiv-offenen Haltung gegenüber moderner Kunst, technischer Innovation, alternativen Lebensformen und seiner Akzeptanz für die religiös-unsichere Haltung des modernen Menschen zum Ausdruck kommt; drittens die Tatsache, dass Tillich durch seine Moderneaffinität, seine urbane Intellektualität wie auch die Begabung zur Schöpfung alternativer, existentiell gefärbter Begrifflichkeiten für traditionelle Topoi der Dogmatik gerade auch religiöse Skeptikerinnen und Skeptikern von heute anzusprechen vermag und damit eine Vereinbarkeit von Theologie und moderner Lebenswelt verspricht. Die erfolgten werkgeschichtlichen Analysen machen jedoch auch deutlich, dass Tillichs Verknüpfung mit der Moderne in verschiedener Hinsicht Anfragen nach sich zieht. Drei kritische Aspekte seien in diesem Zusammenhang benannt: erstens die Einheitsvision von Kultur und Religion, wie sie insbesondere in den kulturtheologischen Schriften der 1920er Jahre vorliegt; zweitens die Vorläufigkeit und das Defizitmoment der Zweideutigkeit; drittens der Systemgedanke. Tillich beansprucht (insbesondere in den 1920er Jahren, aber in modifizierter, transzendenter Form auch im Spätwerk) für das Verhältnis von Kultur und Religion eine substanzielle Einheit auf Grundlage seines sinntheoretischen Religionsbegriffs. Die Religion fungiert dabei als das einende Band aller Kulturerscheinungen. Bedenkenswert daran ist zweierlei: Zum einen funktioniert diese Einheitsfigur nur unter Verwendung eines Religionsbegriffs, der rein ‚innerlich‘ gedacht wird (also gerade nicht Religion als Institutionen, Praktiken etc. in den Blick nimmt) und gleichzeitig eine grundsätzliche Universalisierung für sich in Anspruch nimmt, also allen Kulturerscheinungen eine religiöse Dimension unterstellt. Diese Zusammenstellung von ‚Innerlichkeit‘ und ‚Universalisierung‘ ist typisch für eine eurozentrische Perspektive auf Religion, die sich im 19. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften und dem Historismus herausbildet und durch die koloniale Expansion Europas in einen globalen Kontext eingespeist wird. Tillich schreibt damit eine typisch europäische (Intellektuellen-)Perspektive auf Religion fort, die kaum verallgemeinerungsfähig ist. Hier gehört also – zumindest aus heutiger Sicht und mit Blick auf die Frage nach Impulsen von Tillichs Theologie für die Gegenwart – die eurozentrische Perspektive seines Religionsbegriffs klar benannt. Zum anderen lässt sich die damit verbundene Vereinnahmungstendenz gegenüber den kulturellen Formen durchaus kritisch sehen. Mit dem Versuch einer Rettung des Universalisierungsgedankens ist eben zugleich die Konsequenz verbunden, die eigene religiöse Deutung auch auf solche Bereiche auszudehnen, die sich selbst explizit als areligiös verstehen (im Falle Tillichs etwa bestimmte Kunstrichtungen). An diesem Punkt stellt sich also die Frage, inwiefern durch eine solche Bewegung nicht gerade eine Errungenschaft der Mo-
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Teil II – Kap. 6. Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie
derne – nämlich die Ausdifferenzierung und Unabhängigkeit verschiedener gesellschaftlicher Bereiche – partiell unterlaufen beziehungsweise zurückgenommen wird. Im Spätwerk Tillichs findet sich diese Tendenz allerdings schon deutlich eingeschränkt. Die Einheitsvorstellung wird hier einerseits im Sinne einer Totalität alles Seienden in den Lebensbegriff verlegt, andererseits in den Modus der ‚übergeschichtlichen Erinnerung‘ beziehungsweise ‚antizipatorischen Vorwegnahme‘ verschoben. Der Einheitsgedanke erfährt damit gleichermaßen eine diesseitige Konkretisierung wie eine jenseitige Eschatologisierung (vgl. II.5.3.1 und 5.4). Die zweite Anfrage betrifft den Status der Zweideutigkeit, dem stets ein Moment des Defizitären und des Mangels anhaftet. Grundsätzlich stellen die Zweideutigkeit und die mit ihr thematisierten Konflikte, Brüche und Fissuren der Welt bei Tillich ein Stadium dar, das erlösungsbedürftig ist und auf seine eigene Überschreitung hin drängt. Das Unbehagen, das hier mit der Kategorie des Ambigen einhergeht, erinnert manches Mal an Zygmunt Baumans Analysen zur Ambivalenztilgung der Moderne, die ihrer eigenen Aversion gegenüber Ambivalenzen mit immer differenzierteren Katalogisierungen zu begegnen versucht – und gerade dadurch immer neue Ambivalenzen hervorbringt (vgl. I.2). Auch Tillichs fortschreitende Systematisierungen der Zweideutigkeit geben zu der Vermutung Anlass, dass hier womöglich der Versuch unternommen wird, die Widersprüchlichkeit der erfahrenen Lebenswirklichkeit durch begriffliche Erfassung doch irgendwie zu bändigen und damit handhabbar zu machen. Gleichwohl belässt es Tillich auf der anderen Seite eben nicht – wie Bauman – bei der negativen Alternative der Vereindeutigung. Vielmehr konstruiert er das Verhältnis von Ambiguität und Eindeutigkeit als ein komplexes und alternierendes Wechselspiel, das sowohl neutrale wie tragische Ambiguitäten, als auch produktive und gefährliche Eindeutigkeit bzw. Vereindeutigungen integriert und sich gerade in der Verbindung von Ambiguitätstoleranz und Momenten der Eindeutigkeit als äußerst gewinnbringend für aktuelle Debatten erweist (vgl. II.5.4 und III.3). Die dritte Anfrage thematisiert Tillichs Hang zum Denktypus des Systems. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass sich Tillich seit frühesten Studententagen zum Systemgedanken hingezogen fühlt, und es – trotz seiner Affinität zu immer neuen Themengebieten und seinem umfassenden transdisziplinären Interesse – nicht etwa bei Gelegenheitsschriften oder Fragmenten belässt. Als formaler Ausdruck des Einheitsgedankens bietet das System Tillich eine theoretische Form für sein Denken, das eben keine phänomenologischen Beschreibungen vornimmt, sondern in abstrakter Begrifflichkeit eine bereits abgeschliffene Version von Erfahrungen in sich kondensiert. Durch diesen Vorgang der Kondensierung wirkt Tillichs Theorie manchmal statisch, ordnend und auf eine gewisse Weise auch wirklichkeitsfern. Was die Würdigung der Zweideutigkeit betrifft, so lässt sich an diesem Punkt anfragen, ob ihre Integration im System nicht gerade die systemüberschreitenden oder systemsprengenden Aspekte von
6.5 Zweideutigkeit als adaptive Schlüsselkategorie
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Ambiguitäten bisweilen unterbelichtet lässt – und ob nicht gerade darin, ein System der Zweideutigkeit, aber auch ein System als Ganzes, bauen und erhalten zu wollen, wieder eine sehr ‚moderne‘ Bewältigung von Ambiguität vorliegt.
6.5 Zweideutigkeit als adaptive Schlüsselkategorie. Herausforderungen und Chancen 6.5 Zweideutigkeit als adaptive Schlüsselkategorie
Adaptivität und Schlüsselkategorie – in diesen beiden Aspekten lässt sich Tillichs Ambiguitätsbegriff in Form der Zweideutigkeit abschließend bündeln. Adaptivität bezieht sich dabei auf die flexiblen, dynamischen Elemente des Begriffs, der sich über die verschiedenen Stadien seiner Entwicklung an ganz unterschiedliche theoretische Konstellationen anpasst und sich stetig erweitert hin zu einer Schlüsselkategorie, durch die sich bestimmte, widersprüchliche Lebenserfahrungen auf den Begriff bringen lassen. Eine Schlüsselkategorie ist der Zweideutigkeitsbegriff aber auch bezogen auf das Werk von Tillich selbst, das sich als untrennbare Mischung von Diskontinuitäten und Kontinuitäten entfaltet, stets auf eine Systematisierung und Einheit der vielfältigen Gedanken und Aspekte abzielt und diese doch immer wieder in der Begegnung mit Neuem durchbricht. Als eine solche Schlüsselkategorie stellt der Zweideutigkeitsbegriff in der hier vorgelegten werkgeschichtlichen Perspektive sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance dar: Er ist eine Herausforderung insofern, als er sich schlussendlich eben nicht auf einen Begriff hin fixieren lässt, sondern sich als fortlaufende Überblendung synchroner und diachroner Verschiebungen manifestiert. Somit lässt sich kaum ein Begriff von Zweideutigkeit bei Paul Tillich in den interdisziplinären Diskurs einspeisen. Vielmehr muss ausgelotet werden, welche Aspekte von Tillichs Ambiguitätsbegriff(en) sich für aktuelle Diskurse als gewinnbringend und weiterführend im Sinne einer Chance erweisen. Einen ersten Ansatzpunkt bieten dafür die Kontinuitätslinien des Begriffs – die binäre Aufbaulogik als begrenzte Ambiguität, die mitgeführte Wertdimension sowie das differenzierte Wechselspiel zwischen Ambiguität und den verschiedenen Formen ihrer Überschreitung. Zugleich stellt Tillichs Begriff zumindest für die Anschlussfähigkeit an heutige Debatten auch eine Herausforderung insofern dar, als er manch kritisches Element mit sich führt, etwa den Bezug zu Einheitsfiguren oder ein bleibendes Moment des Unbehagens in Zusammenhang mit Ambiguität überhaupt. Gleichwohl lässt die grundsätzliche Adaptivität auch an diesen Punkten hoffen, dass der Begriff sich für weitere Entwicklungen als anschlussfähig erweist, die womöglich manche der ausgeführten Kritikpunkte obsolet machen. Zu denken wäre hier etwa an die Erprobung des Begriffs in heutigen technikethischen Debatten, die Hinterfragung bestimmter
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Teil II – Kap. 6. Ambiguität als adaptive Schlüsselkategorie
mitgeführter Motive aus postkolonialer Perspektive oder auch die weitere Entwicklung des kulturkritischen Ansatzes im Austausch mit heutigen Perspektiven. Eine erste Annäherung an solche Konstellationen der gegenseitigen Kritik und Bereicherung wird im Folgenden im Rückgriff auf die im ersten Teil der Arbeit dargelegten Diskurse versucht.
Teil III
Ambiguität theologisch. Paul Tillichs Beitrag zum interdisziplinären Ambiguitätsdiskurs
Kapitel 1
Ambiguität als Zweideutigkeit. Begriffliche Verortung Teil III – Kap. 1. Ambiguität als Zweideutigkeit Ambiguität als Zweideutigkeit
Der Einblick in die Begriffsgeschichte von Ambiguität und verwandter Begriffe wie ‚Amphibolie‘, ‚Ambivalenz‘, ‚Zwei-‘ und ‚Vieldeutigkeit‘ hatte im ersten Teil dieser Arbeit den Befund zutage gefördert, dass die Grenzen der einzelnen Begrifflichkeiten sehr diffus ausfallen: Ein Begriff, etwa ‚Ambiguität‘, wird in unterschiedlichen Kontexten oder Diskursen ebenso disparat bestimmt, wie der Wechsel zwischen vermeintlich synonymen Begriffen, beispielsweise ‚Ambiguität‘ und ‚Mehrdeutigkeit‘, oft unausgesprochen vollzogen wird (vgl. I.1). Mit diesem Befund war ein zweifaches Anliegen der vorliegenden Arbeit verbunden: erstens, ein Raster von Koordinaten zu entwickeln, anhand derer bestimmte Unterscheidungen zwischen verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs festgestellt und fixiert werden können; zweitens, gerade nicht mit einer festgelegten Begriffsbestimmung von Ambiguität an die werkgeschichtliche Rekonstruktion von Tillichs Ambiguitätsbegriff heranzutreten, sondern vielmehr mit dem immer wieder erfolgenden Rückgriff auf das Koordinatenraster Tillichs Begriff erst zu erarbeiten und gerade auch in seinen Veränderungen und Wandlungsprozessen erfassen zu können. In die eingangs erstellte Koordinatenmatrix (vgl. I.1) lässt sich Tillichs Begriff – soweit dies mit Blick auf seine Diskontinuitäten möglich ist – nun folgendermaßen einordnen: Bezeichnung. Tillich verwendet in seinem Werk durchgehend den Terminus ‚Zweideutigkeit‘. Auch in der amerikanischen Zeit, die mit dem Wechsel zum englischen ‚ambiguity‘ einhergeht, bleibt der strenge Bezug auf die Binarität der Elemente erhalten, was sich nicht zuletzt in der deutschen Rückübersetzung von ‚ambiguity‘ zu ‚Zweideutigkeit‘ ausdrückt. Tillichs ‚Zweideutigkeit‘/‚ambiguity‘ stellt in diesem Sinne also eine begrenzte Ambiguität dar. Mit dem strengen Bezug auf eine Binarität ist bei Tillich eine grundsätzliche Abgrenzung vom Begriff der Vieldeutigkeit verbunden. Während ‚Vieldeutigkeit‘ die Deutung eines Gegenstands oder Phänomens durch eine Vielzahl von Subjekten bezeichnet – und damit in der Nähe bestimmter aktueller Ambiguitätskonzeptionen einzuordnen ist –, benennt ‚Zweideutigkeit‘ bei Tillich stets die Beschaffenheit einer Sache, die zunächst unabhängig von der Perspektive des Betrachters in den Phänomenen oder der Struktur von Wirklichkeit selbst liegt.
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Teil III – Kap. 1. Ambiguität als Zweideutigkeit
Als ein ontologisch-anthropologischer Grundbegriff für die Situation des Menschen weist Tillichs spätere Fassung von Zweideutigkeit gewisse Ähnlichkeiten mit dem Ambiguitätsbegriff der französischen Existentialististinnen und Existentialisten auf, etwa mit Simone de Beauvoirs Verortung des Menschen zwischen Determination und Freiheit (vgl. I.1). In diesem Zusammenhang legt sich auch ein Verständnis von Tillichs ‚Zweideutigkeit‘ als einer Zweipoligkeit nahe. Allerdings ist Tillichs Begriff gegenüber de Beauvoirs dahingehend anders komplex konstruiert, als mit der Polarität von Schicksal und Freiheit bei Tillich eben noch nicht die Zweideutigkeit des Lebens benannt ist: ‚Zweideutig‘ wird diese Polarität erst dadurch, dass sie im Leben selbst stets als Mischung von komplementärer Einheit (Essenz) und konflikthafter Zerrissenheit der Pole (Existenz) auftritt. Tillichs später Begriff von Zweideutigkeit verbindet also eine ontologische Grundstruktur, die polar organisiert und werfrei ist, mit den Kategorien des Gelingens und Misslingens dieser Struktur, die eine klare Bewertung mit sich führen und auch kritisiert werden können. Die hier geschilderte Mehrstufigkeit des Begriffs lässt sich als Versuch verstehen, die Komplexität und Widersprüchlichkeit menschlicher Erfahrungen theoretisch einzuholen und ihrer Herkunft nach zu erklären. Entstehung und Lokalisation. Tillich verortet die Zweideutigkeit unterschiedlich. Insgesamt dominiert die Lokalisation in der Welt der Phänomene als eine bestimmte Struktur beziehungsweise Qualität der Wirklichkeit. Die Zweideutigkeit hat damit ontologischen Status; sie stellt eine Beschaffenheit des sich realisierenden Seins dar, die zwar dynamisch und graduierbar ist, jedoch nicht grundsätzlich beseitigt werden kann. Neben dieser ontologischen Verortung der Zweideutigkeit, die hier anhand der späten Fassung expliziert wird, finden sich jedoch auch Belege, die die Wahrnehmung durch das Subjekt betonen. Dies geschieht auf verschiedene Weise: In seiner Definition von Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik merkt Tillich an, die Zweiseitigkeit einer Sache brauche das wahrnehmende Subjekt, um zu einer Zweideutigkeit zu werden, und betont damit die Interaktion von subjektiver Wahrnehmung und Gegenstand im Falle der Zweideutigkeit (vgl. II.3.3.3). An anderer Stelle taucht die Zweideutigkeit als Qualität des Erkenntnisvollzugs auf und wird damit in dem Interaktionsprozess der Wahrnehmung selbst verortet (vgl. II.3.3.2). Wieder an anderer Stelle steht die Wahrnehmung des Subjekts insofern im Vordergrund, als dieses Subjekt das Unbedingte ‚zweideutig‘ als Sinngrund und Sinnabgrund oder sich selbst als ‚zweideutig‘ verbunden und getrennt vom Unbedingten erfährt (vgl. II.2.4.2 und 3.3.4). Hier manifestiert sich die Zweideutigkeit in der Reaktion des Subjekts als ambivalentes Verhältnis gegenüber dem Unbedingten. In der späten Fassung der Zweideutigkeit verschiebt sich der Fokus nochmals dahingehend, dass die Zweideutigkeit dem Rezipienten als eine ‚untrennbare Mischung‘ erscheint,
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also in ihren einzelnen Elementen gar nicht klar geschieden werden kann, sondern als Uneindeutigkeit wahrgenommen wird (vgl. II.5.3.2). Aufbaulogik. Durch den strikten Bezug auf eine Binarität der Elemente bleibt die Ambiguität in Tillichs Fall immer eine begrenzte. Die Elemente der Zweideutigkeit befinden sich dabei in der Regel in einem gewissen Konkurrenzverhältnis zueinander, oft verbunden mit einer dichotomen Wertung. So findet sich auf der einen Seite eine positive Größe (heilig, göttlich, schöpferisch), auf der anderen Seite deren negative Verkehrung (profan, dämonisch, zerstörerisch). Die Anordnung der Elemente erfolgt allerdings völlig unterschiedlich: So lassen sich bei den frühen Belegen von Zweideutigkeit fünf verschiedene Typen ausmachen, die jeweils eine andere innere Dynamik aufweisen. Diese reicht vom Aufbau als ‚Sowohl-als-Auch‘-Struktur in Form einer Vordergrund-Hintergrund-Figur über das ‚Entweder-Oder‘ der monodirektionalen Kippfigur, den ‚Je-Desto‘-Aufbau der Waage, bis hin zu einem weiteren ‚Sowohl-als-Auch‘ im Sinne eines Nebeneinanders der Elemente (vgl. II.3.4 sowie II.6.1). In der späten Form der Zweideutigkeit wird der Aufbau als ‚Sowohl-alsAuch‘-Struktur übernommen, allerdings in seiner Komplexität noch einmal dadurch gesteigert, dass sich in der Zweideutigkeit ein polares Verhältnis (etwa Leben/Tod, Gesundheit/Krankheit, Lust/Schmerz) mit der Lehre von Essenz und Existenz verbindet. ‚Zweideutig‘ bedeutet dann ein Mischverhältnis, in dem die Pole sowohl in einer komplementären Einheit zueinanderstehen als auch von Disbalancen, Konflikten und Vereindeutigungen in Richtung eines Pols geprägt sind. Das ‚Sowohl-als-Auch‘ enthält damit also verschiedene Verhältnisbestimmungen der Polaritäten in sich. Dabei werden gerade nicht die einzelnen Elemente der Pole mit einer Positiv- oder Negativwertung versehen, als wäre etwa das ‚Leben‘ positiv und der ‚Tod‘ negativ, sondern ihr Verhältnis zueinander wird mit einer Wertung versehen: Ein gelingendes, positives Verhältnis – theologisch gesprochen: das schöpferische Gutsein – liegt dann vor, wenn die Pole (Leben und Tod) in einer ausbalancierten Einheit zueinanderstehen (Essentialstruktur). Ein misslingendes Negativverhältnis – theologisch gesprochen: die Sünde – liegt demgegenüber vor, wenn die Pole in einem Konfliktverhältnis zueinanderstehen oder ein Pol über den anderen dominiert (Existenzstruktur). Das bedeutet, dass sich das Positiv- bzw. Negativelement der Zweideutigkeit hier auf ein bestimmtes Verhältnis der Polarstruktur in ihrem Vollzug bezieht; jedoch ist nie eines der beiden Elemente ohne das andere vorhanden. Nahezu immer findet sich Tillichs Begriff von Zweideutigkeit mit einem Gegenüber kontrastiert, das in den Begrifflichkeiten von ‚Eindeutigkeit‘, ‚Unzweideutigkeit‘ und ‚Einheit‘ zum Ausdruck kommt. Der Begriff der ‚Eindeutigkeit‘, später im Zuge der Rückübersetzung des englischen ‚unambiguous‘
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Teil III – Kap. 1. Ambiguität als Zweideutigkeit
hauptsächlich adjektivisch als ‚unzweideutig‘ oder als ‚das Unzweideutige‘ anzutreffen, bezieht sich in den frühen Belegen auf die – positiv konnotierte – Qualität von Offenbarung als ein vollständiges Transparentwerden der Wirklichkeit für das Göttliche (vgl. II.3.3.2). Später bezeichnet ‚unzweideutig‘ ebenso positiv konnotiert die Möglichkeit der eindeutigen Realisierung der Essentialstruktur unter den Bedingungen der Existenz und damit ein friedvolles Miteinander der Polaritäten (vgl. II.5.3.1 und 5.4). Auch die Vorstellung von ‚Einheit‘ wandelt sich grundlegend: Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem die Vision einer zu realisierenden Einheitskultur mit dem Begriff der Einheit verbunden ist, bezieht er sich in der Systematischen Theologie auf mehrere Aspekte: erstens, auf den Lebensbegriff, der die Einheit als Totalität alles Seienden versteht; zweitens, auf die Einheit der Geistesfunktionen Moralität, Kultur und Religion ihrer Essentialstruktur nach sowie als eschatologische Hoffnung und, drittens, auf die ausbalancierte Einheit der ontologischen Polaritäten, wie sie in Momenten der Unzweideutigkeit erfahrbar wird. Während in den frühen Schriften die Überwindung der Zweideutigkeit durch die eindeutige Offenbarung die kulturtheologische Einheit im Dasein gewissermaßen bestätigt, wird diese Vision später als Essentialstruktur begriffen und eschatologisiert. Außerdem wird der Begriff der Einheit nun auch auf die Polaritäten bezogen, bezeichnet also auch die (zweideutige oder unzweideutige) Einheit von Leben und Tod. In beiden Fällen jedoch bleibt ‚Zweideutigkeit‘ durch die jeweiligen Kontrastierungen stets auf die Frage nach ihrer eigenen Überschreitung bezogen, wenngleich sich diese innerweltlich nur momenthaft realisieren lässt. Art. Tillichs Begriff lässt sich in der Regel als Bedeutungszweideutigkeit verstehen, die jedoch durchaus mit einer starken Wertdimension verbunden wird. Im Verlauf der Werkgeschichte entwickelt sich diese Bedeutungszweideutigkeit mehr und mehr hin zu einer Zweipoligkeit, die jedoch nicht mit den Polaritäten des Seins verwechselt werden darf, sondern das Leben als ‚Ineinander‘ von Gelingen und Misslingen, beziehungsweise Integration und Desintegration, Schöpfung und Zerstörung usw. begreift. Die einzelnen Pole oder Elemente der Zweideutigkeit verweisen dabei jeweils auf das Verhältnis der zugrundeliegenden Polaritäten des Seins, die sich in einem gelingenden oder misslingenden Verhältnis zueinander realisieren. Bewertung. Wie bereits geschildert, sind die einzelnen Elemente der Zweideutigkeit bei Tillich in der Regel mit einer dichotomen Wertung versehen. Aber auch die Zweideutigkeit als Ganze geht mit einer Wertdimension einher, allerdings auf unterschiedliche Weise: Gerade bei der Unterscheidung der Typen von Zweideutigkeit in der Dresdener Dogmatik fiel auf, dass die Zweideutigkeit mal eher neutral festgestellt wird (Typ 1 und Typ 3), mal eher als gefährlich eingestuft wird (Typ 2) oder als Explikation der Sünde negativ bewertet
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wird (Typ 3). Später, etwa in der Systematischen Theologie in Verbindung mit dem Modus der Zweideutigkeit als Frage, dominiert die Betonung ihrer Grundsätzlichkeit mit Worten wie ‚fundamental‘, ‚tief‘ usw. gegenüber derjenigen der Wertung. Durch die Verbindung zu Essenz und Existenz wird die Zweideutigkeit weder negativ noch positiv gewertet, sondern selbst als ambig verstanden. Es liegt damit auf der Ebene der Wertdimension eine Ambiguität der Ambiguität vor. Eine genuin positive Würdigung der Zweideutigkeit findet sich bei Tillich nur indirekt über die Funktion, die die Zweideutigkeit einnimmt – nämlich Vermittlung, Kritik oder Bündelung von Komplexität zu sein. Umgangsweise. Die Zweideutigkeit als ontologische Struktur ist bei Tillich grundsätzlich unhintergehbar; jedoch kann sie in Eindeutigkeitserfahrungen, die unverfügbare Offenbarung sind, momenthaft aufgehoben werden. Dabei unterscheidet Tillich diese unverfügbaren und positiv-konnotierten Momente von Eindeutigkeit streng von künstlichen Versuchen der Vereindeutigung: Eine Manifestation von Sünde liegt etwa im Falle der späten Zweideutigkeit gerade darin, dass die Polaritäten des Lebens vereindeutigt werden, indem sie nicht als komplementäres Miteinander wirken, sondern konflikthaft zu zerreißen drohen. Die Eindeutigkeit des Offenbarungsdurchbruchs, beziehungsweise die ‚unzweideutige Einheit transzendenten Lebens‘ sind also gerade nicht mit gewaltsamen Vereindeutigungen zu verwechseln. Gleichwohl haftet der Zweideutigkeit durch die Kontrastierung mit den Erfahrungen der Eindeutigkeit beziehungsweise der unzweideutigen Einheit, stets eine gewisse Vorläufigkeit an. Zweideutigkeit steht nicht für sich, sondern verweist immer auf einen anderen Zustand jenseits ihrer selbst, mit dem sie in einem komplementären Wechselspiel steht. Gerade für die aktuell relevante Forderung nach Ambiguitätstoleranz, die oftmals mit negativ konnotierten Reduktionen von Eindeutigkeitserfahrungen einhergeht, stellt eine solche Komplementarität eine gewinnbringende Perspektive dar (vgl. III.3). Funktion. Über die Werkgeschichte hinweg nimmt die Zweideutigkeit vor allem drei Funktionen wahr: erstens, eine Funktion der Vermittlung, die sich insbesondere in den frühen Zweideutigkeiten äußert, etwa, wenn die religiös-profane Wirklichkeitsstruktur etabliert wird oder verschiedene Erkenntnisvollzüge aufeinander bezogen werden (vgl. II.3.3.1 und 2). Bereits in und besonders im Nachgang zur Dresdener Dogmatik übernimmt die Zweideutigkeit immer öfter auch die Funktion, bestimmte Zusammenhänge zwar zu affirmieren (etwa die technische Entwicklung), sie aber in ihren Auswüchsen zugleich zu kritisieren. Es ist diese Funktion der Kritik, die sich auch in die Systematische Theologie hinein fortbildet. Schließlich findet sich insbesondere dort auch eine dritte Funktion, nämlich in Zusammenhang mit dem Lebensbegriff die Bündelung von Komplexität. Hier fungiert die Zweideutigkeit in Form einer Schlüs-
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Teil III – Kap. 1. Ambiguität als Zweideutigkeit
selkategorie als Bezeichnung der Widersprüchlichkeit menschlicher Lebenserfahrung im individuellen wie sozialen Miteinander. Vermittlung, Kritik und Bündelung lebensweltlicher Komplexität sind dabei als Funktionen nicht getrennt, sondern vielmehr in gegenseitiger Ergänzung zueinander zu sehen. An die erfolgte Verortung anhand der Leitunterscheidungen lässt sich nun die Frage nach dem Beitrag von Tillichs Ambiguitätsbegriff für aktuelle Debatten anschließen. Dies soll für die zwei Themenkomplexe Moderne und Religion in Rückgriff auf die Diskurse und Fragestellungen des ersten Teils der Arbeit geschehen (vgl. I.2 und 3).
Kapitel 2
Zweipoligkeit statt Pluralität. Ambiguität als Signatur der Moderne Teil III – Kap. 2. Zweipoligkeit statt Pluralität Zweipoligkeit statt Pluralität
Um Paul Tillichs Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Moderne und Ambiguität zu eruieren, sei zunächst noch einmal auf die im ersten Teil der Arbeit in diesem Zusammenhang diskutierten Aspekte hingewiesen (vgl. I.2). Anhand von zwei differenten Positionen, nämlich der des polnisch-britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman auf der einen und der des deutschen Kultursoziologen Andreas Reckwitz auf der anderen Seite, wurden insbesondere zwei Themenstellungen diskutiert: erstens, die Frage, auf welche Weise beide Denker die Moderne selbst ihrem Charakter nach mit Hilfe der Kategorie des Ambigen deuten; zweitens, die Frage nach dem Umgang dieser Moderne mit Ambiguitäten oder Ambivalenzen. Mit Zygmunt Baumans Modernetheorie, insbesondere seinem Werk Moderne und Ambivalenz, liegt eine Modernedeutung vor, die den Charakter der Moderne über den Zusammenhang von Ordnungswahn und Ambivalenzfeindlichkeit bestimmt: Mit dem Ziel, einen ‚Aktenschrank der Welt‘ herzustellen, unternimmt die Moderne den Versuch, mithilfe von (sprachlichen) Praktiken des Ein- und Ausschließens die Lebenswirklichkeit zu ordnen, zu katalogisieren oder zu systematisieren, kurzum: die Welt in einem perfekten Katalog- und Verweissystem eindeutig zu bestimmen. Mit diesem Ordnungswahn einher geht eine tiefe Abneigung der Moderne gegen Ambivalenzen. Letztere versteht Bauman als jegliches Unterlaufen der sprachlich verfassten Ordnungspraktiken, die auf psychologischer Ebene ein Gefühl des Unbehagens hervorrufen. Stetig versucht die Moderne alle Ambivalenzen auszulöschen, bringt gerade dadurch aber ständig neue Ambivalenzen hervor, die auf der Widerständigkeit der Wirklichkeit gegenüber den (dichotomen) Kategorien der Sprache beruhen. Mit der hier erläuterten Rationalität von Ordnungswahn und Ambivalenzfeindlichkeit definiert Bauman die Moderne nicht nur als kategorisch unterschieden von der Vormoderne (und bisweilen auch Postmoderne) – und weist damit manche Ähnlichkeit zu Modernisierungstheorien der ersten Generation auf –, sondern er findet auch ein Interpretament für die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere der nationalsozialistische Völkermord wird ihm zum Paradebeispiel für die moderne Barbarei, die Ordnungswahn und Ambivalenzfeindlichkeit im schlimmsten Falle nach sich ziehen.
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Teil III – Kap. 2. Zweipoligkeit statt Pluralität
Der Umgang der Moderne mit Ambivalenzen als zweiter Aspekt ist bei Bauman ein ebenso negativer, wie unermüdlicher: Immer raffiniertere Systeme und Kategorisierungen entstehen, um Ambivalenzen auszulöschen, weil mit ihnen das Projekt der Moderne, Ordnung überhaupt erst zu schaffen, sich ständig als bedroht erfährt. Moderne und Ambivalenz, so die zusammenfassende Diagnose des ersten Teils dieser Arbeit, stehen bei Bauman also in einem Verhältnis der reziproken Negativabhängigkeit: Die Moderne wird über ihre Ambivalenzfeindlichkeit (negativ) bestimmt als das, was sie ist, nämlich ‚modern‘; umgekehrt wird die Kategorie der Ambivalenz durch den modernen Ordnungswahn überhaupt erst ‚erfunden‘. Eine Seite existiert also nicht ohne die andere, wenngleich das Verhältnis zwischen beiden negativ bestimmt ist. Gleichwohl gibt es in diesem Verhältnis einen entscheidenden Lichtblick: Als Moment der Widerständigkeit gegenüber Klassifikationen steht die Ambivalenz in Baumans Theorie paradigmatisch für die Ermöglichung von Spielräumen und Andersartigkeit – und damit für Freiheit. Kritikpunkte an Baumans Deutung, die im ersten Teil dieser Arbeit in Zusammenhang mit den zwei Aspekten diskutiert wurden, betrafen insbesondere die monolithische Darstellung der Moderne sowie das problematische Verhältnis zu allen Formen von Eindeutigkeit, die Baumans Deutung prägen. Letztere kommen lediglich als autoritäre, totalitäre, fanatische Bestrebungen der Ambivalenzvernichtung in den Blick; es bleibt dabei kein Raum für die Frage nach ungefährlichen oder gar unverzichtbaren Erfahrungen von Eindeutigkeit. Im Gegensatz zu Bauman bestimmt der deutsche Kultursoziologe Andreas Reckwitz die Moderne ihrem Charakter nach gerade nicht über ein klares Narrativ, sondern definiert sie als einen in sich mehrdeutigen Diskurskomplex. Moderne gibt es nur im Plural der ‚multiple modernities‘, um die Formulierung Shmuel Eisenstadts heranzuziehen. In der Bestimmung der Moderne als ein solcher Diskurskomplex kommt die Kategorie des Ambigen bei Reckwitz zweifach vor: Zum einen in Form der ‚interpretativen Mehrdeutigkeit‘ als die Pluralität von Sinndeutungsangeboten, die dem modernen Subjekt bei der Bewältigung von Handlungssituationen zur Verfügung stehen, und die wiederum auf sogenannten ‚kulturellen Interferenzen‘ beruhen, den Überlappungen verschiedener (religiöser, politischer, weltanschaulicher, usw.) kultureller Deutungsmuster. Zum anderen finden sich ‚strukturelle Ambivalenzen‘ innerhalb der Subjektkulturen der Moderne, also den Aushandlungsprozessen darüber, was ein modernes Subjekt ist. Diese strukturellen Ambivalenzen werden als einander widersprüchliche Tendenzen im modernen Subjekt beschrieben – etwa das Bedürfnis des modernen Angestelltensubjekts nach außen hin möglichst ‚normal‘ zu sein, das als Kehrseite eine innere Tendenz zur Absonderung (‚Ich bin nicht wie die Anderen!‘) mit sich bringt. Diese zweite Tendenz gewinnt dann in einer späteren Subjektkultur wiederum die Oberhand, gegen die sich dann neue Gegenläufigkeiten formieren. Für Reckwitz ist die Annahme eines solch mehrdeutigen Diskurskomplexes mit der Hervorbringung in sich
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ambivalenter Subjekte allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der Moderne, sondern prinzipiell jeder Kultur. Dennoch zeichnet sich die Moderne für ihn gerade dadurch aus, dass sich in ihr das vorhandene Angebot an Sinndeutungsmustern immer weiter pluralisiert und differenziert und damit eine Deutung der Moderne als ein Zuwachs an Mehrdeutigkeit durchaus behauptet werden kann. Die Frage nach der Rolle und Funktion von Eindeutigkeiten scheint Reckwitz in diesem Zusammenhang wenig zu interessieren. Über den Umgang der Moderne mit diesem Zuwachs an Sinndeutungsangeboten kann nach Reckwitz wiederum keine eindeutige Aussage gemacht werden; auch hier ist die Moderne in sich insofern plural, als dass bestimmte Subjektkulturen Mehrdeutigkeit eher begrüßen, während andere ihr eher feindselig gegenüberstehen. Ganz anders als in Baumans Theorie kommt der Kategorie des Ambigen nicht in erster Linie die Funktion zu, Freiheit zu repräsentieren, sondern vielmehr die, ein Motor für kulturellen Wandel zu sein: Insbesondere interpretative Mehrdeutigkeiten, aber auch strukturelle Ambivalenzen bergen in sich die Möglichkeit zur Veränderung bestehender Sinnmuster durch Irritationen des Subjekts. Auf diese Weise erhält die Kategorie des Ambigen in Reckwitz’ Theorie in erster Linie die Funktion, kulturellen Wandel zu erklären. Wenngleich also die Kategorie des Ambigen in beiden Theorien präsent ist und eine entscheidende Funktion einnimmt, wird sie jedoch in Bezug auf die Charakterisierung der Moderne wie auch den Umgang der Moderne mit ihr verschieden eingesetzt. Wie lässt sich nun Tillichs Verhältnisbestimmung von Moderne und Ambiguität in dieses Diskursfeld einzeichnen? Im Sinne einer Vorbemerkung ist dabei zunächst darauf hinzuweisen, dass Tillich – anders als die Soziologen Bauman und Reckwitz – nicht den Anspruch verfolgt, eine Theorie der Moderne vorzulegen. Seine Modernedeutung vollzieht sich vielmehr – wie für seine Zeit durchaus typisch – ‚en passant‘ in Form der ständigen Auseinandersetzung mit der Moderne im Rahmen seiner theologischen Theoriebildung. Dies geschieht in erster Linie im Modus der Gegenwartsdiagnosen, die zu aktuellen Themen Stellung beziehen. Als Beispiel für solche Diagnosen können die Technikdeutungen der 1920er Jahre ebenso gelten wie die kulturanalytischen Betrachtungen, etwa die Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart von 1919, der Aufsatz Die religiöse Lage der Gegenwart von 1926 oder aber die späte Festrede Die Situation des Menschen im Jahr 1963 zum 40-jährigen Jubiläum des Time Magazine, die alle in der vorliegenden Arbeit diskutiert wurden (vgl. II.4.1; II.2.3; II.3.2; II.5.3.3). Daneben existieren mehrere kleine Schriften, beispielsweise Das Christentum und die Moderne sowie Das Christentum und die moderne Gesellschaft von 1928,1 in denen Tillich explizit zur Moderne selbst Stellung bezieht. Gleichwohl muss 1 TILLICH, Christentum und Moderne (1928), in: GW XIII, 113–130; ebenso D ERS., Das Christentum und die moderne Gesellschaft (1928), in GW X, 100–107.
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Teil III – Kap. 2. Zweipoligkeit statt Pluralität
gegenüber den Theorien von Bauman und Reckwitz dennoch der andere Fokus hervorgehoben werden: Es geht Tillich stets um die Frage nach dem Religiösen in der Moderne. Diesbezüglich sind Tillichs Modernedeutungen immer schon in einen gewissen Dienst gestellt beziehungsweise werden mit einem bestimmten Fokus vorgenommen, der ein anderer ist als im Falle Baumans oder Reckwitz’. Mit diesen Vorüberlegungen im Hintergrund kann nun der Frage nach der Charakterisierung der Moderne mittels der Kategorie des Ambigen und dem Umgang der Moderne mit Ambiguitäten aus Tillichs Perspektive nachgegangen werden. Was die Charakterisierung der Moderne bei Tillich angeht, können drei zentrale Aspekte genannt werden: Zunächst charakterisiert Tillich die Moderne an verschiedenen Punkten, sowohl in den 1920er Jahren wie auch in den 1960er Jahren, als ‚eindimensional‘ beziehungsweise durch die Ausdehnung ins Horizontale bestimmt (vgl. etwa II.4.1; II.5.3.3). Tillich verfolgt damit – in kritischer Perspektive – ein klassisches Fortschrittsnarrativ, das durchaus Parallelen zu den soziologischen Modernedeutungen seiner Zeit, etwa den Rationalisierungsdiagnosen Max Webers, aufweist. Als Bewegung nach vorn, die in der Konsequenz mit einer gewissen Rast- und Ruhelosigkeit und nicht zuletzt dem Verlust an (religiöser) Tiefe einhergeht, bestimmt Tillich die Moderne also zunächst über ein lineares Narrativ mit einer klar bestimmbaren Rationalität (Fortschritt, Zuwachs an Autonomie, technisch-instrumentelle Geisteshaltung usw.). Als zweiter Aspekt sei die Absicht Tillichs benannt, mithilfe von Zeitdiagnosen stets auf tieferliegende, anthropologisch-ontologische Strukturen hinzuweisen, die einer gewissen Unwandelbarkeit unterliegen und die Situation des Menschen ‚an sich‘ charakterisieren. In diesem Zusammenhang taucht auch die Kategorie des Ambigen in Form der Zweideutigkeit zur näheren Bestimmung der Moderne auf: In seiner Festrede zum 40-jährigen Bestehen des Time Magazine etwa diagnostiziert Tillich zwei verschiedene Zweideutigkeiten, die die gegenwärtige Situation des Menschen bestimmen: die ‚Zweideutigkeit der Expansion‘, die er an den im Wettlauf zum Mond gipfelnden technischen Innovationen seiner Zeit expliziert, und die ‚Zweideutigkeit der Vollkommenheit‘, mit Hilfe derer er das konflikthafte Verhältnis der Großmächte USA und Russland aufschlüsselt (vgl. II.5.3.3). Während mit der ersten Zweideutigkeit das Modell linearen Fortschritts als die bestimmende Zweideutigkeit der Moderne ausgelotet wird, dient die zweite Zweideutigkeit Tillich als Verweis darauf, dass imperialistische Tendenzen sich in der Geschichte wiederholen. An diese Feststellung lässt sich eine grundsätzliche Bemerkung anschließen, und zwar dahingehend, dass Tillich hier unterscheidet zwischen modernespezifischen Zweideutigkeiten und solchen Zweideutigkeiten, die sich in der Geschichte der Menschheit in Variationen zwar, aber doch beständig wiederholen. Tillichs Interpretation der Moderne als ambig weist also zum einen auf eine tieferliegende Struktur hin, die die Moderne in eine Kontinuität zu anderen
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Epochen der Weltgeschichte setzt und in ihr gerade kein Alleinstellungsmerkmal, sondern die bestimmte Artikulation einer grundsätzlichen Struktur sieht. Zum anderen wird eben doch angenommen, dass es spezifische Artikulationen dieser grundsätzlichen Struktur gibt, die sich etwa im Falle der Moderne über die ‚Zweideutigkeit der Expansion‘ sichtbar machen. Die Zweideutigkeit dient Tillich in der Frage der Charakterisierung der Moderne also dazu, sowohl die Kontinuität der Moderne zu anderen Epochen als auch ihr Alleinstellungsmerkmal mit einem Begriff zu fassen. Dies wird durch die verschiedenen Abstraktionsgrade ermöglicht, die mit dem späten Zweideutigkeitsbegriff einhergehen (vgl. II.5.3.2). Schließlich sei noch auf den dritten Aspekt hingewiesen: Bezüglich der Verhältnisbestimmung von Moderne und Ambiguität (wie auch Religion) verschieben oder verkehren sich bei Tillich im Verlauf der Werkgeschichte die Relationen: Während die frühen Bestimmungen von Zweideutigkeit in Tillichs Werk noch dazu dienen, auf die horizontal ausgerichtete Moderne zu reagieren und der Religion in ihr zu einem Platz zu verhelfen, avanciert die Zweideutigkeit spätestens mit der Systematischen Theologie zu einem lebensphilosophischen wie kulturkritischen Analyseinstrument, mit dessen Hilfe die gesamte gegenwärtige Kultur in ihren verschiedenen individuellen wie sozialen Zusammenhängen beleuchtet wird – natürlich um darin wiederum tieferliegende Strukturen freizulegen. Insgesamt entwickelt sich die Zweideutigkeit damit von einer ‚Antwortstrategie‘ für eine horizontal ausgerichtete Moderne zu einer ‚Problemanalysekategorie‘ für das Problem der Moderne selbst. Die Frage nach dem Umgang der Moderne mit Ambiguität scheint für Tillich – zumindest in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – von einem ähnlichen Anliegen geprägt zu sein, wie dies bei dem Soziologen Bauman der Fall ist: Gerade die späten Auseinandersetzungen in den Berliner Vorlesungen von 1952 und 1958 (vgl. II.4.3), in der Systematischen Theologie oder in dem Aufsatz Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen von 1963 (vgl. II.5.3) weisen immer wieder auf den Zusammenhang von totalitären Systemen und dem Versuch der Eliminierung von Zweideutigkeit hin. Anders als bei Bauman werden diese Eliminierungsbestrebungen nicht als instrumenteller Kontrollversuch gegenüber der Widerständigkeit der Welt interpretiert, sondern als Vereindeutigung in Richtung einer Seite der zugrundeliegenden Zusammenhänge, eine Verneinung der grundsätzlich polar strukturierten Welt. Die totalitären Systeme der Nazizeit wie auch des stalinistischen Russlands werden von Tillich als Beispiele dafür angeführt, dass die fehlende Einsicht in diese tieferen Zusammenhänge gerade mit Blick auf die Schwachpunkte und Vorläufigkeit der eigenen Systeme furchtbare Konsequenzen nach sich zieht. Die Auswüchse totalitärer Systeme werden hier also auf die mangelnde Einsicht in die eigene Zweideutigkeit und damit eine fehlende Fähigkeit zur Selbstkritik zurückgeführt. Auch gegenüber den imperialistischen Tendenzen Amerikas spricht Tillich eine deutliche Warnung aus (vgl. besonders II.5.3.3).
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Teil III – Kap. 2. Zweipoligkeit statt Pluralität
Mit dieser politischen Konkretion ist damit zugleich die Aufgabe formuliert, der Tillich in seiner Systematischen Theologie nachgeht: nämlich die Zweideutigkeit als grundlegende Struktur aller individuellen wie gesellschaftlichen Zusammenhänge sichtbar zu machen – und auf die Gefahren innerweltlicher Vereindeutigungsprozesse hinzuweisen. Gleichwohl bleibt Tillich in seiner Bestimmung des Verhältnisses von Ambiguität und Eindeutigkeit bei diesen gefährlichen Formen der Vereindeutigung eben gerade nicht stehen. Vielmehr besteht ein zentraler Beitrag der Tillich’schen Analyse darin, ein äußerst differenziertes Gefüge von struktureller Ambiguität, gefährlichen Formen der Vereindeutigung ebendieser Struktur und ungefährlicher, ja produktiv-positiver Eindeutigkeit als deren Kontrapunkt vorgelegt zu haben. Damit kommen bestimmte Funktionen von Eindeutigkeiten in den Blick – nämlich das Potential, zu einem Maßstab für Orientierung, Stabilisierung und Transformation in einer unvollkommenen, fragmentarischen Lebensrealität zu werden –, welche die Analysen von Bauman und Reckwitz nicht bedenken. Momenthafte Erfahrungen von Eindeutigkeit können mit Tillich geradezu als notwendige Bedingungen für den Umgang mit einer zutiefst ambigen Wirklichkeit begriffen werden. Sie erweisen sich damit als zentral für diejenige Fähigkeit, die heute unter dem Stichwort Ambiguitätstoleranz viel Beachtung findet. Dies würde – im Sinne des Weiterdenkens des Tillich’schen Impulses – bedeuten, dass es in der Forderung nach Ambiguitätstoleranz in der heutigen Gegenwart immer auch darum gehen muss, nach möglichen Orten für die Erfahrung ungefährlicher Eindeutigkeiten zu suchen (vgl. III.3). Neben dieser Differenzierung und partiellen Aufwertung von Eindeutigkeit sowie dem Hinweis auf die Kontinuitäten der Moderne mit anderen Epochen aufgrund des Aufweises tieferliegender Strukturen, soll noch ein weiterer Beitrag Tillichs zum Diskurs um Ambiguität und Moderne erwähnt werden: Neben den Ambivalenzen Baumans als Widerständigkeiten der Wirklichkeit und der Mehrdeutigkeit von Reckwitz als Pluralisierung von Sinndeutungsangeboten stellt Tillich die Frage nach (polaren) Strukturen, die menschliches Leben bestimmen und sich damit auch in der Gestaltung von Gesellschaften niederschlagen. Dabei wäre sowohl an die Polaritäten im Sinne von Komplementärstrukturen (Leben/Tod, Gesundheit/Krankheit, Expansion/Implosion, usw.) zu denken, aber auch an die Einsicht in das grundsätzliche Ineinander gelingender und misslingender Verhältnisse, die Tillich als grundlegenden Bestandteil seines Zweideutigkeitskonzepts formuliert. Den Funktionen der Ambiguität als Freiheitsgarant und Generator für Wandel wäre damit die Erinnerung an die Komplexität der Wirklichkeit in ihrer Unvollständigkeit und Fehlbarkeit an die Seite gestellt.
Kapitel 3
Ambiguitätstoleranz durch ungefährliche Eindeutigkeit. Die ambige Verfasstheit von Religion Teil III – Kap. 3. Ambiguitätstoleranz durch ungefährliche Eindeutigkeit Ambiguitätstoleranz durch ungefährliche Eindeutigkeit
Analog zum Verhältnis von Moderne und Ambiguität wurde im Eingangsteil dieser Arbeit auch der Zusammenhang von Religion und Ambiguität anhand von zwei aktuellen kulturwissenschaftlichen beziehungsweise kultursoziologischen Positionen diskutiert (vgl. I.3). Dabei stand auf der einen Seite der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der jüngst mit seinen Veröffentlichungen Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams und Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt dem Ambiguitätsbegriff bis in die Feuilletons hinein zu großer Popularität verholfen hat. Den Gegenspieler bildete der unlängst verstorbene Münchner Kultursoziologe Ulrich Beck, der insbesondere durch seine Studie Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne berühmt wurde und seine Theorie in Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen um religionssoziologische Fragestellungen erweitert hat. Beide Positionen wurden ebenfalls zweifach gegenübergestellt, zunächst mit Blick auf die Frage, ob und wie sie die Verfasstheit von Religion mit Hilfe der Ambiguitätskategorie (bzw. verwandter Begriffe) zu deuten versuchen; dann dahingehend, wie sie die Thematik von Ambiguität auf die aktuelle Lage der Religion anwenden. Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer bestimmte bezüglich ihrer Verfasstheit Religion als eine genuin ambiguitätsaffine Angelegenheit und führte diese Bestimmung einerseits auf den Transzendenzbezug von Religionen zurück, andererseits auf die Kommunikation von Religionen auf einer Vertikalachse, nämlich durch Offenbarungstexte. Beide Aspekte machen die Religion nach Bauer zu einem höchst ambigen Phänomen, ambig hier verstanden als mit einer grundsätzlichen Deutungsoffenheit versehen. Bauer legt also implizit einen substanzialistischen Religionsbegriff zugrunde, der durch seine Merkmale – Offenbarungs- und Schriftreligion – insbesondere die monotheistischen Weltreligionen zum Prototyp von Religion erhebt. Solcher Religion ist nach Bauer als grundlegende Verfasstheit eine Deutungsoffenheit zu eigen, die sich darin äußert, dass weder der Transzendenzbezug noch die Offenbarungsschriften für das Individuum gänzlich ausdeutbar und damit eindeutig bestimmbar sind.
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Teil III – Kap. 3. Ambiguitätstoleranz durch ungefährliche Eindeutigkeit
Diesen Befund der grundsätzlichen Ambiguität von Religion verbindet Bauer dann mit einer kritischen Gegenwartsdiagnose, welche die zwei grundlegenden Tendenzen der Gegenwart in Bezug auf Religion als religiöse Indifferenz auf der einen Seite und religiösen Fundamentalismus auf der anderen Seite bestimmt. Beide Tendenzen führt Bauer auf eine mangelnde ‚Ambiguitätstoleranz‘ in westlich-modernen Gesellschaften zurück, die vor der Ambiguität der Religion entweder dadurch zu fliehen suchen, dass sie die Religion grundsätzlich meiden (religiöse Indifferenz), oder dadurch, dass sie die Religion zu vereindeutigen versuchen (religiöser Fundamentalismus). Bauers Diagnose von der aktuellen Lage der Religion verläuft damit direkt parallel zu seinem Großnarrativ: Den Vereindeutigungstendenzen der Moderne folgt demnach auch die Vereindeutigung der Religion – oder eben die Flucht vor ihr. Eine gänzlich differente Einschätzung liegt demgegenüber mit der Position Ulrich Becks vor: Beck unterscheidet bezüglich der Verfasstheit von Religion grundlegend zwischen dem Begriff der Religion und der Kategorie des Religiösen. Während er ‚Religion‘ als institutionalisierte Religiosität über den Begriff der Ambivalenz bestimmt, verbindet er das Adjektiv ‚religiös‘ mit der Kategorie des Mehrdeutigen. Religion ist für Beck insofern inhärent ambivalent, als sie durch die Zentralstellung des Glaubensbegriffs zugleich grenzauflösend (mit Blick auf die Einigung von Menschen jenseits sozialer und ethnischer Hierarchien und Trennungen) und neue Grenzen setzend (zwischen gläubig und ungläubig) wirkt. In dieser grundlegenden Ambivalenz von Religion, die – Beck macht dies ganz explizit – vor allem von seinen Überlegungen zum Christentum ausgeht, sieht er auch die zwiespältige Haltung der Religion zwischen Friedensfähigkeit (Grenzauflösung) und Gewaltpotential (Grenzsetzung) begründet. Demgegenüber definiert Beck das Religiöse im Sinne individueller Religiosität über seine Affinität zur Mehrdeutigkeit. Mehrdeutigkeit wird dabei verstanden als Inanspruchnahme verschiedener religiöser Sinndeutungsangebote zur Konstruktion einer individuellen ‚Melange-Religiosität‘, die auch Elemente verschiedener Religionen in sich vereinigen kann (vorstellbar etwa in der Zusammenstellung von christlicher Eheschließung bei täglicher Zen-Praxis und gelegentlichen Ayurveda-Kuren in Sri Lanka). Becks These zur aktuellen Lage der Religion verdichtet sich dahingehend, analog zu den fortschreitenden Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen der Spätmoderne die Zunahme ebensolcher Melange-Religiositäten zu behaupten. Dabei wird den Melange-Religiositäten das Potential zugesprochen, die Logik der Ambivalenz der Religion durch die Logik des Mehrdeutigen des Religiösen zu ersetzen und damit die Grundlage für eine friedens- und pluralismusfähige Religiosität in der Spätmoderne zu legen. Beide, Bauer wie Beck, gehen bei aller Gegensätzlichkeit ihrer Annahmen und Diagnosen von derselben Parallelität aus, nämlich der zwischen einem Großnarrativ der Moderne und der Entwicklung von Religion. Bei Bauer war ebendiese Parallelität als ein
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Vereindeutigungsnarrativ artikuliert; bei Beck hingegen liegt ein Vervielfältigungsnarrativ vor, das auch die Struktur und Lage der Religion erfasst. Beide Denker, so eine im Eingangsteil der Arbeit formulierte Anfrage, scheinen der Religion damit kein transformatives oder gar subversives Potential gegenüber dem behaupteten Großnarrativ zuzubilligen. Gerade an diesem Punkt aber setzt der entscheidende Beitrag Tillichs zum Verhältnis von Religion und Ambiguität an. Tillichs Religionsbegriff, der in dem behandelten Zeitraum von 1919 bis 1963 gewaltigen Transformationen ausgesetzt ist, die sich unter anderem in der Verschiebung von einem sinntheoretischen Religionsbegriff hin zu einem existentialistisch-anthropologischen Verständnis von Religion niederschlagen, ist – im Folgenden explizit gemacht am späten Religionsbegriff – durch eine Doppelstruktur ausgezeichnet: Unterschieden wird dabei zwischen Religion als einer Geistesfunktion, die allen anderen Funktionen (Moralität, Kultur) zugrunde liegt und als solche deren tieferliegende Substanz konstituiert. Demgegenüber liegt Religion unter den Bedingungen der Existenz jedoch auch als eine Sondersphäre vor, die sich als ein gesellschaftliches Subsystem Religion mit den dazugehörigen Institutionen, Ritualen und Symbolen manifestiert. In diesem Ineinander von Essenz- und Existenzstrukturen, von allumfassender Geistesfunktion und religiöser Sondersphäre, liegt auch die komplexe Verflechtung von Religion und Ambiguität begründet, die Tillich insbesondere in der Systematischen Theologie entfaltet. Religion wird dabei als doppelt ambig verstanden: Zum einen hat sie als Teil des Lebens in der Mischung von Essenz- und Existenzstrukturen Anteil an der grundlegenden Zweideutigkeit des Lebens, die sich im Falle der Religion zwischen den Extrempolen von Profanisierung auf der einen und Dämonisierung auf der anderen Seite vollzieht. Eine doppelte Zweideutigkeit liegt also schon insofern vor, als dass gelingende Religion – anders als die anderen Geistesfunktionen – von zwei unterschiedlichen Seiten her bedroht ist. Zugleich ist die Zweideutigkeit der Religion auch dahingehend eine doppelte, als sie neben den konkreten Zweideutigkeiten von Profanisierung und Dämonisierung auch grundsätzlich durch die Lage gekennzeichnet ist, sowohl in die Zweideutigkeit des Lebens verstrickt als auch der Ort zu sein, an dem die unzweideutige Antwort auf die Zweideutigkeit des Lebens in Form der Offenbarung empfangen wird. Mit anderen Worten: Tillich charakterisiert die Religion als ambig – sowohl ihrer Verfasstheit nach als auch bezüglich ihrer grundsätzlichen Lage zwischen Zweideutigkeit und Eindeutigkeit. Die Verfasstheit der Religion sieht Tillich durch die beiden Zweideutigkeiten von heilig/profan und göttlich/dämonisch bestimmt, die sich darauf gründen, dass die Manifestation von Offenbarungen nicht anders geschehen kann als in der endlichen, bedingten und gegenständlichen Wirklichkeit. Diese Tatsache führt zu zwei Tendenzen jedes religiösen Aktes: auf der einen Seite zu der Entleerung und dem Für-Sich-Stehen des bedingten Offenbarungsträgers,
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Teil III – Kap. 3. Ambiguitätstoleranz durch ungefährliche Eindeutigkeit
die sich etwa in der vollständigen Einordnung der heiligen Texte in die kulturelle Tradition ausdrückt; auf der anderen Seite zur Verwechslung von bedingtem Gegenstand und dem Unbedingtem selbst, bei der – um im Beispiel zu bleiben – die Heilige Schrift selbst verabsolutiert wird. Man könnte in beiden Tendenzen Analogien zu Bauers These der religiösen Optionen zwischen Indifferenz und Fundamentalismus sehen, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied – und gerade hier liegt ein theologischer Beitrag Tillichs zum aktuellen Diskurs –, dass beide Tendenzen nicht für separate Entwicklungen der Gegenwart stehen wie bei Bauer, sondern in jedem religiösen Akt stets gegenwärtig sind. Die Gefährdungen der Religion finden sich bei Bauer also in vereindeutigender Weise soziologisiert, während Tillich sie als ständige Begleiter aller religiösen Vollzüge begreift. Gleichwohl nimmt auch Tillich an, dass die aktuelle Lage der Religion durch die eine oder andere Tendenz stärker bestimmt ist: Während in den frühen Schriften bis Mitte der 1920er Jahre der Fokus eher auf profanisierenden Tendenzen liegt, steht ab Mitte der 1920er Jahre, besonders aber in der Auseinandersetzung mit den quasi-Religionen sowie den totalitären Systemen zur Zeit der Systematischen Theologie, eher die Tendenz der Verabsolutierung des Bedingten (auch über die Religion im engeren Sinne hinaus) im Vordergrund. Auch wenn die Gefahr der Dämonisierung nun dominiert, kommt gleichwohl die grundsätzliche Profanisierung der modernen Kultur immer wieder als Problemlage in den Blick (vgl. II.5.3.3 und 5.4). Mit der grundsätzlichen Lage der Religion, die Tillich zwischen tiefer Verstrickung in Ambiguität und die darin liegende Frage nach deren Überwindung auf der einen und Aufnahme der unzweideutigen Antwort auf der anderen Seite verortet, gelingt Tillich gegenüber den soziologischen Entwürfen zweierlei: Zum einen legt er mit seiner Theorie der Zweideutigkeit einen Erklärungsversuch für die bleibende Sehnsucht nach Religion auch in der Moderne vor, indem die Religion in Form göttlicher Offenbarung als ‚Antwort‘ auf die Zweideutigkeit des Lebens verstanden wird. Zum anderen gesteht er der Religion damit zu, transformativ und subversiv – auch gegenüber Großnarrativen – zu wirken. In den momenthaften, fragmentarischen und unverfügbaren Momenten positiv-produktiver Eindeutigkeit, die in der Religion dem Menschen zuteil werden, liegt für Tillich die Erfahrung von Leben, wie es sein soll, und damit eine orientierungsbildende Kraft für Transformationen der realen Lebenswelt. Es liegt aber darin auch die Einsicht in eine ganz andere Wirklichkeit, die helfen kann, mit der zweideutigen Wirklichkeit überhaupt angemessen umzugehen. Die Funktion der Religion kann hier also dahingehend beschrieben werden, grundlegende Ambiguitätstoleranz durch momenthafte Eindeutigkeit überhaupt erst zu ermöglichen. Gegenüber den Theorien von Bauer und Beck betont Tillich damit die komplexe Lage der Religion in ihrer Verortung zwischen Zweideutigkeit und Ein-
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deutigkeit. Es geht ihm also anders als Bauer nicht um das Problem eines deutungsoffenen Phänomens in einer gegenüber solchen Offenheiten feindlich gestimmten Gesellschaft und auch nicht, wie im Falle Becks, um die Frage nach der Überwindung des Gewaltproblems von Religionen durch die Logiken von Individualisierung und Pluralisierung. Vielmehr geht es Tillich darum, grundsätzliche Gefahrenpotenziale für den Bereich der Religion zu beschreiben, indem gewisse Zusammenhänge sichtbar gemacht werden. Ambiguitätstolerant zu sein hieße in diesem Sinne also auch erstmal nicht, eine gelassene Haltung gegenüber Deutungspluralität einzunehmen, sondern eine Einsicht und Akzeptanz bezüglich grundlegender Zusammenhänge zu entwickeln (etwa dem Zusammenhang von Transzendierung, Profanisierung und Dämonisierung im religiösen Akt), um damit größere Disbalancen und Fehlentwicklungen zu vermeiden. Die Eindeutigkeit göttlicher Offenbarung gibt dafür nicht nur die nötige Orientierung und Stabilität, sondern auch die transformative Kraft. Im Zusammenhang mit dieser Verbindung steht die Religion zur Moderne also nicht nur in einem Parallel-, sondern immer auch in einem Oppositionsverhältnis.
Kapitel 4
Schlussfolgerungen für den interdisziplinären Diskurs Teil III – Kap. 4. Schlussfolgerungen für den interdisziplinären Diskurs Schlussfolgerungen für den interdisziplinären Diskurs
Die hier diskutierten Beiträge Tillichs zum interdisziplinären Ambiguitätsdiskurs lassen sich abschließend in drei Punkten bündeln: Bezüglich der begrifflichen Verortung wird das semantische Feld um Ambiguität, erstens, mit Tillichs (später) ‚Zweideutigkeit‘ um einen Begriff ergänzt, der gerade nicht auf die Thematisierung von Pluralität oder Deutungsoffenheit abhebt, sondern als begrenzte Ambiguität eine binäre Struktur lebensweltlicher Erfahrung beschreiben will (vgl. III.1). Dabei wird in dem Begriff die Annahme einer polaren Grundstruktur der Wirklichkeit – etwa von Individualisierung und Partizipation, von Freiheit und Schicksal, oder von Gesundheit und Krankheit – mit der Einsicht in das gleichzeitige Gelingen und Scheitern dieser Struktur in ihrer Aktualisierung in der individuellen wie sozialen Lebensrealität verbunden. Der Begriff erfüllt dabei neben der theoretischen Bündelung eines bestimmten Aspekts menschlicher Wirklichkeitserfahrung die Funktion, gegenläufige Tendenzen zu vermitteln sowie Disbalancen und Fehlentwicklungen in diesem Verhältnis der Gegenläufigkeit zu kritisieren. Ein Desiderat, das sich an die begrifflichen Analysen der vorliegenden Arbeit für die weitergehende Forschung anschließt, besteht in der weiteren (Auf-)Klärung des Ambiguitätsbegriffs über seine inneren Differenzierungen, Verwandtschaftsverhältnisse, Überlappungen und Grenzziehungen (vgl. I.1). Gerade die interdisziplinäre Forschung zum Thema Ambiguität kann nur dann funktionieren und tragfähige Ergebnisse liefern, wenn bezüglich des Begriffs, seiner Bedeutung, Verwendung und Reichweite Klarheit besteht. Zu dieser Klärung beizutragen war ein zentrales Anliegen dieser Arbeit, das auf weitere Verfeinerung, Ergänzung und Fortführung hofft. Im Diskurs um die Verhältnisbestimmung von Moderne und Ambiguität ergänzt Tillichs Version die diskutierten soziologischen Theorien, zweitens, dahingehend, der Ambivalenz Zygmunt Baumans – verstanden als Widerständigkeit der Welt gegenüber sprachlichen Kategorisierungen – und der Mehrdeutigkeit Reckwitz’ als Pluralisierung von Sinndeutungsangeboten, die ‚Zweideutigkeit der Moderne‘ an die Seite zu stellen (vgl. III.2). Die Zweideutigkeit erwies sich dabei als ein Begriff, mit dem sowohl auf tieferliegende, anthropologisch-ontologische Strukturen und damit auf die Kontinuität der Moderne zu anderen Epochen hingewiesen werden kann als auch bestimmte Artikulationen
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dieser Strukturen modernespezifisch bestimmt und kritisiert werden können. Der Fokus Tillichs liegt dabei darin, die Moderne nicht über das Theorem der Pluralität, sondern spezifische Artikulationen von Zweipoligkeit zu verstehen. Neben dem Hinweis auf mögliche Kontinuitätslinien zwischen den Epochen mit Blick auf die Frage nach (struktureller) Ambiguität liegt ein entscheidender Beitrag Tillichs gegenüber den soziologischen Positionen in einer deutlichen Aufwertung der Kategorie des Eindeutigen. Seine differenzierte Analyse des Zusammenhangs von struktureller Ambiguität, fälschlichen oder gar gefährlichen Vereindeutigungen und produktivpositiver Eindeutigkeit legt eine alternative Verhältnisbestimmung von Ambiguität(stoleranz) und Eindeutigkeit vor, die aktuelle Debatten zu bereichern vermag. Dabei besteht eine weitergehende Forschungsaufgabe darin, Tillichs Analysen aus dem Bereich der Religion auf andere Disziplinen und Gegenstände zu übertragen und an diesen zu überprüfen: Wie sähen produktive Formen und Erfahrungen von Eindeutigkeit etwa im Bereich des Politischen oder dem der Kunst aus? Wo können Individuen in der heutigen Gesellschaft solche Erfahrungen machen, die ihnen Stabilität und Orientierung in einer ambigen Welt vermitteln? Und, weiterführend, welche Kriterien sind geeignet, um zwischen gefährlichen Vereindeutigungen und positiv-produktiven Formen von Eindeutigkeit treffend und differenziert zu unterscheiden? Drittens ist der entscheidende Beitrag Tillichs zur Deutung von Religion durch die Kategorie des Ambigen darin zu sehen, die Religion sowohl analog zur Moderne als auch als ihr transformatives Gegenüber bestimmen zu können (vgl. III.3). Die theologische Perspektive, die Religion über den soziologischen Blickpunkt hinaus auch als Aufnahme von Offenbarung versteht, ergänzt die Großnarrative der Vereindeutigung bzw. Vervielfältigung von Thomas Bauer und Ulrich Beck damit um zwei zentrale Einsichten: erstens, dass – theologisch gesprochen – aus unverfügbaren, momenthaften Erfahrungen von Eindeutigkeit, wie sie dem Menschen in der Begegnung mit dem Göttlichen widerfahren können, orientierungsgebende Kraft für die Veränderung von Welt gewonnen werden kann; zweitens, dass mit dieser ‚Inneneinsicht‘ letztlich ein grundsätzlich widerständiges Element des religiösen Vollzugs gegenüber theoretischen Großnarrativen verbunden ist. Zugleich pocht Tillichs Ansatz darauf, das Verständnis um die potentiellen wie realen Vereindeutigungen von Religion nicht auf verschiedene religiöse Gruppierungen oder zeitliche Epochen zu verteilen, sondern als eine Grundtendenz von Religion und damit in jedem religiösen Akt gegenwärtig zu sehen. Mit dieser Perspektive ist zugleich das Desiderat verbunden, eine differenzierte, kontextsensible Forschung zum Verhältnis von Religion(en), Ambiguität und Eindeutigkeit an diese Arbeit anzuschließen, welche verschiedene religiöse Praktiken, regionale Ausdifferenzierungen inklusive Diasporasituationen und interreligiösen Verflechtungen sowie milieuspezifische Ausprägungen von Religion in den Blick nimmt.
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Teil III – Kap. 4. Schlussfolgerungen für den interdisziplinären Diskurs
Die Arbeit soll nicht schließen, ohne zumindest schlaglichtartig darauf einzugehen, was auch Tillichs Ambiguitätsverständnis vom heutigen Diskurs lernen kann. Drei Aspekte seien hier genannt: Erstens scheint das Problem sozialer und diskursiver Pluralität durch die spätmoderne Steigerung von Individualisierungs- wie Globalisierungsprozessen aktuell noch einmal drängender als zu Tillichs Zeiten. In diesem Zusammenhang stellen sich neue Herausforderungen, die auf die Frage einer weiterreichenden Verbindung von Tillichs Konzepten der ‚Zweideutigkeit‘ und ‚Vieldeutigkeit‘ hindrängen. Ein zweiter Aspekt betrifft Tillichs starke Favorisierung einer binären Aufbaulogik, die aus heutiger Sicht die Anfrage nach sich zieht, ob sich die gesamte Erfahrungswirklichkeit tatsächlich als das Resultat solcher binärer Logiken abbilden lässt – oder ob nicht dieses Schema um weitere Elemente (des Dreideutigen, Vierdeutigen, Uneindeutigen usw.) erweitert werden müsste. Schließlich wäre zu bedenken, ob und wie Tillichs Begriff von Religion, der auf einer spezifisch protestantischen Perspektive beruht, mit Blick auf andere Deutungen des Religiösen weiter kontextualisiert und historisiert werden kann und dabei zugleich seine Einsichten in die spezifischen Gefahrenpunkte wie auch Potentiale dieser Form von Religion mit Blick auf gegenwärtige Problemlagen ausgeschöpft werden können. Die vorliegende Arbeit verband das Anliegen einer grundlegenden Aufarbeitung von Tillichs Zweideutigkeitsbegriff und dessen verschiedener Verortungen im Verhältnis von Moderne und Religion mit dem Bezug auf aktuelle Perspektiven auf dieses Verhältnis. Dabei wurde eine Vielzahl möglicher Konstellationen von Moderne, Religion und Ambiguität zu Tage gebracht, die Anlass zu weiteren Vertiefungen und Diskussionen geben. Es ist die Hoffnung dieser Arbeit, dass Paul Tillichs ‚Zweideutigkeit‘ als adaptive Schlüsselkategorie auch in zukünftigen Diskussionen in und außerhalb der Theologie weitere Anpassungen, Erweiterungen und Vertiefungen erfährt und sich gerade darin produktiv für aktuelle Herausforderungen in der Deutung des Verhältnisses von Moderne und Religion erweist.
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Berndt, Frauke 3, 16f., 19–21, 23, 28, 31 Bernecker, Roland 16 Bernhard, Reinhold 118 Bleuler, Eugen 28–31 Blumenberg, Hans 21 Bode, Christoph 15f., 19, 49 Böhme, Jacob 131, 208, 231, 284, 323 Bonacker, Thorsten 51f., 54, 61, 63, 72 Braungart, Wolfgang 142 Breipohl, Renate 150 Brittain, Christopher Craig 267 Bulman, Raymond F. 252 Butler, Jon 66f., 296–99 Carey, John J. 252 Chan, Keith Ka-Fu 252 Christophersen, Alf 148f., 182, 223 Clayton, John Powell 119, 281, 293 Cooper, Terry D. 218 Cornelius, Hans 248, 267 Dahme, Stephan 178 Danz, Christian 105f., 109, 142, 161, 184, 186f., 193, 218, 248, 260, 268f., 282, 321, 324, 339 Darwin, Charles. 296f. Deibl, Marlene 4 De Jong, Marijn 282 Deleuze, Gilles 29 Dengel, Sabine 34, 39f., 43, 64 Dienstbeck, Stefan 105, 174, 304f., 307 Dierse, Ulrich 113f. Dipper, Christoph 113 Dix, Otto 178 Dumas, Marc 108f., 318 Eberle, Matthias 178, 250 Eco, Umberto 19
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Personenregister
Eisenhower, Dwight 298 Eisenstadt, Shmuel N. 72, 374 Empson, William 19f., 24 Erikson, Erik 35 Eskin, Catherine R. 149 Favero, Paolo S. H. 286 Feil, Ernst 81 FeldmanHall, Oriel 33 Figl, Günter 50 Fraas, Hans-Jürgen 17 Frenkel-Brunswik, Else 32–35, 37–39, 41, 334 Freud, Sigmund 29–31, 36, 110, 137, 220, 301 Friesen, Astrid von 2 Fritz, Martin 103–106, 117, 140–144, 162, 164–166, 174–175, 186, 189, 194, 215–217, 219–221, 260–263, 272 Fuchs, Gotthard 142 Galles, Paul 282 Gebhardt, Winfried 78 Georges, Karl Ernst 18, 142 Giddens, Anthony 88 Gielen, Pascal 49, 286 Gogarten, Friedrich 23, 122, 156–160, 162, 186, 194, 234 Gounelle, André 148 Graf, Friedrich Wilhelm 79, 81, 124– 127, 134, 136, 153, 199, 248, 268, 281, 307 Graham, Billy 297 Groß, Bernhard 34, 39 Grosz, George 177f. Grube, Dirk-Martin 280, 282 Grundmann, Hilmar 37 Grunwald, Armin 253 Guattari, Félix 29 Gumbrecht, Hans Ulrich 52, 113, 127 Haag, Christine 59, 70 Habermas, Jürgen 24 Haigis, Peter 145 Halme, Lasse 324 Hartlaub, Gustav F. 177f., 249 Hartmann, Nicolai 175, 228 Harz, Frieder 37
Hebert, Mireille 160 Heelas, Paul 79 Hegel, Friedrich Wilhelm 18, 23, 82, 132, 141, 149, 186, 220 Heidegger, Martin 24f., 27, 154, 175, 262, 270, 272, 323 Heimann, Eduard 150 Heimann, Sigfried 150 Heinemann, Lars 105, 142, 160, 162, 164f., 167, 218 Herberg, Will 298 Herzfelde, Wieland 177 Hirsch, Emanuel 123, 137f., 140–142, 154, 164, 227, 268 Hochmuth, Hanno 1 Holzey, Helmut 270 Horkheimer, Max 49, 54, 59f., 108, 260, 267, 268 Hummel, Gert 131, 167 Husserl, Edmund 145, 164, 200, 205, 227 Ihben-Bahl, Sabine Joy 112, 301 Illies, Florian 1, 124f. Jacobs, Alan 301f., 304–306 James, Robison B. 64, 80, 149 Jaspers, Karl 272 Jekeli, Ina 37 Johnson, Wendell G. 175 Junge, Matthias 55–57 Junker, Theo 331 Jureit, Ulrike 124 Kammer, Stephan 3, 16f., 20f., 23, 31 Kammeyer, Katharina 37 Kant, Immanuel 22f., 25, 27, 44, 82, 141, 158, 227, 273 Karremann, Isabel 154 Kaufmann, Franz-Xaver 51f. Keller, Douglas 53 Kennan, George F. 126 Kennedy, John F. 299, 330 Kerkhoff, Manfred 148 Kiehl, Carolin 37 Kinneavy, James L. 149 Klessmann, Michael 4, 49, 295 Kluge, Ulrich 179 Knoblauch, Hubert 78
Personenregister Knust, Herbert 177 Koch, Traugott 142, 301 Koselleck, Reinhart 50, 52, 113 Kottmann, Andrea 88 Kracauer, Siegfried 151f. Krappmann, Lothar 35f. Krieger, Verena 15f., 19, 44, 49, 319 Kron, Thomas 53–55, 58f., 63 Krüger, Malte-Dominik 4 Kucher, Primus-Heinz 248 Landmesser, Christof 4 Lash, Scott 88 Leiner, Martin 110, 219, 273, 286 Leonhardt, Rochus 252 Lienesch, Michael 296 Linde, Gesche 267 Löwe, Adolf 150, 267 Löwe, Matthias 116 Löwenthal, Leo 193, 267 Ludwig, Frieder 52, 130 Luhmann, Niklas 70, 139 Lumer, Ludovica 38 Lüscher, Kurt 34 MacCulloch, Diarmaid 111 Mader, Rachel 16, 49 Mahler, Andreas 113, 154 Mairinger, Katharina 4 Mannheim, Karl 124, 267 Marc, Franz 130f. Martynkewiczs, Wolfgang 125 Matern, Harald 153 Mathews, Thomas F. 129 Mathot, Benoit 108–110, 269 Mauss, Marcel 228 McPherson, Aimee 297 Mead, George Herbert 35 Meditz, Robert E. 107 Meixner, Sebastian 19, 28 Mendelson, Edward 305 Merleau-Ponty, Maurice 24– 27 Merton, Robert K. 35 Miller, Max 51, 53 Moltmann, Jürgen 160 Moos, Thorsten 199, 252f., 257f. Most, Glenn W. 118, 223, 302f. Moxter, Michael 127, 205, 211, 213, 270
415
Müller, Denis 154, 339 Mulsow, Martin 113 Negel, Joachim 126 Neugebauer, Georg 105, 145, 175, 252 Neugebauer, Matthias 313 Neupert-Doppler, Alexander 148 Niebuhr, Richard 248 Nietzsche, Friedrich 23–25, 27, 45, 192, 199, 205, 223f., 323 Nonnenmacher, Burkhard 181 Novalis 136f. Nowak, Kurt 150 Oexle, Otto Gerhard 114, 136 Opel, Angela 129 Oppenheim, Louis 38 Osthövener, Claus-Dieter 142 Otscheret, Elisabeth 28 Ott, Heinrich 301 Otto, Rudolf 175, 187, 220 Pannenberg, Wolfhart 115f. Parrella, Frederick J. 280 Perrottet, Luc 108 Peterson, Abby 54 Peukert, Detlev J. K. 124, 179 Peukert, Helmut 34 Pfleiderer, Georg 135, 137f., 313 Pinggéra, Karl 126 Pinthus, Kurt 123–126, 133 Plickert, Philip 1 Pollack, Detlef 51, 78f. Pollock, Friedrich 267 Portioli, Claudia 154 Potysch, Nicolaus 19 Quent, Matthias 39 Quintilianus, Marcus Fabius 20 Raatz, Georg 199f. Reckwitz, Andreas 50–52, 55, 66–76, 96f., 373–376, 378, 384 Reddig, Melanie 58 Reese, Beate 179 Reese-Schäfer, Walter 63 Reichardt, Rolf 114 Reijnen, Anne Marie 160 Reis, Jack 37
416
Personenregister
Reisz, Frederick Jr. 318 Re Manning, Russel 107f., 110f., 118, 128, 133f., 266 Renner, Kati 178 Richard, Jean 108, 337 Ringleben, Joachim 218, 318, 324 Roberts, Beth Allen 305 Rommelspacher, Birgit 64 Rorty, Richard 62 Rosa, Hartmut 51, 88f., 256f. Rose, Miriam 136 Rosenau, Hartmut 161 Rüstow, Alexander 150 Sabrow, Martin 1 Saint-Simon, Henri de 136f. Saler, Benson 81 Schad, Christian 178 Schäfer, Hilmar 66 Schaffner, Brigitte 149 Scheler, Max 154, 267 Schelling, Friedrich W. J. 131, 158– 162, 165, 168, 170, 208, 215, 220, 231–233, 237, 284, 323, 340 Schleiermacher, Friedrich 82, 141, 152, 174 Schlichter, Rudolf 178 Schmidt, Jacob 66, 79 Schmidtke, Sabine 152 Schmiedel, Ulrich 282 Schmitt, Wolfgang M. 1 Schnerch, Barbara 37 Schnurr, Ansgar 34 Schoeller-Reisch, Donata 270 Schopenhauer, Arthur 155 Schreiber, Gerhard 260, 267f., 270, 303 Schrimpf, Georg 178 Schroer, Markus 63 Schüßler, Werner 106, 120, 127–129, 150, 173–175, 180, 187, 218, 248, 251, 260, 268, 273, 307, 218, 322, 339 Schulz 1, 260, 267f., 270 Schulze, Claudia 223 Schütz, Alfred 70 Schwöbel, Christoph 81, 105–107 Schüz, Peter 187, 301, 313, 318, 326 Schweitzer, Albert 287 Scopes, John T. 296f.
Scudder, Horace Elisha 295 Seelig, Amaresh Markus 218 Shearn, Samuel 107 Siebeneichner, Tilmann 1 Siegers, Pascal 79 Siemons, Mark 2 Simmel, Georg 2, 23, 52, 133, 141, 145, 154–160, 175, 194, 196, 324 Smith, Jonathan Z. 80 Söchtig, Sabrina 209 Soeffner, Hans-Georg 51, 53 Steinacker, Peter 130f. Steinfeld, Thomas 16 Stenger, Mary Ann 107f., 280, 318, 335, 340 Stone, Ronald H. 108, 248 Strauß, Bernhard 28 Strecker, David 88 Streitbörger, Wolfgang 3 Stresemann, Gustav 179 Sturm, Erdmann 104, 120f., 127–129, 132, 136, 141, 145, 150, 154, 173– 175, 180, 182, 199, 218, 248, 251, 260, 268, 281, 318, 324 Sturm, Peter 1 Sydow, Eckart von 128, 130 Tanner, Klaus 149 Thomas, Karin 181 Troeltsch, Ernst 52, 121, 133f., 136, 138, 174, 184, 203 Tucholsky, Kurt 126 Ullrich, Wolfgang 16, 18f., 22–26, 319 Unterburger, Klaus 136 Valéry, Paul 21f., 24, 26 Villa, Paula-Irene 59, 302, 304 Vives, Marc-Luís 33 Voigt, Friedemann 81, 133 Wacker, Grant 296 Wagner, Falk 81f., 84f., 105 Wagner, Richard 141 Wagoner, Bryan 108f., 260, 268 Walter, Franz 150 Watzlawik, Meike 37 Weaver, Matthew Lon 101, 108, 335 Weber, Max 52, 55, 114, 255, 376
Personenregister Wellbery, David E. 223 Wenz, Gunther 81, 104f., 218 Werle, Dirk 116 Wetzel, Christoph 130, 177 Wiesner, Maria 1 Wildt, Michael 124 Williams, Peter W. 297f. Winkler, Susanne 19 Wirsching, Andreas 178f. Wittekind, Folkart 194f., 236f., 250
Wolfers, Arnold 150 Wörn, Katharina 267f. Wriedt, Markus 267 Yip, Francis Ching-Wah 336 Ziegler, René 28 Zinser, Hartmut 80 Zirker, Angelika 19 Zweig, Stefan 179
417
Sachregister Sachregister Sachregister Age of Anxiety 300f. Ambiguität 15, 18, 42–48, 69, 84, 349, 367 – als Krisendiagnose 2, 11, 19, 89 – als Metaterminus 16, 42, 44f., 74, 319 – als Sowohl-als-Auch-Struktur 26, 111, 242, 369 – als Unsicherheit 33, 295 – Analyse von ~ 17, 108–111, 242, 367, 384 – Art der ~ 46f., 370 – Aufbau der ~ 43, 46, 57, 73, 94, 346, 351f., 356, 363, 369 – begrenzte ~ 7, 319, 346, 356f., 363, 367, 384 – Bewertung der ~ 23, 27, 34, 43, 46f., 168, 370f. – der Religion 85, 284, 348, 380, 385 – Funktion der ~ 48 – theologische ~ 4, 9, 77, 367–372, 382 – Umgang mit ~ 21, 34, 47, 63, 70, 86, 363, 371, 374 – Verortung der ~ 23, 28, 34, 45, 57, 59, 69 Ambiguitätsintoleranz 32 Ambiguitätstoleranz 2, 3, 9, 32, 34–36, 41, 79, 295, 334, 362, 378, 382 Ambiguity 7, 284, 319 Ambiguous 283, 341 Ambivalenz 15, 28–34, 38, 44, 56, 65, 74, 90f., 94, 286, 380 Ambivalenzkonflikt 30f. Amphibolie 15, 18, 22, 44, 158 – transzendentale ~ 22 Angst 303, 305 Anthropologie 250f., 261, 267, 291, 354
Antinomie 269, 273f. Antisemitismus 32, 54 Autonomie 151, 162f., 167, 196 Binarität 98, 198, 291, 319, 346, 356f., 363, 369, 384, 386 Dämonische, das 161, 163, 167, 171, 182, 193–195, 236f., 243, 254, 256f., 280, 351, 354 Dämonisierung 185, 192f., 240f., 245f. 264f., 342, 344f., 353, 356, 381, 383 Deutsche Paul-Tillich-Gesellschaft 102 Dialektik 182, 262–265, 274 Dichotomie 33, 42, 57f., 91, 97, 168, 188, 268 Dogmatik 174f., 251, 276f., 281 Dresdener Dogmatik 10, 101f., 104, 121, 173f., 183f., 201, 203, 212, 249 Durchbruch 6, 130f., 151, 186–195, 229, 242, 246, 341, 351, 371 Eindeutigkeit 42, 90, 93–95, 156, 189, 194, 204, 210f., 217–225, 233, 240– 242, 317, 341f., 378 – als Erlösung 238–241, 245 – gefährliche ~ 3, 8, 39, 60, 75, 87, 192f., 241, 341, 345, 348, 356, 358, 374, 385 – ungefährliche ~ 4, 7–9, 97, 192f., 241, 245f., 345, 348, 356, 358, 378, 382, 385 Einheit 102, 122, 125, 130–139, 148, 152, 160, 162, 165f., 169f., 222, 338, 341f., 370 – transzendente ~ unzweideutigen Lebens 340, 358, 370f. Entscheidung 150, 274, 340
Sachregister
419
Erster Weltkrieg 117, 122, 124, 126, 137 Essenz 236, 244, 284, 288, 313, 315, 328, 368 Exil 106, 248, 268, 280f. Existentialismus 25–27, 301, 304 Existenz 236, 238, 244, 254, 284, 288, 313, 315, 328, 352, 368 Existenzphilosophie 143, 250, 263, 272 Expressionismus 10, 117, 122–132, 146, 176, 180, 359
Kritische Theorie 267 Kultur 67, 69, 144, 148, 294, 327, 342 Kulturelle Interferenzen 70, 374 Kulturkritik 329, 332f. Kultursoziologie 67 Kultursynthese 134 Kulturtheologie 131, 140, 145–148, 169, 252, 360
Form 131, 141, 146, 148, 188, 213, 252 Fortschritt 52f., 308, 331f., 376 Fragmentierung 126, 132f., 136, 169 Freiheit 25, 38, 48, 65, 262, 278, 374 Fundamentalismus 79f., 87, 246, 307, 380, 382
Mehrdeutigkeit 29, 45, 57, 74, 89, 92, 94, 97, 374 – konnotative ~ 20 – referentielle ~ 20 – rezeptionsästhetische ~ 20 Methode der Korrelation 118, 247, 281, 293, 304 Mittelalter 136 Moderne 8f., 38, 40, 49, 50–53, 64f., 71f., 74–77, 96f., 126, 153, 336, 347f., 360f., 376f. – als Aktenschrank 55, 58, 373 – zweite ~ 88 Modernetheorien 52, 74 Modernisierung 51f., 124, 126 – reflexive ~ 88 Modernität 51–53 Moralität 327, 342 Mut 221, 233 Mystik 130, 132 Mythos 174, 252, 254, 268
Gabe 228 Gehalt 131, 141, 146, 148, 188, 213, 252 Geist 125, 132, 141, 147, 158f., 288f., 326 – göttlicher ~ 152, 339f. Gewalt 80, 90f., 94, 98, 110, 380 Gläubiger Realismus 180–182, 188– 190, 238, 246, 259–261, 353, 359 Gleichzeitigkeit 3, 7, 29, 40f., 91, 189, Grenze 41, 89–91, 101, 111, 193, 195 Heilig 7, 166–168, 182, 284, 287, 342f. Heteronomie 167 Homogenität 67, 69 Hybridität 66, 73 Identität 35 Indifferenz 46, 79, 86, 94, 246, 380, 382 Individualisierung 51, 71, 88f., 92–94, 133 Kairos 136, 148–153, 169 Kalter Krieg 289f., 299, 333f. Koordinaten 17, 20, 27, 37, 42–48, 75– 77, 96, 113f., 168, 242, 367 Krise 1, 11, 126f. Kritik 259, 267, 291, 294, 309, 354, 371, 384
Leben 109, 312f., 318, 321f., 324 Leitkriterien, siehe Koordinaten
Nationalsozialismus 54, 309, 335, 359, 373, 377 Neue Sachlichkeit 177f., 181f., 249, 359 Neues Sein 340 Neukantianismus 213f., Neurowissenschaften 33f. Offenbarung 163, 184–188, 194f., 344 Oszillierung 46, 157, 170f., 228, 353 Pädagogik 34–37 Paradox 122, 143, 161–168, 170f., 221, 234 Phänomenologie 200, 205–207, 211f.
420
Sachregister
Pluralität 40–42, 44–46, 62, 76, 84, 97, 226, 245, 357, 383–386 Polarität 25, 27, 47, 237, 287f., 313f., 324–326, 355, 368 Postmoderne 51, 60f., 373 Praktiken 66, 68 Praxistheorie 66f. Problemgeschichte 5, 113–119 Profan 167, 182, 193, 343 Profanisierung 185, 190, 192, 196, 220, 241, 265, 342–345, 353, 356, 381, 383 Psychoanalyse 28–33 Rassismus 33, 38, 60 Religion 9, 80, 84, 97f., 138f., 144, 294, 327, 332, 337, 342, 385 – Ambiguitätsaffinität der ~ 84f., 93f. – Wesen der ~ 138f. Religionsbegriff 80–82, 90, 92f., 142, 144, 147, 338f., 344, 361, 381 – existentieller ~ 175 – funktionaler ~ 81 – sinntheoretischer ~ 102, 140–144, 169, 175 – substanzialistischer ~ 81, 379 Religiöser Sozialismus 149, 176, 250, 260, 266 Rhetorik 18f., 228f. Säkularisierungsthese 78f. Säkularismus 308 Schöpfungslehre 218f., 236f., 239f., 244, 263 Schwermut 220, 233 Scopes Trial 296, 299f. Sinn 129–131, 140–144 Solidarität 62 Sozialismus, der 263, 266, 269, 274, 308, 359 – Zweideutigkeit des ~ 263f. Spätmoderne 51 Sprung 233, 273 Sünde 159, 217, 230, 232f., 241, 263, 304f. Sündenlehre 225, 234, 236f., 240, 244, 263, 352 Symbol 128, 162, 166, 174, 186, 195f., 203, 219, 279
System 138, 277f., 292, 331, 361, 363 Systematische Theologie 10, 102f., 249, 251, 281, 293, 304, 307, 310 Tabu 30 Technik 249, 253, 255, 290, 329f., 335, 354 – Zweideutigkeit der ~ 250, 252–259, 288, 290 Theodizee 224 Theologie 118f., 134, 146f., 243, 278, 306 Theologie der Kultur, siehe Kulturtheologie Theologisches Prinzip 138f. Theonomie 148, 151, 167 Tiefe 130, 140, 147, 188, 207, 222f. Totalitarismus 32, 38, 54, 335, 347, 377 Transzendierung 181, 261, 337, 356, 383 Überschreitung 8, 292, 342, 346, 357f., 363 Unbedingte, das 150f., 185f., 222, 224, 229, 240 Unbestimmtheit 3, 15, 19, 43f., 69, 84 Unendlichkeit, innere 205, 207, 227 Unterbestimmtheit 44, 67 Unverfügbarkeit 135f., 151f., 169, 192 Unzweideutige, das 289, 295, 315, 317, 340f., 369f. Ursprung, der 161f., 165, 250, 268– 275, 290f., 359 Vagheit 15, 209, 243 Vereindeutigung 8, 38, 47, 83, 86, 94f., 192, 241, 245f., 345, 348, 356, 358, 377f. Verhüllung 163, 189, 196, 271, 275 Vermittlung 47, 101, 269, 353–355, 371, 384 Vieldeutigkeit 23, 45, 203, 209, 214f., 367, 386 – der Wesenserfassung 203–208, 214f., 226f. Vielfalt 40, 62, 83, 94 Wahrheit 23, 62, 209–211, 243
Sachregister Werkgeschichte 5, 7, 106, 111, 242, 292, 346, 351, 359f., 370, 377 Wertdimension 7, 44, 47, 94, 170, 215, 243, 352, 356f., 363, 370f., Wesenswidrigkeit 217, 235f., 244, 279, 352 Widersprüchlichkeit 37, 46, 80, 84, 171, 213, 323, 328, 346f., 358, 368 Wissenschaftstheorie 145, 197–204 Zeitdiagnose 292, 347, 375f. Zeitgeist 117, 125, 308 Zwanziger Jahre 1, 4, 5, 102, 121, 148, 152, 173, 178f. Zweideutigkeit 2, 5, 15f., 44, 110, 114, 120, 123, 153–158, 209, 214f., 217, 225f., 235, 241, 258f., 290–292, 349–358, 367 – als adaptive Schlüsselkategorie 7, 111, 349f., 363f., 386 – als Entweder-Oder-Struktur 195f., 215, 243, 351 – als Je-Desto-Struktur 210, 212, 215, 243, 314, 351f. – als Kippfigur 243, 258, 265, 351 – als Sowohl-als-Auch-Struktur 229, 242, 249, 258, 291, 351, 369 – als Sphäre 216, 229, 245, 320 – als Sünde 232, 243f. – als Täuschung 23, 25, 154–157, 194 – als Vordergrund-Hintergrund-Struktur 6, 155, 191, 196, 215, 242, 351
421
– der Geschichte 316 – der Offenbarung 185, 193 – der Religion 157, 342, 345, 358, 381 – der Vernunft 312–316 – der Wesenserfassung 198, 203, 208– 215 – der Wirklichkeit 185, 189f. – des Lebens 251f., 285, 289f., 310f., 318, 320, 345, 354 – des Ursprungs 268f., 290, 359 – Grund~ des Lebens 325, 346, 355 – ontologisch-abstrakte Bestimmung der ~ 323, 328f., 346, 355 – ontologisch-konkrete Bestimmung der ~ 325, 346, 355 – ontologische ~ 159, 202 – Ontologisierung der ~ 216, 272 – semantische ~ 18 – sexuelle ~ 228 – syntaktische ~ 18 – Systematisierung der ~ 285, 291, 345–348, 354, 362 – Typologie der ~ 241–247, 351–353 – Umgang mit der ~ 238 – konkrete ~n 326, 328, 330, 346, 355 Zweifel 33, 61, 123, 138, 143, 190 Zweipoligkeit 27, 47, 313, 368, 370, 385 Zweiter Weltkrieg 251, 298, 302