Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven 9783110262377, 9783110262360

This volume examines a comprehensive range of aspects of Paul Tillich's theology of culture from the perspective of

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German Pages 516 Year 2011

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung: Paul Tillichs Theologie der Kultur
A. Die Entwicklung von Tillichs Theologie der Kultur
Protestantismus und Kultur. Systematische und werkbiographische Erwägungen zum Denken Paul Tillichs
Die geistphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs vor dem Hintergrund seiner Schelling- und Husserlrezeption
Die Genese von Tillichs Kulturtheologie in seinen frühesten Texten
Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur
Tillichs Programm einer Theologie der Kultur
Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie. Zur Kulturtheologie des späten Tillich
B. Tillichs Kulturtheologie im Kontext
Absolutheitserfahrung und Individualitätskultur. Zur Epistemologie von Paul Tillichs Kulturtheologie in Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch und Georg Simmel
Religiöses Selbstbewusstsein und kulturelle Form bei Paul Tillich und Karl Barth
Die Religion in der Kultur. Karl Barth und Paul Tillich über die Grundlagen einer Theologie der Kultur
Tillich und die neukantianische Rechtstheorie
C. Problemfelder von Paul Tillichs Theologie der Kultur
Kulturtheologie und hellenistische Philosophie. Zu ihrem Bezug in Paul Tillichs Berliner Vorlesung vom Wintersemester 1920/21
Protestantism as “Gestalt” in Tillich's Analysis of Culture
Paul Tillich and the Academic Culture of Modernity
“A kind of metaphysical dizziness.” Tillich's Theology of Culture and the Encounter with “non-art”
Der Begriff Angst im Kontext der Kulturtheologie Paul Tilichs
D. Perspektiven und Anstöße der Kulturtheologie Tillichs
Gestalten der Praxis – Praxis gestalten. Praktische Theologie nach Paul Tillich
Zur Tillich-Rezeption in der praktisch-theologischen ,Kulturhermeneutik‘
Predigen heißt, am Lebensgefühl zu arbeiten. Zu Paul Tillichs Predigt Dennoch bejaht – You are accepted
Die Bedeutung Tillichs für eine religiöse Kulturanalyse der Gegenwart
Eine Frage der Kultur – eine Kultur der Frage. Ein Versuch zu Paul Tillich und Hans-Georg Gadamer
Tillich's Theology of Culture in the United States: Present and Possible Future Impact
Paul Tillichs Theologie der Kultur: schwierigkeiten und Herausforderungen in der aktuellen Situation
Autorenverzeichnis
Namensregister
Sachregister
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Paul Tillichs Theologie der Kultur: Aspekte – Probleme – Perspektiven
 9783110262377, 9783110262360

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Paul Tillichs Theologie der Kultur

Tillich Research Tillich-Forschungen Recherches sur Tillich

Edited by

Christian Danz, Marc Dumas, Werner Schüßler, Mary Ann Stenger and Erdmann Sturm

Volume 1

De Gruyter

Paul Tillichs Theologie der Kultur Aspekte - Probleme - Perspektiven

Herausgegeben von

Christian Danz und Werner Schüßler

De Gruyter

ISBN 978-3-11-026236-0 e-ISBN 978-3-11-026237-7 ISSN 2192-1938 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Deutsche Paul-Tillich-Gesellschaft. Internationaler Kongress (2nd : 2010 : Universität Wien) Paul Tillichs Theologie der Kultur : Aspekte, Probleme, Perspektiven / Christian Danz, Werner Schüssler (Herausgeber). p. cm. - (Tillich research, ISSN 2192-1938 ; v. 1 = Tillich-Studien) German and English. Includes bibliographical references and indexes. ISBN 978-3-11-026236-0 (hardcover : alk. paper) 1. Tillich, Paul, 1886-1965 - Congresses. 2. Christianity and culture Congresses. I. Danz, Christian. II. Schüssler, Werner. III. Title. BR115.C8D43 2010 2611.1-dc23 2011031408

Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.d-nb.de. ” 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Printing: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegende Band enthält die überarbeiteten und erweiterten Vorträge des Zweiten Internationalen Kongresses der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft e.V., der vom 7. bis 10. Oktober 2010 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien stattgefunden hat. Die Herausgeber danken der Fritz Thyssen Stiftung Köln für die finanzielle Unterstützung des Kongresses und der Drucklegung des Bandes. Weiter gilt unser Dank der Universität Wien sowie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien für ihre Unterstützung. Herrn stud. theol. Alexander Schubach (Wien) haben wir für die Erstellung der Druckvorlage sowie der Register zu danken. Dieser Band bildet gleichzeitig auch den Startband der im Verlag Walter de Gruyter (Berlin/New York) neu begründeten Reihe „Tillich Research/ Tillich-Forschungen/Recherches sur Tillich“. In diesem Zusammenhang möchten wir besonders Herrn Dr. Albrecht Döhnert vom Verlag Walter de Gruyter danken, der die Einrichtung dieser Reihe tatkräftig unterstützt und so zur weiteren Konzentrierung und Profilierung der internationalen Tillich-Forschung beigetragen hat. Wien und Trier, im Mai 2011

Christian Danz und Werner Schüßler

Inhaltsverzeichnis Vorwort …………………………………………………………………….. V CHRISTIAN DANZ/WERNER SCHÜSSLER Einleitung: Paul Tillichs Theologie der Kultur ………………………….. 1

A. Die Entwicklung von Tillichs Theologie der Kultur ULRICH BARTH Protestantismus und Kultur. Systematische und werkbiographische Erwägungen zum Denken Paul Tillichs ………………………………... 13 GEORG NEUGEBAUER Die geistphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs vor dem Hintergrund seiner Schelling- und Husserlrezeption …………….... 38 ERDMANN STURM Die Genese von Tillichs Kulturtheologie in seinen frühesten Texten ….. 64 CLAAS CORDEMANN Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur …………………………………………….. 94 PETER HAIGIS Tillichs Programm einer Theologie der Kultur ……………………….. 128 WERNER SCHÜSSLER Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie. Zur Kulturtheologie des späten Tillich ……………………………………………………... 152

B. Tillichs Kulturtheologie im Kontext FRIEDEMANN VOIGT Absolutheitserfahrung und Individualitätskultur. Zur Epistemologie von Paul Tillichs Kulturtheologie in Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch und Georg Simmel …………………………………………………… 171

VIII

Inhaltsverzeichnis

DIETRICH KORSCH Religiöses Selbstbewusstsein und kulturelle Form bei Paul Tillich und Karl Barth ……………………………………………………….. 193 CHRISTIAN DANZ Die Religion in der Kultur. Karl Barth und Paul Tillich über die Grundlagen einer Theologie der Kultur ……………………………… 211 MICHAEL MOXTER Tillich und die neukantianische Rechtstheorie ………………………... 228

C. Problemfelder von Paul Tillichs Theologie der Kultur STEFAN DIENSTBECK Kulturtheologie und hellenistische Philosophie. Zu ihrem Bezug in Paul Tillichs Berliner Vorlesung vom Wintersemester 1920/21 …………… 251 ANNE MARIE REIJNEN Protestantism as “Gestalt” in Tillich’s Analysis of Culture …………… 279 WESSEL STOKER Paul Tillich and the Academic Culture of Modernity …………………. 293 RUSSELL RE MANNING “A kind of metaphysical dizziness.” Tillich’s Theology of Culture and the Encounter with “non-art” ………………………………………... 311 PETER SCHÜZ Der Begriff Angst im Kontext der Kulturtheologie Paul Tilichs

……… 327

D. Perspektiven und Anstöße der Kulturtheologie Tillichs HANS-GÜNTER HEIMBROCK Gestalten der Praxis – Praxis gestalten. Praktische Theologie nach Paul Tillich …………………………………………………….... 349 ANDREAS KUBIK Zur Tillich-Rezeption in der praktisch-theologischen ‚Kulturhermeneutik‘ ………………………………………………….. 372

Inhaltsverzeichnis

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ILONA NORD Predigen heißt, am Lebensgefühl zu arbeiten. Zu Paul Tillichs Predigt Dennoch bejaht – You are accepted ……………………………………. 403 JÖRG LAUSTER Die Bedeutung Tillichs für eine religiöse Kulturanalyse der Gegenwart

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HARTMUT VON SASS Eine Frage der Kultur – eine Kultur der Frage. Ein Versuch zu Paul Tillich und Hans-Georg Gadamer ………………………………. 436 MARY ANN STENGER Tillich’s Theology of Culture in the United States: Present and Possible Future Impact ………………………………………………. 453 MARC DUMAS Paul Tillichs Theologie der Kultur: Schwierigkeiten und Herausforderungen in der aktuellen Situation ……………………….... 481 Autorenverzeichnis ……………………………………………………….. 491 Namensregister …………………………………………………………… 495 Sachregister ……………………………………………………………….. 499

Einleitung: Paul Tillichs Theologie der Kultur CHRISTIAN DANZ/WERNER SCHÜSSLER Mit dem cultural turn in den Geisteswissenschaften seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist der Kulturbegriff wieder zu einem Leitbegriff geworden, der die Stellung des Gesellschaftsbegriffs geradezu abgelöst hat. 1 Die Ursachen für das neu erwachte Interesse an Kultur sind freilich vielfältiger Natur. Die mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes zutage tretenden kulturellen Konflikte bilden nur einen Aspekt in dieser vielschichtigen Gemengelage. Ein weiterer Grund dafür, dass das Kulturthema auf die Tagesordnung der akademischen, politischen und öffentlichen Diskurse zurückgekehrt ist, liegt in der durch mehrere Schübe ökonomisch bedingter Migration seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verursachten kulturellen und religiösen Pluralisierung Europas. Dadurch wurde die Prägekraft von Religion und religiösen Weltbildern wieder bewusst. Überschaut man die komplexen kulturtheoretischen Debatten der letzten Jahre, dann zeigt sich, dass weithin essentialistische Kulturbegriffe aufgelöst und durch semiotische oder deutungstheoretische Kulturbegriffe ersetzt worden sind. Kulturen werden als komplexe Zeichensysteme rekonstruiert, die das Leben und Erleben von Menschen tiefgreifend bestimmen und prägen. 2 In den neueren Debatten um ein angemessenes Verständnis von Kultur fungiert der Sinnbegriff als ein Grundbegriff ersten Ranges. Die Kulturtheologie Paul Tillichs dürfte für die Wiederkehr des Kulturthemas in den gegenwärtigen akademischen Diskursen und deren Rezeption in der Theologie von geradezu paradigmatischer Bedeutung sein. 3 Tillich hat 1 2 3

Vgl. U. Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003. Siehe hierzu H. Appelsmeyer/E. Billmann-Mahecha (Hg.), Kulturwissenschaft. Felder einer prozessorientierten Praxis, Weilerswist 2001. C. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1987. Tillichs Werke werden in diesem Band durchgehend mit Siglen zitiert (jeweils mit Band- und Seitenangabe): Gesammelte Werke, 14 Bde., hrsg. von R. Albrecht, Stuttgart 1959-1975 = GW. Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken, hrsg. von I. Henel u.a., bisher 16 Bde., Stuttgart, dann Berlin/New York 1971 ff. = EW. Main Works/Hauptwerke, 6 Bde., hrsg. von C. H. Rat-

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Christian Danz/Werner Schüßler

nicht nur zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine kulturtheologische Konzeption vorgelegt, ihm kommt auch das Verdienst zu, als erster Theologe im Rückgriff auf die sinntheoretischen Debatten im Neukantianismus und in der Phänomenologie den Sinnbegriff als methodische Grundlage seiner Religions- und Kulturtheorie ausgearbeitet zu haben. 4 Beide Aspekte sind für die gegenwärtigen Debatten über Religion und Kultur von grundlegender Bedeutung. Die von Paul Tillich ausgearbeitete Kulturtheologie hat ihren problemgeschichtlichen Hintergrund in den Debatten um die Krise der modernen Kultur. Durch die voranschreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert, vor allem durch die Erfahrung der Folgeprobleme beschleunigter Modernisierung, wurde das Kulturthema geradezu zum Fokus der theologischen Debatten. Theologen der unterschiedlichsten Lager rücken um die Jahrhundertwende die Kultur in das Zentrum ihrer theologischen Programme. 5 Nicht nur von Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch wird um 1900 die Theologie als eine Kulturwissenschaft des Christentums ausgearbeitet, sondern auch von konservativ lutherisch ausgerichteten Theologen wie dem Hallenser Martin Kähler. Die christliche Religion wird als eine wichtige Ressource gesehen, welche Gegenkräfte gegen die Krise der modernen Kultur mobilisieren soll. Auch die von dem jungen Tillich ausgearbeitete Kulturtheologie möchte einen Beitrag zur Diagnose der Krisenhaftigkeit der Kultur und zu deren Bewältigung leisten. Tillich hatte sich nicht erst in seinem programmatischen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur 6 , den er am 16. April 1919 vor der Berliner Sektion der Kant-Gesellschaft gehalten hatte, einer theologischen Analyse und Reflexion der Kultur zugewandt. Dieser Vortrag fasst Überlegungen zu einer modernegemäßen Theologie zusammen, welche bis in seine Vorkriegstheologie zurückreichen. So überrascht es wenig, dass sich

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schow, Berlin/New York 1987-1998 = MW. Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 1956-1966 = ST. Religiöse Reden, 3 Bde., Stuttgart 1952-1964 = RR. Siehe dazu U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89-123. Siehe dazu R. vom Bruch/F. W. Graf/G. Hübinger (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaft um 1900. Krise der Moderne und der Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Ders., Ausgewählte Texte, hrsg. von Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 25-41.

Einleitung

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erste Ansätze zu einer Kulturtheologie bereits in Tillichs Schriften aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg finden, welche die Debattenlagen um 1900 aufnehmen. Seine beiden Dissertationen zu der Religions- und Geschichtsphilosophie Schellings arbeiten eine eigenständige Antwort auf die Krise des Historismus aus. 7 So wenig sich das Stichwort Kulturtheologie, wie es von Tillich 1919 programmatisch verwendet wurde, in den frühen Texten findet, so zeichnet sich doch deutlich ein Verständnis von Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums ab, welches seine Zuspitzung in der Bewältigung der Krise des Historismus findet. Mit der von Tillich im Rückgriff auf Schelling ausgearbeiteten Geschichtsphilosophie und vor allem ihrer geistphilosophischen Grundlegung finden sich in den Texten des jungen Tillich bereits grundlegende Aufbauelemente seiner späteren Kulturtheologie. So widmet Tillich in seinem 1913 verfassten Entwurf einer Systematischen Theologie der kulturtheologischen Reflexion einen breiten Raum. 8 In seinen Ausführungen zur Philosophie des Geistes im neunten Paragraphen des ersten Teils der Systematischen Theologie von 1913 entfaltet Tillich auf der Grundlage seiner frühen Geistphilosophie eine förmliche Kulturtheorie. 9 Mit der Ausarbeitung seiner Sinntheorie während und nach dem Ersten Weltkrieg kommt es bei Tillich zu einer Umbildung seiner Theologie und ihrer kulturtheoretischen Implikationen. An die Stelle des identitätstheoretischen Wahrheitsgedankens als Systemgrundlage tritt nun der Sinnbegriff. Die Änderung der tragenden Grundbegriffe des theologischen Systems führen freilich auch zu einer Veränderung der Gesamtkonzeption. Der für die Vorkriegsschriften Tillichs signifikante übergeordnete Bezugsrahmen der absoluten Wahrheit wird abgebaut und in den religiösen Akt selbst verlegt. Tillich hat diese neue Konzeption der systematischen Grundlagen seiner Theologie in dem Briefwechsel mit seinem Freund Emanuel Hirsch in den Jahren 1917 und 1918 diskutiert. 10 Erst 7

P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, EW IX, 154-272. Ders., Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung, GW I, 13-108. 8 P. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 278-434. 9 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 288-290. Siehe auch EW IX, 296-300 (§ 12 Religion, Kultur und Sittlichkeit). 10 Dazu H.-W. Schütte, Subjektivität und System. Zum Briefwechsel Emanuel Hirsch (1888-1972) und Paul Tillich (1886-1965), in: Ch Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004 (= TillichStudien, Bd. 9), 3-22. F. Wittekind, ‚Sinndeutung der Geschichte‘. Zur Entwick-

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Christian Danz/Werner Schüßler

mit der sinntheoretischen Grundlegung der Religionstheorie ist deren kulturtheoretische Erweiterung möglich. Die Kultur wird zum Medium der Religion und die Religion zur Tiefendimension der Kultur. Ihre Differenz liegt, wie Tillich im Anschluss an die Phänomenologie Edmund Husserls sagt, in der Richtung des Geistes. 11 Richtet sich der Geist auf das Unbedingte, dann handelt es sich um Religion, richtet er sich auf die bedingten Formen und deren Totalität, dann handelt es sich um Kultur. Die Verknüpfung von Sinntheorie und Geistphilosophie ist Tillich erst im System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden von 1923 gelungen. Bis dahin arbeitet er diese Verbindung mehr tastend aus, so dass der Sinnbegriff in dem Kulturvortrag von 1919 noch nicht den Status eines Leitbegriffs innehat – was umso mehr verwundert, als er in dem Briefwechsel mit Hirsch aus den Jahren 1917/18 förmlich zum Leitbegriff der Religions- und Kulturtheorie erhoben wird. 12 In den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Tillich auf der methodischen Grundlage seines sinntheoretischen Religions- und Kulturbegriffs seine Kulturtheologie in ihren einzelnen Bestandteilen und Aufbauelementen ausgeführt. Eine Theologie der Kultur, so Tillich in seiner ersten Berliner Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart vom Sommersemester 1919, habe die Aufgabe, „auf Grund der drei Momente des theologischen Princips und unter besonderer Erfüllung des dritten ein religiös begründetes System der Kultur zu entwerfen. Aber“, so Tillich weiter, „dieser synthetischen Aufgabe hat eine analytische voranzugehen. Gemeinsam mit der soziologischen und psychologischen Analyse und doch von einer ganz anderen Seite her hat die theologische die gesamten Gegebenheiten des kulturellen Lebens, die vergangenen und gegenwärtigen, auf ihren religiösen Gehalt zu prüfen.“ 13 In diesem Sinne hatte Tillich lung und Bedeutung von Tillichs Geschichtsphilosophie, in: Ch. Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie, a.a.O. (Anm. 10), 135-172. 11 Zur Husserl-Rezeption Tillichs siehe den Beitrag von Georg Neugebauer in diesem Band. 12 Siehe dazu G. Raatz, Kulturwissenschaft oder Sinnlehre? Zur Genese von Paul Tillichs wissenschaftssystematischem Begriff der Theologie zwischen 1917-1923, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Tillich und Nietzsche, Wien 2008 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 3/2007), 141-173. 13 P. Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, EW XII, 27-213, hier: 68. Zu dem programmatischen Charakter dieser Vorlesung siehe G. Pfleiderer, Kultursynthesen auf dem Katheder. Zur Revision von Troeltschs Soziallehren in Tillichs Berliner Programmvorlesung von 1919, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im

Einleitung

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auch in seinem Vortrag vor der Berliner Kant-Gesellschaft vom Frühjahr 1919 die Grundlinien einer Theologie der Kultur sowie deren gedankliche Aufbauelemente, insbesondere die Unterscheidung von Form und Gehalt, ausgeführt. Dabei soll, wie Tillich in dem Berliner Vortrag darlegt, die Theologie der Kultur die Erfüllung dessen sein, was „in der theologischen Ethik letztlich beabsichtigt war“. 14 Ein gewichtiger Aspekt der frühen Kulturtheologie Tillichs liegt in der Überwindung des antagonistischen Gegensatzes von moderner Kultur und der Schaffung einer „neuen Einheitskultur“. 15 Diese Intention einer religiösen Integration der ausdifferenzierten modernen Kultur arbeitet Tillich nicht nur in seiner programmatischen Berliner Vorlesung vom Sommersemester 1919 aus, sondern auch in anderen Texten aus den 20er Jahren, wie der kulturdiagnostischen Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart aus dem Jahre 1926. 16 Kulturtheologische Reflexionen finden sich nicht nur in Tillichs Frühwerk. Auch in seinem Spätwerk bleiben die moderne Kultur und ihre Probleme der Bezugspunkt von Tillichs Theologie. 17 Zwar tritt die Kulturtheologie in seinem späten Hauptwerk, der dreibändigen Systematischen Theologie, auf den ersten Blick etwas in den Hintergrund, wenn sie von Tillich als eine „Vorbereitung für die Arbeit des systematischen Theologen“ eingestuft wird. (ST I, 50) Unter Kulturtheologie versteht Tillich, wie er hier schreibt, den „Versuch, die Theologie hinter allem kulturellen Ausdruck zu analysieren und das unbedingte Betroffensein im Grunde einer Philosophie, eines politischen Systems, eines Kunststils oder einer Reihe ethischer oder sozialer Prinzipien zu entdecken“ (ebd.). Mit dieser Bestimmung der Theologie der Kultur nimmt Tillich jedoch in seinem Spätwerk grundlegende Motive seiner frühen Konzeption auf und führt sie in der Systemkonzeption der Systematischen Theologie weiter. Insbesondere im dritten Band der Systematischen Theologie, der der Pneumatologie und der Geschichtstheologie gewidmet ist, führt Tillich eine Kulturtheologie auf der Grundlage der von ihm unterschiedenen Lebensfunktionen aus.

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Spiegel neuer Texte (1919-1920), Wien 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 119-136. M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip und Modernitätserfahrung in Paul Tillichs „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“ (1919), in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft., a.a.O. (Anm. 13), 137-154. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, a.a.O. (Anm. 6), 29. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, a.a.O. (Anm. 6), 40. P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, GW X, 9-93. Siehe hierzu den Beitrag von Werner Schüßler in diesem Band.

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Die drei grundlegenden Funktionen des Lebens, Selbst-Integration, SichSchaffen und Selbst-Transzendierung, erscheinen auf der Ebene des menschlichen Geistes als Moral, Kultur und Religion. Auf dieser geistphilosophischen Grundlage entwickelt Tillich in dem abschließenden Band der Systematischen Theologie die Grundzüge einer Kulturphilosophie. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen Tillichs Theologie der Kultur in ihrer gesamten Facettenbreite nach. Sie thematisieren die Genese, den Kontext, die Aufbauelemente sowie die Perspektiven von Tillichs Kulturtheologie. In dieser Breite ist Tillichs Kulturtheologie bislang noch nicht untersucht worden. 18 Die Beiträge des ersten Abschnitts thematisieren die Entwicklung von Tillichs Theologie der Kultur in einer werkgeschichtlichen Perspektive. Ulrich Barth bietet in seinem Beitrag Protestantismus und Kultur einen Überblick über die gesamte werkgeschichtliche Entwicklung von Tillichs Kulturtheologie. Einsetzend mit der frühen Monismusschrift spannt Barth den Bogen bis hin zu den kulturtheologischen Überlegungen im Spätwerk Tillichs. Der transzendentalphilosophischen Reformulierung seiner frühen Schellingdeutung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gelten die Überlegungen von Georg Neugebauer. Auf der Folie von Tillichs Deutung von Schellings Religionsbegriff interpretiert Neugebauer in seinem Beitrag Die geistphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs Tillichs eigenen Religionsbegriff als eine transzendentalphilosophische Rekonstruktion von Schellings absolutheitstheoretischem Religionsbegriff. Die werkgeschichtliche Entwicklung von Tillichs Theologie der Kultur in dessen frühen Schriften untersucht Erdmann Sturm unter dem Titel Die Genese von Tillichs Kulturtheologie in seinen frühesten Texten. Die religionsphilosophischen und insbesondere die sinntheoretischen Grundlagen von Tillichs Theologie beleuchtet Claas Cordemann in seinem Beitrag Religion und Kultur. Peter Haigis thematisiert in seinem Beitrag Tillichs Programm einer Theologie der Kultur die programmatischen Aspekte von Tillichs Theologie. Der Weiterentwicklung von 18 Zu Tillichs Theologie der Kultur siehe G. Kuhlmann, Brunstäd und Tillich. Zum Problem einer Theonomie der Kultur, Tübingen 1928. J.-P. Gabus, Introduction à la théologie de la culture de Paul Tillich, Paris 1969. E. Amelung, Die Gestalt der Liebe. Paul Tillichs Theologie der Kultur, Gütersloh 1972. M. Despland /J.C. Petit/J. Richard (Hg.), Religion et culture. Actes du colloque international du centenaire Paul Tillich. Université Laval, Québec, 18-22 août 1986, Québec 1987. P. Haigis, Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur, Marburg 1998. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000. R. Re Manning, Theology of the End of Culture: Paul Tillich’s Theology of Culture and Art, Leuven 2005.

Einleitung

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Tillichs Kulturtheologie in seiner amerikanischen Zeit geht Werner Schüßler unter dem Titel Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie. Zur Kulturtheologie des späten Tillich nach. Anhand von Tillichs Vorlesung Religion and Culture aus dem Jahre 1955/56 markiert er die Unterschiede zu der frühen kulturtheologischen Konzeption. Tillich hat seine Theologie der Kultur in einer spezifischen Debattenlage zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Der zweite Abschnitt des Bandes Tillichs Kulturtheologie im Kontext untersucht die Genese von Tillichs Konzeption im problemgeschichtlichen Kontext und zeichnet sie in diese Debatten ein. Friedemann Voigt diskutiert Tillichs Kulturtheologie zwischen Ernst Troeltsch und Georg Simmel. Troeltschs Kulturphilosophie und Simmels Diagnose der modernen Kultur werden von Voigt als der Hintergrund herausgearbeitet, an dessen Problemvorgaben sich Tillichs Theologie der Kultur abarbeitet. Tillich hat sich insbesondere in seinen Texten aus den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts intensiv mit den Konzeptionen der Dialektischen Theologie beschäftigt. Der Auseinandersetzung Tillichs mit Karl Barths Theologie gehen die Beiträge von Dietrich Korsch und Christian Danz nach. Korsch untersucht unter dem Titel Religiöses Selbstbewusstsein und kulturelle Form bei Paul Tillich und Karl Barth die Aufbauelemente von Tillichs und Barths Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Kultur. Wie Korsch so rückt auch Danz in seinem Beitrag Die Religion in der Kultur die Kontroverse zwischen Tillich und Barth in die Problemgeschichte der modernen protestantischen Theologie ein. Seinen programmatischen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur hatte Tillich 1919 zusammen mit Gustav Radbruchs Beitrag Über die Religionsphilosophie des Rechts publiziert. 19 Tillichs eigenes Rechtsverständnis im Kontext der neukantianischen Rechtsdebatten thematisiert Michael Moxter. Unter der Themenstellung Tillich und die neukantianische Rechtstheorie geht er Tillichs Ausführungen zum Rechtsbegriff in seinem System der Wissenschaften von 1923 auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatten nach. Im dritten Abschnitt des vorliegenden Bandes Problemfelder von Paul Tillichs Theologie der Kultur werden die einzelnen Aufbauelemente und Themenfelder von Tillichs Kulturtheologie untersucht. Tillichs kulturphilosophische Reflexionen beziehen sich keineswegs nur auf die moderne Gegenwartskultur. In seinen Berliner Vorlesungen über die antike Philo19 Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe von Gustav Radbruch und Paul Tillich, Berlin 1919.

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sophie finden sich nicht nur Überlegungen zu den sinntheoretischen Aufbauelementen der Kulturtheologie, sondern auch Rekonstruktionen der antiken Philosophie als Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung. Stefan Dienstbeck geht in seinem Beitrag Kulturtheologie und hellenistische Philosophie den kulturtheologischen Aspekten in Tillichs Berliner Vorlesung Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie vom Wintersemester 1920/21 nach. Anne Marie Reijnen thematisiert in ihrem Beitrag Protestantism as “Gestalt” in Tillich’s Analysis of Culture das Gestaltungsproblem von Tillichs Kulturtheologie. Das von Tillich 1923 publizierte System der Wissenschaften stellt einen gewichtigen Beitrag zur kulturphilosophischen Debatte der damaligen Zeit dar. Wessel Stoker untersucht unter dem Titel Paul Tillich and the Academic Culture of Modernity Tillichs Wissenschaftssystem und dessen Fortführung in der späten Systematischen Theologie. Tillich hatte in seiner Kulturtheologie jedoch nicht nur die Wissenschaftskultur der Moderne einbezogen, sondern auch die moderne Kunst. Immer wieder ist Tillich auf die moderne Kunst und ihren religiösen Gehalt in seinen Schriften eingegangen. Tillichs Verständnis der Kunst diskutiert Russel Re Manning in seinem Beitrag “A kind of metaphysical dizziness.” Tillich’s Theology of Culture and the Encounter with “non-art”. Peter Schüz geht in seinen Ausführungen zum Begriff der Angst im Kontext der Kulturtheologie Tillichs auf einen grundlegenden Aspekt von Tillichs Diagnose der modernen Kultur ein, nämlich das Phänomen Angst. Der abschließende vierte Abschnitt des Bandes diskutiert Perspektiven und Anstöße der Kulturtheologie Tillichs für die gegenwärtigen Diskussionsfelder. Der Bedeutung Tillichs für die gegenwärtigen Anforderungen der praktischen Theologie geht Günter Heimbrock in seinem Beitrag Gestalten der Praxis – Praxis gestalten. Praktische Theologie nach Paul Tillich nach. Das Stichwort Kulturhermeneutik spielt in den gegenwärtigen Diskussionen der praktischen Theologie eine zentrale Rolle. Diese Perspektive greift Andreas Kubik auf und lotet Leistungen und Grenzen der Tillich-Rezeption in der ‚Theologischen Kulturhermeneutik‘ aus. Einen wichtigen Bestandteil des Werkes von Tillich bilden seine Religiösen Reden, die in der Forschung bisher eher am Rande untersucht wurden. In ihrem Beitrag Predigen heißt, am Lebensgefühl zu arbeiten. Zu Paul Tillichs Predigt „Dennoch bejaht“ – “You are accepted” geht Ilona Nord einem Grundmotiv von Tillichs Predigttheorie nach. Jörg Lauster thematisiert die Anstöße für eine gegenwärtige Religionshermeneutik, die von der Kulturtheologie Tillichs ausgehen, unter der Leitperspektive Die Bedeu-

Einleitung

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tung Tillichs für eine religiöse Kulturanalyse der Gegenwart. Die hermeneutischen Implikationen der Theologie Tillichs nimmt Hartmut von Sass in seinem Beitrag Eine Frage der Kultur – eine Kultur der Frage auf. Von Sass diskutiert Tillichs Methode der Korrelation auf dem Hintergrund der Hermeneutik von Hans Georg Gadamer. Die Wirkung und Rezeption von Tillichs Kulturtheologie in den USA verdeutlicht Mary Ann Stenger. Unter dem Titel Tillich’s Theology of Culture in the United States: Present and Possible Future Impact analysiert sie die Tillich-Rezeption in den USA. Marc Dumas schließlich stellt in seinem Beitrag Paul Tillichs Theologie der Kultur: Schwierigkeiten und Herausforderungen in der aktuellen Situation die Theologie Tillichs in den Kontext der gegenwärtigen globalen theologischen Herausforderungen.

A. Die Entwicklung von Tillichs Theologie der Kultur

Protestantismus und Kultur. Systematische und werkbiographische Erwägungen zum Denken Paul Tillichs ULRICH BARTH Wesensfragen oder Wesensbestimmungen – und um solche geht es im Folgenden – haben im gegenwärtigen akademischen Diskurs keine Konjunktur. Die Skepsis ist groß, dass sich allzu leicht Normativitätsmuster, Hypostasierungen und Essentialismen in die Stoffbehandlung einschleichen. Die Gegenstrategien lauten daher ‚Dekonstruktion‘, ‚Inventing of Tradition‘, ‚Narrativität‘. Nun ist unstrittig, dass derartige Vorbehalte nicht aus der Luft gegriffen sind. Sie erweisen sich vor allem dort als angebracht, wo geistes- oder kulturwissenschaftliche Untersuchungen den Schein zu erwecken suchen, es gehe ausschließlich um die Darlegung von Fakten und um weiter nichts. Denn gerade die Ausblendung grundsätzlicher Methodenreflexionen leistet der Reifizierung der verwendeten Begriffe Vorschub. Auf Paul Tillich und den Kreis derer, denen er sich methodologisch verpflichtet wusste, trifft jener Einwand indes nicht zu. Ich denke an Forscher wie Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Max Weber und Ernst Troeltsch. Mit einigen von ihnen hat er sich sogar ausgesprochen intensiv auseinandergesetzt. Daraus hervorgegangen ist eine Theorie der Geisteswissenschaften, die sich sehen lässt. Erinnert sei an die Vorlesungen zu Beginn der Berliner Lehrtätigkeit, die Enzyklopädie von 1923, die Marburger Prolegomena von 1925 und die Religionsphilosophie selbigen Jahres. Sie ergeben ein durchaus einheitliches Bild. Für Tillich setzen sich die Geisteswissenschaften (und mit ihnen Religionsforschung und Theologie) aus drei methodischen Schritten zusammen, 1 die jeweils eine eigene Unterdisziplin bilden: erstens Kategorienlehre, die die zur Anwendung gelangenden Formprinzipien thematisiert; 1

Vgl. EW XII, 259-296; EW XII, 348-362; GW I, 218-230. P. Tillich, Dogmatik. Marburger Vorlesung von 1925, hrsg. von W. Schüßler, Düsseldorf 1986, 25-126 (die tatsächlich in Marburg vorgetragenen Prolegomena), darin 109-116. GW I, 300 f.

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zweitens Geschichtsdarstellung, die auf der Basis und mit Hilfe jenes Instrumentariums die Genese des jeweiligen Phänomenbereichs beschreibt; und drittens Normwissenschaft, die den gegenwartsrelevanten Ertrag der beiden anderen Behandlungsweisen selektiv bündelt. Der normative Charakter dieser dritten Teildisziplin rührt daher, dass hier Dihairesen und Sythesen, Zuordnungen und Abgrenzungen vollzogen werden, die zwangsläufig inhaltliche Gewichtungen enthalten und als solche auch bewusst vollzogen werden müssen. ‚Normativ‘ bedeutet in diesem Fall nicht ‚präskriptiv‘, sondern eher soviel wie ‚evaluativ‘. All diese methodologischen Überlegungen sind stillschweigend vorausgesetzt, wenn im Folgenden Tillichs Verständnis der Beziehung von Protestantismus und Kultur zu erörtern sein wird. Meine Ausführungen werden zwei Teile haben. Ich beginne mit dem erstgenannten Begriff und leite von hier zum zweiten über, wobei das Verhältnis beider im Vordergrund stehen soll.

1. In der letzten Monographie vor dem Exil – sie wurde unmittelbar nach Erscheinen aus politischen Gründen eingestampft und erst im Jahre 1948 wieder veröffentlicht – verweist Tillich für seine „Herausarbeitung eines protestantischen Prinzips“ (GW II, 234) insbesondere auf drei Schriften: Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung (1929), Religiöse Verwirklichung (1930) sowie Protestantisches Prinzip und proletarische Situation (1931). Darum konnte in der Rezeptionsgeschichte oder Sekundärliteratur der Eindruck entstehen, Tillich habe sein „protestantische[s] Selbstverständnis“ erst „in der zweiten Hälfte der 20er Jahre […] eigens thematisiert“. 2 Aus der Art der dortigen Darlegung und Zuspitzung der Argumente konnte man den Schluss ziehen, dieses Konzept ließe sich „nur auf dem Hintergrund eines neoorthodox-barthianisch geprägten theologischen Zeitgeistes adäquat würdigen“. 3 Eine derartige Lesart war auf der Basis der durch die ‚Gesammelten Werke‘ bereitgestellten Texte in der Tat möglich. Heute erweist sie sich hingegen als einseitig oder verfehlt. Das durch Gert Hummel und insbesondere Erdmann Sturm edierte Nachlassmaterial lässt erkennen, dass Tillichs Protestantismustheorie bis in die Frühzeit seines 2 3

M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000, 17. G. Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979, 34.

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Denkens zurückreicht und bereits dort ihre entscheidenden Konturen empfing. Ich werde im Folgenden die werkgeschichtlichen Stationen nacheinander durchgehen, um auf diese Weise an den Diskussionstand der 20er Jahre heranzuführen. Die ersten Ansätze zu Tillichs Protestantismusdeutung finden wir in der systematischen Hausarbeit zum ersten theologischen Examen. Ihre Konzeption und Niederschrift erfolgte im Sommer und Herbst 1908. Bereits hier finden wir die charakteristischen Merkmale des späteren Konzepts: Erstens, das theologische Fundament bilden zum einen der reformatorische „Rechtfertigungsgedanke“, zum andern das „Kreuz“ Christi. 4 Zweitens, den inhaltlichen Grund ihrer Zusammenstellung bildet der Sachverhalt, dass es in beiden Fällen sowohl um die „absolute Kritik der Sünde“ wie um die „absolute Aufrichtung des göttlichen Willens als Gnade“ geht (EW IX, 89 f.). Drittens, besagtes Zugleich von Gericht und Vergebung bzw. Destruktion und Neukonstruktion besitzt den formalen Status einer „Paradoxie“ (EW IX, 151). Alle drei Bestimmungen kehren – gerade auch in ihrer systematischen Verknüpfung – in der Folgezeit wieder. So spricht beispielsweise die philosophische Dissertation im Anschluss an 1 Kor 1, 18 von der „absolute[n] Paradoxie des Kreuzes Christi“ (EW IX, 187), und die theologische Dissertation von 1912 bezeichnet als „das eigentlich Religiöse“ der Religion „die Paradoxie des Glaubens“ (GW I, 32). In der 1936 erschienenen Autobiographie Auf der Grenze führt Tillich die Entdeckung der Paradoxie des Rechtfertigungsgedankens auf den Einfluss seines Lehrers Martin Kähler zurück. Doch hier hat sich offenbar eine Verwechselung in die Erinnerung an die Hallenser Zeit eingeschlichen. Wohl bildet jener paulinisch-lutherische Gedanke das Fundament von Kählers systematischem Hauptwerk Die Wissenschaft der christlichen Lehre, das im selben Jahr, als Tillich nach Halle ging, in dritter Auflage erschien. Darüber hinaus dürfte Kähler auch in der Vorlesung nachdrücklich auf ihn verwiesen haben. Doch der Paradoxgedanke kommt in jenem Werk nicht vor. Stattdessen erfahren wir aus anderen Dokumenten – ich erinnere an Tillichs Briefwechsel mit Thomas Mann 5 4 5

Auch die Breslauer philosophische Dissertation von 1910 bringt Schellings Rede von der „Gabe der Rechtfertigung“ mit dessen Behandlung des Werks Christi, insbesondere „Opfertod“ und „Auferstehung“, zusammen (EW IX, 227). Zum Hintergrund vgl. Ch. Schwöbel, Thomas Mann, Paul Tillich und Halle, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919-1920), Wien 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 1936.

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vom März 1943 –, dass die Entdeckung der infrage stehenden Kategorie zwar noch in Halle, aber in einem ganz anderen Zusammenhang erfolgte (GW XIII, 24). Auf Anregung eines Freundes und Kommilitonen, Hermann Schafft, 6 fand sich ein studentischer Lesekreis zusammen, der sich mit Schriften Kierkegaards befasste. Nicht zuletzt dessen Paradoxgedanke scheint die Teilnehmer fasziniert zu haben, weil er quer lag zum vermittlungstheologischen Gesamtklima der Fakultät. Auch während der Berliner Pfarrverweser- und Promotionszeit hat Tillich hin und wieder zu Kierkegaard gegriffen (EW V, 72). Wie umfangreich und intensiv diese Lektüre war, lässt sich allerdings nicht mehr feststellen. Immerhin weist die theologische Dissertation bezüglich des Sündenverständnisses auf Kierkegards Krankheit zum Tode hin (GW I, 20-23). Zu einem ausführlicheren Kierkegaard-Studium ist Tillich aber wohl erst in den 30er Jahren im Zuge seiner Beschäftigung mit dem philosophischen Existentialismus gelangt. Für den vorliegenden Zusammenhang bleibt jedenfalls festzuhalten, dass die bereits 1908 erfolgte Verknüpfung von reformatorischer Rechtfertigungslehre und Kierkegaards Paradoxbegriff anscheinend Tillichs eigene Entdeckung darstellt. Sie erwies sich in seiner weiteren Entwicklung als systematisch außerordentlich folgenreich. Eine bewerkenswerte Erweiterung dieses Ansatzes findet sich in den Thesen der sogenannten Kasseler Pfingstkonferenz von 1911. Deren primäres Beweisziel bestand bekanntlich in der Widerlegung einer auf das Bild des historischen Jesus gegründeten Glaubensgewissheit, wie sie vor allem Wilhelm Herrmann vertrat. Innerhalb des höchst vielschichtigen Argumentationsgangs ist an zwei Stellen auch von der Rechtfertigungslehre die Rede. These 116 zieht sie als dogmatische Bestätigung der Herrmann-Widerlegung heran. These 111 – für uns die wichtigere – setzt sie zum neuzeitlichen Prinzip der Autonomie in Beziehung, und zwar als partiell kritische Instanz. Tillich erblickt in ihr keineswegs das strikte Gegenprinzip zu letzterem. Wohl aber betont er, dass sie jedem Versuch „zuwider“ sei, die Bedingungen der Identität des menschlichen Geistes mit dem Absoluten aus sich selbst zu „schaffen“. Derartige Anstrengungen bezeichnet er darum als „Störungen der Autonomie“. Umgekehrt wird zugleich die „Unmöglichkeit dauernder Heteronomie“ (These 114) hervorgehoben (MW VI, 32 f.). Bereits hier wird das Ziel einer mit der Rechtfertigungslehre kompatiblen Synthese von Autonomie und Hetero6

Vgl. Tillichs Geleitwort für Hermann Schafft von 1960 (GW XIII, 27-33, hier: 299).

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nomie erkennbar, die später unter den Begriff der ‚Theonomie‘ gefasst wird – ein Ausdruck, den er vermutlich von Martin Kähler übernommen hat, 7 dem Gehalt nach jedoch anders füllte. Den entscheidenden Schritt zur Etablierung der Rechtfertigungslehre als theologisches Prinzip bildet die aus der apologetischen Arbeit der sogenannten Vernunft-Abende hervorgegangene Systematische Theologie von 1913 (EW IX, 273-434). Setzt man sie zum sinntheoretischen Konzept der 20er Jahre und zum ontologischen Konzept des Spätwerks in Beziehung, dann wäre es am angemessensten, ihre Zugangsweise als wahrheitstheoretisch zu charakterisieren. Sehr viel schwerer ist der methodische Aufriss zu durchschauen. Er wurde jüngst als „identitätsphilosophische Grundlegung der Theologie“ und diesbezüglich als repräsentativ für Tillichs „Vorkriegstheologie“ eingestuft. 8 Dieses Urteil scheint mir nur partiell richtig zu sein. Die apologetische Exposition des Systems erfolgt bekanntlich in einem Dreischritt. Im Hinblick auf die erste Position (§§ 1-15) kann man in der Tat von einer identitätsphilosophischen Grundlegung sprechen: Aus dem Wahrheitsgedanken folgt für Tillich unmittelbar „die absolute Identität von Denken und Wahrheit als Prinzip des Denkens“ (EW IX, 281). Die zweite Position (§§ 16-21) hingegen führt sogleich das Gegenprinzip ein, die Reflexion als Ort der Relativität und des Widerspruchs. Die dritte Position (§§ 22-29) schließlich vereinigt den absoluten und den relativen Standpunkt. Georg Neugebauer hat gezeigt, dass dieser Aufbau ziemlich genau der theologischen Schellingpromotion entspricht, die ebenfalls mit einem Dreischritt arbeitet, symbolisiert durch die Begriffe Mystik, Schuldbewusstsein sowie Synthese von Mystik und Schuldbewusstsein. 9 Man könnte auch an die Abfolge der drei Grundsätze in Fichtes früher Wissenschaftslehre denken – wie überhaupt die Frage der Beeinflussung von Tillichs 7

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Vgl. M. Kähler, Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt, Nachdruck der 3. Auflage (1905), Waltrop 1994, 142; zur Sache vgl. 481-483. 500 f. – Der Name Kähler wird in der TillichDarstellung bei F. W. Graf (Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie, Gütersloh 1987, 20-23) nicht erwähnt. Ch. Danz, Glaube und Autonomie. Zur Deutung der Rechtfertigungslehre bei Karl Holl und Paul Tillich, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Wie viel Vernunft braucht der Glaube?, Wien 2005 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 1/2005), 159-174, hier: 159. Vgl. G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 263.

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Schellingverständnis vonseiten seines durch Fritz Medicus vermittelten Fichtebildes noch nicht zureichend erforscht ist. Ich erinnere daran, dass bei Fichte keineswegs der erste Grundsatz allein, vielmehr das Gefüge aller drei Grundsätze die Basis des Systems verkörpert. Selbiges lässt sich von Tillichs Einführung der drei Positionen bezüglich des darauf gegründeten theologischen Gesamtsystems (EW IX, 328-425) behaupten. Jedenfalls wird man im Hinblick auf den Entwurf von 1913 durchaus von einem Gleichgewicht von identitätsphilosophischen und negativitätstheoretischen 10 Komponenten zu sprechen haben. Erst aus beiden zusammen ergibt sich die eigentümliche Spannung ihrer Synthese, die von Tillich auch als „Rückkehr des Verstandes zur Vernunft“ (EW IX, 315) beschrieben werden kann. Für unsere Fragestellung am wichtigsten ist die dritte jener drei Systemprämissen. Ihre Exposition wird eingeleitet durch Ausführungen über ‚Das Paradox‘ (§ 22). Letzteres wird seiner Form nach wie in der Examensarbeit als ein zugleich kritisches und konstruktives Prinzip bestimmt und diesbezüglich an der Christologie und Rechtfertigungslehre illustriert. Der Explikationshorizont ist – dem Zweck der Systemgrundlegung entsprechend – jetzt freilich ins Allgemeine gewendet. Das Paradox als theologisches Prinzip besagt: „Der absolute und der relative Standpunkt stehen einander so gegenüber, daß der relative von dem absoluten zugleich getragen und zerstört wird.“ Die Zuordnung beider Beziehungen muss nun aber zwei mögliche Fehldeutungen ausschließen, zum einen, dass es sich um ein Wechselbestimmungsverhältnis formal gleichrangiger Momente handle, zum andern, dass das Negationselement zu einem bloßen Durchgangsmoment absoluter Vermittlung herabsänke. Im Hintergrund stehen offenkundig die alternativen Synthesismodelle Fichtes und Hegels, die beide als ungeeignet zur Entfaltung des Paradoxgedankens erachtet werden. Stattdessen favorisiert Tillich das Modell einer Spannungseinheit, die die bleibende Bedeutung des Negationsmoments wahrt, zugleich aber die Dominanz des Identitätsprinzips sicherstellt. Jene Gegenläufigkeit des Getragen- und Zerstörtwerdens „verlangt um der Absolutheit des absoluten Standpunktes willen eine Überwindung; denn nur darin kann er sich als absolut erweisen, daß er seinen Widerspruch […] positiv in sich aufnimmt, ohne ihn doch seiner dialektischen Selbständigkeit zu berauben“ (EW IX, 314 f.). Das Paradox zeichnet sich somit durch eine „Synthesis“ 10 Die Einführung des Negationsprinzips als eines gegenüber dem Identitätsprinzip formal selbständigen Aufbaumoments von Systemen hat selbst Hegel als fichtesche Entdeckung (‚Entgegensetzen‘, ‚Nicht- Ich‘) würdigen können.

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(EW IX, 317) aus, die den ihm immanenten Widerspruch aufrecht erhält, aber gleichwohl dem Identitätsprinzip als dessen Ermöglichungsbedingung den Vorrang zuerkennt. Das theologische Äquivalent dazu bildet der in der antithetischen Einheit von Gericht und Gnade sich realisierende Akt der Rechtfertigung. Tillich räumt allerdings ein – und dies ist für die Einschätzung der Anregungen durch Kähler nicht minder aufschlussreich –, dass die „hier gegebene Fassung“ der Rechtfertigungslehre „weiter [ist] als die gewöhnliche, die sich mit der Gleichung Rechtfertigung = Vergebung der Sünden begnügt“ (EW IX, 320). Man könnte also von einer prinzipientheoretischen oder spekulativen Aufwertung der Rechtfertigungslehre sprechen. Jedenfalls fällt auf, dass Tillich nicht nur hier, sondern auch in der Folgezeit, wenn es um die Darlegung seiner eigenen Position geht, statt von Rechtfertigungslehre vorzugsweise vom Rechtfertigungsgedanken spricht. Dessen Strukturisomorphie zum Paradoxbegriff besteht darin, dass im göttlichen Urteil über alles Bedingte und Relative selbiges „zugleich absolut verneint und absolut bejaht wird“ (EW IX, 318). Die Einheit von absolutem Nein und absolutem Ja bildet für Tillich die begriffliche Zusammenfassung des prinzipientheoretischen Gehalts des Rechtfertigungsgedankens. Von ihr war bereits in der philosophischen und theologischen Dissertation die Rede – in ersterer unter Berufung auf Schelling (EW IX, 167. 187), in letzterer mit dem zusätzlichen Hinweis auf Wilhelm Lütgert, der im Unterschied zum Schwebecharakter religiösen Ahnens das Wesen des göttlichen Geistes als „‚Sieg des Ja über das Nein‘“ bezeichnete (GW I, 31; Anm. 20). Jenes spekulative Konzentrat des Rechtfertigungsgedankens verdichtet sich spätestens ab 1913 zu einer stehenden Formel und fungiert dann geradezu als eiserne Ration Tillichschen Denkens. Das besagt: Wo immer das Kürzel ‚Ja/Nein‘ begegnet, nicht nur innerhalb der Dogmatik, sondern auch in kultur-, geist-, sinn- und symboltheoretischen Kontexten, haben wir es explizit oder implizit mit rechtfertigungstheologischen Prämissen zu tun. Insofern reicht das spekulative Potential dieses Lehrstücks weit über die Problemsphäre hinaus, die wir zunächst mit ihm in Verbindung bringen würden. Wie in der Examensarbeit finden wir auch im Entwurf von 1913 noch eine zweite prinzipielle Ausdrucksgestalt des Paradoxes, nämlich die Christologie. Was vormals noch eher thetisch formuliert war, empfängt nun jedoch seine begriffliche Ausdifferenzierung und Begründung. Erstens, beide Paradoxgestalten liegen für Tillich nicht auf derselben systematischen Ebene. Vielmehr kommt dem eben Dargelegten eindeutig die Prio-

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rität zu. „Auch das christologische Urteil steht unter dem Rechtfertigungsgedanken.“ (EW IX, 322) Diese Unterordnung ergibt sich für Tillich keineswegs aus inhaltlichen Gründen, sondern resultiert allein aus der strukturellen Bedeutung des Letzteren. Im Rechtfertigungsgedanken ist das theologische Prinzip „als allgemeines“ festgehalten (EW IX, 318). Demgegenüber handelt es sich im Fall der Christologie um die Vergegenwärtigung seines „konkreten Moments“ (EW IX, 321). Der Ausdruck ‚konkret‘ besagt hier: In der Person Jesu als dem Christus wird das Paradox in der Geschichte anschaulich. Rechtfertigungsgedanke und Christologie verhalten sich wie „abstrakte Gewißheit“ und geschichtliche bzw. „konkrete Realisierung“ (EW IX, 323). Erst durch diese Abstufung ist der Rechtfertigungsgedanke in den Rang erhoben, der ihn dann zum protestantischen Prinzip qualifizieren wird. Aus jener Unterordnung erwächst für Tillich, zweitens, aber zugleich ein Kriterium für die Durchführung der Christologie. Letztere gelangt erst dort zu adäquater Gestalt, wo sie sich als „Predigt vom Kreuz“ artkuliert. Allein auf diese Weise vermag sie dem Negationsmoment des Paradoxes Rechnung zu tragen. „Am Kreuz stirbt alles Konkrete, das sich verabsolutieren will, auch die Konkretheit des Erlösers.“ (EW IX, 322) Das Erbe Luthers und Kierkegaards ist gleichsam in einen spekulativen Rahmen eingefügt. Man verkürzt darum Tillichs reife Christologie, wenn man sie primär vom Logosgedanken, vom offenbarungstheologischen Geschichtsbegriff oder von der Kategorie des Neuen Seins her versteht. Die theologia crucis bildet vielmehr einen integralen Bestandteil von Tillichs JesusBild. Ich erinnere beispielsweise an die häufig übersehenen, systematisch jedoch außerordentlich bedeutsamen Darlegungen am Ende der Prolegomena der späten Systematischen Theologie, die sich dadurch auszeichnen, dass sie Kreuzestheologie und Symboltheorie förmlich miteinander verschränken. 11 Doch zurück zu unserem Thema. Im Entwurf von 1913 fällt merkwürdigerweise kein einziges Mal das Stichwort ‚Protestantismus‘, obwohl dessen Grundartikel ausgiebig verhandelt und ausgewertet wird. Dies ändert sich mit der großen Studie über Rechtfertigung und Zweifel, die Tillich im Sommer 1919 als Gedankenexposé entwarf – ursprünglich in der Absicht, sich damit der Berliner Theologischen Fakultät vorzustellen, die ihn zu Beginn des Jahres als Privatdo-

11 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie I/II, Nachdruck der 8. Auflage (1984), Berlin/New York 1987, I, 159-164.

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zenten aufgenommen hatte (EW X, 127-230). 12 Das im Titel genannte Thema wurde dann im Gießener Vortrag von 1924 erneut aufgegriffen (GW VIII, 85-100). Für unseren Zusammenhang wichtiger sind indes die im Bewerbungsexposé behandelten Vorfragen. Tillich spricht von einem „doppelte[n] Grundproblem“ (EW X, 185), dessen Gedankenreihen sich allerdings mannigfach kreuzen. Die eine Seite betrifft die „problematische Lage des gegenwärtigen Protestantismus“ (EW X, 129), die andere das innerdogmatische Problem, ob der Protestantismus überhaupt über ein einheitliches Prinzip verfügt. Beginnen wir mit Letzterem. Den Anlass zu seiner Behandlung bildet die im 19. Jahrhundert aufgekommene sogenannte Zwei-Prinzipien-Lehre, wonach die Lehre von der heiligen Schrift das Formalprinzip, die Rechtfertigungslehre hingegen das Materialprinzip des Protestantismus darstelle. Tillich hält die prinzipientheoretische Verortung der Fragestellung für grundsätzlich richtig, die dort gegebene Antwort hingegen für verfehlt. Er teilt die traditionskritische Auffassung Albrecht Ritschls, dass die Rechtfertigungslehre im Altprotestantismus nicht die beherrschende Stellung erlangt habe, die ihr von Luther zugedacht war, sondern durch das (nach)reformatorische Schriftprinzip verdrängt worden sei, sodass sie zu einem Lehrstück unter anderen wurde. Den Vertretern der Ritschl-Schule hingegen wirft Tillich vor, dass sie zwar die Spitzenstellung der Rechtfertigungslehre zu wahren vermochten, jedoch nur um den Preis, dass deren Durchführung heterogenen Prämissen unterworfen wurde. „Es liegt nun aber im Wesen des Prinzips, daß es keine Voraussetzungen, sondern nur Konsequenzen in sich entwickeln kann.“ (EW X, 142) Das partielle Recht einer Zwei-PrinzipienLehre wiederum erblickt Tillich darin, dass der auf individuelle Gewissheit abzielende Rechtfertigungsartikel einer objektiven Verankerung bedarf, um nicht völlig im Subjektiven aufzugehen. Es bedarf eines Prinzips, „das jede mögliche Form der Subjektivität unter sich enthält, ohne selbst von der Subjektivität angetastet zu werden“ (EW X, 134). Zur Erbringung dieser Funktion erscheint ihm das Schriftprinzip aus heutiger Sicht indes als gänzlich ungeeignet. Zum einen hat die historisch-kritische Bibelforschung dessen Stellung weitgehend unterminiert, zum andern führt seine Etablierung als gleichrangiges Korrektiv zu einem offenkundigen Prinzipiendualismus. Dieser sei aber schon aus logischen Gründen inakzeptabel. 12 Vgl. G. Wenz, Rechtfertigung und Zweifel. Tillichs Entwurf zur Begründung eines theologischen Prinzips von 1919 im halle-wittenbergischen Kontext, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 5), 85116.

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„Von zwei angeblichen Principien kann in Wahrheit nur eins oder gar keins Princip sein.“ (EW X, 133) Umgekehrt sei – ebenfalls aus logischen Gründen – im Auge zu behalten, dass aus einem einzigen Prinzip allein nichts folgt. Demnach komme als Prinzipienstruktur des Protestantismus ausschließlich ein „Monismus“ infrage, der sich selbst „dualistisch aktualisiert“ (EW X, 134). Genau an der Stelle wird der bereits 1913 entwickelte Paradox-Gedanke eingeführt, weil er nicht nur die zuletzt aufgestellte Bedingung, sondern auch alle zuvor genannten erfüllt. Der monistischdualistische Zwittercharakter des absoluten Paradoxes ist für Tillich im Übrigen auch der entscheidende Grund, weshalb er der Ritschlschen These beipflichtet, dass das göttliche Rechtfertigungsurteil synthetischen Charakter besitzt. In der genaueren Profilierung jener Kategorie – nun ausdrücklich als „Princip des Protestantismus“ (EW X, 129) bezeichnet – setzt Tillich allerdings etwas andere Akzente als 1913. Luther hat den Rechtfertigungsbegriff bekanntlich nach zwei Seiten näher bestimmt, zum einen als Rechtfertigung allein durch den Glauben, zum anderen als Rechtfertigung allein aus Gnade. Für die Einordnung des Parodoxgedankens in den vorliegenden Zusammenhang ist die erste Bestimmung maßgebend. Mit dem absoluten Nein über die Sünde und dem absoluten Ja zur Person des Sünders ist für Tillich nurmehr der „letzte Gehalt“ (EW X, 141) des einheitlichen göttlichen Aktes bezeichnet, nicht schon die Art, wie dieser am Ort des endlichen Subjekts zur Bewusstheit gelangt. Das wiederum besagt: Nicht der göttliche Rechtfertigungsakt selbst ist das Prinzip des Protestantismus, weil sich das endliche Bewusstsein gar nicht auf den „Standpunkt Gottes“ (EW X, 141) zu erheben vermag. Vielmehr kommt jene Prinzipienfunktion dem Rechtfertigungsglauben zu, nicht als ob dieser das göttliche Urteil begründen könnte, wohl aber sofern er vorbehaltlos darin einwilligt. Glaube – so Tillich – ist „die Anerkennung des Paradoxes“ (EW X, 136) des göttlichen Urteils als „über mich“ (EW X, 142) ergehend. Weil jener göttliche Akt immer mit der „subjektiven persönlichen Wendung des ‚Für uns‘“ versehen ist, darum trägt seine gläubige Anerkennung stets den Stempel des „persönlichen Paradox“ (EW X, 139). Nur als dialektische Einheit von Subjektivität und Objektivität ist die Paradoxie des Rechtfertigungsglaubens in der Lage, das Prinzip des Protestantismus zu repräsentieren. Die dann im Hauptteil dargebotenen Ausführungen zur neueren Geschichte der Rechtfertigungslehre suchen diese These systematisch und problemgeschichtlich zu erhärten. Auf eine Nachzeichnung dieses Gedankengangs kann hier verzichtet werden.

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Die andere Seite der Problembeschreibung des Exposés, die zeitdiagnostische oder neuzeittheoretische, ist gleichfalls an der Einheitsproblematik orientiert, nun allerdings im Hinblick auf die kulturelle Situation des modernen Protestantismus. Tillich sieht sie – ähnlich wie Dilthey und Troeltsch – durch einen fundamentalen Widerspruch gekennzeichnet, nämlich durch den Gegensatz supra-natural-transzendenter und rationalimmanenter Elemente. Dessen Überwindung erscheint ihm weder durch den Rückgang auf ein gemeinsames Prinzip noch durch den Aufweis inhaltlicher Konvergenzen als möglich. Denn beide Formationen sind zu charakteristisch verschieden, als dass eine gemeinsame Basis benennbar wäre. Darum steuert Tillich eine Vermittlung „unterhalb“ jenes Gegensatzes an. Das erörterte Prinzip des Protestantismus soll den Einstieg hierzu bilden. Die ihm eigene Dialektik ist „auf einen Punkt zu führen, durch den es zum religiösen Princip des modernen Kulturbewußtseins werden kann“. Den Anknüpfungspunkt seitens des kulturellen Autonomiebewusstseins bildet die formale Freiheit bzw. die „im Subjektiven liegende Negation“ in Gestalt ihrer „höchsten Zuspitzung“. Für diese Fassung des Begriffs Subjektivität kann Tillich auch die Hegelsche Bezeichnung „absolute Negativität“ verwenden. Nur wenn die formale Freiheit sich als gänzlich leer begreift, vermag sie sich mit jenem absoluten Gehalt zusammenzuschließen, auf den das religiöse Bewusstsein als seinen Grund verweist. Und umgekehrt: Nur sofern jene Negativität aufgenommen wird „in ein Positives, ist sie selbst zur Position befähigt“ (EW X, 130 f.). Der die Gegenwart lähmende Konflikt zwischen kirchlichem Protestantismus und weltlicher Kultur ist somit aufgehoben. „Die unendliche Subjektivität des modernen Geisteslebens“ wird zu einem „Moment des religiösen Princips selbst“. Die Religion wiederum tritt aus dem Bann der Heteronomie heraus und wird „weit geöffnet für das Einströmen jeder Art schöpferischen Geistes“. Zur Erläuterung dieser im Exposé nur angedeuteten Vermittlungsstruktur verweist Tillich auf seinen „demnächst erscheinenden“ Vortrag über Kulturtheologie, den er im April selbigen Jahres vor der Berliner Sektion der Kant-Gesellschaft gehalten hatte (EW X, 183 f.). Damit bin ich beim zweiten Teil meiner Ausführungen angelangt, nämlich bei der Erörterung der Folgen der Protestantismuskonzeption für das Kulturverständnis.

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2. Dessen Grundzüge brauchen hier nicht erläutert zu werden: das System der Kulturfunktionen, das Form/Gehalt-Schema, das Autonomie und Heteronomie vermittelnde Theonomiemodell sowie die Basis des Ganzen, die Sinntheorie. 13 All diese Punkte sind mittlerweile hinreichend bekannt. Weit schwieriger ist der Übergang vom einen zum anderen Thema einzuschätzen. Seit der Systematischen Theologie von 1913 und dem Exposé von 1919 stand der begriffliche Gehalt des protestantischen Prinzips – wie wir gesehen haben – im Wesentlichen fest. In der Folgezeit ging es vor allem um das Problem seiner Realisierung. Hier tat sich Tillich weitaus schwerer, zumal wenn man die Linien bis ins Spätwerk auszieht. Die Ursachen jener Schwierigkeit liegen zunächst einmal gar nicht in der Gegenwart, sondern reichen seiner Auffassung nach bis in die Reformation zurück, wobei er insbesondere die zweite der oben genannten Fassungen von Luthers Hauptartikel vor Augen hat: Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke allein aus Gnade. Diese Bestimmung besagt formal: Das Neue tritt strukturell als ein „Korrektiv“ auf, und zwar nicht nur im Sinn einer Erweiterung oder Ergänzung, sondern als Gegensatz. Dessen aufhebende Wirkung ist wiederum keine vollständige. Denn jede Antithese führt immer auch dasjenige mit, wogegen sie sich wendet. Ihr positiver Gehalt ist „bedingt“ durch das „negative Verhältnis“ zu dem, was ihr „gegenübersteht“. Was nicht nur akzidentiell, sondern essentiell negiert wird, ist damit „zugleich“ essentiell „vorausgesetzt“. Der formale Mangel des ‚sola gratia‘ besteht somit darin, dass dieses Prinzip „nicht das Ganze“ beschreibt (GW VIII, 87 f.), sondern sich als durch das Negierte rückbedingt erweist. Dieser logische Einwand gegen die Rechtfertigungslehre ist nicht neu, sondern findet sich bekanntlich schon bei Fichte. Tillich spitzt das Problem indes noch in anderer Hinsicht zu. Das Gesetz bildete für Luther nicht nur den begrifflichen Gegensatz zur Gnade, sondern ebenso die reale Vorbedingung ihrer Verwirklichung. An dieser Stelle erblickt Tillich die eigentliche Schwierigkeit, jene Rückbedingtheit zu umgehen. Bezieht man das antithetische Verhältnis von Gesetz und Gnade nämlich auf deren Verwirklichung, dann würde die „Verneinung der eigenen Vor13 Zu Letzterer vgl. U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89-123. Ders., Religion und Sinn, in: Ch. Danz/ W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 5), 197213.

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aussetzung“ für sie unweigerlich die „Verneinung der Realisierung“ bedeuten (GW VIII, 87). Dieser Konsequenz wäre nur zu entkommen, wenn die Gnade sich unabhängig vom Gesetz verwirklichen könnte. Damit wäre aber der Gehalt der Ausgangsformel außer Kraft gesetzt. Die Frage der Realisierung des protestantischen Prinzips erweist sich nach Tillich somit bereits bei Luther als Aporie, die nur durch anderweitige Zusatzannahmen aufgefangen werden konnte. So kommt es nicht von ungefähr, dass sie in den Debatten der 20er Jahre zum Schlüsselproblem nahezu aller Protestantismuskonzeptionen avancierte. Drei Felder sind es, auf denen Tillich zu ihr Stellung nahm. Christian Danz hat darauf hingewiesen, dass die durch Karl Holl initiierte Lutherrenaissance wohl die stärkste Herausforderung bildete, 14 zumal sie in Emanuel Hirsch, dem Freund aus Berliner Wingolf-Tagen und Briefpartner während der Umbruchsjahre, einen profilierten Fürsprecher fand. 15 Tillich erkennt Holls wissenschaftliche Leistung vorbehaltlos an und würdigt auch dessen Versuch, Luthers Rechtfertigungslehre im neuzeitlichen Sinne als Begründung der ethisch-religiösen Subjektivität zu lesen. Beides reiche indes nicht zu. Holl unterstelle ohne Weiteres die aktuelle Relevanz jenes Artikels, anstatt sie aus einer Analyse der kulturellen Situation der Gegenwart zu entwickeln (GW VII, 34). Vielmehr gelte es, das „Durchbruchsprinzip des Protestantismus“ als „Durchbruchsprinzip unserer Geisteslage“ darzulegen (GW VIII, 85). Auch Tillichs späteres Konzept eines transmoralischen Gewissens (GW III, 56-70) wird man als den Versuch einer Entschränkung von Holls Begriff der Gewissensreligion zu lesen haben. Doch was ist mit der Kategorie ‚Durchbruch‘ gemeint, die Tillich in den 20er Jahren wie einen Zauberschlüssel in unterschiedlichsten Kontexten zur Anwendung bringt? Würde ihre Bedeutung sich im negativen Merkmal bloßen Zerbrechens erschöpfen, wie Tillich wohl zunächst meinte (GW IX, 25), wäre gegenüber dem antithetischen Moment des Rechtfertigungsgedankens nur wenig gewonnen. Jüngst wurde der Vorschlag ge14 Vgl. Ch. Danz, Glaube und Autonomie, a.a.O. (Anm. 8), 160 f. 168. 173 f. Zu K. Holl selbst vgl. U. Barth, Das Verständnis von Luthers Rechtfertigungslehre bei Karl Holl, in: Ders., Die Christologie Emanuel Hirschs, Berlin/New York 1992, 19-40 sowie das Kapitel Hirschs Weiterführung der Lutherdeutung Holls (40-53). 15 Vgl. A. v. Scheliha, Die Deutung der Rechtfertigungslehre bei Paul Tillich und Emanuel Hirsch. Problemgeschichtliche Perspektiven und systematische Grundentscheidungen, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 5), 67-84.

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macht, jene Kategorie von Tillichs Ästhetik her zu interpretieren und sie als eine Näherqualifizierung des Ausdrucksbegriffs zu verstehen, der seinerseits semiotisch zu begründen wäre. 16 Eine solche Lesart führt in der Tat zur Klärung wesentlicher Aspekte. Doch sie trifft nicht den systematischen Kern der Sache. Auch Tillichs beinahe inflationäre Zuordnung zur Offenbarungsthematik taugt nicht zur Ermittlung der Grundbedeutung, da sie sich bereits auf der Anwendungsebene bewegt. Die erste begriffliche Klärung 17 jener Kategorie findet sich in der Berliner Vorlesung vom Sommer 1919 Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (EW XII, 27-258). 18 Den Leitgesichtspunkt ihrer Einführung bildet „das Problem des Schöpferischen“ (EW XII, 42). 19 Das besagt: Alles kreative Leben entfaltet sich im Kontext des objektiven Geistes. Dessen Fundament bilden die vielfältigen Sinnbezüge, worin sämtliche Dinge und Ereignisse hinsichtlich ihrer Bedeutung miteinander verbunden sind. Tritt dieser universale Sinnzusammenhang in der Gestalt individuellen schöpferischen Handelns in Erscheinung, 20 dann relativieren sich alle inneren und äußeren Abhängigkeitsverhältnisse, die es zu einem qualitativ Bedingten machen würden. In Tillichs Begriff des Durchbruchs sind also zwei basale Momente enthalten: Zum einen das instantane Auftreten von sinnhaft Ursprünglichem und geschichtlich Neuem, zum anderen das Überschreiten derjenigen Sphäre, innerhalb derer Letzteres kontingent aufkommt und die es zugleich mit transkontingenten Bedeutungspotentialen bereichert. Es handelt sich bei diesem Begriff somit um eine Kategorie im Schnittpunkt von Sinntheorie, Freiheitstheorie und Geschichtsphilosophie. Als solche kann Tillich sie auf alle großen Wendepunkte der Sozial-

16 Vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, a.a.O. (Anm. 2), 66-78. 17 Darum klammere ich die beiden frühen Belege (EW VII, 20. 60) aus den Andachten und Predigten der Studienzeit aus. 18 Zum zeitgeschichtlichen soziokulturellen Hintergrund vgl. M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip und Modernitätserfahrung in Paul Tillichs „Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“ (1919), in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 5), 137-154; zum theoriegeschichtlichen Hintergrund vgl. G. Pfleiderer, Kultursynthesen auf dem Katheder. Zur Revision von Troeltschs Soziallehren in Tillichs Berliner Programmvorlesung von 1919, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 5), 119-136. 19 Vgl. dazu auch die wenig späteren Bemerkungen in GW I, 212-216. 20 Die Theorie der Geisteswissenschaften von 1923 bestimmt das Schöpferische darum als „individuelle Verwirklichung des Allgemeinen“ (GW I, 212).

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und Kulturgeschichte, Religions- und Geistesgeschichte beziehen. 21 Vor diesem Hintergrund ist auch ihre Anwendung auf das von der Reformation gestiftete protestantische Prinzip zu sehen. Geht man von der eben skizzierten Grundbedeutung aus, dann stellt sich der Gebrauch des Begriffs im vorliegenden Kontext weit weniger aussagekräftig dar, als sein rhetorisches Pathos zunächst suggeriert. Denn besagte Kategorie ist formal so allgemein gehalten, dass sie für sich allein über die Art der Realisierung des protestantischen Prinzips unter konkreten historischen Bedingungen keinerlei Auskunft gibt. Einen ähnlichen Eindruck vermittelt der zweite der zur Lösung des Realisierungsproblems aufgebotenen Spitzenbegriffe. Tillich gilt vielerorts als der große Gestalttheoretiker, der die hartnäckigen Dichotomien von Idee und Erscheinung, Geist und Institution, Sinn und Realität auf konstruktive Weise überwunden habe. 22 Diesen Vermittlungsanstrengungen wird auch das Programm des Protestantismus als Kritik und Gestaltung (GW VII) zugeschlagen. 23 Doch zumindest bezüglich des Letzteren sind Zweifel angebracht. Unstrittig ist, dass Tillich die theoretische Leistungskraft des um 1900 aufgekommenen Gestaltbegriffs 24 vergleichsweise früh erkannt und mit erstaunlicher Treffsicherheit gewürdigt hat. Das System der Wissenschaften von 1923 gibt beredtes Zeugnis davon. 25 Doch die Anwendung jenes Begriffs auf das Protestantismusverständnis warf andere und kompliziertere Fragen auf.

21 So findet der Begriff des Durchbruchs auf vielerlei Anwendung, auf Konzentrationspunkte geschichtlichen Werdens (EW XII, 227), auf den Kairos (EW X, 292), auf Vorgänge der allgemeinen Religionsgeschichte (EW XII, 86), auf den religiösen Sozialismus (EW X, 255), auf den christlichen Sozialismus (EW XII, 106), dann aber auch auf spezifisch theologische Sachverhalte wie Kreuz und Rechtfertigung (EW XII, 49), heiliger Geist (EW XII, 42) oder Gnade (EW X, 290). 22 Vgl. H. Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik. Die Vermittlung von Gott und Welt im Frühwerk Paul Tillichs, Berlin/New York 1989. 23 Vgl. W. Hartmann, Kritik und Gestaltung. Über Paul Tillichs Sicht des Protestantismus in der gegenwärtigen kirchlichen Situation unseres Landes, in: Monatszeitschrift für Pastoraltheologie 52, 1963, 329-340. E. Amelung, Die Gestalt der Liebe. Paul Tillichs Theologie der Kultur, Gütersloh 1972, 133-173. P. Haigis, Im Horizont der Zeit: Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur, Marburg 1998, 139-151. 24 Von Hegels prominenter Verwendung des Gestaltbegriffs innerhalb der Phänomenologie des Geistes kann hier abgesehen werden. 25 Vgl. GW I, 125 f. 137 f. 139 f. 160-191.

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Zu Recht gilt die Auseinandersetzung mit der Dialektischen Theologie als einer der Auslöser des erneuten Anlaufs Ende der 20er Jahre. Zu deren Denkfigur einer absoluten Krisis heißt es: Ihr Feuer „brannte nur und wärmte nicht“ (GW VII, 56). Tillich erkannte, dass es auch mit der Umwendung des dort proklamierten Gedankens des absoluten Paradoxes in das von ihm vertretene Modell des positiven Paradoxes nicht getan war. Denn seine eigene bisher erarbeitete Fassung des protestantischen Prinzips war von der Gestaltfrage betroffen. Wenn das Prinzip des Protestantismus so verfasst ist, dass es gegen jede Verabsolutierung eines EndlichBedingten – sei es kirchlich-konfessioneller, subjektiv-religiöser, politischweltanschaulicher oder philosophisch-spekulativer Art – im Namen des Unbedingten Protest erhebt, dann wird die Frage der positiven Ausgestaltung dieses Prinzips zu einem schier unlösbaren Problem. 26 Tillich hat darum zeitweise mit einer leicht abgeschwächten Variante geliebäugelt, nämlich in Form einer dialektischen Synthese von mystisch-sakramentaler und kritisch-prophetischer Haltung, die beide in der paradoxen Gestalt der Gnade versöhnt seien (GW I, 340-346). Doch die Präzisierung dieses Vermittlungsversuchs hatte zur Folge, dass der Gestaltaspekt reduziert wurde auf die Rolle der Anzeige, Darstellung, Trägerschaft oder Ausdrucksfunktion eines „transzendenten Bedeutens“ (GW VII, 50 f.). Wenn Tillich gleichwohl behauptet, in derartigen Verweisstrukturen würde transzendenter Sinn in der Weise manifest, dass er „anschaubar“ sei und „angeschaut“ werde (VII, 41 f. 50), also keineswegs erst durch subjektive Deutungsakte zugänglich werde, dann bleibt nicht nur der ins Spiel gebrachte Anschauungsbegriff rätselhaft. Vielmehr ist damit auch die traditionelle Fassung des Gestaltbegriffs – im Sinne von ‚Einbildung einer Form in einen Stoff‘ – letztlich preisgegeben. Von einer „heiligen Wirklichkeitsstruktur“ (GW VII, 57) kann auf der Basis dieses Paradigmas nicht entfernt die Rede sein. Im Endeffekt reduziert sich das protestantische Prinzip auf die Rolle eines kritischen Wächteramts 27 gegenüber allen Formen dämonischer Hybris, mag es sich um sakrale oder säkulare Absolutheitsprätentionen handeln. Zusammenfassend wird man sagen können,

26 Karl Barth bezeichnete Tillichs Ringen um die Gestaltwerdung eines auch und gerade gegen sich selbst protestierenden kritischen Prinzips als „Übungen am hohen Trapez“ (zitiert nach W. Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion. Der Religionsbegriff im Werk Paul Tillichs, Frankfurt/Main 1989, 234, Anm. 36). 27 Vgl. GW IV, 74; GW VII, 86. Anderwärts ist die Rede davon, „die Würde des Unbedingten […] zu schützen“ (GW VII, 57).

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dass Tillichs Ausführungen zur konkreten Gestaltwerdung des protestantischen Prinzips begrifflich nicht ins Reine gelangt sind. Mit dieser Feststellung soll keineswegs der konstruktive Aspekt der kritischen Seite ausgeblendet werden, zumal wenn man den Gesamtcharakter von Tillichs System der 20er Jahre und dessen theologiegeschichtlichen Ort in die Betrachtung einbezieht. Die Idee eines Kulturprotestantismus war die Errungenschaft des 19. Jahrhunderts (Schleiermacher, Rothe, Ritschl, Troeltsch, Harnack). Die junge Theologengeneration um 1918 hingegen war sich darin einig, dass jener Ansatz nicht fortgeführt werden könne. Manche der innerhalb der Dialektischen Theologie vorgebrachten Einwände begegnen in der einen oder anderen Form auch bei Tillich. Doch der an der Geistphilosophie des Deutschen Idealismus geschulte Denker konnte und wollte nicht den radikalen Bruch vollziehen. Darum begab er sich auf einen mittleren Weg zwischen integrativer Kulturtheologie und diastatischer Offenbarungstheologie. Die Sinntheorie musste die Verankerung der Kultur im Unbedingten aufweisen, die Protestantismustheorie hatte umgekehrt die dialektische Gebrochenheit dieses Grundverhältnisses zu artikulieren. Ihre Synthese sollte ebenso der Gefahr eines theologisch überhöhten Nihilismus wie den Illusionen eines bürgerlich-christlichen Konservatismus wehren. Die konstruktive Funktion des Paradoxcharakters des protestantischen Prinzips – und des aus jenem abgeleiteten Begriffs des Dämonischen – scheint mir darin zu liegen, die absolute Thesis eines unbedingten Sinngrundes mit solchen Negativitätselementen zu versehen, deren Einbau es allererst gestattet, im Hinblick auf das Ganze von einer spekulativen Letztbegründungsstruktur zu sprechen. Damit wird zugleich sichergestellt, dass die Begründungsleistung jenes unbedingten Grundes niemals anders zum Zuge gelangt als im Durchgang durch die individuelle Subjektivität des endlichen Geistes. Damit stehen wir vor Tillichs drittem Versuch, dem Protestantismus zu zeitgemäßer Realisierung zu verhelfen. Er ist unter den Dreien sogar der werkgeschichtlich älteste. Ich denke an das Plädoyer für den religiösen Sozialismus. 28 Bereits die ersten Überlegungen zu einer Theologie der 28 Vgl. R. Breipohl, Religiöser Sozialismus und bürgerliches Geschichtsbewusstsein zur Zeit der Weimarer Republik, Zürich 1971. M. Kroeger, Paul Tillich als religiöser Sozialist, in: H. Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt/Main 1989, 93-137. E. Sturm, Tillichs religiöser Sozialismus im Rahmen seines theologischen und philosophischen Denkens, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Religion und Politik, Wien 2009 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 4/2008), 15-34.

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Kultur sind von der Überzeugung getragen, dass eine solche nur in ihm ihren Träger und ihre Erfüllung finden könne. Erinnert sei an den Schluss des Aufsatzes von 1919 (GW IX, 30 f.). Diese Gewissheit wird dann zwar zunehmend durch die Erfahrung getrübt, weder im politisch organisierten Sozialismus noch bei den offiziellen Kirchentümern auf Gegenliebe zu stoßen, hält aber dennoch durch bis zum Gang ins Exil, um dort in den Hintergrund zu treten und allmählich abzuklingen. Insofern könnte man sagen, dass jenes Plädoyer Episode geblieben sei. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass Tillich jenem Engagement theologische Einsichten verdankt, die auch ohne Bezug darauf für ihn bedeutsam wurden und die zum Teil in enger Verbindung zum Protestantismusthema stehen. Ich möchte nur vier Problemkreise zu Bedenken geben. Erstens, im Zusammenhang der für den religiösen Sozialismus besonders dringlichen Aufgabe, die christliche Botschaft den kirchlich entfremdeten ‚Massen‘ nahe zu bringen, ist Tillich erstmals aufgegangen, wie „unkräftig“ und „verbraucht“ die meisten „christlichen Symbole“ sind 29 und dass sie zwangsläufig „fremd“ bleiben, wenn sie nicht mittels anderer religiöser „Bilder und anschauliche[r] Gedanken“ produktiv „umgedeutet“ und durch neue Sinnbilder ergänzt werden, die „unmittelbare[r] Ausdruck“ der gegenwärtigen „Geisteslage“ sind (GW II, 27. 40. 119. 130; GW IX, 45). Tillichs Hinwendung zur Symboltheorie in den 20er Jahren entsprang nicht allein epistemologischen, kulturtheoretischen oder religionsphilosophischen Fragestellungen, sondern verdankt sich zum guten Teil dem praktischen Ziel, der unkirchlichen Arbeiterschaft einen Zugang zur Religion zu eröffnen. Zweitens, an den inhaltlichen Gemeinsamkeiten zwischen den ethischen Zielen des Urchristentums und den humanistischen Idealen der frühen Sozialdemokratie ist Tillich erstmals klar geworden, dass „Gott zuzeiten stärker durch eine nichtreligiöse und sogar antichristliche Bewegung sprechen kann […] als durch die christlichen Kirchen“ (GW VII, 61; GW II, 161). Dieser Eindruck hat ihn dazu bewogen, in solchen und ähnlichen Fällen von ‚latenter Kirche‘ zu sprechen – in Abkehr vom zunächst favo-

29 Tillichs Urteil mag auch durch Nietzsche beeinflusst sein, den er während des Ersten Weltkriegs zu lesen begann (vgl. EW VI, 114; W. u. M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, Bd. 1, Stuttgart/Frankfurt/Main 1978, 63 f.). Nietzsches Diagnose der Abgenutztheit und Verbrauchtheit des abendländischen, christlichen wie humanistischen Symbolbestands gehört zu den zentralen Motiven seiner Kulturkritik.

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risierten, aber missverständlichen, weil theologiegeschichtlich anders konnotierten Begriff der ‚unsichtbaren Gemeinde‘ (GW IX, 42 f. 61). Drittens, die Beobachtung, dass die evangelischen Kirchen gegenüber den sozialen Nöten der Arbeiterschaft weithin versagt haben und noch immer versagen, so dass der religiöse Sozialismus geradewegs ein „protestantisches Werk“ vollbringe, wenn er diesen Schaden wiedergutzumachen strebe, hat Tillich veranlasst, den Abstand zwischen „protestantischem Geist“ und „Geschichte des Protestantismus“ (GW II, 191) noch stärker zu betonen, als er in der spekulativen Prinzipienreflexion ohnehin enthalten war. Die Unterscheidung zwischen protestantischem Prinzip und historischem Protestantismus entspringt nun dem Motiv, das Versagen der Kirchen gegenüber dem Proletariat zu unterlaufen 30 und die in der Figur des religiösen Sozialismus anvisierte Synthese aufrechtzuerhalten. Doch rechnete Tillich schon gegen Ende der 20er Jahre mit der Möglichkeit, dass der Fall eintreten könne, dass beide Größen, protestantisches Prinzip und historischer Protestantismus, noch weiter auseinanderträten, so dass sie schließlich gar nichts mehr gemein hätten. Viertens, als wenige Jahre später offen zutage trat, dass alle Versuche, Christentum und Sozialismus einander anzunähern, sowohl auf politischer als auch auf kirchlicher Seite fehlgeschlagen waren, und zwar auf calvinistischem wie auf lutherischem Boden, sieht Tillich den „Untergang“ des Protestantismus als „Drohung“ unmittelbar bevorstehen. Es habe sich eine ideologische Lage ergeben, in der „Protestantismus nicht mehr möglich ist“ (GW II, 211 f.). Dabei stehen ihm keineswegs nur die deutschen oder europäischen Verhältnisse vor Augen. Die beiden letztgenannten Punkte haben Tillich auch nach der Emigration in Atem gehalten. Ich erinnere an die 1937 erschienenen Zeitschriftenartikel The End of the Protestant Era sowie Protestantism in the Present World-Situation. 31 Hier wird offen ausgesprochen, was in den Sozialismus-Abhandlungen um 1930 implizit anklang: Es sei durchaus denkbar, dass der Protestantismus als Geschichtsepoche irgendwann an sein Ende gelange. Denn auch er unterliege – wie alle geistigen Mächte – dem Schicksal innerer Ermüdung und Erschöpfung. Es widerspräche aller historischen Wahrscheinlichkeit, warum gerade er davon ausgenommen sein sollte. Dieser Erwägung setzt Tillich allerdings sogleich ein trotziges 30 „Mit Hilfe des Protestantischen Prinzips erschließt sich Tillich die Bedeutung des Proletariats.“ (E. Amelung, Gestalt der Liebe, a.a.O. [Anm. 23], 135) 31 Vgl. GW VII, 151-158; GW VII, 159-170.

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Dennoch entgegen: Der historische Protestantismus mag zugrunde gehen, aber dem protestantischen Prinzip eigne die Fähigkeit, sämtliche Zeiten zu überdauern. Es werde „ewig“ in Geltung stehen, weil es als Formel für die dialektische Verschränkung von absoluter Negation und Kontraposition „das letzte Kriterium jeder religiösen und geistigen Erfahrung“ bilde (GW VII, 12). Diese Behauptung bestätigt einmal mehr unsere obige These, dass Tillichs Darlegung des Rechtfertigungsgedankens von Anfang an auf eine spekulative Geiststruktur universalen Zuschnitts zielte. 32 Ordnet man diesen Sachverhalt in jenes Doppelurteil ein, dann erscheint Tillichs theologische Haltung als extrem ambivalent: Auf der einen Seite präsentiert er sich als Verfechter der steilsten Protestantismusapologetik, die je gedacht wurde, auf der anderen Seite tritt er als skeptischer Zeitdiagnostiker auf, der alle auf die eigene Konfession abzielende Apologetik weit hinter sich läßt. Es ist genau diese Nüchternheit, die in der Folgezeit die Oberhand über alle hochfliegenden Realisierungspläne gewann und die zu einer Korrektur des einstigen Versuchs führte, den Protestantismus in eine klar definierte Kulturgestalt zu überführen. Aus der Perspektive des Heutigen „wird das Ansinnen der 20er Jahre, mittels eines abstrakten, lediglich von einer kleinen Intellektuellengruppe getragenen Theonomiemodells die Zerrissenheit der Moderne zu überwinden und eine neue „Einheitskultur“ (GW IX, 30) herzustellen, zu Recht als illusionär oder abseitig beurteilt. 33 Solche Kritik wiederholt indes nur, was Tillich im Nachhinein selbst aufgegangen war. Ich verweise besonders auf den Chicagoer Vortrag Religion and Secular Culture vom Januar 1946. 34 Um einen authentischen Eindruck von der Radikalität dieser Selbstkorrektur zu vermitteln, möchte ich die einschlägigen Partien in Form ausführlicher Zitate wiedergeben. Hier lesen wir: „Die wechselseitige Zusammengehörigkeit von Religion und Kultur versuchte ich zum erstenmal in einer Vorlesung herauszustellen, die ich in Berlin unmittelbar nach dem Ende des Krieges hielt unter dem Titel ‚Die Idee einer Theologie der Kultur‘. Sie war geschrieben mit dem Enthusiasmus jener Jahre, in denen wir glaubten, daß ein neuer Anfang, eine neue Periode der radikalen Verwandlung […] über uns gekommen sei […]. Der Zusammenbruch

32 Bereits im Brief vom 26.8.1917 an Richard Wegener konnte Tillich sagen: „Die ganze Dialektik des Protestantismus ist eminent interessant, jetzt, wo wir im wesentlichen jenseits des historischen Protestantismus stehen.“ (EW VI, 91) 33 Vgl. F. W. Graf, Theonomie, a.a.O. (Anm. 7), 231-240. 34 Vgl. MW II, 197-208; deutsche Übersetzung in: GW IX, 82-93. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf letztere Fassung.

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der bürgerlichen Kultur in Mittel- und Osteuropa schien den Weg für eine Wiedervereinigung von Religion und Kultur zu ebnen.“ (83) „Indessen hat die Geschichte gezeigt, daß es für einen solchen Versuch zu spät war, als daß er zu jener Zeit noch erfolgreich hätte sein können.“ (82) „Wir vergegenwärtigten uns nicht den Preis, den die Menschheit für das Kommen einer neuen Theonomie zu zahlen hat […]. Deshalb hatte unsere theonome Deutung der Geschichte einen leichten Anflug von Romantik.“ (87) „Herrschte nach dem ersten Weltkrieg die Stimmung eines neuen Anfangs vor, so nach dem zweiten Weltkrieg die Stimmung eines Endes. Heute ist eine ‚Theologie der Kultur‘ vor allem eine Theologie des Endes der Kultur, nicht in allgemeinen Ausdrücken, sondern in einer konkreten Analyse der inneren Leere fast all unserer kulturellen Ausdrucksformen.“ (87)

Hier hilft „kein Schwelgen im Paradoxen“ (88), „keine harmonisierende Synthese“ (93); „die Frage nach Religion und Kultur kann nicht einfach mit den Begriffen Autonomie, Heteronomie, Theonomie beantwortet werden“ (87). Vielmehr kommt es darauf an, „daß wir die ‚Leere‘ bejahen, die das Schicksal unserer Zeit ist“ (93), denn es ist „eine ‚heilige Leere‘ sozusagen“ (88). Soweit Tillichs Selbstkorrektur des Jahres 1946. 35 Das Auffallende an dieser Gegenwartsbeschreibung besteht darin, dass sie in der negativen Identifizierung der gegebenen Lage weitgehend mit den Diagnosen nach 1918 übereinstimmt. Das Urteil lautet ähnlich wie damals, wenn nicht noch entschiedener: Säkularismus, Substanzverlust, Sinnentleerung. Der Befund wird jetzt aber ganz anders bewertet, und ganz andere Konsequenzen werden gezogen. Wenn ich recht sehe, handelt es sich um drei Verschiebungen. Deutlicher als früher wird zunächst zwischen Säkularismus und Säkularisierung unterschieden. Ersterer, in den 20er Jahren unter dem Stichwort ‚in sich ruhende Endlichkeit‘ der bürgerlichen Epoche zugewiesen, wird weiterhin abgelehnt – in welcher Gestalt auch immer. Aber er wird nun in einen wesentlich größeren Zusammenhang eingeordnet, den der zweite Begriff bezeichnen soll. Der „Weg zu einer säkularisierten Kultur“ (GW IX, 92) setzte – so Tillich – bereits im Mittelalter ein, genauer gesagt: in den Übergängen vom augustinisch-franziskanischen zum thomistischen, scotistischen und nominalistischen Denken. Stellt man diesen mehrstufigen Prozess in Rechnung, dann gehört die Entstehung einer autonomen Kultur zu den Prämissen der Neuzeit und darf keineswegs von deren späteren Verfallserscheinungen her diskreditiert werden. Dieser weiträumig angelegten Geschichts35 Vgl. auch GW V, 54 f.

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deutung entspricht sodann eine Aufwertung der Kategorie des Profanen. Konnte Tillich in den 20er Jahren den Prozess und das Resultat von Profanisierung noch schlicht gleichsetzen mit „Entheiligung“, „Verdiesseitigung des religiösen Erbgutes“ oder „Diesseits um des Diesseits willen“ (GW X, 102), so wird das Profane (im Sinne von ‚säkular‘) nun in seinem Eigenwert rundweg anerkannt. Damit relativiert sich unweigerlich auch die Funktion der einstigen Kulturtheologie, die nicht zuletzt durch das Ziel bestimmt war, den Widerstreit von profan und religiös aufzulösen zugunsten einer Form/Gehalt-Synthese unter der Leitidee Theonomie. Beide Umwertungen finden schließlich im Verständnis des Protestantismus ihren Niederschlag – wenn dessen erneute Aktualisierung nicht gar das Motiv zu jenen bildete. Nun wird der Protestantismus vor allem wegen seines „‚Pathos für das Profane‘“ (GW IX, 352) gerühmt. Das „Offensein für das Profane“ (GW XII, 323) bilde geradezu sein Wesensmerkmal. Allein dieses Prinzip garantiere „die Würde und den religiösen Sinn der profanen Sphären“ (GW VII, 137), und nur dieses Prinzip befähige dazu, „unmittelbar in der profanen Welt zu wirken“ (GW VII, 169). Mit diesen Charakterisierungen, allesamt in den USA niedergeschrieben, bewegt Tillich sich de facto auf eine Deutung der Moderne zu, wie wir sie auf kontinentalem Boden zu gleicher Zeit auch bei Friedrich Gogarten und schon zuvor bei Emanuel Hirsch finden. Was aber folgt unter solchen Bedingungen für die Aufgabenstellung einer Theologie der Kultur – sofern dieser Titel überhaupt noch Weiterverwendung finden soll? Es war – so darf in Ergänzung zu Obigem gesagt werden – merkwürdigerweise gerade der Kontrast zwischen der ethischen, kulturellen und politischen Wertschätzung des Sozialismus einerseits und der Wahrnehmung seiner faktischen Religions-, Kirchen- und Christentumsferne andererseits, der Tillich „eine religiöse Analyse der profanen Formen des Sozialismus“ abverlangte. Hier wurde ihm paradigmatisch klar, dass eine theologische Deutung der Kultur diesseits von Träumereien und Autosuggestionen nur dann Chancen hat, wenn sie sich für „das religiöse Verständnis der Profanität“ (GW II, 171) öffnet, statt diese entweder prinzipiell oder dergestalt zu delegitimieren, dass sie nur als herabgesetztes – d.h. durch ein konträres Gegenmoment begrenztes – Teilmoment von Theonomie Anerkennung verdient. Die zwar nicht neue, aber doch zunehmende Betonung der Affinität von Protestantismus und profaner Wirklichkeitseinstellung wies in dieselbe Richtung. „Die Aufgabe besteht“ – gemäß dem oben zitierten Vortrag von 1946 – „darin, den Stil einer autonomen Kultur in all ihren charakteristischen Ausdrucksformen zu entzif-

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fern und deren verborgene religiöse Bedeutung zu finden“ (GW IX, 85). Ein solches Unternehmen wird aber nur erfolgreich sein, wenn es von der Überzeugung getragen ist, dass „in jeder geistigen Schöpfung, einem Bild, einer Philosophie, einem Gesetz, einer politischen Bewegung, so profan sie auch erscheinen mag, etwas ausgedrückt ist, das uns unbedingt angeht“ – so die andere Abhandlung aus demselben Jahr: The Two Types of Philosophy of Religion (GW V, 135). Dieses Entziffern hat nichts mehr zu tun mit der abstrakten Konstruktion einer im Absoluten gegründeten Einheitskultur. Vielmehr geht es um das Aufspüren, Entschlüsseln und Auf-den-Begriff-Bringen latent religiöser oder religionsaffiner Motive in konkreten kulturellen Einstellungen, und zwar gerade in zunächst rein profan anmutenden Phänomenen. Es handelt sich – strukturell betrachtet – um eine hermeneutische Operation. Tillichs alte Prämisse bleibt zwar in Kraft, wonach „eine ausschließlich profane Kultur“ für ihn „unmöglich“ ist. Umso mehr aber gilt es nun, die realen Gegebenheiten des kulturellen Lebens „unter dem Gesichtspunkt“ ihrer impliziten religiösen Bedeutsamkeit zu betrachten. Das Ziel dieser Bemühungen besteht darin, „die menschliche Lage“ samt deren Ausdrucksgestalten „von der Grenze des Menschlichen her sichtbar zu machen“ (GW IX, 233 f.). Die einstige spekulative Idee einer Theologie der Kultur hat sich verwandelt in das Projekt einer religionsphilosophisch bzw. religionstheologisch orientierten Kulturhermeneutik. Dies schloß nicht aus, dass das alte Ideal der Theonomie innerhalb der Dogmatik und theologischen Ethik weiterhin Verwendung fand. Von hier aus wird auch verständlich, weshalb Tillich ab der zweiten Hälfte der 30er Jahre, als es um die Neufassung seiner Systematischen Theologie ging, sich der modernen Anthropologie und dem Existentialismus zuwandte, dessen Anfänge er bereits während seines Wirkens in Deutschland kennen gelernt, aber nicht eigentlich rezipiert hatte. Jetzt, unter den sich immer stärker abzeichnenden Veränderungen seines kulturtheologischen Theorieprogramms, konnte er in jener philosophisch-literarischen Strömung einen wichtigen Verbündeten erkennen, der Bereiche erschließen half, die für ihn zuvor eher am Rande lagen – ich denke in erster Linie an das weite Feld des Psychologischen oder Psychoanalytischen. Gerade die Aufsätze und Vorträge der späten Jahre bekunden eine existenz-, kultur- und religionshermeneutische Meisterschaft, die innerhalb der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts weder vorher noch nachher ihresgleichen findet.

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Doch mit dem eben Gesagten ist die hermeneutische Dimension von Tillichs Denken während der amerikanischen Zeit noch nicht vollständig beschrieben. Er erkannte schon in den 30er-40er Jahren, dass der veränderte Zugang zur kulturellen und anthropologischen Dimension des Religiösen auch die Theologie, insbesondere die Dogmatik, vor neue Herausforderungen stellt. Sie kann es nicht dabei bewenden lassen, in unvermittelter Weise einerseits die vielfältigen Spuren des Religiösen im Bereich des Profanen zu verfolgen und andererseits die klassischen Lehrbestände rein nach deren Binnenlogik zu traktieren. Vielmehr obliegt es ihr, eine fruchtbare Beziehung zwischen beiden Hemisphären herzustellen. In dem 1938/39 verfassten Aufsatz Die europäische Lage. Religion und Christentum heißt es dazu: „Das Christentum muß seine Symbolwelt den religiös entleerten Massen aller Schichten neu erschließen, als Antwort auf die Frage nach dem Lebenssinn verständlich machen.“ (GW X, 179) Auch dabei handelt es sich um eine hermeneutische Operation. Aber jetzt geht es nicht mehr nur um das Aufspüren verborgener religiöser Motive innerhalb des kulturellen Lebens, sondern um deren Zuordnung zu den Grundüberzeugungen des Christentums. Genau dies ist die Funktion des Frage/Antwort-Schemas. 36 Tillich hat es sich nicht selbst ausgedacht. Es findet sich auch anderwärts – beispielsweise in Holls Deutung der Rechtfertigungslehre. Das für Tillich Spezifische besteht vielmehr darin, dass er das empirische Bezugsfeld jenes Musters in seiner größtmöglichen Weite nimmt. In solcher Version fand es unter dem Stichwort ‚Korrelationsmethode‘ dann Eingang in die späte Systematische Theologie. Ich weiß, dass besagtes Verfahren von der neueren Tillich-Forschung überwiegend negativ beurteilt wird. 37 Ich stimme dem nicht zu. Mir scheint, dass die vorgebrachten Einwände nicht zwingend sind – jedenfalls dann nicht, wenn man den zugrunde gelegten Begriff der ‚Frage‘ in derjenigen Differenziertheit nimmt, die ihm Martin Heidegger im berühmten § 2 von Sein und Zeit angedeihen ließ. 38 Doch das wäre ein eigenes Thema. In unserem Zusammenhang kam es nur darauf an, deutlich zu machen, dass das Korrelationsmodell als methodisches Scharnier dient, die religionshermeneutisch ausgerichtete Kultur- und Existenzanalyse an die Themen der Dogmatik anzuschließen. Und diese Funktion erfüllt es in hervorragender 36 Vgl. dazu die brieflichen Äußerungen vom April 1935 (EW V, 227) und vom März 1950 (EW V, 326). 37 Vgl. dazu exemplarisch J. Clayton, The Concept of Correlation. Paul Tillich and the Possibility of a Mediating Theology, Berlin/New York 1980. 38 Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 101963, 5-8.

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Weise. Mit seiner Hilfe soll verhütet werden, dass die Theologie in die fatale Lage gerät, Antworten auf Fragen zu geben, die niemand mehr stellt. Und wo bleibt das Protestantische? Für die materiale Dogmatik ist die Frage relativ leicht zu beantworten. Sämtliche Topoi unterliegen der Maxime, „bei der Deutung der menschlichen Existenz“ die „Entscheidung für das protestantische Prinzip“ (GW VII, 170) zur Geltung zu bringen. Nur so kann die produktive Aneignung und gegenwartsbezogene Umformung der reformatorischen Lehrtradition gelingen. Wie aber steht es im Fall der Prolegomena? Seiner Hinwendung zum Existentialismus folgend hat Tillich die späte Dogmatik auf ein ontologisches Fundament gestellt und die Sinntheorie, die in den 20er Jahren die Basis bildete, in die zweite Reihe verwiesen. Der neue Rahmen wird jedoch dergestalt exponiert, dass er die Geist- und Erkenntnistheorie, die einst das Sprungbrett für die Sinntheorie abgaben, keineswegs verdrängt. Darum bildet die Cytologie der Vernunft den systematischen Ausgangspunkt der Prolegomena. Diese wäre indes gänzlich missverstanden, wollte man darunter ein zeitlos in sich ruhendes, gleichsam suisuffizientes Prinzipiengefüge verstehen. Vielmehr entfaltet Tillich den ontologischen Vernunftbegriff in eine Reihe polarer Strukturelemente, deren Realisierung eine Eigendynamik freisetzt, die weit über jenen Ordnungsrahmen hinausdrängt. Die Verwirklichung der Vernunft unter den Bedingungen der Endlichkeit des Menschen führt zu Konflikten, deren Aporetik sich als unaufhaltsam und unauflöslich erweist. So stellt sich am Ende die Frage nach einer Selbstoffenbarung des unbedingten Seinsgrundes und näherhin die Frage nach letztgültiger Offenbarung. Der Weg zum Glauben führt durch die Krisis des Humanen. Dies alles ist, um einen Spitzenbegriff aus Luthers Bußtheologie aufzugreifen und ins Allgemeine zu wenden, ‚usus-elenchticus‘-Logik, und zwar im strikten Sinn. Wie könnte man diesem Gedanken prinzipielleres Gewicht verleihen, als indem er so platziert wird, dass er bereits die Dramaturgie der Prolegomena bestimmt. Es gab für Tillich nicht den einen, allein möglichen und einzig richtigen Weg, das Protestantische gedanklich zur Geltung zu bringen. Dies zeigt uns unmissverständlich die Werkgeschichte. Aber er hätte jede Begründung der Theologie – sei sie geistphilosophischer oder sinntheoretischer, kulturwissenschaftlicher oder existenzontologischer Art – verworfen, die der Grundeinsicht des Protestantismus widerstreitet. Insofern kann man das protestantische Prinzip auch als den roten Faden in Tillichs Denken bezeichnen.

Die geistphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs vor dem Hintergrund seiner Schelling- und Husserlrezeption GEORG NEUGEBAUER „Religion ist die Substanz der Kultur und Kultur die Form der Religion.“ (GW IX, 84) Dieser Satz wird häufig zitiert, um den Mittelpunkt der Kulturtheologie Tillichs zu markieren. Er gehört zweifelsohne zu seinen bekanntesten Formulierungen. Man könnte auch im Anschluss an Trutz Rendtorff sagen, dass es sich um eine „Erkennungsmelodie“ handelt, „die, wo sie ertönt, unverwechselbar zu erkennen gibt: Hier spricht Paul Tillich“ 1 . Die Prägnanz des Satzes täuscht jedoch darüber hinweg, dass er ausgesprochen hermetisch und aus sich selbst heraus kaum verständlich zu machen ist. Die für Tillichs Kulturtheologie signifikanten Begriffe, wie Form, Inhalt, Gehalt, Substanz, Autonomie, Heteronomie, Theonomie, die von ihm selbst schematisierend in das Zentrum dieses Theoriestücks gerückt wurden, verleiten insgesamt dazu, seine Kulturtheologie allein mittels dieser Begriffe zu rekonstruieren. Ein solches Verfahren kann jedoch dazu führen, die sie organisierenden Theoriegrundlagen aus dem Blick zu verlieren – allen voran die Geistphilosophie. Tillichs Kulturtheologie fußt auf einem spezifischen Geistbegriff, dessen Grundlagen sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg im Zuge seiner Schellingstudien herausschälten. Aber erst durch die sinntheoretische Wendung seines Systemansatzes, zu dem er durch seine Husserllektüre während des Ersten Weltkriegs angeregt wurde, hat Tillich es vermocht, das geistphilosophische Fundament zu legen, auf dem seine kulturtheologische Programmschrift Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919) aufbaut. Dass in der Philosophie des Deutschen Idealismus, insbesondere in der Spätphilosophie Schellings die intellektuellen Wurzeln Tillichs liegen, ist bekannt. Im Gegensatz dazu ist seine Beeinflussung durch Husserl 1

T. Rendtorff, In Richtung auf das Unbedingte. Religionsphilosophie in der Postmoderne, in: H. Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt/Main 1989, 335-356. 335.

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weniger offensichtlich. Doch obgleich er sich vergleichsweise selten zum Phänomenologen äußert – und das auch noch mehrfach in kritischer Absicht 2 –, darf dieser Befund nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich seine Husserllektüre in der Bestimmung seines Geistbegriffs unmittelbar niedergeschlagen hat. 3 Die während des Ersten Weltkriegs vorgenommene sinntheoretische Wendung des Geistbegriffs lässt sich kaum unter Absehung von Husserls Theorie des intentionalen Bewusstseins begreiflich machen. In den Kriegsjahren, in denen Tillich gewahr wurde, dass sein von der Philosophie des Deutschen Idealismus bestimmter Theoriezuschnitt nicht ausreichend ist, um sich an den kultur- und geisteswissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit auf Augenhöhe beteiligen zu können, sah er sich dazu veranlasst, „die moderne Philosophie energisch in Angriff“ (EW VI, 98 f.) zu nehmen, und dazu gehörte in besonderer Weise die Phänomenologie Husserls. 4 2

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In der Religionsphilosophie-Vorlesung (1920) wendet er sich gegen das Verfahren Husserls, die phänomenologischen Untersuchungen auf der Grundlage von Beispielen vorzunehmen, vgl. EW XII, 380. Sodann formuliert Tillich immer wieder den Vorwurf der Ungeschichtlichkeit phänomenologischer Forschung, vgl. GW I, 310; EW VIII, 439; EW XV, 7. 131. Es sei am Rande bemerkt, dass Tillichs nur wenige Zeilen umfassende Rezension – Geyser, Prof. Joseph, Neue und alte Wege der Philosophie. Eine Erörterung der Grundlagen der Erkenntnis im Hinblick auf Edmund Husserls Versuch ihrer Neubegründung. (X, 302 S.) gr. 80. Münster i.W. Schöningh 1916, in: ThLZ 16/17, 1922, 380 f. – nichts Erhellendes über sein Husserlverständnis enthält. Das Verhältnis Tillichs zu Husserl ist erst in der jüngeren Forschung zum Thema gemacht worden. Auf die Bedeutung Husserls für Tillichs Denken haben mit unterschiedlicher Akzentsetzung Ulrich Barth und Michael Moxter aufmerksam gemacht, vgl. U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89-123. 97-104. Ders., Religion und Sinn, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919-1920), Wien/Berlin 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20) 197-213. 207 f. M. Moxter, Kritischer Intuitionismus. Tillichs Religionsphilosophie zwischen Neukantianismus und Phänomenologie, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919-1920), Wien/Berlin 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 173-195. 186-195. Erste Hinweise hat auch schon Christoph Schwöbel gegeben, vgl. C. Schwöbel, Artikel „Phänomenologie II“, in: TRE 26, 1996, 465-469. 466 f. Darauf weisen einige Passagen aus seinen während des Ersten Weltkriegs entstandenen Briefen hin. So heißt es in einem Schreiben an Hirsch aus dem Dezember 1917, dass ihn die von Husserl begründete phänomenologische Schule am lebhaftesten interessiere (vgl. EW VI, 99). Und auch in einem an Richard

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Die folgenden Ausführungen werden sich auf zwei Aspekte der Kulturtheologie Tillichs konzentrieren, die er u.a. in seiner Religionsphilosophie (1925) auf den Begriff gebracht hat. Es handelt sich um die dem Geist eingestiftete Differenz zwischen einem „substantiell“ und einem „intentional“ (GW I, 320) religiösen Bewusstsein. Die Konzeptualisierung beider Formen des religiösen Bewusstseins baut auf einer intensiven Beschäftigung mit Theorieelementen der Spätphilosophie Schellings und der Phänomenologie Husserls auf. Um diese Prägung der geistphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs plausibilisieren zu können, werden Schellings Religionsbegriff der Philosophie der Mythologie sowie Husserls Theorie des intentionalen Bewusstseins eigens zu thematisieren sein.

Wegener gerichteten Brief vom 26. August 1917 kommt er allein auf den Phänomenologen zu sprechen. Er führt aus, „mit dem ganzen Husserl fertig“ (EW VI, 90) geworden zu sein. Darüber hinaus informiert er Wegener zum Ende seiner Ausführungen darüber, den „dritten Band von Husserl sowie seine Phänomenologie […] bei Niemann direkt bestellt“ (EW VI, 92) zu haben. Wie die Herausgeber des Briefes anmerken, soll es sich um den dritten Band des Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung handeln, das von Husserl mitherausgegeben wurde (vgl. EW VI, 94). Auch wenn Tillich zuvor bemerkt hat, mit dem ganzen Husserl fertig geworden zu sein, ist es jedoch wahrscheinlicher, dass hier der dritte Band der Logischen Untersuchungen (im Folgenden: LU) gemeint ist. Husserl plante in der Zweitauflage (1913) den zweiten Teil der LU, der in seiner Erstausgabe (1901) alle sechs LU enthielt, in zwei Bände aufzuteilen, von denen der erste die I.-V. LU und der zweite die VI. LU enthalten sollte. Zwar heißt es im Vorwort zur zweiten Auflage der LU, dass sich der zweite Teil des zweiten Bandes im Druck befände, erschienen ist er jedoch erst im Jahre 1921. Tillich ist vermutlich davon ausgegangen, dass Husserls Angabe richtig ist, vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zur reinen Logik (= Ders., Bd. 2 der Gesammelte Schriften, hrsg. von E. Ströker), Hamburg 1992, XVI (ich zitiere die Paginierung der 2. Auflage der LU). Die im Brief erwähnte Phänomenologie bezieht sich auf die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913).

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1. Aspekte des Religions- und des Kulturbegriffs in Tillichs Schriften vor dem Ersten Weltkrieg 1.1 Die Struktur des religiösen Bewusstseins in Schellings Philosophie der Mythologie Das Thema Mythologie gehört unzweifelhaft zu den Lebensthemen Schellings. Schon im Tübinger Stift setzte er sich intensiv mit ihm auseinander, wobei sich diese Auseinandersetzung noch ganz im Theoriehorizont der Aufklärungsphilosophie und -theologie bewegte. Das für seine späten Vorlesungen signifikante Mythologieverständnis zeichnet sich in seiner 1815 gehaltenen Rede Über die Gottheiten von Samothrake ab, die auf seiner hochgradig spekulativen Weltalterphilosophie aufbaute und Letztere anhand der Mythologie historisch konkretisieren sollte. In Erlangen las er dann im Jahre 1820/1821 seine erste Fassung der Philosophie der Mythologie. Es gehört nun zu den wesentlichen Kennzeichen seiner späten Vorlesungen zu diesem Thema, die Mythologie im Rahmen der Theorie des Absoluten, der Geschichts- und der Bewusstseinsphilosophie zu diskutieren. Im Folgenden werde ich mich auf den dritten Aspekt konzentrieren und auf die Vorlesungen der Historisch-Kritischen Einleitung in die Philosophie der Mythologie von 1842 beziehen. 5 Diese Vorlesungen machen es sich zur Aufgabe, die Entstehung mythologischer Vorstellungen im Bewusstsein zu erklären. Dabei sind zweierlei Aspekte von besonderer Bedeutung. Zum einen stellt Schelling heraus, dass der Mythologie „keine Realität außer dem Bewußtseyn“ zukomme (SW II, 1, 124). Zum anderen ist seine immer wieder aufs Neue exponierte Überzeugung namhaft zu machen, dass die „Mythologie ursprünglich religiöse Bedeutung“ (SW II, 1, 67) 6 habe. Schellings Philosophie der Mythologie lässt sich daher als eine Philosophie des religiösen Bewusstseins begreifen. Letzteres wird von ihm in einer doppelten Perspektive spezifiziert. Schelling unterscheidet zwischen zwei Aspekten der Mythologie, einem subjektiven und einem objektiven. Der erste thematisiert das religiöse Bewusstsein als Entstehungsgrund der den Göttergeschichten zugrunde liegenden mythologischen Vorstellungen. Die Mythologie ist „subjectiv 5

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Ich zitiere diese Vorlesungen nach der von Schellings Sohn – Karl Friedrich August Schelling – herausgegebenen Gesamtausgabe: F. W. J. Schelling, Sämtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, I. Abteilung Bd. 1-10, II. Abteilung Bd. 1-4, Stuttgart/Augsburg 1856-1861 (= SW). Vgl. SW II, 1, 36. 85.

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oder ihrer Entstehung nach […] ein theogonischer Prozeß, den das Bewußtseyn wirklich vollbringt“ (SW II, 1, 198). Der zweite steht für die absolutheitstheoretische Ebene von Schellings Mythologieverständnis, in deren Zentrum das Konzept einer übergeschichtlichen Geschichte des Absoluten steht, die sich als solche im Bewusstsein des Menschen vollzieht. „Objectiv betrachtet ist die Mythologie wofür sie sich gibt, wirkliche Theogonie, Göttergeschichte.“ (Ebd.) Diese hochgradig spekulative Annahme impliziert, dass die Götter nicht allein im Sinne einer durch das Bewusstsein genetisierten Vorstellung zu begreifen sind. Vielmehr ist Schelling der Überzeugung, dass das menschliche Bewusstsein unter der Botmäßigkeit eines theogonischen Prozesses steht. Dieser Prozess vollzieht sich zwar im Bewusstsein, doch fasst Schelling dasselbe als Teil dieses theogonischen Prozesses auf. Das religiöse Bewusstsein in seiner Geschichte ist Explikationsmedium der übergeschichtlichen Geschichte des Absoluten. Um die Entstehung mythologischer Vorstellungen erklären zu können, setzt sich Schelling mit einem Zustand des Bewusstseins auseinander, den er als übergeschichtlich und damit auch vormythologisch bezeichnet. Diese Überlegungen sind nun für uns von besonderem Interesse und finden sich in der achten Vorlesung. Schelling kommt in dieser Vorlesung auf den sogenannten „ursprünglichen Menschen selbst“ zu sprechen, der nur im „Uebergeschichtlichen“ gedacht werden könne (SW II, 1, 184). Der ursprüngliche Mensch steht für die Vorstellung des am Ende des Natur- bzw. Schöpfungsprozesses stehenden, urständlichen Menschen. Von ihm heißt es, er sei das „Bewußtseyn in seiner reinen Substanz vor allem wirklichen Bewusstseyn, wo der Mensch nicht Bewußtseyn von sich ist“ (SW II, 1, 185). In diesem übergeschichtlichen Zustand muss der Mensch, Schellings Auffassung nach, als reines Bewusstsein vorgestellt werden. Dieses rein substantiell gedachte Bewusstsein hebt er vom wirklichen Bewusstsein ab, in dem der Mensch ein Bewusstsein seiner selbst bzw. Selbstbewusstsein besitzt. Gleichwohl hält Schelling vom übergeschichtlichen Bewusstsein fest, dass es „Bewußtseyn von etwas sein muß“ (ebd.), womit er anzeigt, dass Bewusstsein stets Gegenstandsbewusstseins ist. Das Objekt des Bewusstseins sei Gott. Dieses Bewusstsein von etwas als Bewusstsein von Gott spezifiziert Schelling sodann weiter als ein nicht-aktuelles Bewusstsein. Das Bewusstsein von Gott ist „nicht mit einem Actus, also z.B. mit einem Wissen oder Wollen verbundenes, also rein substantielles Bewußtseyn von Gott“ (ebd.). Das Gottesbewusstsein basiert sonach nicht auf bestimmten Bewusstseinsakten. Vielmehr handelt es sich um ein substantielles Gottes-

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bewusstsein, d.h. dass dem Bewusstsein vor jedweder Aktivität ein Bewusstsein von Gott eingestiftet ist. Gleichwohl spricht Schelling vom gottsetzenden Bewusstsein, was die Annahme der Nicht-Aktualität des Bewusstseins zu konterkarieren scheint. Wie diese nicht-aktuelle Setzung Gottes näherhin zu begreifen ist, machen Schellings Ausführungen nicht explizit deutlich. Die Annahme einer nicht-aktuellen Setzung Gottes steht jedoch unter der Voraussetzung, dass der ursprüngliche Mensch von Schelling nicht als mit dem Vermögen der Freiheit ausgestattet, sondern als Natur gedacht wird. Dem entsprechend spricht er vom Monotheismus der „menschlichen Natur“ bzw. davon, dass der „Mensch in seinem ursprünglichen Wesen keine andere Bedeutung hat, als die, die Gottsetzende-Natur zu sein“ (ebd.). Das gottsetzende Bewusstsein wird hier als Teil des Naturprozesses vorgestellt, der seinerseits Teil des Selbstexplikationsprozesses des Absoluten ist. Vom Standpunkt des Absoluten aus betrachtet, bildet die Natur als Medium seiner Selbstoffenbarung das Andere seiner selbst. Von der Geschichte bzw. dem geschichtlichen Bewusstsein ist diese Phase des Selbstmanifestationsprozesses des Absoluten durch den natürlichen und nicht auf Freiheit beruhenden Charakter unterschieden. Erst in der Geschichte ist der Mensch frei und besitzt ein Selbstbewusstsein, was zugleich bedeutet, dass das Bewusstsein dann nicht mehr das natura sua gottsetzende Bewusstsein ist. Dem entsprechend heißt es bei Schelling, dass die erste Bewegung des Bewusstseins – traditionell gesagt der Sündenfall – sich von Gott entferne: „sowie es aus seinem Urstande heraustritt, sowie es sich bewegt“ (SW II, 1, 186), bewegt es sich von Gott weg. Im Urstand aber „ist er [sc. der Mensch] Bewußtseyn Gottes, er hat dieses Bewußtseyn nicht, er ist es, und gerade nur im Nichtactus, in der Nichtbewegung ist er das den wahren Gott Setzende“. (SW II, 1, 187). In diesem Zustand ist – wie Markus Gabriel in seiner Studie Der Mensch im Mythos feststellt – die „ursprüngliche Theonomie des Bewußtseins […] behauptet“ 7 . 1.2 Die kulturtheologischen Anfänge Tillichs Die philosophische Promotion Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien 7

M. Gabriel, Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings Philosophie der Mythologie, Berlin/New York 2006, 235.

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(1910) diskutiert Schellings Begriff des substantiell gottsetzenden Bewusstseins in aller Ausführlichkeit. 8 Tillich ist der Überzeugung, dass dieser Religionsbegriff eine Konstante des Schellingschen Denkens gewesen sei und sich – in unterschiedlichen Variationen – in allen Werkphasen identifizieren lasse. Für Schelling sei „die Substanz auch des atheistischen Bewußtseins […] religiös“ (EW IX, 237). 9 Die theologische LizentiatenDissertation Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings philosophischer Entwicklung (1912) greift diesen Gedanken auf und vertieft ihn entsprechend der identitätsphilosophischen Prämissen der Spätphilosophie Schellings. Das natura sua gottsetzende Bewusstsein befinde sich – wie es nun heißt – in „substantieller Identität mit Gott“ (GW I, 101). Tillichs Überlegungen bleiben dabei jedoch nicht stehen. Vielmehr gehen sie über Schellings Ausführungen hinaus, und zwar in dem Moment, in dem sie die Frage zu beantworten suchen, in welchem Verhältnis jenes ursprünglich religiöse Bewusstsein zu den „aktuellen Geistesfunktionen“ (GW I, 102) – Denken, Wollen, Fühlen – steht. Diese Frage wird von Schelling selbst nicht berührt. Tillich indes zieht sie in Betracht, weil seiner Auffassung nach „alle drei bei jeder wirklichen, aktuellen Religion in eigenartiger, unentbehrlicher Weise tätig sind“ (EW IX, 240). 10 Das führt ihn zu der Frage, wie sich beide Dimensionen zueinander verhalten. Tillich stellt in seiner philosophischen Dissertation erste Überlegungen dazu an, wie sich der ursprüngliche, substantielle Bewusstseinszustand in den Geistesfunktionen „äußert“ (ebd.) bzw. darin „Ausdruck“ (ebd.) findet. 11 Damit beginnt sich in ihnen ein Problem abzuzeichnen, dessen Reichweite er in diesen frühen Schriften zwar noch nicht absieht, das sich aber gleichwohl durch sein gesamtes Werk hindurchzieht. Denn in der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem substantiell religiösen Bewusstsein und den aktuellen Geistesfunktionen kündigt sich das schwierige Problem der Darstellung der Unbedingtheitsbeziehung des religiösen Bewusstseins an. Tillichs religi8

Vgl. EW IX, 197. 231 ff. Die erste ausführliche Diskussion von Tillichs Interpretation des Schellingschen Religionsbegriffs hat Christian Danz geleistet, vgl. Ch. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/New York 2000, 314-328. Vgl. auch G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 169-175. 9 Er fährt dann Schelling zitierend fort: „Jeder ursprüngliche ‚Atheismus des menschlichen Bewußtseyns‘ ist ausgeschlossen.“ (EW IX, 237) 10 Vgl. GW I, 101 f. 11 Vgl. Ch. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein, a.a.O. (Anm. 8), 325 f.

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onstheoretisches Interesse ist somit bereits hier keineswegs auf den spekulativen Religionsbegriff Schellings beschränkt. Vielmehr erstreckt es sich von Anfang an auf die – wie er sagt – wirkliche, aktuelle Religion. Diese Überlegungen fließen sodann in die Systematische Theologie von 1913 ein und werden dort unter veränderten Theorievoraussetzungen weiter entwickelt. Der entscheidende gedankliche Fortschritt besteht in der Verschränkung des Begriffs der Geistesfunktionen mit dem der Kultur. Tillich definiert Kultur schon vor dem Ersten Weltkrieg als „Inbegriff aller auf das Gegebene gerichteten Geistesfunktionen“ (EW IX, 296). 12 Zwischen Letzteren und der Religion lassen sich Tillichs Auffassung nach eine Vielzahl von „Konfliktsmöglichkeiten“ ausmachen, die sich in den Spannungsfeldern von „Wissenschaft und Dogma“, „Religion und Ästhetik“ und „Kirche und Staat“ (ebd.) ausdrücken. (Vgl. GW IX, 17) Diese Widersprüchlichkeiten beruhen auf der spezifischen Fassung des Freiheitsgedankens. Insofern für Tillich im 1913er System die substantielle Identität des menschlichen Geistes mit dem Absoluten freiheitstheoretisch begründet wird, die Freiheit in der Kultur jedoch zugleich ihr unmittelbares Dasein hat, „ist die Kultur unmittelbar religiös“ (EW IX, 297). Durch die Naturgebundenheit der Kultur rufe Letztere jedoch „eine der religiösen entgegengesetzte Abhängigkeit“ hervor „und wirkt unreligiös“ (ebd.). Doch wie in seinem Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919) entlarvt er bereits hier jene Spannungsfelder als „Scheinkonflikte“ (ebd.), die sich dadurch auflösen lassen, das Verhältnis von „Religion als Prinzip und Religion als Kultursphäre“ (ebd.) richtig zu fassen: „Die Religion als Prinzip als substantielle Gebundenheit der Freiheit an die absolute Wahrheit ist etwas gewissermaßen Punktuelles, jeder Aktualität und Breite Enthobenes, absolute Innerlichkeit. Die Religion als Aktualität ergibt eine Bestimmtheit sämtlicher psychischer Funktionen, eben die spezifisch religiöse Bestimmtheit: ein Denken, Fühlen und Handeln, das sich auf Gott richtet; ohne dieses ist keine Religion lebendig; und doch wird dadurch die Religion hineingezogen in die übrigen Bestimmtheiten des Geistes, ein Stück Kultur.“ (Ebd.)

12 Vgl. auch EW IX, 299. Tillichs Spezifikation des Kulturbegriffs fällt in den 20er Jahren ganz ähnlich aus. Sie steht dann jedoch unter der Voraussetzung seiner Sinntheorie, vgl. EW XII, 417; GW I, 320. Unter Absehung der veränderten Theorieprämissen stimmen eine Vielzahl von Tillichs Überlegungen des 1913er Systems mit denjenigen überein, die Tillich sechs Jahre später in seiner kulturtheologischen Programmschrift Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919) vorgetragen hat.

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Es ist offensichtlich, dass Tillich Überlegungen weiterführt, die er im Zuge seiner Schellingrezeption erstmals angestellt hat. Das Verhältnis von substantiellem und aktuellem Religionsbegriff steht hier jedoch unter den Voraussetzungen seiner Wahrheits- und seiner Freiheitstheorie. Wiederum finden die Geist- bzw. – wie es in der kulturtheologischen Programmschrift von 1919 heißt – Kulturfunktionen Berücksichtigung. 13 In der Fokussierung dieser Dimension geistiger Selbstauslegung drückt sich erneut Tillichs Interesse aus, Religion nicht allein im Rahmen spekulativen Denkens zu thematisieren, sondern auch unter den Bedingungen des endlichen Geistes und das heißt zugleich in ihrem positiv-geschichtlichen Auftreten. In Anbetracht der Vielzahl von Übereinstimmungen zwischen Tillichs Überlegungen zum Religions- und Kulturbegriff vor und nach dem Ersten Weltkrieg ist es nahe liegend, die bereits in Tillichs frühen Schriften diskutierte Differenz zwischen dem substantiellen Gottesbewusstsein und den Geistes- bzw. Kulturfunktionen mit der Differenz zwischen substantiell religiös und intentional religiös in Beziehung zu setzen. Die Linien führen unverkennbar dorthin. Das gilt in besonderer Weise für den ersten Aspekt, dessen Beeinflussung durch Schelling deutlich zutage liegt. Schwieriger steht es indes um den Gedanken eines intentional religiösen Bewusstseins. Er lässt sich nicht unter den Theorieprämissen begreiflich machen, die für Tillichs Arbeiten vor dem Ersten Weltkrieg gelten. Dazu ist es vielmehr erforderlich, die Umstellung der Theoriegrundlagen während des Ersten Weltkriegs zu berücksichtigen, die sich in Gestalt einer sinntheoretischen Fundierung des Geistbegriffs ausdrückt. Diese Transformation hat jedoch nicht allein für das Modell eines intentional religiösen Bewusstseins Bedeutung, sondern auch – wie wir später sehen werden – für die Bestimmung des substantiell religiösen Bewusstseins. Wie bereits angedeutet wurde, steht die Umformung der Theoriegrundlagen in Gestalt einer sinntheoretischen Fundierung des Geistbegriffs unter dem Einfluss der Phä13 Tillich spricht dort von zwei Richtungen, in denen sich die Kulturfunktionen geistigen Handelns auslegen. Er differenziert zwischen einer aufnehmenden und einer gestaltenden Richtung. Die aufnehmende, die Tillich als die theoretische spezifiziert, ist in eine intellektuelle und eine ästhetische unterteilt. Ihnen entsprechen die Akte des Denkens und der Anschauung. Die gestaltende Richtung, die Tillich als die praktische spezifiziert, ist in eine individual- und sozialethische unterteilt. Ihnen entsprechen die Akte der normativen Gestaltung. Dieses 4erSchema dient Tillich der Explikation der kulturellen Welt, die sich aus vier Teilsystemen aufbaut: Wissenschaft und Kunst auf Seiten der theoria, Moral und Staat auf Seiten der Praxis (vgl. GW IX, 17).

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nomenologie Edmund Husserls. Aus diesem Grund werden wir uns zunächst Letzterem zuwenden.

2. Die Bewusstseinsformen des Religiösen 2.1 Grundzüge der Intentionalitätstheorie Edmund Husserls Husserls kritische Auseinandersetzung mit psychologischen Begründungsformen der Logik und Mathematik, deren Anhänger er selbst als Schüler Franz Brentanos gewesen war, führte ihn zur Erarbeitung einer neuen Grundlegung der Philosophie, die sich in dem Ausdruck Phänomenologie verdichtet hat. 14 Den Durchbruch zum phänomenologischen Ansatz stellen die 1900/1901 erschienenen Logischen Untersuchungen dar, 15 in denen Husserl – wie es im Vorwort heißt – den Versuch einer „Neubegründung der reinen Logik und Erkenntnistheorie“ (VII) unternimmt. 16 Wir werden uns im Folgenden zunächst auf die fünfte LU konzentrieren, in der Husserl erstmals seine Theorie der Intentionalität des Bewusstseins systematisch entfaltet hat. Sie steht unter der Überschrift Über intentionale Erlebnisse und ihre Inhalte. Auch wenn sich Husserl zu diesem Zeitpunkt bereits auf einem prinzipiell von Brentanos Theorieprogramm abweichenden Standpunkt befindet, knüpft sein Begriff intentionaler Erlebnisse an Aspekte an, die sein Lehrer in der Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874) festgehalten hat. Die Analyse unterschiedlicher Bewusstseinsakte, wie etwa Vorstellungen, Urteile oder Affekte, haben Husserl auf einen grundlegenden Sachverhalt im Aufbau von Bewusstsein aufmerksam gemacht: Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas. 17 Um diese Bestimmung näher spezifizieren zu können, greift er Theorieelemente Brentanos auf, der der Überzeu14 Zur Psychologismuskritik vgl. H. Peucker, Von der Psychologie zur Phänomenologie. Husserls Weg in die Phänomenologie der „Logischen Untersuchungen“, Hamburg 2002, 73 ff. 15 Die Seitenzahlen der Logischen Untersuchungen (= LU) werden im Folgenden im Haupttext in Klammern gesetzt. 16 Vgl. zum „Durchbruch zur Phänomenologie“ H. Peucker, Von der Psychologie zur Phänomenologie, a.a.O. (Anm. 14), 159 ff. 17 Vgl. LU, 366. Explizit ist diese Bestimmung in E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 5 der Gesammelte Schriften, hrsg. von E. Ströker, Hamburg 1992, 179 ff. (im Folgenden Ideen I, die nach der Originalpaginierung zitiert werden) ausgeführt.

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gung war, psychische Phänomene von denen der physis durch das Merkmal der Intentionalität abgrenzen zu können. Auf diese Position nimmt Husserl explizit Bezug: „‚Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Richtung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist) oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise.‘ “ (LU, 366 f.)18

Das den Akten des Bewusstseins – im Sinne des Bewusstseins von etwas – Gemeinsame bezeichnet Husserl im Anschluss an Brentano als Intentionalität. Bewusstsein ist intentional verfasst bzw. zeichnet sich durch die Struktur der Richtung auf aus. Intentionalität ist das Gattungsmerkmal von Bewusstseinserlebnissen (vgl. LU, 367). Damit ist der erste zentrale Aspekt benannt, den Husserl von seinem Lehrer übernimmt. Der zweite greift Brentanos Gedanken von der jeweiligen „‚Weise der Beziehung des Bewußtseins auf einen Inhalt‘“ (LU, 367) auf, 19 der am Ende des vorletzten Zitats bereits angeklungen war. In unterschiedlichen Bewusstseinsakten (vorstellen, urteilen etc.) kommen unterschiedliche Beziehungsweisen des Bewusstseins auf Inhalte zum Ausdruck. Auch wenn Husserl an Brentanos Intentionalitätsbegriff anknüpft, grenzt er sich gleichwohl in aller Deutlichkeit von dessen Anspruch ab, mittels der Intentionalitätsstruktur des Bewusstseins psychische Phänomene charakterisieren zu können. Husserl löst diese Struktur aus dem psychologischen Theoriekontext seines Lehrers heraus und legt sie der Explikation der Aktklasse intentionaler Bewusstseinserlebnisse zugrunde. Vom intentionalen Bewusstseinsakt unterscheidet Husserl das intentionale Bewusstseinskorrelat. Was Letzteres betrifft, so legt er allergrößten Wert darauf, dass in einer phänomenologischen Analyse über die Existenz oder Nichtexistenz des in den Akten des Bewusstseins intendierten bzw. – wie Husserl auch sagt – gemeinten Gegenstands nichts gesagt ist. Der Gegenstand ist mental genauso wenig inexistent wie „extra mentem, er ist überhaupt nicht“ (LU, 373). Die Frage nach dem ontologischen Status des intentionalen Bewusstseinskorrelats klammert Husserl aus. Für eine phä18 So auch in den E. Husserl, Ideen I, a.a.O. (Anm. 17), 175: „[D]agegen hat er (Brentano) auf der anderen Seite den Begriff des ‚psychischen Phänomens‘ […] durch die Eigentümlichkeit der Intentionalität charakterisiert.“ 19 Ebd.

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nomenologische Analyse der Bewusstseinserlebnisse ist allein entscheidend, dass der Gegenstand intendiert bzw. gemeint ist. Um die Art und Weise der intentionalen Bezugnahme auf den Gegenstand fassen zu können, ist es hilfreich, die erste LU zu berücksichtigen. Sie steht unter der Überschrift Ausdruck und Bedeutung und stellt auf sprachphilosophischer Ebene bereits erste Überlegungen zur Intentionalitätstheorie als dem Hauptthema der Phänomenologie an. Für Husserl ist ein Ausdruck ein bedeutsames Zeichen (vgl. LU, 30). Vom bloßen Zeichen unterscheidet den Ausdruck, Träger von Bedeutung bzw. Sinn zu sein. Die Bedeutungs- bzw. Sinndimension des Ausdrucks ist ihm nicht per se eingestiftet, sondern verdankt sich spezifischer Akte des Bewusstseins. Husserl nennt sie die „bedeutungsverleihenden Akte oder auch Bedeutungsintentionen“ (LU, 38). Genauso kann er auch von Akten des „Vermeinens“ (LU, 42) sprechen. Mit dem Bedeutungs- bzw. Sinnbegriff ist das „Wesen des Ausdrucks“ (LU, 49) bezeichnet. Zugleich ist der Ausdrucksbegriff durch eine Gegenstandsbezogenheit charakterisiert, die sich durch seinen Bedeutungsgehalt konstituiert. „Er [sc. der Ausdruck] meint etwas, und indem er es meint, bezieht er sich auf Gegenständliches.“ (LU, 37) Das ‚etwas‘, von dem hier die Rede ist, bezeichnet das intentionale Korrelat des Bewusstseinsaktes, das den Status von Bedeutung bzw. Sinn hat. Das Bewusstsein ist sonach auf Bedeutungs- bzw. Sinngehalte hin ausgerichtet. Und erst durch Letztere baut sich die Bezugnahme des Bewusstseins auf einen Gegenstand auf. Diese Zuordnung greift Husserl in seinen Ideen I erneut auf, in denen er die Differenz zwischen den bedeutungsverleihenden Akten und den ihnen korrelierenden Bedeutungs- bzw. Sinngehalten durch die Unterscheidung zwischen Noesis und Noema spezifiziert. 20 Darin heißt es: „Jedes Noema hat einen ‚Inhalt‘, nämlich seinen ‚Sinn‘, und bezieht sich durch ihn auf seinen ‚Gegenstand‘.“ 21 Vor diesem Hintergrund ist es zu begreifen, dass Husserl größten Wert darauf legt, das intentionale Korrelat und den Gegenstand des Ausdrucks auseinander zu halten. Zwar ist der Bewusstseinsakt durch die Bedeutungsintention auf einen Gegenstand gerichtet, „aber das volle Korrelat der Intentionalität, das ‚wovon‘ der Akt ein ‚Bewußtsein‘ hat, ist nicht ein Gegenstand, sondern Sinn“. 22

20 Vgl. E. Husserl, Ideen I, a.a.O. (Anm. 17), 200 ff. 21 Vgl. E. Husserl, Ideen I, a.a.O. (Anm. 17), 297. 22 E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 21970, 36.

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Von den bedeutungsverleihenden Akten sind dem Ausdruck außerwesentliche Akte unterschieden, die aber dennoch in einer logisch elementaren Beziehung zu ihm stehen, indem „sie seine Bedeutungsintention mit größerer oder geringerer Angemessenheit erfüllen“ (LU, 38). Von den bedeutungsverleihenden Akten unterscheidet Husserl „bedeutungserfüllende Akte“ (ebd.), worunter wahrgenommene oder phantasierte Anschauungen fallen. 23 Dass sie dem Ausdruck außerwesentlich sind, hat seinen Grund darin, dass der intendierte Sinn bzw. die intendierte Bedeutung des Ausdrucks nicht vom Gegebensein einer sie erfüllenden Anschauung abhängig ist. 24 Bei bedeutungsverleihenden Akten handelt es sich zunächst um „leere Bedeutungsintentionen“ (LU, 38). Wenn der gemeinte Gegenstand nicht anschaulich gegeben ist, hat es „bei der bloßen Meinung sein Bewenden“ (LU, 37). Dass zwischen der ersten und der fünften LU eine Vielzahl von Übereinstimmungen auszumachen sind, ist unübersehbar. Doch ist die systematische Verknüpfung beider Untersuchungen nicht soweit gediegen, wie es die in ihnen entfalteten Grundlagen erlaubt hätten. So weist Ulrich Barth darauf hin, dass der in der fünften LU entwickelte Begriff intentionaler Erlebnisse in hohem Maße dazu geeignet gewesen wäre, den auf dem Boden der Sprachphilosophie eingeführten Bedeutungs- bzw. Sinnbegriff „akttheoretisch“ zu verallgemeinern. 25 Das aber ist unterblieben. Statt von Bedeutung oder Sinn spricht Husserl in der fünften LU von der „Materie“ (LU, 411) des Aktes. 26 Den „intentionalitätstheoretisch verallgemeinerten Sinnbegriff liefern erst die ‚Ideen I‘“. 27 Während die fünfte LU die Intentionalität als Gattungsmerkmal von Bewusstseinsakten ausweist, erweitern die Ideen I diesen Gedanken um die Sinndimension, in

23 Zum Anschauungsbegriff vgl. E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, a.a.O. (Anm. 22), 46 ff. 24 Vgl. V. de Palma, Husserls phänomenologische Semiotik (I. Logische Untersuchung, §§ 1-23), in: Edmund Husserl, Logische Untersuchung, hrsg. von V. Mayer, Berlin 2008 (= Klassiker Auslegen, Bd. 35), 43-59. 52. 25 U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89-123. 101. 26 Vgl. E. Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, a.a.O. (Anm. 22), 35. 27 U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs, a.a.O. (Anm. 25), 102.

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der sich der „Grundcharakter alles Bewusstseins“ ausdrückt. 28 Die „‚Sinngebung‘“ bildet das Fundament noetischer Akte. Damit sind zentrale Aspekte der Intentionalitätstheorie Husserls skizziert worden. Sie steht für eine phänomenologische Durchdringung des vorderhand trivial anmutenden Satzes, dass das Bewusstsein immer Bewusstsein von etwas ist. 29 Husserls Überlegungen sind für unseren Zusammenhang insofern von Bedeutung, als sie die Struktur von Gegenstandsbewusstsein in einem neuen Licht erscheinen lassen. Denn das ‚etwas‘, worauf Bewusstsein intentional bezogen ist, hat seiner Auffassung nach nichts mit der reellen Objektwelt zu tun. Die Bewusstseinsbeziehungen legen sich vielmehr im Medium der Bedeutung bzw. des Sinns aus. Damit kommen wir zu Tillichs Rezeption des Husserlschen Intentionalitätsbegriffs im Kontext seiner Theorie religiöser Akte. 2.2 Das intentional religiöse Bewusstsein Während die Systematische Theologie von 1913 noch stärker unter dem Eindruck des Idealismus steht und sich einem spekulativen Ansatz verpflichtet weiß, versucht Tillich in den folgenden Jahren, diesen methodischen Primat aufzubrechen. Zwar orientiert sich seine Habilitationsschrift – Der Begriff des Übernatürlichen, sein dialektischer Charakter und das Prinzip der Identität – dargestellt an der supranaturalistischen Theologie vor Schleiermacher (1915) – am Schellingschen Identitätsprinzip, doch deutet sich bereits in ihr eine konzeptionelle Umorientierung ab. Sie lässt sich an folgender Passage illustrieren: „Es ist eine alte Erscheinung, daß in Zeiten der autonomen philosophischen Produktion und der Kämpfe um die Wahrheit vom Boden des freien Denkens aus eine Stimmung entsteht, die sich nach supranaturalen Autoritäten sehnt. Die Rettung vor der Skepsis, die sich für schwächere Geister notwendigerweise aus dem Streit der Systeme ergibt, wird in einer unverbrüchlichen übernatürlich verkündigten Wahrheit gesucht, der man sich ohne Kritik autoritätsfreudig hingibt. Diese Stimmung, die in der ausgehenden Antike dem Christentum in so hohem Maße förderlich gewesen ist, treibt auch jetzt den philosophisch unselbständigen Theologen in den Hafen einer supranaturalen Autorität.“ (EW IX, 533 f.)

28 E. Husserl, Ideen I, a.a.O. (Anm. 17), 185. 29 „Also ‚Bewußtsein von etwas‘ ist ein sehr Selbstverständliches und doch zugleich höchst Unverständliches.“ (E. Husserl, Ideen I, a.a.O. [Anm. 17], 180)

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Diese Ausführungen sind in ihrer Ausrichtung zunächst auf Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts gemünzt. Man wird jedoch darin nicht fehl gehen, dass diese Problemexposition für Tillich nicht allein ein historisches Problem in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beschreibt. Vielmehr ist seiner Auffassung nach mit dem Autonomiebegriff ein für die Moderne signifikantes Muster kultureller Selbstverständigung bezeichnet. Das Supranaturale hingegen ist Inbegriff einer sich gegenüber der Autonomie autoritär verhaltenden Gedankenkonstruktion. Tillichs Untersuchung zum Begriff des Übernatürlichen zielt darauf, den Supranaturalismus in die Schranken zu weisen. Dafür steht die kritische Figur der Dialektik des supra, die Tillich bereits in den Eingangspassagen seiner Studie entfaltet hat. 30 Tillich verfolgt dort die Frage nach der Konzeptualisierbarkeit des Gottesgedankens. Der Gottesgedanke in Gestalt des Supranaturalen zeichnet sich für ihn jedoch durch eine doppelte Schwäche aus. Zum einen verhält sich das Übernatürliche – wie bereits angedeutet wurde – autoritär gegenüber der Autonomie. Zum anderen steht das Übernatürliche zugleich unter der Bestimmtheit des Natürlichen und damit unter den Bedingungen der Immanenz und der Autonomie. Die Bedingtheit der Gottesvorstellung in Gestalt des Supranaturalen durch den Immanenzund den Autonomiegedanken veranlasst Tillich in den Jahren zwischen der Habilitationsschrift und dem Vortrag zur Kulturtheologie dazu, das Verhältnis zwischen dem Gottesgedanken und dem der Autonomie einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. 31 30 „Das Übernatürliche verhält sich erstens negativ zum Natürlichen, und da es sonst keinen Gehalt bekommt, bleibt es in dieser reinen Negativität, es wird inhaltslos und vernichtet zugleich als das ontologisch Primäre den Inhalt des Natürlichen. Zweitens verhält es sich positiv zum Natürlichen, insofern es durch dasselbe bestimmt wird; allen Gehalt, den es empfängt, bekommt es vom Natürlichen, es wird ein anderes Natürliches und bildet zusammen mit den ersten Natürlichen eine zusammenhängende inhaltlich bestimmte Natürlichkeit. Das Übernatürliche schwebt dazwischen, Vernichtung oder Duplikat des Natürlichen zu sein.“ (EW IX, 463 f.) 31 Wie wir gesehen haben, spielt das Verhältnis von Freiheitsbegriff und Gottesgedanke bereits im 1913er System eine zentrale Rolle. Gleichwohl lässt sich eine elementare Differenz zwischen beiden Varianten seiner Thematisierung feststellen. Tillichs Denken seit dem Ersten Weltkrieg zeichnet eine viel stärkere Fokussierung der Immanenz- bzw. Endlichkeitsdimension humaner Freiheitsakte aus. Auch wenn er durch die Auseinandersetzung mit Schellings Identitätsprinzip der positiven Philosophie, das sich Tillichs Auffassung nach dadurch auszeichnet, die Einheit von Identität und Widerspruch so denken zu können, dass sie nicht auf Kosten des Widerspruchs geht, von Anfang an eine besonderes Augenmerk auf

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Im Briefwechsel mit Hirsch steigert Tillich das Autonomieparadigma bis hin zum Begriff des Zweifels und der Skepsis. 32 Beide Begriffe bilden Chiffren des Freiheits- sowie des Subjektivitätsgedankens oder um mit Christian Danz zu sprechen: Sie stehen für die „Vollzugsgestalt der Subjektivität selbst“. 33 Tillich fasst in einem Brief an Hirsch aus dem Dezember 1917 darauf aufbauend das Zentralproblem seines Denkens wie folgt: „Wie ist mit dem theoretischen Zweifel diejenige Gewißheit vereinbar, die das Wesen des Glaubens ausmacht?“ (EW VI, 99) 34 Wie bereits in der Habilitationsschrift kommt Tillich auch im Briefwechsel mit Hirsch zu dem Ergebnis der Unhintergehbarkeit der Autonomie, die nun stärker geistphilosophisch fokussiert wird. Tillich räumt dem Geistbegriff bzw. den autonomen Handlungen des Geistes einen Prinzipienstatus ein. Diese prinzipielle Dimension zeichnet sich darin ab, dass er das Denken mit dem Begriff des Monismus verknüpft (vgl. EW VI, 115). Die unter der kategorialen Bestimmtheit des Denkens stehenden Objektivationen geben jedoch den Nährboden für den Zweifel ab. Aus diesem Grund lässt sich für Tillich das Gewissheitsproblem nicht unter den Bedingungen der vergegenständlichenden Akte des Geistes lösen. Zugleich erachtet er die Struktur Geist für unhintergehbar. Insofern steht Tillich vor der Frage, wie die Gegenstände des religiösen Bewusstseins beschaffen sein müssen,

das Widerspruchsprinzip gelegt hatte, setzt ein ernsthaftes Ringen mit der Frage, wie sich das religiöse Verhältnis unter den Prämissen endlicher Geistesakte darstellt, erst während des Ersten Weltkriegs ein. 32 Zum Begriff des Zweifels vgl. J. Dierken, Gewissheit und Zweifel. Über die religiöse Bedeutung skeptischer Religion bei Paul Tillich, in: Ch. Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004 (= Tillich-Studien, Bd. 9), 107-133. 33 Ch. Danz, Theologie als normative Religionsphilosophie. Voraussetzungen und Implikationen des Theologiebegriffs Paul Tillichs, in: Ders. (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004 (= Tillich-Studien, Bd. 9), 73-106. 88. Im Briefwechsel mit Hirsch wendet Tillich jene Figuren ausdrücklich auf sich selbst an. Er schreibt, er lebe in dem „Prinzip der autonomen Lebensimmanenz […], wie es in der ganzen modernen Literatur und Dichtung wiederklingt“ und versuche, sich immer tiefer darin hineinzuleben (EW VI, 115). 34 Eine erste ausführliche Auseinandersetzung mit der Gewissheitsthematik finden wir in der Thesenreihe Die christliche Gewißheit und der historische Jesus (1911).

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um dem Bedürfnis nach religiöser Gewissheit zu entsprechen, und das heißt zugleich, dem Zweifel entzogen zu sein. 35 „Eben dies ist meine Meinung. Geistiges Leben ist Leben im Sinn oder unablässige schöpferische Sinngebung.“ (EW VI, 125) 36 Diese Worte richtet Tillich in einem Brief vom 9. Mai 1918 an Hirsch, und in ihnen deutet sich der auf dem Sinnbegriff beruhende Lösungsversuch des Objektivationsproblems an. Der zuletzt zitierte Satz lässt sich kaum anders als vor dem Hintergrund der Phänomenologie Edmund Husserls begreifbar machen, was bereits die Diktion nahe legt. Im Folgenden gilt es, Husserls Einfluss auf Tillich weiter aufzuhellen. Zu diesem Zweck werden wir uns auf Tillichs Verständnis der Intentionalitätsstruktur religiöser Bewusstseinsakte konzentieren. Auch wenn sich die Grundlagen von Tillichs sinntheoretisch fundiertem Geistbegriff bereits im Briefwechsel mit Hirsch identifizieren lassen, verdichtet sich das Konzept eines intentionalitätstheoretisch gefassten Begriffs religiöser Akte terminologisch in den Jahren 1919/1920. Einen ersten wichtigen Anhaltspunkt gibt uns die 1919 entstandene Untersuchung Rechtfertigung und Zweifel, mit der sich Tillich zum Zwecke der Umhabilitatierung der Theologischen Fakultät in Berlin zu empfehlen beabsichtigte. In dieser Studie setzt sich Tillich ausführlich mit dem bereits angesprochenen Objektivationsproblem auseinander. Um den besonderen Status der Gegenstände des religiösen Bewusstseins bzw. – wie Tillich in dieser Studie auch sagt – des Glaubens zu spezifizieren, bedient er sich eines Theorieelements der Phänomenologie. Er schreibt: „Klärend für dieses Verhalten des Glaubens ist der von der phänomenologischen Schule gebrauchte Begriff des Meinens.“ (EW X, 225) Dieser Satz zeigt unverkennbar an, dass Tillich den Glaubensbegriff bzw. den Begriff des religiösen Bewusstseins mit der Theorie des intentional verfassten Be35 Diesen Aspekt bezieht Tillich auf erlebnistheologische Reflexionen Hirschs. Tillich positioniert sich gegen die Annahme eines religiösen Erlebens „vor aller begrifflichen Deutung“ (EW VI, 118). Sobald Religiosität im Modus des Erlebens zum Ausdruck kommt, kann von einer unmittelbaren Gegebenheitsweise religiöser Gehalte nicht die Rede sein. Sie treten nur unter begrifflicher bzw. kategorialer Bestimmtheit auf bzw. unter der Voraussetzung der Struktur des endlichen Geistes. „Es wird erlebt in Bewußtseinsvorgängen […]. Hier gibt es kein Entweichen.“ (EW VI, 124) 36 In seiner Abhandlung Kirche und Kultur (1924) findet sich eine ganz ähnliche Formulierung: „Jedes Leben, das über die Unmittelbarkeit des bloß Biologischen, Psychischen und Soziologischen hinausgeht, ist Leben in einem Sinnvollzug.“ (GW IX, 33)

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wusstseins Husserls verknüpft. 37 In dieser Verbindung erblickt Tillich eine Möglichkeit, auf das Objektivationsproblem zu reagieren und damit dem „Zentralproblem“ seines Denkens Herr zu werden. Wie diese Lösung aussehen könnte, deutet Tillich sodann an: „Jeder Begriff meint etwas, zielt auf etwas hin, und dieses Gemeinte ist etwas ganz anderes als die Vorstellung, durch die hindurch gemeint wird. So wird das Unbedingte gemeint durch bedingte Vorstellungen hindurch.“ (EW X, 225) 37 In Rechtfertigung und Zweifel operiert Tillich ebenso mit dem Begriff des religiösen Erlebnisses. Der Erlebnisbegriff verweist gleichermaßen auf die Phänomenologie Husserls, der – wie oben angedeutet wurde – die Akte des Bewusstseins als intentionale Erlebnisse spezifiziert hat. Gleichwohl lassen Tillichs Schriften der Jahre 1919/1920 erkennen, dass sich terminologisch betrachtet die Figur der Richtung auf gegenüber dem Erlebnis- bzw. dem äquivok verwendeten Erfahrungsbegriff durchsetzt. Dieser Befund lässt sich an der Umstellung der Diktion feststellen, die Tillich in der zweiten Auflage seiner kulturtheologischen Programmschrift Über die Idee einer Theologie der Kultur vorgenommen hat. In der ersten Auflage definiert er Religion als „Erfahrung des Unbedingten und das heißt Erfahrung schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit“ (GW IX, 18). In der zweiten Auflage verzichtet er vollständig auf den Begriff der Erfahrung und verwendet statt des als „Erfahrung des Unbedingten“ charakterisierten Religionsbegriffs den Ausdruck „Richtung auf das Unbedingte“ (P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur [Nachdruck der 2. Auflage], Darmstadt 1968, 35). Ein Motiv für die terminologische Umstellung lässt sich dem Briefwechsel mit Hirsch entnehmen. Unter der Perspektive des Zentralproblems seines Denkens fragt Tillich dort nach der Möglichkeit einer skepsisfreien Religion. Eine solche Religion kann nun nicht in den Akten geistigen Handelns zum Ausdruck kommen, da die Akte des Geistes vergegenständlichen und damit dem Zweifel anheim fallen. Daher müsse sich – so Tillich – „die religiöse Gewißheit auf ein anderes als das objektive Moment beziehen“ (EW VI, 102). Mit dem objektiven Moment sind die Objektivationen geistigen Handelns gemeint. Ihnen gegenüber fordert Tillich, das „subjektive urständliche Moment der Religion zu beschreiben“ (ebd.). Dass es sich hierbei um keine Nebensächlichkeit in der Bestimmung seines Religionsbegriffs handelt, lässt sich nicht zuletzt daran ermessen, dass er in der Beschreibung dieses Momentes „die wichtigste Aufgabe der Religionswissenschaft und Theologie“ (ebd.) erblickt. Die nähere Bestimmung dieses subjektiv urständlichen Moments der Religion loziert er jenseits der Aktualität geistiger Akte. Um diese Dimension des Religiösen zu spezifizieren, kennzeichnet Tillich die „skepsisfreie Religion“ als „reine Zuständlichkeit“ (ebd.). Insofern das religiöse Erleben, wie wir gesehen haben, seiner Überzeugung nach immer ein schon kategorial gedeutetes Erleben ist, kommt er an dieser Stelle zu dem Schluss, dass die skepsisfreie Religion kein Erlebnis sein könne (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund zeichnet sich ein Motiv für Tillichs begriffliche Umstellung ab.

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Tillich parallelisiert hier den religiösen Glaubensakt und seinen Inhalt mit anderen Bewusstseinsakten und ihren Inhalten bzw. – in der Terminologie Husserls – mit der Unterscheidung zwischen Noesis und Noema. Das Meinen bzw. Zielen auf greift den intentionalen Charakter des Bewusstseins auf. 38 Das etwas bzw. das Gemeinte steht für den intentionalen Gehalt der Bewusstseinsakte, der – wie wir gesehen haben – für Husserl stets als dem Bewusstsein korrelierender Sinngehalt zu stehen kommt. Das religiöse Bewusstsein und das Unbedingte verhalten sich zueinander wie Noesis und Noema. Wenn Tillich dem Unbedingten den Status des Noema einräumt, so ist darin dessen sinntheoretisches Verständnis enthalten. Der Begriff des Unbedingten ist vor diesem Hintergrund nicht anders zu begreifen als unbedingter Sinn, und der unbedingte Sinn bildet für ihn ein intentionales Korrelat des religiösen Bewusstseins. Damit ist zugleich der Verstehenshorizont für einen der schillerndsten Begriffe der Kulturtheologie Tillichs abgesteckt – den Begriff des Gehaltes. Er hat in Tillichs Denken den Status eines Noema. 39 Das Unbedingte bzw. der unbedingte Sinngehalt ist kein Gegenstand im Sinne der reellen Objektwelt, sondern sinnhaften Charakters. 40 In der im Wintersemester 1919/1920 gehaltenen Vorlesung Religion und Kultur. Die Stellung der Religion im Geistesleben 41 erklärt Tillich dementsprechend, „daß das Unbedingte überhaupt kein Gegenstand ist, sondern ein Sinn“ (EW XII, 312). 42 Ebenso heißt es in 38 In seiner Religionsphilosophie-Vorlesung aus dem Sommersemester 1920 verwendet Tillich „das Meinen“ und „das Gerichtetsein“ des Bewusstseins äquivok (EW XII, 379). 39 „Das, was die Religion ‚meint‘, und das, was die Philosophie beweist, sind zunächst zwei verschiedene Dinge. Das erste ist Gehalt, das zweite Form.“ (EW XII, 582) 40 Vor diesem Hintergrund ist die schon im Briefwechsel mit Hirsch zu lesende Bemerkung Tillichs zu interpretieren, dass das Göttliche kein Sein, sondern „Sinn“ (EW VI, 126) sei. 41 Diese Vorlesung ist für unseren Zusammenhang darüber hinaus einschlägig, als Tillich darin programmatisch „die Auflösung der Gegenstandsbegriffe in Beziehungsbegriffe des Endlichen zum Absoluten“ (EW XII, 323) einfordert. Und auch mit diesem in dieser Vorlesung immer wieder verwendeten Beziehungsbegriff ist nichts anderes als die Intentionalitätsstruktur des religiösen Bewusstseins zum Ausdruck gebracht. 42 Dennoch erhebt Michael Moxter gegenüber Tillich den Vorwurf, sich nicht präzise zum Status des Noema zu äußern (vgl. M. Moxter, Kritischer Intuitionismus, a.a.O. [Anm. 3], 190). Er fährt dann fort: „Eine realistische Interpretation, die das noema als einen äußeren Gegenstand und als eine Art Zielscheibe begreift, auf die ein noetischer Akt in der Weise trifft, wie es ein Pfeil oder ein ande-

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seiner 1923 angefertigten, unveröffentlichten Untersuchung Das Unbedingte und die Geschichte pointiert: „Er [sc. der unbedingte Sinn] kann nicht vergegenständlicht, nicht gesagt werden, er kann nur gemeint sein. Sagt man ihn, so muß man Symbole verwenden.“ (EW X, 337)

In der im letzten Satz markierten symboltheoretischen Dimension deutet sich Tillichs Versuch an, das schon am Ende der oben aus Rechtfertigung und Zweifel zitierten Passage anklingende Problem zu lösen, dass sich das Bewusstsein nur durch bedingte Vorstellungen hindurch auf das Unbedingte richten könne. Die Schwierigkeit der symboltheoretischen Vermittlung der noetischen und noematischen Dimension in Tillichs Religionsbegriff kann hier nicht weiter verfolgt werden. 43 Hingewiesen werden soll nur auf die besondere Spezifikation des dem religiösen Bewusstsein korrelierenden Noema, die sich in Tillichs unveröffentlichtem System der religiösen Erkenntnis (1927/1928) findet. 44 Dieses System, das ebenfalls das „Problem der religiösen Objektivierung“ (EW XI, 128) diskutiert, greift erneut den der Husserlschen Phänomenologie entnommenen Begriff des Meinens auf. Tillich verwendet sehr viel Energie darauf, das „Wesen des religiösen Meinens“ (EW XI, 122) res Geschoß tun würde, wird hier mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zugelassen.“ (Ebd.) 43 Vgl. dazu M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000, 38 ff. Moxter ist der Auffassung, dass sich Tillichs Symboltheorie zwar einer bewusstseinstheoretischen Terminologie bediene, ihr aber kein phänomenologischer Zuschnitt bescheinigt werden könne (vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 38). Dieses Urteil vernachlässigt jedoch die geistund sinntheoretische Fundierung von Tillichs Symboltheorie. Zur Interpretation der Symboltheorie vor dem Hintergrund der Geist- und Sinntheorie vgl. Ch. Danz, Der Begriff des Symbols bei Paul Tillich und Ernst Cassirer, in: D. Korsch/E. Rudolph (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, 201-228. 201-214. L. Heinemann, Symboltheoretische Anfänge. Paul Tillichs frühe Privatdozentenjahre in Berlin (1919/1920), in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919-1920), Wien/Berlin 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 233-257. L. Heinemann, The Conception of the Religious Symbol in Tillich’s Early Philosophy of Spirit. Guardian against Exclusive Claims about the Absolute, in: K. Grau/P. Haigis/I. Nord (Hg.), Tillich Preview, Bd. 2, Berlin 2009, 25-41. 44 Diese Studie liegt in zwei Versionen vor und ist für das Verständnis von Tillichs Theorie des religiösen Bewusstseins insgesamt von kaum zu überschätzender Bedeutung (EW XI, 76-174).

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auf den Begriff zu bringen. Er bezeichnet das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte als das „Letzt-Gemeinte“ (EW XI, 129). Den Status des Letzt-Gemeinten nimmt das Unbedingte für Tillich insofern ein, als es nicht direkt gemeint sein kann, sondern nur vermittelt durch einen Inhalt, der das Gemeinte vertritt. Die Inhalte, die das Unbedingte vertreten, nehmen den Status religiöser Symbole ein. Auf diese Symbole ist der religiöse Akt bezogen. Sein intentionaler Charakter geht jedoch nicht in dieser Bezugnahme auf, sondern richtet sich durch die Symbole hindurch auf das Unbedingte bzw. Letztgemeinte. Darin konstituiert sich für Tillich religiöse Erkenntnis: „Sofern ein religiöser Akt sich auf einen vertretenden Inhalt und durch ihn hindurch auf das Letzt-Gemeinte richtet, ist er religiöse Erkenntnis.“ (EW XI, 136) Die Frage, wie Tillich das religiöse Symbol konzeptualisiert, um dessen Vertretungsfunktion gegenüber dem Letzt-Gemeinten einzulösen, kann an dieser Stelle – wie bereits erwähnt – nicht weiter erörtert werden. Die Ausführungen dienten vielmehr dazu, die Theorievoraussetzungen von Tillichs Verständnis eines intentional religiösen Bewusstseins aufzuklären und ihre Beeinflussung durch die Phänomenologie Husserls zu plausibilisieren. Damit können wir uns dem zweiten für die Kulturtheologie Tillichs signifikanten Modell eines substantiell religiösen Bewusstseins zuwenden. 2.3 Das substantiell religiöse Bewusstsein Nach dem Ersten Weltkrieg begegnet uns der Gedanke eines substantiell religiösen Bewusstseins in unterschiedlichen Variationen. 45 Diese Dimension des religiösen Bewusstseins hat für Tillich keineswegs nur nebengeordnete Bedeutung. Vielmehr erblickt er in ihrer Erfassung eine zentrale Aufgabe der Religionsphilosophie (vgl. GW XII, 42). Fragt man nach der Funktion eines solchen Begriffs von Religion, so ist man auf die transzendentale Absicht verwiesen, in der Tillich den Begriff des Unbedingten bzw. des unbedingten Sinns verwendet. Die absolutheitstheoretische Dimension, die sich in den Begriffen das Unbedingte, der unbedingte Sinn, Gehalt etc. ausdrückt, darf nicht allein im Sinne einer absoluten Thesis begriffen werden. Vielmehr ist mit ihnen ein transzendentaler Anspruch 45 „Substanz des Gottesbewußtseins“ (EW X, 147. 222), „religiöse Substanz“ (EW X, 309), „wesensmäßiges Bezogensein“ (EW X, 113), „Substanz des Religiösen“ (EW XII, 335), „Bewußtsein ist […] wesentlich religiös“ (EW XII, 537) u.ä.

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verbunden, die Bedingung der Möglichkeit sinnhafter Akte des Geistes anzugeben. Tillich ist der Überzeugung, dass die Sinnhaftigkeit einzelner Kulturakte des Geistes genauso wie die Sinnhaftigkeit des Sinnzusammenhangs einzelner Sinnfunktionen im unbedingten Sinn begründet ist (vgl. GW I, 318 f.). In dieser Perspektive ist gleichermaßen der Begriff eines substantiell religiösen Bewusstseins zu verstehen: „Jeder kulturelle Akt enthält den unbedingten Sinn; er ruht auf dem Sinngrund; er ist, insofern er ein Sinnakt ist, substantiell religiös.“ (GW I, 320) Die Sinnhaftigkeit der Kultur ist a priori im unbedingten Sinn begründet. Auf diesem Begründungszusammenhang baut Tillichs Begriff eines substantiell religiösen Bewusstseins auf. Um die besondere Charakteristik dieses Begriffs genauer spezifizieren zu können, gehen die folgenden Ausführungen den verstreuten Hinweisen Tillichs auf diesen Begriff nach. Einen ersten Anhaltspunkt bietet der 1924 erschienene Aufsatz Kirche und Kultur. In diesem Beitrag geht Tillich auf die für jeden einzelnen, sich in konkreten Geisteshandlungen vollziehenden Sinnakt notwendige Voraussetzung eines unbedingten Sinns ein. Dieser Gedanke ist bekannt und bezeichnet die der Tillichschen Sinntheorie eingestiftete Letztbegründungsdimension. Erstaunlich ist jedoch, dass Tillich diesen Begriff des unbedingten Sinns mit einem spezifischen Glaubensbegriff verknüpft, der sich zwar durch die Beziehung auf den unbedingten Sinn auszeichnet, sich jedoch nicht im Medium konkreter Geistesakte vollzieht. Um ihn von Letzteren abzugrenzen, spricht Tillich von einem „schweigenden Glauben“ (GW IX, 34). Obwohl Tillich diesen Glaubensbegriff von den intentional religiösen Akten des Geistes abhebt, zeichnet er sich gleichwohl durch Merkmale aus, die auf den Bereich der Phänomenologie und ihres Zentralbegriffs der Intentionalität verweisen. „In jedem Sinnakt, den wir vollziehen im Theoretischen wie im Praktischen, ist uns gegenwärtig ein bestimmter konkreter Sinn und zugleich als Gegenstand eines schweigenden Glaubens der unbedingte Sinn oder die Sinnhaftigkeit des Ganzen.“ (GW IX, 33 f.)

Dass dieser Glaube intentionalen Charakters ist, verbirgt die sinnhafte Verfasstheit seines Gegenstandes. Der unbedingte Sinn bildet hier das intentionale Korrelat eines schweigenden Glaubens, und das heißt eines sich nicht in freiheitlichen Akten auslegenden religiösen Bewusstseins. Diesen Zusammenhang zur Phänomenologie legt sodann eine daran anschließende Formulierung nahe, in der Tillich auf den unbedingten Sinn zu sprechen kommt, „auf den jeder Sinnakt in schweigendem Glauben gerichtet ist“ (GW IX, 34). Nicht nur religiöse Akte, die sich im Modus

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kultureller Akte vollziehen, zeichnen sich demnach durch diese in jenem Glauben enthaltene Richtung auf den unbedingten Sinn aus, sondern alle, also auch die kulturellen Akte, die ihrerseits nicht auf den unbedingten Sinn gerichtet bzw. nicht intentional religiös sind. Mit dem Begriff des schweigenden Glaubens ist nun nichts anderes bezeichnet als der Begriff eines substantiell religiösen Bewusstseins. Der schweigende Glaube nimmt exakt die systematische Position ein, die Tillich auch dem substantiell religiösen Bewusstsein einräumt. Die für den Begriff des schweigenden Glaubens maßgeblichen Merkmale, die Tillich vor dem Hintergrund der Phänomenologie verstanden wissen will, gelten gleichermaßen für den Begriff des substantiell religiösen Bewusstseins. Das belegt in noch deutlicherer Weise Tillichs Aufsatz Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie (1922). Auch in dieser Schrift führt Tillich aus, dass es ein „der Substanz nach unreligiöses Bewußtsein“ nicht gebe, „wohl aber der Intention nach“ (GW I, 378). Daran anschließend fährt Tillich fort: „In jeder Ich-Erfassung ist die Beziehung auf das Unbedingte als Realitätsgrund enthalten; aber nicht in jeder ist sie gemeint; danach unterscheiden sich die beiden Lagen des Bewußtseins.“ (Ebd.) Diese Passage ist für unseren Zusammenhang insofern weiterführend, als sie den Substanzcharakter des der Substanz nach religiösen Bewusstseins als Beziehung auf das Unbedingte spezifiziert. Damit verweist Tillich erneut auf ein dem Bewusstsein substantiell eingestiftetes Bezogensein auf das Unbedingte. Das intentionalitätstheoretisch inspirierte Verständnis jener Bewusstseinslage wird schließlich deutlich, wenn Tillich formuliert: „Phänomenologisch gesprochen: Es gibt eine Aktklasse, die aus einer Tiefe stammt, in welcher der Gegensatz von Akt zu Akt aufgehoben ist, und die infolgedessen nur durch Brechung im Medium des Bewußtseins zu eigenen Akten kommen kann. Ihrem Wesen nach aber ist sie nichts anderes als die Beziehung auf das Unbedingte, die jedem Akt innewohnt.“ (GW I, 380)

Das substantiell religiöse Bewusstsein wird hier als eigene Aktklasse des intentionalen Bewusstseins spezifiziert. Mit dem Wesen dieser Aktklasse ist deren substantielle Verfasstheit gemeint. Neben dem Begriff des schweigenden Glaubens sowie der zuletzt skizzierten Aktklasse des Bewusstseins lässt sich eine von Tillich angedeutete dritte Variante ausfindig machen, die für das Verständnis des substantiell religiösen Bewusstseins einschlägig ist und seine phänomenologische Prägung verdeutlicht. Im System der Wissenschaften heißt es erneut, „daß Religion keine Sinnsphäre neben anderen ist, sondern eine Haltung in allen

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Sphären: Die unmittelbare Richtung auf das Unbedingte.“ (GW I, 228) 46 Erneut schränkt Tillich die intentionale Bezugnahme auf das Unbedingte nicht auf religiös intentionale Akte ein, sondern bescheinigt ihr, eine Haltung in allen Sinnakten des Geistes zu sein. Wir hatten oben auf das System der religiösen Erkenntnis verwiesen, in dem Tillich davon spricht, dass der im religiösen Akt gemeinte unbedingte Sinn nie direkt gemeint sein kann, sondern nur vermittelt durch Symbole. Hier fasst Tillich Religion jedoch als eine unmittelbare Richtung des Bewusstseins auf das Unbedingte, und das heißt, dass sie nicht als durch einzelne Akte des Geistes vermittelt zu denken ist. Dieses Merkmal verbindet diesen Religionsbegriff erneut mit Tillichs Begriff des substantiell religiösen Bewusstseins. Der Einfluss Husserls und der sogenannten phänomenologischen Schule erstreckt sich somit auf beide Bewusstseinslagen des Religiösen. Gleichwohl wäre die Annahme verfehlt, die Intentionalitätsdimension des intentional religiösen Bewusstseins und des substantiell religiösen Bewusstseins würde sich auf ein und derselben Explikationsebene bewegen. Versucht man die Theorieebenen zu spezifizieren, auf denen Tillich beide Religionsbegriffe verstanden wissen will, ist es angebracht, einen Seitenblick auf das religions- und damit auch kulturphilosophische Methodenideal zu werfen, das sich ebenfalls in den 20er Jahren herausbildet – die „kritisch-intuitive Methode“ (EW XII, 391). 47 Während die Bestimmung des intentional religiösen Bewusstseins beide Methodenelemente, das kritische, auf die konkreten Sinn- bzw. Kulturfunktionen gerichtete, und das intuitive, auf den intentionalen Charakter des Bewusstseins gerichtete, voraussetzt, befindet sich der zweite Religionsbegriff auf einem rein intuitiven Standpunkt. Tillich dient das intuitive Element dazu, die dem Bewusstsein wesentlichen bzw. substantiellen Aufbaumomente auf den Begriff zu bringen. Unter diesem Blickwinkel erweist sich der quasi urständlich gedachte Bewusstseinszustand, die „Bewusstheit überhaupt“ (EW XII, 399), als durch ein „ursprüngliche[s] Meinen“ (ebd.) bzw. als durch einen „reine[n] Akt der Richtung auf“ (GW I, 123) gekennzeichnet, dessen intentionales Korrelat das Unbedingte bzw. der unbedingte Sinn ist. 46 Vgl. auch EW X, 342: „Keine Gestalt kann verstanden werden ohne die unmittelbare Richtung auf das Unbedingte“; EW XIV, 196: „unmittelbare Richtung auf Gott“; EW XIV, 279: „unmittelbare Beziehung des Geistes auf das unbedingt Seiende“. 47 Die ausführlichsten Methodenreflexionen Tillichs finden sich in seiner Religionsphilosophie-Vorlesung von 1920, vgl. EW XII, 367-397.

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Damit sind zentrale Aspekte des substantiell religiösen Bewusstseins zur Sprache gekommen. Bemerkenswert ist Tillichs Bemühen darum, ihn mit Merkmalen auszustatten, die der Phänomenologie entnommen sind. Hinter diesem Vorgehen verbirgt sich die Absicht, diesen Schelling entlehnten Begriff spekulativ zu depotenzieren und stärker den Theoriegrundlagen anzupassen, die sich während des Ersten Weltkriegs herauskristallisierten. Doch eine phänomenologische Reformulierung des Geistbegriffs scheint ihm am ehesten im Hinblick auf den Begriff des intentional religiösen Bewusstseins gelungen zu sein. Ein Grund mag darin liegen, dass sich dieser Begriff werkgenetisch betrachtet ohnehin im Fahrwasser neukantianischer Theoriebildungen bewegt. Wie wir gesehen haben, knüpft Tillichs Verständnis der intentional religiösen Bewusstseinsakte an den Begriff der Geistfunktionen an, den er schon vor dem Ersten Weltkrieg verwendet und nicht von Schelling übernommen hat. Die neukantianische Prägung seines Begriffs der Geistesfunktionen besitzt eine ungleich höhere Anschlussrationalität an die Phänomenologie als der Begriff eines substantiell gottsetzenden Bewusstseins. Wenn Tillich dennoch an jenem quasi urständlich gedachten Bewusstseinszustand festhält, so spielen hier mindestens drei Faktoren seines Religionsverständnisses eine zentrale Rolle. Zum einen hält Tillich zeit seines Lebens an dem Modell einer Letztbegründung fest, in deren Mittelpunkt der Begriff des Unbedingten steht. Darüber hinaus lässt sich für Tillich Religion nicht auf den Bereich des Subjektiven, auf eine „Provinz im Gemüt“ beschränken. Tillichs Religionsbegriff ist universalistisch ausgerichtet und steht darin unter der Botmäßigkeit seines Christentumsverständnisses. Und schließlich ist an dieser Stelle Tillichs Skepsis gegenüber einem rein kritischen Verfahren religions- und kulturwissenschaftlicher Reflexion namhaft zu machen. Auch wenn die kritische Methode für ihn unaufgebbar ist, bedarf sie der Ergänzung durch ein intuitives Methodenelement. Alle drei Aspekte stehen im Zusammenhang mit seinem Begriff des substantiell religiösen Bewusstseins. Inwiefern beide Religionsbegriffe in sich schlüssig sind, inwiefern sie miteinander vereinbar sind oder sich wechselseitig ausschließen, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Tillichs Ansinnen, rationale Anschlussfähigkeit der eigenen Theoriegrundlagen an die kultur- bzw. geisteswissenschaftlichen Diskurse zu erreichen, wird man jedoch eher dem Begriff des intentional religiösen Bewusstseins bescheinigen können als dem des substantiell religiösen Bewusstseins. Das Schellingsche Erbe erweist sich diesem Anliegen gegenüber eher hemmend als fördernd.

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Gleichwohl hielt Tillich – aus besagten Gründen – an diesem Begriff fest. Beide Bewusstseinsformen des Religiösen fließen in sein Verständnis von Geist ein und sind damit wesentlicher Bestandteil der geistphilosophischen Grundlagen, auf denen sein kulturtheologischer Ansatz ruht.

Die Genese von Tillichs Kulturtheologie in seinen frühesten Texten ERDMANN STURM Das Ursprungsdokument der Kulturtheologie Tillichs ist der am 16. April 1919 vor der Berliner Abteilung der Kant-Gesellschaft gehaltene Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur (GW IX, 13-31). Er wurde mit einem Vorwort vom Dezember 1919 publiziert. 1 Der Schlüsselbegriff dieses Vortrags ist der Begriff „Kultursynthese“ (GW IX, 22) bzw. „Einheitskultur“ (GW IX, 30. 31). Bereits in ihrem gemeinsamen Vorwort zur Publikation ihrer Vorträge sprechen Gustav Radbruch, Professor der Rechte in Kiel, und Paul Tillich, Privatdozent der Theologie in Berlin, von einer „ungewollten und unerwarteten Übereinstimmung“ beider Vorträge, obwohl diese doch „von Vertretern sehr verschiedener Wissenschaften mit verschiedenen Ausgangspunkten und verschiedenen Interessenrichtungen entworfen“ worden seien. Die Vortragenden glauben, so heißt es im Vorwort weiter, darin „nicht das Walten eines Zufalls, vielmehr den Ausdruck der philosophischen Lage dieser Zeit finden zu müssen“. 2 So wurden beide Vorträge unter dem gemeinsamen Obertitel Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe veröffentlicht. Diese „Übereinstimmung“ soll also der Ausdruck der „philosophischen Lage dieser Zeit“ sein. In seinem Kulturvortrag spricht Tillich von einer „neue[n], auf sozialistischem Boden sich erhebende[n] Einheitskultur“ (GW IX, 31). Die Aufgabe einer Theologie der Kultur besteht für ihn darin, „den kulturzerstörenden Widerspruch von Religion und Kultur“ zu überwinden durch den „Entwurf eines religiösen Kultursystems“, „in dem an Stelle des Gegensatzes von Wissenschaft und Dogma eine an sich religiöse Wissenschaft, an Stelle der Unterscheidung von Kunst und Kult1

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P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: G. Radbruch/P. Tillich (Hg.): Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe von Gustav Radbruch und Paul Tillich, Berlin 1919 (= Philososophische Vorträge der KantGesellschaft Nr. 24), 29-52. G. Radbruch/P. Tillich (Hg.): Religionsphilosophie der Kultur, a.a.O. (Anm. 1), 5.

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form eine an sich religiöse Kunst, an Stelle des Dualismus von Staat und Kirche eine an sich religiöse Staatsform u.s.w. tritt“ (GW IX, 22). Erst in dieser Weite des Zieles sieht er die Aufgabe der Kulturtheologie erfasst. Nach der Genese dieser Idee einer Theologie der Kultur in Tillichs frühesten Texten ist nun zu fragen.

1. Die Geschichte als Verhüllung oder Offenbarung Gottes. Die Monismus-Schrift von 1908 Zu den frühesten Texten Tillichs gehört seine Seminararbeit über Fichtes Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zum Johannesevangelium (EW IX, 4-19) vom Wintersemester 1905/06. Hier unterscheidet er nicht nur zwischen Autonomie und Theonomie, sondern zwischen zwei Arten des religiösen Bewusstseins: einem vorwiegend vom Wollen und einem vorwiegend vom Denken geprägten Bewusstsein. Entsprechend erscheine Gott als „der lebendige, persönliche, der wollend und handelnd, liebend und zürnend in die Geschichte, auch die des einzelnen, eingreift, und zu dem ich in ein persönliches, religiöses Verhältnis trete“, oder Gott wird zur „absoluten, ewig gleichen Idee, in der alle Erscheinung aufgeht, zu der nur ein absolutes, das Individuelle vernichtendes Verhältnis möglich ist“ (EW IX, 4). Entsprechend deutet Tillich auch die Geschichte entweder als reales Geschehen, in welchem dem geschichtlichen Augenblick entscheidende Bedeutung zukommt, oder nur als Entfaltung des schon Seienden, der Idee. Juden und Griechen sind die klassischen Vertreter beider Richtungen. Sie gehen im Christentum eine Verbindung ein. Die Abhandlung als Ganze belegt Tillichs Interesse an religionsphilosophischen Fragen im Umkreis seines philosophischen Lehrers und Freundes Fritz Medicus, des Wortführers der damaligen Fichte-Renaissance, die Tillichs weiteres Denken beeinflusst hat. 3 In den Bahnen des an Fichte orientierten Neuidealismus bewegt sich Tillich auch in der 1908 verfassten systematisch-theologischen Examensarbeit über das von ihm gewählte Thema Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche 3

Vgl. F. W. Graf und A. Christophersen, Neukantianismus, Fichte- und Schellingrenaissance. Paul Tillich und sein philosophischer Lehrer Fritz Medicus, in: ZNThG/JHMTh 11, 2004, 52-78. M. Boss, Paul Tillich and the Twentieth Century Fichte Renaissance: Neo-Idealistic Features in His Early Accounts of Freedom and Existence, in: Bulletin of the NAPTS 36 (3), 2010, 8-21.

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Religion? 4 Fritz Medicus hat diese Abhandlung als „Verteidigung bzw. Weiterbildung“ des nachkantischen Idealismus bezeichnet (EW IX, 142 Anm. 90) und mit aufschlussreichen Kommentaren versehen. Als Weiterbildung des Idealismus durch Tillich lässt sich die Integration des Begriffs der Verzweiflung in die Denkentwicklung des Monismus auf der geistigteleologischen Stufe verstehen. Die Verzweiflung hat ihren Grund in der „Gewissheit des verfehlten telos“: „Gott stand als das lebendige Soll der Menschheit gegenüber und darum musste sie verzweifeln.“ (EW IX, 141 f.) Tillich beschreibt die „Fülle der Zeiten“, also die Zeit Jesu, eindrucksvoll als die Zeit der Verzweiflung: „Die Normen, die sich nicht durchsetzen konnten, wurden ungewiß, es entstand die Skepsis oder die Verzweiflung an der Wahrheit und der Pessimismus oder die Verzweiflung am Guten und aus beiden der Unglaube oder die Verzweiflung an Gott.“ (EW IX, 142 f.)

Dieser Zustand habe, so Tillich, nicht andauern können. So sei er auseinander gefallen in „Gottlosigkeit und Gesetzlosigkeit einerseits“, „in freches Gottvertrauen und Gesetzgerechtigkeit andererseits“, „in epikuräische Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit und in synkretistisch-gnostische Allwisserei“. Dieses „für alle Zeiten“, nicht zuletzt für die Gegenwart „typische Bild“ deutet er als die „große weltgeschichtliche Kritik“ an einem rein teleologischen Monismus, selbst auf seiner höchsten Stufe, der religiösen. Die Überwindung der Verzweiflung ist aber nur möglich durch die Überwindung des rein teleologischen Monismus, d.h. durch das Wagnis, „in Jesus die letzte Deutung der Wirklichkeit zu erblicken“ (EW IX, 143). Es muss also zu einer Synthese von teleologischem und physischontologischem Monismus kommen. „In einer Person muss die Verzweiflung an Gott überwunden werden können, dadurch dass nichts an ihr zu finden ist, was Gott verhüllt.“ (EW IX, 144) Diese eine Person ist Jesus; in ihm sind sämtliche Normen verwirklicht. Medicus merkt dazu kritisch an, dass es dem nachkantischen Idealismus besser entspräche, von „Offenbarung des göttlichen Seins“ in Jesus zu sprechen statt von „Offenbarung der Normen“ (EW IX, 145 Anm. 96). Wenn Tillich also postuliert, dass Jesus uns in unserem Gewissen „in grundlegender Weise als absoluter Träger der Norm“ und als „unbedingt zuverlässige Quelle alles wahrhaft Wertvollen für uns“ (EW IX, 147) entgegengetreten sein muss, interpretiert er Jesus noch im Sinne des kantischen Dualismus von Sein und Sollen. 4

Zwei Versionen, EW IX, 24-93 (Entwurf); EW 94-153 (Überarbeitung und Abschrift).

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Der kantische Normbegriff liegt ganz auf der Linie derjenigen Stufe des Monismus, die Tillich die geistig-teleologische (im Unterschied zur physisch-ontologischen) nennt. Teleologie heißt: Das Sein wird aufgelöst zugunsten des Seinsollenden. Die Natur soll dem Geist unterworfen werden. Sie erhält ihre volle Realität erst, „wenn sie ganz vom Geiste angeeignet ist, ganz ihre Aufgabe, Mittel der geistigen Tätigkeit zu sein, erfüllt hat“ (EW IX, 119). Der zentrale Gedanke des teleologischen Monismus ist der „Monismus des Geistes als Ziel, der göttliche Geist oder Gott als Geist das Substrat der Weltgeschichte“ (EW IX, 121). Ziel des Weltgeschehens ist es, so Tillich unter Berufung auf Fichte, „dass das göttliche Sein durch Überwindung des Nichtich zum Dasein, d.h. zur Selbstdarstellung in der angeeigneten Natur komme“ (ebd.). Hier unterscheidet Tillich zwischen dem persönlichem Leben und dem göttlich-geistigen Gesamtleben. Ziel des persönlichen Lebens ist „das vollkommene Bestimmtwerden durch Freiheit und Geist“, d.h. die „Überwindung von allem, was als Unfreiheit, als Nichtich in uns erfahren wird, das Einswerden mit dem göttlich-geistigen Gesamtleben“. Dieses wiederum hat als Inhalt „die Zusammenfassung aller individuellen Wirklichkeit durch den umfassenden Geisteswert der Liebe“. Dieser doppelten Fassung des Telos des idealistischen Monismus entspricht im Christentum die doppelte Fassung des höchsten Gutes als Gotteskindschaft und als Reich Gottes. „Das Gotteskind ist der Mensch in seiner persönlichen Vollendung als vollkommen bestimmt durch den göttlichen Geist, und das Gottesreich ist die Liebesgemeinschaft der Gotteskinder in der verklärten Wirklichkeit.“ (EW IX, 121 f.)

Telos des Idealismus und höchstes Gut des Christentums sind alles andere als empirische Tatsächlichkeit, sie sind das Seinsollende, hinter dem die Persönlichkeit wie die Menschheit zurückbleiben. Die Begriffe „Telos“, „Soll“, „Norm“, „Gottesverhüllung“ statt „Gottesoffenbarung“ könnten den Hauptgedanken des idealistischen Monismus verdecken, dass für ihn die geistige Selbsterfassung Gotteserfassung und dass die Geschichte die Selbsterfassung Gottes ist. „Die Geschichte der Welt- und Lebensanschauungen und -gestaltungen, die sich vollzieht in Individuen, Gemeinschaften, Zeitströmungen in der Gesamtgeschichte; das alles als Selbstdarstellung Gottes in Form der Überwindung des Nichtich, das ist der Hauptgedanke des idealistischen Monismus.“ (EW IX, 123)

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Unter Selbsterfassung ist die Erfassung der teleologisch-geistigen Eigenart der Person zu verstehen. So ist in der Erfahrung des Unwerts der eigenen Persönlichkeit ein Bewusstsein des Soll enthalten. Die normative Bedeutung des Gewissens ist eine Offenbarung Gottes in uns. In der Selbstbesinnung stehen sich Subjekt und Objekt, endliche Vernunft und universale Weltvernunft nicht gegenüber, sondern „jede Selbstsetzung ist eine Durchsetzung der universalen Weltvernunft an einem Punkte“ (ebd.). In diesem Sinne ist auch das Recht, wenn es als wahres Recht geschichtlich zum Durchbruch kommt, Selbstdarstellung Gottes. (Vgl. EW IX, 122) Tillich widerspricht damit einer positivistischen, utilitaristischen oder pädagogischen Betrachtung des Rechts. Natürlich bleibt, wie Tillich betont, die Betrachtung des Rechts rein teleologisch: „Überall, wo wirkliches Recht vorhanden ist, ist göttliche Offenbarung.“ (Ebd.) Gottes Offenbarung geschieht also jeweils an einem Punkt. Tillich hält diesen Gedanken für fruchtbar namentlich im Hinblick auf soziale Bewegungen wie die sozialdemokratische. Das soziale Ideal der Sozialdemokratie könne nicht für viele geradezu ein religiöses geworden sein, wenn dem nicht wirklich auch ein religiöses Gut zugrunde läge. In den christlichen Kreisen solle darum eindrucksvoller verkündigt werden, „dass die soziale Sache eine göttliche Sache ist, dass überall, wo das Recht nicht zum Durchbruch kommt, ein Akt göttlicher Offenbarung verhindert wird“ (ebd.). Alle Geschichte ist entweder Offenbarung oder Verhüllung Gottes. Ist für den idealistischen Monismus Tillichs alle Geschichte in teleologischem Sinne Selbstdarstellung Gottes in Form der Überwindung des Nichtich, so haben wir es hier mit einer bestimmten, wesentlich sich an Fichte orientierenden Form einer Kulturtheologie zu tun.

2. Die Idee einer Einheit von Religion und Kultur. Die Schelling-Interpretation von 1910 In seinem Breslauer Promotionsvortrag von 1910 stellt Tillich Fichtes und Schellings Freiheitsbegriff als die zwei Brennpunkte einer Ellipse dar. 5 Den einen Brennpunkt bildet Fichtes System der Freiheit als Selbstsetzung der Vernunft. Freiheit ist reine, tätige Selbstbestimmung der Vernunft (Autonomie). Im zweiten Brennpunkt sieht Tillich Schellings Bestimmung der Freiheit als „die Macht, sich selbst zu widersprechen“. (EW 5

P. Tillich, Die Freiheit als philosophisches Prinzip bei Fichte, EW X, 55-62.

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X, 62) 6 Diese irrationale Macht, mit sich selbst uneins zu werden, teilt das Absolute den Ideen mit. Der eine Freiheitsbegriff erklärt, so Tillich, das Was der Welt und der Geschichte, nicht aber, warum Welt und Geschichte sind. Der Freiheitsbegriff Schellings führt weiter, er erklärt das Daß. Auf der einen Seite stehen Rationalismus und negative Philosophie, auf der anderen Seite Irrationalismus und positive Philosophie. Beide Seiten aber sieht er durch das Prinzip der Freiheit als Tat zusammengehalten. Wie seine beiden Dissertationen 7 belegen, gilt Tillichs besonderes Interesse der Freiheitslehre Schellings. In seiner philosophischen Dissertation verfolgt er die Absicht, den theologischen Gehalt der positiven Philosophie Schellings in ihrem Zentrum, der Freiheitslehre, zu erfassen. Sie bestimmt den Offenbarungs-, Gottes- und Religionsbegriff wie auch die Anthropologie Schellings. Tillich stellt Schelling neben Troeltsch. Dass „zwei so hervorragende Kenner der Religionsgeschichte wie Schelling und Troeltsch“ hinsichtlich der Absolutheit des Christentums zu so entgegengesetzten Resultaten kommen, liegt für Tillich in dem unterschiedlichen Gottesbegriff beider begründet. „Troeltsch hat“, so Tillich in der Urfassung seiner Dissertation, „nie aus seiner Übereinstimmung mit einem Euckenschen, d.h. aber modifiziert Fichteschen Idealismus ein Hehl gemacht. Er steht damit auf einer Stufe der idealistischen Gesamtentwicklung, die vor Schellings Freiheitslehre liegt.“ Über diese Epoche aber sei Schelling „hinausgeschritten“ bis zum Endpunkt seiner Entwicklung, der positiven Philosophie. 8 Wir dürfen Tillich so verstehen, dass er mit Schellings Philosophie der Offenbarung über Troeltsch und dessen religionsgeschichtlich begründete Bestreitung der Absolutheit des Christentums „hinausschreiten“ will. In der endgültigen Fassung seiner Dissertation formuliert er bescheidener. Angesichts der von Troeltsch und Rudolf Eucken vertretenen idealistischen Religionsphilosophie sei es angebracht, so Tillich, „von neuem auf 6

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Vgl. GW I, 78: „Wer das Absolute nicht als Thesis, sondern als Synthesis bezeichnet, der nimmt den Widerspruch in das Absolute auf. Damit aber auch das Irrationale. Es ist schlechterdings unableitbar, warum das Absolute sich zugleich mit der Bestimmung der Einheit und des Widerspruchs setzt.“ Die philosophische Dissertation: Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, Breslau 1910 = EW IX, 156-272. Die Urfassung der Dissertation befindet sich im Tillich Archiv, Harvard, Box 101/1 und 2. Im Folgenden zitiert als „Urfassung“. Die theol. Lizentiaten-Dissertation: Mystik und Schuldbewusstsein in Schellings philosophischer Entwicklung, Gütersloh 1912 = GW I, 13-108. P. Tillich, Urfassung, a.a.O. (Anm. 7), Bl. 7.

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diejenige Gestalt der idealistischen Philosophie, speziell Religionsphilosophie, hinzuweisen, die den Abschluss der gesamten Entwicklung bildet und mit ihrem Voluntarismus, Realismus und Positivismus dem modernen Denken […] im Grunde näher steht als irgend eine andere“ (EW IX, 159). Im Übrigen sei der Idealismus vor allem eine religiöse Bewegung. Auch wer die Verknüpfung von Theologie und Metaphysik prinzipiell ablehne, könne nicht umhin, die idealistische Geistesbewegung als eine bestimmte Ausprägung christlich-religiösen Lebens zu betrachten. Sie selbst habe diesen Anspruch erhoben und müsse auch in diesem Sinne gewürdigt werden. In Schellings Begriff der „philosophischen Religion“ komme „das religiöse Selbstbewusstsein des Idealismus zu charakteristischem Ausdruck“ (ebd.). Auf dieses „religiöse Selbstbewusstsein des Idealismus“ will Tillich in seinen beiden Schelling-Dissertationen aufmerksam machen. In Schellings Idee der philosophischen Religion sieht er die Idee einer Einheit von Religion und Kultur im Zeichen der Freiheit als Ziel der Geschichte. Sie wird seine künftige Kulturtheologie bestimmen. Aber auch Schellings Religionsbegriff, den er beiden Schelling-Arbeiten zugrunde legt, macht er sich zu eigen. Wir behandeln zunächst (1) den Religionsbegriff, sodann (2) das Thema Religion und Kultur. 2.1 Die Religion: Potenz und Akt Tillich sieht Schellings Anthropologie zusammengefasst in dem Satz: „Die reine Substanz des menschlichen Bewußtseyns […] an sich ist […] das natürlich […] Gott Setzende.“ (EW IX, 191) 9 Mit „Substanz“ des Bewusstseins ist das diesem zu Grunde Liegende gemeint. „Reine Substanz“ ist Substanz vor allem Akt. „Es ist hierin kein Wissen und Wollen, überhaupt kein intellektuelles und moralisches Verhältnis, sondern ein natürliches ursprüngliches, nicht geoffenbart und ebenso wenig erfunden.“ 10 Von der reinen Substanz des menschlichen Bewusstseins ist das wirkliche Bewusstsein zu unterscheiden. Die reine Substanz ist das „an sich“, „natürlich“, d.h. von Natur aus, im Nicht-Actus Gott Setzende. Schelling kommentiert: „Das menschliche Bewusstsein ist […] ursprünglich mit dem Gott gleichsam verwachsen […], [es] hat den Gott an sich, nicht als Gegenstand vor sich 9 F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke, Stuttgart 1856 ff., II, 2, 119 (= SW). 10 P. Tillich, Urfassung, a.a.O. (Anm. 7), Bl. 56.

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[…]. Seine erste Bewegung ist nicht eine Bewegung, durch die es den Gott sucht, sondern eine Bewegung, durch die es sich von ihm entfernt. Es hat also den Gott a priori, d.h. vor aller wirklichen Bewegung oder – wesentlich an sich.“ 11

Damit ist ein ursprünglicher Atheismus des Bewusstseins ausgeschlossen. Die reine Substanz des Bewusstseins, das mystische Apriori, hat einen prinzipiell überkulturellen Charakter. Von dieser „substantiellen“ Religion unterscheidet Tillich mit Schelling die wirkliche, aktuelle Religion. In ihr sind Gefühl, Denken und Wille „in eigenartiger, unentbehrlicher Weise“ (EW IX, 240) tätig. Dem Gefühl weist Tillich die grundlegende Stellung zu; denn im Gefühl des Verpflichtetseins Gott gegenüber äußert sich die Realität des religiösen Verhältnisses. Das Gefühl der unbedingten Verpflichtetheit gilt einem bestimmten Gott gegenüber. Im Wissen um die Bestimmtheit, das sich im Denken ausdrückt, vollzieht sich das religiöse Verhältnis. Wenn die Substanz des Bewusstseins das Gott Setzende ist, hat die dritte Geistesfunktion, der Wille, die Macht, „Gott aufzuheben […] und damit das normale religiöse Verhältnis zu zerstören“ (ebd.). In diesem Zusammenhang erinnert Tillich daran, dass der Wille durch eine freie Tat das innergöttliche Sein aufgehoben hatte, dass aber durch die Opferung des selbstischen Willens die Gemeinschaft mit Gott begründet wurde, „die geistig und persönlich ist“ (ebd.). Mit dem Willen verbindet sich auch die Sittlichkeit des innergöttlichen Verhältnisses und damit auch der Religion. Somit sind im wirklichen religiösen Verhältnis alle Geistesfunktionen aktiv – anders als in ihrem Prius, der reinen Substanz des Bewusstseins, in der völlige Identität herrscht. „Aber potentiell sind dort alle Bestimmungen enthalten, die in den wirklichen, aktuellen Religionen ihre konkrete Ausprägung finden.“ (EW IX, 241) Eben diese auf Schelling zurückgehende Unterscheidung zwischen religiöser Potenz und religiösem Akt bestimmt auch Tillichs Religionsbegriff in seiner Systematischen Theologie von 1913/14 und seinem Kulturvortrag von 1919 12 . 2.2 Religion und Kultur und die Idee einer Religion der Freiheit Die für Tillichs Kulturtheorie konstitutive Unterscheidung und Synthesis von Autonomie und Theonomie bzw. von Kultur und Religion gemäß der 11 F. W. J. Schelling, SW II, 2, 120. 12 Vgl. EW IX, 297 f.; GW IX, 17.

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Unterscheidung von Form und Gehalt wird durch die in beiden SchellingDissertationen ausgeführte Interpretation der Geschichte als Religionsgeschichte vorbereitet. 13 Allerdings wird von Tillich wie auch in Schellings Konstruktion der Religionsgeschichte die gesamte Menschheitsgeschichte von der Vorgeschichte über die Mythologie bis zur Offenbarung, ja bis zum Eschaton in den Blick genommen, während im Kulturvortrag von 1919 die aktuelle Kultur im Vordergrund steht mit der Folge, dass nun das Formzerbrechende und -vernichtende des Gehalts hervortritt. In der Geschichte soll es, so Tillich in seiner Schelling-Dissertation von 1910, zu einer Wiederherstellung der Setzung Gottes durch das Bewusstsein kommen. Nachdem durch das übergeschichtliche Faktum des Falls der Ideenwelt die Unmittelbarkeit des Bewusstseins zu Gott verloren gegangen ist und der irrationale Wille der Selbstheit sich gegen den Willen der Liebe, die rationale Potenz, durchgesetzt hat, soll es nun durch die Geschichte zu einer bewussten Setzung Gottes kommen. Die Geschichte wird zum Prozess, „in dem das Bewusstsein das mittelbar wird, was es unmittelbar war: religiös im absoluten Sinn“ (EW IX, 197). „Der kulturelle Prozeß hat allenthalben seine Wurzeln im religiösen und mündet in seiner Vollendung in ihn ein.“ (Ebd.) Schelling hatte in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1802) die Theologie als die „höchste Synthese des philosophischen und historischen Wissens“ (EW IX, 259) bezeichnet. Im Christentum werde das Universum als Geschichte, als „moralisches Reich“, angeschaut, es sei darum, so Schelling, „seinem innersten Geist nach und im höchsten Sinne historisch“. Freilich fordere jene „Synthese“ von Theologie und Geschichte zu ihrer Bedingung „die höhere christliche Ansicht der Geschichte“ (ebd.). Tillich zitiert diese Ausführungen Schellings, deutet sie aber nicht als Ausdruck einer geschichtlichen Philosophie. Geschichte ist hier noch Entfaltung der in der Identität ruhenden Ideen. 14 Den Übergang der Philosophie Schellings zur geschichtlichen Philosophie sieht er erst in der Freiheitslehre von 1809. „Geschichtliche Philosophie“ bezieht sich hier auf den Gott, der handelt. Sie ist, „wo Freiheit, Wille und Tat herrschen, d.h. aber letztlich in der Religion: Gegenstand der geschichtlichen Philosophie ist eine göttliche Geschichte, deren Kern die Religionsgeschichte ist“ (EW IX, 261). Aufgabe der geschichtlichen Philo13 Vgl. bes. EW IX, 197-199; GW I, 98-100; EW IX, 197: „Die Geschichte ist im Grunde Religionsgeschichte.“ GW I, 100: „Die Geschichte ist im Innersten Religionsgeschichte.“ 14 So Tillich in der Urfassung, a.a.O. (Anm. 7), Bl. 234.

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sophie ist die Erklärung der wirklichen Religion. Sie handelt von den Taten Gottes, die das religiöse Verhältnis zwischen Gott und Mensch begründen: Schöpfung, Fall, Erlösung. Im Rahmen dieser geschichtlichen Philosophie bewegt sich nun, so Tillich, Schellings Geschichtsphilosophie. Sie zerfällt in zwei Teile, die durch das übergeschichtliche Faktum der Offenbarung derart geschieden sind, dass sie jeweils für sich stehen. Das erste Stadium beginnt mit dem „absolut kulturlosen Zustande der vorgeschichtlichen Zeit“, es zeigt dann den „Hervorgang der Kultur in fortschreitender Steigerung bis zu ihrer Vollendung und Katastrophe im Hellenismus“ (EW IX, 262). Die eigentliche Krise des Kulturprozesses sieht Schelling in der Bestimmung Gottes als Idee, die sich auf die noesis noeseos beschränkt und dann am Ende aus der rationalen Philosophie ausgestoßen wird. Religion und Kultur divergieren also immer stärker, bis sie beim Eintritt der Offenbarung am weitesten voneinander entfernt sind. Auf dem Boden des Christentums spielt sich nun die Gegenbewegung ab. Das Ziel der Entwicklung ist „die Einheit von Religion und Kultur in der philosophischen Religion“. Religion und Kultur entwickeln sich auf christlichem Boden „in konvergierender Richtung und ihre Einheit ist das Prinzip der immanenten Eschatologie“ (EW IX, 262 f.). Der Begriff der philosophischen Religion steht für diese Einheit von Religion und Kultur. Die philosophische Religion ist die vollkommene Verwirklichung der freien Religion, der Religion des Geistes. Sie ist nicht identisch mit dem Christentum, aber durch das Christentum vermittelt. So hat z.B. die Reformation uns von der Autorität der kirchlichen Traditionen befreit, zugleich aber zur Autorität der Urkunden der Offenbarung zurückgeführt. Dadurch geriet das Bewusstsein erneut in Unfreiheit. Die definitive Befreiung von der Autorität der Offenbarung hat die Vernunft vollzogen. Aber auch die Vernunft musste von der Autorität der natürlichen Erkenntnis befreit werden. Diese Tat hat Kant mit seiner Erkenntniskritik vollbracht. Schelling kommentiert sie mit einem Wort Hamanns über die sokratische docta ignorantia: „Das Samenkorn unserer natürlichen Erkenntnis muß verwesen, in Unwissenheit vergehen, damit aus diesem Tode, aus diesem Nichts das Leben und Wesen einer höheren Erkenntnis hervorkeime und neugeschaffen werde.“ 15

An dieser Stelle sieht Tillich „das religiöse Selbstbewußtsein des deutschen Idealismus in klassischer Weise zu geschichtsphilosophischem Ausdruck 15 F. W. J. Schelling, SW II, 1, 526

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[gebracht]: das Bewusstsein, die befreiende Kraft des Christentums zur vollen Auswirkung zu bringen“. Man muss also „unwissend, unmündig […] werden und von vorn anfangen, um in Freiheit anzufangen bei dem Unbedingten, der Freiheit“ (EW IX, 230). Alles Bedingte muss aufgegeben werden, denn es knechtet, „nur das Unbedingte macht frei, die Tat“ (EW IX, 231). Die ungeistige Religion muss also überwunden werden. Das Bewusstsein, das gegen sie in Freiheit gesetzt wurde, „vermittelt auf diese Art selbst die freie Religion, die Religion des Geistes, die […] nur als philosophische sich vollkommen verwirklichen kann“ (ebd.). Die philosophische Religion, so Tillich, enthält keine anderen „Faktoren“ als Mythologie und Offenbarung, „aber sie enthält sie als begriffen und steht ihnen darum in Freiheit gegenüber“. Diese Freiheit bringt Tillich nun in ein Entsprechungsverhältnis zur Freiheit Gottes, der „darin frei ist, dass er auch frei ist von seinem Als-Geist-Sein“. Entsprechend soll auch der Mensch frei werden von der „einseitigen Gebundenheit an die geistige Religion“. „Die Vollendung der geistigen Religion besteht darin, dass sie auch von sich selbst frei macht für das ewig gültige Resultat des mythologischen Prozesses: Kunst und Wissenschaft, Staat und Kultur.“ (Ebd.)

Erst im Idealismus, so Tillichs Schelling-Interpretation, fand die Vernunft diese Freiheit, „die das Christentum gebracht hat“ (ebd.). Darum wird aus dem Idealismus die philosophische Religion hervorgehen. Das Ziel der Entwicklung des Christentums wird „die Realisierung der freien oder philosophischen Religion“ sein (EW IX, 229). In ihr wird Gott als Natur und als Geist „in gleicher Freiheit“ erfasst: „Denn Gott ist der All-Eine.“ (EW IX, 231) Die Freiheit Gottes, der sein wird, der er sein will, kommt in der Freiheit des menschlichen Bewusstseins zu ihrem Ziel. Tillich ist sich bewusst, dass diese Konstruktion der Einheit von Religion und Kultur bei Schelling „nur angedeutet“ ist (EW IX, 263; Anm. 418). Sein Irrationalismus, der ja die Grundlage der geschichtlichen Philosophie bildet, enthält die Einsicht, dass sie nie abgeschlossen sein kann. Doch dies ist für Tillich nicht entscheidend. Er sieht in Schellings Idealismus „das Prinzip eines christlichen Weltbewusstseins aufgestellt, nämlich die absolute, von jeder äußeren, auch rationalen Autorität unabhängige Freiheit“. Dann wäre, so folgert er, „die philosophische Religion nur insofern durch den Idealismus eingeleitet, als die kulturelle Entwicklung ihr selbständiges und doch spezifisch christliches Prinzip durch ihn erhalten hat“ (ebd.). Die Realisation der philosophischen Religion liege dann ebenso am Ende der christlichen Geschichtsperiode wie die Überwindung der

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Naturreligion am Ende der heidnischen Zeit. Während aber der rationale Prozess auf dem Boden der falschen Religion zu einer unwirklichen Religion und schließlich zur Katastrophe geführt habe, endige derjenige in der christlichen Geschichtsperiode in Einheit mit der Religion und komme gemeinsam mit dieser zur Vollendung. Doch gehen diese Gedanken, wie Tillich einräumt, „über das, was von Schelling tatsächlich ausgesagt ist, hinaus“ 16 . Es sind Tillichs Gedanken.

3. Die Idee einer kirchlichen Apologetik oder Der Mut zur Wahrheit (1911/12) In einer Denkschrift 17 wendet sich Tillich im Jahre 1911/12 an die Kirchenleitung mit der Forderung einer „kirchlichen Apologetik“. Er nennt sie „praktische Apologetik“ im Unterschied zur „wissenschaftlichen Apologetik“. Während die wissenschaftliche Apologetik den immanenten Gesetzen der Wissenschaft folgt, folgt die praktische Apologetik der „jeweiligen Lage, in der sie angewandt werden soll“ (GW XIII, 35). Tillich sieht die geistige Lage der Gegenwart durch eine „im Grunde doch einheitliche Synthese der modernen Geisteskultur“ (GW XIII, 36) bestimmt. Ihr ist eigentümlich „der Mut, durch freies, allein von wissenschaftlicher Notwendigkeit geleitetes Erfassen der Wirklichkeit eine eigene Weltanschauung zu begründen“ (ebd.). Dabei bleibe völlig unentschieden, welche Haltung diese Weltanschauung zum Christentum einnehme. Immer aber sei ihre Grundlage autonom, zu ihrer Voraussetzung gehöre die „Befreiung von der Autorität der kirchlichen Verkündigung“. Gleichwohl habe diese Geisteskultur, auch in den schärfsten antichristlichen Ausprägungen, ihre Wurzeln in der christlichen Kultur, sie trage „eine Fülle christlicher Elemente“ (ebd.) in sich. Der christlichen Verkündigung stehe also nicht eine heidnische, sondern eine „christianisierte Kultur“ (GW XIII, 37) gegenüber. Die Kirche habe allerdings die Führung im Geistesleben, die sie seit ihrer Bindung an die antike Weltanschauung immer gehabt habe, in der modernen Kultur verloren. Tillich stellt fest: „Die kirchliche Verkündigung geht nicht voran, sondern folgt nach […], immer einen Schritt hinter der übrigen Kultur hinterher“ (ebd.). Die Organisation einer kirchlichen Apologetik ist darum die „Forderung der Lage“, „ja vor 16 P. Tillich, Urfassung, a.a.O. (Anm. 7), Bl. 242. 17 P. Tillich, Kirchliche Apologetik, GW XIII, 34-63.

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allem auch Forderung des Augenblicks“; denn die Macht des Materialismus ist in den Kreisen der Gebildeten längst gebrochen. Geisteswissenschaftliche Fragen haben naturwissenschaftliche Fragen in den Hintergrund gedrängt. Tillich sieht in der Gegenwart den Beginn eines „gewaltigen Ringens um neuen geistigen Gehalt“, eine Art Renaissance der Romantik und des Idealismus, freilich mit Elementen der Skepsis durchsetzt, individualistisch und doch der Gewalt des sozialen Gedankens sich nicht entziehend, „unbegrenzt kritisch gegen alles Gedankliche und doch weit offen für Tiefe und Mystik“. Allein der Religion sei es gegeben, „diese Widersprüche in sich zu vereinigen und so zu umspannen, dass ein Zerreißen unserer Geisteskultur verhindert werden kann“. Tillichs Analyse der geschichtlichen Lage schließt mit den Worten: „Und darum ist der Religion, dem Christentum, der Kirche die Aufgabe gestellt, mit den ihr allein gegebenen Kräften die Synthese der modernen Geisteskultur zu schaffen, wieder die Führerrolle zu übernehmen.“ (GW XIII, 37 f.)

Ähnliche Worte finden sich am Ende von Tillichs Kulturvortrag, ähnlich hat er später auch den religiösen Sozialismus begründet. In ihrem Kampf gegen die Skepsis und den Subjektivismus bedient sich die Apologetik der dialektischen Methode. Indem sie vom vorhandenen geistigen Bestand ausgeht und diesen konsequent weiterdenkt, zeigt sie, dass alle geistigen Positionen „eine innere Beziehung zur Wahrheit selbst“ haben. Sie beansprucht die gesamte Geisteskultur für sich, sie kennt „kein ausschließendes Gegeneinander, sondern nur ein In- und Untereinander“. Ihrer Idee nach ist sie „Synthese und Organismus der Geisteskultur auf dem Boden des Christentums“ (GW XIII, 41). Die Schwierigkeit des Apologeten liegt für Tillich aber darin, dass dieser die Wahrheit und das Christentum „nur in individuell bedingter Form“ hat. Der Apologet gerät damit in eine Spannung, die zu jeder kirchlichen Tätigkeit gehört. Er will Christ sein und aus dem Geist der christlichen Gemeinde reden. Oft aber wird er bestimmte Punkte der christlichen Lehre nicht verteidigen können. Er muss dann deutlich machen, „dass auf dem Boden des Protestantismus, des Glaubens an die Gemeinschaft mit Gott durch Gottes Gnade und nicht durch unser Werk, auch jedes einzelne System des Denkens, ob eines Theologen, ob einer Kirchengemeinschaft, nicht die vollkommene Form der Wahrheit ist, sondern ein Stückwerk, das uns dennoch durch die Gnade Gottes in Gemeinschaft bringt mit der Wahrheit selbst“ (GW XIII, 41 f.).

So stellt der Apologet seine eigene individuelle Gedankenbildung und die theologische Arbeit der Kirche unter das Nein und Ja des Rechtferti-

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gungsglaubens. „Nur auf dem Boden des Rechtfertigungsglaubens, auch dem Denken gegenüber, ist Apologetik möglich.“ (GW XIII, 42) In dem apologetischen Vortrag Der Mut zur Wahrheit vom Winter 1912/13 hat Tillich den Gedanken der Rechtfertigung des Denkens näher entwickelt. 18 Wer behaupte, dass es keine Wahrheit gebe, so Tillich, der müsse Gründe dafür angeben, die zeigen, dass es für ihn Kriterien für wahr und falsch gibt. Der Zweifel hebt sich also prinzipiell selber auf. In der Konsequenz dieses Gedankens argumentiert Tillich in seinem Vortrag Der Mut zur Wahrheit: “The awareness of being involved in a never ending opposition to the eternal spirit carries within itself the certainty of being in complete and unqualified communion with truth. The courage to accept this ‘nevertheless’ [sc. den Mut zu diesem Dennoch] is the highest achievement of the courage to truth. In other words, courage to truth is the courage, despite endless doubt, to become unified with living truth itself.”19

Solche Fragen grundsätzlicher Art standen in den apologetischen Vorträgen und Diskussionen der Hauskreise auf der Tagesordnung. Tillich führt aber auch an, was zum Gegenstand einer „modernen systematischen Apologetik“ gehört: Der Stoff der Apologetik ist prinzipiell unbegrenzt. Es gibt keinen Bereich der Wirklichkeit, der nicht in Beziehung stände mit dem Religiösen. Entscheidend ist wieder das Prinzip der Wahrheit. Weil Gott die Wahrheit ist, gibt es „durch die Wahrheit […] einen direkten Weg von allem Wirklichen zu Gott“. Alle Gebiete der Kultur kommen also in Frage. Wollte man eine Grenze aufrichten, hieße das „ein Absolutes neben Gott zu stellen, das zu Gott kein Verhältnis hätte“ (GW XIII, 47). Das aber sei unreligiös und unwahr. Die Theologie aber soll „gewissermaßen als Krönung des Ganzen“ auftreten, „nicht in traditioneller Form, sondern originell, unter ganz ungewohnter Beleuchtung“ (GW XIII, 49). Aber es muß klar werden, so Tillich, „dass im Grunde nicht nur 18 Tillich erwähnt diesen Vortrag Der Mut zur Wahrheit im Bericht über die apologetische Vortragstätigkeit 1912/13 (GW XIII, 60. 63). 19 Das obige Zitat aus dem Vortrag findet sich in: Wilhelm Pauck, From Luther to Tillich. The Reformers and Their Heirs, hrsg. von Marion Pauck, San Francisco 1984, 191 [Kap. 10: Paul Tillich: Heir of the Nineteenth Century, 152-209]. Die Handschrift des Vortrags hat W. Pauck, der aus ihr mehrfach zitiert, vorgelegen. Dies gilt auch für weitere apologetische Texte Tillichs von 1912/13 (Mystik und Schuldbewusstsein, Erlösung) sowie für den theologischen Briefwechsel zwischen Tillich und seinem Vater. W. Pauck hat in seinem oben genannten Beitrag über Tillich ausführlich aus diesen Manuskripten zitiert. Sie sind seitdem verschollen, haben aber auch nie zum Bestand des Tillich-Archivs in Harvard gehört.

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das letzte, sondern auch alles andere Theologie war“ und „dass sie in der Tat das Höchste und Tiefste zugleich ist, was den menschlichen Geist beschäftigen kann“ (ebd.). Das ist Kulturtheologie, hier noch ganz im Gewande einer Theorie kirchlicher und praktischer Apologetik und eingegrenzt auf das Geistesleben. Sie geht davon aus, dass auch die moderne Kultur in all ihren Formen christianisierte Kultur ist.

4. Kulturtheologie als theologische Ethik: Systematische Theologie (1913/14) In der Denkschrift Kirchliche Apologetik hatte Tillich der „wissenschaftlichen Apologetik“ die Aufgabe zugewiesen, „das theologische System in das System der Wissenschaften überhaupt methodisch und inhaltlich einzuordnen und dadurch das wissenschaftliche Recht der Theologie zu begründen“ (GW XIII, 34). Dieser Aufgabe unterzieht er sich in dem Apologetik genannten ersten Teil seiner Systematischen Theologie von 1913/14 (EW IX, 278-434). Hier begründet er sein sogenanntes theologisches Prinzip, indem er vom Prinzip der absoluten Wahrheit ausgeht (EW IX, 278). Ihr entspricht der absolute Standpunkt; seine Methode ist die Deduktion oder Intuition. Die Schwäche des Systems der absoluten Wahrheit, die er vor allem auf die Hegelsche Philosophie zurückführt, sieht er darin, dass es die von der Reflexion ausgehende Kritik nicht ernst nahm oder für überwunden hielt. Der von der griechischen und der modernen Aufklärung vertretene Reflexionsstandpunkt aber kann mit seiner induktiven Methode die Wahrheit nicht erreichen. „Die Folge ist daß der Geist an der Wahrheit verzweifelt und prinzipieller Zweifel oder die Skepsis mächtig wird.“ (EW IX, 309) Doch der Zweifel durchschaut nicht seine eigene Dialektik, der zufolge er von der Wahrheit, die er bestreitet, lebt. 20 Der theologische Standpunkt oder das Paradox stellt die paradoxe Synthesis beider Standpunkte dar und zwar in der Weise, dass der absolute Standpunkt den relativen in sich aufnimmt, ohne ihm seine Selbständigkeit zu nehmen; er ist der inkludierende, bestimmende Standpunkt. Wir beschränken uns im Folgenden auf die Implikationen der Religionsphilosophie sowie der theologischen Ethik Tillichs im Blick auf eine Kulturtheologie.

20 EW IX, 309: „Der prinzipielle Skeptiker setzt den Zweifel als Wahrheit.“

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4.1 Religionsphilosophie auf dem Boden der Geistphilosophie In Tillichs Religionsphilosophie, die er im Rahmen seiner Geistphilosophie entfaltet, wird Religion als Prinzip nicht mehr im Anschluss an Schelling als ursprüngliches „Verwachsensein“ des Bewusstseins mit Gott verstanden, sondern als „substantielle Gebundenheit der Freiheit an die absolute Wahrheit“ (EW IX, 297). In der Philosophie des Geistes, die nun an die Stelle der philosophischen Religion Schellings tritt, hat die Religion als eine der Grundformen der Freiheit ihren Ort. Sie ist aber als „substantielle Gebundenheit der Freiheit an die absolute Wahrheit“ „etwas gewissermaßen Punktuelles, jeder Aktualität und Breite Enthobenes, absolute Innerlichkeit“ (ebd.). Da in der Religion als Prinzip an die Stelle des Gottesgedankens der Gedanke der absoluten Wahrheit getreten war, muss der Gottesgedanke nun in die wirkliche Religion aufgenommen werden. Die spezifisch religiöse Bestimmtheit der Religion als Aktualität sieht Tillich folglich darin, dass das Denken, Fühlen und Handeln des Menschen „sich auf Gott richtet“ (ebd.). Für Tillich ist dies gegenüber dem kulturellen und sittlichen Handeln „eine neue Gegebenheit“ (EW IX, 296). Das Freiheitsbewusstsein steht also Gott als einem bestimmten Gegebenen gegenüber und richtet sich entsprechend auf ihn. Dies führt zu einer „eigentümlich religiösen Kultur“, insofern sie ihrem Prinzip nach, um der absoluten Wahrheit willen, „Aufhebung des Relativen ist, eine negative Anschauung aller Kultur“ (ebd.). Weil Religion also selbst Kultur werden muss, um existieren zu können, kommt es zu einer religiösen Kultur und somit zu Konflikten zwischen Religion und Kultur. Die konkreten Konflikte, die Tillich nennt – der Gegensatz von Wissenschaft und Dogma, Kunst und Kult, Staat und Kirche, entsprechend den Geistesfunktionen des Denkens, Fühlens und Handelns – sind eben dieselben Konflikte, die er auch in seinem Kulturvortrag namhaft machen wird (GW IX, 22). Während er sie dort aber durch den Entwurf eines religiösen Kultursystems überwinden will und auch schon überwunden sieht zugunsten einer „an sich religiösen“ Wissenschaft, Kunst und Staatsform, spricht er hier keineswegs von einer Überwindung des Gegensatzes von religiöser und nichtreligiöser Kultur. An der Doppelung von Wahrheit, Sittlichkeit und Recht nimmt er keinen Anstoß, wie er ja auch den 3. Teil seines Systems ausdrücklich als „theologische Ethik“ (EW IX, 377) bezeichnet. Im Kulturvortrag hingegen verfal-

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len diese Doppelheiten eindeutig seiner Kritik. 21 Im Gegensatz dazu hatte er in seinem Systementwurf die Konflikte zwischen Sittlichkeit und Religion für „Scheinkonflikte“ gehalten, die sich auflösen, wenn man den Unterschied zwischen Religion als Prinzip und als Kultursphäre erkenne. Mit anderen Worten: Die Religion wird zwar als wirkliche Religion „in die übrigen Bestimmtheiten des Geistes“ hineingezogen und somit „ein Stück Kultur“, doch als Prinzip bedeutet sie „gerade die Loslösung der Freiheit von allem […], was Kultur ist“ (EW IX, 297 f.). Das religiöse Prinzip reagiert also gegen die religiöse Funktion und befreit sich immer wieder von ihr, „um für jeden neugewonnenen Freiheitsstand einen neuen Kulturausdruck zu schaffen“ (EW IX, 298). Tillich scheint jedoch mit dem von ihm zur Doppelheit religiöser und nichtreligiöser Kultur Ausgeführten nicht zufrieden zu sein. In einem späteren Zusatz zu § 12 kommt er auf die Formen der spezifisch religiösen Kultur zurück, weil er sich ihrer Problematik wohl bewusst war. Die Religion gehört zwar durch ihre Funktion zur Kultur, so Tillichs Argument, aber „insofern die Religion als Prinzip sich eine selbständige religiöse Kultur schafft, negiert sie die Kultur in ihrer Selbständigkeit und erhebt sie in die absolute Sphäre“ (EW IX, 300). Dies kann nur teleologischgeschichtlich verstanden werden. Tillichs Idee ist die einer vollkommenen Einheit von Religion und Kultur. Die jetzige Existenz einer spezifisch religiösen Kultur wäre dann ein Hinweis auf den absoluten Zustand. So kann Tillich in großer Nähe zu seinem späteren Kulturvortrag formulieren: „In der Vollendung ist alle Kultur religiös, alle Kunst Kultus, alle Wissenschaft Dogma, Staat und Kirche eins und die ethische Stellung zur Wirklichkeit vollkommen eingegangen in die religiöse, ist Frömmigkeit schlechthin.“ (Ebd.)

Der Weg zu diesem absoluten Zustand aber geht für Tillich „durch die Religionsgeschichte, d.h. durch die Geschichte der konkreten Religionen, in denen das religiöse Prinzip in die Geschichte der Kultur eingegangen ist“ (ebd.). In seinem Kulturvortrag wird er diese These vom Weg „durch die Religionsgeschichte“ nicht mehr vertreten, denn die Synthese vollzieht sich in der gesamten Kultur, und sie vollzieht sich in der Gegenwart. Dies zu analysieren, ist gerade die Aufgabe der Kulturtheologie.

21 Vgl. GW IX, 18: „Diese Doppelheit muß unter allen Umständen aufgehoben werden; sie ist unerträglich, sobald sie ins Bewusstsein tritt; denn sie zerstört das Bewusstsein.“

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Der Standpunkt der Reflexion bietet Tillich allerdings eine andere Sicht (EW IX, 307-314). Er stellt sich dem Absoluten entgegen, der absolute Wahrheitsgedanke wird zum formalen Begriff. Der Zweifel an der Wahrheit überhaupt macht sich breit. Mit der Verkehrung in Unfreiheit löst sich die Ethik auf. Die Religion zerfällt in ihre beiden Momente, das Relative und das Absolute. Entweder behauptet sie sich, indem sie mit einer bestimmten Kultur eins wird und dadurch „der Auflösung der Kultur überhaupt preisgegeben“ (EW IX, 313) ist. Oder ihr absolutes Moment wird zu einer abstrakten Mystik, die alles Kulturelle aufhebt. „Zerreibt sich so die Religion in den Gegensätzen, die die Reflexion entbunden hat, so entsteht die bewusste Negation des Religiösen und der systematische Atheismus.“ Der Reflexionsstandpunkt endet, so Tillich, mit der Alternative: „Gott oder sich selbst verlieren.“ (EW IX, 314) Tillichs Lösung, der theologische Standpunkt, ist „die Rückkehr der Freiheit zur Wahrheit, des Relativen zum Absoluten ohne Aufhebung der Freiheit und Relativität“ (EW IX, 315). 4.2 Theologische Ethik An Stelle des Begriffs „theologische Ethik“ (EW IX, 377) hätte Tillich auch den Begriff „Kulturtheologie“ wählen können. Dies gilt insbesondere für das im engeren Sinne kulturelle Leben (§ 19-23), es gilt aber auch für die Ausführungen über das religiöse und sittliche Leben (§ 1-7; 8-18). So behandelt er z.B. in § 3 das Problem der Volkskirche. Dem Verhältnis von Kultur und Geistesleben entsprechend, hat jede Kirche die Tendenz, so Tillich, „sich der allgemeinen Organisation des Geisteslebens anzuschließen“ (EW IX, 381). In welcher Form dies geschehe, dies sei in der Kulturtheologie auszuführen. Hier erscheint in Tillichs Texten zum ersten Mal der Begriff „Kulturtheologie“ (EW IX, 381. 403). Dies geschieht eher beiläufig, keineswegs programmatisch. Der Begriff „Kulturtheologie“ hat hier noch einen engen Sinn, der keineswegs – wie Tillich dies in seinem Kulturvortrag fordern wird (GW IX, 18) – an die Stelle des Begriffs der theologischen Ethik treten kann. So sind für ihn die Themen „Kirche und Volk“ bzw. „Volkskirche“ oder „Kultus“ Themen der theologischen Ethik, während sie im Kulturvortrag Themen der Kulturtheologie sind. Die Ausführungen über Staat und Kirche (§ 20), Kunst und Kultur (§ 22) sowie Wissenschaft und Dogma (§ 23) können mit den entsprechenden Aussagen in seinem Kulturvortrag verglichen werden. Tillich sieht die

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„dialektische Not“ des Staates darin, dass er als „Träger des gesamten Kulturgehaltes“ unfähig ist, aus sich selbst einen Gehalt zu schöpfen. Das theologische Prinzip aber gibt ihm durch die Kirche den Gehalt und erkennt in ihm „die ewige Einheit von Staat und Kirche“ und bejaht ihn als „Abbild der Einheit des Gottesreiches“ (EW IX, 418). Damit kommt das dritte Moment des theologischen Prinzips zur Geltung, das die Einheit des ersten und zweiten „in Ewigkeit setzt“, „wenn die Rechtsordnung Gemeinschaft der Liebe, die Kunst Anschauung Gottes in allem Relativen, die Wissenschaft Mystik geworden ist“ (EW IX, 421). Im Kulturvortrag wird schon jetzt die bisherige Form des Staates gesprengt zugunsten des Gehalts. Der Staat ist auf sozialistischem Boden nur im paradoxen Sinne „Staat“ zu nennen, er ist das, was im Sinne der Kulturtheologie als „Kirche“ zu bezeichnen ist. An die Stelle des Dualismus von Staat und Kirche tritt eine „an sich religiöse Staatsform“ (GW IX, 22). Dies geschieht in der Gegenwart. Der Dualismus von Kunst und Kultur (§ 22) wird durch die Rede vom Wesen und der ewigen Idee der Kunst relativiert. Alle Kunst ist, so Tillich, „dem Wesen und der Idee nach“ religiöse Kunst, nämlich „Kultus und Andacht, Anschauung Gottes in allem Endlichen und in alle Ewigkeit“ (EW IX, 424). Im Kulturvortrag wird Tillich vom „religiösen Sinn“ der expressionistischen Kunst und von der „an sich religiösen“ Kunst sprechen (GW IX, 23). Der Dualismus von Wissenschaft und Dogma wird dadurch aufgelöst, dass die Theologie sich als Wissenschaft im System der Wissenschaften begründet und rechtfertigt. Alle Wissenschaft ist aus dem Mythos hervorgegangen, hat sich aus ihrem Ursprung aber befreit und kehrt doch immer wieder zurück zu der „Macht, der sie ihren Ursprung verdankt“, und wird im theologischen Denken „ihre Erlösung finden und die Wahrheit, die sie sucht“ (EW IX, 425). Hiermit wird die Einheit aller Wissenschaften im Zeichen ihrer Theonomie behauptet. In der „theologischen Ethik“ ist die Aufhebung des Dualismus als „geschehende“, nicht als „vollendete“ zu fassen. Der Dualismus wird „niemals wirklich aufgehoben“ sein (EW IX, 317), die Vollendung steht noch aus. Im Kulturvortrag handelt Tillich von einer „Kultursynthese“, in der der „kulturzerstörende Widerspruch von Religion und Kultur“ überwunden wird durch den Entwurf eines „religiösen Kultursystems“, in dem an die Stelle des Gegensatzes von Staat und Kirche, Kunst und Kult, Wissenschaft und Dogma eine „an sich religiöse“ Staatsform, Kunst und Wissenschaft treten (vgl. GW IX, 22).

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5. Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (1919) Tillichs erste Vorlesung überhaupt, die an der Berliner theologischen Fakultät im Sommersemester 1919 für Hörer und Hörerinnen aller Fakultäten gehaltene Vorlesung über Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (EW XII, 27-211), ist eine ausführliche Darstellung und Konkretisierung seiner Idee der Kulturtheologie. Das Manuskript, das er in den Monaten zuvor verfasst hatte, erwähnt seinen Kulturvortrag vom 16. April 1919 noch nicht. 5.1 Die Vision einer neuen Geistes- und Gesellschaftseinheit Geist, Gesellschaft, Einheit – dies sind die entscheidenden Stichworte der Vorlesung. Die Geistphilosophie wird entschieden auf die Probleme der Gesellschaft und Politik der Gegenwart angewandt. Ernst Troeltsch wird als derjenige vorgestellt, der mit seinem Buch Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen den „soziologischen Gesichtspunkt in die Theologie eingeführt“ hat (EW XII, 30). Tillich will in seiner Vorlesung zeigen, „dass wir auf allen Gebieten nach den Zeiten der Zersplitterung, der verzehrenden Widersprüche, der Atomisierung des Geistes und der Gesellschaft einer neuen Geistes- und Gesellschaftseinheit entgegengehen“ (EW XII, 28). Die Tatsache, „dass wir hier [sc. in diesem Kolleg] eine Einheit von Ökonomie und Religion, von Politik und Mystik, von Soziologie und Theologie zu schauen uns bemühen, […] soll selbst ein Schritt sein auf dem Wege zu jener großen Einheit“. (Ebd.)

Diese Einheit ist einst, im Mittelalter, so Tillich, lebendig gewesen, hat aber „um der Freiheit und Neuschöpfung des Geistes willen“ vergehen müssen. Sie wurde in den gewaltigen philosophischen Systemen der Weimarer Zeit gesucht, aber nicht gefunden, weil niemals ein Einzelner, sei es auch ein Goethe oder Hegel, und auch nicht ein einzelner Kreis, sei es auch der der Romantiker, sie finden kann. Zu jener Einheit können, dies ist Tillichs Überzeugung, „nur […] die Völker eines Kulturkreises durch Schicksal und gemeinsames Erleben“ (ebd.) gelangen. Die so lange gesuchte Einheit ist eine Einheit auf dem Boden des Sozialismus und der christlichen Kultur. Damit ist die antiwestliche Idee eines deutschen Sonderwegs ausgeschlossen.

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Tillich unterscheidet zwei Epochen der europäischen Kultur: die Einheitskultur des Mittelalters und die „moderne Auflösungskultur“ (EW XII, 72), die mit der Reformation und Renaissance beginnt und bis heute andauert, jetzt aber ihrem Ende entgegengeht. Dieses Epochenschema wird, so Tillich, sowohl von der deutschen Romantik, insbesondere von Novalis, als auch vom französischen Frühsozialismus, vor allem von Saint Simon und seiner Schule, geteilt. Ausdrücklich bekennt er sich zu dieser „romantisch-frühsozialistischen Geschichtsphilosophie“ (EW XII, 81). In ihr wird, so Tillich, „die Idee einer religiös geleiteten Einheitskultur aus den Auflösungserscheinungen der Gegenwart geboren“ (EW XII, 77). Doch die neue Kultur soll kein „Abklatsch“ der mittelalterlichen Kultur sein. „Es kann sich nur um eine Religion handeln, die aus Freiheit geboren ist und die freudige Zustimmung aller hat, wie auch die Vereinigung der Völker […] nur durch freies Einswerden auf rauchenden Trümmern möglich ist.“ (Ebd.)

„Es ist meine Überzeugung“, so Tillich, „dass wir vor einer Wende der Zeiten stehen, wie sie seit der Reformation oder seit dem Sieg des Christentums über die germanischen Völker nicht mehr dagewesen ist“ (EW XII, 81). Er weiß: Das Wachsen eines neuen Zeitalters geschieht nur langsam. „Das hindert aber den nicht, der die Idee geschaut hat, sie radikal zu bejahen.“ Seine Hörer fordert er auf, „an dem Tempel dieser neuen Idee mitzuarbeiten“: „Es muß sein. Zu unwiderleglich sind in den letzten fünf Jahren die Wirkungen der individualistischen Kultur ad absurdum geführt worden. Wir, die geistig Lebendigen, ertragen diese Kultur nicht mehr im Geistigen, die Massen der an ungeistige Arbeit Gefesselten ertragen sie nicht mehr in ihrer Arbeit, und diejenigen, die sich anscheinend wohl dabei fühlen, die oberen ungeistigen Schichten, leiden in tiefster Seele unter der Qual der Entleerung des Lebens durch das Prinzip des Individualismus, das von Kritik zu Kritik führt, aber nicht aufbauen, nicht neue Inhalte geben kann.“ (EW XII, 81 f.)

Diesen Geist der neuen Gesellschaft, der auch ein Geist einer neuen Religion ist, können wir, so Tillich, nicht schaffen, aber wir können – wie die Griechen durch ihre Philosophie und Kunst und wie die Römer durch das Recht und das Imperium (!) – die „Formen schaffen, in die der neue Geist sich ergießen muß“. Tillich hält es für fraglich, ob die „alten Kirchen“ dazu berufen sind, „die religiösen Kräfte darzubieten, die das kommende Zeitalter braucht“. Darum soll jeder, der sich als Vertreter der Religion fühlt, etwas spüren vom „Wehen der neuen Zeit, die noch nicht da ist […], sondern die noch kommen soll“. Tillich ist davon überzeugt: Diese neue Zeit wird eine Zeit sein, „in der nicht Transzendenz, sondern Imma-

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nenz des Göttlichen in der Welt die Losung sein wird“. Darum werde nicht nur die Logik und die Ästhetik, nicht nur die Ethik und das Recht, sondern auch die Ökonomie „religiösen Sinn und Wert“ haben (EW XII, 82). Schöpferischer Ausdruck der neuen religiösen Lage und Einstellung ist, so Tillich, das sogenannte theologische Prinzip, das er bereits in seiner Systematischen Theologie vorgestellt und begründet hatte, das er aber nun von seiner Bindung an die Wahrheitstheorie löst. 5.2 Das theologische Prinzip Tillich deutet, wie im Kulturvortrag, das Erlebnis des Absoluten als Erlebnis der schlechthinnigen Nichtigkeit und schlechthinnigen Positivität (oder Realität). Erlebt wird einerseits die „Verneinung, Vernichtung, Entwertung alles Relativen, uns selbst eingeschlossen, vor dem Absoluten“ (EW XII, 43 f.). Sie kann drei Grundformen annehmen: „Das Erlebnis der Endlichkeit des Lebens, der Natur und des eignen individuellen Daseins, das Erlebnis der Bedingtheit aller Werte, des gesamten Kultur- und Geschichtsdaseins, und drittens das Erlebnis der eignen persönlichen Wertlosigkeit.“ (EW XII, 44)

In verschiedener Mischung und Stärke finden sich diese Negativitätserlebnisse in der Geschichte der menschlichen Kultur als Vergänglichkeits-, Leidens- und Todeserlebnis, als Sündenbewusstsein und schließlich in Zeiten, in denen „die Geisteskultur große Höhe erreicht“: als „Übersättigung, Zweifel, Leere, Verfall“ (ebd.). Die später in The Courage to Be (1952) dargestellte Typologie der Angst ist hier vorweggenommen. Das Erlebnis dieser Negativitäten kann nun, so Tillich, entweder als die negative „Kehrseite“ zu einem Positiven, nämlich dem Absoluten, oder als etwas „metaphysisch Endgültiges“, also entweder religiös oder philosophisch-pessimistisch gedeutet werden (ebd.). Der Pessimismus steht dem Religiösen allerdings näher als „ein behaglicher Kultur- und Lebens-Optimismus“ (EW XII, 45). Er hat mit der Religion „das ungeheure Erlebnis der Negativität alles Seienden“ gemeinsam. Aber in der Religion ist das Negativitätserlebnis „eingeschlossen“ in einem Positivitätserlebnis „von gleicher Bedeutung und Kraft“ (ebd.). Das, worauf sich das Erlebnis der schlechthinnigen Positivität bezieht, ist kein Seiendes, kein Wesen und kein Sein. Die Mystiker haben es „das Überseiende“ genannt. Tillich nimmt diesen Begriff als Symbol auf, will

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aber das „Über“ nicht im logischen Sinne verstanden wissen. Das „Über“ könne auch durch ein „In“ ersetzt werden. Ebenso könne man aber auch „mit einer der modernsten Philosophie näher stehenden Formel“ sagen: „Der Gegenstand des religiösen Realitätsgefühls ist überhaupt kein Gegenstand neben oder über andern, sondern er ist ein Sinn, den die Dinge dem religiösen Bewußtsein offenbaren, der Sinn, daß sie auf Grund ihrer schlechthinnigen Negativität hinführen zu einer schlechthinnigen Realität.“ 22

Das Realitätserlebnis setzt also das Negativitätserlebnis voraus, das damit zum Kriterium der Erfahrung des Überseienden, der schlechthinnigen Realität, wird. Damit wird die Negativität der Dinge, der Werte, der Persönlichkeit von Tillich nicht als eine „in sich ruhende“ Negativität gefasst, sondern „nur“ als die „Kehrseite“ ihrer Einheit mit der Positivität. Das ist der Sinn des Begriffs des Paradox; er meint die „Einheit des negativen und positiven Momentes im religiösen Erlebnis“ (EW XII, 47). Sie entspricht der Einheit von Identität und Widerspruch. Das Bewusstsein kann den Sinn des Realitätserlebnisses nur erfassen, indem es ihn durch Symbole vergegenständlicht. Ein bestimmter Gegenstand, ein Mensch, ein Geistwesen wird trotz seiner Endlichkeit für absolut erklärt und als heilig dem Profanen gegenübergestellt. Das Paradox wird konkret. Auf dem Boden des Christentums aber kommt es zum „Durchbruch […] aus dem konkreten Paradox und seiner Relativität zu dem absoluten Paradox“ (EW XII, 49). Auch das Heilige muss sich unter das absolute Urteil stellen. Das ist der Sinn des Kreuzes Christi. Mit ihm steht jede Kirche, jede Autorität, jedes Dogma, jede Ethik unter diesem 22 EW XII, 46 – In seinem Brief an Emanuel Hirsch vom 9.5.1918 erinnert Tillich daran, dass für Schelling das Über-Seiende „ist“, auch wenn es jenseits des Gegensatzes von Sein und Nichtsein steht, wie für R. Otto auch das „Numinöse“ „ist“. Es werde in Bewusstseinsvorgängen erlebt. Daraus ziehe er (Tillich) den Schluss: Das Erlebnis, das Schelling und Otto beschreiben, „ist entweder ein natürlich-psychologischer Vorgang […] oder es handelt sich überhaupt nicht um einen besonderen Gegenstand, sondern um einen besonderen Sinn, den Sinn des Gegenstandes ‚Welt‘. Eben dieses ist nun meine Meinung. Geistiges Leben ist Leben im Sinn oder unablässige schöpferische Sinngebung. So geben wir der Welt einen logischen – ethischen – ästhetischen, so auch einen religiösen Sinn. Diese Sinngebung ist bei der Mehrheit der Menschen und bei allen in der meisten Zeit unmittelbar.“ (EW VI, 124 f.) Zur damaligen sinntheoretischen Debatte vgl. U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89-123.

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Urteil. Sie stehen unter der Rechtfertigung, nicht über ihr; sie werden durch sie zugleich verneint und bejaht. Tillich weist, wie schon zuvor in seiner Systematischen Theologie, auf die Konflikte hin, die sich aus dem Gegensatz von absolutem und konkretem Moment ergeben, die Konflikte zwischen Kirche und Staat, Kultus und Kunst, Dogma und Wissenschaft. Hatte das zweite Moment des theologischen Prinzips das Heilige dem Profanen entgegengesetzt, so fordert das dritte, ideale Moment die Aufhebung des Gegensatzes von heilig und profan. Der Staat soll Kirche werden, die Kunst Kultus, das Dogma Wissenschaft. Aber das absolute Moment fordert auch, dass es keine Kirche neben dem Staat geben darf usw. Das Bewusstsein wird also vom zweiten zum dritten Moment und von dort zum ersten Moment getrieben, „um zu beweisen, daß gegenüber der Tiefe des religiösen Erlebens das Über wie das In nur Symbole sind“ (EW XII, 51). 5.3 Die Aufgabe der Theologie der Kultur: Analyse und Synthese der Kultur Auf diesem Fundament, insbesondere auf dem dritten Moment, will Tillich nun ein „religiös begründetes System der Kultur“ (EW XII, 68) entwerfen. Tillich ordnet dem ersten Moment seines Prinzips bestimmte Wissenschaften zu (vgl. EW XII, 67 f.): dem ersten, abstrakten Moment die systematische Religionsphilosophie, dem zweiten, konkreten Moment die systematische Theologie und dem dritten, idealen Moment die theologische Methode und das System einer Theologie der Kultur. Aber in jeder der drei Wissenschaften wirken alle drei Momente in unauflöslicher Einheit mit. So ist ein System der Religionsphilosophie nicht möglich ohne eine Geschichtsphilosophie der Religion und ohne die Idee eines religiösen Systems der Kultur. Ebenso ist eine systematische Theologie nicht möglich, ohne zu zeigen, wie das Wesen der Religion in der konkreten Religion zur Erfüllung kommt, und ohne zu zeigen, wie die Konkretionen weiterdrängen zu einer universellen religiösen Kultursystematik. Und ebenso ist es nicht möglich, „ein System der Theologie der Kultur darzustellen, ohne das Wesen der Religion vorauszusetzen und ohne zu zeigen, wie die konkrete Religion innerhalb dieses Systems […] aufgesogen wird von der religiösen Kulturidee überhaupt“ (EW XII, 68).

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Auf dieser Basis weist Tillich der Theologie der Kultur die Aufgabe zu, ein religiöses System der Kultur zu entwerfen. Dieser synthetischen Aufgabe hat die Analyse des religiösen Gehalts der kulturellen Erscheinungen, der vergangenen wie der gegenwärtigen, voranzugehen. Als Beispiel einer kulturtheologischen Analyse aus dem Gebiet der Ästhetik nennt Tillich Simmels Rembrandt-Studie. Er selbst kündigt an, in der Vorlesung Sozialethik, Recht und Staat zu analysieren. Alle Bereiche der Kultur und sogar der Natur können Gegenstand der Kulturtheologie sein. Ziel der Kultur aber ist die Synthese, ein „theologisches System der Kultur“ (EW XII, 71). Tillichs Vorlesung ist eine kulturtheologische Analyse der politischen Richtungen und Strömungen in Deutschland nach dem Krieg und der Revolution, genauer: nach den Wahlen vom 19. Januar 1919, der Konstitution der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung in Weimar am 6. Februar und der Wahl des Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum ersten Reichspräsidenten am 11. Februar. Er behandelt zunächst das demokratische und das konservative politische Ideal. Deren Stärken sieht er ohne deren Schwächen im anarchisch-sozialistischen Föderalismus Gustav Landauers vereinigt. 23 Für dieses „dritte“ Konzept optiert er auch selbst. 24 Ihm schwebt ein „drittes Zeitalter“ vor, das Zeitalter nicht der liberalen oder der sozialistischen Demokratie, aber auch 23 Gustav Landauer, nach Ausrufung der bayrischen Räterepublik (7.4.1919) dort zuständig für Kultus und Volksaufklärung und am 2.5.1919 ermordet, kann als „der Vordenker der Ökolibertären“ (so Peter Glotz) bezeichnet werden. Vgl. auch R. Kauffeldt, Die Idee eines „Neuen Bundes“ (Gustav Landauer), in: M. Frank, Gott im Exil. Vorlesungen über die Neue Mythologie. II. Teil, Frankfurt/Main 1988, 131-179, sowie vom Vf., „Nicht den Staat wollen wir anbeten, sondern den Geist […].“ Gustav Landauers Programm des anarchischen Föderalismus in Paul Tillichs kulturtheologischem Entwurf von 1919, in: H. Delf/G. Mattenklott (Hg.), Gustav Landauer im Gespräch. Symposium zum 125. Geburtstag, Tübingen 1997 (= Conditio Judaica 18), 129-148. 24 Aufschlussreich ist ein Vergleich mit Troeltschs Deutung der vier „großen modernen Typen des sozialen Denkens, die untereinander in einer engen dialektischen Verbindung stehen: der Liberalismus, die Demokratie, der Sozialismus und der Anarchismus“, siehe: E. Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: J. Wellhausen (Hg.), Die christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion, Berlin/Leipzig 21909 (= Die Kultur der Gegenwart), 636-640, hier: 637. Ebenso einsehbar in: Bd. 7 der Kritischen Gesamtausgabe Troeltschs, hrsg. von V. Drehsen, Berlin/New York 2004, 358-362. Die Unterschiede zwischen Troeltschs und Tillichs politischem Denken zeigen sich besonders in der Deutung des Anarchismus.

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nicht des konservativen Machtstaates, sondern des Föderalismus auf demokratischer Basis. Entscheidend ist für Tillich Gustav Landauers Begriff des Geistes: „Geist ist Gemeingeist, Geist ist Verbindung und Freiheit, Geist ist Menschenbund […] und wo Geist ist, ist Volk.“ 25 Der Geist schafft Gemeinschaften wie Familie, Genossenschaft, Volk. Die Frage, was diesen Anarchismus oder Föderalismus vom Konservativismus unterscheide, liegt nahe. Tillichs Antwort: „Die Ablehnung des Machtprinzips. Die Autorität von oben ist zerbrochen durch die Unmöglichkeit einer transzendenten Theologie, die Grundlage einer neuen Gemeinschaft werden (zu) können, die Autorität von unten, d.h. der naturalistische Machtgedanke, ist vernichtet durch das Prinzip der Vernunft, durch die bewußte Gestaltung der Gesellschaft.“ (EW XII, 196 f.)

Kulturtheologisch gesehen stehe der anarchische Föderalismus durch seinen Willen zur Herbeiführung eines idealen Zustandes der Demokratie „am nächsten“ (EW XII, 197). Wie die Demokratie könne er revolutionär oder evolutionär auftreten. Er bejahe die Immanenz und die Kraft der Vernunft, sei aber ohne die „gesättigte Fortschrittsstimmung der modernen Demokratie“ (ebd.) 26 . Doch sei damit die Tiefe der religiösen Paradoxie noch nicht erreicht. Landauers Geist der Gemeinschaft sei auf das Gerechtigkeitsgefühl eingeengt, er könne aber „das ganze Nein über die Immanenz in sich aufnehmen und das Ja umso ekstatischer haben“ (EW XII, 198). Nicht in der Verfassung müsse der Föderalismus verankert werden, sondern in der Metaphysik; dann werde er sich eine Verfassung schaffen, die ihm adäquat sei. Tillich sieht das politische Ziel in einem „religiös fundamentierten Föderalismus“ (EW XII, 199). Das bedeutet keineswegs eine Absage an den rational gestaltenden Willen der Demokratie. Aber dieser Wille kann sich, so Tillichs Kritik, in den Dienst rein formaler Leere und Nichtigkeit stellen. Tillich fordert eine „paradoxe Ausgestaltung der Form“, d.h. eine vom „Überfließen des Inhalts“ zerbrochene und neu zu schaffende Form. Die innere Spannung 25 G. Landauer, Aufruf zum Sozialismus, Berlin 1911, 3; vgl. EW XII, 195. 26 Vgl. auch G. Landauer, Aufruf zum Sozialismus, a.a.O. (Anm. 25), 10 f.: „Fortschritt, was ihr Fortschritt nennt, dieses unaufhörliche Gewackel und Gefackel, dieses Schnellmüdewerden und neurasthenische, kurzatmige Jagen nach dem Neuen, wenn es nur mal wieder neu ist, Fortschritt und die damit in Zusammenhang stehenden Ideen der verrückten Entwicklungspraktiker und die maniakalische Gewohnheit, bei der Ankunft schon wieder Adieu zu sagen, Fortschritt, diese unstäte Ruhelosigkeit und Hetze, dieses Nichtstillhaltenkönnen und dieses Reisefieber, dieser sogenannte Fortschritt ist ein Symptom unserer abnormen Zustände, unserer Unkultur.“

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des Geistes, die wir als die Spannung zwischen dem Absoluten und Relativen kennen gelernt haben, kommt in der Politik zum Ausdruck als Spannung zwischen dem rational gestaltenden Willen und den irrationalen, „unmittelbar wachsenden Inhalten“ (ebd.), zwischen Form und Gehalt, wie Tillich in seinem Kulturvortrag formulieren wird. Soweit es auf die bewusste politische Gestaltung ankommt, ist die Demokratie im Recht, kommt es auf den Inhalt an, der zu gestalten ist, ist der Konservativismus im Recht. Den Ausgleich zwischen beiden oder „vielmehr das System der Spannungen beider“ ist für Tillich „der auf demokratischem Boden sich erhebende Föderalismus“ (ebd.) im Sinne Gustav Landauers. Er realisiert damit, so Tillich, die „kulturtheologische Forderung“, „eine Kirche des Geistes zu sein, in der Profanes und Heiliges in untrennbarer Einheit die Lebensformen des Gesellschafts- und Gemeinschaftslebens abgeben“ (EW XII, 200).

6. Implizite und explizite Kulturtheologie Vergleichen wir die fünf untersuchten Texte mit dem Kulturvortrag von 1919, so können wir in der Tat von einer Entwicklung der Kulturtheologie Tillichs sprechen. Sie entsteht unter dem Einfluss seiner Fichte- und Schelling-Interpretation, nimmt in der Theorie der praktischen kirchlichen Apologetik und der in ihrem Zusammenhang entwickelten Wahrheitstheorie die Konturen einer Kulturtheologie an, um dann in dem frühen Systementwurf von 1913/14, als „theologische Ethik“ (EW IX, 377) ausgewiesen, der Sache nach bereits Kulturtheologie zu sein, wenn auch nicht im expliziten und programmatischen Sinne. Als eine zur Kulturtheologie treibende Kraft erweist sich der von Tillich angeeignete doppelseitige Religionsbegriff Schellings, der in der Systematischen Theologie zum sogenannten theologischen Prinzip weiterentwickelt wird, das dann in der kulturtheologischen Vorlesung von 1919, besonders in seinem dritten Moment, zur expliziten Kulturtheologie hin geöffnet wird. Mit Schellings Religionsbegriff ist die Unterscheidung und Einheit von Religion als Prinzip und als Verwirklichung gemeint. Er verleiht der Religion einerseits eine prinzipiell überkulturelle Qualität, andererseits immer einen bestimmten, geschichtlich variablen Kulturausdruck, der ein an sich religiöses Moment in sich trägt. Dass der überkulturelle und damit universelle Charakter der Religion nicht nur jede kulturelle Verwirklichung unter ein Ja und Nein stellt, sondern einen Wechsel des Kulturausdrucks erlaubt, ja

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unter bestimmten Umständen gebietet, hat Tillich in den Texten, die vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, nicht explizit gemacht, wenngleich er darum gewusst haben mag. Der Wechsel des Kulturausdrucks ist geboten und ausdrücklich zu bejahen – dies ist Tillichs Überzeugung in der kulturtheologischen Vorlesung und im Kulturvortrag von 1919. Mit anderen Worten: Tillich ist zu der Einsicht gelangt, dass Christentum und Sozialismus zur Vereinigung bestimmt sind. Insofern kann man zwischen einer impliziten Kulturtheologie und einer expliziten, programmatischen Theologie der Kultur unterscheiden. Vor 1919 ist die Kulturtheologie noch unthematisch im Rahmen des idealistischen Monismus, der Idee einer philosophischen Religion, einer kirchlichen, praktischen Apologetik und der mit ihr verbundenen Wahrheitstheorie und schließlich als „theologische Ethik“ (EW IX, 377) und dem mit ihr verbundenen theologischen Prinzip greifbar. In der Kirchlichen Apologetik ist die implizite Kulturtheologie noch auf das Geistesleben und die Apologetik im herkömmlichen Sinne beschränkt. Sie wird als kirchliche Aufgabe und als Lehre vom Angriff verstanden. Die gesamte Wirklichkeit kann Gegenstand der apologetischen Arbeit sein. Im Vordergrund stehen aber, wie die Themen der Vorträge zeigen, weltanschauliche, philosophische, ästhetische und theologische Fragen. In der Systematischen Theologie wird das sogenannte theologische Prinzip begründet und auf die klassischen Themen der späteren Kulturtheologie Tillichs angewandt. Die Unterschiede zeigen sich besonders im Verständnis des dritten Moments des theologischen Prinzips. So wird die Aufhebung des Dualismus von Religion und Kultur als „geschehende“ und niemals wirklich vollendete aufgefasst. Das dritte Moment setzt die Einheit des absoluten und relativen Moments „in Ewigkeit“. Das gibt der Kulturtheologie einen „unpolitischen“, sich auf die Geisteskultur und das persönliche Leben beschränkenden Charakter. (EW IX, 317) Ein anderes Bild bietet die kulturtheologische Vorlesung von 1919, die bereits vor dem Kulturvortrag verfasst worden ist. Hier wird die Theologie der Kultur explizit gemacht und ihre analytische und synthetische Aufgabe beschrieben. Es wird betont, dass aus der Unbedingtheit des religiösen Prinzips sich seine Universalität und Unabhängigkeit, sein Nein gegenüber jeder bestimmten Kulturform ergibt. Abgelehnt wird der Versuch, das Christentum auf ein bestimmtes Gebiet, etwa die Geisteskultur, die Wissenschaft, das persönliche Leben, zu beschränken. Unter Hinweis auf Ernst Troeltsch werden das Soziale, Wirtschaftliche und Politische Gegenstände der Theologie. Abstrakt gefordert wurde dies schon in der

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Kirchlichen Apologetik, aber jetzt wird dies in der Vorlesung in extenso durchgeführt. Betont wird nun die Immanenz des Göttlichen in der gesamten Wirklichkeit. Neu gegenüber den vor dem Ersten Weltkrieg verfassten Texten ist vor allem das Bewusstsein, vor einer politischen und geistigen Zeitenwende zu stehen. Das Zeitalter der Auflösung der geistigen Einheit weicht dem jetzt anbrechenden Zeitalter der Einheit. Ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundlage ist der Sozialismus. Das Christentum steht vor der Aufgabe, „dieser Entwicklung seine sittlichen und religiösen Kräfte zuzuführen und dadurch eine neue, große Synthese von Religion und Gesellschaftskultur anzubahnen“ (GW II, 16). Im Kulturvortrag wird diese Geistes- und Gesellschaftswende mittels der Unterscheidung von Form und Gehalt als eine Formzersprengung beschrieben. Diese Metaphorik des Zerbrechens der Form durch den Gehalt durchzieht den Kulturvortrag, sie fehlt in den vor dem Krieg entstandenen Texten völlig. Sie liegt auch nicht in der inneren Logik der „kirchlichen Apologetik“ oder des frühen Systementwurfs vor. Diese Weiterentwicklung der impliziten Kulturtheologie zu einer expliziten und systematischen Theologie der Kultur hat sich offensichtlich während des Krieges vollzogen. Sie ist aber nicht unmittelbar durch das Kriegserlebnis ausgelöst. So zeigt seine Kriegstheologie keine Tendenz zu seiner späteren Kulturtheologie. 27 Aber die Folgen des Krieges haben seine Kulturtheologie geprägt. Gemeint ist die Erfahrung der Niederlage und der Revolutionen in Russland, Österreich und Deutschland. Die Monarchien wurden auf revolutionärem Wege durch kommunistische und sozialistische Regierungen ersetzt. Im Nachhinein wird nun der Krieg als Konsequenz einer bestimmten Gesellschaftsordnung verstanden. Er wird als das Ergebnis des selbstzerstörerischen Zusammenspiels von Hochkapitalismus, Nationalismus und Militarismus interpretiert. „Was ich will“, so schreibt er im September 1919 an seine Freunde im Wingolf, „ist eine neue aus dem Geist der christlichen Liebe und des Sozialismus geborene Gesellschaftsordnung, in der Kapitalismus und Nationalismus grundsätzlich überwunden sind“ (EW V, 144). Dieser Standpunkt bestimmt nun auch seine Kulturtheologie. In seiner Kirchlichen Apologetik von 1911/12 hatte Tillich besonders die moderne Geisteskultur im Blick. Er hatte schon damals einen verhäng27 Vgl. vom Verfasser, „Holy Love Claims Life and Limb“. Paul Tillich’s War Theology (1914-1918), in: ZNThG/JHMTh 2, 1995, 60-84.

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nisvollen Gegensatz zwischen der kirchlichen Verkündigung und der autonomen, aber im Christentum wurzelnden Kultur beklagt. Die Kirche hat, so urteilte er, die Führung im Geistesleben, die sie einst hatte, verloren. Während des Krieges hat sich dieser Eindruck Tillichs verstärkt. Ihm sei „mit überwältigender Deutlichkeit“ der Gedanke gekommen, so schreibt er am Ende des Jahres 1917 irgendwo an der Westfront an seine Schwester Johanna, „dass alles Lebendige, Ringende, Fortschreitende, Geistvolle, Tiefe, Anziehende, außerhalb dessen liegt, was man ‚Gemeinde‘ oder Kirche nennt“. „Wo sind die großen fortstrebenden Motive der Ethik?“, so fragt er und antwortet: „Bei der russischen Revolution und der deutschen Sozialdemokratie einerseits, bei Nietzsche und den tieferen Künstlern andererseits. Freilich, sie sind alle auf christlichem Boden gewachsen. Trotzky und Nietzsche, Ibsen und Verhaeren, aber wie fern stehen sie dem, was wir Gemeinde nennen! Wir leben eben seit 1700 in einer Epoche der Kirchengeschichte, die sich schlechterdings von den vorigen unterscheidet. Man muss sie nur erfassen und ganz bejahen.“ 28

Im Kulturvortrag nennt er außer der expressionistischen Kunst Nietzsches ekstatisches Realitätserlebnis, den mystischen Liebeskommunismus, die Liebesmystik Rilkes, Werfels und Tolstois und den föderalistisch-anarchistischen Staatsgedanken als die Formen einer neuen, in die Zukunft weisenden Kultur. Zwei Faktoren haben also die Kulturtheologie von 1919 entscheidend geprägt: die gesellschaftlich-politische Wende, die auch eine Wende in Tillichs politischem Denken bedeutet, sowie die Wahrnehmung einer lebendigen, vorwärts drängenden modernen Geisteskultur. Trotzki und Nietzsche sind die Repräsentanten dieser Moderne, die er als Einheitskultur interpretiert. Tillich stellt fest, dass die Kirche seit 200 Jahren die führende Rolle in der Geisteskultur verloren hat und sich in der aussichtslosen Lage der Verteidigung befindet. Diese Rolle sollen nun die theologischen Fakultäten übernehmen. Ihre Hauptaufgabe soll die Theologie der Kultur sein (vgl. GW IX, 31). Tillich hat sich aber als ein Einzelner dieser Aufgabe verschrieben.

28 Brief Tillichs vom 28.12.1917 an Johanna Tillich (transkribiert und mitgeteilt durch Renate Albrecht).

Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur CLAAS CORDEMANN Mit Dank an Ulrich Barth 1 „Daß Sinnsuche ein Grundbedürfnis allen bewußten Lebens darstellt, daß Sinnbewirtschaftung zu den zentralen Aufgaben sozialer Systeme gehört, und daß Religion in ihrer individuellen wie in ihrer öffentlichen Gestalt an beidem Anteil hat, gilt heutzutage schon fast als Gemeinplatz. Das war nicht immer so. Die erste sinntheoretische Konstruktion des Religionsbegriffs verdanken wir Paul Tillich.“ 2

So leitet Ulrich Barth seinen grundlegenden Aufsatz zu den problemgeschichtlichen Hintergründen von Tillichs Religionsbegriff ein. Damit weist Barth auf die Bedeutung von Tillichs Sinntheorie für einen modernitätstheoretisch valenten Religionsbegriff hin. Insbesondere die Konzepte von Husserl, Frege, Rickert und Lask werden von Barth als die entscheidenden Referenzgrößen für Tillichs Sinntheorie herausgearbeitet. An diese Überlegungen anknüpfend werde ich im Folgenden die religionsphilosophischen Grundlinien von Tillichs Theologie der Kultur der 1920er Jahre rekonstruieren. Das hier von Tillich grundgelegte Konzept einer religiösen Kulturhermeneutik ist in seiner Reichweite kaum zu überschätzen und stellt eine nach wie vor unabgegoltene Herausforderung für die gegenwärtige Theologie dar. Meine Überlegungen sind dabei von der These getragen, dass Religion und Kultur bei Tillich auf der Basis einer Geisttheorie sinntheoretisch vermittelt sind. Diesen Gedanken werde ich in einer sich vertiefenden Bewegung sukzessive entfalten. Dazu werde ich zunächst knapp den neuzeit1 2

Dieser Aufsatz ist eine Nachwirkung intensiver und gewinnbringender Studienjahre in Halle/Saale bei Prof. Dr. Ulrich Barth. U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89-123.

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diagnostischen Rahmen von Tillichs Konzept skizzieren (1.). Weisen hier insbesondere Tillichs Äußerungen in seinem Briefwechsel mit Emanuel Hirsch auf einen sinntheoretisch vermittelten Religionsbegriff, so zeigt sich, dass Tillich die Lösung des Sinnproblems zunächst in einer Theologie der Kultur sucht (2.). Daraufhin werde ich in einer ersten Vertiefung das prinzipielle Verhältnis von Religion und Kultur bei Tillich analysieren (3.). Nach dieser strukturellen Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur gilt es, in den beiden nächsten Abschnitten deren begründungslogische und geltungstheoretische Grundlegung zu eruieren. Sachlich handelt es sich hierbei um eine Analyse des Sinn- wie des Geistbegriffs bei Tillich. Im Zuge dessen werde ich zunächst auf Tillichs Sinntheorie eingehen (4.). Im Begriff des Sinns kommt es bei ihm zu einer dialektischen Vermittlung von Religion und Kultur. Sinn erscheint dabei einerseits als das Medium der Kultur und andererseits als Verweis auf die tragende Tiefendimension aller Kultur. Schließlich gilt es, die Bedingung der Möglichkeit des Vorkommens von Sinn zu eruieren. Tillich sieht sie in der selbstreflexiven Struktur des Geistes gegeben, die in ihrer Bedeutung für den Sinnbegriff zu analysieren sein wird (5.).

1. Tillichs Neuzeitdiagnose Mit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der Revolution von 1918 vollzog sich in der deutschen evangelischen Theologie ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel. Gegen den die wissenschaftliche Landschaft bis dahin beherrschenden Kulturprotestantismus 3 wandte sich mit Beginn der zwanziger Jahre eine ganze Generation junger Theologen. Es waren insbesondere die Vertreter der sogenannten Dialektischen Theologie, die die Abkehr von dem bürgerlichen Liberalismus in dem Bewusstsein einer krisenhaften Epochenwende vollzogen. Die theologische Wissenschaft war in einem stärkeren Maße als viele andere Disziplinen des Wissenschaftskanons von der durch den Ersten Weltkrieg ausgelösten Schockwirkung getroffen worden. In seinem Vortrag Das christliche Menschenbild im 20. Jahrhundert von 1952 formuliert Tillich rückblickend über den Ersten Weltkrieg: „Das 20. Jahrhundert beginnt in Europa im August 3

Zu Begriff und Geschichte des Kulturprotestantismus vgl. F. W. Graf, Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiegeschichtlichen Chiffre, in: H. M. Müller (Hg.), Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, 21-77.

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1914 mit dem Ausbruch des ersten Weltkrieges.“ (GW III, 182) Diese epochale Bedeutung des Ersten Weltkrieges für Europa ging Tillich allerdings erst im Verlauf des Krieges auf. 1914 meldete er sich noch als Freiwilliger und wurde zum Feldprediger bestellt. Ab 1915/16 finden sich dann die ersten Hinweise, dass Tillich den Krieg als existentiellen Umbruch erlebt. 4 In den Kriegsjahren wurde für Tillich vor allem ein Gedanke wichtig, der ihn in seiner Schaffensphase nach dem Ersten Weltkrieg bestimmte: die Einsicht in den Verlust der religiösen Tiefendimension bei den meisten seiner Zeitgenossen. Sie drohen „in der Gebundenheit […] an die Immanenz“ aufzugehen und sind insofern nicht mehr auf den „transzendenten Sinn des Evangeliums“ (EW XIII, 79) ansprechbar. Gerade dieses Moment des Aufgehens in der reinen Profanität wird für seine neuzeitdiagnostischen Analysen von hoher Bedeutung sein. 5 In seinen frühen Schriften von 1919-1922 spielt dabei der Sinnbegriff bzw. der Begriff der Sinnlosigkeit noch eine untergeordnete Rolle. Aber dem sachlichen Gehalt nach zielen Begriffe wie „Entleerung und Entgeistigung“ (GW II, 17), „stumpfmachende Arbeitssklaverei“ (GW II, 16) und „Diesseitsstimmung“ (GW II, 27) auf die Sinnkrise der Moderne. Mit der theoretischen Ausarbeitung des Sinnbegriffs in seinem System der Wissenschaften fasst Tillich ab 1923 die moderne Profanisierung dann explizit unter dem Begriff der Sinnleere bzw. des Sinnverlustes. Insbesondere die Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart von 1926 bringt diese Deutung zum Ausdruck. So spricht er hier u.a. von der „in sich ruhenden Endlichkeit“ (GW X, 53) einer Weltsicht und kulturellen Haltung, die sich selbst gegen jeglichen Transzendenzbezug abschottet und daher keinen „letzten Sinn“ (GW X, 12) für das Leben zu finden vermag. Dort, wo sich eine „materialistische Gesinnung“ (GW II, 17) auf „bloß nützliche und angenehme (oder auch notwendige und unangenehme) Tätigkeiten“ (GW II, 27) richte, bleibe das Leben ohne Grund. 4

5

Vgl. dazu zum einen Tillichs Bericht an den Feldprobst über die Monate November/Dezember 1915 (insbesondere EW XIII, 78) sowie zum anderen den Brief an Maria Klein vom 27. November 1916 (EW V, 118 f.). Zur Bedeutung des Ersten Weltkrieges für Tillichs Theologie vgl. U. Murmann, Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, 63-66, sowie H. Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik. Die Vermittlung von Gott und Welt im Frühwerk Paul Tillichs, Berlin 1989, 44-55. Zu den spezifischen Problemen einer Zeitdiagnose vgl. U. Barth, Die Religionstheorie der „Reden“. Schleiermachers theologisches Modernisierungsprogramm, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 267-270.

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Auch nach seiner Emigration in die USA 1933 haben die zeitdiagnostischen Überlegungen zur Sinnkrise der Moderne sein Denken weiterhin geprägt. So unterscheidet er in seinem Spätwerk in einer idealtypischen Differenzierung drei Perioden, die er in ihren je eigentümlichen religiösen Leitfragen sowie Antworten charakterisiert: Die Alte Kirche wird durch die Frage nach der Errettung aus Vergänglichkeit und Endlichkeit umgetrieben. Sie findet ihre Antwort in der Mitteilung von Unsterblichkeit und Unverweslichkeit durch Partizipation am inkarnierten Logos. Demgegenüber sei die primäre Frage des Mittelalters die Frage nach „Schuld und Verdammung“ (GW XI, 39). Die Erlösung besteht hier einerseits in der durch die katholische Heilsanstalt mitgeteilten sakramentalen Wirklichkeit des Todes des Gottmenschen, andererseits – aus protestantischer Perspektive – in dem Glauben an das Wort der Vergebung durch die Gnade Gottes. Diese beiden Fragen, so Tillich, sind in der Moderne nicht mehr die vordringlichen. Ihre Frage lautet vielmehr: „Wie kann ich einen Sinn in dieser sinnlosen Welt finden?“ (ST III, 262) In ihrer radikalsten Form kann die Erfahrung von Sinnlosigkeit zu einer Indifferenz gegenüber der Sinnfrage führen (vgl. ST II, 83). Tillich versucht diese Frage in seinem Spätwerk mit seiner „Botschaft vom ‚Neuen Sein‘“ (ST I, 61) zu beantworten: Die Teilhabe an der Sinnhaftigkeit des Neuen Seins ist das Heil für den modernen Menschen. Tillichs Gegenwartsdiagnose mündet also für die Moderne in der Konstatierung einer umfassenden Sinnkrise. Der Mensch vermag von sich aus keinen letzten Sinn für seine Existenz zu entdecken. Angesichts dieser Situation ist der Theologie ihre Aufgabe gestellt, in der sich der christliche Glaube zu bewähren hat. Der erste explizite Versuch, einen sinntheoretischen Religionsbegriff grundzulegen, findet sich bei Tillich in seinem Briefwechsel mit Emanuel Hirsch aus den Jahren 1917/18. 6 Gerade diese Briefe lassen den Zusammenhang zwischen der zeitdiagnostisch motivierten Sinnfrage und der Grundlegung des Sinnbegriffs als einer systematischen Leitkategorie erkennen, indem wir gewissermaßen Einblick in Tillichs Gedankenwerkstatt erhalten. Über seinen Berlinaufenthalt im Oktober 1917 schreibt er an Hirsch: 6

Der ganze Briefwechsel (vgl. EW VI, 95-218) ist von der Frage getragen, wie von Gott gesprochen werden kann, wenn ihm unter nachkantischen Bedingungen das Existenzprädikat abgesprochen werden muss. Welchen ontologischen Status hat die Rede von Gott dann? Sachlich handelt es sich hier um eine Analogie der Debatte zwischen Fichte und Schelling; vgl. H.-W. Schütte, Einführung in den Briefwechsel 1917/1918, EW VI, 96.

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„Lieber Mane! Es ist eine Katastrophe, was ich da sah! Ein hemmungsloses Negieren und Niederreißen mitten in den treusten Kreisen, wo nur Energie des Geistes und Nietzsches Hauch hinweht […]. Was soll werden? Der Krieg hat nur destruktiv gewirkt! Wo sind die Gegenkräfte? Ist es vielleicht wirklich ein ‚Ende‘, an dem wir stehen?“ (EW VI, 97) 7

Diesem aktiven Nihilismus versucht Tillich mit einem Gottesbegriff entgegenzutreten, der über einer gegenständlichen Fassung Gottes als einer ontischen Entität steht. In ersten suchenden Formulierungen nennt er das von ihm Intendierte „Ordnung“, „Realität“, „Tiefe“ und schließlich auch „Sinn“ (ebd.). Als methodisches Instrumentarium, um die hier aufbrechenden Fragen zu bearbeiten, dient ihm die „moderne Philosophie“ (EW VI, 98), die er seit August 1917 durchzuarbeiten begann. Darunter verstand er ein ganzes Bündel von Autoren: einerseits die Neukantianer Windelband, Rickert und Lask als Vertreter des Kritizismus und andererseits Husserl und Scheler als Vertreter der Phänomenologie (vgl. EW VI, 99). Vier Aspekte, die sich in dem Briefwechsel mit Hirsch andeuten und die für seine weitere theologische Entwicklung in den zwanziger Jahren von Relevanz sind, sind hier zu beachten: a) In Abgrenzung gegen eine intellektuelle Werkgerechtigkeit betont Tillich, dass sich religiöse Gewissheit niemals auf die durch Deutung vermittelten Objektivationen der Religion richten kann (z.B. die Rede vom „Dasein Gottes“). Sie sind gegenüber dem ursprünglichen Zuständlichkeitsbewusstsein immer nur sekundär. Dieses „subjektive urständliche Moment“ (EW VI, 102) ist als ein religiöses durch eine Absolutheitsintention gekennzeichnet. Tillich fasst dies in einer an Schleiermacher erinnernde Formulierung zusammen: „So ist die skepsisfreie Religion eine reine Zuständlichkeit, die dem gesamten Erleben eine Färbung gibt; sie ist also kein Erlebnis. Dies widerspräche der Absolutheit, sondern [sie ist] eine Färbung, ein Klang, eine Richtung, eine Form, ein Ausdruck, eine Seele jedes Erlebnisses.“ (Ebd.)

Religion wird demnach bei Tillich nicht als ein Kulturmoment neben anderen verstanden, sondern als Tiefendimension jeden Erlebens. b) Im Unterschied zu Schleiermacher ist nach Tillich der humane Ort der Religion jedoch nicht im Gefühl zu suchen, sondern im Geist, der durch eine grundlegende Duplizität qualifiziert ist, nämlich „Wertbewußt7

Vgl. hierzu H.-W. Schütte, Subjektivität und System. Zum Briefwechsel Emanuel Hirschs und Paul Tillichs: in Ch. Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004, 3-22.

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sein und Unendlichkeitsbewußtsein“ (EW VI, 119). Über den Begriff des Wertes, den Tillich durch die neukantische Philosophie südwestdeutscher Prägung vermittelt bekam, führt Tillich schließlich den Sinnbegriff ein: „‚Wert‘ und ‚Sinn‘ ergeben sich bei tieferer Analyse als identische Begriffe“ (EW VI, 125). Sinn in diesem werttheoretischen Rahmen ist das eigentliche Medium des Geistes: „Geistiges Leben ist Leben im Sinn oder unablässige schöpferische Sinngebung.“ (Ebd.) c) Der Terminus der Sinngebung weist dabei auf den dritten zu beachtenden Aspekt, nämlich die idealistische Klammer, unter der Tillichs Denken hier ausdrücklich steht. So weist Tillich dezidiert darauf hin, dass jeder Gottesgedanke – betont er auch noch so sehr die Andersheit Gottes – immer auf eine gedachte Andersheit rekurriert (vgl. EW VI, 115). So entsteht „die faktische Immanenz jedes konkreten Gottesgedankens, die verbunden ist mit dem Ideal, ihn transzendent zu denken, welches unmöglich ist“ (EW VI, 119). d) Sinntheoretisch gewendet unterscheidet Tillich drei Einstellungen des Geistes gegenüber der Wirklichkeit. Sein Ureigenstes ist die Sphäre des Sinns. Von ihr unterscheidet Tillich einerseits die Sphäre des Tatsächlichen (= Sein) und andererseits die Sphäre des Göttlichen (= Überseiendes). Während der Geist sich an jenem realisiert, weiß er sich von diesem realisiert. Pointiert fasst Tillich zusammen: „So begrenzt sich der Sinn durch das Sein und das Überseiende! Beide aber sind Sinn-Setzungen“ (EW VI, 127). Dementsprechend kann Tillich auch vom „Monismus des Sinnes“ (ebd.) sprechen. Sowohl die Abgrenzung gegen die Sphäre der reinen Faktizität als auch das Sich-verdankt-Wissen von einem transzendenten Grund sind Einstellungen des sinnsetzenden Bewusstseins. Darin bricht die Dialektik auf, dass jeweils etwas anderes gemeint wird als das, was faktisch gedacht wird: „Das Sein kann nicht wieder ‚sein‘, und das Überseiende hat sein Wesen darin, nicht zu sein!“ (Ebd.) Das Sein kann also auf keinen anderen Grund führen als sein Gedachtsein, wiewohl es an sich vermeint wird, während dem Überseienden gerade nicht das Prädikat der Existenz zukommen soll, es aber in Form des „Existentialurteils“ (ebd.) nur so ausgesprochen werden kann. In dem Briefwechsel mit Hirsch deutet sich also bereits eine geistphilosophisch fundierte Sinntheorie an. Tillich wird diese Thematik Mitte der zwanziger Jahre wieder explizit aufgreifen. Der Kulturbegriff spielt in dem Briefwechsel demgegenüber noch eine untergeordnete Rolle. Die Thematik des Verhältnisses von Religion und Kultur deutet sich aber in dem

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ersten Punkt – Religion als Richtung auf das Absolute in jedem Erleben – bereits an.

2. Eine Theologie der Kultur als Lösung des Sinnproblems Deutet sich in dem Briefwechsel mit Hirsch bei Tillich eine geistphilosophisch fundierte Sinntheorie zur Bearbeitung der durch den Nihilismus bedrohten Geisteslage an, so überrascht es, dass Tillich demgegenüber in seinem ersten Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur 8 als junger Privatdozent in Berlin vor der Kant-Gesellschaft am 16. April 1919 den Kulturbegriff zur systematischen Leitkategorie erhebt. Offenbar waren die Gedanken zur systematischen Leistungskraft der Begriffe „Sinn“ und „Geist“ noch nicht so weit gediehen, dass er damit an die Öffentlichkeit treten wollte. Stattdessen sollte jetzt eine Theologie der Kultur als Lösung des Sinnproblems fungieren. So versucht Tillich in seinem zweiten Vortrag vor der Berliner Sektion der Kant-Gesellschaft zum Thema Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie 9 eine Lösung des kulturphilosophischen Zentralproblems zu erreichen: nämlich die „Frage nach dem letzten Sinn und der letzten Realität des Wirklichen“ (GW I, 385) einer Antwort zuzuführen. Aufgabe einer Theologie der Kultur ist es, „die Profanisierung, Entleerung und Zerspaltung der Kultur“ (GW IX, 31) zu überwinden. Wie versucht Tillich diese Aufgabe konzeptionell zu bewältigen? Tillichs grundlegende These, die das Problem einer Lösung zuführen soll, lautet, dass „die Kultur an und für sich religiöse Qualität“ (GW IX, 28) in sich birgt. Es ist die Aufgabe einer Kulturtheologie, diese religiöse Valenz der Kultursphären aufzuspüren und so die Lebenswirklichkeit auf ihre Tiefendimension hin zu öffnen. Nur wenn die Kultur auf ihre religiöse Dignität hin erschlossen wird, können die sinnzersetzenden Prozesse der Moderne aufgehoben werden. Diese Aufgabe kann die Theologie der Kultur analog zu allen „nicht-empirischen Kulturwissenschaften“ (GW IX, 14) nur in Form von drei Unteraufgaben vollziehen: „1. Allgemeine religiöse Analyse der Kultur. 2. Religiöse Typologie und Geschichtsphilosophie der Kultur. 3. Konkrete religiöse Systematisierung der Kultur“ (GW IX, 20). 8 9

P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919), GW IX, 13-31. P. Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie (1922), GW I, 367-388.

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Um die religiöse Dignität der Kultur zu eruieren, hat das aus der aristotelischen Philosophie stammende Form-Gehalt-Schema für Tillich eine besondere Bedeutung. Von ihm aus gelangt Tillich zu seinen grundsätzlichen Aussagen über das Verhältnis von Religion und Kultur. So besteht eine vordringliche Aufgabe der religionsphilosophischen Analyse in der Verhältnisbestimmung von Form und Gehalt (vgl. GW IX, 20). Die Unterscheidung von Form und Gehalt ist für Tillichs Kultur- wie Religionsverständnis schlechterdings fundamental. Sie wurde stark durch das religiös-ästhetische Erleben der expressionistischen Malerei geprägt. 10 Unter Form ist nach Tillich nicht die Kultur als solche zu verstehen, sondern sie beschreibt – mit Max Weber gesprochen – die Eigengesetzlichkeit der autonom verfahrenden Kulturprozesse. Gehalt meint demgegenüber die religiöse Substanz der Kultur, auf die sich die Formungsprozesse beziehen. Tillich denkt das Form-Gehalt-Schema in der Logik von Form und Materie. Dabei wird der Materiebegriff in Gehalt und Inhalt ausdifferenziert. Unter dem Gehalt versteht Tillich den nicht-ontischen Grund aller Realität. Unter Inhalt versteht er konkret Seiendes, d.h. geformten Gehalt. Während der Inhalt je nach Gegenstandsbezug differieren kann, ist der Gehalt das, was der Variabilität aller Formen und allen Inhalten gegenüber unabhängig ist, indem er allen kulturell-rationalen Gestaltungen invariant zugrunde liegt. Tillich fasst seine Überlegungen so zusammen: „Der Gehalt wird an einem Inhalt mittels der Form ergriffen und zum Ausdruck gebracht. Der Inhalt ist das Zufällige, der Gehalt das Wesentliche, die Form das Vermittelnde.“ (Ebd.)

Welchen ontologischen Status hat nun aber der Gehalt selbst? Tillich bietet verschiedene Begrifflichkeiten an, um das mit dem Gehaltsbegriff Intendierte zu präzisieren. Er spricht vom „Unbedingten“, „Überseienden“, von „Sinnwirklichkeit“ (GW IX, 18) und von „geistiger Substantialität, die der Form erst ihre Bedeutung gibt“ (GW IX, 20). Der begründungslogische Zusammenhang dieser Termini ist in dem Aufsatz von 1919 noch recht unterbelichtet, aber es deutet sich die Richtung an, in die Tillichs Denken strebt. Der Gehalt ist weder als eine ontische Entität, noch in der Logik eines Totalitätsmodells, noch überhaupt irgendwie als Prolongation der bedingten Sphäre gedacht (vgl. GW I, 386). In dieser Fassung des unbedingten Gehalts schlagen sich deutlich sichtbar die von Kant gesetzten Kautelen bezüglich des Existenzbegriffs nieder. Das Existenzprädikat ist nach der sogenannten Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntniskonstitution 10 Vgl. M. F. Palmer, Philosophy of Art, Berlin/New York 1983, 92-100.

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nur dort zuzuteilen, wo die kategorialen Vernunftfunktionen mit der Sinnlichkeit kooperieren. 11 Von einem irgendwie seienden Überseienden kann also keine Rede sein. Positiv fasst Tillich das Unbedingte axiologisch als „religiöse[n] Wert“ (GW IX, 29). Es ist nun allerdings für Tillich entscheidend, dass er den Heiligkeitswert nicht neben einen ästhetischen, ethischen etc. stellt, sondern dass er die Heiligkeit in der Unbedingtheit des Geltens der Werte überhaupt sieht (vgl. GW I, 381). 12 Der ontologische Status des Gehaltes kann insofern als ein Modus von absoluter Gültigkeit qualifiziert werden. Das so verstandene Überseiende bildet die religiöse Substanz einer Kultur. Indem Tillich das Unbedingte nicht materialistisch versteht, bietet sich für ihn die Möglichkeit der Einführung des Sinnbegriffs (vgl. GW IX, 20) an. Damit deutet sich bereits die sinntheoretische Vertiefung des FormGehalt-Schemas an; sie ist aber noch nicht ausgeführt. Die Stärke dieser religionsphilosophischen Fassung des Unbedingten liegt darin, dass Tillich damit „vom Gehalt her die übergreifende Einheit der Kulturfunktionen zum Ausdruck bringen“ (GW IX, 22) kann. Indem so ein neuer Einheitsgrund aller Realitätssetzungen gefunden ist, werden die modernen Fragmentierungs- und Separationsprozesse in eine tiefere Einheit aufgehoben, der damit eine sinngenerierende Funktion zukommt. „Die Kultur“, so fasst Tillich zusammen, „ist das Medium des Unbedingten“ (GW I, 386). Dort, wo die Kultur sich vom Unbedingten getragen weiß, erwächst aus der Tiefe Sinn. Unbeschadet der religiösen Substanz der Kultur wird Tillich nicht müde zu betonen, dass die kulturellen Formungsprozesse selbst autonom verlaufen. Während der Gehalt als die Substantialität aller rationalen Gestaltungen immer schon vorausgesetzt ist, sind die Formungen selbst allein Sache der kulturellen Produktivität. So hält Tillich fest, „daß die Autonomie der Kulturfunktionen begründet ist in ihrer Form, den Gesetzen ihrer Anwendung“ (GW IX, 19). Die Anwendungsgesetze sind in einer doppelten Weise zu verstehen. Zum einen sind sie – in soziologischer Terminologie gesprochen – im Sinne einer Eigengesetzlichkeit der kulturellen Systeme aufzufassen. Ökonomie, Recht, Jurisprudenz und Ästhetik 11 Vgl. U. Barth, Gott als Grenzbegriff der Vernunft. Kants Destruktion des vorkritisch-ontologischen Theismus, in: Ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 235-262. 12 Tillich konnte bei Wilhelm Windelband (Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1914, 390-401) seine eigene Zuordnung des Heiligen quer zu den übrigen Werten vorgebildet finden.

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folgen je ihren systemimmanenten Logiken und lassen sich nicht durch heteronome Ansprüche eingrenzen oder auch nur irgendwie steuern. Zum anderen werden die Kulturfunktionen transzendentalphilosophisch vertieft, indem die Formgebung an die Geistfunktionen zurückgebunden wird. Die Kultur wird in dieser Perspektive als eine Objektivation des autonomen Geistes verstanden. Dementsprechend nimmt Tillich eine schematische Gliederung der Kulturfunktionen gemäß der Struktur des Geistes vor (vgl. GW IX, 17). Er unterscheidet zwischen einer theoretischen und einer praktischen Funktion des Geistes. In der theoretischen Funktion nimmt der Geist die Gegenstände in sich auf. D.h. im weitesten Sinne: Er erkennt Wirklichkeit. Die praktische Richtung hingegen ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in die Gegenstände eingehen will. Unter die theoretische Sphäre zählt Tillich die intellektuellen (Wissenschaft) und die ästhetischen (Kunst) Kulturfunktionen, während sich die praktische Sphäre in eine individualethische (Person) und eine sozialethische (Recht/Gesellschaft) Kulturfunktion untergliedert. Es ergibt sich somit ein Viererschema der Grundfunktionen des Geistes, der als seine Objektivation eine ebenso gegliederte Kultursphäre aus sich heraussetzt.

3. Die ambivalente Bestimmung des Religionsbegriffs 3.1 Die Stellungen der Religion zur Kultur Religion und Kultur gehen in Tillichs Denken keine ungebrochen-harmonische Beziehung ein. Sie stehen vielmehr in einem differenzierten Verhältnis wechselseitiger Zuordnung, das Tillich idealtypisch unter die Begriffe Autonomie, Heteronomie und Theonomie 13 fasst. Als theonom charakterisiert Tillich „eine Geisteslage […], in welcher alle Formen des geistigen Lebens Ausdruck des in ihnen durchbrechenden Unbedingt-Wirklichen sind“ (GW I, 386). Diese Form des Ineinanders von Religion und Kultur ist Tillichs kulturtheologisches Ideal (vgl. GW IX, 29). Die Gefahr einer theonomen Geisteslage liegt darin, dass sie die Formen, in denen sie einmal den adäquaten Ausdruck des Gehaltes sah, zu 13 Während Tillich mit den Begriffen Autonomie und Heteronomie auf der Linie der von Kant getroffenen Bestimmungen liegt, ist der Begriff der Theonomie wohl Troeltsch entlehnt; vgl. F. W. Graf, Theonomie. Fallstudien zum Integrationsanspruch neuzeitlicher Theologie, Gütersloh 1987, 14.

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konservieren sucht. Die lebendige Theonomie, die überall den unbedingten Gehalt des Wirklichen aufspürt, steht nach Tillich immer in Gefahr, allmählich zu erstarren und die bedingten Formen, die einst Symbol des Unbedingten waren, selbst absolut zu setzen. Diesen Zustand qualifiziert Tillich als Heteronomie. Heteronom ist eine Geisteslage dann, wenn in ihr gewissen Formen als solchen der Charakter von Unbedingtheit zugesprochen wird, sie aber damit eben nicht mehr transparent für den sie tragenden Gehalt sind. Gegen die Verabsolutierung bedingter rationaler Gestaltungen revoltiert die Autonomie. Sie kann es nicht akzeptieren, dass einige Formen „den Gesetzen ihrer Anwendung“ (GW IX, 19) nicht unterliegen sollen. Da die Formungsprozesse per se Aufgabe der autonomen Geistesfunktionen sind, kann und darf es keine Form geben, die der Autonomie entzogen ist. Das autonome Bewusstsein tut der Theonomie damit sogar einen Dienst, indem es darauf hinweist, dass keinem Endlichen als solchem unbedingte Geltung zukommen kann. Mit diesem Autonomiebegriff setzt Tillich sich ausdrücklich in ein positives Verhältnis zum neuzeitlichen Freiheitsbewusstsein. Aber auch der Autonomie wohnt eine Gefahr inne, so dass sie sich gegen sich selbst wenden kann. Ihre eigentliche Gefährdung liegt in ihrer „Profanisierung“ (GW IX, 27). Profan wird die Autonomie dort, wo sie ihre Formen nicht mehr als vom Unbedingten getragen versteht, sondern ganz in den Formungsprozessen selbst aufgeht. Ist die Gefahr der Heteronomie, der Form den Status des Unbedingten zu geben, so besteht die Gefahr der Autonomie demgegenüber darin, an der Form das Unbedingte zu verlieren. So kommt es in ihr zum Verlust der religiösen Tiefendimension der Kultur. Die Kultur droht in den endlichen Bezügen aufzugehen. Von Tillichs kulturtheoretischem Ideal einer theonomen Geisteslage ergeben sich nach dem Gesagten drei Abgrenzungen gegen alternative Verhältnisbestimmungen von Religion und Kultur. Die ersten beiden zielen dabei auf eine Auflösung jeweils eines Konfliktpartners, während die dritte auf ein Neben- bzw. Überordnungsmodell hinausläuft. 3.2 Abgrenzung von Alternativmodellen Abgrenzung von der mittelalterlichen Einheitskultur: Das Mittelalter wird von Tillich ambivalent beurteilt. Einerseits sieht er in ihm sein Ideal einer Theonomie annähernd verwirklicht, wie es sich z.B. in der großen Kultur-

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synthese des Thomas von Aquin zeigt (vgl. GW I, 386). 14 Gleichwohl – und das ist die andere Seite – stimmt er Ernst Troeltsch darin völlig zu, dass diese „kirchlich geleitete Kultur“ (GW IX, 16) ein für alle Mal der Vergangenheit angehört. 15 Heute, so Tillich, hat die Kirche, insbesondere die protestantische, den Anspruch aufgegeben, „die übergreifende Kulturgemeinschaft“ (ebd.) darstellen zu wollen. Ethik, Wissenschaft, Kunst etc. werden nun in ihrer Autonomie bejaht. Das Ende der mittelalterlichen Einheitskultur sieht Tillich mit dem Ausgang des Spätmittelalters eingeläutet, da es dort mit dem Auftreten neuer Formen zu einer theonomen Gegenreaktion kommt, die die alten Formen heiligt, aber gerade so heteronom wird. Der sachgemäße Weg wäre der einer theonomen Integration gewesen, der aber nicht eingeschlagen wurde und so den legitimen Protest der Autonomie hervorrief. Hinter die Autonomie des Bewusstseins gibt es kein Zurück mehr. Durch sie ist der Überschritt zur Neuzeit qualifiziert. Abgrenzung vom modernen Säkularismus: Dieses freigesetzte autonome Bewusstsein droht nun allerdings, seine religiöse Gehaltsdimension aus den Augen zu verlieren. Mit dem Ende des Spätmittelalters setzt der Prozess einer zunehmenden Profanisierung ein. Aber erst die Erfahrung der Sinnlosigkeit durch den Ersten Weltkrieg entlarvt die bürgerlichen Einheits- und Ganzheitsprätentionen des 19. Jahrhunderts als leere Formalprinzipien, die ihren Zusammenhang mit dem sie tragenden Grund verloren haben. Die konstatierten Zusammenhänge von gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, der im Hinblick auf das Individuum eine fragmentierte Rollenidentität entspricht, haben nach Tillich ihren Grund im Verlust der religiösen Tiefendimension seit dem Ausgang des Spätmittelalters. Wo die Gehaltsdimension aus den Augen verloren wird, da nimmt „die exakte Wissenschaft, das formal Ästhetische, die formale Ethik, das bloß Staatliche und Wirtschaftliche“ (GW IX, 27) den Menschen voll in Anspruch. Als religiöse Ersatzfunktionen suchen sich die Menschen dann je nach Bildungsstand Wissenschaft, Moral oder Kunst – allerdings nur nach ihrer formalen Seite (vgl. GW I, 374). Intellektualisierung, Ethisierung und Ästhetisierung der Kultursphären lassen die Religion als ein überflüssiges

14 Mit diesem Urteil steht Tillich in der Tradition Ernst Troeltschs, Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, in: Ders., Gesammelte Schriften I, 3. Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1922, Aalen 1977, 252-285. 15 Zum Begriff der Einheitskultur, den Tillich von Troeltsch entlehnt hat, vgl. E. Troeltsch, Bd. I, 3 der Gesammelten Schriften, a.a.O. (Anm. 14), 178-185.

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Surrogat erscheinen. Allein in diesem Zusammenhang findet sich bei Tillich ein pejorativer Kulturbegriff. Die Abgrenzung von der Ausdifferenzierung der religiösen Sphäre: Als Reaktion auf die zunehmende Profanisierung der Wirklichkeit ließe sich von einem kirchlich-konfessionellen Standpunkt aus auch an eine Stärkung der spezifisch religiösen neben der profan-kulturellen Sphäre denken. 16 Aber dieser Weg, so Tillich, würde nicht nur zu einer neuen Heteronomie führen, indem gewisse Symbole dem freien Geistprozess entzogen werden, sondern er widerspricht auch zutiefst dem „Absolutheitscharakter“ (GW IX, 17) des religiösen Bewusstseins selbst. Die religiöse Intention auf Unbedingtheit lässt sich nicht in eine Parzelle – weder bewusstseinstheoretischer noch soziologischer Art – abschieben. In diesem Sinne wendet sich Tillich gegen Kant, Hegel und Schleiermacher, die die Religion je in einem der drei klassischen Seelenvermögen – Wollen, Denken und Gefühl – verorten (vgl. GW IX, 16). Wenn es demnach keine spezifisch religiöse Bewusstseinsfunktion gibt, dürfte es auch keine spezifisch religiöse Kultursphäre geben, die ja immer nur die Objektivation ersterer sein könnte. So hält Tillich gegen die Ausdifferenzierung der Religion fest: „Es gibt also keine besondere religiöse Funktion neben der logischen, ästhetischen, ethischen, sozialen; sie ist auch nicht in einer oder in der Einheit aller enthalten, sondern sie ist der Durchbruch durch jede und die Realität, die unbedingte Bedeutung einer jeden.“ (GW I, 380)

Dementsprechend betont Tillich auch, dass der religiöse Wert des „Heiligen“ nicht neben dem ästhetischen Wert des „Schönen“ und dem ethischen Wert des „Guten“ steht, sondern dass er quer zu allen Werten deren unbedingte Geltung thematisiert (vgl. GW I, 381).

3.3 Die Dialektik von Religion und Kultur Nun gibt es aber eine spezifisch religiöse Sphäre in der Kultur. Wie ist sie nach dem Gesagten zu erklären? Wie dargelegt wurde, ist nach Tillichs Dafürhalten jede Kultur substantiell religiös, auch wenn die Kulturprozesse autonomen Selbstorganisationsstrukturen unterliegen. Es ist erst die Gehaltsdimension, die der Kultur einen Sinn verleiht, indem sie den gemeinsamen Einheitsgrund der Kulturfunktionen darstellt. Ideal erscheint 16 Dies ist nach Tillich der Weg der katholischen Kirche (vgl. GW IX, 28).

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Tillich eine Geisteslage, in der durch jede kulturelle Form der Gehalt symbolisiert wird. Dies fasst er unter dem Begriff „Theonomie“. Für den hier zu behandelnden Zusammenhang ist es nun entscheidend zu sehen, dass das mit dem Terminus Theonomie intendierte Verhältnis von Religion und Kultur nicht als eine harmonisch-statische Koordination gedacht ist. Die in der Theonomie angestrebte „Kultursynthese“ (GW IX, 22) ruht vielmehr auf einem paradoxen Grund. Von der Religion her ergeht über die kulturelle Sphäre in toto zugleich das Ja und Nein. Es ist also nicht wie bei Karl Barth ein absolutes Nein über die Kultur, das Tillich allein über eine sich nur säkular verstehende Kultur aussprechen kann. 17 Das Verhältnis von Form und Gehalt ist erst dann voll erfasst, wenn das darin liegende „Verhältnis des Nein und Ja“ (GW IX, 20) über die Kultur deutlich geworden ist. Tillich definiert Religion als „Erfahrung des Unbedingten und das heißt Erfahrung schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit“ (GW IX, 18). Übertragen auf das Form-Gehalt-Schema muss dieser Satz wie folgt interpretiert werden: Dort, wo der unbedingte Gehalt die Form durchbricht 18 , wird die Form einerseits als Form in ihrer Bedingtheit negiert und andererseits zugleich affirmiert, insofern der Gehalt überhaupt erst durch sie zum Vorschein kommen kann. „[D]er Gehalt kommt zur kulturellen Bestimmtheit nur in der Form“ (GW IX, 21), aber keine endliche Form vermag den unendlichen Gehalt vollständig zu repräsentieren. D.h. die Form „wird Form im paradoxen Sinne“ (GW IX, 20). Damit ist Tillichs dialektische Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur erreicht. Die Kultur kann bejaht werden, insofern sie „Medium des Unbedingten“ (GW I, 380) ist. Sie muss verneint werden, insofern sie als bedingte Sphäre eben nicht das Unbedingte selbst ist. Religion und Kultur sind insofern als differente Sinneinstellungen konstitutiv auf einander bezogen. Religion ist der Gehalt und die Möglichkeit der Kultur. Die Kultur ist die Form und die Wirklichkeit der Religion. Die Aufgabe des Kulturtheologen besteht nach Tillich darin, in kulturhermeneutischen Untersuchungen diese religiöse

17 Das ist der Kern der Auseinandersetzung zwischen einerseits Tillich und andererseits Barth und Gogarten um das kritische und das positive Paradox. Tillich sieht in diesem Streit bei seinen Antagonisten die Gefahr, dass ihre Dialektik „ungewollt hinüberführt in einen sehr positiven und sehr undialektischen Supranaturalismus“ (GW VII, 243). 18 Zu der Chiffre des „Durchbruchs“ vgl. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000, 66-75.

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Substanz der Kultur zu eruieren, um von ihr her die Einheit der differenten Kulturfunktionen zum Ausdruck zu bringen (vgl. GW IX, 22). 3.4 Die Situation der Religion als Ausdruck eines Kulturkonfliktes Wo die Kultur als Ganze Ausdruck des Religiösen sein soll, kann „von besonderen religiösen Kultursphären im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden“ (GW IX, 18). Gleichwohl bildet sich gemäß den theoretischen und praktischen Geistesfunktionen eine spezifisch religiöse Kultursphäre aus. Auf dem Gebiet des religiösen Erkennens konstituieren sich Mythos und Dogma, im Gebiet der religiösen Ästhetik der Kultus 19 , während sich auf dem Gebiet der religiösen Individualethik die Vorstellung der Heiligung herausbildet und als spezifisch religiöse Vergemeinschaftungsform die Kirche entsteht (vgl. GW IX, 17). Mit den oben eingezogenen Abgrenzungen gegen eine heteronome Vereinnahmung kultureller Formen einerseits und der Ausdifferenzierung der religiösen Sphäre neben anderen kulturellen Sphären andererseits ist klar, dass demgegenüber durch die Setzung einer spezifisch religiösen Sphäre „eine doppelte Wahrheit, eine doppelte Sittlichkeit, ein doppeltes Recht“ (GW IX, 17 f.) konstituiert wird. Dagegen betont Tillich: „Diese Doppelheit muß unter allen Umständen aufgehoben werden; […] denn sie zerstört das Bewußtsein.“ (GW IX, 18) Dieser Gefahr begegnet er mit dem Terminus der „teleologische[n] Dignität“ (GW IX, 28) der spezifisch religiösen Kultursphäre. Ihr kommt kein selbständiger logischer Wert zu, sondern sie steht in einem funktionalen Bedeutungszusammenhang mit der Kultur schlechthin. Denn um auf die religiöse Valenz der Kultur aufmerksam zu machen, besteht eine „psychologische Notwendigkeit“ (GW IX, 27), zwischen dem profanen und religiösen Bereich der Kultur zu unterscheiden. D.h. um des Bewusstseins des Heiligen willen ist zwischen beiden zu unterscheiden, obwohl beide realiter qua Gehaltsbedingtheit jeder kulturellen Form ineinander liegen. Die Zweckbestimmtheit der spezifisch religiösen Kultursphäre besteht also nicht in einer Absolutsetzung ihrer selbst, sondern hat nur noch die „psychologisch-pädagogische“ (EW

19 Damit kommt Tillich im Gegensatz zur Tradition Albrecht Ritschls zu einer prinzipiell positiven Würdigung des Ästhetischen in der Religion. Es ist eine Stärke des Religionsbegriffs Tillichs, dass er ihn von einer ethischen Verengung freihält.

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V, 145) Funktion, das Religiöse überhaupt als sinnstiftendes Moment in der Kultur erlebbar zu machen. Aber auch, wenn diese funktionale Begründung der Religion eingestanden ist, bleibt die Doppelheit einer spezifisch religiösen Sphäre neben anderen Kultursphären „der Ausdruck für eine nach Gehalt und Sinn zwiespältige Kultur“ (GW IX, 30), die es unter dem „Banner der Theonomie“ (GW IX, 31) zu überwinden gilt. 20 Der Konflikt der Neuzeit liegt also nicht in dem Gegensatz von Religion und Kultur als solchem, sondern in dem Gegensatz von einer spezifisch religiösen Kultursphäre neben autonomen Kultursphären. Für Tillichs Theologie der Kultur heißt das, dass er mit einem doppelten Religionsbegriff operiert: einmal im Sinne einer konkreten positiven Religion, dann aber auch – und das ist sein eigentlicher Religionsbegriff – Religion als Tiefendimension von Kultur überhaupt. 3.5 Religionsphilosophische Reserven gegenüber dem Religionsbegriff Tillich hat allerdings nicht nur gegenüber einer spezifisch religiösen Sphäre seine Vorbehalte, sondern auch gegenüber dem Religionsbegriff an sich. Hierin zeigt sich seine größte Nähe zur sogenannten Dialektischen Theologie. Grundlage dieses zentralen Punktes seiner Theologie ist der Ausgang beim Gottesbegriff bzw. dem Begriff des Unbedingten. 21 Bereits in seinen Promotionsthesen von 1912 weiß sich Tillich dieser Perspektive verpflichtet. So lautet die erste These: „Der Religionsbegriff muß aus dem Gottesbegriff abgeleitet werden, nicht umgekehrt.“ 22 Diese erste These ist zugleich eine Antithese. Sie wendet sich gegen jeden Gottesbegriff, der in der Tradition Schleiermachers aus dem Religionsbegriff 20 Hier ist der sachliche Ort für Tillichs Kairos-Begriff: Kairos ist „das Hereinbrechen einer neuen Theonomie auf dem Boden einer autonom gelösten oder aufgelösten Kultur. Dieses Hereinbrechen aber hat seine Vorbereitung in dem Kampf der Autonomie gegen die Heteronomie, bis zu dem Moment, wo die Autonomie in Anomie umzuschlagen droht“ (MW IV, 66 f.). Was die Rechtfertigung für die Subjektivität ist, das ist der Kairos für die Kultur: Selbstvergegenwärtigung des Unbedingten. 21 Vgl. hierzu W. Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion. Der Religionsbegriff im Werk Paul Tillichs, Frankfurt/Main 1989, 55-69. 22 Zitiert nach H. Brandt, Konvergenz und Wandel in der Theologie Paul Tillichs im Licht der wiedergefundenen Thesen zu seiner Lizentiaten-Dissertation, in: ZThK 75, 1978, 362.

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abgeleitet wird. Dort, wo der Gottesbegriff aus dem Religionsbegriff abgeleitet wird – so lautet Tillichs Vorwurf –, da „wird das Unbedingte gegründet auf das Bedingte, es wird selbst bedingt, d.h. zerstört“ (GW I, 386). Hierin ist impliziert, dass sich die Erfahrung des Unbedingten in keiner Weise provozieren lässt. Weder intellektueller Scharfsinn, noch ethische Appelle können den Menschen dazu bringen, in den Gottesglauben hineinzutreten. Gott ist allein dort zu finden, wo er sich selbst gibt: „Nur der Durchbruch des im Ich-Bewußtsein enthaltenen Grundes durch die autonome Bewußtseinsform befreit von dem Zwang der Gottesferne; die Religion nennt diesen Durchbruch Gnade.“ (GW I, 379)

Alle Aussagen über die Erfahrung des Unbedingten haben somit notwendig paradoxen Charakter, da sie Aussagen über das Unbedingte, das jenseits aller theoretischen Urteilsformen steht, allein in Form des theoretischen Urteils machen können, also die Form der Aussage den Gehalt des Intendierten gerade verneint. Das Bedingte ist insofern immer Medium des Unbedingten, relativiert und objektiviert es damit aber auch immer in seiner Bezugnahme auf dieses. Eine Religionsphilosophie, will sie dem Absolutheitscharakter religiösen Erlebens gerecht werden, muss deshalb immer von Gott ausgehen und nicht von der Religion. Die Frage muss daher lauten, wie Tillich diese religionsphilosophische Aufgabe in Bezug auf das Verhältnis von Religion und Kultur weiter vertieft. Kategorial ist der Begriff des Unbedingten wie der Begriff der Kultur bis 1922 noch unzureichend gefasst, wenn auch die Grundstrukturen bereits angelegt sind. Das bisher Erarbeitete hat Tillichs Gesamtabsicht, die er mit einer Theologie der Kultur verfolgt, erkennen lassen. Er versteht sie als einen Lösungsversuch der sich in der Neuzeit durch das Auseinandertreten von Religion und Kultur ergebenden Frage nach dem Sinn. In den Schriften der Jahre 1919-1922 versucht er diese Sinnkrise mit einer kulturtheologischen Synthese zu bewältigen, die die Kultur als substantiell religiös – wenn auch dialektisch gebrochen – ausweist. Unklar bleibt demgegenüber die kategoriale Fassung der Begriffe Sinn und Geist, die von Tillich zwar immer wieder verwendet, aber in keine konzeptionelle Einheit gebracht werden. Dieses Desiderat bearbeitet er unter Aufnahme der Überlegungen seines Briefwechsels mit Hirsch in seinem System der Wissenschaften von 1923 und in seiner Religionsphilosophie von 1925.

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4. Der Sinnbegriff als Grundlage der Religionsund Kulturtheorie 4.1 Die Richtung auf Sinneinheit In seiner Religionsphilosophie 23 wendet sich Tillich gezielt den oben aufgezeigten Problemstellungen zu und kommt hierbei zu einer vertieften Einsicht bezüglich des Verhältnisses von Religion und Kultur. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Ausarbeitung der Sinntheorie, die im Briefwechsel mit Hirsch bereits angelegt war und auch den Hintergrund in seinen beiden frühen Aufsätzen vor der Kant-Gesellschaft bildet. Die in den Aufsätzen nur angedeuteten Zusammenhänge werden von Tillich in den zwanziger Jahren systematisch entfaltet. Dabei kommt es zu einer produktiven Synthese idealistischer, neukantischer und phänomenologischer Einsichten. 24 Ausgangspunkt seiner Religionsphilosophie ist das zuletzt angesprochene Verhältnis von Religionsbegriff und Gottesgedanke. In ihrer Verhältnisbestimmung sieht Tillich das „Grundproblem der Religionsphilosophie“ (GW I, 297). Der darin liegende Antagonismus spiegelt sich in den Begriffen „Religion“ und „Offenbarung“ wider. Die Religionsphilosophie bezieht sich auf Religion als ein gemeinsames Merkmal verschiedener kultureller, geschichtlich wiederkehrender Erscheinungen, die ihrer Gültigkeit nach relativ sind und ihren Ort in der Immanenz haben. Das Selbstverständnis des religiösen Menschen begreift dagegen Offenbarung als ein einmaliges, unableitbares Geschehen, das sich durch absolute Gültigkeit und durch Transzendenz auszeichnet. „‚Religion‘ spricht von Kultur, ‚Offenbarung‘ vom Jenseits der Kultur“ (ebd.). Somit stehen sich zwei totalitäre Ansprüche gegenüber: der Anspruch der Philosophie, d.h. der humanen Vernunft, die keinen ihr entzogenen Gegenstand dulden kann, und der Offenbarungsanspruch der Religion selbst. Der Konflikt zwischen Religion und Kultur bleibt also auch in dieser Schrift Tillichs der Ausgangspunkt seiner theologischen Fragehaltung. Wie versucht Tillich den Konflikt hier zu überwinden? Ich habe gezeigt, dass eine Lösung nach Tillich weder in einer Nebenoder Überordnung noch in der Auflösung eines der Konfliktpartner liegen 23 P. Tillich, Religionsphilosophie (1925), GW I, 295-364. 24 Vgl. dazu Ch. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie der Konstruktionsbedingungen individueller Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/New York 2000, 124-152, sowie U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs, a.a.O. (Anm. 2), 89-123.

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kann. Tillich bleibt dieser Einsicht auch hier treu. Wenn dem aber so ist, dann „bleibt nur die synthetische Lösung. […] Denn es gibt in der Offenbarungslehre wie in der Philosophie einen Punkt, in dem beide eins sind.“ (GW I, 299) Diesen Punkt, an dem Religion und Kultur sich treffen, bezeichnet Tillich näher als „die gemeinsame Richtung auf die Sinneinheit“ (GW I, 320). Was er unter Sinneinheit versteht, lässt sich erst dann begreifen, wenn die hier zugrunde gelegte Sinntheorie rekonstruiert ist. Prima facie ließe sich die angegebene Stelle so deuten, dass es in ihr zu einer Konvergenz von Religion und Kultur kommt. Aber nach dem Gesagten müsste für Tillich ein Verständnis des Verhältnisses von Religion und Kultur im Sinne eines Konvergenzmodells noch unterbestimmt sein. Und in der Tat stellt sich diese Bestimmung als vorläufig heraus. Die vollständige religionsphilosophische Analyse wird zeigen, „daß die Sinnfunktionen dem Sein und dem Sinn nach begründet sind in dem Religiösen“ (GW I, 329). An die Stelle einer unbestimmten Konvergenz tritt stattdessen ein Fundierungsverhältnis, das alle Kultur als „Ausdruck des Religiösen“ (ebd.) bestimmt. In diesem Ausblick auf die Lösung des religionsphilosophischen Grundproblems deutet sich bereits der grundlegende Paradigmenwechsel in der systematischen Leitkategorie an: Stand für Tillich bisher der Kulturbegriff im Zentrum, so wird dieser nun in eine umfassende Sinntheorie eingegliedert. Bisher war vor allem deutlich geworden, dass die Kultur eine Objektivation des menschlichen Geistes ist. Wenn Tillich nun darüber hinausgehend sagen kann, dass jeder „geistige Akt […] ein Sinnakt“ (GW I, 318) ist, dann folgt daraus, dass die Kultur in ihrer theoretischen und praktischen Sphäre eine sinnstiftende Funktion für die humane Existenz erfüllt. 4.2 Die sinntheoretische Umformung des Form-Gehalt-Schemas Es ist deutlich geworden, dass für Tillichs Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur den Termini Form und Gehalt grundlegende Bedeutung zukommt. Beide haben in seinem System bisher allerdings einen rein axiomatischen Charakter. Diesen begründungslogischen Mangel überwindet Tillich in seiner Religionsphilosophie mit Hilfe einer transzendentalphilosophisch fundierten Sinntheorie. Dabei werden sich Form und Gehalt als die beiden Elemente herausstellen, die einen jeden Sinnakt überhaupt erst konstituieren. Sachlich greift er dazu auf die Überlegungen zum Mo-

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nismus des Sinns im Kontext seines Briefwechsels mit Hirsch zurück. So betont Tillich jetzt, dass in „jedem Sinnbewußtsein […] ein Dreifaches enthalten“ 25 (GW I, 318) ist: 1. das Bewusstsein eines Sinnzusammenhangs; 2. das Bewusstsein von einem unbedingten Sinn; 3. das Bewusstsein der unbedingten Forderung an jeden Einzelsinn. Tillich paraphrasiert das unter dem ersten Punkt genannte Sinnelement als „das in jedem Sinnakt gegebene Bewußtsein um den allgemeinen Sinnzusammenhang, […] um die Totalität, um die ‚Welt‘“ (ebd.). Tillichs Weltbegriff darf dabei nicht wie in der traditionellen Metaphysik als Inbegriff alles Seienden, als omnitudo realitatis verstanden werden. Welt in diesem Sinne gehört der extensionalen Sphäre an. Wenn Tillich aber „Welt“ synonym zu „Sinnzusammenhang“ verwendet, rekurriert er damit auf die intensionale Sphäre, was sich auch in seiner weiteren Rede vom „Weltbewußtsein“ (GW I, 319; Herv. C.C.) manifestiert. 26 Tillich hat hier Husserls Begriff des Verweisungszusammenhangs vor Augen: Jeder Einzelsinn steht in einem unendlichen Verweisungszusammenhang mit anderen Einzelsinnen. Der Einzelsinn ist – bestimmungslogisch gesprochen – erst dann erfasst, wenn sein Ort innerhalb der Sinntotalität bestimmt ist. Insofern muss Sinn im Anschluss an Nietzsche als eine Kontextualitätskategorie verstanden werden. 27 Von Sinn kann nur dort gesprochen werden, wo der einzelne Sinnakt in einen übergreifenden Sinnkontext eingebunden ist. Dieser übergreifende Sinnzusammenhang ist die angesprochene Sinneinheit. 25 Dieses „enthalten“ muss mit Einschränkung im Sinne von Schleiermachers Begriff des „Mitgesetztseins“ interpretiert werden; vgl. F. Schleiermacher, Der christliche Glaube I. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830/312), 2 Bde., hrsg. von M. Redeker, Berlin 1960, § 4.1. Es beschreibt einen Gehalt, der implizit vorausgesetzt ist, aber nicht notwendig bewusst werden muss. 26 Zur Unterscheidung der extensionalen von der intensionalen Sphäre vgl. R. Carnap, Einführung in die symbolische Logik mit besonderer Berücksichtigung ihrer Anwendung, Wien/New York 31968, 40-98. 27 Bei Nietzsche ist das Kontextualitätsmoment der teleologischen Struktur von Sinn untergeordnet. Nietzsches zeitdiagnostisches Motiv des Nihilismus ist gerade durch den Verlust eines einheitlichen Telos und damit eines vorgegebenen Sinnzusammenhanges gekennzeichnet; vgl. F. Nietzsche, Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, Stuttgart 1930, 8-49. Die Stärke von Tillichs Sinnbegriff muss demgegenüber gerade darin gesehen werden, dass er ihn aus einer rein teleologischen Struktur befreit und stattdessen als ein in jedem Bewusstseinsakt immer schon Vorausgesetztes expliziert.

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Doch birgt dieses Kontextualitätsargument ein Problem in sich, auf das Tillich mit dem zweiten Punkt hinweist. Es wäre denkbar, dass der Sinnzusammenhang selber sinnlos sein könnte. Denn die Kontextkategorie verweist nicht per se schon auf Totalität, sondern nur auf eine jeweils höhere Stufe. Erst durch einen infiniten Regress wird Kontextualität in Form eines Abschlussgedankens zur Totalität überführt. Diese Totalität verweist nun ihrerseits auf nichts mehr und könnte daher des Sinns ermangeln. Die Sinntotalität wäre dann zwar funktional sinnstiftend für den Einzelsinn, selbst aber nur hypothetisch sinnstiftend. Die Sinnhaftigkeit des Sinnzusammenhangs ist somit für Tillich eigens zu zeigen. So stellt er fest: „Auch die Totalität des Sinnes braucht nicht sinnhaft zu sein, sondern könnte wie jeder einzelne Sinn in dem Abgrund der Sinnlosigkeit verschwinden, wenn nicht die Voraussetzung einer unbedingten Sinnhaftigkeit in jedem Sinnakt lebendig wäre.“ (Ebd.)

Die im letzten Satz genannte unbedingte Sinnhaftigkeit muss dabei als Sinnhaftigkeit des unendlichen Sinnzusammenhangs verstanden werden. Führt Sinn als eine Kontextualitätskategorie also nur auf einen hypothetisch sinnstiftenden Sinnzusammenhang, so handelt es sich bei der Setzung der unbedingten Sinnhaftigkeit um ein qualitatives Argument, das man die Position einer absoluten Voraussetzung oder – idealistisch gesprochen – einer absoluten Thesis nennen könnte. Der Gedanke der unbedingten Sinnhaftigkeit ist somit kein Abschlussgedanke, sondern eine Realitätssetzung. Diese beiden Termini – Sinntotalität bzw. Sinneinheit und unbedingte Sinnhaftigkeit – werden in der Religionsphilosophie auf das Form-GehaltSchema übertragen: „Wenn wir die Besonderungen des Einzelsinns und aller Einzelzusammenhänge bis hin zu dem universalen Sinnzusammenhang Sinnformen nennen, so ist im Verhältnis zu ihm der unbedingte Sinn als Sinngehalt zu bezeichnen.“ (Ebd.)

Somit hat Tillich eine transzendentalphilosophische Vertiefung des FormGehalt-Schemas vorgenommen, indem Form und Gehalt als die im Sinnbewusstsein mitgesetzten Elemente des Sinns fungieren. Dabei ist zu beachten, dass der unbedingte Sinngrund selbst kein Sinn ist, sondern allein der Ermöglichungsgrund allen Sinns. Eine weitere Pointe der sinntheoretischen Vertiefung des FormGehalt-Schemas ist darin zu erblicken, dass das recht statisch gedachte Verhältnis von kulturellen Formungen, denen ein invarianter Gehalt zu-

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grunde liegt, in eine dynamische Struktur von Sinnerfüllung zwischen Sinnform und Sinngehalt überführt wird. Darauf weist der dritte Punkt hin: Der Sinngehalt macht sich der Sinnform „gegenüber bemerkbar als Forderung auf unbedingte Sinnerfüllung“ (ebd.). Der sachliche Gehalt dieses dritten Aspekts wird erst dann voll in den Blick kommen, wenn ich die Geiststruktur erläutert habe; 28 aber so viel lässt sich bereits jetzt sagen: Offenbar ist Tillich der Auffassung, dass der absolute Gehalt von sich aus auf Verwirklichung in der Form drängt und ihm insofern eine normative Dimension eignet. Dieser unbedingten Forderung könnte aber nur der vollendete Zusammenhang alles Sinns, die „unbedingte Form“ (ebd.), also die Sinntotalität entsprechen. Tillich betont nun, dass die Intention auf unbedingte Sinnerfüllung per se unerfüllt bleiben muss, da die „unbedingte Sinnhaftigkeit alles Sinns […] auf dem Bewußtsein um die Sinnunerschöpflichkeit des Sinngrundes“ (ebd.) beruht. Der Sinngrund ist somit zugleich Grund und Abgrund jedes konkreten Einzelsinns wie der Sinneinheit. Gleichwohl bleibt die Einheitsforderung gegenüber den rationalen Gestaltungen bestehen. Sinnform und Sinngehalt sind nach Tillich die beiden Elemente des Sinns. Welche Verhältnisbestimmungen von Religion und Kultur nimmt Tillich nun unter sinntheoretischer Perspektive vor? 4.3 Die sinntheoretische Fassung der Kulturfunktionen Wie schon in seinen frühen Aufsätzen nimmt Tillich die Unterscheidung in praktische und theoretische Funktionen auf, die in der Struktur des Geistes gründen (vgl. GW I, 321). Neu ist demgegenüber die Unterscheidung von realer und idealer Sinnerfüllung, die sich aus dem gerade dargestellten „Doppelverhältnis des Sinngehaltes zur Sinnform“ (GW I, 322) als Sinngrund und -abgrund ergibt. Da es aufgrund des Unerschöpflichkeitstheorems keine vollständige Sinnerfüllung geben kann, der Sinngehalt aber jeder Sinnform zugrunde liegt, „wird er zum Sinnstoff, zur ‚Materie‘“ (ebd.). Unter „Materie“ versteht Tillich hier das, was er 1919 unter „In28 Dies gilt insbesondere für die Struktur der Sinnerfüllung. Vorläufig sei „Sinnerfüllung“ wie folgt gefasst: Sie ist der Begriff für eine Fortbestimmungsstruktur. Die sinndeutenden Akte des Subjekts beziehen sich nie auf gänzlich unbestimmte Dinge. Jeder Bewusstseinsinhalt ist bereits eine aus der Kooperation von Sinnform und Sinngehalt bestimmte Gestalt. Indem sich ein Bewusstsein auf diese vorbestimmte Gestalt bezieht, expliziert es den in ihr liegenden Sinn und bringt ihn so zur Erfüllung.

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halt“ – also denkgeformter Gehalt – verstanden hat. Die Materie kommt dabei je nach der Duplizität der Geistesfunktionen verschieden in den Blick. Im praktischen Akt kommt es zu einer realen Erfüllung des Gehaltes in einer bestimmten Form. Es handelt sich hier – in Anlehnung an die Terminologie Schleiermachers – um ein punktuelles Organisieren. Demgegenüber ist die ideale Erfüllung universal ausgerichtet. Insofern es im theoretischen Geistesakt nicht um eine Umformung der materiellen Sphäre geht, sondern um eine Erfüllung des Seienden in seiner unmittelbaren Formung durch die geistige Persönlichkeit, kann hier von einem allgemeinen Symbolisieren gesprochen werden. Der Sinn einer Handlung, die von außen immer mehrdeutig bleibt, erschließt sich dabei nur „in der geistigen Persönlichkeit“, während der Sinn einer Erkenntnis oder eines Kunstwerkes „durch die geistige Persönlichkeit“ (GW I, 323) potentiell allen geisttragenden Gestalten offensteht. Der Mensch als ein vernunftbegabtes Lebewesen baut sich also in reellen und ideellen Akten eine sinnvolle Lebenswirklichkeit, d.h. Kultur auf. Gegenüber den früheren Aufsätzen zeigt sich noch eine weitere Vertiefung in der Argumentation. Wie ich oben dargestellt habe, differenziert sich sowohl die praktische als auch die theoretische Geistesfunktion in zwei Unterfunktionen aus. In Tillichs erster Fassung dieses Viererschemas der Kultursphären wirkte diese Ausdifferenzierung jedoch noch recht unmotiviert. Jetzt präzisiert Tillich das Schema dahingehend, dass es, da theoretische und praktische Akte realiter immer ineinander liegen, zu einer wechselseitigen Einwirkung der jeweils anderen Funktion kommt (vgl. GW I, 323 f.). Durch diese Einwirkung entsteht in jeder der beiden Sphären eine „Doppelheit der Funktion“ (GW I, 323). Durch die Einwirkung der praktischen Sphäre auf die theoretische löst sich die Kunst von der Wissenschaft ab. Kunst ist immer mit praktischen Elementen verbunden. Umgekehrt kommt es durch die Einwirkung der theoretischen Sphäre auf die praktische zu einer Loslösung der sozialen Sphäre von der Rechtssphäre. Das Soziale ist insofern mit theoretischen Elementen verbunden, als es auf die „Lebensgehalterfassung“ (GW I, 324) als einem Modus theoretischer Erkenntnis aus ist. Demgegenüber ist Wissenschaft die typisch theoretische Sinnfunktion, während das Recht die typisch praktische Sinnfunktion darstellt.

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4.4 Die sinntheoretische Funktion der Religion Wie schon in seinem Aufsatz Über die Idee einer Theologie der Kultur macht Tillich auch in der Religionsphilosophie deutlich, dass die konkrete religiöse Sphäre – da sie keine eigene Geistesfunktion ist – nur durch die Verbindung von religiösem Prinzip und Sinnfunktion entstehen kann. Die Religion bleibt also auch hier auf autonome Verwirklichungsformen angewiesen, um real zu werden. Aber sowohl die Art der Verbindung von Religion und Kultur als auch die Bedeutung der spezifisch religiösen Sphäre in der Kultur werden von Tillich jetzt anders beurteilt als in seinen frühen Aufsätzen. Unter dem Konzept der Sinneinheit thematisiert Tillich nun den Konvergenzpunkt von Religion und Kultur. In dem Verhältnis zur Sinneinheit entscheidet es sich, „ob die Religionsphilosophie überhaupt bis zur Religion hindurchdringt, oder ob sie sich damit begnügt, einen synthetischen Abschluß des Kulturbewußtseins mit Religion gleichzusetzen“ (GW I, 320). Wo die Funktion der Sinneinheit in der religionsphilosophischen Analyse den Maßstab bildet, ob überhaupt Religion vorliegt oder nicht, dort ist es klar, dass eine Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur unzureichend erscheinen muss, die diesen Einheitspunkt nicht mitreflektiert. Dementsprechend greift folgende Definition noch zu kurz: „Religion ist Richtung auf das Unbedingte, Kultur ist Richtung auf die bedingten Formen und ihre Einheit“ (ebd.). Erst wo das Ineinander von Form und Gehalt in die religionsphilosophische Sinnanalyse eingegangen ist, ist das Verhältnis von Kultur und Religion auf den Begriff gebracht. Gleichwohl weist die zitierte Definition mit dem Begriff der Richtung, der bereits aus dem Briefwechsel mit Hirsch bekannt ist, einen entscheidenden Erkenntnisfortschritt gegenüber den früheren Aufsätzen auf. Es geht nun nicht mehr um das bloß ontologische Ineinander von Religion und Kultur bzw. Gehalt und Form, sondern um eine im Bewusstsein verankerte Intentionalitätsstruktur. Bezieht man nun diese Intentionalitätsstruktur auf den Gedanken der Sinneinheit als der Einheit von theoretischen und praktischen Sinnformen, dann kommen wir zu Tillichs tiefster Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur. Wie schon 1919 kann Tillich sagen, dass jeder kulturelle Akt „substantiell religiös“ (ebd.) ist, insofern er auf dem Sinngrund ruht. Er ist aber – und das ist hier das Neue – „nicht intentional religiös“ (ebd.). Er richtet sich nicht auf das Unbedingte als Unbedingtes, sondern nur auf die Sinneinheit der kulturellen Formungen. Im kulturellen Akt ist kein Bewusstsein davon lebendig, dass das Unbedingte die Totalität des Sinns nicht nur

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begründet, sondern zugleich dessen Abgrund ist. Umgekehrt gibt es kein religiöses Bewusstsein unter Absehung von kulturellen Gestaltungen. Das religiöse Bewusstsein ist intentional auf den unbedingten Sinngehalt gerichtet, was aber nicht anders als durch die Einheit der Sinnformen hindurch geschehen kann. Die vollendete Einheit der Sinnformen, die Synthese der Synthesen, ist in dem religiösen Bewusstsein nie bloßer Abschlussgedanke, sondern immer Symbol für das Unbedingte. Als Symbol wird es aber „vom Unbedingten her zugleich bejaht und verneint“ (GW I, 329). Während also in jedem kulturellen Akt das Religiöse zwar substantiell, aber nicht intentional vorliegt, nimmt jeder religiöse Akt das Kulturelle zwar formal in Anspruch, jedoch nur als Symbol für das Unbedingte als dem eigentlichen Gegenstand seiner Intention. Mit anderen Worten ließe sich das auch so ausdrücken: Wo die Sinneinheit, d.h. die Synthese aller kulturellen Gestaltungen als Sinneinheit intendiert ist, liegt Kultur vor; wo die Sinneinheit nur als Durchgang zu dem sie fundierenden Gehalt intendiert wird, liegt Religion vor. Wie oben bereits vorweggenommen, lässt sich jetzt verstehen, dass Tillich das Verhältnis von Religion und Kultur als ein Fundierungsverhältnis denkt, dem intentional zu differenzierende Bewusstseinseinstellungen korrelieren. Der entdeckten Intentionalitätsstruktur kommt aber noch eine weiterreichende Bedeutung zu. Tillich leitet von ihr eine Neubegründung der spezifisch religiösen Sphäre ab. Wie schon 1919 bleibt Tillich bei der Grundannahme, dass alle Kultur substantiell religiös ist. Daraus ergab sich die Frage, wie sich dann aber die spezifisch religiöse Kultursphäre zu einer insgesamt religiösen Kultur verhalte. In seinem Ideen-Aufsatz versuchte er dieser Problemstellung mit der Hilfskonstruktion zu begegnen, dass bis zum Erreichen der Einheitskultur die religiöse Substanz aller Kultur nur dann erfahrbar werde, wenn es eine stellvertretende religiöse Sphäre gibt, die die Religion in der Kultur erlebbar macht. Gegenüber dieser rein funktionalen Deutung der spezifisch religiösen Sphäre bietet die Intentionalitätsstruktur in seiner Religionsphilosophie eine tiefsinnigere Lösung des Problems. Tillich kann jetzt unterscheiden zwischen der kulturellen Ausrichtung auf die Sinnformen und ihrer Einheit einerseits und der religiösen Ausrichtung auf den unbedingten Sinngrund andererseits. Somit wird Religion als eine intentionale Bewusstseinseinstellung aufgefasst, die gemäß ihrer Geistesfunktionen durch Intention auf das Unbedingte eine konkrete religiöse Sphäre aus sich heraussetzen muss. Das Ideal einer Theonomie, in der alle Kulturfunktionen auf das Unbedingte hin durchsichtig sind, bleibt dabei freilich bestehen, welches aber erst eschatologisch

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unter dem Symbol des Reiches Gottes realisiert gedacht wird: „Die vollkommene Verwirklichung dieser Synthesis ist ideal.“ (GW I, 363)

5. Die geistphilosophische Dimension der Religionsund Kulturtheorie 5.1 Die kulturtheoretische Funktion der Geisteswissenschaften Die sinntheoretische Fassung seiner Religions- und Kulturtheorie hat Tillich bereits in seinem System der Wissenschaften 29 von 1923 unter geistphilosophischer Perspektive grundgelegt. Sie findet dort ihren Ausdruck in dem Programm einer „theonomen Geisteswissenschaft“ (GW I, 271). Das Ziel der theonomen Geisteswissenschaft besteht darin, aufzuzeigen, „daß Religion keine Sinnsphäre neben den anderen ist, sondern eine Haltung in allen Sphären: die unmittelbare Richtung auf das Unbedingte“ (GW I, 228). Indem die theonome Geisteswissenschaft dieses Ziel verfolgt, eröffnet sich ihr eminenter Sinn für das Leben (vgl. GW I, 290). Es handelt sich bei den Geisteswissenschaften weder, wie es die rationale Auffassung will, um eine Desavouierung der Lebensbeziehung der Wissenschaft zugunsten eines reinen Formalsystem, noch, wie es der Pragmatismus versteht, um eine Auflösung des Erkennens in das Leben (vgl. GW I, 290 f.). Es ist vielmehr, wie Tillich im Anschluss an Platon sagen kann, „der Eros zum Unbedingten“ (GW I, 292), der in der geisteswissenschaftlichen Reflexion die religiöse Tiefendimension der Kultur aufzuschließen sucht. Wissenschaft und Leben sind so keine Gegensätze, sondern indem die Wissenschaft unter theonomer Perspektive betrieben wird, kommt ihr eine fundamentale Bedeutung für den Aufbau einer sinnvollen Lebenswirklichkeit zu. Es ist, wie oben gezeigt, erst der „unbedingt[e] Sinn, der allem Einzelsinn Bedeutung und Realität gibt“ (ebd.). Wo die Richtung auf den Sinngrund nicht die bestimmende Haltung darstellt, z.B. in einem rein rationalen Wissenschaftsverständnis, können die kulturellen Gestaltungs29 P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), GW I, 109-293. Zu Tillichs wissenschaftstheoretischer Verortung der Theologie vgl. G. Raatz, Kulturwissenschaft oder Sinnlehre? Zur Genese von Paul Tillichs wissenschaftssystematischem Begriff der Theologie zwischen 1917 und 1923, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Tillich und Nietzsche, Wien 2008 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 3/2007), 141-173.

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prozesse weder in ihrer Einheit noch als letztlich sinnvoll erlebt werden. Die Kultursphäre droht in disparate Systemlogiken zu zersplittern und sinnlos zu werden. Dieser Gefahr will Tillich mit einer theonom verstandenen Geisteswissenschaft entgegenwirken. Dort, wo die Wissenschaft auf den letzen Sinngrund reflektiert, wird sie „zum Dienst am Unbedingten werden, sie kann der Wille werden, in jedem Einzelnen das Unbedingte zu erschauen“ (ebd.). Die kulturtheoretische Funktion der Geisteswissenschaften besteht also darin, den unbedingten Sinn aller Kultur zu Bewusstsein zu bringen, um so im Sinn gehaltenes Leben zu ermöglichen. Damit wird Tillichs wissenschaftstheoretische Intention bezüglich einer seiner Meinung nach rechtverstandenen Theologie deutlich. In Analogie zu dem Fundierungsverhältnis von Religion und Kultur kann nun auch die Theologie nicht mehr als eine Disziplin neben anderen im Kanon der Fakultäten gelten, sondern muss eine Metatheorie der Wissenschaft überhaupt darstellen. Ihre kulturtheoretische Aufgabe besteht darin, das Ineinander von Religion und Kultur in ihrem dialektischen Verhältnis in allen Sinnfunktionen zu eruieren. Tillichs theonome Geisteswissenschaft ist also nichts anderes als der in extenso ausgeführte Ansatz seines frühen kulturtheologischen Programms. Ist die Theologie insgesamt als Metatheorie zu verstehen, dann muss das auch für ihre drei Unteraufgaben gelten (vgl. GW I, 273-277). So ist das Nebeneinander einer Religionsphilosophie und einer Kulturphilosophie, einer Geistesgeschichte der Religion und einer Geistesgeschichte der Kultur sowie einer normativen Religionswissenschaft und einer normativen Kulturwissenschaft noch Ausdruck des ungelösten Konflikts von Religion und Kultur. Demgegenüber ist es die Vollendungsform der Religionsphilosophie, „sich selbst in ihrer Selbständigkeit aufzuheben und ihre Einheit mit der autonomen Philosophie zur Darstellung zu bringen“ (GW I, 273). Religionsphilosophie und Kulturphilosophie kommen zu dem Wesen ihrer selbst erst dort, wo sie zusammen „die eine richtige Sinnprinzipienlehre bilden“ (GW I, 274). Ebenso müssen sich Religions- und Kulturgeschichte in der einen „Sinnmateriallehre“ (GW I, 224) treffen. Besonders in der Synthese von normativer Religions- und Kulturwissenschaft in einer „theonome[n] Sinnormenlehre“ (GW I, 275) lässt sich ein neuer Aspekt erkennen. Ging es bisher darum zu zeigen, dass Religion der Kultur allgemein zugrunde liegt – was der eigentliche Gegenstand einer theonomen Geisteswissenschaft ist –, so wird besonders in der theonomen Sinnormenlehre deutlich, dass dies Allgemeine immer nur individuell, d.h. von einem konkreten Standpunkt

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aus, verwirklicht werden kann. Hier kommt das Recht der konkreten Religion zum Tragen. Dies ist der Ort, von wo aus Tillich sein Konzept von Dogmatik entwirft. 30 Es ist wesentlich durch zwei Elemente geprägt. Zum einen ist sein Dogmatikbegriff nicht primär subjektiv wie etwa bei Emanuel Hirsch, Ernst Troeltsch oder Wilhelm Herrmann verfasst, sondern – damit ein grundlegendes Motiv Albrecht Ritschls weiterführend – an einer kirchlichen Gemeinschaft orientiert (vgl. GW I, 278). Auch der einzelne Kulturtheologe steht immer in einer konkreten Gemeinschaft, die ihn selbst prägt und ihm einen Symbolkosmos bereit stellt. Und darin deutet sich schon das andere Element an: Dogmatik ist für Tillich nicht nur die Hüterin traditioneller Symbole, sondern sie ist immer auch aktiv an der Bildung neuer Symbole für das Unbedingte beteiligt (vgl. GW I, 274-277). Symbole sind Ausdruck der von der Dogmatik vertretenen Wahrheit, werden aber der autonomen Sphäre entnommen. Da die Dogmatik in ihrer Symbolwahl ihrer Gemeinschaft verpflichtet ist, ist es ihre Hauptaufgabe, konsensfähige Formulierungen zu finden. Darin erscheint zugleich der „konkret-konfessionelle Charakter der Theologie“ (GW I, 277) wie ihr Spontanitätsmoment. 31 In der Verbindung dieser beiden Perspektiven kommt die eigentliche Stärke von Tillichs Dogmatikprogramm zum Tragen. Der dogmatische Standpunkt verdankt sich immer einer konkreten Wirklichkeitsschau, deren kulturelle Symbole aber nicht einfach konservierend repristiniert werden, sondern ausgehend vom Standpunkt der Gemeinschaft einer ständigen Revision auf ihre Adäquatheit hin unterzogen werden. Tillich gelingt es so, einen Mittelweg zwischen konservativ-bewahrenden und liberal-umgestaltenden Tendenzen zu beschreiten. Konfessionalität ist hier also kein zu überwindender Missstand, um von dort zu dem 30 In seiner zeitgleich zur Religionsphilosophie entstandenen Marburger Dogmatik von 1925 hat er die konkrete Sinnnormenlehre durchgeführt. 31 In der sich aus diesen beiden Elementen generierenden Spannung von Kritik und Gestaltung arbeitet Tillich 1929 sein theologisches Konzept in der Schrift Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip heraus. Der sachliche Gehalt des protestantischen Prinzips ist dabei die Rechtfertigungslehre, also der Gehalt des reformatorischen Glaubens. Damit kommt es hier auch zu einer Aufhebung der 1919 noch bestehenden Differenz zwischen Kultur- und Kirchentheologie (vgl. GW IX, 27-31). Vgl. hierzu Ch. Danz, Glaube und Autonomie. Zur Deutung der Rechtfertigungslehre bei Karl Holl und Paul Tillich, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Wie viel Vernunft braucht der Glaube?, Wien 2005 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 1/2005), 159-174.

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Hegelschen Ideal eines Standpunktes der Standpunktlosigkeit zu gelangen, sondern ein notwendiges Moment der Theologie als theonomer Sinnnormenlehre. Generell müssen allerdings gemäß Tillichs Ideal einer Theonomie folgende Kautelen eingezogen werden, damit das Symbol nicht mit dem von ihm Intendierten verwechselt wird (vgl. ebd.) 32 : 1. Die Bindung an die Konfession darf nicht dazu führen, dass die Intention auf das Universale verlorengeht. 2. Die zeitlich-kulturell bedingte Symbolik darf nicht absolut gesetzt werden; das wäre Heteronomie, die den schöpferischen Geistprozess abschneiden würde und so eine Weiterentwicklung der Symbole verhindern würde. 3. Schließlich darf sich die Dogmatik nicht in der Richtigkeit der Darstellung des Dogmas verlieren, sondern muss sich stets an der im Dogma intendierten Wahrheit als dem eigentlichen Erkenntnisziel orientieren. 5.2 Sinn als Medium des Geistes Tillichs Religions- und Kulturtheorie gründen in einem sinntheoretisch gefassten Gottesgedanken. Gott als der unbedingte Sinngrund und -abgrund ist laut Tillich die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Sinn in der Kultur zu erfahren. Sinn als das Medium der Kultur setzt den unbedingten Sinngehalt notwendig voraus. Ohne ihn fehlt ihm die letzte Einheit in den einzelnen Sinnfunktionen. Es fällt nun auf, dass der Sinnbe- griff selbst von Tillich nirgendwo abgeleitet wird. Das ist allerdings keine Nachlässigkeit Tillichs, sondern hat seinen Grund in dem prinzipientheoretischen Argument, wonach jedes System auf einem letzten Prinzip ruht, das seinerseits nicht mehr deduzierbar ist, sondern den „Ausdruck einer letzten Wirklichkeitsschau“ (GW I, 116) darstellt. Der Sinnbegriff nimmt in Tillichs Denken eine solche Stellung als Erstprinzip ein, von dem aus alle weiteren Elemente abgeleitet werden (vgl. GW I, 318). Unbeschadet dieser prinzipientheoretischen Funktion des Sinnbegriffs lässt sich aber doch der Ort angeben, an dem Sinn überhaupt vorkommt. Das ist nämlich die Sphäre des Geistes. Dementsprechend kann Tillich sagen: „Im Geist erfüllt sich der Sinn des Seins.“ (GW I, 222) Die in diesem Satz liegende Verhältnisbestimmung von Geist, Sinn und Sein gilt es zu rekonstruieren. 32 Zur Symboltheorie Tillichs vgl. G. Wenz, Subjekt und Sein. Die Entwicklung der Theologie Paul Tillichs, München 1979, 161-180.

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Was versteht Tillich unter Geist? Dazu ist zunächst auf die einleitenden Überlegungen im System der Wissenschaften einzugehen. In ihnen wird der Geistbegriff aus der „Idee des Wissens“ (GW I, 117) als dem letzten Prinzip der Wissenschaftslehre deduziert. Dazu setzt Tillich mit einer Rekonstruktion des Wissensaktes selber ein. In jedem Wissensakt sind danach zwei Grundelemente vereinigt, „eben der Akt, und das, worauf er sich richtet, das Meinen und das Gemeinte“ (GW I, 118). Den formalen Akt des Auf-seins-auf nennt er Denken, während er das Intendierte als Sein bestimmt. Unter Sein versteht Tillich dabei nicht ein konkret Seiendes, das sich immer erst der Kooperation von Denken und Sein verdankt, sondern ein bewusstseinstranszendent Vermeintes. Damit sind die in jedem Wissensakt enthaltenen „Grundelemente als Denken und Sein“ (ebd.) bestimmt. Gegenüber diesen beiden Grundbegriffen ist der Geistbegriff eine von ihnen abgeleitete Größe. Denn das Denken kann sich nicht nur auf das Sein richten, sondern auch auf sich selbst. Dort, wo das Denken sich selbst zum Gegenstand wird, entsteht Geist. Geist ist wesentlich reflexiv verfasst. Gegenüber seinem Aufsatz von 1919 hat Tillich seinen Geistbegriff um eine bedeutende Komponente vertieft. Hatte er dort die Grundpolarität des Geistes in solche Akte unterschieden, in denen der Geist die Gegenstände in sich aufnimmt, und solche, in denen er sich in sie hinein gestaltet, so sieht er jetzt diese Doppelfunktion bereits in jeder seinsmäßigen, d.h. vorgeistigen Gestalt gegeben (vgl. GW I, 222). Tillich wendet also das frühere Prinzip zur Einteilung der Kulturfunktionen nunmehr auf das Gebiet der Seinswissenschaften an (vgl. GW I, 160 f.). Wenn so die Grundbestimmung des Geistes von 1919 als unzureichend erscheint, muss eine Zusatzbestimmung gefunden werden, um das Spezifikum des Geistes zu treffen. Tillich nimmt die gesuchte Zusatzbestimmung im Rahmen seines Bestrebens auf, die Geisteswissenschaft neben den Denkwissenschaften und den Seinswissenschaften als eigenständige Größe zu etablieren (vgl. GW I, 120-122). Gegen die Einordnung der Geisteswissenschaften in die Seinswissenschaften, wo das Denken ganz unter der Herrschaft der Gegenstände steht, betont Tillich für die Geisteswissenschaften, „daß, wenn das Denken über sich selbst denkt, es sich nicht bloß zuschaut, wie allem anderen Sein, sondern es zugleich sich selbst bestimmt, kritisiert, Normen gibt“ (GW I, 121). Dort, wo das Denken sich also auf sich selbst richtet, ist es nie bloß uninteressierter Beobachter, sondern wirkt produktiv auf seine eigene Gestaltung ein. Ebenso sind die Geisteswissenschaften nicht in die Denkwissenschaften einzugliedern. In den Denkwissenschaf-

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ten geht es allein um die allgemeinen Formen des Denkens „losgelöst […] von jedem bestimmten Inhalt“ (GW I, 120). Demgegenüber ist gerade „die inhaltsvolle Gebundenheit an das Sein“ (GW I, 121) Kennzeichen des Geistes. Geist ist also keine formale Selbstbeziehung, sondern ein konkretes Selbstverhältnis, in dem sich Irrationales und Logisches vereinigen. Damit sind die Elemente benannt, um das Wesen des Geistes zu fassen. So findet sich einerseits der Geist immer nur in einer inhaltlich gebundenen Seinswirklichkeit vor, auf die er durch sein Selbstverhältnis normierend einwirken kann. Zum anderen ist der sich selbst bestimmende, kritisierende und normierende Charakter des Geistes nur dort möglich, wo die Freiheit des Geistes vorausgesetzt ist (vgl. GW I, 210). Die Struktur des Geistes muss also als ein faktisches und normatives Selbstverhältnis verstanden werden, das Freiheit zu seiner Voraussetzung hat. Tillich fasst dies so zusammen: „In der geisttragenden Gestalt aber reißt sich das Denken los von seiner Bedingtheit, Unmittelbarkeit; es tritt allen Seinsformen gegenüber mit der Unbedingtheit seiner Forderung, es tritt dem Sein gegenüber als Geltung.“ (Ebd.)

Erst da, wo sich die Freiheit in dieser Weise realisiert, kann von einer spezifischen Sphäre des Geistes gesprochen werden. Gerade über die Geltungswertrelevanz der geistigen Sphäre führt Tillich in seinem System der Wissenschaften nun auch den Sinnbegriff ein: „Geist ist erst da wirklich, wo in individuellen Gestalten, die als solche ihren Strukturgesetzen unterworfen sind, Geltungen erfaßt werden, die allein ihrem Sinngesetz unterworfen sind. […] Geist ist erst da, wo Seiendes unter Geltung tritt, wo die unbedingte Forderung ins Sein aufgenommen wird.“ (GW I, 211)

Die Pointe dieser Stelle liegt darin, dass sie den Sinnbegriff in der Abhebung der Geistsphäre von der Gestaltsphäre einführt. Während die bloße Gestalt noch nicht geltungsbetroffen ist und ihren Strukturgesetzen, d.h. ihren biologischen, soziologischen und psychologischen Konditioniertheiten unterliegt, ist der Geist gerade dadurch gekennzeichnet, unter Geltung zu treten. Erst im Geist werden die „Beziehungen […] aus der Sphäre des Seins in die des Sinnes erhoben“ (GW I, 222). Sinn erweist sich damit als das spezifische Medium des Geistes. Mit diesen Ausführungen bringt Tillich seinen frühen sinn- und geisttheoretischen Ansatz des Briefwechsels mit Hirsch zur Explikation.

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5.3 Sinnerfüllung im Geist Es zeigen sich aber auch Verschiebungen gegenüber diesen ersten Versuchen, die besonders deutlich werden, wenn man sich die Frage stellt, inwiefern Sinn das Medium des Geistes ist. Die erste Auskunft, die Tillich diesbezüglich gibt, lautet: „Die Akte der geisttragenden Gestalt sind sinngebende Akte.“ (Ebd.) Diese Formulierung, die noch im Sinne Max Webers darauf schließen lassen könnte, dass sich der Sinn nur der sinnstiftenden Deutungsleistung des Subjekts verdankt, liegt noch ganz auf der konstitutionsidealistischen Linie seines Briefwechsels mit Hirsch. Jetzt korrigiert sich Tillich aber dahingehend, dass dies nicht so zu verstehen sei, „als ob eine an sich sinnlose Wirklichkeit durch die Akte der geisttragenden Gestalten sinnvoll würde. […] Vielmehr sind die sinngebenden Akte sinnerfüllende Akte.“ (Ebd.) Damit negiert Tillich die Vorstellung einer an sich sinnlosen Wirklichkeit, die erst durch sinndeutende Akte Sinn erhält. Mit dem oben bereits verwendeten Begriff der Sinnerfüllung markiert er sein Programm als einen Mittelweg zwischen dem kritizistischen Konzept einer Sinnverleihung und dem phänomenologischen Zugang einer bloßen Rezeption vorhandenen Sinns: „Der Sinn ist überhaupt nicht gegeben, weder real noch ideal, sondern er ist intendiert, und er kommt im Geiste zur Erfüllung.“ (GW I, 233) 33 Diese Erfüllungsstruktur wird man am besten mit dem Terminus der Sinnexplikation bzw. der Sinnanreicherung paraphrasieren können. Die Pointe des Begriffs der Sinnerfüllung liegt also gerade in der Verneinung der Vorstellung, dass der Mensch sich als ein gänzlich unbestimmtes Wesen vorfindet und sich in einem apophantischen Akt erst selbst bestimmt. Der Mensch kennt sich nicht anders als ein Kulturwesen, d.h. als ein mit Formen operierendes Wesen. Ebenso ist jedes konkret Seiende bereits eine Einheit von Sinnform und Sinngehalt, die von der geisttragenden Gestalt mittels der Geistesfunktionen fortbestimmt wird. Es kann geradezu als eine Grundstruktur von Subjektivität gelten, implizit im unmittelbaren Erlebnis liegende Gehalte durch den Akt der Deutung zu explizieren. Eine sinnlose Wirklichkeit ist so unmöglich. In diesem Sinne schreibt Tillich: 33 Mit dem Gedanken des Intendiertseins des Sinns rekurriert Tillich auf E. Husserls Logische Untersuchungen (2. Bd./I. Teil, in: E. Ströker (Hg.), Gesammelte Schriften, Band 3, Hamburg 1992, 43-56), wonach dann Erkenntnis vorliegt, wenn ein Gegenstand in der Anschauung so gegeben ist, wie er als Gemeintes (Noema) vom Bewusstsein vermeint (Noesis) wurde. Sinn meint hier den intentionalen Gehalt des Bewusstseinserlebnisses.

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„Die individuelle Substanz der geisttragenden Gestalt ist kein ungeformtes Chaos, denn die geisttragende Gestalt ist immer auch geistgeformte Gestalt; sie steht in einer historischen Folgereihe. […] Es gibt keinen Anfang des Geistes; denn jede geistige Schöpfung setzt Geist voraus.“ (GW I, 217)

Ermöglicht wird die Sinnexplikation durch das beschriebene Selbstverhältnis des Geistes, in dem er seiner faktischen Erscheinung normativallgemein gegenübertritt. In seiner synthetischen Funktion, die Pole dieser Spannung, die zugleich Spannungselemente jeglichen Sinns sind, in sich zu vereinen, verhilft er dem Sinn zur Erfüllung: „Alles Sein steht unter dem Gesetz der unbedingten Form, aber allein im Geist wird das Unbedingte als Unbedingtes, als Geltung erfaßt.“ (GW I, 222) Die Sinnexplikation hat also die Selbstreflexivität des Geistes zur Voraussetzung. Wie der Sinn das universale Medium der Selbstexplikation des Geistes ist, so kann auch gesagt werden, dass der Geist das Vehikel der Selbstexplikation des Sinns ist. 5.4 Sinnexplikation in der Geisteswissenschaft Tillich verwendet den Begriff der Sinnerfüllung aber nicht nur auf der Ebene der Geiststruktur, sondern auch auf der Ebene der Geisteswissenschaft. Für die Geisteswissenschaft gilt dasselbe wie für den Geist überhaupt. Sie hat es „nie mit einem gegebenen Objekt“ (GW I, 218) zu tun, sondern sie ist immer an dessen Setzung mitbeteiligt, d.h. sie ist produktiv. Wo liegt nun aber die Differenz zwischen der „geistigen Bewußtheit“ und der „geisteswissenschaftlichen Bewußtheit“ (GW I, 219)? Sie liegt nach Tillich auf der Ebene ihrer Objektwahl. Während sich der Geist als geltende Form auf eine individuelle Gestalt bezieht, also den Sinn des Seins expliziert, bezieht sich die Geisteswissenschaft auf die Rekonstruktion des sich aus ersterem ergebenden Geistprozesses. Geisteswissenschaft ist somit Selbstdeutung des Geistprozesses, d.h. Selbstdeutung der Kultur. Sie hat keinen äußeren Objektbereich, sondern rekonstruiert ihre eigene Genese. Kultur kommt in den Geisteswissenschaften zu einem Bewusstsein ihrer selbst. In den frühen Aufsätzen Tillichs war dieses geistphilosophische Fundament nur rudimentär angelegt. 1923 indessen werden die Kulturwissenschaften in Analogie zur Geiststruktur beschrieben, nämlich in Form eines Reduplikationsverhältnisses. Das schöpferische Selbstverhältnis des Geistes wiederholt sich auf der Ebene der Geisteswissenschaft, so dass mit deren Hilfe das zu sich Kommen des Geistes erst vollendet wird. Damit liegt bei Tillich eine Kulturtheorie vor, die alle selbstverhältnistheo-

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retischen Errungenschaften der idealistischen Philosophie in sich integriert hat. Höchstmögliche Sinnerfüllung ist demnach erst auf der Ebene geisteswissenschaftlicher Rekonstruktion zu erreichen. Die individuellen sinnerfüllenden Akte der geisttragenden Gestalt kommen erst dort zur letzten Erfüllung, wo sie in den allgemeinen „Sinnzusammenhang“ (GW I, 222) integriert werden. Sinnerfüllung ist bedingt durch ihre gelungene Rekonstruktion. Bezogen auf das Reduplikationsverhältnis von Geist und Geisteswissenschaft lässt sich dies so zusammenfassen: Die Geisteswissenschaft beschreibt das zu sich selbst Kommen des Sinns im Geist als dem Träger von Reflexivität (vgl. GW I, 238 f.). Sie beschreibt diesen Weg ausgehend von den Sinnprinzipien über die konkreten Normen ihrer geschichtlichen Entwicklung hin zur normativen Entscheidung und ist damit das Vehikel zur Selbstexplikation des Sinns auf höherer Stufe. Damit ist Tillich in der Lage, Kulturprozesse als Sinnanreicherungsprozesse zu beschreiben. Die Kultur erscheint bei Tillich so als die dynamische Selbstexplikation des Geistes. Dies stellt eine Vertiefung gegenüber den frühen Aufsätzen dar, wo das Verhältnis nur als Objektivation qualifiziert wurde. Die Objektivation als eine bloße Expressivitätsstruktur wird hier in ein dynamisches Selbstverhältnis des Geistes überführt. Damit kehrt Tillich gewissermaßen zu seinen idealistischen Anfängen zurück. Dies geschieht jedoch nicht ungebrochen. Der Geist und mit ihm seine kulturellen Objektivationen ruhen nicht in sich. Tillichs idealistisches Kultursystem steht vielmehr auf einem realistischen Grund, nämlich auf dem es tragenden und in jedem Sinnakt immer schon vorausgesetzten unbedingten Sinngehalt. Von ihm aus ergehen Ja wie Nein über Geist und Kultur.

Tillichs Programm einer Theologie der Kultur PETER HAIGIS Im Jahr 1978 erschien in erster Auflage Friedrich Wilhelm Kantzenbachs theologiegeschichtliche Einführung Programme der Theologie 1 . Der damalige Ordinarius für Kirchengeschichte an der Universität des Saarlandes wollte in seinem Buch, wie er selbst sagt, „Gerechtigkeit“ walten lassen 2 und einen in der Perspektive breit angelegten, inhaltlich jedoch knapp und kompakt orientierten Überblick über theologische Entwürfe des 19. und 20. Jahrhunderts bieten. „Gerecht“ wollte seine Darstellung vor allem im Blick auf das Urteil sein, das eben nicht (wie so oft) dogmatisch verkürzt auf den je eigenen Standpunkt des Autors, sondern mit der kühlen Sachlichkeit des Historikers erfolgen sollte 3 . Der wenig am barthianischen Gestus eines theologischen Vatermords interessierte Historiker Kantzenbach widmet daher gerade den oftmals in theologiegeschichtlichen Abhandlungen sträflich vernachlässigten Theologen des 19. Jahrhunderts deutlich mehr Aufmerksamkeit – von den 24 ausgewählten Einzelentwürfen, die Kantzenbach präsentiert, gehören immerhin 14 ins 19. Jahrhundert, und zwei weitere sind als noch vor dem Jahr 1914 entwickelt zumindest stark dem Denken des 19. Jahrhunderts verpflichtet 4 . Doch auch Kantzenbachs Blick bleibt beschränkt, verkürzt, ohne dass die von ihm getroffene Auswahl näher begründet würde. Es fehlen Namen wie Ferdinand Christian Baur, Emanuel Hirsch, Paul Althaus, Werner Elert, Friedrich Gogarten, Emil Brunner und selbst Eberhard Jüngel 1 2 3 4

F. W. Kantzenbach, Programme der Theologie. Denker, Schulen, Wirkungen von Schleiermacher bis Moltmann, München 1978 . F. W. Kantzenbach, Programme der Theologie. a.a.O. (Anm. 1), Vorwort, 9. Ebd. Die Namen, die ins 19. Jahrhundert gehören sind: Schleiermacher, Röhr, Bretschneider, Tholuck, Strauß, Löhe, Vilmar, Rothe, von Hofmann, Ritschl, Overbeck, Kähler, Herrmann, von Harnack; an der Schwelle stehen: Troeltsch und Schweitzer – beide mit Werken von vor 1914 vertreten; für das 20. Jahrhundert dann: Otto, Barth, Bultmann, Bonhoeffer, Tillich, Ebeling, Pannenberg, Moltmann.

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oder Dorothee Sölle, die man neben den immerhin ausführlich dargestellten Theologen Wolfhart Pannenberg und Jürgen Moltmann vermisst 5 . Schwerer wiegt jedoch ein anderer Mangel: Der Titel Programme der Theologie entspricht zwar ganz der Mode einer Zeit, in der über geistige Phänomene und Prozesse vor allem „informiert“ wurde. Er entspricht dem ins Technoide verliebten Zeitgeist der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen der Kybernetiker Karl Steinbuch mit seinen Gesellschaftsanalysen Falsch programmiert (1968), Programm 2000 (1969) oder Kurskorrektur (1973) die Bestsellerlisten stürmte oder in denen beispielsweise die Zeitschrift ‚Information‘ Philosophie gegründet wurde (1972). Leider vermisst man bei Kantzenbach aber eine Klärung des schon programmatisch gebrauchten Begriffs „Programm“; ebenso fehlt eine Methodologie seiner Darstellung. Dementsprechend wird man in seinem Kapitel über Paul Tillich auch nicht fündig über dessen „Programm“ von Theologie oder Religionsphilosophie, geschweige denn über dessen „Programm einer Theologie der Kultur“. Stattdessen werden die sattsam bekannten Schlagworte „Das Bedingte und das Unbedingte“, „Schöpfung und Gnade“, „Das protestantische Prinzip und die Methode der Korrelation“, „Vernunft und Offenbarung“, „Historie und Kairos“, „Das ‚Neue Sein‘ und der Symbolbegriff“ paraphrasiert. Sucht man nach einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung des Begriffs „Programm“, so stößt man wahrscheinlich ziemlich schnell auf Imre Lakatos und Alan Musgrave. Sie haben wohl am dezidiertesten den Begriff des „Programms“ in den wissenschaftstheoretischen Diskurs eingeführt und angewandt. Allerdings dürfte ihre vom Popperschen Falsifikationismus herkommende und an der Entwicklung von Forschungsprogrammen orientierte Wissenschaftstheorie 6 wenig geeignet sein, um mit Blick auf Tillichs „Kulturtheologie“ den Begriff des Programms zu rechtfertigen. Wir stünden erneut an der Schnittstelle zwischen Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften, um den Status Letzterer durch die Übernahme von Terminologien, Methoden und Modellen aus dem Bereich der Erstgenannten zu legitimieren. Diese Einschätzung gilt auch deshalb, weil wir bei der Rekonstruktion von Tillichs Kulturtheologie in star-

5 6

Kantzenbach nennt zwar einige Namen, die aus der Auswahl fielen, gibt aber keine Gründe für seine Auswahl an. Vgl. I. Lakatos/A. Musgrave (Hg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge 1970.

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kem Maße an dessen eigene Wissenschaftstheorie 7 verwiesen sind und insgesamt seinem wissenschaftstheoretischen Unterfangen folgen, das gerade im Blick auf den Überschritt von den die Natur- und Kulturwissenschaften zusammenfassenden „Seinswissenschaften“ hin zu den „Geisteswissenschaften“ konzipiert ist. Genau daher muss der Begriff des „Programms“, wenn er auf Tillichs Kulturtheologie Anwendung finden soll, einem Kontext entnommen werden, der dem Gehalt dessen, was Tillichs Kulturtheologie ist, bzw. dem, was sie zu erreichen sucht, entspricht. Ob Tillich je den Begriff des Programms gebraucht hat, kann ich nicht sagen. In programmatischer Verwendung ist er mir nicht begegnet, schon gar nicht im Blick auf seine Kulturtheologie. Ich verstehe im Folgenden unter einem „Programm“ das Setting einer Agenda in einem bestimmten Handlungs- oder Wirkungsbereich. Programme dieser Art setzen Ziele, die durch Maßnahmen erreicht werden sollen, steuern derartige Maßnahmen und überprüfen die durch sie erzielten Ergebnisse. Ob dies nun im politischen oder wirtschaftlichen, im künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereich Anwendung findet – ein Programm benennt Ziele, Maßnahmen und Überprüfungskriterien. Es ist darüber hinaus einer Idee (oder einer minimalen Anzahl von Ideen) verpflichtet, die sich in der Zielkonfiguration abbildet. Dieser so vorausgesetzte Programmbegriff lässt sich m. E. gut auf Tillichs kulturtheologischen Entwurf der frühen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg anwenden. Er geht von einer Leitidee – der letzten Identität von Kultur und Religion unter der Perspektive des Gehalts – aus und entwickelt für diese Idee die Zielkonfiguration einer theonomen Kultur. Um diese Zielkonfiguration theoretisch wie praktisch zu erreichen, schwebt Tillich zunächst der Entwurf einer Wissenschaftstheorie insgesamt wie einer Religionsphilosophie und einer wissenschaftlich begründeten Theologie im Besonderen vor. Die theoretische Grundlagenarbeit wird flankiert durch politische Maßnahmen im Bereich der Gestaltung des sozialen und religiös-kirchlichen Lebens. Dieser erste Entwurf, projektiert in den frühen Schriften und Aufsätzen, Vorlesungen und Vorträgen nach 1918, erfährt freilich eine Reihe von Umbauten im Verlauf der 1920er Jahre. Nachfolgend will ich zeigen, dass und wie Tillichs Theologie einer Kultur in eben diesem Sinne als Programm verstanden werden kann. Ich will zeigen, worin es im Detail besteht, und dass es – weit entfernt von 7

Nämlich in seiner ausgereiften Form des Systems der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden von 1923.

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jeder bloßen Technokratie – auf konkrete Erfahrungen mit seiner Umsetzung flexibilisiert blieb und demnach auch – insbesondere in der ersten Hälfte der 1920er Jahre – diverse Transformationen erfahren hat. Denn natürlich hat Tillich im Lauf seines Lebens sein Denken flexibel gestaltet. Eine Werkbiographie erweist sich gerade bei Tillich als besonders erhellend, vermag sie doch zu zeigen, dass Tillichs Werk keineswegs den Anschein erwecken möchte, quasi aus einem systematischen Guss vom Himmel gefallen zu sein. Vielmehr steht es in ständiger Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten geistigen und kulturellen Bewegungen, die auch jeweils einen biographischen Ort im Leben Tillichs haben. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, was das Werk gewissermaßen im Innersten zusammenhält. Meine persönliche Vermutung hierzu ist die, dass Tillich eben dieses Anliegen, mit der allgemeinen geistigen Entwicklung Schritt zu halten und in Tuchfühlung zu bleiben, zum Grundprinzip seines Schaffens gemacht hat. Zu Beginn seiner akademischen Laufbahn hat er in Berlin ein theologisches Programm vorgelegt, dem er sein Leben lang treu geblieben ist. Er nannte es damals nicht „Programm“, sondern bescheidener die „Idee“ einer „Theologie der Kultur“ 8 .

1. Programmatisches Beginnen wir mit zwei weniger bescheiden gemeinten Reden aus dem Jahr 1919: Im November 1919 hielt Tillich im Haus des Berliner Pfarrers Friedrich Rittelmeyer zwei Vorträge vor dem Berliner Kreis Religiöser Sozialisten, dem Tillich selbst angehörte 9 . Die Vorträge und Diskussionen drehen sich um die Frage, welchen theologischen wie gesellschaftspolitischen Standort der Berliner Kreis im Verhältnis zur Schweizer Bewegung Religiöser Sozialisten, insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Tagung in Tambach im September 1919, einzunehmen hat. Tillich widmet sich in einem ersten Vortrag dem Gottesbegriff als theologischem Ausgangspunkt, dem Verhältnis von Religion und Kultur sowie dem Gedanken der 8 9

Zur Rekonstruktion des Gesamtzusammenhangs vgl. auch P. Haigis, Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur, Marburg 1998 (= Marburger Theologische Studien, Bd. 47). Vgl. hierzu die Einleitung zu Text Nr. 12 „Die prinzipiellen Grundlagen und die nächsten Aufgaben unserer Bewegung“ in: P. Tillich, Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908-1933). Erster Teil, hrsg. von E. Sturm, EW X, 237 f.

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Immanenz und dem Blick auf die Menschheit als universalem Rahmen der Sozialgemeinschaft, auf die hin die weitere Arbeit des Kreises orientiert ist. Ohne auf die bei Tillich ohnehin nur stichwortartig ausgeführten Überlegungen en detail einzugehen, möchte ich Tillichs Gedanken kurz skizzieren: 1. Mit dem „grundlegenden Gottesgedanken“ als Ausgangspunkt verbindet Tillich die Definition der Begegnung mit dem Göttlichen als „Unbedingtheitserlebnis“, wobei er dieses Unbedingtheitserlebnis nicht reformiert an den Prädestinationsgedanken, sondern lutherisch an die Rechtfertigungslehre bindet 10 . Konkret heißt das, das vom Unbedingten her kommende paradoxe Nein und Ja durchzieht die gesamte Sphäre des Seins und bezieht sich auf Natur, Kultur und Religion, sofern diese als Teil der Kultur anzusehen ist (vgl. EW X, 251 f.). 2. Für das Verhältnis von Religion und Kultur bedeutet dieses Doppelurteil die Anerkennung der Autonomie der modernen Kultur in ihrem Nein gegen jede „Heteronomie des Religiösen“ bei gleichzeitiger Anerkennung (und Forderung) eines Sinnes und Gehaltes der Kultur, der selbst religiös ist 11 . 3. Die mit dem Paradox verknüpfte Rechtfertigungsidee „macht eine Zerteilung der Welt in eine absolute und eine relative Sphäre unmöglich“. Der Gedanke der Immanenz ist daher für den Bereich der (allgemeinen) Kultur wie für den der Kirche in gleicher Weise zu formulieren 12 . 4. Das absolute Paradox des Christentums zielt ebenso wie der Grundgedanke des Sozialismus auf die universale Menschheitsgemeinschaft als sozialem Bezugsrahmen und macht die theoretische Verknüpfung beider möglich. In diesem Zusammenhang sind die übrigen Parteien und Religionen (Konfessionen) auf mögliche strategische Bündnisse hin zu sondieren.

10 Der theologische Zusammenhang des von Tillich entwickelten Paradoxes mit der Rechtfertigungslehre wird eingehend erläutert in den beiden Versionen seiner in dieser Form unveröffentlicht gebliebenen Arbeit Rechtfertigung und Zweifel aus dem Jahr 1919, der ich mich aber im Rahmen dieses Vortrags nicht näher widmen kann (vgl. EW X, 127-230). 11 EW X, 252 f. Der Aspekt der Forderung ist in diesen Ausführungen explizit nicht enthalten, ergibt sich aber aus der Gesamtanlage beider Vorträge. 12 EW X, 253. „Kulturarbeit ist Reichsgottesarbeit“ (ebd.). Zugleich ist die „Notwendigkeit des Feiertages und der Konzentration auf die religiösen Elemente der Kultur“ zu betonen (ebd.).

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Tillichs zweiter Vortrag beginnt mit einer Aufnahme der Grundgedanken des ersten. Einleitend wird darauf abgehoben, dass um der Erreichung des universalen Ziels einer Kultursynthese willen von konfessionellen Bestimmtheiten zu abstrahieren sei, wobei das Christentum „ein Princip der Selbstaufhebung“ kenne, zugleich aber das Konfessionelle neben diesem Zugeständnis in sein Recht trete, sofern es um „die Bindung an den von Christus ausgehenden Geist“ gehe (EW X, 255). Sodann unterscheidet Tillich hinsichtlich der Zielbestimmung dessen, worum es seiner Bewegung nun zu tun sei, zwischen geistigen Dingen, die nicht machbar (man darf wohl verstehen: unverfügbar) sind (Geist, Gemeinschaft, Bewegung), und solchen, die dem gestaltenden Willen unterstehen (Formulieren, Propagieren, Organisieren) und leistet gleich die Verknüpfung des Letzteren mit dem Ersteren: „Ein Geist wird formuliert, eine Bewegung propagiert, eine Gemeinschaft organisiert.“ (EW X, 256) Hieraus folgt nun eine detaillierte Agenda, was im Blick auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen zu unternehmen ist, welche Ausschüsse mit welchen Aufgabenstellungen zu gründen sind und wie diese zu arbeiten haben (EW X, 256 ff.). Man kann dies mit guten Gründen ein – dazu noch besonders ehrgeiziges – Programm politischer, aber auch theologischer Arbeit nennen. Freilich stellt es mehr die praktische Abzweckung dar, aber es folgt doch unverkennbar einer theoretischen Denkfigur, die Tillich andernorts wissenschaftlich ausarbeitete und dann auch der Theologie als Wissenschaft zum theoretischen und praktischen Vollzug vorlegte.

2. Die Wissenschaftsidee Aus grundsätzlichen wissenschaftstheoretischen Erwägungen heraus 13 hat die Kulturtheologie als eine systematische Kulturwissenschaft teil an der Dreigliedrigkeit „der kultursystematischen Wissenschaften überhaupt und der systematischen Religionswissenschaft insbesondere“ (MW II, 76).

13 Vgl. dazu Tillichs einleitenden Abschnitt „Theologie und Religionsphilosophie“ zu seinem Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur (MW II, 70-72) oder etwas ausführlicher die entsprechenden Passagen im System der Wissenschaften (MW I, 204-206. 211-223); ebenso Tillichs Berliner Vorlesung Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft aus dem Wintersemester 1920 in EW XII, 259-295.

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In seiner Enzyklopädie entwirft Tillich das System der Kulturwissenschaften nach Gegenstandsbereichen (er zählt hier fünf auf, drei praktische: „a) Recht/Wissenschafts-, Staats-, Privatrecht, b) Sozialethik, c) Individualethik“, und zwei theoretische: „a) Wissenschaft, b) Ästhetik“) und nach Methoden (hier nennt er sieben, vier empirische und drei systematische – und auf Letztere kommt es hier an!): „1. Philosophisch (erkenntnistheoretisch-metaphysisch), 2. Typologisch (Typenlehre und Geschichtsphilosophie), 3. Normativ“ 14 . Letztere Dreigliedrigkeit führt Tillich in dieser Vorlesung für Theologie und Religionswissenschaft dann auch aus in den Kapiteln „Religionsphilosophie“, „Typologie der Philosophie und Religionsgeschichte“ und „Das Wesen des Christentums“, wobei er dieses mit dem normativen Wesen der Religion gleichsetzt 15 . Im System der Wissenschaften, das Tillich aus der Idee des Wissens mit ihren Momenten von Denken und Sein gewinnt, findet sich die Dreigliedrigkeit der systematischen Kulturwissenschaften später als Trichotomie geisteswissenschaftlicher Disziplinen wieder. Das geisteswissenschaftliche System entfaltet sich in dreierlei Hinsicht: Vom Denken her sind die Prinzipien aller Sinnakte zu erfassen – dies geschieht in der „Sinnprinzipienlehre“ (oder auch Kategorienlehre), der Philosophie. Vom Sein her sind die Inhalte von Sinnakten zu erfassen – dies geschieht in der „Sinnmateriallehre“ oder der Geistesgeschichte. Vom Geist her sind die Sinnzusammenhänge der Sinnakte zu erfassen – dies geschieht in der „Sinnsystemlehre“ oder der Systematik. Prinzip, Material und System (andernorts auch Norm 16 ) sind die „Elemente“, nach denen sich das Verstehen geistiger Akte nach Tillich gliedern lässt. Entsprechend dieser Generaleinteilung stellen sich für die Kulturtheologie als Kulturwissenschaft drei Hauptaufgabengebiete, die mit den Stichworten Kulturanalyse, Kulturtypologie und Kultursynthese umschrieben werden können (MW II, 76). Diese Aufgaben leistet die Kulturtheologie nach Maßgabe eines theologischen Ansatzes (um hier nicht den von Tillich anderweitig benutzten Begriff des „theologischen Prinzips“ zu gebrauchen), der gewissermaßen als spezifische theologische Methode auf alle Kulturgebiete (inklusive der konkreten, im Horizont der Kultur erscheinenden Religion) Anwendung findet.

14 EW XII, 265. Die „empirischen“ Methoden sind folgende: „1. Chemisch-geographisch (materialistische Geschichtsauffassung), 2. Biologisch-technische (sic!) (medicinisch-pragmatische Einstellung), 3. Psychologisch, 4. Historisch.“ (Ebd.) 15 EW XII, 288 ff., 290 f., 291 f. 16 MW I, 220.

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In seiner Enzyklopädie erwähnt Tillich diese Sonderaufgabe der Theologie nur am Rande. Es „müssen bestimmte Gesetze gefunden werden, nach denen aus den Kulturfunktionen religiöse Qualitäten eruiert werden. Das erste ist das des überwiegenden Gehaltes. – Dieses ist eine Methode, die weder theologisch noch philosophisch ist, sondern beides, und ein neues Prinzip des Verständnisses der gesamten Kultur vom Sinn oder Gehalt her.“ Dadurch ist „die Möglichkeit gegeben, einen systematischen Entwurf kulturtheologischer Art zu machen, insofern eben jede Analyse eine Synthese voraussetzt.“ (EW XII, 267)

Ausführlicher begegnen wir dem Gedanken der (kultur)theologischen Methode in seiner Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart aus dem Sommersemester 1919. Dort entfaltet Tillich ein theologisches Prinzip in der Einheit dreier Momente, eines absolutabstrakten, eines relativ-konkreten sowie eines unendlich-idealen Moments 17 , das dann als universale Methode Anwendung finden kann: „Wie die Theologie es sich nicht nur gefallen läßt, sondern es sogar verlangt, psychologisch, soziologisch, ja biologisch behandelt zu werden, so erhebt sie nun auch ihrerseits den Anspruch, nicht nur ein Stoffgebiet für sich zu haben, das religiöse Leben im engeren Sinne, sondern auch eine Methode zu sein, die auf alle Kulturgebiete anzuwenden ihr Recht und ihre Pflicht ist; es gibt nicht nur eine Soziologie der Religion, sondern auch eine Theologie der Gesellschaft, wie auch eine Theologie der Kunst; der Wissenschaft, des Rechts, der Sittlichkeit.“ (EW XII, 57)

Aus der Dreigliedrigkeit des theologischen Prinzips wie aus der universalen Anwendungsform der theologischen Methode folgen für Tillich sodann die Bestimmung des Ortes und der Aufgabe einer Kulturtheologie: „Die drei Momente des theologischen Princips ergeben eine Dreiheit von Wissenschaften, die sich systematisch mit der Religion beschäftigen. Das erste – abstrakte – Moment enthält das Wesen der Religion und ist der Grundsatz der systematischen Religionsphilosophie, das zweite – konkrete – Element enthält das Wesen des bestimmten religiösen Standpunktes, von dem aus die Betrachtung der Religion geschieht, und ist der Grundsatz der systematischen Theologie; und das dritte – ideale – Moment enthält das Wesen

17 So EW XII, 43; andernorts „abstrakt-allgemeingültig“, „konkret-kirchlich“ und „ideal-kulturell“ bzw. „ideal-universell“ genannt (EW XII, 53). Tillichs Begriffe changieren hier! Vgl. dazu auch die dreigliedrige Fassung des theologischen Prinzips in Tillichs erster Version von Rechtfertigung und Zweifel (wahrscheinlich vor 1919) (EW X, 134 f.), wo bereits der Gedanke der Unerfüllbarkeit des letzten Moments begegnet: „Die Synthese, die Aufhebung der Spannung, kann als unendliche Forderung, nicht aber als empirische Lösung gesetzt werden.“ (EW X, 135)

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einer religiösen Grundidee und ist der Grundsatz der theologischen Methode und des Systems einer Theologie der Kultur.“ 18

Tillich kommt von daher zur hoch programmatischen Bestimmung einer Theologie der Kultur: „Die Theologie der Kultur hat also die Aufgabe, auf Grund der drei Momente des theologischen Princips und unter besonderer Erfüllung des dritten ein religiös begründetes System der Kultur zu entwerfen.“ (EW XII, 68)

Wie wir noch sehen werden, hat Tillich dieses Programm bis zur letzten Konsequenz nicht durchzuhalten vermocht – auch aus theologischen Gründen heraus. Für diese frühe Phase jedoch können wir festhalten, dass die Theologie der Kultur der seinerseits dreigliedrig gestaltete dritte Teil einer dreigliedrig angelegten „Religionswissenschaft“ ist, die als solche an der Dreigliedrigkeit aller systematischen Kulturwissenschaften teilhat. Die Tatsache, dass Tillich zu dieser Zeit weder über die Verhältnisbestimmung des dreigliedrigen theologischen Prinzips zum dreigliedrigen Prinzip systematischer Kulturwissenschaften Rechenschaft abgegeben hat noch darüber, ob und inwiefern die Theologie der Kultur „nur“ dritter und normativer Teil der Religionswissenschaft ist oder selbst religionsphilosophisch und geschichtstypologisch arbeitet, und wie dazu dann genau die systematische Religionsphilosophie und die systematische Theologie zu stehen kommen, sorgt für Unklarheiten, die ich hier lediglich als Fragen formuliere: Entspricht das dreigliedrige theologische Prinzip der Dreigliedrigkeit systematischer Kulturwissenschaften? Und wenn ja, entspricht es ihr zufällig oder notwendigerweise? Woraus leitet sich die Dreigliedrigkeit der Religionswissenschaft allgemein und der Kulturtheologie insbesondere ab? In welchem Verhältnis stehen dann die „systematische Theologie“ und das „System einer Theologie der Kultur“? M. E. lassen sich Begriffe und Ideen in diesen frühen Texten nicht harmonisieren. Sie stellen vielmehr so etwas wie das in sich dynamische und terminologisch nicht exakt fassbare kreative Zentrum Tillichscher Kulturtheologie dar. Erst mit dem System der Wissenschaften von 1923 gießt Tillich seine Idee in einen allgemeinen wissenschaftstheoretischen Rahmen und schafft damit die Rahmenbedingung für die Erfüllung der ersten Aufgabe seines kulturtheologischen Programms.

18 EW XII, 67 f. (Es lohnt sich, an dieser Stelle einmal einen gründlichen Vergleich mit der gestrichenen und im Anmerkungsapparat gebotenen Stelle vorzunehmen, was ich mir hier jedoch aus Platzgründen versagen muss.)

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3. Die Trias „Form – Inhalt – Gehalt“ Folgen wir dem System der Wissenschaften von 1923, so ist die erste Aufgabe der Kulturtheologie die kategoriale Grundlegung, die philosophische Kulturanalyse. Die Betonung, dass wir es hierbei mit einer philosophischen Aufgabenstellung zu tun haben, ist wichtig. Tillichs Denken behauptet auch nach dem Schock des Ersten Weltkriegs die prinzipielle Konvergenz von Theologie und Philosophie. Nur unter dieser Voraussetzung kann Tillich in seinem Wissenschaftssystem und in seiner Religionsphilosophie an den Sinnbegriff anknüpfen, den er für rein philosophisch verstehbar hält. Umso interessanter ist es freilich zu studieren, an welchen Stellen Spannungen und Brüche in der Konvergenz von Philosophie und Theologie auftauchen. Die philosophische Kulturanalyse stellt sozusagen das Kapitel der Prolegomena für die Kulturtheologie dar. Im Mittelpunkt dieser Analyse stehen drei Leitbegriffe – Form, Gehalt und Inhalt: „Der Gehalt wird an einem Inhalt mittels der Form ergriffen und zum Ausdruck gebracht.“ (MW II, 76) Eine reine Form-Gehalt-Beziehung unter Absehung vom Inhalt ist demnach problematisch. In dem Maße, in dem die Form sich vom Inhalt loslöst, verliert sie auch den Gehalt. Umgekehrt kommt das Zerbrechen einer Form dadurch zustande, dass „der Inhalt hinschwindet vor der überwiegenden Fülle des Gehaltes“ (ebd.). Tillichs Gedanken zum Verhältnis von Form, Inhalt und Gehalt lassen hier verschiedene Positionen zu: Einerseits kann die Form als das Vermittelnde zwischen Gehalt und Inhalt treten (wenn nämlich das Wesentliche am Zufälligen ergriffen und zum Ausdruck gebracht werden soll). Andererseits kann der Inhalt das Mittel zwischen Form und Gehalt sein (verschwindet der Inhalt, so gerät die Form in die sie bedrohende und zerstörende Unmittelbarkeit zum Gehalt). Form und Inhalt können in ein wechselseitiges Verhältnis der Vermittlung zum Gehalt treten: Nur die Form kann den Gehalt am Inhalt überhaupt erfassen, sie kann ihn aber auch nie direkt, sondern immer nur am Mittel des Inhalts begreifen – der Inhalt vertritt den Gehalt für die Form. 19 In seiner Vorlesung Religion und Kultur. Die Stellung der Religion im Geistesleben aus dem Wintersemester 1920 umschreibt Tillich die Schwie19 Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf den von Tillich rekonstruierten Zusammenhang des Material- und des Formalprinzips einer Religion in der ersten Version von Rechtfertigung und Zweifel, vgl. EW X, 133.

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rigkeit der Formulierung des Gehalts als ein Grundproblem der Kulturtheologie, das sich gewissermaßen bereits im wissenschaftlich-begrifflichen Formulierungsvorgang darstellt und dessen Lösung die Vorwegnahme der grundsätzlichen Lösung des Kulturproblems wäre: „Die Erhebung des Gehalts aus einem Kulturerlebnis ist deshalb schwierig, weil es nur möglich ist durch Anwendung an Formen und Inhalten; das a priori Unaussprechliche soll ausgesprochen werden. Das ist direkt nicht möglich, sondern kann nur so geschehen, daß die in der Form sich vollziehende Bewegung unter dem Gesichtspunkt des Gehaltes gedeutet wird. Es können demnach zur Erhebung des Gehalts nur Proportional- respektive Beziehungsurteile angewandt werden.“ (EW XII, 316) „Der reine Gehalt läßt sich nicht fassen, denn allein durch Formen und Inhalte. Und da ist ein Konflikt mit den Kulturformen nur zu vermeiden, wenn diese selbst zum Mittel gemacht werden, und das ist der Sinn einer Kulturtheologie. […] Die Lösung besteht darin, daß in eine Kultur das Unbedingtheitserlebnis in ekstatischer Form eindringt und diese autonome Form dann mit absolutem Charakter bekleidet. In diesem Moment ist die Synthese da; aber sie ist immer nur Moment.“ (EW XII, 317)

Im weiteren Verlauf seiner kulturtheologischen Überlegungen hat Tillich das Verhältnis von Form, Inhalt und Gehalt nicht mehr in dieser Weise aufgenommen und weitergeführt, wohingegen die Bipolarität von Form und Gehalt über weite Strecken seines Werks erhalten bleibt. Interessant ist dabei allerdings die Beobachtung, dass Form und Gehalt in der Regel in eine Konfliktstellung zueinander gebracht werden, um deren Lösung es dann Tillich geht. Diese Lösung nimmt er unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Vermittlungsgrößen und -modelle vor. Die Formulierung dieser Vermittlung wird zu einem wesentlichen Moment des prinzipiellen bzw. kategorialen Teils seiner Kulturtheologie.

4. „Kultur“ und „Religion“ Tillichs Ausführungen zur Kulturtheologie setzen neben der Bestimmung der Größen „Form“ und „Gehalt“ sowie ihrer Vermittlung auch einen bestimmten Kultur- und Religionsbegriff sowie ein spezifisches Verhältnis beider Größen zueinander voraus. Wie schon die Begriffe „Form“, „Inhalt“ und „Gehalt“ sind auch die Begriffe „Kultur“ und „Religion“ auf rein philosophischer Basis, also „vor-theologisch“ verständlich. „Kultur“ wird als Inbegriff der Stellungen des Geistes zur Wirklichkeit verstanden. Die Grundfunktionen aller kulturellen Akte („Kulturfunktionen“) werden

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von Tillich gegliedert „in solche, durch die der Geist den Gegenstand in sich aufnimmt, intellektuelle und ästhetische, zusammengefaßt als theoretische […] und in solche, durch die der Geist in den Gegenstand eingehen will […], individual- und sozialethische (mit Einschluß von Recht und Gesellschaft), also praktische“ (MW II, 73). Später – in seinem System der Wissenschaften – erweitert Tillich dieses Viererschema zu einem Sechserschema. Dass der dabei dargebotene Katalog von Geistesfunktionen nicht nur ein Spiegel für den „Aufbau des Geistes“ ist (MW I, 117), sondern darüber hinaus das formale Repertoire kultureller Aktivität wiedergibt, erhellt einerseits aus der im Kulturvortrag gegebenen Bezeichnung „Kulturfunktionen“, andererseits aus den in der Religionsphilosophie von 1925 aufgelisteten „Sinnfunktionen“ (MW IV, 136 f.), die ihrerseits an den Kulturbegriff rückgebunden werden (MW IV, 135). „Kulturfunktion“, „Geistesfunktion“ und „Sinnfunktion“ sind wechselseitig verwendbare, nahezu synonyme Begriffe. In der Entfaltung des Systems der Kultur qua Kultur-, Geistes- oder Sinnfunktionen ist die autonome Kultur, der kultur- und sinnschaffende Geist also ganz bei sich selbst. Für eine spezifisch religiöse Kulturfunktion ist aber im einen wie im anderen Schema kein Platz. Religion ist vielmehr „ein Verhalten des Geistes, in der Praktisches, Theoretisches und Gefühlsmäßiges in komplexer Einheit verbunden sind“ (MW II, 73). Neben allen Verhältnissetzungen von Geist und Gegenstand, die ja immer in der Sphäre des Bedingten weilen, gilt daher für die Religion: „Religion ist Erfahrung des Unbedingten.“ 20 In der Bestimmung von Religion als einem absoluten Prinzip des Geisteslebens liegt die Unterscheidung zum Kulturbegriff. Religion und Kultur stehen sich wie „Potenz“ und „Akt“ des Geistes gegenüber. Kultur besteht wesentlich aus Aktvollzügen (den Kulturfunktionen des Geistes angesichts des Gegenstandes), Religion aber besteht wesentlich in der Potenz eines gewissen qualitativen Verhaltens (einer Haltung) des Geistes (einem Bezogensein auf das Unbedingte) 21 .

20 MW II, 74; vgl. auch MW IV, 135. – So auch in der Vorlesung Religion und Kultur (1920): „Religion ist Beziehung auf ein Unbedingtes oder ist unbedingte Beziehung“ (EW XII, 310), sowie in Religion und Erneuerung von 1920 (EW X, 282-292. 286) 21 In Religion und Kultur ist das Unbedingte ein „Sinn“ in allem Seienden und in allen Werten (vgl. EW XII, 313).

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Auch Tillichs spätere Ausführungen zu den Begriffen Religion und Kultur halten sich im Rahmen der 1919 (und 1923) vorgezeichneten Gedanken: „Religion ist Richtung auf das Unbedingte, Kultur ist Richtung auf die bedingten Formen und ihre Einheit.“ (MW IV, 134) Kultur ist zwar nicht intentional, d.h. bewusstseinsorientiert religiös, aber substantiell enthält doch jeder kulturelle Akt ein religiöses Moment, denn er ruht als bedingter Sinnakt immer auf unbedingtem Sinn. Und umgekehrt kann jeder religiöse Akt als Akt, der Form nach, nur kulturell sein, obwohl er intentional (eben als religiöser Akt) von der Kultur verschieden bleibt: „Im kulturellen Akt ist das Religiöse also substantiell; im religiösen Akt das Kulturelle formell.“ (MW IV, 135) Es ist jedoch offensichtlich, dass Tillich hier sowohl einen mehrdeutigen Religionsbegriff als auch einen mehrdeutigen Kulturbegriff verwendet: Einmal ist Kultur das System geistiger und sinnhafter Aktvollzüge, das formale Repertoire des Geistes sozusagen, zum andern aber ist Kultur eine intentionale Qualität dieser Aktvollzüge und somit von Religion (besser vielleicht „Religiosität“) als einer anderen intentionalen Qualität unterschieden. Wie schon das Wort „Religion“ den konkreten, in ein kulturelles Formenrepertoire eingebetteten und rein formal darin erschöpfend analysierbaren Akt als auch die auf das Unbedingte gerichtete Haltung bezeichnen kann, so kann „Kultur“ das System von (geistigen) Aktvollzügen, aber auch eine spezifische, auf das Bedingte gerichtete Haltung meinen, die die Dimension der Religiosität abblendet – die kulturell-profane Haltung „in sich ruhender Endlichkeit“ 22 , besser vielleicht: „Profanität“ 23 . Was meint demgegenüber die Rede vom substantiell Religiösen in der Kultur 24 ? Die Pointe dieses Religionsbegriffs liegt m. E. darin, dass das Substantielle von der eingenommenen intentionalen Haltung unabhängig ist. Es ist unverlierbar – auch und gerade in den kulturellen Aktvollzügen, die von einer profanen Haltung geprägt sind. Doch der Begriff einer reli22 Vgl. J. Luther Adams, Paul Tillich’s Philosophy of Culture, Science and Religion, New York 1965, 257. 23 Vgl. dazu auch die Skizze Religion und Kultur von 1920 (EW X, Text Nr. 16, 275-281. 277). Hier unterscheidet Tillich zwischen dem Sinn jeder Kulturfunktion, der „religiös“ sei, während sie ihrer „Ausführung“ nach „profan“ sein kann. In diesem Sinne ist das Profane freilich keine Haltung, sondern eine „Technik“ (vgl. EW X, 278. 280) bzw. das Religiöse hat auch Erlebnisqualität (EW X, 280). 24 Das Schlagwort von der Religion als „Substanz der Kultur“ findet sich in diesen frühen Abhandlungen Tillichs noch nicht und wird von mir hier – ebenso wie der erst später auftauchende Begriff der religiösen „Dimension“ – in einem konstruktiven Sinne verwendet.

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giösen Substanz als solcher ist normativ unbrauchbar und er droht überdies farblos zu werden, wenn er nicht inhaltlich bestimmbar bleibt. „Religion“ muss daher auch noch differenzierter aufgefasst werden können, und hierzu bietet die begriffliche Fassung religiöser Haltung(en) in Abgrenzung zu(r) kulturellen Haltung(en) – ein intentionaler Religionsbegriff also – Gelegenheit. Die Gefahr jedes intentionalen Religionsbegriffs ist freilich, dass er die religiöse Substanz verfehlen kann. Damit ist auf religions- bzw. kulturphilosophische Weise eine Grundspannung eröffnet, die nicht mehr immanent philosophisch, d.h. auf der Kategorienebene, gelöst werden kann, sondern nach einer Lösung verlangt, die Tillich theologisch zu geben versucht. 25 Tillich räumt ein, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen dem enzyklopädischen Kulturbegriff und der Substanz oder Dimension 26 der Religion um eine ideale Konstruktion handelt, die möglicherweise rein eschatologische Dignität besitzt 27 . Unter irdischen Bedingungen muss ein anderes Maß angelegt werden als im Reich Gottes, da Gott ist alles in allem. An eine vollständige Auflösung der konkreten Religion kann angesichts unserer endlichen Welt nicht gedacht werden. Und so führt Tillich die Vorstellung einer spezifischen Religionskultur gewissermaßen als Provisorium für die vollendete Realisierung der religiösen Dimension in der Kultur wieder ein. Es ist eine Art eschatologischer Vorbehalt, den Tillich hier geltend macht. Der entscheidende Punkt, auf den alles hinausläuft, ist, dass wir im Rahmen der Endlichkeit unseres Bewusstseins zwar einen Begriff von Kultur entwickeln können, nicht aber einen vollständigen Begriff von dem, worauf Religiosität zielt. Das Unbedingte näherhin fassen zu wollen, ist eine Unmöglichkeit für das reflexive Bewusstsein. Die Kategorie des Gehalts, die Tillich der religiösen Dimension zuordnet, kann überhaupt nicht in der Weise formuliert werden wie die Kategorie der Form, die der Kultur entspricht. Reine Potentialität, reine Qualität, wie sie die religiöse Dimension darstellt, verflüchtigt sich für den endlichen Geist. Er kann ihrer nur gewahr werden, wenn die Möglichkeit einer (vorläufigen) Vergegenständlichung des Religiösen besteht, und d.h. dass auf der Ebene der geistiger Aktvollzüge selbst ein „Modell“ (oder auch mehrere) aufgewiesen werden muss, an dem das Erscheinen des Religiösen im Kulturellen bzw. des Unbedingten im Bedingten anschaulich abzulesen ist. 25 Deutlich wird auf diese Problematik auch in Religion und Erneuerung Bezug genommen (vgl. EW X, 286 ff.). 26 Vgl. Anm. 24. 27 Vgl. Apk. 22, 21.

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Diese Modellbildung grundsätzlich zu legitimieren, ist dann später Aufgabe der Tillichschen Symboltheorie. Da der Gehalt, die religiöse Dimension, für den menschlichen Geist in seiner Reinheit und Unmittelbarkeit weder einem intellektuellen noch ästhetischen noch ethischen Zugriff verfügbar ist, kommt es stets auf das Wechselverhältnis an, in das Form und Inhalt füreinander treten. Nur die Form, d.h. das funktional ausdifferenzierte Repertoire der Kulturformen, kann die Ausdrucksmittel für die Religion bereitstellen. Aber nur der Inhalt, „das Zufällige“, „das Gegenständliche in seinem einfachen Sosein“ (MW II, 76), kann den Gehalt für die Form vertreten. Das Problem der Vermittlung von Form und Gehalt wird so zum Problem der Geschichte. In der geschichtlichen Perspektive unserer endlichen Welt kommt dieses Vertretungsverhältnis traditionell-prioritär und damit historisch-relativ dem Phänomen der konkreten Religion zu. Konkrete Religion in ihrem geschichtlich-kontingenten, traditionell gewachsenen Materialbestand erhebt den Anspruch, die religiöse Dimension in der Kultur zu repräsentieren. Dass damit noch nichts über die Exklusivität und auch nichts über die Angemessenheit dieses Anspruchs ausgesagt ist, leuchtet ein. Inhalte können wechseln, sie können „hinschwinden“. Es ist aber damit zumindest etwas über die noetische Priorität konkreter Religionskultur gesagt: Religionsgestalten mögen sich aufheben, sie mögen sterben und durch Gestalten ersetzt werden, die von außerhalb des Stroms traditioneller Religion kommen, zunächst aber muss sich das Heilige erst einmal im Kulturkontext konstituiert haben. Dem Erleben religiöser Werte in der Kultur „muß eine spezifisch religiöse Kultur vorangegangen sein […] und nicht nur vorangegangen“ (MW II, 81 f.).

5. Die Trias „Autonomie – Heteronomie – Theonomie“ Mit den zuletzt gemachten Bemerkungen ist schon deutlich geworden, inwieweit Tillichs Begriffsentwicklung der Termini „Kultur“ und „Religion“ mit den unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zusammenhängt. Offenbar ist die begriffliche Gegenüberstellung von Kultur und Religion als Form und Substanz resp. Gehalt eine philosophische Differenzierung, die sich so verstanden nahtlos in die Sinnprinzipienlehre des Systems der Wissenschaften einfügt. Und als solche wird sie eben in der Religionsphilosophie als kategoriale Grundlage entfaltet. Die Philosophie vermag einerseits mittels ihrer analytischen Begriffe keine Aussage über

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„Religion“ zu machen, die über die Bemerkung einer „religiösen Dimension“ oder „Substanz“ hinausginge. Sie vermag andererseits mittels ihrer analytischen Begriffe keine Aussage über eine qualifizierte Differenzierung von Kultur und Religion nach Haltungen oder Intentionen zu machen. Dies ist Aufgabe der Sinnmateriallehre, der Kulturtypologie. Doch welche Begrifflichkeit bietet Tillich hierfür an? Die Begrifflichkeit von Autonomie, Heteronomie und Theonomie lässt sich zunächst in Relation zur schon entwickelten Systematik von Form und Gehalt denken. Das Verhältnis von Autonomie und Theonomie der Kulturwerte ist durch die Zuordnung der Kategorien Form und Gehalt reguliert. Tillich bietet als Faustregel an: „Je mehr Form, desto mehr Autonomie, je mehr Gehalt, desto mehr Theonomie.“ (MW II, 75) Die Zuordnung ist damit eindeutig: Form und Autonomie, Gehalt und Theonomie entsprechen einander. Die Entsprechung erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als schief, wenn unter „Kultur“ das System geistiger Aktvollzüge verstanden werden soll. Formal gesehen ist dieses in sich geschlossen, vollständig und autonom. Tillich teilt hier die typische Auffassung der Moderne. Formale Heteronomie ist dort, wo der menschliche Geist erst einmal zur formalen Erfassung seiner selbst gelangt ist, in jedem Fall abzulehnen. Unter dem Aspekt der Haltung hingegen, auf intentionaler Ebene also, soll Kultur weder autonom noch heteronom sein, sondern theonom, d.h. gehaltorientiert. Es liegt auf der Hand, dass die Bedeutungen der Begriffe sich jetzt wandeln: Angesichts der Theonomie als einer idealen, nämlich religiös erfüllten Haltung der gesamten Kultur, verlieren die Begriffe Autonomie und Heteronomie ihren formalen Sinn (und damit zugleich die ihnen von Tillich in diesem Zusammenhang zugedachte Wertigkeit). Als Haltung verstanden gerät Autonomie in einen Zusammenhang zur Theonomie, der ihre einseitige Bevorzugung gegenüber der Heteronomie unmöglich macht. Autonomie wird zu einer in ihrer Formbezogenheit eingekapselten kulturellen Haltung. Tillich nennt sie – um den Begriff der Autonomie in seiner positiv konnotierten Gestalt zu retten – auch die Haltung der „Profanität“ 28 . 28 Vgl. MW II, 82, sowie Religion und Erneuerung, wo „Heteronomie und profane Autonomie“ in ein dialektisches Verhältnis zueinander gebracht werden (EW X, 289) und das eine wie das andere zur Theonomie hin zu überwinden ist. Ein entsprechendes gedankliches Schema liegt vor in Text Nr. 18 Die Krisis von Kultur und Religion (1920), wo es um die „Krisis des Supranaturalismus“, also um die „Krisis der Heteronomie“, und um die „Krisis des Naturalismus“, die „Krisis der

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Doch auch in der intentionalen Füllung enthält der Theonomiebegriff eine doppelte Schwierigkeit: Theonomie bleibt entweder unrealisierbar (und zwar nicht nur in praktischer, sondern auch in theoretischer Perspektive!) oder sie verzerrt sich, wo immer sie realisiert werden soll, zur Heteronomie 29 . Um es anders auszudrücken: Für die geistesgeschichtliche Betrachtungsweise der Sinnmateriallehre bleiben alle Haltungen, die nicht profan sind, zweideutig (und die Profanität in religiöser Hinsicht eindeutig negativ). Das daraus resultierende Problem verknüpft sich bei Tillich mit dem Stichwort der „Dämonisierung“. Zugleich jedoch ist klar, dass die Lösung zu diesem Problem nur theologisch zu erbringen ist, denn die Frage, nach welchem Maßstab Kriterien für dämonische Verzerrungen und deren Überwindung anzulegen sind, ist ein theologisches Normproblem.

6. „Kairos“ Tillichs begriffliche Unterscheidung von „Autonomie“, „Heteronomie“ und „Theonomie“ kann als erste Annäherung an eine geistesgeschichtliche Terminologie verstanden werden. Allerdings zeigte sich schon bald, dass die zugrunde gelegten Begriffe in ihren Verwendungsmöglichkeiten zu vage sind und insbesondere einer differenzierten (theologischen) Normbildung entbehren. Tillich konnte hier erst mit dem Konzept des Dämonischen weiterkommen, um Geisteslagen hinsichtlich ihrer religiösen Qualität voneinander zu unterscheiden. Der Begriff des Dämonischen enthält – wie wir gleich noch sehen werden – eine größere Konvergenz zum theologischen System als etwa der Begriff der Theonomie. Entsprechendes lässt sich am Beispiel des Begriffs „Kairos“ aufzeigen. In seiner systematischen Einführung von 1922 ist „Kairos“ der geschichtliche Moment des Umschlagens einer autonomen Geisteslage in eine theonome 30 . Er bezeichnet nicht die spezifische Struktur einer konkreten Autonomie“, geht (EW X, 293-302. 295) und beides in Richtung Theonomie überwunden werden muss. 29 Ein Problem übrigens, das bereits Hans von Soden in seiner Besprechung des Tillichschen Kulturvortrags in aller Schärfe erkannt hat (vgl. H. von Soden, Kirchentheologie und Kulturtheologie, in: ZThK 2, 1921, 468-477. 476). 30 Vgl. MW IV, 66 f. Tillich hat den Begriff auch schon vorher gebraucht, nicht jedoch in dieser systematischen Hinsicht auf die Differenzierung von Geisteshaltungen oder Geisteslagen (vgl. EW X, 292).

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Geisteslage, sondern nur eine Achse. Geschichtstheologisch gesprochen stellt er zwar die „Rettung“ des Kampfes der Autonomie dar, ansonsten bleibt er aber völlig formal und inhaltlich leer. Anders verhält es sich 1926, wo Tillich „Kairos“ als die entscheidende Kategorie „prophetischer“ Geschichtsbetrachtung versteht 31 . „Kairos“ wird qualifiziert als Durchbruch des Ewigen und Göttlichen in die dämonischen Strukturen unserer Welt und hat spätestens seit der MarburgDresdner Dogmatikvorlesung von 1925 deutlich christologische Konnotationen. Was die Rede von der prophetischen Geschichtsbetrachtung näher bedeutet, kann jedoch erst erfasst werden, wenn die Kategorie des Dämonischen und von da aus die Gruppierung der Geistesgeschichte verstanden ist.

7. „Das Dämonische“ Grundthema der Geistesgeschichte der Religion in der Religionsphilosophie von 1925 ist die Unterscheidung von Göttlichem und Dämonischem. Knüpfen wir an die zuvor beschriebene Spannung von autonomer und heteronomer Haltung an, so zeigt sich hier eine leichte Asymmetrie in der Terminologie: Da ist einerseits von autonomem Unglauben, andererseits von heteronomem Glauben die Rede. Während der autonome Unglaube gleichgültig gegen den reinen Glauben zu sein scheint, hat der heteronome Glaube mit diesem offenbar irgendetwas gemein. „Der heteronome Glaube ist Glaube, wenn auch dämonisch verzerrter […], während der autonome Unglaube niemals dämonisch, aber auch niemals göttlich ist, sondern leerer Gehorsam gegen das Gesetz.“ (MW IV, 144)

Der Schlüssel hierzu liegt in einem Begriffspaar, das auf die autonome Kultur, auf den Unglauben, die Haltung der Profanität, nicht anwendbar ist: Göttliches und Dämonisches. Dies stellt vielmehr eine Subdifferenzierung innerhalb des Begriffs des Heiligen dar.

31 Vgl. MW IV, 175. Die Rede von der prophetischen Geschichtsbetrachtung begegnet allerdings auch schon in Text Nr. 20 Die gegenwärtige Krisis von Kultur und Religion von 1922 (EW X, 305-310, bes. 306 f.) sowie in Text Nr. 21 Die religiöse Erneuerung des Sozialismus von 1922 (EW X, 311-327), hier dann auch in (wenngleich noch lockerer) Verbindung mit anderen zentralen geistesgeschichtlichen Termini wie „Kairos“, „Theonomie“, „Dämonie“ und „Theokratie“. Auf eine detaillierte komparative Analyse muss ich hier jedoch verzichten.

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Gemäß ihrer dortigen Einführung müssen „heilig“ und „profan“ folgendermaßen verstanden werden: „Heilig ist ein sinnerfüllender Akt oder ein Sinngegenstand, insofern er Träger des unbedingten Sinnes ist, profan, insofern er den unbedingten Sinn nicht zum Ausdruck bringt.“ (MW IV, 146) Das Profane ist gegen das Unbedingte in einer gewissen Weise gleichgültig. Daher kann der autonome Unglaube die Kultur in die Profanität hineintreiben. Anders verhält es sich im Bereich des Heiligen. In unserer endlichen Wirklichkeit gibt es eine Sphäre des Heiligen, die der profanen Sphäre gegenübersteht. Es gibt heilige Objekte für den Glauben, die auf ein schlechthin Heiliges jenseits ihrer selbst verweisen. Dieses innere Transzendieren, „die innere Ekstatik des Heiligen“ (MW IV 147) führt auf das göttliche Moment, die gegenständliche Konstitution des Heiligen in unserer endlichen Wirklichkeit hingegen auf das dämonische Moment. Durch diese Unterscheidung „wird der Begriff des Heiligen selbst dialektisch. Das Heilige in der ursprünglichen Auffassung bezeichnet in gleicher Weise das Göttliche und das Dämonische“ 32 . Es erweist sich als für unsere Rekonstruktion nicht unerheblich, dass die Möglichkeit des Dämonischen (und mithin des heteronomen Glaubens) von Tillich in seiner Religionsphilosophie auf die Inhaltskomponente, den Stoff, zurückgeführt wird (vgl. MW IV, 149). Dieser Gedanke deckt sich mit unseren Beobachtungen zum Verhältnis von Form, Inhalt und Gehalt: Die Ambivalenz, mit der ein den Gehalt vertretender Inhalt der Form begegnet, bringt im geschichtlichen Prozess die konkrete Religionskultur samt ihrer ständigen Bedrohung, dämonisch und heteronom zu werden, hervor.

8. Die geistesgeschichtliche Gruppierung Mit der Grundunterscheidung von Göttlichem und Dämonischem konstruiert (oder besser: rekonstruiert) Tillich sodann die Geistesgeschichte der Religion. Den Ausgangspunkt bildet die Einheit von Form und Gehalt unter Absehung eines Zwiespalts im Heiligen. Am Endpunkt steht die 32 MW IV, 149. In Die gegenwärtige Krisis von Kultur und Religion bestimmt Tillich „Dämonie“ so: „Dämonie ist das religiöse Ergriffensein von Mächten, die in ihrer Ungeformtheit zerstörerisch sind.“ (EW X, 317) Dort wird „Dämonie“ – religiös gesprochen – in einen Gegensatz zur „Theokratie“ gebracht, die im profanen Bereich der „Autonomie“ entspricht, während die „Dämonie“ profanisiert der „Anomie“ korrespondiert (ebd.).

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Einheit von Form und Gehalt unter Abstoßung des Dämonischen im Heiligen. Tillich versucht, die Bandbreite möglicher konkreter Religionsentwicklung in grundsätzlichen Konstruktionstypen zu erfassen. Bei diesen Typen handelt es sich zunächst einmal um die Bereitstellung von Begriffen zur Einordnung von Geisteslagen. Über den faktischen religionsgeschichtlichen Prozess ist damit noch nichts gesagt. Zu den von Tillich aufgeführten Typen gehören insbesondere die sakramentale und die theokratische Haltung. Die Nähe der Begriffe „sakramental“ und „theokratisch“ zu Begriffen wie „priesterlich“ und „prophetisch“ liegt dabei auf der Hand 33 . Die sakramentale Haltung stellt bereits einen ersten Schritt über die indifferente Bewusstseinslage hinaus dar, da „sie nicht mehr indifferent in allem Wirklichen das Heilige anzuschauen vermag, sondern bestimmte Wirklichkeiten und Formen als Träger des heiligen Gehaltes betrachtet“ (MW IV, 150). Dem geradewegs entgegen steht die theokratische Haltung, die „die Heiligung bestimmter sakramentaler Wirklichkeiten“ ablehnt. (MW IV, 150 f.) Tillich knüpft also seine Konstruktion genau bei der Ambivalenz des Heiligen an, indem er einerseits die notwendige Konstitution des objekthaft Heiligen in der endlichen Welt, andererseits den Widerspruch hierzu, der gewissermaßen aus der Transzendenz entgegenwirkt, beschreibt. Genau genommen muss freilich eingeräumt werden, dass „im Sakramentalen ein theokratisches“ und „in der Theokratie ein sakramentales Element“ enthalten ist (MW IV, 151). Tillich will damit der Tatsache Rechnung tragen, dass es keine Geisteslage gibt, die in Reinkultur Sakramentalität oder Theokratie verkörpern könnte. Es wäre daher zutreffender, von Geisteslagen mit differierenden sakramentalen und theokratischen Anteilen zu sprechen. Der theokratische Protest gegen die sakramentale Haltung kann zwei extreme Konsequenzen haben: Er kann einerseits in die radikale Entleerung autonomer Kultur „bis zur autonomen Austreibung jedes sakramentalen Gehaltes führen“ (MW IV, 153). Die sakramentale Lage „kann aber auch durch Zersetzung ihrer konkreten Symbole zur radikalen Mystik emporgetrieben werden“ (ebd.). Die radikale Mystik wendet sich der reinen Erfassung des Gehalts jenseits aller Formen zu. Aus alledem ergibt 33 Vgl. etwa den Kairos-Aufsatz von 1926. Dennoch muss darauf verwiesen werden, dass Tillichs Terminologie hier in den frühen Veröffentlichungen changiert (vgl. zu diesem Problem beispielsweise den Befund der Texte Zur Klärung der religiösen Grundhaltung (1922) und Grundlinien des religiösen Sozialismus (1923) sowie meine Bemerkungen dazu in: P. Haigis, Im Horizont der Zeit, a.a.O. [Anm. 8], 107 f.).

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sich für Tillich als konstruktives Ziel „die Verbindung der theokratischen Forderung und mystischen Negativität mit der sakramentalen Heiligung eines Konkreten“ (ebd.). Tillich nennt dieses Ziel die „Religion des Paradox“ oder auch – weil diese Haltung trotz ihrer geistigen Konstruktivität praktisch nicht erzeugt, sondern nur als „Durchbruch erfahren werden kann“ – „Religion der Gnade“. An späterer Stelle nimmt dann das „Protestantische Prinzip“ die Stelle dieses normativen Zielpunktes ein. Das „protestantische Prinzip“ ist als Synthese der theokratisch-kritischen wie sakramental-gestaltenden Momente religiöser Verwirklichung zu begreifen und mündet ein in die „Gestalt der Gnade“, die den strukturellen Gegenpol zum Konzept der Dämonisierung darstellt. Hinter dem Begriff des „Protestantismus“ verbirgt sich somit ein denkerisches Konstrukt, das als Normbegriff fungiert, zugleich verleugnet die Bezeichnung ihre Wurzeln in der historischen Bewegung des Protestantismus nicht, sofern mit ihr ein Element des Geisteslebens und der Geistesgeschichte erfasst wird, in dem die Verwirklichung jener Norm – bei aller dämonischen Verzerrung, die es dort in concreto freilich auch gibt – auf exemplarisch-gültige Weise angeschaut werden kann. Mit der Ausrichtung auf einen solchen Normbegriff unterscheidet sich Tillichs Ansatz zugleich von einer rein typologischen Auffassung. Tillichs geistesgeschichtliche Gruppierung hat stets den Normbegriff im Hintergrund (vgl. MW I, 219) und führt so an die letzte Disziplin der geisteswissenschaftlichen Religionslehre, die Theologie oder die normative Religionslehre, heran 34 .

9. Theologie Tillichs geistesgeschichtliche Differenzierung hinsichtlich der Religion bietet zwar eine breitere Palette zur Unterscheidung von Geisteslagen. Doch bleibt nach wie vor offen, wann denn nun konkret von „echt“ sakramentalen bzw. theokratischen Präsentationen gesprochen werden soll. Diese Entscheidungssituation auszuhalten und zu (er)tragen, ja zu vollziehen, ist das Risiko jeder prophetischen Geschichtsbetrachtung. An dieser Stelle 34 Vgl. dazu Tillichs Aussage in seiner Vorlesung von 1919 (Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart): „Die Einheit […] des normativ-Allgemeingültigen mit dem lebendig-Konkreten möchte ich in dem Wort ‚theologisch‘ wiederfinden. Denn Theologie ist meiner Überzeugung nach normativ gewandte Religionsphilosophie“ (EW XII, 40).

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kommt die Theologie als Dogmatik (resp. Ethik) ins Spiel. Aufgabe der theologischen Disziplin ist es, „zu entscheiden, an welches konkrete Symbol sich die Religion des Paradox anschließen kann, oder besser, welches konkrete Symbol begründend für den normativen Religionsbegriff ist.“ Sie ist damit „notwendig konfessionell […], weil sie das Bekenntnis zu einem konkreten Symbol in sich schließt“ (MW IV, 155). Bereits in seinem Berliner Kulturvortrag von 1919 wird Theologie verstanden als derjenige Teil der Religionswissenschaft, in dem die systematisch-normativen Entscheidungen getroffen werden. „Aufgabe der Theologie ist es […], von einem konkreten Standpunkt aus auf Grund der religionsphilosophischen Kategorien und unter Einbettung des individuellen Standpunktes in den konfessionellen und den allgemein religionsgeschichtlichen und den geistesgeschichtlichen überhaupt ein normatives Religionssystem zu entwerfen.“ (MW II, 71)

Wir haben bei unserem Durchgang bemerkt, wie Tillich seine bipolare Konstruktion von formalem Kulturbegriff einerseits und substantialdimensional gefasstem Religionsbegriff andererseits selbst relativiert. Die religiöse Dimension als solche kann angesichts der Endlichkeit unseres Bewusstseins kein Gegenstand philosophischer Reflexion sein, denn sie ist per se dem menschlichen Geist nicht verfügbar. Sie kann philosophisch gesehen nur als „Grenzbegriff“ gegenüber einem in sich geschlossenen System kultureller Aktvollzüge resp. Sinnfunktionen angesetzt werden. Gegenstand der philosophischen Reflexion kann daher – neben dem Gefüge kultureller Aktvollzüge – nur die im Kulturkontext konkret begegnende Religion (und mithin ihre durch die Entfremdungsprozesse konkreter Religion gegangenen Ableitungen) sein. Nun ist jedoch andererseits in Tillichs Ausführungen auch deutlich geworden, dass die Religion zwar im Gewand kultureller Formen begegnet, deshalb aber nicht schon als eigenständiger Kulturbereich neben anderen (der Kunst, der Moral etc.) auftreten darf. Der spezifische „Gegenstand“, mit dem Theologie es zu tun hat, ist daher keine Funktion des Geistes, sondern eine (durchaus bestimmte) Geisteshaltung oder Geisteslage. Theologie als Bestandteil konkreter Religion unterliegt demselben eschatologischen Vorbehalt wie die konkrete religiöse Kultur selbst. Damit ist Theologie als „Kirchentheologie“ bzw. „Dogmatik“ klar definiert. Was bedeutet diese Bestimmung aber für die „Kulturtheologie“? Nehmen wir Tillichs eschatologischen Vorbehalt ernst, so kann Kulturtheologie nicht mit der dritten von Tillich genannten Disziplin kulturwissenschaftlicher Tätigkeit zusammenfallen. Die prinzipielle Unfassbar-

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keit der Dimension des religiösen Gehalts für unser endliches Bewusstsein einerseits und die Hochschätzung kultureller Autonomie andererseits sind vielmehr wesentliche Gründe dafür, dass Tillichs kulturtheologisches Programm hinsichtlich seiner dritten Aufgabenstellung, normative Kultursystematik unter der Perspektive des Gehalts zu sein, unvollendet bleiben musste. Immer wieder sind mögliche „Kandidaten“ für diese Erfüllung herangezogen worden, in denen jener dritte Teil dann als ausgeführt gelten sollte. Sie überzeugen allesamt nicht: In Tillichs Schrift Grundlinien des religiösen Sozialismus (1923) etwa liegt kein differenzierter und distinguiert anwendbarer religiöser Normbegriff vor. Das Büchlein Die religiöse Lage der Gegenwart (1926) erweist sich in seinem Ergebnis eher als geistesgeschichtlich-typologisch denn als systematisch-normativ. Die Sammelbände Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung (1926), Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung. Zweites Buch des Kairos-Kreises (1929) und Religiöse Verwirklichung (1930) stellen in ihrer Gesamtanlage keine einheitliche Systemschau dar, sondern haben essayistisch-fragmentarischen Charakter. Die Marburg-Dresdner Dogmatik-Vorlesung von 1925 wie auch die spätere dreibändige Systematische Theologie (1951/ 1957/1963) aber sind eindeutig „kirchentheologische“ Werke. Dass der Kulturtheologe also „vom Gehalt her die übergreifende Einheit der Kulturfunktionen zum Ausdruck bringen“ könne und damit einen der universalen Kulturphilosophie vergleichbaren Beitrag zur systematischen Einheit der Kultur leiste (MW II, 77), geschweige denn dass er zur systematisch umfassend projektierten und kontrollierten Gestaltungsarbeit vordringen könne, muss sich wegen des prinzipiell nicht auszubalancierenden Ungleichgewichts der „Kategorien“ Form und Gehalt als illusorisch erweisen. Andererseits muss Kulturtheologie – soll sie Sinn machen – mehr sein als Kulturphilosophie. Nun hat Tillich bereits 1919 verdeutlicht, dass eine Kulturtheologie nicht nur auf der formalen Analyse des Verhältnisses von Religion und Kultur basiert, sondern einer konzeptionellen Verbundenheit mit der konkreten Religion und der ihr zugeordneten Denkbewegung, der konfessionellen Theologie, bedarf. Von daher kann Kulturtheologie in gewissem Sinne als „verlängerter Arm“ der Kirchentheologie gelten. Dies gilt freilich nur insofern, als sich mit dem Begriff „Kirche“ die konfessionelle Basis des gesamten Unternehmens verknüpft. Die konkrete Sozialgestalt Kirche kann durchaus im Widerspruch hierzu stehen, was sie der kulturtheologischen Kritik gleichermaßen unterwirft wie jedes andere Phänomen des Geisteslebens. Dass die evangelische Kirche in Deutschland zu Zeiten Tillichs von ihm eher im Fokus solcher kritischen Objektionen wahrge-

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nommen und er die Sache des protestantischen Prinzips besser in anderen gesellschaftlichen Bewegungen wie den Religiösen Sozialisten aufgehoben sah – daran lässt Tillich auf weiten Strecken seiner Veröffentlichungen keinen Zweifel. Dies ändert jedoch nichts an der Aufgabenbestimmung einer Theologie der Kultur: Sie bringt die konfessionell getroffenen normativen Entscheidungen auf dem weiten Gebiet kultureller und geschichtlicher Prozesse zur Geltung und zur Anwendung. Sie ist damit theologisch motivierte und legitimierte Geistesgeschichte von Kultur und Religion bzw. – um es wissenschaftssystematisch auszudrücken – theonome Sinnmateriallehre.

Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie. Zur Kulturtheologie des späten Tillich WERNER SCHÜSSLER

1. Eine neue Definition: Religion als Substanz der Kultur und Kultur als Form der Religion „Religion ist die Substanz der Kultur und Kultur die Form der Religion“, auf Englisch: “Religion is the substance of culture and culture the form of religion”: Diese griffige Formel Tillichs, die allen Tillich-Experten im Rahmen seiner Kulturtheologie bekannt sein dürfte, begegnet so noch nicht in seinen deutschen Schriften. 1 Ein erstes Mal tritt sie in dem Aufsatz Religion and Secular Culture von 1946 auf. 2 In seinem programmatischen Aufsatz von 1919 Zur Idee einer Theologie der Kultur spricht Tillich nicht von Form und Substanz, sondern von Form und Gehalt. (Vgl. GW IX, 19) Zwar finden sich hier Sätze, wo der Begriff Gehalt durchaus auch durch den Begriff Substanz ersetzt werden kann, aber es finden sich auch andere, wo das so nur schwerlich einen Sinn gibt. 3 Nun könnte man auf den ersten Blick meinen, dass diese Verschiebung der Begrifflichkeit allein dem Wechsel der Sprache geschuldet ist, übersetzt doch James Luther Adams, den Tillich selbst als „besten Kenner“ seiner amerikanischen Schriften bezeichnet hat (GW III, 5), den Begriff „Gehalt“ in den frühen Schriften Tillichs mit dem englischen „substance“. 4 Ohne Zweifel ist es kaum möglich, einen besseren engli1 2 3 4

Und das trifft sowohl auf die von Tillich selbst als auch auf die posthum veröffentlichten Schriften (vgl. z.B. EW XII) zu. MW II, 197-207. 199. Ursprünglich veröffentlicht in: Journal of Religion 26 (2), 1946, 79-86; später aufgenommen in: P. Tillich, The Protestant Era, Chicago 1948, 55-67. Vgl. GW IX, 82-93. 84. Vgl. bes. GW IX, 20 f. Vgl. z.B. P. Tillich, What is Religion? Translated and with an Introduction by James Luther Adams, New York 1973, 165.

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schen Begriff für „Gehalt“ zu finden, aber diese „Not“ scheint doch auch einen sachlichen Grund zu haben. Denn in seinen deutschen Texten, die aus der amerikanischen Zeit stammen, spricht Tillich nicht mehr von Gehalt, sondern von Substanz, so z.B. in seiner Berliner Vorlesung über Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse vom Sommersemester 1958, wo er sagt, „dass […] Religion die Substanz der Kultur ist und die Kultur der Religion die Form gibt“ (EW XVI, 385). Man sollte dies nicht als eine unwesentliche Rückübersetzung von Tillich selbst deuten – das wäre zu einfach, sondern dahinter steckt m. E. auch ein sachliches Interesse. 5 Um es vorweg zu nehmen: Der Begriff Substanz ist ein eminent metaphysisch bzw. ontologisch aufgeladener Begriff, während die Begriffe Form und Gehalt aus dem ästhetischen Bereich stammen, 6 der bekanntlich für Tillich geradezu einen paradigmatischen Charakter für das Verhältnis von Religion und Kultur besitzt. Darüber hinaus weisen diese Begriffe auch eindeutige Konnotationen zur „idealistischen Philosophie“ auf. 7 Bei Tillich stehen diese beiden Begriffe im Zentrum seiner „Sinn“-Lehre. 8 5

6

7 8

Vgl. dazu auch den Beitrag von J. Richard, Tillich’s First and Last Lectures on Philosophy of Religion. Berlin 1920 and Harvard 1962, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919-1920), Wien/Berlin 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 259-278, wo dieser eine sachliche Verschiebung feststellt, nämlich weg von der transzendentalphilosophischen und hin zu einer phänomenologischen bzw. ontologischen Perspektive. Richard macht das daran fest, dass Tillich in der Religionsphilosophie von 1920 (vgl. EW XII, 333-584) von der „kritisch-intuitiven Methode“ (vgl. EW XII, 392) spricht, wohingegen in der Harvard-Vorlesung von 1962 (Tonbandaufzeichnung von Peter John) von der „intuitiv-critical method“ die Rede ist (J. Richard, Tillich’s First and Last Lectures, a.a.O. [Anm. 5], bes. 265-274). Vgl. W. Schüßler, Die Bedeutung der Kunst, der Kunstgeschichte und der Kunstphilosophie für die Genese des religionsphilosophischen und kulturtheologischen Denkens Paul Tillichs, in: P. Tillich, Kunst und Gesellschaft. Drei Vorlesungen (1952). Aus dem Engl. übersetzt., hrsg. und mit einem Nachwort über die Bedeutung der Kunst für das Denken Paul Tillichs von W. Schüßler, Münster 2004 (= Tillich-Studien. Abt. Beihefte, Bd. 1), 49-87, bes. 60-62. Vgl. auch W. Schüßler, „Was uns unbedingt angeht.“ Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs, 3. veränderte und erweiterte Auflage, Berlin 2009 (= Tillich-Studien, Bd. 1), 318-320. H. Dittberner, Art. Gehalt, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hrsg. von J. Ritter, Darmstadt 1974, Sp. 140-145, Sp. 141. Vgl. EW XII, 452: „Es gibt nur ein Einteilungsprincip: das ist das Verhältnis von Form und Gehalt. Dieses aber ist im Stande, alle anderen in sich aufzunehmen.“ Vgl. bes. EW XII, 315-318; dazu die Beiträge von Ulrich Barth und Georg Neu-

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Diese Bedeutungsverschiebung, die ich für fundamental halte und die meiner Überzeugung nach eben auch sachlich begründet ist, weiter zu untermauern, ist eines der Anliegen, das ich in dem vorliegenden Beitrag verfolgen möchte. Dass ich hiermit den Widerspruch all derjenigen Tillich-Forscher geradezu heraufbeschwöre, die Tillich – selbst den späten der amerikanischen Jahre – vornehmlich im Lichte der Transzendentalphilosophie, sei sie nun idealistischer oder neukantianischer Provenienz, deuten, bin ich mir sehr wohl bewusst. Aber ich scheue hier in keiner Weise einen Dissens, lebt doch alle Forschung gerade von einem solchen. 9 In meinen Ausführungen werde ich mich vornehmlich auf den umfangreichsten Text des späten Tillich zum Thema einer „Theologie der Kultur“ beziehen, nämlich auf die zweisemestrige Vorlesung Religion and Culture, die Tillich im Herbst- und Frühjahrssemester 1955/56 jeweils zweistündig, nämlich dienstags und donnerstags, an der Harvard Universität gehalten hat; insgesamt handelt es sich um 45 Vorlesungen. Die zu Anfang genannte kulturtheologische Leitdefinition steht im Mittelpunkt dieser Vorlesungen. 10 Dem 604 Seiten umfassenden Text in Form eines Typoskriptes, der im Deutschen Paul-Tillich-Archiv an der Universitätsbibliothek Marburg aufbewahrt wird, liegt eine Tonbandaufzeichnung von Peter H. John zugrunde. Renate Albrecht hat seinerzeit veranlasst, dass diese von Pfr. Dr. Jan Greso, Bratislava, übertragen wurde. 11 Auf dem von Michel Despland, Jean-Claude Petit und Jean Richard organisierten „Colloque international du centennaire Paul Tillich“, das vom 18. bis 22. August 1986 an der Universität Laval in Québec, Canada,

gebauer in diesem Band. – In seinen Berliner Vorlesungen (1920-1924) (vgl. EW XIII) ordnet Tillich die Philosophiegeschichte nach Form- und Gehaltstypus. Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Dienstbeck in diesem Band. 9 Tillich ist ein komplexer Denker, der von einem Ansatz her nicht hinreichend zu interpretieren ist, hat er doch zeitlebens immer wieder neue philosophische bzw. theologische Gedanken, denen er begegnet ist, in sein eigenes Denken integriert. 10 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 3 (6.10.1955), 18 u.ö. 11 Weitere größere Texte zur Kulturtheologie des späten Tillich finden sich innerhalb der „Paul Tillich Compact Disc Collection“ des Union Theological Seminary in Virginia (3401 Brook Road, Richmond, Virginia 23227, USA): die „Religion and Culture Series (Chicago Lectures, The Divinity School of the University of Chicago)“ von 1961 (7 Discs) sowie die „Religion and Culture Series (Regent Lectures, University of California, Santa Barbara)“ von 1963 (4 Discs).

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stattfand und den Titel trug: Religion et Culture 12 , hat auch Peter H. John einen Vortrag gehalten, der aber nicht in die Tagungsakten aufgenommen wurde; an den genauen Titel seines Vortrages kann ich mich allerdings nicht mehr erinnern. Aber Peter H. John hat in diesem Zusammenhang an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kolloquiums eine 12-seitige Textauswahl, von ihm selbst übertragen, aus den genannten Harvard-Vorlesungen von 1955/56 verteilt, die auch mir vorliegt. 13 Ein Vergleich mit der Gesamtübertragung von Jan Greso zeigt, dass dessen Übertragung der Harvard-Vorlesung recht ordentlich ist. Ich weiß selbst um die Probleme, englische Tonbandaufzeichnungen Tillichs zu übertragen, habe ich doch in meiner Zeit als „professeur invité“ im „semestre d’hiver“ 1987 an der Laval Universität in Québec die Übertragung von Tillichs Vorlesung über Philosophy of religion von 1962 anhand der Tonbandaufzeichnungen kontrolliert und auch korrigiert. 14 Die Vorlesungen Tillichs von 1955/56 haben alle Vor- und Nachteile, die Vorlesungen gewöhnlich an sich haben. Tillich arbeitet hier mit vielen Beispielen, lässt immer wieder Fragen zu und beantwortet diese zum Teil recht ausführlich. Auf diese Weise kommt eine Plastizität ins Spiel, die man in seinen zeitlebens veröffentlichten Schriften nicht selten vermisst. Für eine Publikation erscheinen mir diese Vorlesungen aber als Ganze, so mein vorsichtiges Urteil, weniger geeignet, da sie über Strecken Bekanntes und andernorts Publiziertes zum Teil wiederholen, zum Teil vorwegnehmen – ich denke dabei vornehmlich an die sogenannten kleineren Schriften Tillichs wie The Courage to Be (1952), Love, Power, Justice (1954), Dynamics of Faith (1957), Morality and Beyond (1963), My Search for Absolutes (1967), Passagen aus dem ersten Band seiner Systematic Theology (bzw. aus seinen entsprechenden Vorlesungen, aus denen diese hervorging) oder auch an die erst kürzlich veröffentlichte Berliner OntologieVorlesung von 1951. (Vgl. EW XVI) In einigen grundsätzlichen Fragen 12 Vgl. die Dokumentation dieser Tagung: Religion et culture. Actes du colloque du centenaire Paul Tillich, Université Laval, Québec, 18-22 août 1986, ed. M. Despland/J.-C. Petit/J. Richard, Québec/Paris 1987. 13 Hierbei handelt es sich um Textauszüge aus Lecture 1 (27.09.1955), 3 (6.10.1955), 11 (3.11.1955), 15 (17.11.1955) sowie 46 [45] (1.05.1956). Ab der Vorlesung vom 20.10.1955 ist die Zählung im Typoskript nicht mehr korrekt: Diese wird mit „Lecture 6“ angegeben, dabei handelt es sich um „Lecture 7“. Von daher erklärt sich die Zahl in eckigen Klammern; hierbei handelt es sich um die falsche Zählung im Typoskript. Vor der Klammer steht die von mir korrigierte korrekte Zählung der Vorlesungen. 14 Vgl. J. Richard, Tillich’s First and Last Lectures, a.a.O. (Anm. 5), 259.

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sind diese Harvard-Vorlesungen allerdings sehr aufschlussreich; und darauf will ich im Folgenden näher eingehen. Kurz noch einige Bemerkungen zu Aufbau und Inhalt dieser Vorlesungen. Tillich selbst gibt zwar zwischendurch immer wieder einen Überblick über den Gang der Vorlesungen, was aber dann mit der konkreten Ausführung nicht immer übereinstimmen muss. Von daher ist es nicht ganz einfach, diese systematisch zu strukturieren, werden doch alle möglichen Themen angesprochen und auch, durch die Fragen der Studierenden motiviert, Exkurse eingebaut. Doch kann man die großen Linien aufzeigen, um die es Tillich hier geht. Ausgehend vom Phänomen der Sprache gewinnt Tillich einen ersten Zugang zum Begriff der Kultur. Daran anschließend behandelt er die großen Themen Technik und Wissenschaft, einschließlich Philosophie, natürlich immer auch in ihrem Verhältnis zur Religion, um schließlich zu dem für ihn zentralen Thema des ästhetischen Bereichs, speziell der bildenden Kunst vorzudringen. Diese Ausführungen, in denen er seine Darlegungen durch die Interpretation von 38 bekannten Werken aus der bildenden Kunst, angefangen von Rubens bis hin zu Sutherland, untermauert, bilden einen gewissen Höhepunkt der Vorlesungen. 15 Von der Kunst geht es dann weiter zum Bereich der Erziehung, der auch Fragen der Universität mit einschließt, schließlich zu Problemen der Individualund Sozialethik, bis hin zur Ökonomie und Politik, wo dann gegen Ende das Thema des „religiösen Sozialismus“ aufgegriffen wird. Das Grundthema, das überall mitschwingt, ist stets die grundsätzliche Verhältnisbestimmung von Religion und Kultur. Tillichs Hauptthese, dass Religion gegenwärtig ist in jedem Menschen, weil jeder einen „ultimate concern“ hat, wie auch immer dieser ausgedrückt wird, und dass jede kulturelle Aktivität, ob theoretisch, praktisch oder ästhetisch, letztlich auf einem „ultimate concern“ gründet, sei dieser nun versteckt oder offen, d.h. auf einer religiösen Haltung oder einem Element des Glaubens, wird so nach allen Richtungen hin zu verdeutlichen gesucht. In dieser Weise kommen fast alle Themen seines Denkens, abgesehen von spezifisch theologischen Aspekten, zur Sprache. Von daher wäre es auch berechtigt, diese Ausführungen unter das Stichwort einer „Religionsphilosophie der Kul-

15 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 28 [27] (14.02.1956), 332343, sowie Lecture 29 [28] (16.02.1956), 345-360.

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tur“ zu stellen, worauf Tillich auch schon selbst in seinen Vorlesungen über Religionsphilosophie vom Sommersemester 1920 hinweist. 16

2. Eine neue Herangehensweise an das Thema „Kulturtheologie“ 2.1 Der neue Deutungsrahmen: Tillichs Existentialontologie Spätestens seit seiner Zeit als Professor für Philosophie und Soziologie einschließlich Sozialpädagogik in Frankfurt am Main von 1929 bis zu seiner Emigration in die USA im Jahre 1933 hat Tillich an der Ausarbeitung einer Philosophie der Begegnung gearbeitet. Sind seine Vorlesungen über Geschichtsphilosophie von 1929/30 noch wesentlich auf den Sinnbegriff ausgerichtet (vgl. EW XV, 37. 40), weil er meint, dass eine neue Ontologie, die auf dem Seinsbegriff aufbaut, das Neue nicht miteinschließen könne, da das Sein „ganz und ungeteilt“ ist, 17 so scheint er in seinen Berliner Vorlesungen über Ontologie aus dem Jahre 1951, die die Grundlage abgeben für die philosophische Fundierung seiner 3-bändigen Systematischen Theologie, eine gewisse Kehrtwendung vorzunehmen, wenn hier der Seinsbegriff in den Mittelpunkt seines Interesses rückt, wobei der Sinnbegriff dadurch aber nicht verabschiedet wird, sondern weiterhin mitschwingt. Dass Tillich aber jetzt ohne Not auf den Seinsbegriff rekurrieren kann, liegt daran, dass er das Sein wesentlich in Polaritäten denkt, betonen diese doch dessen dynamischen Charakter – angefangen bei der grundlegenden Polarität von Selbst und Welt bis hin zu den bekannten drei weiteren Polaritäten: Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form sowie Freiheit und Schicksal, die er aus der genannten Grundpolarität ableitet. 18 Mit der Selbst-Welt-Korrelation als Ausgangspunkt seiner neuen, konstruktiven Ontologie ist der Anspruch verbunden, die ungelösten Aporien sowohl der klassischen Metaphysik als auch der neuzeitlichen Transzen16 Vgl. EW XII, 418. Vgl. dazu W. Schüßler, Die Bedeutung der Kunst, der Kunstgeschichte und der Kunstphilosophie, a.a.O. (Anm. 6), 49-87, hier: 56; Anm. 17. 17 Vgl. EW XV, 201: „Vom Seinsbegriff aus, der für die griechische Philosophie maßgebend ist, ist das Neue abgeschnitten, denn das Sein ist, wenn es ist, ganz und ungeteilt.“ 18 Vgl. dazu C. Acapovi, L’Être et l’Amour: Une étude de l’Ontologie de l’Amour chez Paul Tillich, Berlin 2010 (= Tillich-Studien, Bd. 22), bes. 95-172.

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dentalphilosophie hinter sich zu lassen. 19 Denn beginnt man mit der Welt der Objekte, dann ist es nach Tillich unmöglich, wieder zurückzukommen zum Subjekt. (Vgl. EW XVI, 23) Aus diesem Grunde haben Philosophen wie Descartes, Kant und in ganz besonderem Maße Fichte Tillich zufolge auch „eine Wendung zum Subjekt“ vollzogen – die sogenannte „transzendentale Wende“. Aber hier stellt sich nach Tillich ein ähnliches Problem ein; denn nun war es nicht mehr möglich, aus der Welt des Subjekts zurückzukehren zur Welt der Objekte. Zu diesen gegenläufigen Versuchen sagt Tillich ausdrücklich: „Es ist dem Idealismus nie gelungen, nachdem er das Objekt ausgeschaltet hat, vom Subjekt zu ihm zurückzufinden, wie es dem Realismus, Naturalismus und Materialismus nie gelungen ist, nachdem sie das Subjekt ausgeschaltet haben, vom Objekt her zurückzukehren.“ (Ebd.)

Nach Tillich müssen wir aus diesem Grunde an einer Stelle anfangen, die noch eine Schicht tiefer liegt als die Subjekt-Objekt-Korrelation. Und diesen Ausgangspunkt bildet für ihn die sogenannte Selbst-Welt-Korrelation, wobei der Begriff „Selbst“ nicht auf das cartesische Cogito reduziert werden darf, wenn man auch dessen Ausgangspunkt erkenntnistheoretisch akzeptieren muss. Doch ist nach Tillich über das Erkenntnistheoretische hinaus zu fragen, ob Sein nicht mehr ist als Bewusstsein. Das „Selbst“ will er in diesem Sinne als eine „umfassende Ganzheit“ verstanden wissen (vgl. EW XVI, 26), die in verschiedenen Abstufungen auftritt, deren höchster Grad aber ohne Zweifel erst im Menschen erreicht wird, weshalb Tillich hier den Begriff „Ich-Selbst“ vorzieht. (EW XVI, 28) Was bedeuten diese Überlegungen für unser Thema einer „Kulturtheologie“? In den Harvard-Vorlesungen von 1955/56 greift Tillich den Begriff der Begegnung auf, wenn er die Kultur als kreative Begegnung eines Selbst mit sich selbst und mit seiner Welt versteht. 20 D.h. es geht 19 Diese Existentialontologie Tillichs kann man nicht auf eine Ontologie der Vernunft reduzieren, denn das käme ja einem Rückfall in den transzendentalphilosophischen Ansatz gleich, den existenzphilosophisches Denken aber gerade hinter sich lassen möchte. Tillich macht in diesem Zusammenhang auch eigens darauf aufmerksam, dass die Erkenntnisprinzipien immer auch schon Seinsprinzipien sind (vgl. EW XVI, 108; ST I, 225), was allerdings ebenso wenig einen Rückfall in den seinsphilosophischen Ansatz bedeuten soll. Seine diesbzgl. Ausführungen haben eine gewisse Nähe zu Jaspers’ „Periechontologie“, der „Lehre des Umgreifenden“. Vgl. dazu W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, Hamburg 1995, 101111. Hier wende ich mich also strikt gegen die entsprechende Interpretation von Ulrich Barth in diesem Band. 20 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 1 (27.09.1955), 3.

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hier um eine wechselseitige Teilhabe des Subjekts der Begegnung mit dem Objekt der Begegnung, die überall vor sich geht und in der Kultur eine ganz spezielle Form annimmt, nämlich die Form kreativer Begegnung. Demgegenüber sind die meisten anderen Begegnungen eher flüchtiger Natur, da hier nichts Bleibendes geschaffen wird. „Kreativ“ versteht Tillich hier in einem qualifizierten Sinne: Gemeint ist, dass in einem kreativen Akt beide Seiten verändert werden, das Subjekt und das Objekt. Auf diese Weise wird etwas „qualitativ Neues“ erschaffen, und dieses qualitativ Neue besitzt Seinsmächtigkeit. In diesem Sinne kann z.B. ein gutes Gemälde über Jahrhunderte hinweg auf Menschen eine große Ausstrahlung ausüben. 21 Entscheidend ist aber, dass aus dem Umstand, dass der Mensch Welt hat, überhaupt erst die Möglichkeit erwächst, dass er sich eine Kultur aufbaut. 22 Diese Bestimmung hält Tillich für die Voraussetzung jeder Philosophie der Kultur und auch für die grundlegende Möglichkeit der Religion. 23 Für das Ich-Selbst ist es bezeichnend, dass es alles, was ist, gegenüber hat. Diese Fähigkeit gründet letztlich in der Freiheit des Menschen. 24 Damit sind wir auch schon bei dem anthropologischen Argumentationskontext angelangt, mit dem Tillich seine „Kulturtheologie“ in den HarvardVorlesungen begründet. 2.2 Der neue anthropologische Argumentationskontext: Sprache als die grundlegende kulturelle Schöpfung Mit Ernst Cassirer 25 ist Tillich davon überzeugt, dass einer Lehre von der Kultur eine Lehre vom Menschen vorauszugehen hat. Und in diesem Zusammenhang macht Tillich Anleihen bei dem Begründer der modernen Philosophischen Anthropologie, Max Scheler, besonders was dessen Begriff der Weltoffenheit angeht. 26 21 22 23 24 25

Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 1 (27.09.1955), 4. Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 1 (27.09.1955), 5. Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 1 (27.09.1955), 6. Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 1 (27.09.1955), 5. Vgl. E. Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven 1944 (dt.: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Frankfurt/Main 21991). 26 Vgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn 121991, bes. 3941.

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So wie jedes Tier seine je spezifische Umwelt hat, hat der Mensch „Welt“, denn er ist in der Lage, jede mögliche Umwelt zu überschreiten. (Vgl. EW XVI, 30) Selbst und Welt sind aber nach Tillich beides Korrelationsbegriffe. Sowenig wie man den Begriff Ich-Selbst von dem Begriff Welt trennen kann, sowenig kann man den Begriff Welt von dem Begriff Ich-Selbst trennen, da man sich die Welt nicht als eine Schachtel zu denken hat, in der sich endlich oder unendlich viele Dinge befinden (vgl. EW XVI, 29), sondern Welt ist wesentlich als „Kosmos“ zu begreifen, d.h. als Ordnungsstruktur, „und diese Struktur ist als Struktur eine Einheit“ (EW XVI, 30). Mit dem Haben von Welt, von Scheler als „Weltoffenheit“ bezeichnet, ist ein weiterer wesentlicher Aspekt des Menschen verbunden: die Sprache. Denn wo Freiheit ist, haben wir Sprache, und wo Sprache ist, haben wir Freiheit. 27 Sprache ist darum für Tillich die grundlegende kulturelle Funktion, und gleichzeitig ist sie auch die flexibelste. Alle kulturellen Funktionen werden von Worten begleitet; Sprache ist überall gegenwärtig: in der Wissenschaft, in der Dichtung, im Recht, in ethischen Geboten, in symbolischen Ausdrücken. 28 Nach Tillich hätte so mancher Fundamentalismus vermieden werden können, wenn man dies berücksichtigt hätte. 29 Der Mensch hat Sprache, weil er ein Selbst hat, dem er begegnen und das er transzendieren kann, und weil er eine Welt hat, der er begegnen und die er transzendieren kann. 30 Mit der Sprache ist immer auch schon die Macht des Geistes verbunden, Universalien zu erschaffen. 31 Selbst der Werkzeuggebrauch beim Menschen basiert so letztlich nach Tillich auf der Sprache, weil der Mensch in der Lage ist, Werkzeuge als Werkzeuge herzustellen. Tillich spricht hier vom „als-Charakter“ (as character), und damit sind wir beim Begriff des Universale. 32 Dass Tillich in den Harvard-Vorlesungen mit der Sprache und der technischen Funktion und nicht mit der theoretischen oder Erkenntnisfunktion beginnt, hat seinen Grund darin, dass für ihn der Mensch zuerst nicht ein Wesen ist, das auf die Wirklichkeit schaut, sondern ein Wesen,

27 28 29 30 31 32

Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 24 [23] (2.02.1956), 286. Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 1 (27.09.1955), 6. Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 1 (27.09.1955), 7. Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 1 (27.09.1955), 6. Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 1 (27.09.1955), 5. Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 2 (29.09.1955), 9 f.

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das Werkzeuge für Zwecke verwendet. Mit Heidegger 33 ist Tillich also der Überzeugung, dass die technische Funktion sozusagen metaphysisch älter ist als die theoretische Funktion. 34 Die fundamentale Rolle der Sprache wird nach Tillich auch deutlich im Verhältnis von Religion und Sprache. Das kann auch nicht anders sein, denn wenn Religion die Substanz der Kultur ist und Kultur die Form der Religion, dann muss das auch für das Verhältnis von Religion und Sprache gelten, ist doch die Sprache für Tillich die grundlegende kulturelle Funktion. Hier ergeben sich nun für Tillich zwei Fragen: einmal die nach der Gegenwart eines „ultimate concern“ in der Sprache als Sprache, sodann die nach der Natur der religiösen Sprache im Unterschied zu anderen Formen der Sprache. In diesen zwei Fragen wird auch exemplarisch der weitere Gang der Vorlesungen deutlich. Denn überall geht es um diese beiden Betrachtungsweisen in Bezug auf alle anderen Funktionen der menschlichen Kultur: nämlich erstens um die Frage nach dem verborgenen „ultimate concern“ hinter einer kulturellen Funktion und zweitens um die Bedeutung der Religion in Bezug auf diese Funktion und um ihre gegenseitige Abhängigkeit. 35 Diese Ausführungen sollen an der Stelle genügen, und ich möchte jetzt nicht weiter auf Tillichs diffizile und komplexe Erörterungen zum Verhältnis von Religion und Sprache eingehen, was Thema eines eigenen Beitrags wäre. 36 Auch die weiteren Erörterungen, die das Verhältnis der Religion zu den verschiedensten Funktionen der menschlichen Kultur angehen, können hier übergangen werden, da sie aus anderen Texten allseits bekannt sind, wenn auch nicht immer in dieser Ausführlichkeit. Mir ging es hier nur darum zu zeigen, dass der späte Tillich eine ganz neue Herangehensweise zum Thema „Kulturtheologie“ entwickelt hat, die aufbaut auf seiner Existential-Ontologie einerseits und seiner Lehre vom Menschen andererseits. Demgegenüber spielt der anthropologische Argumentationskontext in seinem programmatischen Aufsatz Über die Idee einer Theologie der Kultur 33 Vgl. M. Heidegger, Die Frage nach der Technik (1949), in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 13-44. 34 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 2, (29.09.1955), 11. 35 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 4 (11.10.1955), 29. 36 Vgl. GW V, 187-244; dazu Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion, Wien/Berlin 2007 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 2/2006).

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von 1919 noch überhaupt keine Rolle. Hier wird vornehmlich „theo-logisch“ argumentiert: So wie Gott kein Gegenstand „neben“ anderen Gegenständen ist, so ist auch Religion keine Geistesfunktion „neben“ anderen. 37

3. Eine neue Konsequenz: kein falscher Aktivismus, sondern „Warten in intensivster Spannung“ Nicht nur seine Definition des Verhältnisses von Religion und Kultur und seine Herangehensweise an dieses Thema ist neu, sondern neu sind auch die Konsequenzen, die Tillich aus seiner zeitdiagnostischen Analyse zieht, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine andere ist als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Tillich kommt hierauf auf den letzten Seiten seiner Vorlesungen zu sprechen, es sind genau genommen nur vier Seiten, aber diese vier Seiten sind von größter Bedeutung für das Verständnis seiner gedanklichen Entwicklung: Hier geht es um die bekannten Begriffe „Autonomie“, „Heteronomie“ und „Theonomie“. Die allgemeinen Voraussetzungen seiner Vorlesungen zusammenfassend, macht er darauf aufmerksam, dass Religion oft versucht hat, die Kultur in einer heteronomen Weise zu beherrschen – durch kirchliche Gesetze, die im Namen einer göttlichen Offenbarung gerechtfertigt wurden. 38 Die Reaktion darauf, dieses Schema ist wohlbekannt, war die Autonomie, die in allen kulturellen Bereichen durchbrach, in Opposition zur Heteronomie. Was so auch beim Jugendlichen zu beobachten ist, wenn er sich von der Heteronomie der Eltern, LehrerInnen und ErzieherInnen löst, wird besonders anschaulich in der Geschichte der Moderne, geht es doch hier um ein fundamentales Problem der menschlichen Existenz insgesamt. Aber die Autonomie, auf sich gestellt, wird leer, wenn ihr die Tiefendimension oder die Dimension des Unbedingten fehlt. Auf diese Weise werden neue Heteronomien hervorgetrieben, die in dieses Vakuum einströmen – wir können das besonders deutlich an den totalitären Heteronomien des 20. Jahrhunderts sehen. 39 37 Vgl. GW IX, 14. 18 u.ö. 38 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 46 [45] (1.05.1956), 600. 39 Vgl. dazu W. Schüßler, Der Begriff des Dämonischen. Zu einer zentralen Kategorie von Paul Tillichs Denken, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“, a.a.O. (Anm. 6), 331-343.

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Tillich kommt dann auf die Änderung seiner Einstellung zu sprechen, wie sie sich bei ihm nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – im Gegensatz zum Ende des Ersten Weltkriegs – herausgebildet hat. Mit Verweis auf seinen Beitrag Religion and Secular Culture von 1946 40 beschreibt er diese Veränderung – kurz zusammengefasst – wie folgt: 41 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erwartete man das Heraufkommen eines Kairos, den Durchbruch des Ewigen in die Zeit, wurde dieses Ende doch als etwas Prophetisches erlebt, wobei das Bewusstsein hiervon in allen Bereichen geistigen Lebens ungeheuere Kreativität freigesetzt hat. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Situation demgegenüber eine andere. Tillich spricht hier zwar auch noch von einem Kairos, aber nun von einem „negativen“. Das Gefühl, dass etwas Positives getan werden müsse oder so etwas kommen würde, war nun nicht mehr da, sondern – ganz im Gegenteil – es überwog das Gefühl einer Nichtigkeit und Leere (a void, an emptiness). In dieser Situation kann es nach Tillich nicht darum gehen, dieses Vakuum mit einer Wiederkehr der Religion zuzudecken, wie wir sie selbst heute nicht selten erleben, denn eine solche bedeutet zumeist nur eine Form der Flucht aus dieser Situation. Wir sollten diese Situation nach Tillich aber ebenso wenig durch kulturelle Aktivität oder technischen Fortschritt zuzudecken versuchen, was bis in die jüngste Gegenwart hinein mit einer ungeheuren Geschwindigkeit geschieht. Ein falscher Aktivismus ist also fehl am Platz. Vielmehr sollte nach Tillich dieses grundlegende Gefühl der Leere, das heute überall Platz greift, dazu führen, dass nun von uns verlangt ist, still zu stehen im Sinne eines Innehaltens und Wartens (to stand and to wait) – dies aber nicht im Sinne einer falsch verstandenen Passivität, sondern im Sinne „einer intensivsten Spannung“ (of most intensive tension). Denn nur so kann diese Epoche nach Tillich eine Zeit der höchsten Möglichkeiten werden, auch der Möglichkeiten in Bezug auf das, was allein zählt, nämlich „unser ultimate concern“. In dieser Einsicht sieht Tillich die Bedeutung seiner Harvard-Vorlesungen programmatisch zusammengefasst. Von hier aus betrachtet war der Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur von 1919 mit Enthusiasmus geschrieben (vgl. GW IX, 83), einem Enthusiasmus, aus dem heraus auch die Idee des religiösen Sozialismus entstanden ist. 40 Vgl. MW II, 197-207; GW IX, 82-93. 41 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 46 [45] (1.05.1956), 603 f.

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„Aber die Geschichte“, so bekennt Tillich Jahre später, „ging einen anderen Weg, und die Frage nach Religion und Kultur kann nicht einfach mit den Begriffen Autonomie, Heteronomie, Theonomie beantwortet werden. Ein neues Element ist in das Bild hineingekommen – die Erfahrung des Endes.“ (GW IX, 87)

Schon in dem genannten Beitrag Religion and Secular Culture von 1946 findet sich eine ähnliche Einschätzung wie 1955/56, wenn Tillich hier von einem „Schock durch diese Leere“ (ebd.) spricht – und damit nähert er sich den diesbezüglichen Analysen Viktor E. Frankls an, der bekanntlich von einer „soziogenen Neurose“ spricht, die unsere Gesellschaft befallen hat: die Leere und der Sinnverlust. 42 Wo diese Leere bejaht wird, „kann das Vakuum der Auflösung ein Vakuum werden, aus dem heraus Schöpfung möglich ist, eine ‚heilige Leere‘ sozusagen, die die Qualität des Wartens, eines Noch-nicht, eines Von-oben-her-Gebrochen-seins in all unsere kulturelle schöpferische Tätigkeit hineinbringt.“ (GW IX, 87 f.) Und dann heißt es: „Dies ist der Weg – vielleicht der einzige Weg –, auf dem unsere Zeit eine theonome Einheit zwischen Religion und Kultur erreichen kann.“ (GW IX, 88) D.h. aber gleichzeitig, dass die Erfahrung des Endes die Idee der Theonomie in keiner Weise untergräbt, worauf Tillich auch eigens aufmerksam macht. (Vgl. ebd.)

4. Resümee: Tillichs Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie Tillich hielt seinen programmatischen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur von 1919 bekanntlich vor der Berliner Abteilung der KantGesellschaft. Ob er seine Auffassung, wie sie in den Harvard-Vorlesungen von 1955/56 zum Ausdruck kommt, auch noch vor der Kant-Gesellschaft vorgetragen hätte, halte ich für fraglich. Die Zeiten hatten sich verändert. War die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg durch eine Krisensituation gekennzeichnet, so diejenige nach dem Zweiten Weltkrieg durch Sinnleere. Eine neue Situation erfordert neue Antworten. Und neue Antworten erfordern eine neue Herangehensweise an das Thema, und sie führen auch zu neuen Konsequenzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. schon mit seiner Emigration in die USA, d.h. mit dem Absehen der Katastrophe, in die die Nazi-Herrschaft führte, konnte Tillich den Akzent nicht mehr so sehr auf den transzendentalphilosophischen Ansatz legen, der aber auch 42 V. E. Frankl, Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie, München 1991, 12. 264.

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schon in seiner frühen Zeit durch die „intuitive“ Methode der Phänomenologie sein Korrektiv erhielt. 43 Religion als „Selbstverhältnis des Geistes“ zu begreifen 44 , das war jetzt keine befriedigende Antwort mehr auf die „Zeichen der Zeit“. Transzendentalphilosophische bzw. subjekttheoretische Deutungen Tillichs mögen ihren Ort haben in einer frühen Werkperiode seines Denkens, sie werden aber fraglich, wenn man sie dem späten Tillich überzustülpen sucht. 45 Tillich warnt in seinen Harvard-Vorlesungen von 1955/56 auch selbst davor, einen Autor nicht in dem ernst zu nehmen, was er sagt. Bei seinen Ausführungen zum Begriff der historischen Wahrheit 46 kommt er nämlich auch auf die Interpetation von Texten zu sprechen, und er betont in diesem Zusammenhang in Anlehung an Heraklit, dass man morgen nicht derselbe ist wie heute, was in Bezug auf die hier anstehende Frage bedeutet, dass „Verstehen“ einen Text nicht unverändert lässt, sondern dass dadurch selbst immer auch etwas Neues kreiert wird, nämlich der verstandene Text – eine Einsicht, die Gadamer bekanntlich nur wenige Jahre später, nämlich 1960, in seiner Schrift über Wahrheit und Methode breit entfaltet hat. 47 D.h. der verstandene Text ist nun nicht mehr einfach der Text, der da steht, sondern es ist der Text, der einen ergriffen hat, und es ist der Text, den man selbst ergriffen hat. 48 Tillich spricht in diesem Zusammenhang vom „Geheimnis des Verstehens“, das er an Platon verdeutlicht, indem er darauf hinweist, dass dessen Verstehen seiner eigenen Texte nie exakt damit übereinstimmte, als was er diese niedergeschrieben hat. Auch unsere eigenen Texte bedeuten ja später selbst für uns nicht mehr das, was sie früher einmal für uns bedeuteten, als wir sie niedergeschrieben haben. Und wir wissen meist auch nicht einmal mehr genau, was sie bei 43 Vgl. GW I, 385 f. Siehe dazu auch oben Anm. 5. 44 Ch. Danz, „Alle Linien gipfeln in der Religion des Paradox.“ Tillichs religionsgeschichtliche Konstruktion der Religionsphilosophie, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 5), 215-231, hier: 218. 45 Vgl. dazu auch H. Deuser, Gottes Poesie oder Anschauung des Unbedingten? Semiotische Religionstheorie bei C. S. Peirce und P. Tillich, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion, a.a.O. (Anm. 36), 117-134. 120. C. Acapovi, L’Être et l’Amour, a.a.O. (Anm. 18), bes. 39 f. 46 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 14 [13] (15.11.1955), 143 ff. 47 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960. – Vgl. dazu den Beitrag von Hartmut von Sass in diesem Band. 48 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 14 [13] (15.11.1955), 146.

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der Niederschrift für uns bedeutet haben. Sie mögen später zwar nicht etwas „ganz anderes“ meinen, aber sie meinen doch etwas anderes. 49 Von daher kreieren die großen Denker selbst immer schon einen neuen Text, noch bevor Schüler und Epigonen, oder in unserem Falle Tillich-Experten, dies tun. Tillich betont in diesen Vorlesungen auch ausdrücklich, dass die Ontologie das Herzstück der Philosophie ist. Denn der Philosophie geht es als Philosophie wesentlich darum zu wissen, was die Wirklichkeit ist, in der wir leben. 50 Die Einsicht, dass das keinen naiven Seinsrealismus à la Aristoteles oder Thomas von Aquin bedeuten muss, teilt Tillich mit anderen prominenten Vertretern der Existenzphilosophie wie etwa Karl Jaspers. Dass sich Tillich aber in seiner amerikanischen Zeit immer mehr vom Kantischen bzw. idealistischen Erbe entfernt hat, wird aus seinen Harvard-Vorlesungen von 1955/56 mehr als deutlich. So betont er mit Hinweis auf Nicolai Hartmann 51 , dass man keine Erkenntnistheorie ohne Metaphysik betreiben könne, und er qualifiziert diese Einsicht Hartmanns, die er in seiner Schrift Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis von 1921 zum Ausdruck gebracht hat, geradezu als einen „Wendepunkt“. 52 Und Tillich berichtet in diesem Zusammenhang auch, dass er als junger Gymnasialschüler an der Berliner Universität den Vortrag eines bekannten Theologieprofessors gehört habe, der gesagt habe, dass, wie Platon der Philosoph der griechischen Orthodoxie und der anglikanischen Kirche sei und Aristoteles der Philosoph der römisch-katholischen, so sei Kant der Philosoph der protestantischen Kirche. 53 Und dann fügt er wortwörtlich 49 Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 14 [13] (15.11.1955), 147. 50 Vgl P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 2 (29.09.1955), 12. 51 Vgl. N. Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlin 1921, 51965. Hartmann vertritt hier die These, dass das Erkenntnisproblem weder ein psychologisches noch ein logisches, sondern im Grunde ein metaphysisches Problem sei. Im Gegenzug zu Kant will er zeigen, dass die Erkenntnistheorie oder Erkenntniskritik nicht die Grundlage aller Philosophie abgibt, sondern dass das Erkenntisproblem als solches immer schon einen metaphysischen Einschlag hat. Die Erkenntnisphänomene haben zwar immer auch eine logische und psychologische Seite, doch geht ihr Wesen hierin nicht auf. Der Kantischen These: „Keine Metaphysik ohne Kritik“ stellt er so ihre „natürliche Antithese“ gegenüber: „Keine Kritik ohne Metaphysik.“ Erkenntnistheorie und Metaphysik bedingen also einander. 52 P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 17 [16] (29.11.1955), 191. 53 Es handelt sich hierbei um eine Rede von Julius Kaftan zum 100. Todestag Kants, die dieser am 12. Februar 1904 an der Berliner Universität gehalten hat.

Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie

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hinzu: “I was deeply impressed, but not convinced! And I am today less than ever!“ 54 In diesem Zusammenhang betont Tillich auch noch einmal eindringlich, dass heute der Existentialismus – in einem sehr weit verstandenen Sinne 55 – als das entscheidende philosophische Paradigma zu begreifen und folglich auch von der Theologie zu gebrauchen ist. 56 Mit Blick auf die Tiefenpsychologie geht Tillich sogar noch einen Schritt weiter, wenn er davon spricht, dass deren Einsichten klar gezeigt hätten, dass nicht nur die Haltung einer Psychologie und Ethik des Bewusstseins (morals of consciousness), sondern ganz allgemein auch die Haltung einer Philosophie des Bewusstseins, die gemeinhin Idealismus genannt wird, falsch sei. 57 Mit dieser Auffassung steht der späte Tillich nicht alleine da; der christliche Existenzphilosoph Peter Wust hat sich in ähnli-

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Die Rede Kaftans ist erschienen unter dem Titel: Kant, der Philosoph des Protestantismus, Berlin 1904. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 17 [16] (29.11.1955), 192. Dieses Urteil hat auch mich doch sehr erstaunt, weil ich selbst Tillich in diesem Zusammenhang auch immer wieder in Verbindung mit Kant gebracht habe, besonders was seine Ablehnung der sogenannten „Gottesbeweise“ angeht. Vgl. dazu W. Schüßler, Protestantisches Prinzip versus natürliche Theologie? Zu Paul Tillichs Problemen mit einer natürlichen Theologie, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“, a.a.O. (Anm. 6), 161-173, bes. 167 f. – Aber in den HarvardVorlesungen von 1955/56 sagt Tillich ausdrücklich, dass man hierzu nicht unbedingt auf Kant zurückgehen müsse, sondern dass sich ähnliche Gedanken bereits bei Duns Scotus finden würden. Vgl. Lecture 20 [19] (8.12.1955), 234. Dass sein diesbezügliches Urteil zu Duns Scotus historisch so nicht haltbar ist, ist eine andere Frage. Denn Duns Scotus lehnt zwar die thomistischen „quinque viae“ ab, entwickelt aber, ausgehend vom ontologischen Argument Anselms einen eigenen Beweis. Vgl. dazu Q. Huonder, Die Gottesbeweise. Geschichte und Schicksal, Stuttgart 1968, 58. W. Weischedel, Der Gott der Philosophen, Bd. 1, Darmstadt 1979, 142-144. Tillich versteht unter dem Begriff „Existentialismus“ also nicht die atheistische Engführung à la Jean-Paul Sartre oder Albert Camus, sondern er versteht diesen Begriff in einem sehr weiten Sinne als „Gesichtspunkt“, „Protest“ und „Ausdruck“ (vgl. EW XVI, 179-209). Vgl. P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 17 [16] (29.11.1955), 193. Vgl. Religion and Culture (1955/56), Lecture 23 [22] (20.12.1955), 271. Der Ausdruck „morals of consciousness“ ist nur schwerlich ins Deutsche zu übersetzen. Tillich wird hier aber ohne Zweifel an Kant gedacht haben. So wie die Tiefenpsychologie die Bewusstseinspsychologie als leitendes Paradigma abgelöst hat, so hat auch die Lebens- und Existenzphilosophie den Idealismus und Neukantianismus abgelöst.

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cher Weise geäußert. 58 In diese Richtung geht auch ein Hinweis von Peter H. John: “He [sc. Tillich] once said that if he were to choose a vocational title, he would like to be known as ‘an interpreter of life’.” 59 Man sollte aus den genannten Gründen den Versuchen eines Wegerklärens des existential-ontologischen Ansatzes bei Tillich aufgrund einer genetischen Interpretation sehr zurückhaltend gegenüberstehen. Denn was Tillich in den Harvard-Vorlesungen im Zusammenhang des Problems von Genese und Geltung sagt, sollte auch in Bezug auf die Interpretation seiner Schriften Berücksichtigung finden: “But be very cautious in this method [sc. the genetic method]; always be prejudiced towards each other, and towards any figure in the past, that he knows what he is talking about and that he means it, and that it has some place in the whole of his thinking. And refute him in terms of arguments, but not in terms of sociological or psychological analysis, except in extreme cases where it is obvious that you cannot deal with him in terms of rational discussions.” 60

Ein solcher Extremfall, den Tillich hier anspricht, liegt aber bei ihm selbst sicherlich nicht vor, und so ist Letzteres keine wirkliche Option beim Verstehen seiner späten Texte. Es gibt eben für Tillich – und hier stimme ich, bei aller sonstigen Divergenz, mit Ulrich Barth überein – nicht den einen, einzig richtigen Weg. Tillich hat sich im Laufe seines Denkens verschiedener philosophischer Vehikel bedient, um sein theologisches Denken zu transportieren. Und dieses philosophische Vehikel war eben in seinem Spätwerk nicht mehr der bewusstseins- bzw. sinntheoretische Ansatz, sondern der existentialontologische, verbunden mit einer anthropologischen Argumentationsfigur. Das genau macht auch Tillichs Größe aus, dass er nämlich nicht von einem Ansatz her hinreichend zu erfassen ist. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt. Wäre er bei dem bewusstseinstheoretischen Ansatz stehen geblieben, so hätte er sicherlich nicht die Bedeutung erlangt, die er schließlich – mit Blick auf die USA – erlangt hat. Denn es ist ja gerade die Anknüpfung an Theoreme der Existenzphilosophie und der Philosophischen Anthropologie, verbunden mit ontologischen Fragestellungen, die Tillichs Denken so aktuell und lebensnah macht. 58 Vgl. M. Röbel, Das „Andere der Vernunft“ – Staunen und Ehrfurcht bei Peter Wust, in: Trierer Theologische Zeitschrift 117 (3), 2008, 181-191. 59 P. H. John, Tillich: The Words I Recorded, the Man I Knew, in: The North American Paul Tillich Society Newsletter, 29 (1), 2003, 4-11, hier: 8. 60 P. Tillich, Religion and Culture (1955/56), Lecture 14 [13] (15.11.1955), 143.

B. Tillichs Kulturtheologie im Kontext

Absolutheitserfahrung und Individualitätskultur. Zur Epistemologie von Paul Tillichs Kulturtheologie in Auseinandersetzung mit Ernst Troeltsch und Georg Simmel FRIEDEMANN VOIGT Die hier ins Auge gefasste Rekonstruktion möchte die Kulturtheologie Tillichs in seinen frühen Vorlesungen, auf diese bleiben die Ausführungen begrenzt, auf der Folie der Kulturphilosophie Simmels und des theologischen Programms Ernst Troeltschs lesen. Die leitende Ausgangshypothese ist, dass Simmel, Troeltsch und Tillich drei unterschiedliche Verarbeitungen der modernen Individualitätskultur und ihres Religionsbezugs darstellen, die in der Tat geradezu als idealtypische Alternativen der modernen Kulturtheorie gelten können. Das ist natürlich weiter zu präzisieren: Die Interpretation soll im Kontext derjenigen Kulturtheorien jener „Achsenzeit der modernen Wissenschaft“ 1 um 1900 erfolgen, in denen die Konzeptualisierung der modernen Kulturbedeutung der Religion mittels der Individualismus-Thematik erfolgte. Ein spezifisch theologisches Interesse ist naturgemäß bei dem Philosophen Simmel nicht zu finden. Aber seine Kultur- und Religionstheorie kann als Folie dienen, auf der die theologischen Abzweckungen Troeltschs und Tillichs besonders kontrastreich darzustellen sind. So hat Tillich selbst formuliert: „Kulturtheologische Aufgaben sind oft gestellt und gelöst worden von theologischen, philosophischen, literarischen und politischen Kulturanalytikern (z. B. Simmel).“ 2 Indem mir aufgegeben wurde, diese von Simmel – wie zu zeigen sein wird: mehr gestellte als gelöste – „kulturtheologische Aufgabe“ im Zusammenhang mit Troeltsch und sodann bezogen auf Tillich dazulegen, ergeben sich einige vorab zu thematisierende Weichenstellungen, die

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R. Kany, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, GW IX, 13-31. 22.

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gerade auch bezogen auf den Stand der neueren Tillich-Forschung zu nennen sind. In den letzten Jahren sind eine Reihe gründlicher Arbeiten zu Paul Tillichs Lektüre von Georg Simmel und Ernst Troeltsch erschienen. 3 Sie ergänzen das Bild eines enorm konsumtionsfähigen und anverwandlungsfreudigen Tillich, der selbstbewusst und konstruktionswillig die Gedanken Troeltschs und Simmels kritisch in sein eigenes Denken integrierte. Schwerpunktmäßig beschäftigen sich diese Arbeiten mit den späten kultur- und lebensphilosophischen Texten Simmels und den geschichtsphilosophischen Texten des Berliner Troeltsch. Einigkeit besteht auch darin, dass gerade die geschichtsphilosophischen Überlegungen Tillichs einen Schlüssel zum Verständnis seiner Theologie bilden.

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P. Haigis, Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur, Marburg 1998. W. Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion. Der Religionsbegriff im Werk Paul Tillichs, Frankfurt/Main 1989, bes. 108-116 (Der Einfluß von Simmels Rembrandt-Interpretation auf Tillichs Religionsverständnis). E. Sturm, Selbstbewusstsein zwischen Dynamik und Selbst-Transzendenz des Lebens und unbedingter Realitätserfassung. Paul Tillichs kritische Rezeption der Religions- und Lebensphilosophie Georg Simmels, in: Ch. Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004 (= Tillich-Studien, Bd. 9), 23-47. A. Dumais/J. Richard (Hg.), Ernst Troeltsch et Paul Tillich. Pour une nouvelle synthèse du christianisme avec la culture de notre temps, Québec 2002. H. Fischer, Tillichs Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft in theologiegeschichtlicher Perspektive, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Wie viel Vernunft braucht der Glaube?, Wien 2005 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 1/2005), 17-36. M. Harant, Religion – Kultur – Theologie. Eine Untersuchung zu ihrer Verhältnisbestimmung im Werke Ernst Troeltschs und Paul Tillichs im Vergleich, Frankfurt/Main u.a. 2009. F. Wittekind, Die Vernunft des Christusglaubens. Zu den philosophischen Hintergründen der Christologie der Marburger Dogmatik, in: Ch. Danz/ W. Schüßler/ E. Sturm (Hg.), Wie viel Vernunft braucht der Glaube?, a.a.O., 133-157. Ders., ‚Sinndeutung der Geschichte‘. Zur Entwicklung und Bedeutung von Tillichs Geschichtsphilosophie, in: Ch. Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie, a.a.O., 135-172.

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In der Konstellation Simmel – Troeltsch – Tillich 4 machen sich hingegen noch eigene Gesichtspunkte geltend, die vor allem die Frage der theologischen Programmatik betreffen. Die von Tillich angestrebte Synthese von Kulturdeutung und religionsphilosophischer Theologie in einer „Kulturtheologie“ ist bis in die Bezeichnung hinein ein Gegenentwurf zu Ernst Troeltschs Kulturdeutung und Theologie der historischen Methode. Für Troeltsch ist dabei das Verhältnis von modernem und religiösem Individualismus der Schlüssel. In der bei Georg Simmel und Ernst Troeltsch, aber auch etwa Max Weber und Georg Jellinek, hochgradig reflektierten Kulturdeutung wird der Individualismus dabei zugleich als Konstruktionsprinzip der eigenen ethischen Geschichtsschreibung durchsichtig gemacht. 5 Dies ist dann auch der Ansatzpunkt für Troeltschs theologische Reflexion und normative Einholung des eigenen Konstruktionsstandpunktes, welche seine „historische Methode“ der Theologie auszeichnet. 6 Diese aber wird von Troeltsch in ihren Grundzügen nicht in seinem Berliner Spätwerk, sondern in seiner Heidelberger Zeit gerade auch in Auseinandersetzung mit Georg Simmel entworfen. 7 Dabei arbeitete Troeltsch in der Historik und Kulturdeutung noch mit anderen Kategorien und einer anderen Systematik als das im Berliner Spätwerk der Fall war. Das gleichsam klassische historistische Problem des Standortes und der Standortepistemologie hat nun auch für Paul Tillichs Kulturtheologie 4

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Es sollte selbstverständlich sein, aber um Missverständnisse zu vermeiden sei betont, dass damit weder eine monokausale Ableitung der Theologie Troeltschs aus der Kulturphilosophie Simmels beabsichtigt noch für Tillich eine „Zwei-QuellenTheorie“ behauptet wird, die seine Kulturtheologie aus Troeltsch und Simmel gespeist sieht. Nicht im Sinne also einer kausalen Erklärung, aber wohl einer fruchtbaren hermeneutischen Erschließungsperspektive, kann der Ausgang von Simmel dazu dienen, die theologischen Programme Tillichs und Troeltschs im Kontext der kulturtheoretischen Verhandlung des Zusammenhangs von Religion und Moderne in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu deuten. Dazu ausführlich F. Voigt, Vorbilder und Gegenbilder. Zur Konzeptualisierung der Kulturbedeutung der Religion bei Eberhard Gothein, Werner Sombart, Georg Simmel, Georg Jellinek, Max Weber und Ernst Troeltsch, in: W. Schluchter/F. W. Graf (Hg.), Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, 155-184. F. Voigt, Die historische Methode der Theologie. Zu Ernst Troeltschs Programm einer historischen Standortepistemologie, in: F. W. Graf (Hg.), „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006 (= TroeltschStudien, Bd. 1), 155-173. F. Voigt, „Die Tragödie des Reiches Gottes“? Ernst Troeltsch als Leser Georg Simmels, Gütersloh 1998 (= Troeltsch-Studien, Bd. 10).

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eine entscheidende Rolle gespielt. Christian Danz hat in Interpretationen zu Tillichs frühen Vorlesungen diese Figur der Standortbestimmung und Standortreflexion als entscheidende Konstruktionsfigur herausgearbeitet und in das religionsphilosophische und theologische System des jungen Tillich eingefügt. 8 Die folgenden Ausführungen thematisieren, dass Tillich in seinen frühen Studien zu einer Theologie der Kultur hier Elemente der Kulturdeutung Simmels (1.) und der historischen Methode Ernst Troeltschs (2.) beerbt, die systematisch um die Individualitätsdeutung zentriert sind. In seiner Theologie verwirft Tillich aus kulturkritischen Motiven aber das Individualitätsthema so, dass ihm zugleich der konstruktive Kern der Kulturanalysen Simmels und Troeltschs unzugänglich wird (3.). Seine Kulturtheologie setzt dem eine eigene Konstruktion entgegen, die so zwar der Form nach an Troeltschs Figur historistischer Standortepistemologie erinnert, aber aufgrund einer anderen systematischen Schwerpunktsetzung hinter dessen historistische Kulturdeutung und ihrer methodischen und inhaltlichen Differenzierungen zurückfällt (4.).

1. Georg Simmel: Kultur als der Weg der Seele zu sich selbst Georg Simmel hatte sich der Beschreibung und Analyse des Prozesses gewidmet, den er als Auseinandertreten der „Kultur der Dinge“ und der „Kultur der Menschen“, der „sachlichen“ und „persönlichen“ Kultur beschrieb. 9 Sei die Idee der Kultur der „Weg der Seele zu sich selbst“, verkehre die Moderne diese Idee in eine zunehmende Anpassung an die sachlichen Strukturen. 10 In der Philosophie des Geldes beschreibt Simmel

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Vgl. Ch. Danz, Theologie als normative Religionsphilosophie. Voraussetzungen und Implikationen des Theologiebegriffs Paul Tillichs, in: Ders. (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004 (= TillichStudien, Bd. 9), 73-106. Ders., „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Nietzsche, Troeltsch und Tillich über Auswege aus der Krisis des Historismus, in: Ders./W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Tillich und Nietzsche, Wien/Berlin/Münster 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 61-81. 9 G. Simmel, Philosophie des Geldes (1900/1907), Bd. 6 der Georg Simmel Gesamtausgabe, Frankfurt/Main 1989, 618 ff. 10 G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Ders., Philosophische Kultur (1911), in: Ders., Hauptprobleme der Philosophie/Philosophische Kultur,

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diese Depersonifikation als Folge eines Säkularisierungsprozesses: Das Christentum habe den Gedanken vom unendlichen Wert der Menschenseele vertreten. 11 Die unmittelbare persönliche Gottesbeziehung des Frommen und die daraus folgende Heiligung der Persönlichkeit bilden das Wesen der Religion. Nun gerät diese personalistische Frömmigkeit unter den zunehmenden Druck der sachlichen Kultur. Die Vorstellung eines absoluten Endzweckes (Gott), zu dem ein unmittelbares Verhältnis herzustellen ist, wird in einer Kultur der Dinge, die als eine Kette von Mitteln erscheinen, unplausibel. Dabei stehen der prekäre Individualismus der modernen Kultur und der religiöse Individualismus in einem eigentümlichen Verhältnis von Abhängigkeit und Widerspruch. Denn zunächst ist der Ausgangspunkt dieser „Tragödie der Kultur“ der Mensch, der sich um seiner Individualität willen von einer kirchlichen integrierten Kultur abwendet, dann aber in der modernen Kultur nicht ein Mehr an Individualität gewinnt, sondern, ganz im Gegenteil, in der neuen Kultur der Dinge sich selbst zu verlieren droht. Dabei erkennt Simmel der Religion ein höchst vitales Individualitätsinteresse zu. Noch mehr: Für Simmel besteht die Religion letztlich in dieser Individuationsfunktion: Als reinste Form des Glaubens gilt ihm jene „völlige Einzigkeit des Einzelnen, der seinem Gott gegenübersteht“ 12 , das „Heil der Seele“, die von allem befreit ist, das ihrer Individualität fremd ist. Deshalb aber sieht er die Religion umso mehr jenem tragischen Entäußerungsprozess unterworfen, den er für die Kultur schon diagnostizierte: Jeder Versuch, aus dieser individualistischen, subjektiven Religiosität eine hrsg. von R. Kramme/O. Rammstedt, Bd. 14 der Georg Simmel Gesamtausgabe, Frankfurt/Main 1996, 385-416, hier: 385. 11 G. Simmel, Philosophie des Geldes, a.a.O. (Anm. 9), 489. Simmel verfährt in dieser Beschreibung unverkennbar nach dem Vorbild kulturprotestantischer Theologie, wie sie klassisch in Adolf Harnacks berühmter Vorlesung zum Wesen des Christentums zum Ausdruck gebracht wurde, s. A. von Harnack, Das Wesen des Christentums, hrsg. von T. Rendtorff, Gütersloh 1999. Wie aus Briefen Simmels an Harnack hervorgeht, besuchte er diese Vorlesungen Harnacks. Siehe die vier Briefe Simmels an Harnack in: K. Gassen/M. Landmann (Hg.), Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, Berlin 21993, 81 f. 12 G. Simmel, Die Religion (1906/21912), in: Ders., Philosophie der Mode. Die Religion, Kant und Goethe, Schopenhauer und Nietzsche, hrsg. von M. Behr, V. Krech und G. Schmidt, Bd. 10 der Georg Simmel Gesamtausgabe, Frankfurt/Main 1995, 39-118, hier: 98. Zu Simmels Religionstheorie vgl. V. Krech, Georg Simmels Religionstheorie, Tübingen 1998. F. Voigt, „Die Tragödie des Reiches Gottes“?, a. a. O. (Anm. 7), bes. 147-160. 266-282.

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gemeinschaftsförmige Kirchen- oder Kulturreligion zu machen, muss nach Simmel notwendigerweise das Wesen der Religion verfehlen. Der Religion nahm Simmel so freilich jede historische Konkretion. 13 Der moderne Individualismus verdankt also seine Anfänge, nämlich den Impuls zur Ablösung von der kirchlichen Kultur, dem religiösen Individualismus. Im Prozess der Moderne löst er sich aber zusehends von diesen religiösen Wurzeln ab, bis er sie schließlich ganz abstößt. Zunächst entwickelt sich daraus ein Individualismus der Gleichheit, der „in einem jeden den ‚allgemeinen Menschen‘ sah“ 14 . Diese von Simmel auch als „formaler Individualismus“ oder „Individualismus des 18. Jahrhunderts“ bezeichnete Variante wurde dann von einem „qualitativen Individualismus“ abgelöst. Dieser zweite Typus wurde im 19. Jahrhundert von der Frühromantik bis Nietzsche vertreten. Als Aufgabe der Gegenwart sah Simmel die Synthese dieser beiden Individualismus-Typen, später identifizierte er vor allem in Goethe das Sinnbild einer solchen versöhnten Individualität. 15 Im hier interessierenden Zusammenhang ist nun darzustellen, welche individualitätsfördernde Rolle der Religion nach Simmel zukommt bzw. zukommen kann. Vorwegnehmend sei erwähnt, dass an eben dieser Stelle Ernst Troeltsch die Abzweckung vornehmen wird, nicht nur die Zusammenbestehbarkeit von religiösem Glauben und modernem Denken zu folgern, sondern der religiösen Persönlichkeitsemphase des christlichen Individualismus eine aktuelle Kulturbedeutsamkeit zuzuschreiben, die er als relative Realisierung des christlichen Universalismus deutete. Hingegen bleibt Simmel an diesem Aspekt der Kulturgestaltung, Universalisierung und Objektivierung der Religion desinteressiert oder betrachtet diese Objektivierungsversuche gar als Holzwege religiöser Identitätssuche. 13 Erst in seiner Rembrandtstudie von 1916 nahm Simmel mit der Ableitung der individualistischen Religion aus dem Calvinismus hier Konkretionen vor: G. Simmel, Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Nachdruck der Auflage München 1985, Leipzig 1916. 14 G. Simmel, Die beiden Formen des Individualismus (zuerst 1901), in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, hrsg. von R. Kramme, A. Rammstedt und O. Rammstedt, Bd. 7 der Georg Simmel Gesamtausgabe, Frankfurt/Main 1995, 49-56. 53. 15 Vgl. dazu auch F. Voigt, Kultur und Bildung bei Georg Simmel, Ernst Cassirer und Adolf Harnack. Lehr- und Wanderjahre der Goethe-Rezeption in Kulturphilosophie und Theologie, in: D. Korsch/E. Rudolph (Hg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, 179-200.

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Schon sehr früh richtete sich Simmels Interesse an der Religion darauf, dass sie dem Individuum die Möglichkeit von Erfüllung und Selbstentfaltung, „Totalitätserfahrung“ bietet, welche durch die funktionale Differenzierung der modernen Kultur weitgehend unmöglich geworden ist. Diese individuelle Totalitätserfahrung aber ist nur um den Preis einer Umbildung der Religion selbst möglich, indem die Religion „sich aus ihrer Substanzialität, aus ihrer Bindung an transzendente Inhalte zu einer Funktion, zu einer inneren Form des Lebens selbst und aller seiner Inhalte zurück- oder emporbilde“ 16 . Die vielleicht eindrücklichste Durchführung dieses Umbildungsvorgangs hat Simmel selbst am Beispiel der Rede von der Persönlichkeit Gottes (1911) vorgenommen: In der Idee Gottes finde die Vorstellung einer „vollkommene[n], in sich geschlossene[n] Wechselwirkung“ 17 aller Elemente einer Persönlichkeit ihre Realisierung – eine Realisierung, die kein Mensch unter Bedingungen des wirklichen Lebens erreichen kann. Diese im Gedanken der Persönlichkeit Gottes gleichsam idealiter realisierte „subjektive Kultur“ bleibt aber für das fromme Subjekt, welches sich auf eine solche Persönlichkeit Gottes bezogen weiß, unerreichbar. Denn in dem Gedanken der Persönlichkeit Gottes sind selbst objektive Fixierung und subjektive Dynamik der Religion vermittelt, welche dem frommen Subjekt faktisch nur als unabschließbarer dialektischer Prozess eigen sind: Einerseits als die religiöse Vorstellung eines personalen Gottes, von dem als dem Gegenüber eine das Individuum stärkende Macht und Liebe ausgeht, andererseits in der intellektualisierten Fassung der unendlichen Bewegtheit vollkommener Wechselwirkung im Gedanken pantheistischer Alleinheit. Deshalb ist letztlich bei Simmel die Religion auch kein sicherer Hort subjektiver Kultur. Entweder sie bleibt in den Vergegenständlichungen einer personalen Gottesvorstellung gefangen und wird damit ‚objektiv‘: Damit erreicht sie zwar durchaus eine Stärkung der Persönlichkeit, dies aber um den Preis der unausweichlichen Tendenz zu einer zunehmend objektiven Religionskultur samt aller individualitätszersetzender Gewalt. Oder sie verschmilzt das fromme Subjekt in die Alleinheit des Pantheismus, es wird ganz Lebendigkeit, Dynamik. Die stärksten Formulierungen hierfür findet Simmel in seinem Rembrandt-Buch von 1916, das bekannt16 G. Simmel, Das Problem der religiösen Lage, in: Ders., Philosophische Kultur, a.a.O. (Anm. 10), 367-384. 380. 17 G. Simmel, Die Persönlichkeit Gottes, in: Ders., Philosophische Kultur, a.a.O. (Anm. 10), 349-366. 355.

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lich auf Tillich starken Eindruck machte 18 : Die Gestalten Rembrandts hätten, so Simmel, jede Beziehung auf ein göttliches Gegenüber abgelegt, bei ihnen sei die Religion „inneres Leben des Subjekts“, „seelisches Leben selbst, aus einer tiefen individuellen Produktivität und Selbstverantwortlichkeit strömend“ 19 . In der Interpretation der Religionstheorie Simmels liegen an diesem Übergang von der sogenannten „kulturphilosophischen“ zur „lebensphilosophischen“ Phase Simmels einige der schwierigsten und noch nicht hinreichend diskutierten Probleme der Auslegung. Diese Probleme sind hier nur anzudeuten In zwei neueren Interpretationen von Simmels Religionstheorie durch Volkhard Krech und Markus Buntfuß wird in je individueller Weise stark darauf abgehoben, dass für Simmel die Religion ein Medium darstellt, welches unter Bedingungen der modernen versachlichten Kultur zugleich individualitätsstärkend und integrativ ist, Individualitätsemphase und ein konstruktives Verständnis von Entäußerung verbindet. 20 Unthematisiert bleibt dabei jedoch, in welch apodiktischer und unwiderruflicher Weise in den späten Texten Simmels die buchstäbliche Ausweglosigkeit des Individualismus thematisiert wird, etwa wenn von der „brückenlosen Geschlossenheit eines jeden in sich“ die Rede ist. 21 Gleichwohl: Simmel konnte nicht anders als an der individualistischen Pointe der modernen Kultur festhalten. Sie erschien ihm alternativlos, doch zugleich erkannte er die Aporien des modernen Individualismus und durchdachte seine Folgen konsequent. In diesem Sinne hat Ernst Troeltschs von Simmel als „Kind und Liebling der Moderne mit allen ihren furchtbaren Krankheiten und Schwächen“ gesprochen. 22 18 W. Schüßler, Jenseits von Religion und Nicht-Religion, a.a.O. (Anm. 3). 19 G. Simmel, Rembrandt, a.a.O. (Anm. 13), 141. 20 M. Buntfuß, „Gott selbst ist nicht fromm“. Georg Simmels nach-theistischer Gottesbegriff, in: J. Lauster/B. Oberdorfer (Hg.), Der Gott der Vernunft. Protestantismus und vernünftiger Gottesgedanke, Tübingen 2009, 269-281. V. Krech, Georg Simmel. Religion an der Schwelle, in: V. Drehsen/W. Gräb/B. Weyel (Hg.), Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 62-73. 21 G. Simmel, Das individuelle Gesetz, in: Ders., Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hrsg. von M. Landmann, 174-230. 207. 22 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), Bd. 16,2 der Kritischen Gesamtausgabe Ernst Troeltschs, hrsg. von F. W. Graf, Berlin/New York 2008, 886. Ders., Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Ders., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-

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2. Ernst Troeltschs historische Methode. Kulturwissenschaft und theologische Standortepistemologie Während Simmel also, wie dargestellt, im Interesse an einer Theorie der modernen Kultur auch auf die Religionsgeschichte blickte, ist Ernst Troeltschs Erkenntnisinteresse in erster Linie auf die Religionsgeschichte des modernen Protestantismus gerichtet und fragt von dort aus nach dessen möglichen Kulturbeziehungen. In seinem Vortrag auf dem Historikertag 1906 Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt entwickelte Troeltsch die Doppelthese von der weitgehend vom Protestantismus unabhängigen Entstehung der modernen Welt einerseits sowie der indirekten Folgen des christlichen Persönlichkeitsgedankens für den modernen Individualismus andererseits. Denn auch der „moderne Individualismus und Rationalismus“ habe seine Wurzeln in einer Metaphysik und Ethik, die durch das Christentum „in die Seele unserer ganzen Kultur eingesenkt ist“ 23 . Der so geprägte Freiheits- und Persönlichkeitsgedanke finde gerade in der modernen Kultur „ungeheure Ausbreitung und Intensität“ und bilde „ihren besten Gehalt“ 24 . Der Zusammenhang von christlichem und modernem Individualismus wird von Troeltsch aber nicht durch die Behauptung einer Kontinuität oder gar Identität ermöglicht, sondern gerade in der Analyse einer Diskontinuität. In kritischer Prüfung des Protestantismus macht er deutlich, dass jener personalistische Kern bei Luther und dem Altprotestantismus von mittelalterlich-katholischen Elementen verhüllt gewesen und erst im Prozess der Aufklärung und gesamtkulturellen Emanzipation seit dem 18. Jahrhundert zu neuer Klarheit gekommen sei. In dieser „neuprotestantischen“ Gestalt habe der christliche Persönlichkeitsgedanke eine katalysatorische Wirkung auf die moderne Kulturentwicklung gehabt. So wird bei Troeltsch die Religionsgeschichte des modernen Protestantismus zur „religiösen Kulturgeschichte eines sozial wirksamen neuzeitlichen Individualismus“, wie es Gangolf

1913), Bd. 8 der Kritischen Gesamtausgabe Ernst Troeltschs, hrsg. von T. Rendtorff in Zusammenarbeit mit S. Pautler, Berlin/New York 2001, 199-316, hier: 315. 23 E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, a.a.O. (Anm. 22), 221 f. 24 E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, a.a.O. (Anm. 22), 315.

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Hübinger formuliert hat. 25 Hübinger hat dies als den Kern der von ihm so benannten „Heidelberger Historik“ Troeltschs ausgezeichnet, die er besonders von Webers Programm des neuzeitlichen Rationalismus unterschieden sehen will. 26 Diese konzise Beschreibung des historischen „Heidelberger“ Programms bleibt jedoch m. E. hinsichtlich der Bedeutung und Funktion, die es für Troeltsch hatte, unvollendet, wird es nicht zur historischen Methode der Theologie erweitert, welche zweifellos das eigentliche Ziel Troeltschs ist. 27 Die Unterscheidung von modernen Individualismus und christlichem Personalismus ist darin, so wird deutlich, die Voraussetzung, dass der protestantische Glaube gegenüber den depersonifizierenden Kräften der Moderne ein Gegengewicht bilden kann. So sieht Troeltsch auch in dieser Differenz von selbständiger Religion und Kultur ein konstruktives, gegenwartsbedeutsames Verhältnis von Protestantismus und moderner Welt begründet. Deshalb ist es Troeltsch darum zu tun, das selbständige personalistische Potenzial des Christentums hervorzuheben, das ihm Distanz und Nähe zur modernen Welt ermöglicht. Es ist nur ein kleiner und naheliegender Schritt, von hier zu Analysen der Beziehung des Christentums zur modernen Welt überzugehen. Die Darstellung der vom Christentum teils bedingten, teils unabhängigen Entwicklung der modernen Welt ist aber für Troeltschs theologisches Programm mehr als nur naheliegend, denn es ist auch notwendig: Sie bringt wesentliche Argumente zur Berechtigung der eigenen theologischen Position bei, deren Angemessenheit von der Analyse der Genese der modernen Welt gleichsam überprüft wird. Dies darf freilich nicht so missverstanden werden, dass dabei ein objektiver historischer Blick über eine subjektive theologische Position zu Gerichte sitzt, sondern es wird eine Selbstbestimmung der theologischen Position vollzogen, die das Wissen über sich selbst als historische Position einschließt. 25 G. Hübinger, Ernst Troeltsch – Die Bedeutung der Kulturgeschichte für die Politik der modernen Gesellschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 30, 2004, 189-218, hier: 201. 26 G. Hübinger, Troeltschs Heidelberger Historik, in: W. Schluchter/F. W. Graf (Hg.): Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus, a.a.O. (Anm. 5), 185-199. 27 Dazu ausführlich F. Voigt, Die historische Methode der Theologie, a.a.O (Anm. 6).

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Dies erfordert und ermöglicht erstens die streng wissenschaftliche, „wertfreie“ historische Forschung, setzt diese aber in einem zweiten Schritt in einen konstruktiven Zusammenhang mit den normativen Urteilen über den Wert der Religion. Sehr gut illustrieren lässt sich dieses zweistufige Vorgehen an Troeltschs Vortrag über Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. In der „Vorbemerkung“ 28 hebt Troeltsch mehrfach den streng wissenschaftlichen Charakter der folgenden Ausführungen hervor und lässt auch während des Vortrages mehrfach den Konstruktionscharakter der Darstellung deutlich werden. Deren Ausführungen erfolgen materialiter, indem Troeltsch zunächst die Unterschiede der modernen Kultur zu Mittelalter und Altprotestantismus darlegt und die tiefgreifenden Gegensätze der kirchlichen zur modernen, „kirchenfreien“ Kultur hervorhebt, um sodann im Neuprotestantismus eine der modernen Kultur vermittlungsfähige Gestalt des Christentums zu identifizieren. Die Erörterungen des Kausalzusammenhanges von Protestantismus und moderner Welt münden schließlich in die bekannte Doppelthese von der weitgehend vom Protestantismus unabhängigen Entstehung der Lebensordnungen der modernen Welt einerseits sowie der indirekten Folgen des christlichen Persönlichkeitsgedankens für den modernen Individualismus andererseits. Wenn Troeltsch dann im Schlusskapitel im neuprotestantischen Personalismus die Gestalt der Religion identifiziert, die der modernen individualistischen Kultur auf Augenhöhe zu begegnen erlaubt 29 , vollzieht er den Brückenschlag hin zur normativen Bestimmung. Dabei verlässt er die Ebene der rein historischen Betrachtung und erweitert diese, gleichsam in einer Beobachtung zweiter Ordnung, zu einer theologischen Standortepistemologie. Troeltsch bestimmt dabei erstens die eigene theologische Position hinsichtlich ihres historischen Ortes – als eine Gestalt des Neuprotestantismus – und bringt zweitens für die Frage der Angemessenheit seiner theologischen Position historische Gründe bei, indem er darlegt, weshalb der neuprotestantische Personalismus eine der Moderne angemessene Religiosität präsentiert. Das heißt: Die historische Analyse des Verhältnisses von Christentum und Welt erfolgt somit im theologischen Interesse und gehört zur Theologie, insofern diese ein reflexives Verhältnis zu ihrem eigenen Tun ausbildet. Troeltschs Analysen des Wandels der modernen Le28 E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, a.a.O. (Anm. 22), 201-207. 29 E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, a.a.O. (Anm. 22), 297-316, bes. 314.

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bensordnungen bilden daher sowohl den inhaltlichen wie den methodischen Horizont seiner Standortanalyse. Die sich dabei aufdrängende Frage nach der Geltung solcher „nur“ historisch begründeter Normativität hat Troeltsch in seiner Absolutheitsschrift von 1902 in folgender Weise behandelt: Dort spricht er davon, das Christentum sei die „stärkste und gesammeltste Offenbarung der personalistischen Religiosität“, relativiert dabei aber gleichzeitig – gemäß der Geltungskraft historischer Erkenntnisse – den Anspruch der „Absolutheit“ auf das Urteil einer „Höchstgeltung“ des Christentums. Diese wissenschaftliche Relativierung aber tue der subjektiven Frömmigkeit keinen Abbruch, denn sie stärke die Anschauung vom Christentum als „einer wirklichen Offenbarung Gottes und der Gewißheit, daß er [s.c. der Fromme] eine höhere sonst nirgends finden könne“. Troeltsch ist es mit dieser Argumentation um den Aufweis zu tun, dass die historisch verfahrende Theologie in einem konstruktiven Verhältnis zu Religion und Frömmigkeit steht. In seinen Worten: Der subjektiven Frömmigkeit genügt die historische Betrachtungsweise, „um ihr volle Kraft und Sicherheit zu geben“. Ist dies der Fall, kann gesagt werden, dass zwischen dem christlichen Glauben und dem historischen Denken, dass zwischen Christentum und moderner Welt ein konstruktiver und lebensfähiger Zusammenhang besteht. Von der Heidelberger Historik unterschieden ist nach Hübinger die „Berliner Historik“ 30 , die cum grano salis mit dem Historismus-Band Troeltschs identisch ist. In gedrängter Kürze gesagt ist die Berliner Historik nach Hübinger die Art und Weise, in der Troeltsch zwar an seiner Figur der Standortbestimmung festhält, diese aber nicht mehr allein mit dem leitenden Konstruktionsprinzip eines modernen religiösen Individualismus belebt. Die Beschreibung des Gewordenseins des eigenen Standpunktes wird nicht mehr allein von dem Individualismus regiert, sondern erweitert sich auf die Suche nach Grundgewalten, die zum Aufbau Europas beigetragen haben und auch eine zukünftige europäische Kultursynthese ermöglichen sollen. Diese gewaltige materiale Ausweitung seiner Historik macht zugleich deutlich, dass der Grund, von dem aus diese Kultursynthese erfolgen soll, unsicherer geworden ist. Die Selbstbeobachtung des Beobachters erfordert nun mehr Beschreibungen, die Darstellung des 30 G. Hübinger, Geschichtskonstruktion und Gedächtnispolitik. Ernst Troeltschs Berliner Historik, in: F. W. Graf (Hg.), „Geschichte durch Geschichte überwinden“, a.a.O. (Anm. 6), 75-92.

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Gewordenseins der eigenen Position wird zur multiperspektivischen europäischen Kulturgeschichte. 31

3. Paul Tillich: Ein kulturtheologischer Standort außerhalb der Übergangszeit Mit dem bislang zu Simmel und Troeltsch Ausgeführten sollte neben der Skizzierung ihrer Programme zugleich die Fährte zur Deutung Tillichs gelegt werden. In der neueren Tillich-Literatur steht bei der Skizzierung Troeltschs etwas zu sehr der Troeltsch des Historismus-Bandes und der Berliner „Überwindungs“-Rhetorik im Vordergrund. Diese Aspekte der Geschichtsphilosophie Troeltschs herauszuheben führt aber zu Verzerrungen in der Wahrnehmung der historischen Methode von Troeltschs Theologie, welche ganz wesentlich mit der Heidelberger Historik verknüpft ist. 32 Die für Tillichs frühe Ansätze der Kulturtheologie relevanten Bezüge auf Troeltsch, wie vor allem die „Soziallehren“, beruhen aber auf diesem „Heidelberger“ Verständnis. Auch Tillich hat in seinem ausführlichen Nachruf auf Troeltsch in den Kant-Studien diese späte Geschichtsphilosophie als Versuch einer Selbstkorrektur des Denkens Troeltschs gedeutet, mit welcher dieser den eigenen „Relativismus“ zu korrigieren getrachtet habe, was ihm allerdings misslungen sei. 33 Im Folgenden wird der Vorschlag gemacht, die Differenzen, aber auch die Anknüpfungen Tillichs an Troeltsch deshalb weniger in der Ber31 Von der Heidelberger und Berliner Historik wiederum zu unterscheiden ist die von Hübinger (a.a.O. [Anm. 26], 82) so genannte „Darmstädter“ Historik Troeltschs, wie sie sich in seinem späten Text Die Zufälligkeit der Geschichtswahrheiten ausdrückt, den Troeltsch in der Darmstädter „Schule der Weisheit“ des Grafen Keyserling vortrug. Dieser Text zeichnet sich in der Tat durch eine neue Betonung des Intuitiven und des Wagnis-Charakters („Sprung“-Metapher) der Geschichtsdeutung aus. Hübinger spricht ebenda treffend von einer für Troeltsch „neuartige[n] Semantik einer christlichen Lebensphilosophie“. 32 Das scheint etwa der Fall bei Ch. Danz, „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, a.a.O. (Anm. 8), bes. 68-73. Vorsichtiger auch G. Neugebauer, Tillich frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 331. 33 P. Tillich, Ernst Troeltsch. Versuch einer geistesgeschichtlichen Würdigung (1924), in: F. W. Graf (Hg.), Ernst Troeltsch in Nachrufen, Gütersloh 2002 (= Troeltsch-Studien, Bd. 12), 646-653.

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liner Zeit als in dem eben skizzierten Programm der historischen Methode Troeltschs zu sehen, die mit seiner sogenannten „Heidelberger“ Historik verknüpft ist. Weiter ist zu zeigen, inwiefern die um das Individualitätsthema zentrierte Kultur- und Religionstheorie Simmels helfen kann, die Zeitdiagnose Tillichs als kritischen Ausgangspunkt für seine eigene, gegenüber Troeltsch wie Simmel selbständige Position einer Kulturtheologie zu begründen. Der Begriff einer Kulturtheologie ist ja Anknüpfung und Abgrenzung gegenüber Troeltsch zugleich, der den Begriff der Kulturtheologie oder einer Theologie der Kultur nie als programmatische Selbstbezeichnung verwendet hat. Dies gilt, wie schon eingangs gesagt, vor allem für die Texte Tillichs aus den 1920er Jahren, darunter besonders seine Berliner Vorlesungen über Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (1919) und die Religionsphilosophie (1920). Mit seiner Vorlesung zum Christentum in den Gesellschaftsproblemen der Gegenwart beabsichtigte Tillich eine „Theologie der Kultur“, welche zur „Aufgabe“ habe, „ein religiös begründetes System der Kultur“ zu entwerfen. Dieser „synthetischen Aufgabe“, so Tillich, habe jedoch eine „analytische“ Aufgabe vorauszugehen, nämlich „die gesamten Gegebenheiten des kulturellen Lebens, die vergangenen und die gegenwärtigen, auf ihren religiösen Gehalt zu prüfen“. Dies beinhalte zunächst „die religionsgeschichtlichen Zusammenhänge festzustellen, in denen eine Kulturerscheinung steht“ 34 . Für diesen religionsgeschichtlichen Aspekt kann das Programm Troeltschs als Vorlage Tillichs angesehen werden, was sich ja auch darin bestätigt, dass er Troeltschs Soziallehren in der Vorlesung ausdrücklich seinen Studenten empfiehlt. 35 Nun aber hielt Tillich eine solche Betrachtungsweise in den Spuren Troeltschs für zwar notwendig, aber doch ungenügend: Damit sei „die Sache selbst noch nicht berührt“. Es müsse darüber hinausgehend gefragt werden:

34 P. Tillich, Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (1919), EW XII, 27-258, hier: 68. 35 EW XII, 30; vgl. E. Sturm, Historische Einleitung: Paul Tillichs frühe Berliner Vorlesungen (1919-1920), EW XII, 1-26. 5 f. Zu Tillichs Rezeption der „Soziallehren“ Troeltschs in der Vorlesung von 1919 vgl. G. Pfleiderer, Kultursynthese auf dem Katheder. Zur Revision von Troeltschs Soziallehren in Tillichs Berliner Programmvorlesung von 1919, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919 – 1920), Wien/Berlin/Münster 2008, 119-136.

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„Welche Form hat das religiöse Realitätserlebnis, das in diesem Gegenstand enthalten ist? In welcher Tiefe kann das Erlebnis des absoluten Nein in ihm erlebt, das absolute Ja in ihm angeschaut werden? Welche konkrete religiöse Färbung nimmt das theologische Prinzip hier an […]? Endlich, welche mythische oder kultische oder religiös-ethische Bedeutung kann es gewinnen unter Voraussetzungen der idealen Einheit von Kultur und Religion?“ (EW XII, 68 f.)

Theologische Analyse und Synthese stehen dabei unter dem Vorbehalt, dass jede Kulturfunktion „autonom“ ist, wie Tillich ausdrücklich sagt. (EW XII, 71) Sie sollen nicht durch die Religion besetzt und in ihrer „organischen“ Entwicklung beeinflusst werden. Der Theologie aber komme die „letzte und höchste Aufgabe“ zu, die „Richtlinien“ der Entwicklung der Kultur und ihres „idealen Zielpunktes“ zu bestimmen (ebd.). Die Theologie entwerfe ein System der Kultur, „in dem die Wissenschaft Mythos und die Kunst Kultus und die Ethik Frömmigkeit und die Gesellschaft Liebesgemeinschaft und der Staat Kirche ist“ (EW XII, 71 f.), und zwar indem „die Religion der lebendige, Realität schaffende Pulsschlag in allem ist, dass sie von innen heraus sich alle Werte aneignet“ (EW XII, 72). Dies alles ist für Tillich, und damit sind wir bei der historischen Standortbestimmung, die er 1919 vornimmt, Protest gegen und Überwindung der „individualistischen Kultur“. „Wir die geistig Lebendigen ertragen diese Kultur nicht mehr im Geistigen, die Massen der an ungeistige Arbeit Gefesselten ertragen sie nicht mehr in ihrer Arbeit, und diejenigen, die sich anscheinend wohl dabei fühlen, die oberen ungeistigen Schichten, leiden in tiefster Seele unter der Qual der Entleerung des Lebens durch das Prinzip des Individualismus, das von Kritik zu Kritik führt, aber nicht aufbauen, nicht neue Inhalte geben kann.“ (EW XII, 81 f.)

Wie aber ist es unter den Bedingungen dieser individualistischen Kultur dann überhaupt möglich, sich aus ihr zu erheben, sie zu verändern? Nicht unmittelbar durch Schöpfung neuer Inhalte, aber wohl durch das Schaffen neuer Formen, Recht, Politik, Kunst nennt Tillich, in die der „Geist der neuen Gesellschaft“ dann einziehen kann. „Und wir können diese Formen schaffen, weil wir sehen können, wohin die Entwicklung auf allen Gebieten strebt, weil wir aus dem lebendigsten Bewusstsein unserer Zeit heraus die Zukunft ahnen und lieben können, die sie im Schoße birgt.“ (EW XII, 82)

Mit den Inhalten und Wertungen dieser zeitgeistdurchdrungenen Kulturund Geschichtstheologie des damals knapp 30jährigen Tillich kann sich hier nicht im Einzelnen auseinandergesetzt werden. Michael Murrmann-

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Kahl hat dazu in seiner Analyse dieser ersten Vorlesung Tillichs das Nötige gesagt. 36 Im Folgenden ist vor allem auf die geschichtsphilosophische Konstruktion Tillichs zu achten, die ja in seinem Denken eine Scharnierfunktion zwischen den kategorialen Wesensbestimmungen und der normativ-theologischen Aufgabe der Religionsphilosophie besitzt. Tillich bedient sich auch in dieser Vorlesung zu den Gesellschaftsproblemen der Gegenwart einer Denkfigur, die zunächst stark an Troeltschs historische Methode erinnert – und dann in entscheidenden Aspekten doch von ihr abweicht. Es wurde nun gezeigt, wie Troeltsch den Individualitätsgedanken gleichsam als character indelebilis der Moderne bestimmt hat, den er zugleich als den Ausgangspunkt seiner religions- und geistesgeschichtlichen Rekonstruktion des modernen Individualismus gewählt hat. Aus dieser Rekonstruktion hat er dann die normative Schlussfolgerung gezogen, ein neuprotestantischer Begriff individueller Freiheit sei eine der modernen Kultur zusammenbestehbare Denkfigur, die zudem Defizite der modernen Kultur zu kompensieren in der Lage ist. Auch Tillich wählt, wie zitiert, diese moderne Individualitätskultur zum Ausgangspunkt, freilich mit entschieden negativer Wertung. Der Erste Weltkrieg und die aufgewühlten Zustände der Zeit seien die Wirkungen dieser individualistischen Kultur. Michael Murrmann-Kahl hat darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Deutung Tillichs um eine „recht aufschlussreiche, aber auch fragwürdige Wahrnehmung der Kaiserreichsgesellschaft“ handele. 37 In der Tat. Offensichtlich ging es Tillich darum, nicht nur diese Individualitätskultur, sondern vor allem auch ihre normative theologische Deutung im Sinne einer Standortepistemologie Troeltschs auszuschließen. Tillich verschiebt stattdessen die Standortbestimmung der Gegenwart in das Zwischenreich einer nicht mehr funktionierenden und im Vergehen begriffenen Individualitätskultur einerseits und einer im Entstehen begriffenen und noch nicht funktionierenden neu36 M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip und Modernitätserfahrung in „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a. a. O. (Anm. 35), 137-154; zur Zeitdeutung Tillichs vgl. A. Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008. Für die Kontinuitäten in Tillichs Kulturkritik vgl. F. W. Graf, Old harmony? Über einige Kontinuitätselemente in „Paulus“ Tillichs Theologie der „Allversöhnung“, in: H. Lehmann/O. G. Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, Bd. 2, Göttingen 2004, 375-415. 37 M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip, a.a.O. (Anm. 36), 147.

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en Gemeinschaftskultur andererseits. Aus dem kulturellen Gegenwartsstandort ist kein Zentralwert zu entnehmen. An die Stelle einer Genealogie der modernen Kultur tritt daher die metaphysisch abgesicherte Religionsgeschichte, an die Stelle einer historischen Methode der Theologie tritt das normativ regierende „theologische Prinzip“. „Die historische Periode, aus der wir kommen“, so Tillich in der ersten Stunde der Vorlesung, habe methodisch auf „Beobachtung, Verständnis des Vergangenen, Forschung, unschöpferischen Zweifel und Relativismus“ gesetzt. „Es ist wohl nicht ungerecht zu sagen, dass die glänzenden historischen Leistungen der vergangenen Periode zugleich ein Zeichen dafür waren, dass eine Geistesperiode zu ihrer Selbsterkenntnis und damit zu ihrem Ende gekommen war“. Denn, so Tillich weiter, „so ist jede Geistesperiode abgeschlossen, wenn sie sich selbst durchschaut hat, wenn sie ‚historisch‘ geworden ist in des Wortes doppelter Bedeutung: geschichtlich und geschichtswissenschaftlich.“ (EW XII, 28 f.)

An die Stelle dieser historisch-relativen Konstruktionen sei nun die Realität zu setzen, „die allen Realitäten sonst überlegen ist“ (EW XII, 45) nämlich die Realität der Religion. Diese Realität wird in das Subjekt verlegt als „schlechthinniges Realitätserlebnis, das sich gründet auf ein schlechthinniges Negativitätserlebnis“ (EW XII, 46). Das ist bekanntermaßen mit dem „Positivitätserlebnis von gleicher Bedeutung und Kraft“ sowie der paradoxen Einheit beider das erste Moment des theologischen Prinzips, die Wesensbestimmung der Religion. Diese Absolutheitserfahrung tritt nun aber ein – zweites, konkretes Moment – in die Sphäre des Relativen und Geschichtlichen, die eine Sphäre der Konflikte, Gegensätze und Widersprüche sind. Die Aufhebung des Widerspruchs des absoluten Wesens und seiner nur relativen Konkretionen ist schließlich das dritte Moment des theologischen Prinzips: die „Heiligkeit alles Konkreten“ (EW XII, 50). Michael Murrmann-Kahl hat hinsichtlich des theologischen Prinzips von einem „Universalschlüssel zur Welt-, Religions- und Gesellschaftsgeschichte“ gesprochen. 38 Im Sinne der in meiner Rekonstruktion bzw. der von Tillich häufig bemühten Rede vom Standort wird hier ein universal zugänglicher Standort aufgesucht: Die historische Einordnung in die Religionsgeschichte erlaubt mittels des theologischen Prinzips eine Standortbestimmung auch dort noch, wo die kulturellen Grundlagen unsicher und unklar geworden sind.

38 M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip, a.a.O. (Anm. 36), 146.

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In der Durchführung der Analyse der Gegenwartsprobleme hat der so bezogene Standort allerdings zur Folge, dass sich die analytische Aufgabe der religionsgeschichtlichen Kontextualisierung der Kulturerscheinungen und die synthetische Aufgabe ihrer theologischen Normierung kaum noch trennen lassen. So tendiert Tillichs System dazu, die kulturellen Phänomene als Reflexe der Religionsgeschichte zu deuten und sie am normativen Leitfaden der Religionsgeschichte zu messen. Die religiöse Substanz der Kultur ist also immer schon vorhanden, das Maß ihrer faktischen Realisiertheit wird dabei gemessen an der Annäherung an den idealen Zielpunkt der vollkommenen neuen Synthese von Religion und Kultur. Das sicher eindrucksvollste und heute nicht gänzlich unproblematisch betrachtete Beispiel hierfür ist die Deutung von Protestantismus und Demokratie als „Übergangserscheinungen“: „Wie im Protestantismus die geistig-revolutionäre Kraft des religiösen Individualismus jeder Dogmatisierung und Verkirchlichung immer wieder entgegentreten wird“, er aber zugleich eine kirchliche Gestalt benötige, „so“ werde auch die Demokratie „immer wieder aller matten Fortschrittsstimmung und aller parlamentarischen Scheindemokratie entgegentreten und zu Sozialismus und Anarchismus weitertreiben“. Und erneut: „[W] ie […] die Kirche in das rein religiöse Leben hineinregiert und nun profan geworden und doch mit Ansprüchen erfüllt unerträglich geworden ist, so auch der Nützlichkeitsstaat, der dennoch geistige Werte verbreiten will.“ 39

Freilich markiert Tillich dies explizit als „Kritik“ im wertenden Sinne, aber er nennt es sodann „eine immanente Kritik der Geschichte im Princip“. Ein solches Prinzip kannte Ernst Troeltsch nicht. Troeltsch legte großen Wert auf die werturteilsfreie Kausalanalyse seiner historischen Studien und suchte in einem davon klar abgegrenzten zweiten Schritt die dieser historischen Lage angemessenen normativen Konsequenzen zu bestimmen. Sicher ist Tillichs Behauptung eines normativen theologischen Prinzips der Geschichte selbst als Konstruktionsperspektive zu lesen – wir werden 39 M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip, a.a.O. (Anm. 36), 148, Herv. F. V. Zur Demokratiekritik Tillichs im Kontext der protestantischen Theologie der Weimarer Republik vgl. K. Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre, Göttingen 1989, bes. 68-100. Die von Tanner dargelegte weitgehende Einigkeit Tillichs in der theologischen Kulturkritik über die sonst bestehenden theologischen und politischen Gegensätze hinweg mit antidemokratischen und deutschnationalen Denkern ist durch die inzwischen erschienenen frühen Texte Tillichs weiter bestätigt und sogar vertieft worden.

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auf den Vergleich mit Troeltsch noch zurückkommen –, aber es beansprucht die Autorisierung durch eine theonome Zukunft, als deren prophetischer Künder Tillich hier antritt. Freilich, ich will das gerne noch einmal betonen, sieht sich Tillich durch die eigene Gegenwart geradezu auf diesen normativen theologischen Standort gezwungen, denn die kulturelle Situation ist für ihn so beschaffen, dass sie keinen konstruktiven Wertstandpunkt in ihr selbst hergibt. Zugleich aber, und das unterscheidet Tillichs Kritik an der Geschichte von vielen anderen theologischen Kritikern der modernen Kultur, ist für ihn die Religionsgeschichte als die hidden agenda der Kulturgeschichte 40 Gewähr dafür, dass die Kultur der Gegenwart nicht schlechthin wertlos ist und dass sie nur in Richtung Zukunft, nicht rückwärts zu überwinden ist. So sind die „Übergangserscheinungen“ Protestantismus und Demokratie für ihn Formen, „an die jeder Umbau anknüpfen muss“. „Aber diese Formen rufen nach Inhalt […], nach einem rein religiösen Gehalt, der die Form zerbricht und sie doch als zerbrochene bewahrt.“ 41 Schon dieses Zitat macht deutlich, dass es sich bei Tillichs Kulturtheologie um ein gänzlich anderes Programm handelt als das von Troeltschs historischer Methode der Theologie. Die in Tillichs Konstruktion der frühen Vorlesungen wirksame Figur der Standortepistemologie ist nun dargestellt. In der Religionsphilosophie von 1920 wird von ihm deshalb konsequent auch der religionsgeschichtliche Aspekt ausgearbeitet und dabei eine sehr interessante Modifikation bei der Bestimmung des gegenwärtigen Standpunktes vorgenommen. Dieser eigene „Standpunkt“, muss, „als ein konkreter eingeordnet werden in die vorhandenen konkreten Standpunkte und daselbst durch geschichtsphilosophische Reihenbildung seinen notwendigen Platz bekommen“ 42 . Damit steht bekanntlich die Religionsgeschichte als Mittelglied zwischen Wesenbestimmung der Religion, Formbegriff, und dem theologischen Normbegriff. Christian Danz hat betont, der Ausgangspunkt von Tillichs geschichtsphilosophischer Konstruktion sei „der gegenwärtige Standpunkt, dessen Aufklärung die Geschichtsphilosophie der Religion dient“. Dabei, so Danz weiter, „obliegt ihr die Aufgabe, die geschichtliche Bestimmtheit 40 Vgl. dazu auch F. Voigt, Geist und Wirklichkeit. Zur ethischen Dimension der Pneumatologie, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 52, 2008, 89-103, zu Tillich: 93-97. 41 Ebd. 42 P. Tillich, Religionsphilosophie (1920), EW XII, 333-584. 358.

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des eigenen Konstruktionsortes der Religionsphilosophie zu reflektieren“ 43 – und das heißt dann ja zugleich auch: zu legitimieren. Die Elemente dieser geschichtsphilosophischen Konstruktion entnimmt Tillich dabei dem Begriff der Religion. Form und Gehalt sind die beiden Grundelemente, die in der Religionsgeschichte in verschiedenen Gestalten konkret werden. Die Religionsgeschichte wird dabei von Tillich in drei Stadien unterteilt, das frühe Stadium der kultischen Religion, das zweite Stadium des Konfliktes zwischen den Gestalten von ethischer Religion und Mystik, und dem dritten Stadium der Synthese zwischen Form und Gehalt, ethischer und mystischer Religion. Angesichts der Betonung der Bedeutung des konkreten religionsgeschichtlichen Standortes liegt dann, so Erdmann Sturm in der Einleitung zum entsprechenden Nachlassband der Gesammelten Werke, „die Frage nahe, an welcher Stelle“ Tillich seine eigene Gegenwart denn nun verorte. 44 Es ist in der Tat erstaunlich, wie wenig Aussagen Tillichs darüber sich in der Vorlesung finden. Erdmann Sturm verweist dazu auf die entsprechende Passage aus der 30. Stunde der Vorlesung. Dort heißt es, die „gegenwärtige Lage der Religion“ sei die „der Nachwirkung der Konfliktzeit […]. Doch kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die europäische Kultur sehr schnell dem dritten Stadium entgegeneilt“ (EW XII, 536). Auch hier definiert Tillich also die eigene Gegenwart wieder als ein Zwischenreich, einen Übergang. Während aber in der Vorlesung von 1919 die Distanzierung von der Individualitätskultur dominant war, erlaubt ihm die religionsphilosophische Perspektive nun eine deutlich positivere Würdigung der individualistischen Religiosität, die ein im Religionsbegriff selbst verankertes Recht hat. Tillichs Standortbestimmung in der Religionsphilosophie von 1920 setzt an die Stelle des 1919 noch dominanten Einheitspathos‘ die dynamische, in der Gegenwart noch unversöhnte Dialektik von mystischer und ethischer Religion. Der Standort, so lässt sich sagen, gerät damit selbst in Bewegung. Damit sind wir erkennbar an einem, wenn nicht dem Zentralproblem des Historismus angelangt. An dieser Stelle des historistischen Problembewusstseins angekommen, kann die Selbstanwendung der Perspektivität, die Selbstbeobachtung des Beobachters, zur Beschreibung ihres eigenen 43 Ch. Danz, „Alle Linien gipfeln in der Religion des Paradox“. Tillichs religionsgeschichtliche Konstruktion der Religionsphilosophie, in: Ders./W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 35), 215-231, hier: 226. 44 E. Sturm, Historische Einleitung: Paul Tillichs frühe Berliner Vorlesungen (19191920), a.a.O. (Anm. 35), 26.

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Gewordenseins werden. 45 Das ist eine historische Aufgabe. Das ist der Weg Troeltschs gewesen, der als Archäologe der europäischen Kulturgeschichte nach den Grundgewalten suchte, die als konsensfähige Konstanten der Geschichte auch für eine künftige Kultursynthese geeignet sein können. Eine solche Synthese ist immer eine Kompromiss-Synthese. Der Kompromiss hat zu seinem Wesen die Besinnung auf grundlegende Gemeinsamkeiten, die Voraussetzung der aktualen Differenzen sind. Bei Tillich hingegen ist das Historismus-Problem der Selbstanwendung von Perspektivität ohnehin dadurch gemildert, dass es innerhalb seines Verständnisses von Religionsgeschichte zum Austrag kommt. Hier ist es von vorneherein so zwischen der Wesenbestimmung der Religion und ihrem normativen Telos justiert, dass seine beunruhigende Kraft nicht voll zum Tragen kommt. Das dritte Stadium der paradoxen Synthese steht unmittelbar bevor, der Relativismus ist eingehegt. Von daher ist es nur konsequent, wenn er an die Stelle der detaillierten historischen Kausalanalysen der Genese der modernen Welt und des diesbezüglichen Beitrags des Protestantismus, wie Troeltsch es unternommen hatte, wieder von „der Religion“ spricht und den Protestantismus eine Übergangserscheinung nennt.

4. Schlussbemerkung Hermann Fischer hat in seiner theologiegeschichtlichen Kontextualisierung von Tillichs Theologie herausgearbeitet, wie Tillich in seiner Theologie bei methodischer Anlehnung an die liberale Theologie Troeltschs doch zugleich positionelle Distanz zu ihr eingelegt hat. 46 Fischer zitiert aus dem Brief Tillichs an Thomas Mann, der dafür sprechend ist. Zwar habe, so schreibt Tillich dort, die liberale Theologie „die historisch-kritische Methode der profanen Geschichtswissenschaft akzeptiert“, worin er „selbst und viele meiner theologischen Freunde folgten“, aber es sei die Auffassung dieses Kreises gewesen, „dass die konservative Tradition mehr von einem wahren Verständnis der menschlichen Natur und der Tragik der Existenz bewahrt hat als die liberale fortschrittlich-bürgerliche Ideologie“. Die liberale Theologie bilde „eine weitgehende Anpassung an die Ideale 45 Vgl. dazu R. Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus, Göttingen 2004, 205. 46 H. Fischer, Tillichs Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft in theologiegeschichtlicher Perspektive, a.a.O (Anm. 3).

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der bürgerlichen Gesellschaft“ (GW XIII, 24) 47 . Fischer weist aber auch darauf hin, dass bei allen „interessanten und anregenden Einsichten“, die Tillichs Kulturanalyse vermittelt, diese aber in ihrer Darstellung und Bewertung der bürgerlichen Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu klischeehaften und „manchmal zu bizarren Deutungen“ tendiere. 48 Tillich habe letztlich „die innere Stringenz eines philosophischtheologischen Systems“ einer notwendig immer im relativen verbleibenden historischen Analytik vorgezogen und daher das historische Material auch gerne durchaus „großzügig“ interpretiert. 49 Die hier angestellte Untersuchung zur Deutung und theologischen Evaluierung der modernen Kultur bei Simmel, Troeltsch und Tillich teilt diese Deutung Fischers und verschärft sie in gewisser Weise. Die unterschiedlichen, der theologischen Programmatik zugrundeliegenden Auffassungen von der Möglichkeit einer Kulturdeutung stellen sich im Vergleich der Standortepistemologien als Alternativen einer konstruktivistischen „historischen Methode“ der Theologie mit theologischer Individualitätsemphase bei Troeltsch und als individualitätskritische „Kulturtheologie“ mit normativer Geschichtsteleologie bei Tillich dar. Es hieße freilich sowohl Tillich wie Troeltsch unterschätzen, wenn unterstellt wird, sie hätten die ihren Konstruktionsprinzipien immanenten Probleme nicht auch selbst im Blick gehabt. Im Spätwerk Troeltschs mit der Formel „Geschichte durch Geschichte überwinden“ wie in Tillichs letztem Vortrag Die Bedeutung der Religionsgeschichte für den Systematischen Theologen (EW IV, 144-156) mit der Formel von der „Religion des konkreten Geistes“ und der mit ihr gegebenen neuen Würdigung der historischen Lebenswirklichkeit werden Denkbewegungen sichtbar, die als Annäherung Tillichs an Troeltsch wie umgekehrt Troeltschs an Tillichs interpretiert werden können. Vor allem aber machen sie hier Aufgaben einer zukunftsträchtigen Theologie der Kultur geltend, die bis heute alles andere als erledigt sind.

47 Vgl. H. Fischer, Tillichs Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft in theologiegeschichtlicher Perspektive, a.a.O. (Anm. 3), 31. 48 H. Fischer, Tillichs Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft in theologiegeschichtlicher Perspektive, a.a.O. (Anm. 3), 35. 49 H. Fischer, Tillichs Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft in theologiegeschichtlicher Perspektive, a.a.O. (Anm. 3), 35 f. Ähnlich G. Pfleiderer, Kultursynthese auf dem Katheder, a.a.O. (Anm. 35), 135 f.

Religiöses Selbstbewusstsein und kulturelle Form bei Paul Tillich und Karl Barth DIETRICH KORSCH

1. Die Konzentration des religiösen Selbstbewusstseins An religiösem Selbstbewusstsein hat es weder Paul Tillich noch Karl Barth gemangelt. Die weitgespannten systematischen Entwürfe ebenso wie die pointierten Merksätze und Leitbegriffe, die wir den Altersgenossen des Jahrgangs 1886 verdanken, bringen das hinreichend zum Ausdruck. Dass dieses religiöse Selbstbewusstsein sich aber so neuartig ausspricht, ist nicht allein dem individuellen Charakter Tillichs und Barths geschuldet; es hat stattdessen mit der Zeitlage zu tun, an der beide Anteil haben. Mit der Wahrnehmung von geschichtlichen Situationen und Epochen durch die Theologie hat es eine besondere Bewandtnis. Einerseits gilt, dass der Aufgabe zu folgen ist, die Identität des Christentums unter sich wandelnden historischen Bedingungen fortzuführen. Das bedingt den Rückgriff auf religiöse und gedankliche Konzeptionen in der Geschichte des Christentums, die so transformiert werden müssen, dass das Wesen des Christentums noch deutlicher zutage tritt als dann, wenn man an alten Formen festhält; insofern ist die Akkommodation immer zugleich Reformation. Andererseits lässt sich der Vorgang, in dem eine solche Akkommodation als Reformation stattfindet, nur schwer systematisieren und schematisieren. Das hat damit zu tun, dass der beabsichtigte neue theologische Ausgriff auf die Selbstrepräsentation des Christentums nur dann gelingt, wenn er von größter Allgemeinheit ist, also die letzten Prinzipien der theoretischen und praktischen Selbstverständigung einschließt. Insofern lässt sich eine Theorie des Wandels in der Theologie keinesfalls in der Form geben, dass sie die neu zu konstellierenden Elemente nur wie Spielmarken auf einem vorhandenen Plan verschiebt. Darum kann auch die Zuordnung einer neu konfigurierten Theologie zu philosophischen Leitgesichtspunkten nicht vorab gegeben werden; das Verhältnis verdankt sich vielmehr einer experimentellen Anordnung, deren Erfolg nicht zuletzt von

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der hermeneutischen Erschließungskraft und damit von der Rezeptionsbereitschaft der Zeitgenossen abhängt. Kann man diese beiden Aspekte als Analysegesichtspunkte als in jedem theologischen Wandel bedeutsam annehmen, so ist damit doch die Konkretion eines bestimmten Konzeptes von neu konzipierter Theologie nicht erreicht. Dazu bedarf es vielmehr eines genauen historischen Blicks. Dem zeigt sich stets die individuelle Besonderheit der jeweiligen Zeitlage – und dann auch die Reichweitendifferenz in der Herausforderung zur Neukonstellation. Denn nicht alle Zeiten stellen in derselben Grundsätzlichkeit vor die Aufgabe, das Feld der Theologie neu zu vermessen. Für die moderne Theologie wird man jedoch zwei grundsätzliche Anstöße zu einem neuen Selbstverständnis und einer neuen Artikulation des Wesens des Christentums annehmen können; sie seien hier nur durch die politischen Ereignisse von 1798 und 1918 gekennzeichnet (inklusive der Jahrzehnte, die diesen Zäsuren der europäischen Geschichte vorausgehen). Man wird sagen dürfen, dass die bürgerliche Wende der Theologie im Aufgang des langen 19. Jahrhunderts sich an dessen Ende zur Krise des bürgerlichen Subjekts zuspitzt – und damit eine neue Tieferlegung der theologischen Prinzipienlehre fordert. So jedenfalls haben Tillich und Barth in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg selbst ihre Zeit gesehen und empfunden: als eine Zeit, in der die für das 19. Jahrhundert zutreffenden Rahmenbedingungen theologischer Artikulation aus historischen Gründen ihre Gültigkeit verloren haben. Damit stellt die Zeitlage vor die Aufgabe, eine grundsätzliche Neuanlage der Theologie in Angriff zu nehmen. Und das wesentliche Aufbaumoment dieser Theologie ist das religiöse Selbstbewusstsein – in einem empirischen, nicht schon in einem begrifflich explizierten Sinn verstanden. Denn die gesellschaftlichen Umstände, unter denen Kirche und Gesellschaft, Religion und Kultur, Theologie und Philosophie einander zugeordnet waren, hatten für sie die Triftigkeit verloren. 1 Stattdessen ist nach neuen Grund1

Diese Diagnose lässt sich übrigens gar nicht mit externen Gründen bestreiten. Wenn die beiden analytischen Aspekte zutreffen, die eingangs erwogen wurden, dann verdankt sich jede theologische Zeitwahrnehmung einem synthetischhermeneutischen Blick, der sich allein durch die Tat und das nachfolgende Verstehen oder Missverstehen rechtfertigt. Insofern wäre auch eine mögliche Kritik an der angeblich hier vorherrschenden „Dramatisierung“ der Zeitlage angesichts weiterbestehender Kontinuitäten selbst nichts anderes als eine eigene theologische Zeitinterpretation, die sich ihrerseits dem Plausibilitätstest in der Konstruktion und Rezeption zu stellen hätte. Umgekehrt bekommt man aber, wenn man der zeitgenössischen Selbstwahrnehmung um 1918 folgt, sehr viel genauer die

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legungsfiguren der Theologie zu suchen, die die religiöse Wirklichkeit genauer in den Blick zu nehmen erlaubt. Und eine wesentliche Voraussetzung dafür besteht in der Vereinzelung des religiösen Selbstbewusstseins, einer Isolierung gegenüber den dominanten Bestimmungskräften von Kultur und Gesellschaft. Barth hat diese geschichtliche Stellung einmal auf die Formulierung gebracht, dass es „eine notwendige Zeitbestimmtheit der Wahrheit“ gibt. 2 Und das zwischen Barth und Tillich durchaus unkontroverse Zeitverständnis besteht darin, dass es sich in der damaligen Gegenwart um eine Zeit der „Krise“ handelt. Diese gemeinsame Überzeugung drückt sich dann etwa in Tillichs Absicht aus, die Debatte mit Barth im Jahr 1923 nicht zu einer Nivellierung dieses notwendigen Krisenbewusstseins werden zu lassen 3 – ebenso wie in Barths Unterstellung einer „unterirdischen Arbeitsgemeinschaft“ mit Tillich. 4 Auf der anderen Seite ist die Rezeption der beiden Neugestaltungen der Theologie, wie sie auf Barth und Tillich zurückgehen, doch gegensätzlicher kaum denkbar. Ein Nachhall davon ist noch aus Tillichs Rückblick von 1948 zu hören, wenn er den eigenen, durchaus als „romantisch“ bezeichneten Aufbruch der „Neo-Orthodoxie“ Barths entgegenstellt. 5 Nun ist genau das Gegenstand der weiteren Erörterung. Wie kommt es, dass das gemeinsame Ausgangsbewusstsein, in der Situation der Zeit handle es sich um eine Krise tiefsten Ausmaßes, zu einem solchen Gegensatz nicht nur der Formulierung der Lösungsversuche, sondern auch der Rezeption führt? Und was hat diese Konstellation zu bedeuten – wenn es

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grundsätzlichen Aufbauelemente theologischen Wandels in den Blick – und gewinnt damit paradigmatische Einsichten für die Beschreibung solcher Abläufe; so ist die Analyse eben auch vorgegangen. K. Barth, Die Kirche und die Kultur, in: D. Korsch (Hg.), Schriften I, Frankfurt/Main/Leipzig 2009, 345. P. Tillich, Kritisches und positives Paradox, in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil I, München 1966, 165. K. Barth, Von der Paradoxie des „positiven Paradoxes“, in: J. Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, a.a.O. (Anm. 3), 175. P. Tillich, Religion und Kultur, GW VI, 83. Diese Deutung ist ein Beispiel dafür, wie die gemeinsame Wahrnehmung einer neuen Zeitlage im Rückblick mit „alten“ Kategorien interpretiert werden soll. Sie ist darum auch unproduktiv – und hätte sich eher darum zu bemühen, die damalige Gemeinsamkeit selbst darum als spannungsvoll darzutun, weil jede Position in sich noch einmal spannungsreich ist. Das liefe auf die Aufgabe hinaus, nun auch die Wege zu skizzieren, die zur jeweiligen Auflösung der Spannung geführt haben.

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sich nicht um eine zufällige Divergenz zwischen theologisch gebildeten Individuen handelt? Die Antwort auf beide Fragen hat mit dem Verhältnis von religiösem Selbstbewusstsein und kultureller Form zu tun. Und sie ist lehrreich über die historische Ausgangslage hinaus.

2. Das religiöse Selbstbewusstsein und seine kulturelle Ausdrucksform Religiöses Selbstbewusstsein, das genötigt ist, sich auf sich selbst zu konzentrieren, muss sich auch und gerade dann besonders authentisch zu artikulieren versuchen. Diese Artikulation kann sich nun einerseits nur so vollziehen, dass alle herkömmlichen Muster und Raster des Sichausdrückens verlassen werden; sie kann dieses Abstandnehmen aber auch nur so vornehmen, dass es in Kritik der unzureichenden Ausdrucksgestalten verläuft. Diese Kritik allerdings darf sich selbst nicht wieder durch ein dialektisches Schema einfangen und abbilden lassen, wenn die Unbedingtheit des Ausgangspunktes, wie sie sich in der Selbstäußerung des religiösen Selbstbewusstseins zur Geltung bringt, nicht wieder dementiert werden soll. Eben diese Konstellation führt auf die Figur der Paradoxie des Unbedingten, womit ein dialektisch nicht mehr zu integrierender Unterschied gemeint ist. Tillich hat diese Figur in seiner Religionskritik von 1922 überaus klar herausgearbeitet. Er sieht genau, dass das Unbedingte nicht als solches gegeben ist, sondern durch den Modus seiner Inanspruchnahme zur Geltung gebracht wird. Und er sieht ebenso deutlich, dass es diese Inanspruchnahme ist, die dafür verantwortlich zeichnet, dass das dialektische Schema von Objekt und Subjekt (oder wie immer man es formulieren will) durchbrochen wird. Das heißt aber, dass im Begriff des Paradoxons zwei Momente zu unterscheiden sind, ein sozusagen logisches, das auf die unabschließbare Begriffskonstellation geht, derzufolge das Unbedingte mit dem Bedingten (im Schema von Objekt und Subjekt) nicht begrifflich zu vereinen ist, und ein gewissermaßen pragmatisches, das der Situation geschuldet ist, in der sich das religiöse Selbstbewusstsein rein auf sich selbst gestellt so artikuliert, dass es „Gottesgewißheit“ als „die in der Selbstge-

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wißheit des Ich enthaltene und sie begründende Gewißheit des Unbedingten“ versteht. 6 Nun nimmt Tillich die unlösbare Verbindung von religiösem Selbstbewusstsein und kultureller Form auch an dieser Stelle und in dieser paradoxen Fassung wahr. Denn wenn es zutrifft, dass im religiösen Selbstbewusstsein wirklich das Unbedingte artikuliert wird, dann reicht dessen Geltung über diese Partikularität des religiösen Bewusstseins hinaus. Dann muss die Geltung des Unbedingten an allen Orten der (Natur und der) Kultur behauptet werden. Diese aus dem religiösen Bewusstsein geborene Behauptung kann sich allerdings nur dann bewähren, wenn auf dem Boden eines wissenschaftlichen und ästhetischen, also eines kulturellen Bewusstseins überhaupt, diese Orientierung aufs Unbedingte nachempfunden werden kann. Insofern stellt die religiöse Behauptung einer unmittelbaren Geltung des Unbedingten eine neue Form der kulturellen Präsenz des Unbedingten dar – und formuliert eine hermeneutische Aufgabe zur kulturellen Selbstverständigung. Über den Begriff des Paradoxen ist es bekanntlich 1923 zur (einzigen ausgeführten) Debatte zwischen Tillich und Barth gekommen. Sie ist immer noch aufschlussreich, sowohl für die Konzeption der beiden Gesprächspartner als auch, was uns besonders interessiert, für das Verhältnis beider zueinander. Tillichs Argument besitzt eine hohe logische Schlüssigkeit. Es lautet so: Wenn man – unter gemeinsamer Voraussetzung der Unerlässlichkeit paradoxer Redeweise – einsieht, dass die erste Wendung im Gedanken des Paradoxen eine kritische ist, dann kann man diese Figur der Kritik tatsächlich über alle Verhältnisse von Kultur und Gesellschaft ausdehnen, die Religion inbegriffen. Alle kulturellen Erscheinungen als solche sind nicht, weder je für sich noch gemeinsam, zeugniskräftig für die Unbedingtheit des Unbedingten. Damit affirmiert Tillich die umfassende Kritik, die er auch bei Barth unterstellt, und darin spricht sich die gemeinsame Deutung der Zeitlage als Krise aus, die die spezifische Kritik durch das religiöse Selbstbewusstsein heraufführt. Nun lässt sich diese durchgreifend kritische Haltung aber nur dann konsequent durchführen, wenn die Voraussetzung, unter der sie geschieht, nicht selbst wieder der Kritik angesichts 6

P. Tillich, Die Überwindung des Religionsbergriffs in der Religionsphilosophie, GW I, 378. Dass Tillich am Anfang dieses Textes die Paradoxie als „notwendige Form jeder Aussage [!] über das Unbedingte“ mit einer „Aufgabe an das Schauen“ verbindet, weist bereits auf diesen Zusammenhang von pragmatischem und logischem Aspekt hin.

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des Unbedingten unterliegt. Noch genauer: Will sich die Kritik im Namen des religiösen Selbstbewusstseins von einer beliebigen standpunkthaften (und insofern ideologischen) Kritik unterscheiden, dann muss sie sich selbst auf eine Voraussetzung berufen, die der Kritik entnommen ist – eben eine positive Grundlegung ihrer Kritik in Anspruch nehmen. Das ist eben die Voraussetzung des Unbedingten selbst – die sich selbstverständlich auch wieder in einer Selbstkritik des religiösen Selbstbewusstseins Geltung verschafft. 7 In der Tat, das ist die Frage Tillichs an Barth: Von welcher Voraussetzung geht die dialektische Kritik aus, wenn sie nicht sich selbst (partikular) dogmatisieren will? Ist aber die unvordenkliche Positivität des Unbedingten einmal verstanden, dann darf und muss auch mit der universellen Präsenz des Unbedingten an allen Orten der Kultur gerechnet werden. Dann kann und muss die Theologie, in deren Zusammenhang sich das religiöse Selbstbewusstsein in der Inanspruchnahme des Unbedingten artikuliert, auch mit den kulturellen Phänomenen in der Weise konkreter Kritik umgehen, nämlich in Gestalt der Unterscheidung von unbedingtem Gehalt und begrenzter Form. Also in einer Weise, die die Leere einer auf sich gestellten Form oder die abstrakte Autonomie kritisch auszeichnet, um auf den wahren Gehalt oder die wirkliche Theonomie in demselben Phänomen der Kultur zu verweisen. Darum lässt Tillich in seinem kritischen Beitrag zu Barths Dialektik auch eine positive Skizze von differenziert zu beurteilenden Kulturerscheinungen folgen. 8 Und er sucht, darüber hinaus, auch eine abschließende Zusammenfassung seiner gesamten Argumentation in der Christologie zu geben, sofern die religiöse Erschließung des Unbedingten ihren Grund besitzt in der „unanschaulichen Offenbarungsgeschichte, die durch die Geschichte verborgen hindurchgeht und in Christus ihren vollkommenen Ausdruck gefunden hat“ 9 . Tillichs Beschreibung der Barthschen (und auch der Gogartenschen!) Position besitzt prima vista eine hohe Schlüssigkeit, die sich im Blick auf 7

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An dieser Stelle wäre die Rolle des Symbolbegriffs weiter zu thematisieren – als die Weise, wie die Unbedingtheit des Unbedingten sich empirisch fassen lässt. Dessen Erörterung wird aber hier übergangen; auch darum, weil sich die entsprechenden Probleme im Medium der kulturellen Form überhaupt durchaus wiederholen. P. Tillich, Kritisches und positives Paradox, a.a.O. (Anm. 3), 168-173. P. Tillich, Kritisches und positives Paradox, a.a.O. (Anm. 3), 174. Dass sich an dieser Stelle alle Fragen an den Symbolbegriff konzentrieren, versteht sich von selbst.

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die Religionskritik veranschaulichen lässt. Um nur ein Beispiel von Barth zu geben: „Um Gott handelt es sich, um die Bewegung von Gott her, um unser Bewegtsein durch ihn, nicht um Religion. Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe! Das sogenannte ‚religiöse Erlebnis‘ ist eine durchaus abgeleitete, sekundäre, gebrochene Form des Göttlichen. Es ist auch in den höchsten und reinsten Fällen Form, nicht Inhalt.“ 10

Allerdings wird man sich nicht verhehlen können, dass Barth durchgängig darauf verzichtet, diesem Gedanken im Begriff der Paradoxie einen terminologisch festen Ausdruck zu geben. 11 Zwar gilt die Tatsache, dass „der Gedanke der göttlichen Kraft in der menschlichen Schwachheit grundsätzlich (im Gegensatz zu jeder Doktrin) nur immer neu zu denken ist, als wäre er noch nie gedacht“, als paradox. 12 Aber der „Glaube ist gerade in der vollen Paradoxie seines Begriffs als menschlicher Hohlraum […] die Wende, die Drehung, die Umkehr, in der die Gleichgewichtslage, in der sich Ja und Nein, Gnade und Sünde, Gutes und Böses im Menschen befinden, gestört und aufgehoben wird.“ 13

Damit hebt Barth darauf ab, dass in dem konstatierten Paradox eine Bewegung zu beobachten ist, die das Gleichmaß von Differenz und Identität unterbricht – und die also auch, so muss man schlussfolgern, die Entdeckung der Einheit einer spezifisch theologischen Dialektik leiten muss. Der Begriff einer theologischen Dialektik im Sinne Barths, wenn man ihn denn bilden will, markiert auf der einen Seite die Differenz von menschlichem Reden und göttlicher Wirklichkeit: „[D]aß dem, was wir sagen, wenn wir die paulinischen Paradoxien nachsprechen, Realität entspricht, das steht nicht bei uns, das steht bei Gott. Und über Gott haben wir nicht zu verfügen, und wenn wir über die Dialektik des Gottesgedankens noch so trefflich verfügten.“ 14 10 K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in: D. Korsch (Hg.), Schriften I, a.a.O. (Anm. 2), 196 f. 11 Wie wenig spezifisch der Paradoxie-Begriff für Barths dialektische Theologie ist, zeigt sich schon an der Tatsache, dass er bereits in den sogenannten „vordialektischen“ Schriften präsent ist. Vgl. D. Korsch (Hg.), Schriften I, a.a.O. (Anm. 2), 19 f. 86. 120 f. 12 K. Barth. Der Römerbrief, Zollikon-Zürich 21947; zu Röm 6, 3-6 siehe D. Korsch (Hg.), Schriften I, a.a.O. (Anm 2), 140. 13 K. Barth. Der Römerbrief, a.a.O. (Anm 12); zu Röm 6, 8-11 siehe D. Korsch (Hg.), Schriften I, a.a.O. (Anm. 2), 150. 14 K. Barth. Das Problem der Ethik in der Gegenwart, in: D. Korsch (Hg.), Schriften I, a.a.O. (Anm. 2), 289.

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Darum besitzt aber auch das paradoxe Verfahren, trotz seiner Unausweichlichkeit, keinen logischen Vorzug: „Es gibt keinen Weg zu Gott von uns aus, auch keine via negativa, auch keine via dialectica oder paradoxa. Der Gott, der am Ende eines menschlichen Weges stünde, wäre, auch wenn es sich um diesen Weg handelte, schon darum nicht Gott.“ 15

Dieser Blick auf Barths Verwendung des Paradoxie-Terminus lässt die eigentümliche Anfälligkeit von Barths Antwort an Tillich verstehen. So sehr sich Barth einerseits dagegen verwehrt, auf den dialektischen Gedanken von der Vorausgesetztheit eines unvordenklich Positiven im Vornehmen universeller Kritik erst von Tillich gebracht werden zu müssen, so sehr verweigert er sich doch andererseits der Tillichschen Konsequenz, nun diese Voraussetzung mit Gott selbst zu identifizieren. 16 Das heißt, Barth besteht auf einem bleibenden Unterschied zwischen dem Begriff des Unbedingten und Gott. Diese Auffassung kann sich nun nicht darauf beziehen, dass der Begriff des Unbedingten mit dem Ausdruck „Gott“ gedanklich inkompatibel wäre, denn das ist er nicht. Es ist also nicht der logische Aspekt der Paradoxie betroffen, wie ich das oben nannte. Es ist vielmehr der pragmatische Aspekt, der von Barth stark gemacht wird; dieser gilt ihm als ein solcher, der mit dem logischen Moment nicht identifizierbar ist. Anders gesagt: Barth sieht in Tillichs Konzentration auf den Terminus des Unbedingten den diesem selbst zugrundeliegenden Ausgangsimpuls einer authentischen Selbstäußerung des religiösen Selbstbewusstseins untergegangen. Legt man sich die Dinge so zurecht, dann werden auch Barths weitere drei Kritikpunkte an Tillich plausibel. Barth nimmt Anstoß an Tillichs Rede in Indikativen, am Generalisieren und an seiner Funktionsbestimmung der Christologie. In der Tat liegt es in der genauen Konsequenz von Tillichs Gedanken, dass die religiös statuierte Unbedingtheit unabhängig von ihrem partikularen Geltendmachen umfassend zutrifft, also auch wirklich in den Phänomenen der Kultur vorliegt (das rechtfertigt die Indikative) – und zwar in allen (das begründet die Generalisierung). Weil es sich aber beim Gedanken des Unbedingten um einen solchen auf unmittelbare und universelle Präsenz hinzielenden Sachverhalt handelt, kann die Christolo15 K. Barth. Das Problem der Ethik in der Gegenwart, a.a.O. (Anm. 14), 290. 16 K. Barth, Von der Paradoxie des „positiven Paradoxes“, a.a.O. (Anm. 4), 176. Dort heißt es weiter: „Ja, sie haben ganz Recht, Tillich und die Anderen, wenn sie offenbar an dem Punkt, auf dessen Bestimmung alles ankommt, bei uns nur ein Loch wahrzunehmen vermögen.“

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gie auch (nur) schlüsselhaft-paradigmatische Funktion einnehmen; sie ist nicht konstitutiv für die religiöse Authentizität als Basis eines sich konzentrierenden religiösen Bewusstseins. So darf man als erstes Fazit folgendes festhalten: Die Kontroverse zwischen Tillich und Barth aus dem Jahr 1923 über den Begriff des Paradoxes realisiert auf unterschiedliche Weise die krisenhafte Ausgangslage der christlichen Religion mit Mitteln der Theologie. So sehr die gemeinsame Voraussetzung gilt, dass im Moment der (als durchgreifend bestimmten) Krise allein das religiöse Selbstbewusstsein als Ausgangspunkt von Geltungsbehauptungen in Betracht kommt, so sehr unterscheiden sich die Ausführungen beider Theologen. Und zwar so, dass Tillich die Tatsache artikuliert, dass das Geltendmachen des Unbedingten sich im Medium menschlicher Sprache und gemäß den Gesetzen vernünftigen Denkens vollzieht – was die Aufgabe einschließt, sowohl den Unterschied von Paradox und Dialektik auszuformulieren als auch die Omnipräsenz des Unbedingten festzuhalten. Barth dagegen hält, ohne Tillichs logischem Argument gründlich widersprechen zu können, daran fest, dass das Moment des Hervorbringens und Geltendmachens der Wahrheit des religiösen Bewusstseins sich selbst noch einmal der Wirksamkeit seines eigenen religiösen Grundes verdankt, deren die theologische Reflexion, auch bei letzter Anstrengung, aus prinzipiellen Gründen nicht begrifflich Herr werden kann. Die Kontroverse über den Paradoxiebegriff stellt aber nur den Brennspiegel dar für die theologische Selbstverortung der christlichen Religion im Medium von Kultur und Gesellschaft. Mit dankenswerter Klarheit und Genauigkeit haben Tillich und Barth sich zu den Konsequenzen ihres auf derselben Grundlage unterschiedlich artikulierten Theologieverständnisses geäußert.

3. Kirche und Kultur Im Herbst 1919 hielt Karl Barth im thüringischen Tambach den Vortrag Der Christ in der Gesellschaft. Die Einladung dazu war von deutschen Religiösen Sozialisten ergangen, und es handelte sich um den ersten öffentlichen Auftritt Barths in Deutschland nach der Veröffentlichung des Römerbriefs. Offenbar hatten sich die Einladenden, aus der Lektüre von Barths Buch mit den stärksten eschatologischen Metaphern vertraut, eine kräftige Unterstützung ihrer Bewegung aus einem authentisch religiösen

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Bewusstsein versprochen. Barth hat, wie man weiß, diese Erwartungen enttäuscht. Denn zu der Zeit war er bereits über den Versuch hinausgegangen, durch eine Steigerung der eschatologischen Metaphorik eine prinzipiell-kategoriale Umschreibung des Krisenbewusstseins geben zu wollen. Stattdessen überraschte er die Zuhörerschaft durch eine strenge Vorordnung des Reiches Gottes vor alle menschliche Aktivität – und durch die Behauptung, dass dieser Primat sich zugleich in einer unerschöpflichen Primordialität der Schöpfung vor der Versöhnung darstelle, so dass die aktuelle Lage, in der die Kritik (zu Recht!) laut werde, doch nur die Aufnahme des Vorausgesetzten sein könne. Barth kleidete diesen Gedanken in eine merkwürdige Umkehrung der dialektischen Schlagworte. Er sprach von dem Primat der Synthesis, dem sowohl die Thesis (nämlich die Schöpfung als regnum naturae) als auch die Antithesis (nämlich die Versöhnung oder das regnum gratiae) entsprängen. 17 Diese eigenwillige Anordnung ermöglichte es Barth, einerseits die Unhintergehbarkeit der natürlichen Welt als Rahmen auch religiössozialer Aktivität festzuhalten (also gegen den dieser Bewegung nicht fremden Utopismus zu sprechen), andererseits die beabsichtigte politische Wirksamkeit dann doch mit dem Gewicht des Herkommens aus dem göttlichen Reich zu versehen (sie damit aber zugleich auch in den Kontext anderer sozialistisch-kritischer Bewegungen zu stellen). Und das alles aus einem verschärft differenztheoretischen Blickwinkel, nämlich der kategorialen Überordnung des Reiches Gottes als eines letzten Ursprungs und eines dynamischen Kraftquells zugleich. Der Vortrag bemühte sich um eine Transformation der religiös-sozialen Bewegung, nämlich einerseits um eine authentische Vertiefung des religiösen Grundes, der nicht nur ein theologisch maskierter politischer sein sollte, andererseits um eine praktische Verbreiterung des politischen Aktionszusammenhanges, indem die Nähe zur Sozialdemokratie als einer gesellschaftlichen Alternativbewegung zum vergangenen Kaiserreich nahegelegt wurde. Nimmt man diese Akzentsetzungen in systematischer Perspektive wahr, dann besagen sie: Der religiöse Ursprung, wie er vom Christentum nun realisiert werden soll, lässt sich nicht in eine kulturelle Allgemeinheit überführen; und die politische Aktion des Widerstandes und Neuaufbaus aus religiösem Geist steht in Koalition mit anderen politischen Bewegungen, die sich auf eigene Art und mit eigenen Gründen selbst auslegen.

17 Vgl. K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 10), 207. 217. 225.

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Im Unterschied zu Barths Tambacher Vortrag lassen sich die Akzente Tillichs aus demselben Jahr 1919 besonders deutlich hervorheben, und zwar sowohl im Blick auf das Verhältnis von Religion und Kultur als auch auf das Verständnis des religiösen Sozialismus. In seinem Vortrag vor der Berliner Kantgesellschaft Über die Idee einer Theologie der Kultur arbeitet Tillich mit einer Unterscheidung, der derjenigen Barths zunächst sehr nahe zu stehen scheint, indem er das Form-Inhalt-Schema durch den Gedanken eines überschießenden „Gehaltes“ sowohl vom Ursprung her wie im Weg auf das Ziel hinaus umfängt. „Gehalt“ ist dasjenige, was „Form“ zu erfüllen strebt, aber stets nur „Inhalt“ bildet, der gewissermaßen von der „Form“ seiner Lebendigkeit beraubt wird. Darum kann und muss dieser „Gehalt“ auch immer wieder kritisch gegen die schon eingetretene Verwirklichung geltend gemacht werden – so dass damit alle versteinerten Verhältnisse in neue Bewegung geraten. Gehalt – Inhalt – Form: Das sind für Tillich in jenem Vortrag religiös inspirierte Momente der Analyse der Zeit. Nun kommt es aber weiter darauf an – und das ist entscheidend –, dass diese Analyse sich auch praktisch-eingreifend umsetzt. Das kann nur so geschehen, dass in allen kulturellen Phänomenen eben die Differenz von „Gehalt“ und „Form-Inhalt-Einheiten“ aufgesucht und kritisch artikuliert wird – mit dem offensichtlichen Bestreben, zu einer neuen, tieferen Einheit von „Gehalt“ und „Form“ zu gelangen. Es liegt auf der Hand, dass der religiös generierte Unterschied von „Gehalt“ und „Form-InhaltEinheit“ das Medium seines religiösen Ursprungs überschreitet und sich als universelle Struktur in Gesellschaft und Kultur entdecken lässt – so dass durchaus die Idee einer neuen „Einheitskultur“ auftaucht. Nun aber einer Einheitskultur, die sich nicht von oben her, durch gesellschaftliche Zwangsordnung und intellektuelle Bevormundung aufbaut, sondern durch eine religiöse Interpretation der in den Phänomenen selbst vorliegenden realen Gehaltlichkeit. Das Ziel ist, dass „ein einheitlicher Gehalt, eine unmittelbare geistige Substanz die gesamte Kulturbewegung erfüllt und sie dadurch zum Ausdruck eines allumfassenden religiösen Geistes macht“. 18 In der Frage der Trägerschaft dieser Umsetzung von Interpretation in gesellschaftliche Wirklichkeit kommt eine Kooperation von Theologie und Sozialismus in Betracht. Im Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur hält Tillich fest, dass „auch in einer neuen Einheitskultur […] dem Theologen die Bearbeitung der überwiegend religiösen Kulturelemente anvertraut“ wäre. (GW IX, 30) Doch kommt als gesellschaftliche Träger18 P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, GW IX, 29.

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gruppe für die Beförderung dieser neuen Einheitskultur vor allem ein religiös orientierter Sozialismus in Betracht, wie Tillich ebenfalls 1919 ausführt. 19 Denn nur das Christentum ist in der Lage, die sozialistische Intuition einer allgemeinen Humanität sowohl zu vertiefen wie deren politische Repräsentanten durchgreifend zu motivieren: „Damit gibt das Christentum dem Menschheitserlebnis des Sozialismus seinen eigentlichen Gehalt.“ (GW II, 28) Nach diesen Beobachtungen liegt nun auch Tillichs Konzeption klar auf der Hand. Die religiöse Ausgangsintuition, nämlich die Differenz des „Gehaltes“ gegenüber den „Form-Inhalt-Einheiten“, soll gesellschaftlich verallgemeinert werden; dafür braucht es empirische Trägergestalten; die müssen dann ihrerseits religiös inspiriert werden. Insofern ist der Ausdruck „religiöser Sozialismus“ in der Tat als eine Kernformel von Tillichs Auffassung im Jahr 1919 zu verstehen. Auch der Unterschied zu Barth scheint deutlich auf, denn von einer „neuen Einheitskultur“ aus religiösem Geist hätte dieser nie reden können. Wie sich dieser Unterschied im Verhältnis von Kirche und Kultur gestaltet, das haben beide Autoren in Texten mit fast derselben Überschrift in den Jahren 1924 und 1926 zu erkennen gegeben. Dabei drängt sich der Eindruck auf, dass Barths Amsterdamer Vortrag Die Kirche und die Kultur von 1926 20 zugleich einen impliziten Kommentar zu Tillichs Vortrag von 1924 Kirche und Kultur darstellt. 21 Tillich nimmt – und nur darauf kommt es in unserem Zusammenhang an – einerseits eine Distanzierung gegenüber der empirischen Kirche in ihrem Verhältnis zur Kultur vor, schlägt andererseits aber eine Intensivierung ihrer Kulturbeziehung in neu bestimmtem religiösem Geist vor. Die Distanzierung – gegenüber einer traditionellen Fassung des Problems in Gestalt einer Zuordnung von Sozialverbünden – besteht darin, dass Tillich das Verhältnis von Kirche und Kultur in das Verhältnis von heilig und profan überführt, die beide Darstellungen des „Gehaltes“ sind, um in der früheren Terminologie zu sprechen, des Unbedingten als Sinngrund, wie es jetzt heißt. Die spezielle religiöse Bevorzugung der Kirche wird damit in ihren allgemeinen Repräsentationscharakter des Unbedingten eingeordnet. Denn: „Beides muß erlöst werden, das Profane und das Heilige, die Gesellschaft und die Kirche.“ (GW IX, 36) 19 P. Tillich, Christentum und Sozialismus I, GW II, 21-28. 20 K. Barth, Die Kirche und die Kultur, a.a.O. (Anm. 2), 320-247. 21 P. Tillich, Kirche und Kultur, GW IX, 32-46.

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Das Moment, das für diese Erlösung zuständig ist, heißt jetzt: „Offenbarung“ – wodurch so etwas wie ein Tätigsein des Unbedingten zu verstehen ist. 22 Offenbarung aber „ist überall da, wo das Göttliche durchbricht, nicht als Religion, sondern als Aufhebung der Religion und als Aufhebung des Gegensatzes von Kultur und Religion“ (GW IX, 41). Unter diesem Blickwinkel fällt dann die berühmte, mehrfach wiederholte, oft kontextfrei zitierte Formulierung: „Dem Wesen nach sind Kirche und Gesellschaft eins; denn der tragende Gehalt der Kultur ist die Religion, und die notwendige Form der Religion ist die Kultur.“ Will man die Formel genau verstehen, dann muss man sagen: Das Verhältnis von Religion und Kultur ist ein Interpretationsverhältnis, das auch in die Ausdrücke „Gehalt“ und „Form-Inhalts-Einheit“ gebracht werden kann. Das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft ist dagegen ein Verhältnis von sozialen Institutionen, in denen das Verhältnis von Religion und Kultur sich unterschiedlich darstellt – einmal mehr auf die Besonderheit des Eingehens des Sinngrundes ins Endliche konzentriert (Kirche), einmal mehr auf die Allgemeinheit aller Sinnformen im Endlichen (Gesellschaft). Daraus erhellt nun aber das zweite hier zu unterstreichende Moment in Tillichs Aufstellungen, nämlich die Funktionsbestimmung der Kirche. Es ist konsequent, dass die empirische Kirche ihren religiösen Sinn allein darin erfüllt, dass sich in ihr eine Gemeinde bildet, die um den „Gegensatz der Offenbarung gegen Kultur und Religion in gleicher Weise“ weiß – und damit um ihre eigene „Selbstaufhebung“: „[D]iese Gemeinde ist unsichtbar.“ (GW IX, 42) In ihr realisiert sich freilich der protestantische Kirchenbegriff, so muss man Tillich verstehen. Denn diese unsichtbare Gemeinde zeichnet sich durch das Hören auf die Offenbarung aus, und zwar „ganz gleich, ob von der religiösen oder der kulturellen Seite her“ (GW IX, 44). Eben „damit hebt sie die Zerspaltenheit auf und schafft den Keim der neuen Einheit, der neuen Theonomie“ (ebd.). Die empirische Kirche kommt in diesem Gefälle in Betracht als Institution der „Wegbereitung“ (GW IX, 46), also als Feld der Einübung in die religiöse Präzision der Aufmerksamkeit auf die Offenbarung, die sich ihrer gesellschaftlichen Triftigkeit gerade dadurch versichert, dass sie Symbole ausbildet, die die Präsenz der Offenbarung oder des „Gehaltes“ auch jenseits der Religion zur Geltung bringt. Die empirische Kirche steht so in einem Feld der

22 Von der „Tat Gottes“ ist in diesem Zusammenhang auch die Rede (GW IX, 38. 43).

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potentiellen Verallgemeinerung der Symbolkraft der Offenbarung bzw. des Unbedingten in seinem Aktualitätsmodus. Hält man nun Barths Vortrag von 1926 dagegen, dann werden abermals Nähe und Unterschied deutlich. Barth versteht die Kirche als paradigmatisches Erschließungsmuster für das Verständnis der Kultur. Aber er tut das unter einer charakteristischen doppelten Differenzbestimmung, einmal der Differenz von Innen- und Außenbetrachtung, sodann einer Differenz in der Innenperspektive selbst – und das Verhältnis dieser Unterschiedsverhältnisse ist bleibend nicht synthetisierbar. Und zwar darum, weil die innere religiöse Differenzstruktur unaufhebbar ist. Das sei etwas näher entfaltet. Der erste Unterschied, den Barth macht, ist der zwischen der Betrachtung der Kirche als Institution in Geschichte und Gesellschaft und ihrer religiösen Wirklichkeit. Als religiöse Institution lässt sie sich in ihrem Umgang mit ihren Mitgliedern und ihrem Gehalt so analysieren wie alle anderen Institutionen auch. Das heißt umgekehrt, dass die Behauptung der religiösen Wirklichkeit als davon unterschieden allein aus dem religiösen Selbstbewusstsein heraus vorgenommen werden kann. Dieses beweist diese eigene Wirklichkeit dadurch, dass es seine Struktur explizit religiös aufgebaut weiß: „Die Kirche ist die durch Gott selbst eingesetzte Gemeinschaft des von seinem Wort lebenden Glaubens und Gehorsams sündiger Menschen.“ 23 Damit ist in der Kirche ein Mechanismus am Werk, der die Anerkenntnis von elementarer Differenz („sündige Menschen“) durch eine Vermittlung („Wort“) zu einer Differenzeinheit („Gemeinschaft des Glaubens und Gehorsams“) transformiert. Eben diese negativ-dialektische Struktur nun gilt Barth als Schlüssel für das Verständnis der Kultur. Das ist nämlich der zweite Unterschied, der hier aufgemacht wird. Von der Kultur gilt, dass sie der Aufgabe gewidmet ist, die „in der Einheit von Leib und Seele zu verwirklichende Bestimmung des Menschen“ zur Darstellung zu bringen. Die hier in anthropologischer Kürze aufgebotene Zielsetzung besagt de facto nichts anders als dies, dass auf dem Grunde der Kultur eine bestimmungsbedürftige, aber unabschließbare Differenz liegt, wie sie elementar in den beiden Leitbegriffen „Seele“ und „Leib“ ausgedrückt wird. Kultur ist und bleibt Differenzkultur. Allerdings wird diese allgemeine Kennzeichnung dann aus religiöser Sicht mit Indizes umgeben, die den Umgang mit ihr anleiten. Erstens nämlich ist, unter der 23 K. Barth, Die Kirche und die Kultur, a.a.O. (Anm. 2), 320. NB: „Gemeinschaft des Glaubens und Gehorsams“ – nicht „Gemeinschaft von Menschen“!

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religiösen Auffassung der Kultur, die Differenz eine solche, die sich tatsächlich bestimmen lässt, und damit eine solche, zu deren Bestimmung schon strukturell aufgefordert wird, noch unabhängig von den Medien, mittels derer solche Bestimmung vorgenommen wird. Zweitens gilt von dieser Bestimmung (aus derselben religiösen Perspektive geurteilt), dass sie verpflichtend verfolgt werden muss. Man kann sich der in der Struktur der Differenz angelegten Aufgabe nicht entziehen. Drittens ist und bleibt die gesetzte Aufgabe, nach dem religiösen Urteil, eine solche, deren schließlicher Erfolg der eigenen Anstrengung entnommen ist (was vorläufige Erfolge nicht ausschließt). Dass die Kultur ihrer Verpflichtung entspricht, hat seinen Wert in sich; und sie bleibt der Verpflichtung, die unaufhebbare Differenz zu bearbeiten, gerade darin treu, dass sie auf die Anmaßung verzichtet, sie abschließend verwirklicht zu haben, also die Humanität in einem bestimmten geschichtlichen Moment zur Vollendung gebracht zu haben. Dass diese drei Aspekte von Barth mit religiösen Termini umschrieben werden (Schöpfung als Verheißung, Versöhnung als Gesetz, Erlösung als Erfüllung), gehört zu seiner Methode, gerade die religiös artikulierten Strukturen für hermeneutisch relevant zu halten. 24 Der religiöse Aufbau der Differenzstrukturen, den Barth in diesem Vortrag vornimmt, gründet in der religiösen Selbstdeutung einer Unvermittelbarkeit von göttlicher und menschlicher Differenzvermittlung. Die am Ort authentischer Religion artikulierten Unterschiedsverhältnisse („der von Gott gerechtfertigte Sünder“) strahlen aus auf die Differenz von Kirche als Institution und Kirche als religiöse Wirklichkeit einerseits, auf die Differenz von Kirche und Kultur andererseits. Umgekehrt resultiert aus der (allein) göttlichen Vermittlung der Unterschiede auch die Aufgabe, die kulturellen Differenzen einer zunehmenden Vermittlung zuzuführen – mit menschlichen Mitteln und dem Ziel der Humanität. Das bedeutet für die Kultur, dass sie sich – mit ihren eigenen Ressourcen (und die werden verschieden ausfallen!) – daran machen muss, sich zur Humanität zu bewegen, und zwar dezidiert unabhängig davon, dass es auch die Kirche in ihr gibt. Auf keinen Fall besteht die Notwendigkeit, dass die Kultur sich einen religiösen Gehalt aneignet. Und es besteht auch nicht die Möglichkeit dazu. Das gesellschaftliche Zielbild wäre also nicht Einheitskultur, sondern funktional befriedeter Pluralismus, in dem auch die Kirche als Insti24 Dass dann auch die Kirche in ihrer Außenperspektive denselben analytischen Gesichtspunkten unterliegt wie jedes Kulturphänomen, versteht sich von selbst und wird von Barth auch noch explizit geltend gemacht. Vgl. K. Barth, Die Kirche und die Kultur, a.a.O. (Anm. 2), 340-344.

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tution unter anderen vorkommt. Zu diesem Pluralismus gehört auch, dass die Interpretationsperspektiven unterschiedlich bleiben. Der gesellschaftlichen Außensicht auf die Kirche kann so wenig von dieser widersprochen werden wie der religiösen Strukturlehre über die Verhältnisse der Humanität; vollziehen muss jede Institution ihre eigene Sinnbestimmung selbst, so sehr die verschiedenen Interpretationen gerade im Bewusstsein eines nicht aufhebbaren Pluralismus miteinander im (durchaus auch kontroversen) Gespräch bleiben müssen.

4. Die Dialektik der religiösen Paradoxie und die Selbstbestimmungsbedürftigkeit der Kultur Die Krisendeutung nach 1918 gab der Theologie den Anstoß zu einer Konzentration auf das religiöse Selbstbewusstsein als Ausgangspunkt einer Sachund Ortsbestimmung der christlichen Religion. Dieser Impuls versetzte, wie wir sahen, die Theologie in eine selbst durchaus noch bestimmungsbedürftige Situation einer doppelten Paradoxie. Denn einerseits galt es die religiöse Besonderheit mit ihrem starken Geltungsanspruch faktisch-pragmatisch in Anspruch zu nehmen. Die religiösen Individuen Paul Tillich und Karl Barth machten beide, auf dem Hintergrund ihrer (differenten) theologischen Bildung und Lebensgeschichte, davon kräftigen Gebrauch. Auf der anderen Seite musste es darum gehen, diese wahrgenommene Besonderheit – gerade um der Partikularität ihres Ausgangspunktes und der Universalität ihres Geltungsanspruches – logisch-dialektisch aufzuklären. Tillich und Barth sind mit dieser Notwendigkeit unterschiedlich umgegangen. Idealtypisch kann man sagen, dass bei Barth der religiös-partikulare Ausgangspunkt, wie er sich in der weitgehenden Restriktion auf religiöse Semantik darstellt, den möglichen Horizont auch der Universalitätsaussagen eröffnen sollte. Umgekehrt kann für Tillich gelten, dass gerade der Ausweis der Besonderheit mit Hilfe von idealistischen, insbesondere Schellingschen Aussageformen den Blick für die religiös-positionelle Überzeugungskraft öffnen sollte. Dabei liegt auf der Hand, dass die jeweilige Ausgangsoption stets auch ihr eigenes systematisches Widerlager mit thematisieren muss. So muss auch Barths religiöser Einstieg sich als Theologie reflexiv verantworten; und bei Tillich ist zu sehen, wie er die logisch-dialektische Begriffsarbeit immer wieder auf Ereignis- und Erlebnismetaphern einstellt. Daher wird man in einem ersten Urteilsansatz festhalten können, dass offensichtlich die Divergenz der beiden Autoren nicht zufällig ist, sondern sich der Situation verdankt, die

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Wahrheit des religiösen Selbstbewusstsein zum Ausgangspunkt nehmen zu müssen, um seine überreligiöse Gültigkeit darzutun. Religiöse Unmittelbarkeit und theologische Reflexion sind so voneinander unterschieden, dass der Ausgangspunkt aus derselben Intuition heraus unterschiedlich gewählt werden kann. Beide sind aber auch so miteinander verwoben, dass sich die jeweils andere Aufgabe, also logische Verständlichkeit bzw. religiöse Authentizität zu sichern, sogleich mit stellt. Allerdings scheint es so zu sein, dass zu diesen beiden verschiedenen Ansätzen keine dritte, überlegene Position mehr denkbar ist, so sehr sich die beiden gegenseitig bedingen. Dafür sprechen auch die historischen Tatsachen, dass es über den kurzen Wortwechsel aus dem Jahr 1923 hinaus keine weitere Debatte zwischen Tillich und Barth gegeben hat, dass das gegenseitige Urteil, wenn es denn ausgesprochen wurde, stereotyp blieb und dass auch keine Verständigungsbrücken zwischen Barthianern und TillichschülerInnen geschlagen wurden. Eben diese „Schulaufteilung“, die aus demselben geschichtlichen Kontext entsprungen ist, gehört zur Konsequenz der geistes- und mentalitätsgeschichtlichen Zäsur, die sich mit der Epochenchiffre 1918 verbindet. Die derart historisch induzierte fundamentaltheologische Differenz spiegelt sich auch, wie wir sahen, in den Bezugnahmen auf die geschichtliche Wirklichkeit von Kirche und Kultur ab. Die Tillichsche Unterscheidungslehre, die die Elemente der Abgrenzung immer schon mit einbezieht, läuft in kulturtheoretischer Hinsicht auf das Postulat einer Einheitskultur auf religiösem Grund hinaus; das theoretisch-theologische Unterscheiden kann das Andere des Unterschieds nie völlig separieren. Die Barthsche Positionalität, die auf eine logische Zuordnung zum kulturellen Umfeld verzichtet, stellt sich kulturtheoretisch als Befürwortung eines kulturellen Pluralismus heraus, dem allein in der Bestimmungbedürftigkeit zur Humanität hin ein normatives Gefälle eingeschrieben wird (das aber gerade nicht exklusiv religiöser Begründung entspringen muss). So verweben sich auf merkwürdige Weise die beiden verschiedenen Ansätze mit dem Gegenteil ihres Ausgangspunktes, das scheinbar Monolithische wird pluralistisch, das scheinbar Weltoffene tendiert zu neuer Einheitskultur. Auch dies ist ein Beleg für die Unüberwindbarkeit des Gegensatzes – gerade in der Zusammengehörigkeit. Allerdings ist mit dieser Beobachtung einer streitbar-widersprüchlichen Komplementarität das Sachurteil über eine hier oder da höhere Triftigkeit noch nicht gesprochen. Unterzieht man beide Optionen einer in dieser Hinsicht kritischen Analyse, dann kann die Schlussfolgerung nicht ausbleiben, dass das theologische Verfahren Barths eine gewisse Überlegenheit besitzt, und das aus drei unterschiedlichen Gründen. Erstens realisiert Barth

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in der Unmittelbarkeit des religiösen Ausgangspunktes wie in der Beharrung bei der religiösen Semantik die Kontingenz der Zeitlage in der Wendung zum 20. Jahrhundert. Es sind eben nicht logische Explikationsprobleme, die nach einer Überbietung rufen, sondern elementare Umstellungen der gesellschaftlichen Kommunikation (im Zusammenhang der vollständigen Durchsetzung des Kapitalismus), auf die zu reagieren ist. Wenn das der Fall ist, dann lässt sich die logische Bestimmung der Andersartigkeit des Christentums gegenüber der bisher in die Gesellschaft eingeordneten Religion nicht allein mit logischen Mitteln dartun oder plausibel machen. Zweitens erlaubt Barths Sicht die Entfaltung einer pluralistischen Kultur nach ihren eigenen Maßstäben. Nur dies kommt hinzu, dass die christliche Kirche selbst als ein Kommunikationspartner im gesellschaftlichen Diskurs auftritt, deren interpretatorische Triftigkeit jedoch nur so weit reicht, wie ihre Deutungsvorschläge sich unter den – ansonsten säkularen oder von anderen religiösen Auffassungen bestimmten – Allgemeinheitsvorstellungen unter dem Siegel der Humanität als plausibel erweisen. Es gibt, so gesehen, keine prinzipielle Überlegenheit der christlichen Wirklichkeitsdeutung gegenüber anderen Auffassungen unserer Lebensrealität. Drittens spricht für Barths Weg der gesellschaftliche Realismus, der danach verlangt, auf die politische Durchsetzung von religiösen Anschauungen zu verzichten, auch noch im Namen eines Universalismus des „Gehaltes“ aller Kultur. Schon die Kaprizierung Tillichs auf den Religiösen Sozialismus nach dem 1. Weltkrieg besaß ein, später durchaus eingesehenes, romantisch-illusionäres Moment. Dagegen erscheint Barths Empfehlung einer Arbeitsgemeinschaft mit der Sozialdemokratie als Ausdruck politischen Realitätssinns. Trotz dieser Wertung aber kann auch Barths Theologie die Anfragen, die mit Tillichs Option verbunden sind, nicht einfach abschütteln. Denn auch diejenigen, die Theologie im Banne der religiösen Semantik treiben, werden nicht darum herumkommen, die gemeinte Differenz begrifflich zu umschreiben. 25 Und wer in der gesellschaftlichen Diskussion Interpretationsvorschläge aus christlicher Sicht macht, kommt nicht umhin, sein eigenes Vorschlagen als Akt des (potentiell überlegenen) Deutens zu verstehen. Und schließlich kann auch und gerade aus der religiös-partikularen Sicht nicht umstandslos davon ausgegangen werden, dass eine an der Allgemeinheit orientierte Humanität kontinuierlich den Grundtenor der gesellschaftlichen Entwicklung ausmacht. 25 Darauf konsequent verzichtet zu haben, macht die Würde, aber auch die Anfälligkeit der Theologie Barths selbst aus.

Die Religion in der Kultur. Karl Barth und Paul Tillich über die Grundlagen einer Theologie der Kultur CHRISTIAN DANZ In dem 1923 erschienenen zweiten Jahrgang der Zeitschrift Theologische Blätter konnten die Leser eine Kontroverse zwischen Theologen verfolgen, die nach dem Ersten Weltkrieg energisch in die theologischen Debatten drängten und im Verlauf der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts diese zunehmend bestimmten. Initiiert wurde diese öffentliche Kontroverse durch den Schriftleiter der Zeitschrift, den Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt. 1 Er bat den mit ihm befreundeten Paul Tillich um eine Stellungnahme zu den Theologien von Barth und Gogarten, die unter dem Titel Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten in den Theologischen Blättern erschien. 2 Auf Tillichs Stellungnahme zur theologischen Lage zu Beginn der 20er Jahre, die er, wie er betonte, „nur ungern“ verfasst habe (GW VII, 216), antwortete Karl Barth schon bald mit einer energischen Replik. Sie trug den Titel Von der Paradoxie des „positiven Paradoxes“. Antworten und Fragen an

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Zu Karl Ludwig Schmidt siehe A. Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik, Tübingen 2008, 203-210. Zu der Kontroverse zwischen Tillich und Barth siehe H. Fischer, Theologie des positiven und kritischen Paradoxes. Paul Tillich und Karl Barth im Streit um die Wirklichkeit, in: NZSTh 31, 1989, 195-212. J. Track, Paul Tillich und die Dialektische Theologie, in: H. Fischer (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt/Main 1989, 138-166. W. Schüßler, Paul Tillich und Karl Barth. Ihre erste Begegnung in den zwanziger Jahren, in: Ders., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs, Münster 22004, 119130. Zum Verhältnis Tillichs zu Barth siehe auch den Beitrag von Dietrich Korsch in diesem Band. P. Tillich, Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten, GW VII, 216-225.

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Paul Tillich. 3 Barths überaus ironische Antwort auf Tillichs Beitrag in den Theologischen Blättern veranlasste Tillich zu einer weiteren Stellungnahme. Worum ging es in der Auseinandersetzung zwischen Tillich und Barth? Paul Tillich machte in seinem Beitrag Kritisches und positives Paradox bei aller Zustimmung zu den Theologien von Barth und Gogarten deutlich, dass deren dialektische Theologie von einer verborgenen Voraussetzung ausgeht, die sie nur zu ihrem Schaden nicht offen legt. „Darum möchte ich den Versuch einer Auseinandersetzung wagen, die unter Anerkennung der kritischen Negation die Position aufzuweisen sucht, auf deren Boden die Negation überhaupt erst möglich ist.“ 4 Der dialektischen Theologie der Krise, so lässt sich die Anfrage Tillichs verstehen, liegt eine Voraussetzung zugrunde, welche der Krise entzogen sei. Werde diese Voraussetzung aber nicht selbst wieder dialektisch verstanden, eben als positives Paradox, dann entlarve sich eine solche Theologie als schlechter Supranaturalismus. Aus diesem Grund muss die verborgene Grundlage der dialektischen Theologie selbst als ein Paradox verstanden werden. „Die Theologie der Krisis hat Recht, uneingeschränktes Recht in ihrem Kampf gegen jede unparadoxe, unmittelbare, gegenständliche Fassung des Unbedingten. Sie ist kein Übergang, sondern etwas Bleibendes, ein Wesenselement der Theologie. Aber sie hat eine Voraussetzung, die selbst nicht mehr Krisis ist, sondern Schöpfung und Gnade.“ (GW VII, 224)

Karl Barth hat diesem Korrekturvorschlag Tillichs an seiner Theologie energisch widersprochen. Tillichs Insistieren auf einer Voraussetzung, welche der dialektischen Theologie verborgen zugrunde liege und die es offen zu legen gelte, zeige nur eins, dass er das Anliegen Barths nicht verstanden habe. Das „von Tillich so großzügig geübte Generalisieren, dieses BeziehungenBehaupten zwischen Gott und allem und jedem zwischen Himmel und Erde, diese breite allgemeine Glaubens- und Offenbarungswalze, die ich, ich kann mir nicht helfen, beim Lesen von Tillich alles und nichts ausrichtend über Häuser, Menschen und Tiere gehen sehe, als ob es sich wiederum von selbst verstünde, daß überall, überall Gericht und Gnade waltet, alles, einfach alles einbezogen ‚ist‘ in den Streit und Frieden des ‚positiven Paradoxes‘, das, so gehandhabt, bei aller ‚Unanschaulichkeit‘ doch wirklich ein Paradox mehr ist,

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K. Barth, Von der Paradoxie des „positiven Paradoxes“. Antworten und Fragen an Paul Tillich, in: P. Tillich, Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung, GW VII, 226-239. P. Tillich, Kritisches und positives Paradox, GW VII, 216.

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das mit dem Gotte Luthers und Kierkegaards keine, dafür aber mit dem Gotte Schleiermachers und Hegels eine ganz auffallende Ähnlichkeit hat.“5

Die Kritik Barths an der Theologie Tillichs und seiner Forderung eines positiven Paradoxes zielt im Kern auf die Konkretheit und Unableitbarkeit des Glaubensgeschehens. Die Unableitbarkeit des Glaubens sieht Barth bei Tillich untergraben. 6 Liest man die von Tillich und Barth in den Theologischen Blättern ausgetragene Kontroverse über die Begründung einer modernegemäßen Theologie, dann drängt sich der Eindruck auf, dass beide Theologien wenig miteinander zu tun haben. Durch die weitere Ausgestaltung der Theologien von Tillich und Barth in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird dieser Eindruck noch verstärkt. So konzipierte Tillich eine Kulturtheologie, die in ihrer Endgestalt, wie sie in der Systematischen Theologie vorliegt, die göttliche Offenbarung als eine Antwort auf die Frage versteht, die der Mensch selbst ist. Karl Barth hingegen arbeitete seine frühe dialektische Theologie bis hin zur Kirchlichen Dogmatik als Offenbarungstheologie aus, welche jeglichen Anknüpfungspunkt der Offenbarung Gottes auf Seiten des Menschen vehement bestreitet. Dieses Gegensatzes ungeachtet finden sich in den Theologien Tillichs und Barths auch Gemeinsamkeiten. So ist Tillich der Meinung, dass die Offenbarung Gottes sich als Kritik der Religion realisiert. 7 Und ebenso wie Barth ist Tillich der Überzeugung, dass der Gottesbegriff die Grundlage des Religionsbegriffs darstellt und nicht umgekehrt. 8 Der Theologie Barths geht es um eine Überwindung der Krise der modernen Kultur. Und ebenso wie Tillich ist Barth der Meinung, dass diese Krise der modernen Kultur nur durch die Theologie überwunden werden könne. 5 6

7 8

K. Barth, Von der Paradoxie des „positiven Paradoxes“, a.a.O. (Anm 4), 234. Auch der junge Martin Heidegger hat in seiner frühen Freiburger Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion diesen Aspekt an Tillichs früher Theologie kritisiert. Vgl. M. Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, Bd. 60 der Martin Heidegger Gesamtausgabe, Frankfurt/Main 1995, 19. Dazu vom Verfasser, Religion der konkreten Existenz. Heideggers Religionsphilosophie im Kontext von Ernst Troeltsch und Paul Tillich, in: Kerygma und Dogma 55, 2009, 325-341. Vgl. nur P. Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, in: Ders., Ausgewählte Texte, Berlin/New York 2008, 63-80. Vgl. P. Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien (1910), EW IX, 234 f. 239. Siehe auch Ders., Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, a.a.O. (Anm. 7), 80.

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Ich werde in meinen nachfolgenden Überlegungen diesen Gemeinsamkeiten der Theologien von Tillich und Barth nachgehen. Dabei möchte ich zeigen, dass sich, aller Unterschiede zwischen Tillich und Barth ungeachtet, beide theologische Programme als Kulturtheologien verstehen lassen, denen es darum geht, den modernen Zwiespalt von Kultur und Religion zu überwinden. Diese These möchte ich in drei Abschnitten ausführen. Einsetzen werde ich mit einer kurzen Skizze der Kulturtheologie Paul Tillichs. Im zweiten Abschnitt soll es dann um die Kulturtheologie Karl Barths gehen. Abschließen möchte ich mit ein paar Überlegungen zu den Gemeinsamkeiten beider Theologien, wie sie sich in der Rückschau auf das Werk der beiden großen Antipoden in der Theologie des 20. Jahrhunderts darstellen.

1. Die sinntheoretischen Grundlagen von Paul Tillichs Theologie der Kultur Karl Barth hatte in seiner Auseinandersetzung mit Paul Tillich in den Theologischen Blättern dessen Theologie insgesamt als Kulturphilosophie eingestuft und sie mit der Metapher einer „Offenbarungswalze“ beschrieben. Im Kern besagt dieser Einwand Barths: Die Unableitbarkeit und Konkretheit der Offenbarung Gottes in der Geschichte wird von Tillich in ein allgemeines System der Kulturphilosophie aufgelöst. Tillichs Theologie sei mithin Metaphysik. 9 Nun stellen die Probleme der modernen Kultur, das Nebeneinander verschiedener gesellschaftlicher Subsysteme, in der Tat den durchgehenden Bezugspunkt der Theologie Tillichs in allen 9

Vgl. K. Barth, Von der Paradoxie des ‚positiven Paradox‘, a.a.O. (Anm. 3), 231 f.: „Mittels welcher philosophischen Überlegung kommt Tillich eigentlich dazu, dieses ‚vom Unbedingten her‘ aufzustellen, Natur, Geist, Geschichte von dort her in Anspruch zu nehmen, zuletzt nicht nur eine Wissenschaftslehre, sondern eine ganze Trinitätslehre von dort her zu entrollen? Ich meine wohl zu verstehen, was mit diesem x […] bezeichnet sein soll; aber ich verstehe den Griff nicht […] mit dem sich Tillich […] zum Herrn der Situation macht durch eine kecke Setzung, eine Grundlegung, die doch wohl der Sache nach mit dem identisch ist, was man früher Metaphysik nannte […]. Wo bleibt die Paradoxie des ‚positiven Paradoxes‘, wenn es möglich ist, diese Größe in jede beliebige Rechnung an der entscheidenden Stelle als gegeben einzusetzen und auf dem so gelegten Grunde – nun beileibe nicht mehr dialektisch gebrochen, sondern höchst ungebrochen, geradlinig und sicher das Gebäude der wahren Gnosis den Wolken entgegenzutürmen.“

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ihren Phasen dar. Bereits in seinen Dissertationen zu Schelling hatte Tillich die Grundzüge einer Kulturtheologie ausgearbeitet und seine Version einer Kulturtheologie in seinem berühmten Berliner Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur von 1919 programmatisch skizziert. In seinen zeitgleich an der Berliner Universität gehaltenen Vorlesungen über Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart findet sich die erste ausführliche Darstellung dieser Kulturtheologie. 10 Sie zielt im Wesentlichen auf eine Überwindung des Gegensatzes von Religion und Kultur, durch die Behauptung einer an sich religiösen Kultur. 11 In diesen frühen Texten werden die Grundzüge von Tillichs Verständnis einer Theologie der Kultur sichtbar. Allerdings bieten diese Texte noch nicht mehr als eine programmatische Skizze. Denn Tillich verfügt zu dieser Zeit noch nicht über die Mittel, sein Programm einer Theologie der Kultur einzulösen. Zwar wird in diesen frühen Texten der Sinnbegriff als ein solches Einheitsprinzip von Tillich verwendet, welches die ausdifferenzierte moderne Kultur integrieren soll. Aber Tillich ist zu dieser Zeit noch nicht in der Lage, seine Sinntheorie mit einer Geistphilosophie zu verbinden. Eine solche sinntheoretische Geistphilosophie finden wir erst in Tillichs Schrift Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden aus dem Jahre 1923 und in der Religionsphilosophie von 1925. Wie Tillich um die methodischen Grundlagen und die begriffliche Darstellung seiner Kulturtheologie gerungen hat, zeigen eindrücklich seine zwischen 1919 und 1920 an der Berliner Universität gehaltenen Vorlesungen. 12 Die methodische Basis von Tillichs Theologie der Kultur bildet 10 Dazu G. Pfleiderer, Kultursynthesen auf dem Katheder. Zur Revision von Troeltschs Soziallehren in Tillichs Berliner Programmvorlesung von 1919, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919-1920), Wien 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 119-136. M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip und Modernitätserfahrung in „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“ (1919), in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 10), 137154. Y.-H. Chun, A Theology of Culture. Paul Tillich’s Early Conception and Its Significance Today, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 10), 155-170. 11 Vgl. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Ders., Ausgewählte Texte, Berlin/New York 2008, 25-41, bes. 30 f. 12 Siehe hierzu G. Raatz, Kulturwissenschaft oder Sinnlehre? Zur Genese von Paul Tillichs wissenschaftssystematischem Begriff der Theologie zwischen 1917-1923, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Tillich und Nietzsche, Wien 2008 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 3/2007), 141-173.

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eine sinntheoretische Geistphilosophie. Erst auf ihrer Basis ist Tillich in der Lage, das Verhältnis von Religion und Kultur angemessen zu beschreiben. Aus diesem Grund ist es meines Erachtens auch nicht möglich, Tillichs Kulturtheologie allein im Ausgang von dessen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur darzustellen. 13 Die Aufbauelemente und die spezifische Gestalt dieses theologischen Programms lassen sich am besten im Ausgang von dieser sinntheoretischen Geistesphilosophie darstellen. Dies ist nun in den Blick zu nehmen. Blickt man sich in dem Wissenschaftssystem und in der Religionsphilosophie nach Bestimmungen des Geistes um, dann fällt sofort die enge Verbindung von Geist- und Sinnbegriff auf. „Jeder geistige Akt ist ein Sinnakt; ganz gleich ob die realistische Erkenntnistheorie von einem sinnempfangenden oder die idealistische von einem sinngebenden oder die metalogische von einem sinnerfüllenden Akt spricht, ganz gleich also, wie das Verhältnis von Subjekt und Objekt im geistigen Akt gedacht ist, immer ist Geist Sinnvollzug und das im Geist Gemeinte Sinnzusammenhang.“ 14

Der zitierten Stelle aus der Religionsphilosophie zufolge ist jeder Akt des Geistes ein Sinnakt und geistiges Leben ist Leben im Sinn. Damit ist Tillichs Verständnis des Geistes aber noch nicht vollständig beschrieben. Es fehlen noch zwei grundlegende Aspekte. Zunächst: Der Geist setzt in seinem Vollzug jedoch nicht nur Sinn und meint nicht nur einen Sinnzusammenhang, sondern er weiß auch um sich selbst. Zum Geist gehört also konstitutiv sein Selbstverhältnis. „Diese Bewußtheit, dieses Sich-selbstZuschauen und Sich-selbst-Bestimmen des Denkens im schöpferischen Akt, ist das fundamentale Merkmal des Geistigen.“ 15 Sodann: Der Geist ist für Tillich in seinem Selbstvollzug durch eine unaufhebbare Spannung charakterisiert. Es ist die Spannung von Allgemeinem und Individuellem. Das Allgemeine, Geltende kann der Geist nur als etwas Individuelles, Bestimmtes setzen. „Der geistige Akt kann sich auf das Allgemeine nur richten, wenn er es anschaut in einer konkreten Norm, in einer individuellen Verwirklichung des Allgemeinen.“ (GW I, 217) Auf dieser Fassung des Geistes, dies kann hier nur erwähnt werden, baut Tillichs Geschichtsver-

13 So W. Schweiker, Theology of culture and its future, in: R. Re Manning (Hg.), The Cambridge Companion to Paul Tillich, Cambridge 2009, 138-151. 14 P. Tillich, Religionsphilosophie, GW I, 318. 15 P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 219.

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ständnis auf. 16 Der Geist ist also in seinen Akten des Setzens des Bestimmten ausgerichtet auf Sinnerfüllung. In der Sinnerfüllung erfasst sich der Geist als Geist, indem er über sich hinaus und darin zugleich bei sich selbst ist. Mit dem Neukantianismus unterscheidet Tillich die Akte des Geistes in theoretische und praktische Akte und unterscheidet die theoretischen Akte wiederum in Wissenschaft und Kunst und die praktischen in Recht und Gemeinschaft. Aus diesen vier Sinnfunktionen resultiert das Grundschema der Kultur. Denn die Kultur ist für Tillich nichts anderes als die Realisierung dieser Sinnfunktionen des Geistes. Der menschliche Geist realisiert sich als Kultur. „Den Inbegriff aller möglichen Sinnzusammenhänge nennen wir objektiv gesprochen Welt, subjektiv gesprochen Kultur.“ 17 Was versteht Tillich nun unter Religion? Wo ist der Ort der Religion im Aufbau des Geistes, wenn sich dieser allein als Kultur realisiert? In seinem Kulturvortrag von 1919 hatte Tillich Religion noch als dialektische Erfahrung des Unbedingten verstanden, aber den Erfahrungsbegriff aufgrund seiner Unbestimmtheit schon in der zweiten Auflage des Kulturvortrags ersetzt. 18 An dessen Stelle tritt der phänomenologische Begriff der Richtung auf das Unbedingte. 19 Er erlaubt es, Ort und Funktion der Religion im Aufbau des Geistes viel genauer zu beschreiben als mit der weiten Kategorie der Erfahrung. Wie ordnet Tillich nun die Religion in den Aufbau des Geistes in seinem kulturellen Tun ein? Tillich hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Religion keine Kulturform neben 16 Vgl. P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 217: „Die individuelle Substanz der geisttragenden Gestalt ist kein ungeformtes Chaos, denn die geisttragende Gestalt ist immer auch geistgeformte Gestalt; sie steht in einer historischen Folgereihe. Aus ihrer individuellen historischen Formung heraus schafft die geisttragende Gestalt. Diese Formung reicht zurück über ihren eigenen Gestaltanfang hinaus durch den Zusammenhang aller Gestalten bis zu der universalen und unendlichen Gestalt, die Idee ist und nicht Wirklichkeit. Es gibt keinen außergeschichtlichen Moment einer geschichtlichen Gestalt. Es gibt keinen Anfang des Geistes; denn jede geistige Schöpfung setzt Geist voraus.“ 17 P. Tillich, Kirche und Kultur, in: Ders., Ausgewählte Texte, Berlin/New York 2008, 111. 18 P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Ders., Ausgewählte Texte, Berlin/New York 2008, 30: „Religion ist Erfahrung des Unbedingten und das heißt Erfahrung schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit.“ 19 P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, a.a.O. (Anm. 18), 41.

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anderen sein kann und es folglich auch keine spezifisch religiöse Funktion gibt. „Voraussetzung dieser Auffassung“, so Tillich im System der Wissenschaften, „ist die Erkenntnis, daß Religion keine Sinnsphäre neben den anderen ist, sondern eine Haltung in allen Sphären: die unmittelbare Richtung auf das Unbedingte.“ 20 Die Religion kann aber nur dann keine Sinnsphäre neben anderen kulturellen Sphären sein, wenn sie als ein Geschehen im Geist und an den Sinnfunktionen des Geistes verstanden wird. Dieses Geschehen im Geist, welches Tillich als Richtung auf das Unbedingte bezeichnet, lässt sich genauer als das Sich-Verständlich-Werden des Geistes in seiner kulturellen Tätigkeit beschreiben. Der Geist wird sich in der Religion in seiner eigenen Tiefenstruktur verständlich. Da dies nur an den kulturellen Funktionen geschehen kann, so werden diese zum Medium der Tiefenstruktur des Geistes. Damit ist jedoch Tillichs Bestimmung, Religion sei Richtung auf das Unbedingte, noch nicht vollständig beschrieben. Einzubeziehen ist noch ein weiterer Aspekt, nämlich die sinntheoretischen Kategorien Form und Gehalt. In der Religionsphilosophie schreibt Tillich: „Richtet sich das Bewußtsein auf die einzelnen Sinnformen und ihre Einheit, so haben wir es mit Kultur zu tun; richtet es sich auf den unbedingten Sinn, den Sinngehalt, so liegt Religion vor. Religion ist Richtung auf das Unbedingte, Kultur ist Richtung auf die bedingten Formen und ihre Einheit.“ 21

Im Unterschied zur Kultur richtet sich die Religion auf die Tiefenstruktur des Geistes, und zwar in einem bewussten Akt. Dies kann das religiöse Bewusstsein jedoch nur durch die kulturellen Formen hindurch. Diese werden zum Medium, durch das, wie Tillich unter Aufnahme des phänomenologischen Intentionalitätsbegriffs sagt, das Unbedingte gemeint wird. 22 Die Religion wird also in Tillichs Kulturtheologie als das Geschehen verstanden, in dem sich das Kulturbewusstsein in der Kultur in seiner Tiefenstruktur verständlich wird. Als ein solches Geschehen ist die Religion jedoch nicht identisch mit einer spezifischen Kulturform. Mit dieser Konstruktion des Verhältnisses von Religion und Kultur sind zwei Kon20 P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 228. Vgl. auch Ders., Religionsphilosophie, GW I, 302. 21 P. Tillich, Religionsphilosophie, GW I, 320. 22 Bereits in der ersten Fassung des Entwurfs Rechtfertigung und Zweifel aus dem Jahre 1919 hatte Tillich den phänomenologischen Intentionalitätsbegriff aufgenommen. Siehe P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel (Erste Version), EW X, 176. Zu Tillichs Rezeption der Phänomenologie Husserls siehe den Beitrag von Georg Neugebauer in diesem Band.

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sequenzen verbunden, die es uns erlauben, auf eingangs genannte Kritik von Barth an Tillich zu antworten. Zunächst resultiert aus der geistphilosophischen Konstruktion des Religionsbegriffs ein doppelter Religionsbegriff. Religion im eigentlichen Sinne ist ein Geschehen an den kulturellen Formen, aber keine eigene Sinnfunktion. Von der Religion im eigentlichen Sinne unterscheidet Tillich die Religion als Kulturform. Diese Form der Religion kritisiert Tillich ebenso wie Karl Barth. Sodann ist zu sagen, dass die wahre Religion von Tillich als ein Geschehen an den Kulturformen verstanden wird. Dieses Geschehen der Religion ist aber auch für Tillich unableitbar und immer schon konkret bestimmt. Karl Barths Kritik, bei Tillichs Offenbarungsverständnis würde es sich um eine Offenbarungswalze handeln, ist also unbegründet. Tillichs Formel eines ‚positiven Paradoxes‘, die er in seiner Auseinandersetzung mit Barth 1923 verwendete, zielt auf eine vollzugsgebundene Fassung des Religionsbegriffs. Religion ist keine Form in der Kultur, sondern die kontingente Selbsterfassung der Tiefenstruktur des kulturellen Handelns des Menschen. Die „Überzeugung von der Überlegenheit der dialektischen Position unter dem Ja und Nein braucht darum nicht aufgegeben zu werden, aber es ist die Bewußtmachung der unaufhebbaren Position, die auch in der Verkündigung der Krisis steckt, es ist die Erfassung des Ja, das die Voraussetzung des Nein ist, es ist der Rückgang vom kritischen zum positiven Paradox.“ (GW VII, 218)

2. Reflexive Erkenntnis der Erkenntnis, oder: Karl Barths Grundlegung einer negativen Kulturtheologie In seiner Stellungnahme zur Theologie Barths hatte Tillich an dieser kritisiert, dass sie nicht nur die gesamte Kultur unter ein Nein stellt, sondern auch von einer undialektischen Position ausgeht. Tillichs Forderung nach einem positiven Paradox zielte auf diese Voraussetzung der Theologie Barths. Das von Barth in den 20er Jahren geltend gemachte Nein gegenüber der gesamten Kultur darf als das Resultat seiner eigenen theologischen Entwicklung seit 1910 gelten. Um die Eigenart von Barths Kulturtheologie zu verstehen, ist es meines Erachtens unumgänglich, einen kurzen Blick auf die Herausbildung von dessen Theologie zu werfen. Denn nur dann wird deutlich, dass auch die Krisentheologie Karl Barths und dessen Grundthese, dass Gott Gott sei, im Rahmen der Problemstellun-

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gen des modernen Protestantismus zu verstehen ist. Barth hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg im Anschluss an den Marburger Neukantianismus ein Programm moderner Theologie ausgearbeitet. 23 Dabei geht es dem jungen Barth ebenso wie Tillich um die Überwindung des Gegensatzes von Religion und moderner Kultur. Einschlägig für unsere Frage nach dem Verhältnis von Religion und Kultur bei dem jungen Barth ist vor allem ein kurzer Text aus dem Jahre 1910 mit dem Titel Ideen und Einfälle zur Religionsphilosophie. 24 Barth hatte diese Ideenskizze als Entwurf für eine mögliche Dissertation bei Wilhelm Herrmann verfasst. In dieser Skizze arbeitet Barth die Grundlinien einer Theologie aus, welche zu einer Überwindung des Gegensatzes von Kultur und Religion führen soll. Dies geschieht dadurch, dass Barth die Religion so in den transzendentalgesetzlichen Aufbau des Kulturbewusstseins einordnet, dass sie als individuelle Realisierung des Kulturbewusstseins verstanden wird. In diesem ambitionierten Programm verzahnt Barth den methodischen Grundbegriff der Theologie Wilhelm Herrmanns, das religiöse Erlebnis, mit der systematischen Anlage der Kulturphilosophien Hermann Cohens und Paul Natorps. Dabei verfolgt Barth die Intention, den Religionsbegriff Herrmanns so mit dem Kulturbewusstsein zu verzahnen, dass das individuelle Erleben als Ort der Realisierung der Religion als Realitätsbeziehung verstanden wird. 25 Religion, so kann man dieses Programm des jungen Barth zusammenfassen, ist die individuelle Realisierung des Kulturbewusstseins in Ausrichtung auf die als Idee verstandene Wahrheit des Bewusstseins. Diese neukantianische Religionstheorie hat Barth auch nach seiner Wende zur dialektischen Theologie im Jahre 1916 beibehalten. Allerdings 23 Dazu J. F. Lohmann, Karl Barth und der Neukantianismus. Die Rezeption des Neukantianismus im „Römerbrief“ und ihre Bedeutung für die weitere Ausarbeitung der Theologie Karl Barths, Berlin/New York 1995. F. Wittekind, Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von Offenbarungstheologie, Geschichtsphilosophie und Ethik bei Albrecht Ritschl, Julius Kaftan und Karl Barth (1909-1916), Tübingen 2000. G. Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 2000. 24 K. Barth, Ideen und Einfälle zur Religionsphilosophie, in: Ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1909-1914, Bd. 22 der Karl Barth Gesamtausgabe, hrsg. v. H.A. Drewes/H. Stoevesandt, Zürich 1993, 129-138. 25 K. Barth, Ideen und Einfälle zur Religionsphilosophie, a.a.O. (Anm. 24), 135. „Wie wird die realitätsbezügliche Lebensgestaltung (das Problem von Religion und Kultur!) wirklich? 1.) Cohen lehnt die Frage ab, als innerhalb der Kultur nicht stellbar, da es sich in der K[ultur] um Bewußtwerden, nicht Bewußtsein handelt.“

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hat er auf ihrer Grundlage Änderungen vorgenommen, durch die es zu Neubestimmungen des Gottesbegriffs, der Religion und der theologischen Anthropologie kommt. Für das Verständnis der dialektischen Theologie Barths bis hin zur Kirchlichen Dogmatik ist es jedoch grundlegend zu beachten, dass er Grundelemente seiner frühen neukantianischen Theologie beibehält. Denn Barth versteht auch in seiner dialektischen Theologie, wie sie in den beiden Kommentaren zum Römerbrief aus den Jahren 1919 und 1922 vorliegt, 26 und später in der Kirchlichen Dogmatik, 27 Gott als reinen, sittlich bestimmten Willen, also als Inbegriff der praktischen Vernunft. Die grundlegende Änderung gegenüber seiner eigenen Vorkriegstheologie besteht darin, dass Barth nun die Realisierung des Willens Gottes nicht mehr an innerweltliche Realisierungsinstanzen anbindet, sondern die Realisierung des Reiches Gottes als Implikat des Gottesgedankens selbst versteht. Das menschliche Handeln ist aufgrund seiner Selbstbezogenheit, seines Eudämonismus, nicht in der Lage, den Willen Gottes rein zu erfüllen. Die menschliche Realisierung der göttlichen Forderung des Guten stellt damit nichts anderes als dessen Verfälschung dar. Aus diesem Grund unterstellt Barth alle menschliche Ethik und deren religiöse Begründung einer Fundamentalkritik. Der Wille Gottes und der Wille des Menschen stehen sich diametral gegenüber. „Gottes Wille ist keine bessere Fortsetzung unseres Willens. Er steht unserem Willen gegenüber als ein gänzlich anderer.“ 28 Aus dieser Umstellung resultiert nun nicht nur eine Neubestimmung des Gottes- und Glaubensbegriffs, sondern auch die von Paul Tillich kritisierte Negativität der Theologie Karl Barths. Die Grundzüge und Aufbauelemente der dialektischen Theologie Barths sowie die kulturtheologischen Konsequenzen dieser Theologie sind nun in den Blick zu nehmen. Ich beziehe mich dabei auf Barths berühmten Tambacher Vortrag Der Christ in der Gesellschaft 29 vom September 1919, der alle für 26 K. Barth, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, Bd. 16 der Karl Barth Gesamtausgabe, hrsg. v. H. Schmidt, Zürich 1985. Ders., Der Römerbrief (Zweite Fassung) 1922, Zürich 151985. 27 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bde. I-IV, Zürich 1932-1967. 28 K. Barth, Die Gerechtigkeit Gottes, in: Ders., Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1929, 15. 29 K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, in: Ders., Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, München 1929, 33-69. Zu Barths Tambacher Vortrag siehe A. Christophersen, Kairos, a.a.O. (Anm. 1) 27-40. G. Pfleiderer, Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 2000, 315-331.

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unsere Fragestellung relevanten Aspekte der Kulturtheologie Barths prägnant zusammenfasst. In einem Brief an Eduard Thurneysen vom September 1919 hat Karl Barth seinen Tambacher Vortrag Der Christ in der Gesellschaft als eine „nicht ganz einfache Maschine“ charakterisiert, „vorwärts- und rückwärtslaufend, nach allen Seiten schießend, an offenen und heimlichen Scharnieren kein Mangel“. 30 Worum geht es Barth in diesem Vortrag? Und was versteht er unter Religion und Kultur? Ebenso wie in Tillichs Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur aus demselben Jahr erblickt Barth das Grundproblem seiner Zeit in dem Nebeneinander von Kultur und Religion in der modernen Gesellschaft. „Was bedeutet für uns ‚der Christ‘? Was muß das für uns bedeuten? Doch wohl ein abgesondertes heiliges Gebiet für sich, gleichviel, ob wir uns diese Absonderung mehr metaphysisch oder mehr psychologisch erklären.“ 31

In dem Nebeneinander von Religion und Gesellschaft und in der Absonderung der Religion von der Kultur hat jedoch die Religion ihren wahren Sinn verloren. 32 Sie ist selbst zu einem gegenständlichen Erkennen neben anderen kulturellen Formen des Erkennens geworden. Mit dieser Form der Religion, die selbst zu einem Teil der Gesellschaft geworden ist, ist der Konflikt von Religion und moderner Kultur verbunden. Der wahre Sinn der Religion liegt jedoch für Barth darin, dass sie sich auf die gesamte Kultur bezieht und nicht einen abgesonderten Teil in der Kultur darstellt. „Ja, wir ahnen wieder, daß der Sinn der sogenannten Religion in ihrer Beziehung auf das tatsächliche Leben, auf das Leben der Gesellschaft besteht und nicht in ihrer Absonderung.“ 33 Die wahre Religion ist für Barth ebenso wenig wie für Tillich eine Kulturform neben anderen, sondern ein Geschehen an den kulturellen Formen. Nur dann, wenn die wahre Religion keinen abgesonderten Bereich in der Kultur darstellt, sondern als ein Geschehen an den kulturellen Formen verstanden wird, kann sie sich auf das ganze Leben der Kultur beziehen. Auch Barth unterscheidet damit zwei Religionsbegriffe. Religion wird einmal als ein kultureller Bereich verstanden und zum anderen als ein Geschehen an den kulturellen Formen. Die-

30 Brief Karl Barths an Eduard Thurneysen vom 11. September 1919, in: E. Thurneysen (Hg.), Karl Barth – Eduard Thurneysen. Briefwechsel, Bd. 1. 1913-1921, Zürich 1973, 344 (= 4. Bd. der Karl Barth Gesamtausgabe). 31 K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 29), 35. 32 Ebd.: „Ein abgesondertes Heiligtum ist kein Heiligtum.“ 33 Ebd.

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se wahre Religion nennt Barth Gotteserkenntnis und nur mit ihr ist die Überwindung des Gegensatzes von Religion und Kultur verbunden. Der Begründung und Entfaltung der Gotteserkenntnis als der wahren Religion gelten Barths Ausführungen in dem Tambacher Vortrag. Was versteht nun Barth unter Gotteserkenntnis? Sie sei, wie Barth im zweiten Abschnitt seines Vortrags schreibt, „die Bewegung, die sozusagen senkrecht von oben her durch alle diese Bewegungen hindurchgeht, als ihr verborgener transzendenter Sinn und Motor, die Bewegung, die nicht im Raum, in der Zeit, in der Kontingenz der Dinge ihren Ursprung und ihr Ziel hat und die nicht eine Bewegung neben andern ist: ich meine die Bewegung der Gottesgeschichte oder anders ausgedrückt: die Bewegung der Gotteserkenntnis, die Bewegung, deren Kraft und Bedeutung enthüllt ist in der Auferstehung Jesu Christi von den Toten.“34

Im Unterschied zur Religion als Kulturform versteht Barth die Gotteserkenntnis als ein unableitbares Geschehen von reflexiver Erkenntnis im Selbstverhältnis der Kultur. Gotteserkenntnis ist also keine gegenständliche Erkenntnis, sondern das Reflexiv-Werden des Erkennens selbst. Die Betonung der Transzendenz und Andersheit Gottes soll die Unableitbarkeit des Geschehens der Gotteserkenntnis beschreiben. Die Offenbarung Gottes, die Barth als „Durchbruch des Göttlichen ins Menschliche“ beschreibt, 35 soll die strikte Vollzugsgebundenheit der Gotteserkenntnis hervorheben. 36 Am Ort des Menschen entspricht der Gotteserkenntnis der Glaube. „Gottesgeschichte ist auch diese Seite der Gotteserkenntnis, und wiederum kein bloßer Bewußtseinsvorgang, sondern ein neues Müssen von oben her.“ 37 Mit dem Glauben als dem unableitbaren Geschehen der wahren Gotteserkenntnis verbindet Barth zwei Aspekte. Zunächst ist mit dem Glauben die Einsicht in die wahre allgemeingültige Norm verbunden. Gott ist der einzige Ursprung des Guten. Dem korrespondiert sodann auf Seiten des Menschen die Erkenntnis, dass alles menschliche Handeln selbstbezüglich und eudämonistisch ist. 38 Alle menschlichen 34 K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 29), 40. 35 K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 29), 44. 36 K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 29), 41: „Das, wovon jetzt die Rede sein soll, müßte, indem es ausgesprochen wird, da sein, vermittelt werden, wirksam werden, sonst ist es gar nicht das, wovon die Rede ist.“ 37 K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 29), 44. 38 Ebd.: „Mag es uns noch so einleuchten, daß der Staat und die Wirtschaft, die Kunst und die Wissenschaft, aber noch viel primitiver: schon die banalen Notwendigkeiten des Essens, Trinkens, Schlafens, Älterwerdens, diese brutalsten Voraussetzungen der Gesellschaft, ihre eigenen Bewegungs- und Trägheitsgesetze

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Handlungen und alle menschliche Ethik, so die Konsequenz Barths aus seinem neuen Verständnis des Glaubens, kommen als Realisierungsinstanz des göttlichen Willens nicht mehr in Frage. Der Glaube wird damit von Barth als das Geschehen der wahren ethischen Selbsterkenntnis des Menschen verstanden. Der Mensch erkennt die Gebrochenheit all seines Handelns. Deshalb ist für Barth mit der Gotteserkenntnis die Negation und das Gericht über die gesamte Kultur verbunden, in der „alle Gültigkeiten des Lebens zunächst einer prinzipiellen Verneinung“ unterworfen werden. 39 Gleichwohl verzichtet Barth nicht auf die Realisierung des Willens Gottes. Er verbindet die Realisierung des Reiches Gottes nur nicht mehr mit dem menschlichen Handeln, sondern versteht die Realisierung des Reiches Gottes als einen Bestandteil des Gottesbegriffs. „Das Gericht Gottes über die Welt ist die Aufrichtung seiner eigenen Gerechtigkeit.“ 40 Damit kommt es zu einer Neubestimmung der Christologie. Jesus Christus ist der Ort, in dem das Reich Gottes in der Geschichte Wirklichkeit geworden ist. Die Christologie ist also für Barth der Ausdruck dafür, dass das Reich Gottes als das allgemeine Gute nur durch Gott selbst realisiert werden kann. 41 „Gottesgeschichte ist a priori Siegesgeschichte. Das ist das Zeichen, in dem wir stehen. Das ist die Voraussetzung, von der wir herkommen. Damit soll der ganze Ernst der Lage nicht verwischt, der tragische Zwiespalt, in dem wir uns befinden, nicht überstrichen sein. Wohl aber ist damit das festgestellt, daß das letzte Wort zur Sache schon gesprochen ist. Das letzte Wort heißt Reich Gottes, Schöpfung, Erlösung, Vollendung der Welt durch und in Gott.“ 42

Die Gotteserkenntnis des Glaubens ist für Barth die Hoffnung, dass Gott allein das Reich Gottes aufrichtet. Für das menschliche Handeln in der Kultur ist damit die Konsequenz verbunden, dass er seinem Handeln keine religiöse Legitimation mehr geben kann.

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haben, mögen wir noch so ernst damit rechnen, die Gültigkeit dieser Gesetze immer und immer wieder erfahren zu müssen, mag uns die absolute Torheit des auf Granit Beißens noch so klar sein – eins ist doch noch klarer, nämlich daß wir uns in eine letzte selbständige Gültigkeit dieser Gesetze nicht mehr finden können.“ K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 29), 45. K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 29), 47. Dazu F. Wittekind, Geschichtliche Offenbarung und die Wahrheit des Glaubens, a.a.O. (Anm. 23), 250. K. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 29), 49.

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In dem unableitbaren Geschehen der Gotteserkenntnis ereignet sich die wahre Selbsterkenntnis des Menschen. Diese besteht in der Unterscheidung zwischen dem allein von Gott heraufzuführenden Reich Gottes und dem Handeln des Menschen, welches auf innerweltliche Zwecke beschränkt wird. Da in dem Geschehen der Gotteserkenntnis das menschliche Handeln insgesamt unter das göttliche Gericht gestellt wird, ist in ihr der Gegensatz von Religion und Kultur aufgehoben. Karl Barth hat diesen vollzugsgebundenen Glaubensbegriff, der die Grundlage seiner Kulturtheologie bildet, in den 20er Jahren bis hin zur Kirchlichen Dogmatik weiter ausgebaut.

3. Kulturtheologie zwischen Kritik und Gestaltung Wir sind in unseren Überlegungen von der 1923 in den Theologischen Blättern zwischen Paul Tillich und Karl Barth ausgetragenen Kontroverse über das kritische und das positive Paradox ausgegangen. Tillich kritisierte an der Theologie Barths, dass er die gesamte Kultur unter das göttliche Nein stellt, dabei aber von einer Voraussetzung ausgeht, die gerade nicht der Kritik unterstellt wird. Aus diesem Grund wähnt Tillich die Theologie der Krisis in der Gefahr, einem Supranaturalismus anheim zu fallen. Diese Konsequenz lasse sich, so Tillich, nur dann vermeiden, wenn hinter das kritische auf das positive Paradox als Grundlage einer modernegemäßen Theologie zurückgegangen werde. Barth hat Tillichs Vorschlag einer Korrektur seiner Theologie durch den Gedanken eines positiven Paradoxes zurückgewiesen und gegenüber Tillich die Unableitbarkeit des Geschehens der Offenbarung Gottes betont. In Tillichs Grundlegung der Theologie in einem positiven Paradox sah er die Vollzugsgebundenheit reflexiver Selbsterkenntnis, die nur als dieses Geschehen ist, aufgehoben. Aus diesem Grund kann, so Barth, die Theologie nur mit der Voraussetzung der Offenbarung einsetzen. Dieser im Jahre 1923 auch öffentlich zutage tretende Gegensatz zwischen Tillich und Barth wurde in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts als Gegensatz von Offenbarung und Religion, von Glaube und Kultur gedeutet. So gewiss diese Deutung der theologischen Differenzen von Tillich und Barth einen Anhalt an deren Selbststilisierungen haben dürfte, so deutlich ist auch, wie die voranstehenden Überlegungen gezeigt haben, dass mit dieser Sicht das Verhältnis der beiden Protagonisten nur sehr unzureichend erfasst ist. Der Durchgang durch die theologischen Konstruktionen von Tillich und Barth zeigte

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vielmehr, dass beide nicht nur an einem gemeinsamen Problem arbeiten, nämlich dem Gegensatz von Religion und Kultur, sondern auch beide einen vergleichbaren Umgang mit diesem Problem ausarbeiten. Dieser liegt in einer vollzugsgebundenen Fassung des Religions- bzw. Glaubensbegriffs. Aufgrund dieser Fassung des Glaubens- bzw. Religionsbegriffs, der die wahre Religion als ein unableitbares Geschehen versteht, lösen beide die Religion als eine besondere Kultursphäre neben anderen auf. Die wahre Religion ist keine besondere kulturelle Form, sondern das unableitbare Geschehen von Reflexivität an den vom Kulturbewusstsein gesetzten konkreten Formen. Diesen so verstandenen religiösen Akt verbinden Tillich und Barth mit einer fundamentalen Kritik an der Religion als kultureller Form. Die Theologie wird dadurch zur Kritik der Religion. Die wahre Religion ist der Ort in der Kultur, an dem sich die Kultur in ihrer Tiefenstruktur verständlich wird. Auf diese Weise wird sowohl von Tillich als auch von Barth die Theologie zu einer solchen Kulturtheologie erweitert, welche den Konflikt und die inneren Entzweiungen der modernen Kultur in dem Geschehen der wahren Religion überwinden soll. Es ließen sich unschwer noch weitere strukturelle Vergleichbarkeiten der Theologien Barths und Tillichs in den 20er Jahren namhaft machen. Eine signifikante Differenz zwischen beiden Theologien bleibt jedoch bestehen. Während Barth die gesamte Kultur und alles menschliche Handeln unter das göttliche Gericht stellt, ist Tillich mit seiner Behauptung eines positiven Paradoxes darum bemüht, eine Dialektik von Kritik und Gestaltung auszuarbeiten. Wie wir gesehen haben, zielte Barths Ablehnung von Tillichs positivem Paradox auf die Unableitbarkeit des Glaubensgeschehens. Damit ist jedoch noch nicht alles über die Differenzen zwischen Tillichs und Barths Theologien gesagt. Barth löste nämlich in seiner während und nach dem Ersten Weltkrieg ausgearbeiteten Theologie die Realisierung des Reiches Gottes vollständig von dem menschlichen Handeln ab und versteht die Aufrichtung des Reiches Gottes als einen Bestandteil des Gottesbegriffs. Der Glaube wird von Barth folgerichtig als das Geschehen verstanden, in dem bei Menschen wahre ethische Selbsterkenntnis entsteht. Mit dem Glauben als dem Geschehen der ethischen Selbsterfassung des Menschen verbindet er das Bewusstsein um die Differenz zwischen dem allein von Gott aufzurichtenden Reich Gottes und dem menschlichen Handeln. Auch in der Christologie, und das unterscheidet Barth von seinen theologischen Zeitgenossen, hebt er die Differenz von Gott und Mensch nicht auf.

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„Die Offenbarung und nur sie“, wie Barth diesen Gedanken in der Kirchlichen Dogmatik formuliert, „rückt Gott und Mensch wirklich und endgültig auseinander, indem sie sie zusammenbringt. Denn indem sie sie zusammenbringt, sagt sie dem Menschen Bescheid über Gott und über sich selbst, offenbart sie Gott als den Herrn von Ewigkeit, als Schöpfer, Versöhner und Erlöser und qualifiziert sie den Menschen als Geschöpf, als Sünder, als Todgeweihten.“ 43

Im Unterschied zu Barth hatte Tillich die Realisierung der wahren Religion nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Religiösen Sozialismus verbunden. In den Schriften aus der zweiten Hälfte der 20er Jahre tritt der Religiöse Sozialismus als Realisierungsgestalt des wahren Kulturbewusstseins etwas zurück und wird von Tillich in seinen Studien zur Protestantismustheorie in die Dialektik von Kritik und Gestaltung einbezogen. 44 Man kann in dieser Umstellung durchaus auch eine Verarbeitung der Kritik Barths an Tillichs Grundlegung der Theologie zu Beginn der 20er Jahre erblicken.

43 K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik I/2, Zürich 51960, 32. 44 Vgl. P. Tillich, Der Protestantismus als kritisches und gestaltendes Prinzip, GW VII, 29-53. Siehe hierzu den Beitrag von Ulrich Barth in diesem Band.

Tillich und die neukantianische Rechtstheorie MICHAEL MOXTER Die Kritik, die Tillich vor allem in den frühen zwanzigern Jahren am zeitgenössischen Neukantianismus übte, ist bekannt: Zwar habe dieser die Autonomie der Wissenschaft, der Ethik und der Ästhetik „zu vollendeter Klarheit gebracht“ 1 , aber dieses Ziel nur um den Preis einer zum Panlogismus neigenden „Herrschaft der reinen rationalen Form“ 2 erreicht. In dieser spreche sich der Geist einer bürgerlichen Gesellschaft aus, die sich ihre eigenen Abgründe verberge und darum auch die Erfahrung des Unbedingten zu dementieren und auszuschließen suche. Aber gerade diese Selbstabschließung steigere und totalisiere das Regiment der Form zur Alleinherrschaft leerer Formen, die „das Leben ausdörren“ und nur „entseeltes Erkenntnismaterial übrig lassen“ 3 . Die einseitige Suche nach Autonomie ende in bloßem Formalismus, in leerer und darum tödlicher Reflexion. Sinn fürs Unbedingte könne darum nur jenseits des Neukantianismus, in Phänomenologie, Intuitionismus, Lebensphilosophie und expressionistischer Durchbrechung der Formen gefunden werden. Im Folgenden soll nun versucht werden, diese Einschätzung an einem konkreten Gegenstandsbereich neukantianischer Theoriebildung zu überprüfen und zwar an der Rechtstheorie und Rechtslehre, die sich auf dem Boden des Neukantianismus bei Rudolf Stammler, Hans Kelsen und Gustav Radbruch artikulierte und die scharfe Gegenreaktionen etwa bei Carl Schmitt hervorrief. Aber auch auf dem Boden der Phänomenologie wurde die neukantianische Rechtslehre kritisiert und korrigiert: etwa bei Adolf Reinach, Felix Kaufmann oder bei Gerhart Husserl, dem heute eher unbekannten Sohn des Begründers der Phänomenologie 4 . Konturierungen

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P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur (1919), MW II, 69-85. 78. P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), MW V, 27-97. 42. P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden(1923), MW I, 113-263. 260. Vgl. M. Moxter, Der Mensch im Recht. Anthropologische Dimensionen einer Theologie des Rechts, in: I. U. Dalferth/A. Hunziker (Hg.), Seinkönnen. Der

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des Diskussionsfeldes zwischen Neukantianismus und Phänomenologie 5 könnten – so meine Erwartung – dazu verhelfen, auch Tillichs eigene Theologie des Rechts genauer in den Blick zu nehmen. Ich setze dazu bei zwei äußeren Beobachtungen ein, welche die von Tillich so prägnant gezogene Front gegenüber dem Neukantianismus zu verunklaren erlauben.

1. a) Zunächst ist an den Sachverhalt zu erinnern, dass die Erstausgabe von Tillichs für die Entwicklung seiner Theologie folgenreichen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur gemeinsam mit einem Vortrag von Gustav Radbruch veröffentlicht wurde. Letzterer trug den Titel: Über die Religionsphilosophie des Rechts. Die gemeinsame Veröffentlichung ergab sich nicht nur aus kontingenten zeitlichen Gründen – beide Vorträge wurden im Abstand weniger Wochen vor der Kant-Gesellschaft gehalten –, sondern weil ihre Begegnung beiden Autoren „eine so ungewollte und unerwartete Übereinstimmung zeigte, daß die Vortragenden darin […] den Ausdruck der philosophischen“ Lage ihrer Zeit erkannten – wie das Vorwort festhält. 6 Der Eindruck unerwarteter Übereinstimmung erklärt auch den, beide Vorträge verbindenden, Titel der Ausgabe. Tillich entwarf eine ‚Theologie der Kultur‘, Radbruch eine ‚Religionsphilosophie des Rechts‘, die gemeinsame Schnittmenge beider Vorträge lautete: Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe. Die Gemeinsamkeiten resultieren inhaltlich aus der Überzeugung, von den autonomen Formen der Kultur, also beispielsweise von der Autonomie des Rechts, müsse ausgegangen werden, weil es unmöglich sei, aus einem über dem positiven Recht gleichsam schwebenden Naturrecht Normen abzuleiten. Beide Autoren fordern ein kritisches Verhältnis gegenüber den gegebenen Ordnungen und sind überzeugt, dafür sensibilisiere das evangelische Christentum aufgrund des ihm eigenen Sinns für die

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Mensch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, Tübingen 2011 (= Religion in Philosophy and Theology, Bd. 54), 307-326. Vgl. M. Moxter, Kritischer Intuitionismus. Tillichs frühe Religionsphilosophie zwischen Neukantianismus und Phänomenologie, in: Ch. Danz (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, Münster 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 173-195. G. Radbruch/P. Tillich, Religionsphilosophie der Kultur. Zwei Entwürfe, Berlin 1919 (= Philosophische Vorträge 24), 10. Es ist eine editorische Merkwürdigkeit, dass dieses Vorwort in allen Tillich-Werkausgaben fehlt.

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Endlichkeit menschlicher Werke in besonderer Weise. Denn die protestantische Religion überhöhe und heilige weder das Recht noch verkenne sie dessen Unhintergehbarkeit, vielmehr nehme sie dessen Ambivalenz wahr und begründe darin einen dritten Weg zwischen abstrakter Negation der Welt (wie sie bei Tolstoi – für beide Autoren zentraler Bezugsautor – mit der Entgegensetzung von Liebe und Rechtszwang vollzogen wird) und theologischer Legitimation des Bestehenden. Der Protestantismus begründe einen selbstkritischen Umgang mit der Positivität des Rechts, der sich als beständige Korrektur- und Reformbemühung konkretisiert. Radbruchs einschlägige Behauptung: „Religion ist letztendige Bejahung alles Seienden, lächelnder Positivismus“ 7 , „ein übereudämonistischer Optimismus“ 8 , eine „Gnade jenseits von Schuld und Unschuld“ 9 , also „Bejahung alles Seienden trotz alledem“ 10 steht in direkter Nachbarschaft zu dem, was Tillich später unter dem Begriff des Gläubigen Realismus 11 oder mit der Formel von der ‚Annahme des Unannehmbaren‘ 12 zu denken suchte. Methodische und sachliche Übereinstimmung besteht auch hinsichtlich der grundlegenden Bedeutung des Sinnbegriffs 13 . Die Eigenart kulturtheoretischer Fragestellungen und Bestimmungen lasse sich nur über den Sinnbegriff entfalten, wobei Sinn als ein Drittes gegenüber Sein und Sollen verstanden wird, in dem sich beide vermitteln. Der Verzicht auf den Sinnbegriff mache den „wertblinden Positivismus unserer Tage“ 14 aus, der sich in der Disjunktion von allgemein überprüfbaren, empirischen Tatsachenwahrheiten und irrationaler subjektiver Wertsphäre verfange. Dagegen erlaube eine sinn- bzw. kulturtheoretische und letztlich sogar geistphilosophische Grundlegung eine angemessene Definition des Rechts. Bei 7 8 9 10 11 12 13 14

G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), Studienausgabe, hrsg. von R. Dreier/St. L. Paulson, Heidelberg 2003, 9 f. G. Radbruch, Über Religionsphilosophie des Rechts (1919), in: Ders./P. Tillich, Religionsphilosophie der Kultur, a.a.O. (Anm. 6), 10. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, a.a.O. (Anm. 7), 10. Ebd. Vgl. etwa: P. Tillich, Gläubiger Realismus (1927), MW IV 183-192 sowie P. Tillich, Über gläubigen Realismus (1928), MW IV, 193-212. Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. II, Stuttgart 1958, 191. Zur Rolle des Sinnbegriffs bei Tillich: vgl. U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich (1994), in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89-123. Die Polemik gegen den Positivismus findet sich bei Radbruch also nicht erst 1945, sondern schon hier (1919).

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Radbruch lautet sie: Recht ist „eine Gegebenheit, die den Sinn hat, die Rechtsidee zu verwirklichen“ 15 . Die Eigenart des Rechts müsse in der Spannung von Faktizität und Idealität (Normativität) bestimmt werden, und das vermöge nur eine Rechtswissenschaft, die sich als „verstehende Kulturwissenschaft“ 16 begreift. Denn nur sie sei in der Lage, auf die Tatsachen des Rechts so zu rekurrieren, dass es nicht allein um diese, sondern stets auch um „die objektiv gültige Bedeutung der Rechtssätze“ geht. Der Spannung zwischen Faktizität und Geltung entspricht es, „daß die Rechtswissenschaft den Gegenstand einer Seinswissenschaft und die Methode einer Normwissenschaft habe“ 17 . b) Das führt auf die zweite äußere Beobachtung: die zentrale Stellung des Begriffs der Normwissenschaft. Indem Tillich diesem Begriff in seinem Wissenschaftssystem von 1923 eine zentrale Stellung gibt 18 , bezieht er sich auf im Umkreis des Neukantianismus geführte Debatten um das Selbstverständnis der Rechtswissenschaften. Das zeigt exemplarisch das nur ein Jahr zuvor, also 1922, publizierte Buch von Felix Kaufmann Logik und Rechtswissenschaft. Grundriss eines Systems der reinen Rechtslehre. Es erinnert daran, dass Hans Kelsen, der Begründer der Wiener rechtspositivistischen Schule, die begriffliche Unterscheidung zwischen Seins- und Normwissenschaften genutzt hat, um den wissenschaftstheoretischen Status der Rechtswissenschaft zu bestimmen 19 . Kaufmann führt dies an, um die einheitswissenschaftliche Forderung einer Angleichung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses der Rechtswissenschaft an die Naturwissenschaften physikalistischer Prägung zu diskutieren. Diese Forderung legte sich etwa unter dem Gesichtspunkt nahe, in beiden Fällen handele es sich um Gesetzeswissenschaften: In der Natur nicht anders als im Recht sei mit einem Faktum A die notwendige Folge B nach allgemeinen Gesetzen verknüpft. Die Stellung des Gesetzesbegriffs innerhalb der Rechtswissenschaft verschafft dieser eine Son15 16 17 18

G. Radbruch, Rechtsphilosophie, a.a.O. (Anm. 7), 113. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, a.a.O. (Anm. 7), 115. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, a.a.O. (Anm. 7), 115 f. P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 194 ff. Tillich bringt das Eigentümliche der Geisteswissenschaften auf den Begriff, indem er diese als Normwissenschaften begreift. („Geist ist erst da wirklich, wo in individuellen Gestalten […] Geltungen erfasst werden, die allein ihrem Sinngesetz unterworfen sind.“ [GW I, 195; vgl. 203]). 19 F. Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft. Grundriss eines Systems der reinen Rechtslehre, Tübingen 1922, 58.

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derrolle im wissenschaftstheoretischen Streit und macht sie zum ersten Kandidaten für die Durchführung eines einheitswissenschaftlichen Anspruchs. Kaufmann reagiert darauf mit einer Doppelstrategie: Einerseits bestehe methodisch, also im Blick auf das Verfahren der gesetzmäßigen Verknüpfung von Sachverhalten, in der Tat kein Unterschied zwischen Physik und Rechtswissenschaft, andererseits sei aber die Differenz von Seins- und Normwissenschaft aufgrund der Eigenart der jeweils zugrundeliegenden Sätze „durchaus gerechtfertigt“ 20 . Sie baue sich in Analogie zur Dichotomie zwischen Seins- und Sollenssätzen auf, dies allerdings nicht so, als ob die Rechtswissenschaft normsetzende und also ein Sollen etablierende Wissenschaft wäre. Eine solche Auffassung kann die Kelsenschule – zu der Kaufmann gehört – nur als Missverständnis zurückweisen. Denn es könne und dürfe nicht Aufgabe der Rechtslehre oder der Jurisprudenz sein, Normen zu setzen. Das bleibt Privileg des Gesetzgebers. Die Rechtswissenschaft ist eine Normwissenschaften in einem anderen Sinne, nämlich insofern und insoweit sie unter der Voraussetzung einer gegebenen Norm ihren spezifischen Gegenstandsbereich betrachtet 21 . Kelsen hatte 1911 in Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze gleich im Vorwort klargestellt, dass der Gegensatz zwischen Sein und Sollen und in dessen Folge die Differenz zwischen Kausal- und Normwissenschaften nicht regional oder gegenstandsorientiert definiert ist, sondern allein durch die je spezifische Betrachtungsweise bestimmt werden kann: Normativ ist die Rechtswissenschaft als „eine bestimmte Form des Denkens“, als eine „eigenartige Betrachtungsweise […], die sich durch ihre spezifische Richtung unterscheidet“ 22 . Der Formbegriff ist in diesem Zusammenhang also ein Platzhalter für die charakteristische Verfahrensweise, deren sich die Rechtswissenschaft im Blick auf Gegenstände bedient, die von anderen Wissenschaften auf andere Weise thematisiert und untersucht werden. (Darauf ist im 3. Abschnitt noch zurückzukommen.) Die Rechtstheorie ist also nicht Normwissenschaft, weil sie Normen untersucht – das kann auch die Rechtssoziologie als ihre Aufgabe wahrnehmen –, sondern insofern sie Normen als rechtliche Norm en und also unter der spezifischen Perspektive ihrer Gültigkeit betrachtet. 20 F. Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft, a.a.O. (Anm. 19), 60; vgl. Anm. 1. 21 F. Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft, a.a.O. (Anm. 19), 62. 22 H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, Tübingen 1911, VI.

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Bereits in dieser Auskunft ist die spätere Grundüberzeugung in Kelsens Reine[r] Rechtslehre vorbereitet, die Rechtswissenschaft als Sinntheorie rechtlichen Geltens fokussiere nicht die Herkunft und Genesis der Normen (etwa die Frage, ob sie aus autoritativer Setzung, aus Willkürmacht, Gottes Willen oder einer naturrechtlichen Norm hergeleitet werden), sondern sie versuche zu verstehen und zu beschreiben, was in der Rechtlichkeit einer Norm impliziert ist. Die Reinheit der Rechtswissenschaft resultiert nicht aus der Bestreitung des faktischen Vorhanden- und Wirksamseins anderer Normen (sittlicher, moralischer oder religiöser Provenienz), sondern allein aus deren Nicht-Einschlägigkeit in der Rekonstruktion des spezifisch rechtlichen Geltungssinnes. Ein reflektierter Rechtspositivismus bestreitet also nicht notwendigerweise das Vorhandensein rational explizierbarer ethischer Normen, sondern untersagt es nur, bei der Bestimmung (Identifikation und Interpretation) der Rechtsnormen aus fremden Quellen zu schöpfen, also ab extra Normen einzutragen 23 . Der Gesetzgeber ist selbstverständlich frei, in seiner Gesetzgebung auf religiöse oder moralische Normen zu rekurrieren, aber gerade diese Freiheit wird zur Geltung gebracht, indem die Rechtswissenschaft die Eigenart ihrer Aufgabe in der Voraussetzung erkennt, es mit verrechtlichten Normen und nicht mit Idealen zu tun zu haben. Rechtliche Geltung ist entsprechend kein Produkt aus der faktischen Orientierung menschlichen Handelns am Recht, sondern ein formales Implikat des verfahrenskonformen Hervorgangs von Normen. Man muss verstanden haben, was es heißt, eine Norm rechtlich in Geltung zu setzen, um den Gegenstand und die spezifische Methode der Rechtswissenschaft zu begreifen. Man wird also – auch ohne Radbruchs, Kelsens und Kaufmanns Verwendung des Begriffs der Normwissenschaft gleichzuschalten – beachten müssen, dass Tillich den Begriff der Normwissenschaft nicht spontan prägte, sondern dass er sich in seinem System der Wissenschaften einer Terminologie bediente, die in zeitgenössischen Debatten ihren Ort hatte. (Es gilt auch die Umkehrung: Weil Tillich in seinem System der Wissenschaften auf aktuelle Debatten reagierte, vermochte er es auch, sich unter Rechtstheoretikern Resonanz zu verschaffen 24 .) 23 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Nachdruck der 1. Auflage (1934) der Studienausgabe, hrsg. von M. Jestaedt, Tübingen 2008, 7. 24 U. Barth hat dies in der an den Vortrag anschließenden Diskussion mit Blick auf H. Heller bestätigt.

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2. Wenn Tillich 1920 in seinen Berliner Vorlesungen zur Religionsphilosophie die Kirchen- und Religionsgeschichte als Bereiche historischer Theologie den Seinswissenschaften zuordnet und von diesen die systematische Theologie als normative Religionsphilosophie abhebt 25 , dann zeichnet er für sein eigenes Fach die Positionen der damaligen Debatte nach. Das zeigt etwa die Präzisierung: „‚Normativ‘ heißt hier nicht etwa so viel wie ‚dogmatisch‘, sondern bedeutet nur, daß ein System mit dem Anspruch der Geltung, mit dem Anspruch, ideales System zu sein auftritt“ 26 . Der Zusatz: „[G]enau wie in allen anderen Kulturfunktionen“ spricht in aller Deutlichkeit aus, dass die für die systematische Theologie typische geltungstheoretische Orientierung auch andernorts, z. B. in den Rechtswissenschaften, zum Zuge kommt und dass sich Tillich dieser Nachbarschaft auch bewusst ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es denn auch nicht als Nachlässigkeit, dass Tillich die Begriffe systematische Kulturwissenschaften 27 , normative Kulturwissenschaft, Normwissenschaft (im Singular) und Normwissenschaften (im Plural) nebeneinander gebraucht (MW II, 71-72): Die Unterscheidungen ergeben sich allein im Blick auf den jeweiligen Gegenbegriff (systematische versus empirische Kulturwissenschaft; normative Kulturwissenschaft versus Kulturphilosophie; Normwissenschaft bzw. Normwissenschaften versus Philosophie überhaupt), kommen aber in einem Merkmal überein: Es zeichnet sie aus, nicht vom Allgemeinen, Apriorischen und Kategorialen, sondern vom Besonderen, Inhaltlichen und Gelten-Sollenden (also auch: von einem konkreten Standpunkt) auszugehen (MW II, 72). Entsprechend unterscheidet Tillich auch Kunstphilosophie und Ästhetik: Jene ist Darstellung des Wesens und Wertes der Kunst, diese dagegen „systematisch-normative Darstellung dessen, was als schön zu gelten hat“ (MW II, 71) 28 . Im System der Wissenschaften nimmt Tillich diese Unterscheidung unter die Obhut der Kategorie des Geistes: In Differenz zu den Tatsachen, von denen sie handelt, habe schon eine empirische Wissenschaft (und erst 25 P. Tillich, Religionsphilosophie (1920), EW XII, 333-636. 360. Tillich kann auch von „normativ-systematische[r] Religionswissenschaft“ (361) sprechen; vgl. Ders., Über die Idee einer Theologie der Kultur, MW II, 71. 26 P. Tillich, Religionsphilosophie, EW XII, 361. 27 P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, MW II, 70. 28 Zum Glück für Tillichs Kulturtheologie ist sein Verständnis von Ästhetik nicht auf diese Definition festgelegt.

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recht die Geisteswissenschaft und alles, was ihr Gegenstand werden kann) einen Status, der über die Sphäre der Fakten hinausführt. Als Wissenschaft gehört sie zu den „Schöpfungen des Geistes“, die als solche „unter den Normen und unter der Kritik des Geistes“ stehen 29 . Damit ist klargestellt, dass es sich bei den einschlägigen Normen nicht um phänomenjenseitige Ideale handelt, die – durch einen Chorismos vom Gegebenen getrennt – als zweite höhere Welt der ‚Welt der Tatsachen‘ gegenüberstehen. Stattdessen gehört zur Eigenart solcher Geistes-Schöpfungen eine innere Normativität, die in den kulturellen Phänomenen gleichsam mitgegeben ist und die sich überhaupt nur in der Form einer spezifischen Kritik dieser Phänomene zeigt. So konstituiert eine Wissenschaft nicht nur die Summe ihrer Aussagen, sondern auch ein spezifischer Sinn, wie diese gefunden werden, und darum Verfahren der Selbstkritik ihrer Aussagen und also der Weiterentwicklung der Disziplin. Entsprechend im Fall des Rechts: Wer die Eigenart rechtlichen Geltens erfasst, weiß auch, welche Form der Kritik rechtlicher Normen möglich ist, und insbesondere, was es hieße, eine Norm zu ändern, bzw. welche Handlungen dafür nötig wären. Insofern ist Tillichs Normwissenschaft am Begriff einer immanenten Norm orientiert. Mit dieser betrachtet man die Phänomene nicht ab extra und beurteilt darum auch nicht das Gegebene nach transzendenten Maßstäben. Die Immanenz der Norm und darum auch das Spezifikum der Normwissenschaft hat es mit der Eigenart dessen zu tun, was bei Tillich ‚Geist‘ heißt, nämlich mit einem spezifischen Selbstverhältnis. Die Kategorie „Geist“ steht für ein Denken, das „sich nicht nur auf das Sein richtet, sondern auch auf sich selbst, [so] daß es sich gewissermaßen zuschaut, während es denkt“ (GW I, 120). Im Selbstverhältnis des Geistes ist begründet, dass solches Denken „zugleich sich selbst bestimmt, kritisiert, Normen gibt“ (GW I, 122). Wenn daher von Geistes-Schöpfungen (also von kulturellen Formen, Werken der Kunst, symbolischen Ordnungen etc.) die Rede ist, so stellt sich solche Kreativität des Geistes als ein selbstkritisches Verhältnis zu sich selbst dar. ‚Geist‘ ist hier also kein Wort, das ein von den menschlich Handelnden unterschiedenes Subjekt auf den Plan führen würde, sondern eine kategoriale Bestimmtheit solchen Handelns selbst, das sich sozusagen in einem Bereich vollzieht, in dem Autopoiesis und Selbstkritik sich gegenseitig bedingen. Es wird im Geist nicht nur etwas getan, sondern so gehandelt, dass sich ein Für-sich-Sein bildet. 29 P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 115.

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Genau darin liegt die „eigene Form“ (GW I, 195), aufgrund derer sich der Geist von Denken und Sein, sowie die Geisteswissenschaften von den Denk- und Seinswissenschaften unterscheiden. Der Geist ist bei Tillich immer ein Distanzphänomen: Er gestaltet, indem er Abstand von der Gebundenheit an endliche Formen ermöglicht und nimmt. Das Verhältnis von Gestalt und Kritik – das Tillich später bis in das Verhältnis von Katholizismus und Protestantismus hinein entfalten wird – wird an dieser Stelle präludiert: „In der geisttragenden Gestalt aber reißt sich das Denken los von seiner Bedingtheit, Unmittelbarkeit.“ (Ebd.) Dieser Riss ist zugleich die Bedingung dafür, dass es zum skizzierten Selbstverhältnis kommt: „Geist ist erst da wirklich, wo in individuellen Gestalten, die als solche ihren Strukturgesetzen unterworfen sind, Geltungen erfaßt werden, die allein ihrem Sinngesetz unterworfen sind.“ (Ebd.) Ich unterstelle, dass man diese Bemerkung unter der Voraussetzung einer Mehrdimensionalität kultureller Formen lesen und also nach Maßgabe unterschiedlicher Geltungssphären interpretieren muss. Jede dieser Sphären ist ihrem eigenen Sinngesetz unterworfen und behauptet ihre Autonomie gegenüber den Übergriffen anderer Sinngesetze und -gebiete. Es geht also nicht allein um individuelle Gestalten, sondern auch um eine gemeinsame Typik, die sich von anderen Gestaltungsformen unterscheidet. Wirtschaft und Recht, Musik und Wissenschaft sind je eigentümliche Fälle solcher Typen bzw. Sinnkonstellationen. Ähnlich wie wir es oben bereits bei Kelsen beobachtet haben, bindet Tillich Normwissenschaft, Sinn- und Geltungsbegriff eng aneinander: „Der Sinnzusammenhang […] hat den Charakter der Geltung […]. Normieren heißt ja: Unter die Einheit eines geltenden Prinzips stellen.“ (GW I, 205) Solcher Prinzipien gibt es mehrere, die nicht aufeinander reduzierbar oder füreinander ersetzbar sind. In allen genannten Hinsichten scheint mir Tillich Pointen einer neukantianischen Kulturtheorie aufzunehmen. Gleichwohl kritisiert er eine – in seinen Augen – rationalistische Ausrichtung der Geisteswissenschaften, welche die Kultur ausschließlich als Verwirklichung eines Allgemeinen verstehe und darum betone, dass das Allgemeine nie rein verwirklicht werde, so dass nur eine unendliche Annäherung an ein Ideal bleibt: „Für eine Philosophie, deren Kategorien an der mathematischen Physik orientiert sind“, könne – so gibt er kritisch zu bedenken – „das Geistige nur als der Versuch erscheinen, ein Gesetz zu verwirklichen“ (GW I, 197). Dass diese Kritik auf den Neukantianismus zielt, wird sich angesichts seiner, gelegentlich zur ritualisierenden Beschwörung geratenden, Ausrichtung am

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Faktum der mathematischen Naturwissenschaften kaum bestreiten lassen. Im Übrigen kritisiert Tillich nicht die Ausrichtung auf das Allgemeine, sondern nur die Unfähigkeit, das Besondere zu würdigen, in dem sich das Allgemeine realisiert. Mit Leidenschaft zurückgewiesen wird jedoch eine Trennung von Norm und Realität, von Gesetz und dessen Anwendung. „Aber gerade die Voraussetzung dieser Auffassung wird durch die Lehre von dem schöpferischen Charakter des Geistes verneint. Die Normen werden in dem schöpferischen Prozeß des Geistes geboren; nur durch ihn haben sie Realität […]. Sie gehen in ihn ein und steigen neu geformt aus ihm hervor und gehen wieder in ihn ein.“ (GW I, 203)

Der Geist prozediert also über die Einheit von Setzung und Kritik, von kreativer Hervorbringung und Selbstkorrektur. Versucht man für Tillichs an dieser Stelle metaphernreiche und theologisch imprägnierte Sprache eine Konkretion zu finden, so dürfte wiederum ein Blick auf das Recht die beste Explikation bieten: Rechtsetzung ist nicht nur Setzung von Normen, sondern implementiert auch Verfahren der Korrektur und Selbstkorrektur. Die Rechtsordnung eines demokratischen Verfassungsstaates – zweifelsohne das Paradigma neukantianischer Rechtstheorie – reproduziert Recht aus Recht, indem sie nicht auf dezisionistische machtbewehrte Rechtsetzung, sondern auf Selbstanwendung des Rechts abzielt. Im Ausgang und unter Beachtung des positiven Rechts operiert eine solche Rechtswissenschaft als Kritik des Rechts. Kein Missverständnis des Rechtspositivismus könnte denn auch größer sein als der Vorwurf, er ziele auf kritiklose und kritikunfähige Affirmation des Bestehenden, so dass allererst die Inanspruchnahme eines Naturrechts zu einer kritischen Kontrolle des geltenden Rechts befähige. Auf das gerade Gegenteil will ein reflektierter Rechtspositivismus hinaus: Am Sinn für die Positivität des Rechts stärkt er das selbstkritische Freiheitsbewusstsein, dieses ändern zu können. Die Affinität dieser Position zu den Grundpositionen von Tillichs systematischer Theologie ist klar erkennbar.

3. Werfen wir nun einen Blick auf die Rechtslehre, die Tillich im System der Wissenschaften skizziert. Das Recht ist einerseits der praktischen Sphäre zugeordnet (und unterscheidet sich insoweit von Wissenschaft, Kunst und Metaphysik als Elementen der theoretischen Sphäre), andererseits ist es als formbestimmt eigenständig gegenüber der gehaltbestimmten Gemein-

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schaft, auf die es dennoch bezogen ist (vgl. GW I, 210). Das Recht ist zugleich vom Ethos unterschieden und zwar in Analogie zu der Weise, in der Wissenschaft und Kunst sich von Metaphysik abheben: Wie diese kann das Recht nicht direkt, sondern nur vermittelt über ein Anderes (hier: der Ausbildung eines Ethos) mit Unbedingtheit in Kontakt treten, also auch nur indirekt theonom erfüllt werden. Daran hängt die Autonomie und Rationalität des Rechts (wie im theoretischen Bereich die Selbständigkeit und Freiheit von Wissenschaft und Kunst). Es ist hier wie dort (und bei Tillich nicht anders als im Neukantianismus) die Formbestimmtheit und Formbindung, die Autonomie sichern und darum durch keinen Gehalt infrage gestellt werden dürfen. Unter der Kautele, dass bloßer Rechtsformalismus und leere Form vermieden bleiben, verbindet Tillich die Selbständigkeit der Form mit den Bestimmungen der rationalen Durchsetzbarkeit bzw. Erzwingbarkeit des Rechts, aber auch mit dem Prinzip der Ausdrücklichkeit (also der Explikation des Rechts in Rechtssätzen) und schließlich mit der Identifikation der formalen Gerechtigkeit als eines Prinzips der Gleichheit. Gleichheit ist formal konzipiert, insofern sie auf Gleichbehandlung beruht. Ausgeschlossen sind unter dieser Voraussetzung folglich Positionen, die das Recht ausschließlich als Machtphänomen (etwa in marxistischer Beleuchtung als Recht der bürgerlichen Gesellschaft mit der Tendenz zur Klassenjustiz) oder instrumentalistisch als bloßes Mittel der Durchsetzung individueller Zweckorientierungen beschreiben. Im Klartext gesprochen: Weder Ihering noch Hobbes, weder Marx noch Weber artikulieren einen hinreichenden Rechtsbegriff. Ausschließlich machttheoretische oder rein soziologische Perspektiven sind nicht in der Lage, das „Recht als selbständige Sinnfunktion“ zu begreifen. Genau das war auch Kelsens Pointe, die er sowohl 1911 wie 1934 in seiner Reine[n] Rechtslehre umfassend zur Geltung brachte 30 . Kelsen sprach damit die gemeinsame Überzeugung der neukantianischen Rechtstheorien aus. 30 Ob das Recht „wie von sozialistischer Seite behauptet wird, den Charakter einer ausbeutenden Klassenherrschaft habe, das ist vom Standpunkt der Reinen Rechtslehre aus irrelevant. Denn sie betrachtet nicht den Zweck, der mit der rechtlichen Ordnung verfolgt und erreicht wird, sie betrachtet nur die rechtliche Ordnung selbst.“ (H. Kelsen, Reine Rechtslehre, a.a.O. [Anm. 23], 44) Und weiter: „Sie durch Rechtssoziologie zu ersetzen, ist unmöglich, da diese auf ein ganz anderes Problem eingestellt ist als jene. So wie, solange es eine Religion gibt, es eine dogmatische Theologie geben muß, die durch keine Religions-Psychologie oder Soziologie zu ersetzen ist, so wird es – solange es ein Recht gibt – eine normative Rechtslehre geben.“ (H. Kelsen, Reine Rechtslehre, a.a.O. [Anm. 23], 48).

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So sehr Tillich also aus kulturkritischen Gründen die Form-Orientiertheit des Neukantianismus ablehnt, so wenig sollte die Tillichinterpretation verkennen, dass diese in erster Linie die auch von Tillich geforderte Selbständigkeit der Sinnfunktion ‚Recht‘ und ihrer Verwandten sichert. ‚Form‘ ist der Denktitel, der die Eigenart spezifischer Sinnfunktion identifiziert. Erinnert man an Ernst Cassirer, der seine Rechtstheorie zwar erst spät (im schwedischen Exil) ausarbeitet, aber mit seinem Weg vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff und seinen historischen Studien (vor allem zu Leibniz) bereits einen erheblichen Einfluss auf die Rechtsphilosophie des Neukantianismus der frühen zwanziger Jahre ausübte 31 , so könnte man sagen: ‚Form‘ ist nie leere, sondern stets symbolische Form. Wenn Rudolf Stammler (1856-1938) in seinem 1922 erschienenen Lehrbuch der Rechtsphilosophie deren Gegenstand als „System der reinen Formen, in denen wir rechtlich denken“ 32 definiert, dann rekurriert er gerade nicht auf die Vorstellung, Form und Inhalt ließen sich trennen. ‚Rein‘ heißt die Form nicht, weil sie als etwas Abgetrenntes diesseits oder oberhalb empirischer Rechtsinhalte für sich existierte. Auch operiert er nicht mit irgendwie angeborenen oder im Gemüte bereitliegenden Formen 33 . Vielmehr erläutert er den Formbegriff – soweit ich sehe – stets konstitutionstheoretisch als Inbegriff derjenigen Bedingung, unter der etwas überhaupt erst als Recht verstanden wird. Als einheitliche Ordnung ist die Rechtsform ‚rein‘, insofern sie die Vielfalt einschlägiger Erscheinungen (nämlich den Bereich menschlicher Handlungen) auf andere Weise ordnet als es die Form der Sittlichkeit oder des Ästhetischen jeweils tut. Selbstverständlich lassen sich heterogene Gegenstände wie Baum, Bild und Musik rechtlich (etwa unter Fragen des Eigentums- oder des Urheberrechts), aber auch Justizgebäude oder Rechtssätze ästhetisch unter der Differenz von schön/hässlich betrachten. Aber in solcher Perspektive wird das Recht gerade nicht rechtlich verstanden. ‚Form‘ ist deshalb nur in dem Sinne das Andere des ‚Inhalts‘, als sie diejenige Bestimmtheit darstellt, die die rechtliche Betrachtungsweise konstituiert – um welche konkreten Inhalte es auch immer gehen mag. Man kann die Pluralität zufälliger und zerstreuter Inhalte überhaupt nur als in spezifischerweise organisiert begreifen, indem man sie „unter dem Blickpunkte eines unbedingt 31 Vgl. M. Moxter, Recht als symbolische Form?, in: B. Recki (Hg.), Vorträge des Cassirerkongresses Hamburg, 2007 [im Erscheinen begriffen]. 32 R. Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin 1922, 4. 33 R. Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, a.a.O. (Anm. 32), 5.

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leitenden, einheitlichen Gedankens“ zusammenfasst 34 . In diesem Sinne bestreitet Stammler, dass es inhaltsleere Formen oder Gedanken geben könne 35 , und weist einen Chorismos zwischen Form und Inhalt explizit zurück. Kants Transzendentalphilosophie wäre ja auch um ihre Pointe gebracht, wollte man die von Kant mitgeführte Form-Inhalt-Differenz in einem metaphysischen oder scholastischen Sinne verstehen. Formen erzeugen ‚Bestimmtheitsweisen‘ als immer schon angewandte Kategorien. Rein heißt die Form also nicht, weil sie ohne jeden Inhalt wäre, vielmehr insofern, als sie in kritischer Reflexion auf diejenige Ordnungsweise identifiziert wird, die in allen Rechtstatsachen immer schon voraus- bzw. mitgesetzt ist. Oder in anderer Terminologie: Rein ist sie nicht hinsichtlich ihres Ursprungs, sondern aufgrund ihrer Geltungsfunktion. Letztere lässt sich nicht aus den gegebenen und bestehenden Rechtstatsachen ablesen oder aus ihnen durch Abstraktion gewinnen, wohl aber erfasst das sich in der Totalität seiner Sinnbezüge begreifende Bewusstsein mit ihr das Recht als Recht. Man muss Tillich freilich zugeben, dass dieser Hintergrund nicht immer mit der gebotenen Klarheit expliziert wird. So unterscheidet der Kelsenschüler Felix Kaufmann 1922 die Arbeit des Juristen, der sich mit den empirisch wandelbaren Inhalten der Rechtssätze beschäftige, von der Arbeit des Rechtstheoretikers, der „die a priori feststehende Form der Rechtssätze“ analysiere 36 . Das ist ein Indiz für eine im Horizont des Neukantianismus gebräuchliche Rede von apriorisch feststehenden Formen, die man gleichsam als platonischen Restbestand bezeichnen kann und die der von Tillich kritisierten Entgegensetzung von Inhalt und Form entspricht. Sie motiviert dann Tillichs ceterum censeo: Ohne Gehalt löst sich die Form vom Inhalt. Aber aus solcher Selbstpräsentation des Neukantianismus folgt noch nicht, dass es sich dabei um einen Grundbestand handelt, auf den auch eine raffiniertere Kantinterpretation festgelegt wäre. Gemessen an den herausgearbeiteten Nachbarschaften (Begriff der Normwissenschaften, Sinnbegriff, These der Selbständigkeit des Rechts) ist es kein Zufall, dass Tillich im Zusammenhang seiner rechtstheoretischen Überlegungen im System der Wissenschaften auch Stammlers Begriff des richtigen Rechts aufnimmt: In eigener Diktion identifiziert er das rich-

34 R. Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, a.a.O. (Anm. 32), 4; Anm 4. 35 Ebd. 36 F. Kaufmann, Logik und Rechtswissenschaft, a.a.O. (Anm. 19), 54.

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tige Recht als das „im Ethos fundierte gehalterfüllte Recht“ 37 . Die eigene inhaltliche Deutung ändert nichts daran, dass er mit der Rede vom richtigen Recht eine weitere neukantianische Bestimmung adoptiert und zwar mit genau der Zuspitzung, auf die auch der Neukantianismus Wert legt, nämlich als eine Kategorie, die über die gängige Alternative von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus hinausführt. Wolf-Reinhard Wrege hat in seiner bei Ralf Dreier geschriebenen Dissertation Die Rechtstheologie Paul Tillichs deshalb zurecht darauf hingewiesen, dass Tillich seinerseits einen ‚Dritten Weg zwischen Rechtspositivismus und Naturrecht‘ einschlägt 38 . Man sollte aber ergänzen: Solch einen dritten Weg suchen und gehen auch Stammler, Radbruch und Kelsen auf je eigene Weise.

4. Bereits Rudolf Stammler hatte erwogen, seine Theorie der Rechtswissenschaft unter dem Titel ‚Reine Rechtslehre‘ zu veröffentlichen. Was ihn von dieser Idee Abstand nehmen ließ, war das mögliche Missverständnis, „als ob man bei dem Aufsuchen einer reinen Rechtslehre notwendigerweise dazu getrieben würde, dem geschichtlich gegebenen Rechtsinhalte mit seinen Besonderheiten den Inhalt eines anderen Rechtes von angeblich unbedingter Bedeutung gegenüberzustellen“ 39 . Dieses quasi naturrechtliche Missverständnis müsse ausgeschlossen, gleichwohl aber daran festgehalten werden, dass die Rechtstheorie es mit Allgemeingültigem zu tun habe. In kategorialer Differenz zu den Besonderheiten bedingter Rechtsinhalte stehen diejenigen Bedingungen der Möglichkeit, ohne die Recht überhaupt nicht als es selbst begriffen wäre. Diese kategoriale Differenz zur Geltung zu bringen, ist aber ein anderes Unterfangen, als vom gegebenen Rechtsinhalt zu einem höheren und anderen Rechtsinhalt überzugehen. Das Naturrecht hat in dieser Hinsicht im Verhältnis zum gegebenen Recht dieselbe Stellung, die Kant der Schulmetaphysik im Verhältnis zur Erfahrung gab: Ein Rückschluss vom gegebenen Bedingten auf ein mitgegebenes Unbedingtes beruht auf einem Fehlschluss des Verstandes, ohne dass man deshalb alle Ideen der Vernunft in Misskredit bringen 37 P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 235. 38 W. R. Wrege, Die Rechtstheologie Paul Tillichs, Tübingen 1996 (= Jus Ecclesiasticum 56), 121 ff. 39 R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, Halle/Saale 1911, 32.

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müsste. Deshalb liefert der Abschied vom Naturrecht die Rechtstheorie nicht an einen Relativismus aus, der über die Feststellung der jeweiligen Rechtstatbestände nicht hinauskommt. Vielmehr ist eine Theorie der Rechtswissenschaften möglich als kritische Reflexion derjenigen Möglichkeitsbedingungen und Verfahren, ohne die es kein Recht gäbe. Sie ist zugleich von dem Nachweis begleitet, dass ohne die spezifische Ordnungsform des Rechts das Selbstbewusstsein der Freiheit kein Kulturbewusstsein werden könnte. Aus der Sicht der neukantianischen Autoren verblieb freilich Kants Rechtslehre als Metaphysik der Sitten noch in den Bahnen der klassischen Naturrechtslehre und verpasste es daher, die kritische Methode und transzendentalphilosophische Grundfigur konsequent auf das Recht anzuwenden 40 . Insofern ist auch an dieser Stelle die Erneuerung der kantischen Philosophie zugleich deren entschiedene Umgestaltung. Man kann die Front gegenüber der Naturrechtslehre auch mit der folgenden Wendung umschreiben: Für den Neukantianismus hat das Recht keinen unbedingten Gehalt. Was am Recht unbedingt maßgeblich ist, lässt sich nur über seine Form bestimmen 41 , während sich unter der Fülle gegebener Inhalte nichts finden lässt, was nicht historisch bedingt, kontingent geworden, willkürlich gesetzt wäre und also auch anders gedacht werden könnte. Einen vollkommenen Rechtsinhalt kann es so wenig geben wie ein ideales Recht. Gleichwohl gibt es „richtiges Recht“ – freilich kann dessen Eigenart nur identifiziert werden, wenn man die Unterscheidung zwischen gesetztem und richtigem Recht als eine Unterscheidung versteht, die nicht mit der Differenz von positivem und natürlichem Recht zusammenfällt. Diese nämlich operiert unmittelbar inhaltlich, indem sie dasjenige Recht, das in seinem Inhalt der Natur entspricht, aus dem Recht überhaupt heraushebt 42 . Dagegen ist ‚richtiges Recht‘ nichts anderes als eine Teilmenge des gesetzten Rechts als des einzigen Rechts, das den Namen verdient. Aber im positiven Recht kann unterschieden werden zwischen solchen Rechtssätzen, die der Idee des Rechts entsprechen, und anderen, von denen das

40 R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, a.a.O. (Anm. 39), 36. 41 Eine unbedingte Bedeutung vermag nur ein formaler Grundgedanke des Rechtes zu besitzen (R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, a.a.O. [Anm. 39], 126). 42 R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, a.a.O. (Anm. 39), 124.

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nicht gilt 43 . Zur Diskussion steht dabei, ob es einem Gesetzgeber gelungen ist, bei der Rechtserzeugung bestimmten Rechts sich „nach dem unbedingten Grundgedanken des Rechts zu richten“, oder ob eben dies misslungen ist oder vielleicht nicht einmal einschlägig war. Dabei ist vorausgesetzt und zugestanden, dass kein Recht ein für alle Mal oder in jeder Hinsicht richtiges Recht ist. Aber jedes Recht und also jeder Rechtsinhalt kann daraufhin befragt werden, ob es bzw. er in einer Weise rekonstruiert und verstanden werden kann, die erkennen lässt, dass ein bestimmter Rechtswille mit dem „Grundgesetz des Wollens überhaupt“ 44 kompatibel ist. Das richtige Recht ist also eine bestimmte Art des Rechts bzw. eine Teilklasse von Rechtsinhalten. Während es also keinen Nachlass auf die Frage gibt, ob man sich nach dem positiven Recht zu richten habe, gibt es zugleich keinen Grund, die Frage zu unterdrücken, ob das Recht auch richtig sei. Im Unterschied zur Naturrechtskonzeption lässt sich diese Frage aber nur durch eine interne Rekonstruktion des Rechts bearbeiten (etwa in Gestalt einer verfassungsrechtlichen Überprüfung einfacher Gesetzgebung). Oberhalb des Rechts lässt sie sich nicht klären. In diesem Sinne kann das Recht nur angemessen verstanden werden, wenn es als Einheit von Rechtsbegriff und Rechtsidee begriffen wird.

5. Tillich charakterisiert 1923 den Rechtspositivismus mit zwei Bestimmungen, die dann zum Anlass und Bezugspunkt seiner Kritik werden: zum einen mit der Überzeugung, dass es „eine übergreifende Rechtsidee nicht geben könne“, zum anderen mit der Behauptung, „dass jedes konkrete Recht der Ausdruck einer Volksseele sei“ 45 – wobei Tillich die zweite These als Begründung der ersten versteht. Es ist auffällig, dass die im Begriff des Rechtspositivismus liegende Bestimmung des ‚Gesetztseins‘ bzw. eines faktisch geltenden Rechts nicht die Pointe der Charakterisierung ist, sondern dasjenige Motiv, an dem sich der kritische Abstand des Neukantianismus gegenüber dem Rechtspositivismus zeigt: nämlich an dem Vorwurf, dieser reduziere das Recht auf den Rechtsbegriff und leug43 R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, a.a.O. (Anm. 39), 126. 44 R. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, a.a.O. (Anm. 39), 127. 45 P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 236.

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ne die Rechtsidee. Dass das Recht immer gesetztes und gesatztes Recht ist, ist dagegen unstrittig. Der kritische Vorstoß Tillichs richtet sich insofern nicht gegen die Leitperspektive des Rechtspositivismus, sondern gegen den Rechtspositivismus „in seiner romantischen Ausprägung“ (GW I, 236) also in einer Form, in der das Recht als „Ausdruck einer Volksseele“ erscheint. Gemeint ist die von Friedrich Carl von Savigny ausgehende historische Rechtsschule, die den, am Leitfaden eines rational transformierten Naturrechts der Aufklärung orientierten, absolutistischen Rechtsreformen den Gegensatz von Machen und Wachsen, von Rechtsmechanismus und -organismus entgegenhält und die Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814) zu sagen weiß, neue Gesetzbücher zu machen sei ein Indiz für Abstraktion und Willkür. Während das lebendige Recht, wie es exemplarisch im römischen Recht zu entdecken sei, „mit dem Volk fort[wächst], sich mit diesem ausbildet und endlich abstirbt“, sobald „das Volk seine Eigentümlichkeit verliert“ 46 , sei das rationalistische Programm der Rechtsreform Ausdruck eines Verfalls. Das natürliche Recht Savignys ist denn auch das gerade Gegenteil des Naturrechts, nämlich ein gewordenes, gewachsenes, aus der Sittlichkeit eines Volkes entstandenes Recht. Zwar verbinden die historische Rechtsschule und den späteren Rechtspositivismus ihre gemeinsame Front gegenüber den Naturrechtskonzeptionen, aber wenn Tillich den Sack der historischen Rechtsschule schlagend den Esel des Rechtspositivismusmeint, so tritt er mit dem genannten Argument jedenfalls nicht in den Umkreis der Stärke des Letzteren ein. Der Grund der Zurückhaltung sollte deutlich geworden sein: Im Blick auf die eigentliche Pointe des Rechtspositivismus, das geltende Recht als den einzig möglichen Ausgangspunkt der Rechtstheorie zu begreifen, gibt es für Tillich überhaupt keinen Dissens. Strittig ist für ihn nicht der Ausgangspunkt beim positiven Recht, sondern allein die Frage, ob im positiven Recht nicht mehr gegeben ist, als eine eindimensionale Interpretation erkennt. Der dritte Abschnitt der knappen Ausführungen zum Recht im System der Wissenschaften ist deshalb unter der Überschrift ‚Recht und Staat‘ den Zentralbegriffen Entscheidung und Macht gewidmet47 . Insofern der zeitgenössische Rechtspositivismus auf Dezisionismus, Rechtssetzungs- und Rechtdurchsetzungsmacht und insofern auf staatliche Organisation setzt, 46 F. C. von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, 11. 47 P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 237 f.

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anerkennt Tillich dessen Wahrheitsmomente; allerdings mit einer entscheidenden Einschränkung, die ihn wiederum an der Seite neukantianischer Rechtstheorien zeigt: „Ein Machtverhältnis wird erst dadurch zum Staat, daß es sich in Rechtsformen darstellt […]. Der Staat schafft nicht das Recht, sondern er wird Staat durch Rechtssetzung. Er ist der Träger der Entscheidung, die hinter jeder Rechtsverwirklichung steht, aber er ist nicht der Träger des Rechts; denn das Recht ist eine selbständige sinnerfüllende Funktion.“ (GW I, 237 f.)

Die Entstehung des Staates und insbesondere seine Herausbildung in der Neuzeit ist ein Fortschritt der Rechtsentwicklung – mit der Folge, dass der Staat vom Recht aus (und nicht umgekehrt) gedacht und konzipiert werden muss. Macht wäre dann also erst als in Rechtsform gebrachte staatliche Macht, ohne dass unterstellt werden müsste, der Staat sei überhaupt nichts anderes als Rechtsordnung oder als deren Garant. Diese Stoßrichtung liberaler Staatstheorie lehnt Tillich ausdrücklich ab (vgl. GW I, 238). Tillich plädiert deshalb für die Präsenz des Gegenpols ‚Gemeinschaft‘, die sich im je eigenen Recht verwirkliche, und er ordnet die Staatslehre darum nicht der Rechts-, sondern der Gemeinschaftslehre zu. Daraus ergibt sich dann die „Anwendung der Rechtsidee auf die rechtstragende Gemeinschaft selbst“ (ebd.) in Gestalt der Staatsrechtslehre. Gedacht wird an eine innere Entwicklung des Rechts, aus der sich spezifische Strukturen der Zuordnung von Normativität und Faktizität, von Recht und Macht und darum der rechtlichen Regelung von Machtgebrauch ergeben. Unter dieser Voraussetzung ist Tillich in der Lage, nun auch den Gesichtspunkt aufzunehmen, der einen reflektierten Rechtspositivismus Kelsenscher Prägung definiert, nämlich die Perspektive, das gegebene Recht im Horizont seiner möglichen Fortentwicklung zu begreifen. An ihr hängt die Rationalität des Rechts. Positives Recht steht im Horizont von Verfahren der Rechtsentwicklung und ist darum als Einheit von Gegebenem und Veränderbarem (Kelsen) bzw. von Gegebenem und Aufgegebenem (Stammler) zu begreifen. Das kann im Interesse einer Pragmatik rationaler Rechtsreformen in einer demokratischen Gesellschaft (Kelsen) oder im Interesse an einem systematischen Zusammenspiel von Rechtsbegriff und Rechtsidee (Stammler) gesagt sein. Tillich jedenfalls betont (mit Rechtspositivismus und Neukantianismus) die Einheit des Verfahrens, lehnt aber eine vollständige Reduktion des Rechts auf die je bestehende Rechtsordnung ab. Das Recht als gegebene Form ist ohne schöpferisches surplus nicht denkbar. In dieser Behauptung dürfte das genuine Interesse Tillichs liegen: Weil er die Rechtstheorie im Zusammenhang des Sinnbegriffs bzw. seines

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sinntheoretischen Konzeptes der Kultur entwickelt, insistiert er darauf, Sinnform und Sinnüberschuss gleichermassen ernst nehmen. Dies bestimmt auch seine Rezeption der Kategorie des richtigen Rechts, die nun noch einmal inhaltlich betrachtet werden soll. Unter der schon mehrfach genannten Voraussetzung, dass die Selbständigkeit der Sinnfunktion ‚Recht‘ in ihrer Autonomie anerkannt wird und nicht durch heteronome Einschüsse und Einschlüsse um ihre Geltungslogik gebracht werden darf (vgl. GW I, 234 f.), nimmt Tillich auch den Begriff der Rechtsidee auf. Er erklärt nämlich, dass die dem Recht Unterworfenen sich der Geltung dieses Rechts auch dort nicht entziehen können, „wo [dies]es ihrer Idee der Richtigkeit widerspricht“ (GW I, 235). Im Grunde folgt diese Erklärung aus dem Status der Idee, denn Ideen dürfen nun einmal nicht in den Bereich der das Gegebene strukturierenden Begriffe eingespeist werden, weil dies in rationale Schwärmerei führte. Das Kriterium richtigen Rechts jedoch bestimmt Tillich abweichend gegenüber den Autoren, mit denen er argumentiert. Denn er sieht solches Recht dort gegeben, wo ein „im Ethos fundierte[s] gehalterfüllte[s] Recht“ wirksam wird (ebd.). Mit anderen Worten – und ohne Anspruch auf Neuigkeitswert –: ‚Theonomie‘ erscheint als Tillichs Rechtsidee. Weil Theonomie als „Wendung zum Unbedingten um des Unbedingten willen“ (GW I, 245) im Recht als einer fundierten Funktion nicht direkt erscheinen, sondern nur über das Ethos den Prozess der Rechtssetzung beeinflussen kann, rückt die Gemeinschaft als „gehaltbestimmte fundierte Seinsbeziehung“ (GW I, 238) in Kontraposition zum Recht. In der Konsequenz dieser Operation wird das Problem der Rechtsidee mit Mitteln bearbeitet, die nicht überzeugen können. Für Tillich gilt: „Die Rechtsnorm wird geboren aus dem Leben konkreter Gemeinschaften.“ Dies besagt für die normative Rechtsauslegung, dass sie zunächst „durch einfühlendendes Verstehen de[n] Wille[n] des Gesetzgebers“ zu erkennen versuchen muss, um dann „durch systematische Konstruktion de[n] Geist des Gesetzes dem Geist der wachsenden Rechtsüberzeugung“ anzupassen (GW I, 236). Alle drei Bestimmungen (der Rekurs auf die irrationale Größe des [Volks-]Lebens, die Hinterfragung des Rechtstextes durch unkontrollierbare Imagination des vermuteten Willens des Gesetzgebers und die Anpassung des Geistes der Gesetze an ein sich änderndes Rechtsgefühl) sind zusammengenommen Indizien für die These, Tillichs Rechtsidee sei nicht aus dem Recht intern rekonstruiert, sondern werde von außen in das Recht eingespeist. Tillich hat also zwar in Anknüpfung an die Rechtstheorie seiner Zeit richtig erkannt, dass die „Rechtsnormenlehre abhängig von

Tillich und die neukantianische Rechtstheorie

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dem geltenden Recht [ist], an dessen Weiterentwicklung sie arbeitet“ (ebd.). Aber er bestimmt das Verhältnis zwischen geltendem Recht und dessen Weiterentwicklung nicht intern, nicht als Verhältnis zwischen Rechtsnormen und von (mitgesetzten) Rechtsprinzipien. Der Preis für diesen Verzicht ist hoch: Man sieht einfach nicht, worin sich Tillichs im System der Wissenschaften skizzierte Rechtsnormenlehre von der Selbstabschaffung der Rechtsdogmatik unterscheidet. Es scheint alles auf die Trivialität hinauszulaufen, dass gelegentlich die Zeit für eine neue Rechtssetzung kommt – und dass man Glück hat bzw. Gott danken kann, wenn es in solchen Situationen mit theonomen Geiste zugeht. Mehr scheint man nicht sagen zu können.

6. Wie Tillich mit seinem Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur und seiner Konzentration auf den Sinnbegriff auf produktive Weise theologisches Neuland erschloss und erst später eine Kulturtheologie entwarf, die auf einer Ontologie aufruht bzw. in diese integriert war 48 , so meinte er später auch, den Fluchtpunkt seiner Wahrnehmung rechtstheoretischer Debatten in der jungen Weimarer Republik in einer Ontologie zu finden. In Liebe, Macht, Gerechtigkeit von 1954 (deutsch 1955) wird das Wichtigste, was Tillich zum Recht sagen zu müssen meint, in der Überzeugung zusammengefasst, es fehle der Rechtstheorie die Ontologie. Denn: „Jedesmal, wenn die ontologische Grundlage der Gerechtigkeit zugunsten einer positivistischen Auffassung des Rechts preisgegeben wurde, fehlte ein Kriterium gegen tyrannische Willkür oder utilitaristischen Relativismus.“49

Man kann dies als Tillichs Variante der berühmten Radbruch-These lesen, der Rechtspositivismus habe die Juristen wehrlos gegen die Tyrannei des Nationalsozialismus gemacht 50 . Jedenfalls meint Tillich in seiner Schrift aus den fünfziger Jahren, es sei die Aufgabe der Gegenwart, eine neue Grundlage für das Naturrecht und für den Gerechtigkeitsbegriff zu finden, und darum stellt er seine eigene Ontologie als Beitrag zur Erledigung dieser Aufgabe dar. 48 Zu denken ist an den vierten Teil seiner Systematischen Theologie. 49 P. Tillich, Liebe, Macht, Gerechtigkeit (1954), GW XI, 141-225. 178. 50 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Ders., Rechtsphilosophie, a.a.O. (Anm. 7), 211-219, hier: 215. G. Radbruch, Rechtsphilosophie, a.a.O. (Anm. 7), 96.

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Es steht uns nicht zu, Tillichs Selbstinterpretation und den Weg, den er mit aller Entschiedenheit einschlägt, als eine Art Selbstmissverständnis auszulegen. Aber gesetzt einmal, weder die Hoffnung auf theonome Erfüllung der Kultur noch der Ausblick auf ein neues, ontologisch fundiertes Naturrecht sollten unsere eigene Gegenwart überzeugen, so legt es sich nahe, die Stärken seiner Theologie eher beim frühen Tillich zu vermuten. Sie scheinen mir in dem Maße deutlicher erkennbar zu werden, in dem man Tillichs Ausführungen als produktive Auseinandersetzung mit der reinen Rechtslehre Kelsens betrachtet. Letztere artikulierte einen Typ des Rechtspositivismus, der nicht am Vorliegen von Rechtstatsachen, sondern am Ineinander von Rechtssachverhalt und diesem „gleichsam innewohnende[n] oder anhaftende[n] Sinn“ 51 orientiert war. Kelsens Rechtstheorie war Bedeutungstheorie des Rechts, in der alles auf die mit dem Rechtssetzungsakt konstitutiv verbundene „Selbstdeutung“ 52 ankam und die darum in der Selbstkorrektur des Rechts denjenigen Sachverhalt erkannte, der den Rechtssatz vom bloßen Imperativ eines Räubers zu unterscheiden erlaubt. Die Eigentümlichkeit des Rechtssinns gründet in der internen Rationalität des Rechts. Der frühe Tillich war in der Lage, einen solchen reflektierten Rechtspositivismus aufzunehmen, weil die sinntheoretische Orientierung seiner Theologie die Selbständigkeit der Sinnform zugleich mit einem internen Sinnüberschuss der kulturellen Formen zur Geltung bringen konnte. Insofern lässt sich das Verhältnis Tillichs zur zeitgenössischen, neukantianisch inspirierten Rechtstheorie in der Tat als konkreter Ausdruck seiner Kulturtheologie interpretieren. Noch immer gilt: Kulturtheologie des Rechts und nicht theologische Rechtsethik 53 war Tillichs produktive These.

51 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, a.a.O. (Anm. 23), 16. 52 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, a.a.O. (Anm. 23), 17. 53 Vgl. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, MW II, 73.

C. Problemfelder von Paul Tillichs Theologie der Kultur

Kulturtheologie und hellenistische Philosophie. Zu ihrem Bezug in Paul Tillichs Berliner Vorlesung Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie vom Wintersemester 1920/21 STEFAN DIENSTBECK Der Stoizismus sei – so formuliert es Paul Tillich in seinem populären Spätwerk Der Mut zum Sein – „in der abendländischen Welt die einzige wirkliche Alternative zum Christentum“. 1 Letzteres habe seine Auseinandersetzungen jedoch primär nicht mit der Philosophie der Stoa, sondern mit zwei anderen geistigen Strömungen, der Gnosis und dem Neuplatonismus, geführt. (Vgl. GW XI, 18) Diese drei philosophisch-religiösen Schulen – Stoizismus, Gnosis und Neuplatonismus – sind es, die bereits der junge Tillich in einer Vorlesung über die griechische Philosophie als deren Gipfel und Endpunkt herausstellt. Tillichs Berliner Vorlesung aus dem Wintersemester 1920/21 mit dem Titel Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie 2 thematisiert dabei das Gesamt antik-griechischen Denkens von den Vorsokratikern bis hin zu der Ausprägungsgestalt des Neuplatonismus, die dieser in der Person Plotins gefunden hat. Dabei handelt es sich um eine der seltenen und vor allem um die erste intensive Beschäftigung Tillichs mit der griechischen Philosophie. 3 Das Spezifikum dieser Vorlesung – sowie auch der weiteren zu Beginn der zwanziger Jahre in Berlin gehaltenen Vorlesungen 4 – ist, dass es sich 1 2 3 4

P. Tillich, Der Mut zum Sein, GW XI, 13-139, hier: 18. P. Tillich, Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie (1920/21), EW XIII, 1-198. Erdmann Sturm verweist ebenfalls darauf, dass Tillich sich mit diesem Thema „einem für ihn ganz neuen Gegenstand“ (EW XIII. XLIX) zuwende. Vgl. P. Tillich, Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der abendländischen Philosophie seit der Renaissance (1921), EW XIII, 199-406 sowie P. Tillich, Geistesgeschichte der altchristlichen und mittelalterlichen Philosophie (1923/24), EW XIII, 407-638.

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nicht im eigentlichen Sinne um eine philosophiegeschichtliche Darstellung handelt, wie es der Titel impliziert; 5 vielmehr ist es Tillich darum zu tun, die Data abendländisch-antiken Denkens aus der Perspektive seiner kulturtheologisch-programmatischen Unterscheidung von Form und Gehalt zu betrachten. 6 Dies macht Tillich gleich zu Beginn in den ersten vier Sitzungen der Vorlesung deutlich, indem er sein kulturtheologisches Programm als das Organ vorstellt, mit dem er die Darstellung der griechischen Philosophie zu gestalten gedenke. Dass dies entscheidenden Einfluss auf die Art der Darstellung sowie das Urteil die jeweiligen philosophischen Richtungen betreffend hat, ist evident. Grundüberlegung des Beitrags ist es nun, das Verhältnis von griechischer Philosophie und ihrer kulturtheologischen Ausgestaltung durch Tillich zu analysieren, d.h. näherhin zu ergründen, inwiefern und inwieweit Tillichs Darstellung antik-hellenistischer Systeme diesen tatsächlich gerecht zu werden vermag. Vorgegangen wird dabei dergestalt, dass zunächst (1.) in aller Kürze die kulturtheologischen Grundlagen, wie sie Tillich zu Beginn seiner Vorlesung anführt und wie er sie in seinen programmatischen Schriften nach dem zweiten Weltkrieg gestaltet, angerissen werden. Sodann (2.) wird die Anwendung kulturtheologischer Kategorien auf das antike griechische Denken durch Tillich betrachtet. In einem weiteren Schritt (3.) erfolgt eine Fokussierung auf Tillichs Bewertung der im engeren Sinne hellenistischen Schulen, wobei exemplarisch anhand der stoischen Philosophie Tillichs Zugang zur antiken Philosophie näher in den Blick kommt. Zuletzt (4.) wird zur Grundfrage des Beitrags zurückgekehrt und aufgrund der Analyse von Tillichs Umgang mit dem stoischen Gedankengut die kulturtheologische Methode als Perspektive auf die antike abendländische Philosophie beurteilt.

5

6

So hätte es auch Tillichs Lehrauftrag als Privatdozent an der Berliner Universität vorgesehen, der sich nur auf die Geschichte der Philosophie bezog; vgl. hierzu im Einzelnen die hervorragenden Ausführungen des Herausgebers Erdmann Sturm in dessen historischer Einleitung zu Tillichs Berliner Vorlesungen EW XIII, XXXI-LII, hier insbesondere: XXXVI-XXXVIII. Erdmann Sturm spricht deshalb vollkommen zu Recht davon, dass es Tillich „um kulturtheologische Analysen des philosophischen Denkens“ (EW XIII, XLI; vgl. dazu auch EW XIII, XLIII) gehe.

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1. Kulturtheologische Prämissen Gegen Ende des ersten Weltkriegs stellt Tillich sein theologisch-religionsphilosophisches Denken auf eine sinntheoretische Basis. Der wahrheitstheoretische Zugang zur Theologie, wie ihn Tillich paradigmatisch in seiner ersten Systematischen Theologie von 1913 7 expliziert hat, wird damit für Tillich zwar nicht obsolet, allerdings in modifizierter, d.h. weniger absolutheitstheoretischer Fassung in die nun sinntheoretische Ausprägung seines Systemdenkens integriert. 8 Erstmals zu fassen ist Tillichs sinntheoretisch modifiziertes System im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch aus den Jahren 1917/18. 9 Das mit der Sinntheorie verbundene Programm einer Kulturtheologie stellt Tillich dann im Jahr 1919 anhand seines prominenten Vortrags Über die Idee einer Theologie der Kultur 10 vor der Berliner Kant-Gesellschaft vor. Ebenfalls im Jahr 1919, nur wenig später als der Kulturvortrag verfasst, jedoch nicht veröffentlich wurde die Schrift Rechtfertigung und Zweifel 11 , die gewissermaßen als der systematische Hintergrund des Kulturvortrags in theologischer und religionsphilosophischer Hinsicht bezeichnet werden kann. Die Gedanken zur Kulturtheologie gipfeln schließlich in Tillichs Überlegungen, wie er sie in seinem Wissenschaftssystem 12 von 1923 sowie – wiederum stärker den systematischen Hintergrund beleuchtend – in seiner Religionsphilosophie 13 aus dem Jahre 1925 vorbringt.

7 8

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P. Tillich, Systematische Theologie von 1913, EW IX, 278-434. Vgl. dazu Ch. Danz, Theologie als normative Religionsphilosophie. Voraussetzungen und Implikationen des Theologiebegriffs Paul Tillichs, in: Ders. (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs, Wien 2004 (= Tillich-Studien, Bd. 9), 73-106 sowie S. Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs, Göttingen 2011. Vgl. P. Tillich, Briefwechsel mit Emanuel Hirsch (1917/1918), EW VI, 95-136. P. Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, GW IX, 13-31. Seinen Vortrag erwähnt Tillich in der Vorlesung über die griechische Philosophie expressis verbis selbst; vgl. EW XIII, 8. P. Tillich, Rechtfertigung und Zweifel (1919), EW X, 127-230. P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 109-293. Paul Tillich, Religionsphilosophie, GW I, 295-364.

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Eine komplette Rekonstruktion der Kulturtheologie Tillichs ist an dieser Stelle weder möglich noch notwendig. 14 Vielmehr soll der Fokus auf die Ausführungen Tillichs in seiner Vorlesung über die griechische Philosophie gerichtet werden. Tillichs Äußerung in den Schriften von 1919 decken sich weitestgehend mit den in der Vorlesung getätigten, so dass auf ihre Analyse an dieser Stelle verzichtet werden kann. Tillich fasst seine Grundhaltung, mit der er die griechische Philosophie analysieren möchte, in einer Doppelfrage zusammen: „Wir treten also mit einem doppelten Gesichtspunkt an die Geschichte unseres wissenschaftlichen Geistes heran. Die sachliche Fragestellung: Inwiefern wird die Idee der Richtigkeit erfüllt?, und die geistige Fragestellung: Inwiefern ist die Form Ausdruck einer Geistigkeit?“ (EW XIII, 5)

Damit bringt Tillich seine kulturtheologischen Grundlagen auf den Punkt. Einerseits geht es um die „Idee der Richtigkeit“, d.h. um die adäquate und damit korrekte Anwendung formaler Operationen. Richtigkeit meint in Bezug auf die Form bei Tillich immer deren Berücksichtigung als solcher in Kombination mit Angemessenheit dem Gegenstand gegenüber. Andererseits huldigt die Form in Tillichs kulturtheologischem Programm nicht selbstsuffizient der eigenen Formhaftigkeit, sondern vermag gerade als Form gleichzeitig gehaltvoller Ausdruck zu sein – dies ist in Tillichs zweiter Frage ausgesprochen. Das dadurch entstehende „Problem des Doppelsinnes der Form“ (ebd.), lässt sich weder durch Auflösung der Form, d.h. der Wissenschaft bzw. Philosophie schlechthin, noch durch das des Gehalts, was reinen Formalismus bedeuten würde, sondern ausschließlich durch eine vertiefte „Analyse des Verhältnisses von Form und Gehalt und dem Verhältnis beider zur Sache“ (ebd.) lösen. Somit gelangt Tillich zu seinem genuinen Zugang zur griechischen Philosophie, indem er die „Kenntnis der Form“ (EW XIII, 6), mithin die Ausprägung philosophischer Denkstile im Sinne einer Philosophiegeschichte in seiner Vorlesung schlicht voraussetzt, sein Augenmerk hingegen eben auf die Analyse der Relation von Form und Gehalt sowie deren Verhältnis zum jeweiligen Gegenstand richtet; deshalb kann Tillich formulieren, dass seine Aufgabe eigentlich erst dort anfange, „wo die Aufgabe der Geschichte der Philosophie aufhört“ (ebd.), indem er erst nach der reinen Formprägung historisch gewordener philosophischer Systeme an- und einsetzt. 14 Vgl. dazu im Detail die Ausführungen des Verfassers in: S. Dienstbeck, Transzendentale Strukturtheorie, a.a.O. (Anm. 8), bes. 306-321. Ganz der Kulturtheologie Tillichs widmet sich P. Haigis, Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur, Marburg 1998.

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Zu beantworten bleibt nun, was Tillich näherhin unter Form, Gehalt und dem Stoff versteht, zu dem sich die beiden Erstgenannten verhalten. Dies lässt sich am besten anhand seines doppelten Verständnisses von Form andemonstrieren: Im ersten Sinne der obigen Unterscheidung richtet sich die Form ganz auf sich selbst und nicht unmittelbar auf das sie allererst ermöglichende Unbedingte. Darin kommt das zum Ausdruck, was Tillich stets als die autonome Geisteshaltung bezeichnet. 15 Diese enthält zwar auch ein Unbedingtheitsmoment, welches sie jedoch nur vermittels der direkten Hinwendung auf die Form, mithin im Zielen auf unbedingte Form zum Ausdruck zu bringen vermag. Insofern kann bei der Form die Kategorie der Richtigkeit in Anschlag gebracht werden, indem gefragt wird, inwiefern und inwieweit die jeweilige Form dem Maß unbedingter Form entspricht und genügt. Damit ist der Begriff die der Form als der Ausdrucksgestalt menschlicher Vernunft angemessene Verdichtung schlechthin. 16 Anders nun verhält es sich beim Gehalt, der in allen Dingen „das Lebensgefühl, die letzte innere Stellung zur Wirklichkeit, das Erlebnis des unbedingt Wirklichen“ (EW XIII, 9) zum Ausdruck bringt. Der Gehalt ist mithin nicht nur nicht einzufangen im Prozess der Begriffsbildung des Denkens, sondern er ist vielmehr „ein in der ganzen Art der Begriffserfassung sich äußerndes Lebensgefühl oder besser geistiges Fundamentalerlebnis“ (EW XIII, 12; Herv. S.D.). Oder anders formuliert: Gehalt ist gerade das, was nicht mehr eingeholt werden kann in die begriffliche Gestalt der Form, sondern ihr vorausgeht, sie ermöglicht und sich – dies ist für Tillichs Kulturtheologie von entscheidender Bedeutung – in ihr äußert. 17 15 Vgl. auch Erdmann Sturm, EW XIII, XLV f. 16 „Die Form. Die begriffliche Erfassung nach den immanenten Gesetzen des begrifflichen Denkens.“ (EW XIII, 12) Damit knüpft Tillich an seine Systematische Theologie von 1913 an, in der er den Begriff fasst als die „Setzung einer bestimmten Mannigfaltigkeit und ihre Aufhebung in die Einheit“ (EW IX, 284). Als solcher ist der Begriff aber gewissermaßen ‚Durchgangsstation‘ (vgl. auch G. Hummel, Das früheste System Paul Tillichs: Die Systematische Theologie von 1913, in: NZSTh 35, 1993, 115-132, hier: 121) im prozessualen Wechselbezug von Form und Gehalt, so dass der Begriff zwar der Form bzw. der Wissenschaft zuschreibbar ist, ihm jedoch nicht der lebensspendende Gehalt fehlen darf, um nicht in eine formalistische Fassung umzuschlagen. 17 Genau dies möchte auch Georg Neugebauer (Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 357) zeigen, wenn er Tillichs spätere Ontologie als „formale Ontologie“ bezeichnet.

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Falsch verstanden wäre der Gehalt allerdings, würde man das geistige Fundamentalerlebnis, als das Tillich ihn bezeichnet, als rein subjektives Moment oder wie Tillich sagt: „psychologisch“ (EW XIII, 7) erfassen wollen. In diesem Fall verkäme der Gehalt zum reinen Mythos, der keinen Bezug zur Form mehr einzunehmen in der Lage wäre. 18 Die adäquate Erfassung des Sinns von Gehalt ist nach Tillich deshalb die „theologische“ (ebd.). Erst in der „Deutung des Gehalts von der Religion her“ (EW XIII, 8) lässt sich der Sinn dessen, was Gehalt genuin ausmacht, erfahren, indem nicht einfach auf das Subjekt selbst, das immer schon kraft seines reflexiven, einverleibenden Vermögens zur reinen Form tendiert, rekurriert wird, sondern indem ein Bezug hergestellt wird zu der „Sphäre des ‚Letzten‘, ‚Unbedingten‘“ (EW XIII, 10). Jedoch ginge auch diese Haltung, die Tillich an anderen Stellen in ihrer Depravation als die heteronome benennt, fehl, wollte sie ihre Relation und Reziprozität zur Form kappen und selbst zur absoluten und damit neuen Forminstanz sich aufschwingen. Dies verdeutlicht Tillich an seinem Verständnis von Heiligkeit: „Das Heilige ist nicht eine besondere Sphäre, sondern ist in aller Kultur enthalten; es ist der eigentliche Gehalt, das unbedingt Reale in aller Kultur (und Natur), vor dem alles bejaht und verneint wird.“ (EW XIII, 8)

Insofern bringt die Form nicht nur den Gehalt allererst zu seinem Ausdruck, sondern ist darüber hinaus limitierende conditio sine qua non gehaltvoller Realisierung, denn: „Es darf […] nichts im Gehalt sein, was den Formmöglichkeiten widerspricht.“ (EW XIII, 13) Um was es Tillich geht, ist mithin ein Verhältnis von Form und Gehalt, das ein reziprokes einerseits und ein irreduzibles auf der anderen Seite ist; dies fasst Tillich auch im Begriff der Theonomie zusammen, der gewissermaßen den Koinzidenzpunkt von rein formaler Autonomie und mythischer Heteronomie darstellt. 19 Damit ist auch das umschrieben, was den Religionsbegriff Tillichs nach dem zweiten Weltkrieg ausmacht. Die Anwendung des Gehalts auf die Form bezeichnet Tillich in seiner Vorlesung nun als den Stil, der somit das methodische Vorgehen beschreibt, allerdings ohne dabei wiederum in Formalismus verfallen zu dürfen (vgl. EW XIII, 12). Der Denkstil ist es also, der eine bestimmte 18 „Ist der Gehalt psychologisch gedeutet, so verliert der Gesichtspunkt der Richtigkeit überhaupt seinen Sinn und alles wird Mythos.“ (EW XIII, 8) Die Formsphäre als solche wäre folglich gänzlich negiert und aufgehoben. 19 Inhaltlich ähnlich, aber begrifflich abweichend: Erdmann Sturm, EW XIII, XLVI.

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Geisteshaltung eher der Form oder dem Gehalt zuschreibbar macht. Gehalt und Form schweben nun allerdings bei Tillich nicht in Sphären rein spekulativer Abstraktion, sondern beinhalten ihre Wesenhaftigkeit nur in Relation zu allem empirisch Vorfindlichen. Dies äußert sich im Begriff des Stoffs. Mit Stoff – als dem Dritten in der Trias Form, Gehalt und Stoff – sind mithin „sämtliche Gegenstände, die behandelt werden können“ (ebd.), also alles, was in den Bereich der Objekte, mithin die Dinge, fällt, gemeint. Gleichzeitig wohnt damit aber allen Dingen ein Eigengehalt inne, 20 der die Positivität der sinnlichen Welt hochschätzt und damit deren konstitutive Bedeutung in dem Relationsgefüge von Form, Gehalt und Stoff betont. Von keinem der drei Relate kann abgesehen werden, ohne das Gesamt der Relation mit einer folgenschweren Schlagseite zu versehen. Aufgrund dieser Verhältnisbestimmung kommt Tillich zu seiner die Vorlesung bestimmenden „Gesamtaufgabe“, nämlich der „Geschichte der wissenschaftlichen Denkstile in ihrer Begründung in einem religiösen Weltgefühl“ (EW XIII, 13), also – in die Terminologie von Form und Gehalt übersetzt – der Analyse formaler Denksysteme in ihrer Bezugnahme auf den unbedingten Gehalt. Dabei nimmt Tillich eine Typologisierung vor, die einen „Formtypus“ (EW XIII, 16) und einen „Gehaltstypus“ (EW XIII, 17) unterscheidet. Letzterem wird der Gegenstand von Tillichs Vorlesung, das griechische Denken, zugeordnet. Der Gehaltstypus ist es auch, der zu echter – d.h. theonomer – Autonomie zu führen vermag, weil nur in ihm die Form nicht der Gesetzlichkeit unterworfen und deshalb im eigentlichen Sinne als „überhaupt frei“ (EW XIII, 19) zu bezeichnen ist. Genau dies sei nun aber im Falle der griechischen Philosophie gegeben, weil hier eine Gehaltsreligion vorliege und gleichzeitig das zweite notwendige Kriterium erfüllt sei, nämlich die „unbedingte[.] Bejahung der Form“ (ebd.). Wie sich dies praktisch äußert, sei nun im folgenden zweiten Schritt näher in den Blick genommen.

2. Kulturtheologische Betrachtung der griechischen Philosophie Führt der Formtyp des Denkens stets zu einer heteronomen Setzung formaler Geltungsinstanzen (vgl. EW XIII, 16 f.), so sucht dies der Gehalts20 „Aber dieser Eigengehalt ist der Stoff.“ (EW XIII, 9 f.)

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typus gerade durch die Autonomie der Form zu vermeiden, indem er versucht, „das schlechthin Seiende zu erfassen“ (EW XIII, 17) und damit nicht dem Rigorismus der Formhaftigkeit zu verfallen. Dies meint nun aber gerade nicht – wie eben schon gesehen – eine Negation der Form; vielmehr kommt es im Rahmen der griechischen Philosophie, die ja dem Gehaltstyp zugeordnet wurde, zu einer „Weisheit der Formerhöhung“ (EW XIII, 19), also zu einer Autonomisierung der Form kraft der gehaltvollen Auffassung von Religion. Dies muss immer vorausgeschickt und mitbedacht sein, um Tillichs Ausführungen nicht misszuinterpretieren. Basis, auf der echt philosophisches Denken in der griechischen Antike ansetzt, ist für Tillich die Brechung der Unmittelbarkeit archaischer Religion im homerischen Mythos: Hier finde eine Reduzierung der Götter auf die Form statt, die mit dem Erreichen der absoluten Form gleichzeitig das Ende aller Mythologie mit sich bringe (vgl. EW XIII, 21). Insofern ist die Rückführung der Götter auf ihr rein formales Prinzip nach Tillich de facto ihr Sturz aus dem konkreten Realitätsgefüge und ihr Eintreten in eine rein poetische Welt. Mögen auch die Göttergestalten Homers realiter eine hohe Stellung in der Volksfrömmigkeit eingenommen und lange behalten haben – philosophiegeschichtlich versetzte Homer ihnen den Todesstoß. Von hier an lassen sich in Tillichs Vorlesung vier Perioden des griechischen Denkens identifizieren: Die erste umfasst die Vorsokratiker und Sophisten (EW XIII, 24-76). Ihr schließen sich Sokrates und die ihm nachfolgenden Kyniker sowie Platon und Aristoteles an, die alle auf ihre je eigene Weise mit der durch Sokrates gesetzten Zäsur umgehen (EW XIII, 77-149). Die dritte Periode ist gebildet durch die hellenistischen Schulen, von denen Tillich nur die stoische und skeptische sowie epikureische Linie der näheren Betrachtung für Wert erachtet, da Akademie und Peripatos im eigentlichen Sinne die philosophischen Grundausrichtungen ihrer Gründergestalten – Platon und Aristoteles – weiterführen bzw. im Falle der Akademie teilweise in den Skeptizismus münden (EW XIII, 150-178). Die abschließende Phase stellt eine religiöse Periode dar, die durch das alexandrinische Judentum, die Gnosis und allen voran das neuplatonische Gedankengut geprägt ist (EW XIII, 179-198). Im Denken der Vorsokratiker konstatiert Tillich einerseits einen Übergang von einem vorwissenschaftlich mythologischen Stil zu einem wissenschaftlichen im eigentlichen Sinne; jedoch bleibe das Denken „noch gebunden vom Sein“ (EW XIII, 65), so dass die Form zwar bereits „am Werk“ (ebd.) sei, jedoch noch nicht als freie. Die Form besitze eben noch nicht ihre „autonome Selbstherrlichkeit“ (ebd.), weil nach der Dominanz

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des Mythos es nun der Substanzbegriff sei, der als Surrogat für die fehlende Unbedingtheitsfunktion des Polytheismus die Gehaltsfüllung der wissenschaftlichen Weltbetrachtung einnehmen müsse. Dies äußert sich nun je nach philosophischer Richtung verschiedentlich: Die ionischen Naturphilosophen setzen den Anfangspunkt philosophischen Denkens, indem sie erstmals die „innere Abtrennung des Geistes von den Dingen“ (EW XIII, 25) vollziehen, was zu einer Verdinglichung der Dinge und damit zu ihrer Negation führt. Gleichzeitig ersetzt der Urstoff, der zum letzten Bezugspunkt und formalen Kriterium von Naturbetrachtung avanciert, die fehlende Unbedingtheit, die in den Einzeldingen nicht mehr aufzufinden ist. Damit erhält Tillich zufolge zwar der Urstoff „die positiven Qualitäten des Unbedingten“, jedoch um den Preis, dass nun die „leerste Form“ zum „Träger des Gehalts“ (EW XIII, 30) werde. Gerade im völligen Nein des Unbedingten über die einzelnen Formen und im damit verbundenen Ja des Unendlichen als dem Träger aller Form, kündige sich jedoch eine „Ahnung reiner Gehaltsfrömmigkeit“ (EW XIII, 31) – namentlich bei Anaximander – an. Bei den Pythagoreern findet in Tillichs Darstellung nun ein Wechsel vom Urstoff hin zur Harmonie statt. Der Kosmos im Sinne des Totalitätsbegriffs wird leitend, indem der Sinnzusammenhang eigentliches Ziel der Reflexion wird. Dies geschieht vermittels einer Abwendung von der Substanz und einer Hinwendung zur Form, die bei den Pythagoreern in Gestalt der Zahlen erfasst wird, welche wiederum einerseits zu einer weiteren Verdinglichung des Dinglichen und andererseits zur Entsakralisierung des Stofflichen führt. Religiöse Bedeutung hat nun nur mehr die Form. Es kommt zu einem „Triumph des Formbegriffs über die substantielle Verankerung“ (EW XIII, 37), so Tillichs Fazit für den Übergang von den Ioniern zu den Pythagoreern. Mit Heraklit und den Eleaten lässt Tillich nun eine neue Stufe der Denkentwicklung bei den Vorsokratikern beginnen, was sich darin äußert, dass bei den Ioniern und Pythagoreern noch eine „Welterklärung mit unzureichenden Mitteln“ (EW XIII, 52) versucht wurde, jetzt aber ein einheitliches Prinzip leitend werde. Es wird an die Ionier und Pythagoreer angeknüpft, freilich mit dem Unterschied, dass nun eine neue Form die Leitung übernimmt: „der Logos, das Weltgesetz“ (EW XIII, 38). Mit ihm ist das „Grundprincip der Dialektik“ (ebd.) erreicht, indem der Widerspruch als Prinzip die Mannigfaltigkeit unter sich fasst. Daraus folgt: „Im Absoluten sind die Gegensätze eins. Die Welt ist der Mangel des Absoluten.“ (EW XIII, 39) Damit ist die Einzelform völlig negiert und gleichzeitig die Form völlig befreit, so dass jetzt bei Xenophanes das „RFlPO“ als „Abstraktion mit religiösem Gehalt“

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in den „Formen der schon gewonnenen Welterkenntnis prophetisch“ (EW XIII, 44) durchbrechen kann. Ziel des Denkens ist nunmehr das „unbedingt Seiende“ 21 , wodurch es zum Durchbruch des „absolute[n] Wahrheitsgedanke[ns]“ (EW XIII, 46) kommt, weil das Sein als transzendentale Größe aufgefasst werden kann. Erstmals ist damit ein Identitätsprinzip formuliert, weil „Denken und Sein dasselbe“ (EW XIII, 47) ist. Die folgende Entwicklung bis zum atomistischen Materialismus Demokrits charakterisiert Tillich als eine Fortsetzung naturphilosophischer Anliegen, wie sie auch die Ionier und Pythagoreer leiteten, jedoch mit den Mitteln, die das Denken seit Heraklit gewonnen hatte (vgl. EW XIII, 52). Dies erfolgt zunächst in der Verdinglichung des Urstoffes selbst, der in die vier Elemente samt den sie bewegenden Kräften von „Liebe und Haß“ (EW XIII, 53) aufgeteilt wird. Letztgenannte werden bei Anaxagoras durch den OPÁK ersetzt (vgl. EW XIII, 57). An die Stelle eines Prinzips treten „materielle Existenzen“ (EW XIII, 53), die als solche zwar dem einen Urstoff gleich, aber eben nicht mehr eins sind. Damit materialisiert sich jedoch die lebendige Welt, was zur schlechthinnigen Verdinglichung alles Seienden führt. Die letzte Konsequenz zieht Demokrit, der schließlich das Nicht-Seiende als seiend setzt. Das Unbedingtheitserlebnis reduziert sich mithin auf die „Ewigkeit des Atoms“ (EW XIII, 62), so dass an dieser Stelle die atomistische Weltsicht zum Formtypus wird, „in dem das Unbedingte erlebt wird durch die Unbedingtheit der Formgestaltung hindurch“ (EW XIII, 63). In Tillichs Gesamturteil zu den Vorsokratikern werden diese so charakterisiert, dass entweder ein Aufsteigen vom Stoff zu den Kategorien oder eine Beherrschung des Stoffs durch die Kategorien als Mittel stattfindet (vgl. EW XIII, 66). Was noch fehlt, ist das eigentlich subjektive Moment, welches seine erste Ankündigung in den Denkern sophistischer Provenienz findet. Zeichneten sich die Vorsokratiker durch eine starke Abhängigkeit vom Objekt aus, die zu der Gebundenheit der Form führte, so beginnt ein Paradigmenwechsel im Denken bei den Sophisten: Das Denken reflektiert auf sich selbst (vgl. EW XIII, 68). Damit tritt das Subjekt erstmals gleichwertig dem Objekt gegenüber, was ein erster Schritt in Richtung des Subjektivismus ist, den dann Sokrates in Höchstform repräsentiert; gleichzeitig wird bei den Sophisten aber letztlich jedwede Formgültigkeit aufgehoben, weil es Wahrheit nur noch in der Weise unmittelba21 Hier kündigt sich bereits eine Nomenklatur an, die Tillich in seiner Dresdner Dogmatikvorlesung von 1925-1927 verwenden wird; vgl. P. Tillich, DogmatikVorlesung (Dresden 1925-1927), EW XIV.

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rer Subjektivität gibt. 22 Damit gibt es in letzter Konsequenz „über keine Sache einen falschen, aber auch über keine einen wahren Satz“ (EW XIII, 71). Realität ist hierdurch als solche aufgehoben und die „Dialektik“ – so das Fazit Tillichs über die Sophistik – „wird das einzig Wirkliche, das Spiel der Subjektivität, das einzig Ernste“ (EW XIII, 72). Dies ändert sich nun grundlegend mit Sokrates, den Tillich geradezu als Inkarnation der Form 23 beschreiben kann: „Es handelt sich um einen Mann, der Wissenschaft ist, dieses das Paradox des Sokrates.“ 24 (EW XIII, 77) Damit widersetzt sich Sokrates der zweifachen Mythologisierung durch seine Vorgänger, der unmittelbar-mythischen sowie dem subjektiven Stil, der nur zu einer Neuschöpfung des „Mythos des Subjekts“ (ebd.) führte. Ziel ist bei Sokrates nun aber gerade nicht der Formalismus, sondern die „Formfindung“ (EW XIII, 78), die „neue Form“ (EW XIII, 82). Erreicht wird dies über den Weg des mäeutischen Dialogs, der die Formfindung nicht – wie bei den Sophisten – als Scheitern der Wirklichkeitserkenntnis, sondern als begriffliches Klärungsgeschehen zwischen Subjekten begreift. Der Begriff avanciert dadurch zum „Umfassen des Manichfaltigen“ (EW XIII, 81), mithin zum eigentlichen Fokus wissenschaftlicher Bemühung. Dieser bleibt nun aller-dings bei Sokrates nicht nur nicht gehaltsleer, sondern er ist „ein religiöser Typus erster Ordnung und von höchster religionsgeschichtlicher Bedeutung“ (EW XIII, 79), weil in ihm „die Formerzeugung der Lebensproceß selbst“ (ebd.) ist, da er getragen ist vom „Eros“ (EW XIII, 85), „getrieben von innerster Glut“ (ebd.). Die Formfindung ereignet sich nun aber gerade unter Abstraktion von den einzelnen Inhalten; die in Sokrates zur Vollendung gekommene wissenschaftliche Form mit ihrer „das Chaos gestaltenden Kraft“ (EW XIII, 79) gewinnt nach der Sophistik die Realität zurück, verliert dabei jedoch die Inhalte. Deren Integration wird zur Aufgabe der an Sokrates anschließenden Denkperiode. 22 „Die Wahrheit ist identisch mit dem subjektiven Erscheinungserlebnis des einzelnen psychischen Subjektes.“ (EW XIII, 71; Hervorhebung S. D.) 23 Sokrates war die „persongewordene Form selbst“ (EW XIII, 86). 24 Liegt in Sokrates das wissenschaftliche Paradox der Form vor, so kann Tillich dasselbe in religiöser Hinsicht für Jesus Christus aussagen (vgl. in der Systematischen Theologie von 1913: EW IX, 315 f. 348-366). Freilich besteht zwischen dem Paradox des Christus, das dieser verkörpert, und dem in Formverwirklichung gegebenen Paradox des Sokrates ein qualitativer Unterschied – eine gewisse Analogie, allein die Wortwahl betreffend, wird man in Tillichs Darstellung aber nicht leugnen können.

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Die kynische Schule löst sich als erste vom unbedingten Geltungsanspruch der wissenschaftlichen Form bei Sokrates, indem sie zwar an dessen Autonomieverständnis festhält, dieses jedoch nur in Bezug auf die Persönlichkeit selbst, nicht auf das Subjektexterne gültig sein lässt. 25 Damit wird die „innere Persönlichkeit“ das „Unbedingt-Wirkliche, also das Heilige“ (EW XIII, 87), womit das vorbereitet wird, was später die hellenistischen Schulen auszeichnen wird. Der Schwerpunkt der Betrachtung verlagert sich auf den ethischen Aspekt, die Schule ist „mehr Lebens- als Denkstil“ (EW XIII, 88). Die durch Sokrates eröffnete, aber ungelöste Inhaltsproblematik wird von den Kynikern durch „Verneinung der Kultur […] zu Gunsten der ‚Natur‘“ (EW XIII, 91) aufgegriffen, d.h., dass die inhaltlos gewordene Kultur nicht mehr zum unmittelbaren Betrachtungsgegenstand werden kann und deshalb die Inhaltssuche sich auf die Natur konzentriert. 26 Letztere führt allerdings nur zur Bestätigung der Kulturnegierung, nicht jedoch zur Inhaltsfindung, die beschränkt bleibt auf die Heiligkeit des Ich (vgl. EW XIII, 92). Ist der Naturbegriff in kynischem Verständnis mithin ausschließlich ein negativer, so ist seine Einführung für die weitere Betrachtung dieser Untersuchung – insbesondere für die der Stoa – von herausragender Bedeutung, weil er von nun an immer wieder in anderer Funktion auftritt, „bis er auf Grund eines Rückgriffs auf die sokratische logische Gültigkeit und die Naturphilosophie sich zu dem rationalistischen Stil weiterentwickelte in der Stoa“ (EW XIII, 96). In Platon erblickt Tillich dieselbe Synthesis von Formbewusstsein und es beseelendem Eros, jedoch ist Platon nun nicht wie Sokrates die menschgewordene Wissenschaftsform, sondern im Werk Platons ist „das Leben des Wissens Wort geworden“ (EW XIII, 97). Dies geschieht wiederum in Form des Dialogs, der bei Platon zum „Kampf der Principien“ (ebd.) wird, um die gültigen Werte, mithin die Welt, zu erfassen. Zentral ist dafür Platons Ideenlehre: In ihr kulminieren Tillich zufolge „das subjektive Moment der Begriffsbildung und das objektive der Seinsfindung“ (EW XIII, 103), wobei die objektive Form der Sokratik das Vorherrschende bleibt, so dass Platon letztlich ein Vertreter des „Idealismus“ (ebd.) ist. Indem dabei die Form bzw. der Begriff zur Substanz gemacht wird (vgl. EW XIII, 103. 104), ist „nun eine zweite Welt aufgestellt“ (EW XIII, 104), wodurch sich das Problem des „Verhältnis[ses] beider zuein25 „Das sokratische Gültigkeitserlebnis ist zum Eigenwertserlebnis der sittlich freien Persönlichkeit geworden.“ (EW XIII, 87) 26 Dieser Prozess mündet dann in die „Einführung des Gegensatzes LBU‡O³NPO und G»TJO in die Religionsphilosophie“ (EW XIII, 92).

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ander“ (ebd.) ergibt. Die Idee, genauerhin: die Idee des Guten, wird „das eigentlich Seiende“ (ebd.), wird Realität schlechthin. Somit kommt Tillich zum Fazit die platonische Ideenlehre – und damit den Kernbestand seiner Lehre von Form und Gehalt – betreffend: „Die Welt mit ihrer Fülle wird ins Ideale transponiert. Dieses Ideale aber enthält seine Idealität durch die Unbedingtheit der Form […]. Damit sind alle Inhalte wiederhergestellt, aber keine in Unmittelbarkeit, sondern jede in Idealität; das Heilige ist die Ideenwelt, das Allerheiligste die Formidee des Guten, im Vorhof die Welt des Schönen.“ (EW XIII, 106)

Ist aber „die Idee das allein Gewisse“ (EW XIII, 116), so bleibt der Raum ihr unerklärliches und widersprüchliches Gegenüber, das aus der Form nicht mehr ableitbar ist (vgl. EW XIII, 118 f.). Diese Kluft in anderer Weise als im Gegenüber von idealen Wesenheiten und Vielheit andererseits zu lösen schickt sich nun Aristoteles an: Jenseits von sokratischem Instinkt und platonischem Enthusiasmus führt das aristotelische Denken zu einem klaren Formbewusstsein. 27 Deshalb zielt seine Philosophie auf „das System, die Formeinheit“ (EW XIII, 124), genau genommen auf den „Inhalt der Form selbst“ (ebd.). Die Dualität von Allgemeinheit und Besonderheit wird zwar nicht negiert, aber ins System überführt. Zu elementarer Bedeutung erhebt sich bei Aristoteles deswegen die Logik und damit deren Hauptorgan: der Begriff. Indem daher „Begriffsnotwendigkeiten“ zu „Realnotwendigkeiten“ (EW XIII, 126) werden, hat die Form ihren vollkommenen Sieg errungen: „Denkform und Substanz sind gleich.“ (Ebd.) Dies verkommt jedoch bei Aristoteles nicht zu einem toten Formalismus, weil seine Thesen noch belebt sind von der platonischen Metaphysik, die ihnen Leben einhaucht (vgl. EW XIII, 128). Jedoch hat dies nach Tillich derart vorstellig zu werden, dass die Ideen nicht mehr als ideale Realitäten gesetzt werden, 28 vielmehr ist das Wesen „nirgends als in der Fülle der Erscheinungen, in denen es sich verwirklicht“ (EW XIII, 131), es ist die „Form der Dinge“ (EW XIII, 130). Damit ist die höchste Form der Autonomie erreicht – aber auch sie ist nicht in der Lage, aus sich die 27 „Was bei Sokrates unmittelbarer Instinkt war, der Sinn für die Gültigkeiten, bei Plato enthusiastischer Geistesflug, das ist bei Aristoteles klare, formulierte Bewußtheit.“ (EW XIII, 124) 28 „Die Vorsokratiker hatten Substanzen und quantitative Bestimmungen gefunden, aber die Qualitäten verloren. Plato hatte die Formen gerettet als die ewigen Wesenheiten, aber er hatte nicht zeigen können, wie die Vielheit sich dazu verhält. Ihm waren die Ideen selbst Realitäten […]. Aristoteles befreit die Idee vom Charakter als Realität neben den Dingen, als existentielle Realität, sie ist nur essentielle Realität.“ (EW XIII, 130)

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verlorengegangene unmittelbare Theonomie wiederherzustellen. Alle derartigen Versuche enden nur in heteronomen Verfasstheiten (vgl. EW XIII, 136). Die Verwirklichung des Wesens in den Einzeldingen bringt adäquat der aristotelische Begriff der Entelechie zum Ausdruck; mit ihm dringt auch der Zweckbegriff in die Ethik ein und verknüpft sie mit einer Tugendvorstellung, die nicht zu abstrahieren vermag von den Einzeldingen. Das Mittlere wird Leitinstanz ethischen Denkens kat’ exochen. Die stoische Philosophie wird im nächsten Abschnitt ausführlich erörtert, weshalb sie hier nur in knappest möglicher Raffung zur Darstellung kommen soll. Mit den hellenistischen Schulen tritt ein Perspektivenwechsel ein, der sich von der Logik hinwendet zur Ethik. 29 Dabei erfolgt eine Herausbildung des Schuldogmas als Surrogat für ein unmittelbares Gesamtleben, das als solches verlorengegangen ist (vgl. EW XIII, 151). Dadurch – und durch die Entpolitisierung der damaligen Welt, die Tillich konstatiert – kommt es zu einem „Ideal der inneren Freiheit“ (EW XIII, 150), das sich nun nicht mehr auf Einzelinhalte, sondern auf den Weltenlogos, einen übergreifenden Sinnzusammenhang bezieht. Dass hierbei auch Gehalt religiöser Provenienz einfließen kann, wie dies im Neuplatonismus geschieht, schreibt Tillich expressis verbis dem stoischen Einfluss zu (vgl. EW XIII, 154). Entgegen dem platonisch-aristotelischen Dualismus ist die stoische Metaphysik streng monistisch und nominalistisch aufgebaut, womit sie wieder an vorsokratisches Gedankengut anknüpft, ohne dabei in ihre Aporien zurückzufallen. Der Bereich des Mittleren wird dementsprechend gänzlich ausgeschieden und der Weise zum eigentlichen Träger von Heiligkeit, weil dieser mit dem Weltenlogos unmittelbar übereinstimmt (vgl. EW XIII, 159). Im Weisen als dem Kulminationspunkt von Ethik, Logik und Naturphilosophie ist nach Tillichs Urteil „das Höchste geleistet, was in der Ethik von der reinen Form her zu leisten war: die innere Freiheit des Einzelnen, die Idee einer allgemeinen Gemeinschaft der Menschen und die Bejahung der Aufgaben, die innerhalb der kompromißhaften Wirklichkeit sich ergaben; alles dieses aber ergab keine Inhalte“ (EW XIII, 168). Die Philosophie der Stoa bildet somit den Scheitelpunkt der Formentwicklung, indem sie sogar die Gleichheit der Menschen kraft Vernunftträgerschaft zu begründen vermochte (vgl. EW XIII, 167). Freilich stellt 29 Die Alternative zur ethischen Wende ist eine religiöse Interpretation, diese führt allerdings, wie Tillich selbst festhält, „aus der ganzen Periode der Formfindung“ (EW XIII, 150) hinaus und hat damit nur noch mittelbar etwas mit den Vorformen des griechischen Denkens zu tun.

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Tillich fest, dass ihr das Entscheidende jedoch fehlte, um die Formsphäre zu verlassen: die Liebe (vgl. ebd.). Epikureer und Skeptiker, die Tillich vereint behandelt, teilen mit der Stoa das Ideal des autarken Weisen, verschärfen jedoch die Subjektivität bis hin zur Selbstverabsolutierung. Der Weise samt seinem Denken ist gleichfalls heilig, nur schlägt dies in epikureischer Perspektive um in die reine Negativität alles anderen. Ausgenommen bleibt nur der Freundeskreis, der zwar hochgeschätzt wird, letztlich aber ausschließlich Mittel zum Zweck des epikureischen Zielpunkts, der Lust, ist, die selbst wiederum wesentlich in der Ruhe besteht. Die atomistische Welterklärung der Epikureer verhilft diesem Ruheideal dadurch zum Sieg, dass vermittels der Atomistik die äußere Welt vom Ich ferngehalten werden kann (vgl. EW XIII, 173). Die Weltnegativität erreicht ihren Höhepunkt dann in der skeptischen Kritik, die praktisch zum ‚Selbstmord der Form‘ 30 wird, indem nur sie selbst es ist, die sich erhalten bleibt, allerdings in der Folge entheiligt wird zur bloßen Wahrscheinlichkeit und damit praktisch aufhört zu sein: „Mit der Theorie der Wahrscheinlichkeit war der Form der Rest an Heiligkeit genommen, den sie noch hatte.“ (EW XIII, 178) Die religiöse Periode, wie Tillich sie nennt, führt insofern vom bisher besprochenen Denken weg, als „die Form hier nicht mehr um ihrer selbst willen gesucht wird, sondern als Ausdruck eines neuen religiösen Erlebens“ (EW XIII, 179). Alle Denkrichtungen, die dieser Periode zuzuordnen sind – nach Tillich handelt es sich um Platoniker, Neupythagoreer, jüdische Alexandriner sowie die Gnosis und als Kulminationspunkt den Neuplatonismus (vgl. ebd.) –, zeichnen sich dadurch aus, die Form nun primär als Mittel der Theologie zu verwenden. 31 Der Gottesbegriff verschiebt sich dadurch in Richtung auf die Transzendenz hin, ohne dass dabei das konkrete Gottesbild verlustig ginge. Damit kommt es zur Aufbrechung der Form zugunsten des reinen Gehalts, jedoch noch nicht in vollendeter Form, wie sie nach Tillich erst im christlichen Paradox des konkreten Absoluten, Jesus Christus, erreicht wird. Bedeutungsvoll wird

30 „Die Form leistet hier ihr Letztes, ganz Autonomes: Sie hebt sich auf. Sie hat getötet, und nun tötet sie sich selbst, aber sie kann es auch wieder nicht, denn es ist nichts da außer ihr.“ (EW XIII, 177) Die Folge ist schließlich für Tillich der Probabilismus der platonischen Akademie . 31 „Bei Plato war der Gott das Gute, das allgemeine Formprincip, es war der Eros, der hinaufhob; hier [sc. bei den religiösen Schulen] ist es die mystische Gottsehnsucht, der die Form nur Mittel ist.“ (EW XIII, 180)

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die Autonomie im eigentlichen Sinne erst wieder nach der Heteronomie des Mittelalters in der Renaissance.

3. Die Stoa – Autonomie und Form in Vollendung Tillichs Kenntnisse der griechischen Philosophie und auch des antiken Stoizismus beruhen zwar – wie Erdmann Sturm herausarbeitet 32 und im Anmerkungsapparat wiederholt hilfreich verifiziert – auf Lehrbuchwissen und wohl nur äußerst sporadisch – wenn überhaupt – auf echter Quellenlektüre, jedoch zeigt das Beispiel der Stoa, dass Tillich deren Kerngedanken auch vermittels lexikalisch-lehrbuchhafter Aneignung hervorragend zu erfassen und umzusetzen vermochte. Inwieweit allerdings sein kulturtheologisches Konzept für die Interpretation der antiken Stoa tragfähig ist und inwiefern Tillichs Darstellung dem angemessen ist, gilt es zu eruieren. Das Gesamt der stoischen Philosophie im Altertum kann an dieser Stelle nicht behandelt werden, nicht einmal alle Punkte betreffend, die Tillich anspricht. 33 Vielmehr soll eine konzentrierte Analyse der entscheidenden Punkte, vor allem in Bezug auf Tillichs Anwendung der Begriffe von Form und Gehalt, erfolgen. Dabei erweist sich an Tillichs Darstellung in besonderer Weise seine Einordnung der Stoa in den Bereich der ethischen Schulen als der Diskussion insofern bedürftig, als Tillichs Blick auf die stoische Philosophie deren Gesamtsystem tendenziell auf den ethischen Endpunkt hinordnet und beurteilt. Genau in der Ethik erfolgt dann ja auch seine Klassifizierung der Stoa als die höchste Entwicklungsstufe der Form – in ethischer Hinsicht. Daher erscheint es sinnvoll, beginnend mit (1) der Betrachtung der Person des Weisen in seinem Verhältnis zum Weltenlogos sowie damit zusammenhängend der prinzipiellen Grundlagen 32 Vgl. EW XIII, XL f., wo auch die von Tillich wahrscheinlich verwendeten Lehrbücher aufgeführt sind. 33 An übergreifenden klassischen Darstellungen sind besonders zu erwähnen: M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, 2 Bde., Göttingen 21959. M. Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 1981. A. A. Long/D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Übersetzt von K. Hülser, Stuttgart 2000 sowie mit zumeist abweichender Meinung aufgrund philologischer Argumente R. Bees, Die Oikeiosislehre der Stoa. Bd. I: Rekonstruktion ihres Inhalts, Würzburg 2004. Als Quellensammlung ist nach wie vor heranzuziehen: Stoicorum Veterum Fragmenta (= SVF), 4 Bde., hrsg. von H. von Arnim, Leipzig 1903-1924.

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der stoischen Philosophie fortzuschreiten zu (2) den stoischen Vorstellungen von der ethischen Entscheidung und der damit verbundenen Güterlehre. Auf Basis dieser Rekonstruktion stoischen Gedankenguts erscheint dann eine Beurteilung von Tillichs Kategorisierung der stoischen Philosophie als Höchststufe der Formentwicklung angemessen. (1) Die Unterscheidung der Menschheit in TPGPf und GB»MPJ, also in Weise und Toren, ist konstitutiv für die Stoa und irreduzibel. Eine Mittelposition gibt es nicht. Hier irrt Tillich, wenn er den QSPL³QUXO als Inkonsequenz im stoischen System kritisiert (vgl. EW XIII, 164), weil dieser eindeutig der Schar der Nichtweisen zugeschrieben werden muss, was die Stoa in teils drastischen Bildern zum Ausdruck brachte. 34 Zwar stellt der QSPL³QUXO für die praktische Fragestellung tatsächlich ein wichtiges Moment dar, besonders in der kaiserzeitlichen Entwicklung der Stoa, auf das stoische Systemdenken als solches hat dies jedoch keinerlei Einfluss. Grund für die kategoriale Trennung in Weise und Nichtweise sind die naturphilosophischen Leitgedanken der stoischen Philosophie: Der gesamte Kosmos ist durchwaltet von einem einzigen vernünftigen Prinzip, das zwar begrifflich abgehoben werden kann von der real vorfindlichen Welt, sich in dieser jedoch derart immanent verwirklicht, dass eine Unterscheidung von der Welt zwar möglich, aber nicht sinnvoll erscheint. Demgemäß ist auch die Prinzipienlehre der Stoa aufgebaut, die zwar zwei ewige ƒSDBf kennt, diese jedoch in ein signifikantes Verhältnis setzt. (Vgl. SVF II, 300) Auf der einen Seite steht das tätige, pneumatische Prinzip, das QPJPÁO, welches auch mit dem Logosbegriff koinzidieren kann, auf der anderen findet sich mit dem Q„TDPO das Prinzip, welches für die Unbestimmtheit steht, die erst kraft des QPJPÁO überführt wird in die konkrete Lebendigkeit. Dass bei dieser Konstellation ein Dualismus aristotelischplatonischer Provenienz vermieden wird, liegt an der streng monistischen Auffassung der Stoa. Diese lässt die beiden Prinzipien nicht in Gegensatzpaare zerfallen, wie dies etwa in der bekannten Form von Diesseits und Jenseits statthaben könnte; im Gegenteil kommt es einerseits zu einer Fusion beider ƒSDBf im Seinsbegriff, der als solcher unveräußerlich beide Prinzipien impliziert, was andererseits zu einer Prädominanz des logoshaft-tätigen Prinzips führt, welches in der Verbindung und Verbundenheit beider Prinzipien das Sein eigentlich erst hervorzubringen vermag. 35 In diesem Zusammenhang findet sich auch die Rede vom M³HPK TQFSNBUJL³K 34 Vgl. etwa SVF III, 530. 539. 35 Vgl. hierzu: M. Forschner, Die stoische Ethik, a.a.O. (Anm. 33), 26 f.

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und der damit verbundene Anklang an den Pantheismus der Stoa. Tillich hat diesen Zusammenhang in seiner Vorlesung nicht nur benannt, sondern präzise, fast schon überspitzt auf den Punkt gebracht: „In Wirklichkeit wird der Formstoff, der zugleich Logos und Form ist, das eigentliche Princip; denn es ist nicht nur überall dynamisch gegenwärtig, sondern zugleich auch die Substanz, aus der das andere wird.“ (EW XIII, 157)

Gleichfalls führt Tillich aus, dass beide, QPJPÁO und Q„TDPO, materiell verfasst sind (vgl. ebd.). Dem wird man nichts hinzuzusetzen haben, weil die Stoa beide Prinzipien als somatisch empfindet, was dem monistischen Grundgedanken des Systems entspricht 36 – außer dem Sein in seinen zwei Prinzipien gibt es nichts. Theologisch konstatiert Tillich auf diesen Grundlagen für die Stoa eine Verflachung gegenüber dem platonisch-aristotelischen Ansatz: Der „rationalistische Pantheismus“ (EW XIII, 158), wie ihn die Stoa vertrete, sei ohne Eros und habe nur ein Ja für die Weltvernunft, nicht jedoch für die Welt an sich (vgl. ebd.). Dies äußert sich Tillich zufolge z.B. in der Lehre von der zLQ»SXTJK, insofern nicht die „Wiederkehr der Einzeldinge, sondern die Gleichgesetzlichkeit der Vernunft“ (ebd.) von Bedeutung sei. Letztlich verfalle die Stoa also – ohne dass Tillich dies expressis verbis äußern würde – trotz ihres nominalistisch-somatischen Ansatzes einem Realismus um des einen Prinzips willen. Dieses Prinzip sei nun allerdings nur vermittels der Ewigkeit des Vernunftzusammenhanges ein einziges, nicht um der Mannigfaltigkeit der Dinge willen, die von dem einen Prinzip durchwaltet sind. Für Tillich liegt deshalb das „Heiligkeitsgefühl“ der Stoa „weder in der Welt noch in dem Gott, der mit der Welt identisch ist, sondern in dem Weisen und der ewigen Vernunft, die im Weisen zur Realisierung kommt.“ (EW XIII, 159) An diesem Punkt erweist es sich als folgenschwer, dass Tillichs Darstellung nicht auf Eigenlektüre fußt. Einerseits ist Tillichs Feststellung zwar formal richtig, andererseits aber verkürzt insofern, als der Gottesbegriff der Stoa in seiner Vielschichtigkeit nicht voll erfasst erscheint. Dies zeigt sich schon daran, dass Tillich meint, Allvernunft und Göttliches, Weisen und Welt kontrastieren zu können. Für den Stoiker ist dies alles eins – freilich in differenzierter Einheit. Dies bedeutet, dass der Gottesbegriff den Weltenlogos, den partikularen Logos alles Seienden, voran die beseelte Welt, in Sonderheit ihren vernunftbegabten Teil, aber auch den

36 Vgl. SVF II, 363 sowie M. Forschner, Die stoische Ethik, a.a.O. (Anm. 33), 31 f.

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hypostasierten Gott bezeichnen kann und immer auch bezeichnet. 37 Tillich erfasst dies durchaus, wenn er davon spricht, dass ein Mischverhältnis von schöpferischer Potenz und abstraktem Begriff des Guten vorliege (vgl. EW XIII, 158); die Konsequenz, die er daraus zieht, scheint jedoch problematisch, wenn er den stoischen Nominalismus nahezu in einen Realismus umschlagen lässt. Verdeutlicht sei dies exemplarisch an Tillichs Bewertung der Theodizee im stoischen System: Eine Theodizee im eigentlichen Sinne könne es in der Stoa nicht geben, weil ihr die beiden Voraussetzungen dazu fehlten, erstens, dass Gott absolut sei, und zweitens, dass Gott die unbedingte Form sei, an der alle unselbständigen Dinge teilhaben (vgl. EW XIII, 161 f.). Eine Lösung sei eben nur möglich, „wenn die Dinge ihre Selbständigkeit haben und der Gott den Sinn der Unbedingtheit repräsentiert“ (EW XIII, 162). Dass genau dies in der Stoa jedoch der Fall ist, gilt es zu erweisen, zumal Tillich den Autonomiegedanken gerade beim stoischen Weisen in Vollendung vorliegen sieht, hier aber die Selbständigkeit all dessen, was ist, gegenüber dem Gott nivelliert. Der Autonomiegedanke in der Stoa wird bei Tillich also stark gemacht – wie sich im Folgenden herausstellen wird –, aber von ihm offensichtlich nicht so stark verstanden, wie er herausgearbeitet wird. Deshalb schlägt sich Tillichs Fehleinschätzung den Gottesbegriff betreffend – vice versa – notwendig auch auf das Verständnis vom Weisen nieder. Dieser ist nach stoischer Schilderung zwar über die Welt erhaben, 38 jedoch ist gleichzeitig der Weise auch und gerade als solcher Teil des vernünftigen Kosmos, 39 außerhalb dessen es – wie gesehen – ja keine Transzendenz transmundaner Gestalt gibt, zu der er sich erheben könnte. Hier muss dem immanenten Gottesverständnis der Stoa gebührend Rechnung gezollt werden, um nicht unwillkürlich in ein dualistisches System abzugleiten. Dass Tillich dieser Ambivalenz zumindest nahesteht, wenn er ihr nicht sogar verfällt, verwundert umso mehr, weil für Tillich der Begriff des Weisen mit dem Sinngehalt koinzidiert, der hinter aller Realität steht und sich zugleich in ihr verwirklicht. 40 Zur Klärung insbesondere der Autonomiefrage sei im Folgenden 37 38 39 40

Vgl. SVF I, 160. 532; SVF II, 1021-1027. Insofern wird er auch nicht negativ von ihr affiziert. Vgl. SVF III, 567. 573. Vgl. SVF III, 625 f. 633. „Das, was dem Weisen innerlich ist, ist zugleich der universale Sinnzusammenhang des Geschehens und dadurch gewinnt auch das Einzelding und der Einzelzusammenhang neue Bedeutung, er wird Offenbarung eines übergreifenden Sinnes, einer allgemeinen Vernunft.“ (EW XIII, 153) Zu fragen bleibt, ob sich das „er“, das zur Offenbarung wird, auf den Weisen oder den unmittelbar davor ste-

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ein näherer Blick auf die Definition des Weisen und das damit zusammenhängende Handlungsgefüge in stoischer Ausgestaltung geworfen. (2) Der Weise ist nach stoischer Auffassung autark und somit auch entsprechend dem Tillich’schen Verständnis völlig autonom. Dies zeigt die eine Seite dessen an, was ihn zum Weisen macht, nämlich seine Überlegenheit über die unmittelbaren Weltzusammenhänge und seine Unabhängigkeit von ihnen. Die andere Seite hinwiederum speist sich unmittelbar aus dem direkten Weltzusammenhang, in dem der Weise nicht nur steht, sondern in den sich zu stellen gerade seine Weisheit ausmacht. Gemeint ist im zweiten Fall der Weltenlogos, der eben keine abstrakte Transzendenz vorstellig macht, sondern formendes Prinzip aller Lebens- und Seinsstrukturen darstellt. (Vgl. SVF I, 155) Insofern also der Weise von diesem Prinzip geleitet ist, erfüllt er seine Natur, die zugleich die Allnatur ist. Tillich spricht deshalb völlig zutreffend von der „Anlageverwirklichung“ beim Weisen „durch ein Handeln, das einerseits mit sich selbst übereinstimmt, also konsequent ist, und zweitens mit der Natur übereinstimmt; und zwar handelt es sich um die Natur des Alls, die Weltvernunft, die infolge der Vernünftigkeit des einzelnen zugleich die eigne Natur ist“ (EW XIII, 164). Damit benennt Tillich einerseits das ±NPMPHPVN{OXK [¢O und andererseits das ±NPMPHPVN{OXK U® G»TFJ [¢O, was zwar de facto in Identität zusammenfällt, sich jedoch aufgrund des Physis-Begriffs der Stoa unterscheiden lässt: Der erste Begriff, das ‚Leben in Übereinstimmung‘, bezeichnet das Leben in Übereinstimmung mit der eigenen Natur, der zweite Begriff das Leben in Übereinstimmung mit der Allnatur. Der Zusammenhang beider ist dabei so gelagert, dass die Übereinstimmung mit der eigenen Natur dem Menschen gegeben ist durch seine Logoshaftigkeit, die ihm ab Geburt, mithin im Stand des Seins, verliehen ist, die sich jedoch in der Jugend mit der Reifung der Vernunft hin zur Selbstreflexion fortentwickelt. All dies ist Thema der stoischen Oikeiosis-Lehre, die Tillich ebenfalls anspricht (vgl. EW XIII, 164). Selbst wenn man bei der Oikeiosis die strittige Frage beiseite lässt, ob es sich hierbei um einen rein passiven Vorgang – die menschliche Natur wird sich selbst zugeeignet – oder um ein mediales Geschehen – der Mensch eignet sich kraft der Natur henden Einzelzusammenhang bezieht. Beides wäre originär stoisch, nur scheint Tillich – in Zusammenhang mit seiner Einstufung des Weisen als Heiligen – die erste Variante zu favorisieren – zumindest zeigt sich dies in seinen weiteren Ausführungen. Bereits hier wird Tillichs Verdichtung auf den Autonomiebegriff und die Ethik greifbar.

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sich selbst zu – handelt, 41 so wird doch ersichtlich, dass die Heranreifung der Vernunft im Menschen diesen im Endeffekt zu Urteilen über seine eigene Vernunft und über die Allvernunft sowie – weil Letztere den Zusammenhang und die Ordnung des gesamten Kosmos darstellt – über die Welt und ihren Einfluss auf das Selbst kommen lässt. Ist entsprechend den sog. QSÏUB LBU‡ G»TJO, also den ersten Wahrnehmungen und Reaktionen des Lebewesens, der Selbsterhaltungstrieb das Erste (vgl. SVF III, 178), so erweitert sich dieses Verständnis im Zuge der Vernunftentwicklung zu altruistischen Dimensionen, die letztendlich den gesamten Kosmos einschließen und den Weisen zum Kosmopoliten im wahren Wortsinne werden lassen. Die Außeneinwirkungen auf das Subjekt können von diesem kraft des rationalen Zentrums verarbeitet und beurteilt werden. Hier nun setzt das Entscheidungsmodell der Stoa an, das auf der vollentwickelten ratio fußt, weil diese das einzige Zentralorgan innerhalb des Entscheidungsvorgangs darstellt. Aufgrund des materialistischen Weltverständnisses ist auch die stoische Empfindungsvorstellung eine sensualistische und unterscheidet sich in diesem Aspekt nicht von der Auffassung Epikurs. Dem leitenden Seelenteil, dem šHFNPOJL³O, obliegt es nun aber diesen äußeren Eindruck, der ganz realistisch als U»QXTJK zO šHFNPOJLÚ vorgestellt wird, zu verarbeiten. Der Ablauf ist dabei ein dreigliedriger, der von der GBOUBTfB, also dem Sinneseindruck, über das šHFNPOJL³O hinläuft zur eigentlichen Entscheidung und der ±SNœ oder ƒGPSNœ, also dem positiven oder negativen Handlungstrieb. 42 Wie sich nun gegenüber dem Sinneseindruck verhalten werden kann, führt auch Tillich aus (vgl. EW XIII, 155): Die TVHLBU„RFTJK bedeutet Zustimmung, die ƒOUfRFTJK Verneinung der GBOUBTfB. Die Autonomie des stoischen Weisen ist also auf seiner Entscheidungsfähigkeit gegenüber der Außenwelt begründet. (Vgl. SVF I, 61) Da der Stoiker nur Naturgemäßes bejahen kann, weil sich in ihm die Allnatur ausdrückt, Widernatürliches aber folgerichtig ablehnen muss, ist es als primäres Ziel des Entscheidungsvorgangs anzusehen, eben jenen Vorgaben zu entsprechen. Es gilt also, sich für die LBRœLPOUB, die Dinge, die naturgemäß sind, zu entscheiden. Die Entscheidung für ein LBR¢LPO ist nun allerdings auch dem Nichtweisen prinzipiell aufgrund des in ihm wirkenden Logos möglich. Einziges Kriterium für ein LBR¢LPO ist seine inter41 Vgl. zusammenfassend mit stark biologistischem Einschlag und kontrovers zur sonstigen Forschungsmeinung: R. Bees, Die Oikeiosislehre, a.a.O. (Anm. 33), 339 f. 42 Vgl. M. Forschner, Die stoische Ethik, a.a.O. (Anm. 33), 116. 138.

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subjektive Vermittelbarkeit, also seine Naturgemäßheit. 43 Eine sittliche Entscheidung ist damit jedoch noch nicht getroffen. Da allerdings das einzige Ziel des Weisen die Tugend ist, welche sich in tugendhaftem, d.h. sittlichem Handeln äußert, ist eine Umsetzung der LBRœLPOUB zwar eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für das moralische Urteil. Die LBRœLPOUB führen zu einem naturgemäßen Leben, aber nicht zu einem sittlichen; 44 es geht hierbei um die außermoralischen Dinge, die naturgemäß sind und deshalb im Handeln verfolgt werden können. Die Lehre von den Adiaphora fällt deshalb ganz in den Bereich der LBRœLPOUB. 45 Richtet sich das naturgemäße Handeln und Streben somit auf etwas, das außerhalb dieses Handelns selbst beschlossen liegt, so bezeichnet der Begriff des LBU³SRXNB, des sittlich guten Handelns, im Gegenteil nun die Qualität des Handelns selbst. 46 Es kommt hierbei nicht mehr darauf an, was ausgewählt wird – wobei auch in diesem Fall nur das Naturgemäße in Frage kommt –, sondern, dass es nicht gewählt wird um des Gewählten selbst willen, sondern der Wahl wegen, die aufgrund und in Übereinstimmung mit der Natur – der eigenen wie der Allnatur – erfolgt. Entscheidend ist nun allerdings, dass die Wahl erst dann als weise zu bezeichnen ist, wenn nicht nur LBRœLPOUB gewählt werden und diese auch nicht um ihrer selbst willen, sondern wenn der „feste und unerschütterliche Habitus“ 47 , mithin das šHFNPOJL³O im Zustand der Vollendung es ist, welches die Entscheidung vornimmt. (Vgl. SVF II, 393) Tillich irrt somit in doppelter Hinsicht, wenn er sagt, die Qualität einer Handlung werde bestimmt von der „Gesinnung“ (EW XIII, 165) des Handelnden und damit in Anschluss an Kant die Aussage verknüpft: „Es gibt nichts Gutes denn ein guter Wille.“ (Ebd.) Zwar hängt die Kategorisierung einer Handlung tatsächlich von der Qualität des Entscheidenden ab, jedoch ist es nicht einfachhin die Gesinnung, die den stoischen Unter43 Vgl. auch M. Forschner, Die stoische Ethik, a.a.O. (Anm. 33), 187, der zu der Definition gelangt, „die LBRœLPOUB seien das, was, wenn es getan ist, eine begründete Verteidigung für sich hat“. 44 Vgl. ebd., 189. Ein Leben gemäß der Natur kann auch ein Streben nach den natürlichen Gütern, wie Gesundheit oder angenehmen materiellen Gütern, bedeuten; dies lehnt der Stoiker jedoch als zur Tugend notwendig ab. 45 Die Adiaphora lassen sich dann in die beiden Klassen der vorzuziehenden naturgemäßen Güter, die QSPIHN{OB, und der abzulehnenden Dinge, ƒQPQSPIHN{OB, aufteilen. Vgl. SVF I, 191; SVF III, 181. 46 Vgl. SVF III, 18. 497 sowie Forschner, Die stoische Ethik, a.a.O. (Anm. 33), 204 f. 47 M. Forschner, Die stoische Ethik, a.a.O. (Anm. 33), 205.

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schied zwischen Weisem und Nichtweisem konstituiert. Kraft Gesinnung wäre es auch dem Nichtweisen möglich, eine naturgemäße Handlung auszuführen – dass diese vom stoischen Standpunkt aus jedoch nicht als sittlich bezeichnet werden kann, hängt damit zusammen, dass die Entscheidung absieht vom Gegenstand der Entscheidung, allerdings nicht derart, dass dieser irrelevant wäre – es handelt sich ja um etwas Naturgemäßes –, sondern, dass die Entscheidung als solche eine Tat zur Folge zeitigt, die sittlich zu nennen ist. Die Entscheidung wird also gut aufgrund der sittlichen Tat. Dass allerdings die Entscheidung richtig ist, reicht nicht aus, denn – und dies ist der zweite Punkt, der bei Tillich fehlt – sie muss von einer Vernunftstruktur getroffen werden, die sich nicht schlicht im rechten Verhältnis, sondern im Zustand vollkommener Vollendung befindet. Diese Vollendung ist nun aber keine, die zu selbstherrlicher Subjektivität anleiten würde, wie es Tillich in seiner Kritik an der stoischen Stellung zum Selbstmord und dem Heroismus des Weisen nahelegt (vgl. ebd.). Man darf zwar davon ausgehen, dass Tillich weiß, dass nur der Weise überhaupt zum Suizid berechtigt ist, allerdings darf nicht einfach jeder aus scheinbar willkürlicher Entscheidung heraus Selbstmord begehen. Vielmehr ist die Entscheidung für den Selbstmord abhängig von den Umständen. Dies war auch schon bei den LBRœLPOUB der Fall und ist es nun in besonderer Weise bei den LBRœLPOUB QFSJTUBUJL„, also solchen Dingen, die erst durch die Umstände Naturgemäßheit beanspruchen können, an sich jedoch widernatürlich sind. Gerade eine solche Entscheidung ist nur im Zustand der völligen Übereinstimmung mit der Allnatur möglich – und keinesfalls inflationär zu gebrauchen. Hält man sich die Zahl der Weisen vor Augen, die die Stoa kennt, so handelt es sich um die absolute Ausnahme. 48 Diese Missverständnisse bei Tillich sind nun insofern von Bedeutung, als sie direkte Konsequenzen zeitigen für sein Verständnis der Stoa: Wäre die stoische Ethik einfachhin Gesinnungsethik, wie Tillich es nahelegt, so träfe zu, dass der stoische Weise völlig autonomes Handlungssubjekt wäre und die Form letztlich von der Stoa „durch Ausscheiden aller unmittelbaren Reaktionen“ (EW XIII, 166) gewonnen würde. Tatsächlich ist der Weise autonom zu nennen, jedoch nur in der dargestellten Weise, als voll48 Insofern liegt Tillich auch falsch, wenn er schreibt, die Schuloberhäupter seien als Weise angesehen worden („Der Heros aber der Zeit des Formbewußtseins ist der Weise, der zugleich Schulhaupt und dadurch Soter ist.“ [EW XIII, 163]). Gerade in der Schule der Stoa war es – im Gegensatz zum Keops – gänzlich unüblich sich selbst als weise zu bezeichnen – auch bei den Häuptern der Schule.

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endeter Verwirklicher der Allvernunft. Vollendung meint in diesem Zusammenhang eine vollständige Unterwerfung unter, also ein SichIntegrierenlassen in den Gesamtzusammenhang logoshafter Kosmosordnung. Eine Autonomie, die sich von diesem Begründungszusammenhang abkoppeln wollte – so wie es Tillich für den Selbstmord festzustellen meint –, ist nicht nur nicht denkbar, sondern widerspricht dem stoischen Vernunftbegriff. Insofern ist auch nicht, wie Tillich schreibt, die „Eudaimonie das einzige Gut“ 49 (EW XIII, 165), sondern die Tugend, deren Verwirklichung zwar zur Eudämonie führt, wobei Letztere aber nicht schlicht den ‚Ertrag‘ bzw. die ‚Belohnung‘ tugendhaften Handelns darstellt; vielmehr liegt das Glück bereits im Tun der Tugend, d.h. im stoischen Verständnis: im Weise-Sein, mithin im Integriertwordensein in das System des Weltenlogos selbst begründet. Insofern ist die Eudämonie bestenfalls Indikator dessen, was das Gute ausmacht, nämlich der Tugend. Daher lässt sich das Empfinden von Übeln und Gütern auch gänzlich auf „Falsch-Urteile“ (EW XIII, 166) zurückführen, weil nur derjenige, der nicht in der Tugend steht, eine falsche Beurteilung der Dinge vornehmen kann, oder mit anderen Worten anfällig für Affekte ist. Der Weise ist vermittels seiner völligen Apathie 50 , die Konsequenz seines vollendeten šHFNPOJL³O im Zustand der EJ„RFTJK ist, 51 über solche falschen Seelenregungen erhaben. Dies bezeichnet Tillich dann zutreffend als die einzige „Ekstatik“, die es noch gebe, „und das ist die des heroischen Weisen“ (ebd.). Allerdings bezieht er dabei nicht den Vollendungsaspekt mit ein, 49 Wobei hier zugestanden werden kann, dass es sich bei dieser Definition nur um eine Nachlässigkeit seitens Tillichs in der Begriffsverwendung handeln mag. 50 Die Anmerkung Erdmann Sturms (EW XIII, 166; Anm. 4), die mit dem Praechter-Zitat scheinbar Tillichs Charakterisierung der stoischen ƒQ„RFJB als Ideal schlechthin problematisieren soll, ist aus stoischer Perspektive unzutreffend. Die zVQ„RFJBJ stehen den Q„RInicht als strukturgleiche Pendants gegenüber. Vielmehr sind die zVQ„RFJBJ vernünftiger Ausdruck der ƒQ„RFJB, so dass sie nicht auf einer E³YB, einer bloßen Meinung, beruhen wie die Q„RI, sondern gefühlsmäßiger Ausfluss tugendhafter Vollendung sind. Deswegen kennt die Stoa auch nur drei zVQ„RFJBJ, hingegen jedoch vier Q„RI, weil es für die M»QI, das Empfinden von Schmerz über ein vermeintliches gegenwärtiges Übel, keine Entsprechung geben kann, da dies bereits eine Störung der tugendhaften Verfassung bedeuten würde, was für den Weisen auszuschließen ist (vgl. SVF III, 438). Alle zVQ„RFJBJ machen mithin nur das Verhalten des Weisen der ihn umgebenden Welt gegenüber vorstellig, das sich aus der Apathie speist und darauf zielt, diese beständig zu erhalten. Vgl. zur Affektenlehre: M. Forschner, Die stoische Ethik, a.a.O. (Anm. 33), 114-141, zu den zVQ„RFJBJ insbesondere 139-141. 51 Vgl. SVF III, 393 sowie M. Forschner, Die stoische Ethik, a.a.O. (Anm. 33), 64.

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weshalb sein Urteil ambivalent bleibt. Dies hängt zusammen mit seinem auf die Ethik bezogenen Verständnis der Stoa: Das vorsehende Schicksal ordne „alles aufs Beste […] und zwar für den Menschen“ (EW XIII, 161). Für Tillich ist dieser Gedanke „aus den Voraussetzungen nicht zu begründen“ (ebd.), woran sich bereits seine Missinterpretation stoischen Gedankenguts andeutet, indem er das „für“ nicht im Sinne von ‚aus der Perspektive des Menschen‘, sondern als Dativus commodi versteht. Dann ist freilich eine Interpretation aufgrund stoischer Grundgedanken nicht mehr möglich. Die gute Ordnung ist aber nur gut, weil der in Vollendung im Gesamtlauf der Dinge Stehende und Integrierte, mithin der Weise, die ordnende Macht, die zugleich das ihn als solchen konstituierende Prinzip darstellt, als absolute Realität erfährt. Erfolgt allerdings diese Gleichsetzung des Prinzips mit der alles bestimmenden Wirklichkeit und mit der eigenen Identitätsstruktur, so handelt es sich nicht einfach um eine Ordnung für den Menschen, sondern um eine Weltordnung, aus der herauszutreten dem Menschen schlechterdings unmöglich ist, sofern und solange er als selbstbewusstes Subjekt zu bezeichnen ist. Die Stoa verknüpft dadurch göttliche Struktur und Selbstkonstitution des Selbst derart eng, dass keines der beiden Momente aufgegeben werden kann, ohne das andere zu verlieren. Dieses Verhältnis vom Weisen abzukoppeln und ganz unelitär auch bzw. sogar gerade auf die Nichtverständigen zu beziehen, wird in Gänze erst im Christentum ermöglicht. Vollständige Autonomie des Einzelnen aufgrund völliger Abhängigkeit kann vermittels dieser Struktur bereits die Stoa aussagen. Die Produktivität des Einzelnen, auf deren Schwelle Tillich die Stoa sieht, 52 steht also in reziprokem und unveräußerlichem Bezug zu der monistischen Weltstruktur. Selbstheit ist sie selbst nur im unmittelbaren Zusammenhang mit allem anderen, was ist, weil sich darin in gleicher Weise der Naturwille äußert. Genau dies wird auch zum Agens für die kosmische Gemeinschaft, die sich im menschlichen Gefüge in Form des Staatsgedankens und der Gleichheit aller Menschen niederschlägt. Dieser Punkt stellt für Tillich – wie bereits gesehen – den Höhepunkt der Formsphäre dar (vgl. EW XIII, 167). Damit liegt Tillich sicherlich richtig, nur die von ihm gezogenen Folgen daraus erweisen sich als zweifelhaft. Einerseits konstatiert er die Selbstproduktivität des Weisen aufgrund seiner vollständig ausgebildeten Autonomie (vgl. EW XIII, 155), andererseits fehlt ihm 52 „Damit [sc. mit dem schöpferischen Akt, der im Urteil statthat] aber wurde die Subjektivität frei gegenüber der Außenwelt. […] Damit ist ein großer Schritt zur Erfassung der selbständigen Produktivität des Subjektes getan.“ (EW XIII, 155)

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das ekstatische Liebesmoment in der Stoa, wodurch ihm die „stoische Moralpredigt […] individualistisch-pharisäisch“ (EW XIII, 167) verkürzt vorkommt. Abschließend gilt es das Verhältnis dieser beiden Momente – individuelle Autonomie auf der einen, rein formale Ethik auf der anderen Seite – genauer zu betrachten im Hinblick auf Tillichs Einschätzung der Stoa als dem Höhepunkt der Emanzipation der Form.

4. Immanente Gehaltsverwirklichung in Form der Autonomie Tillichs Vorlesung über die griechische Philosophie beschreibt, wie auf Basis des Gehalts die Form zunächst gefunden wird und im weiteren Verlauf zu ihrer emanzipierten Autonomie vordringt, bis schließlich die Stoa den Höhepunkt der Formentwicklung darstellt, deren Endpunkt, der Skeptizismus, nur noch zur Destruktion der Form und der Aufgabe der Autonomie führen kann, bevor in der religiösen Periode der Gehalt direkt zu erfassen gesucht wird. Diese Bewertung der griechischen Philosophie verdankt sich Tillichs Suche nach dem religiösen Gehalt bzw. nach der religionsgeschichtlichen Bedeutung der griechischen Philosophie, wie es bereits der Titel der Vorlesung ankündigt. Dass Tillich dabei Verkürzungen vornimmt und bei der ungeheuren Stoffmenge gar vornehmen muss sowie zum Teil zu falschen Bewertungen gelangt, wurde anhand der stoischen Philosophie aufgezeigt und herauszuarbeiten versucht. Zu fragen bleibt nun, ob es Tillich gelingt, sein Hauptanliegen nicht nur zum Ausdruck zu bringen, sondern ob der Stoff, die griechische Philosophie, ohne Verkennung von deren Eigenanliegen dazu geeignet ist. Deshalb sei nochmals kurz Tillichs Beweggrund benannt, mit dem er an die griechische Philosophie herantritt: Tillich formuliert seine Grundfrage am präzisesten zu Beginn seiner im Sommersemester 1921 an seine Ausführungen zur Philosophie der Griechen anknüpfenden Vorlesung Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der abendländischen Philosophie seit der Renaissance folgendermaßen: „Was ist der Sinn des Erkennens überhaupt? Was bedeutet das überhaupt im letzten Sinne: Wissen?“ (EW XIII, 199) Damit ist das Anliegen ausgesprochen, das Tillich in seinem nach dem ersten Weltkrieg beginnenden sinntheoretischen Stadium am tiefsten bewegt und was sich kulturtheologisch in der Debatte um Form und Gehalt reproduziert. Pointiert gesprochen läuft die Fragestellung, die an Tillichs Umgang mit der Stoa zu richten ist, darauf hinaus, ob Tillichs Einschätzung, sie

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stelle den Höhepunkt der Formentwicklung dar, richtig ist. Dies muss – in gut Tillich’schem Sinne – sowohl bejaht als auch verneint werden. Zu bejahen ist sie insofern, als die Stoa tatsächlich eine ethische Haltung entwickelt hat, die ohne das Moment der unmittelbaren Liebe zum Objekt auskommt. Die stoische Ethik ist eine formale dergestalt, dass sie sich auf das sittlich gute Tun stützt, dieses jedoch mit der Haltung des Täters untrennbar verknüpft. Auch wenn die Stoa keine Gesinnungsethik vorstellig macht, weil der Seelenzustand, aufgrund dessen der Weise seine Entscheidungen trifft, im eigentlichen Sinne nicht von ihm selbst hervorgebracht werden kann und deshalb kaum als Gesinnung, die notwendig eine individuelle Einstellung impliziert, zu bezeichnen ist, so ist die Tat nicht unter Abstraktion von der ausführenden Instanz betrachtbar. Mit anderen Worten: Tat und Täter bilden einen irreduziblen Komplex, der jedoch über beide hinausführt, sowohl was seinen Begründungszusammenhang als auch die Konsequenzen angeht. Die Ethik ist also formal, weil sie sich ausschließlich auf die Konstellation von Entscheidungsfindung und daraus folgender Tat konzentriert. Das Moment der Liebe bzw. das Eroshafte vermisst Tillich somit völlig zu Recht (vgl. EW XIII, 167). In der Bejahung von Tillichs Urteil verbirgt sich jedoch bereits implizit angedeutet der Verneinungsaspekt: Der Begründungszusammenhang, der Subjekt und Welt, Täter und Tat an sich und in ihrem Verhältnis zueinander konstituiert, lässt sich nicht aus den Relaten selbst ableiten, obwohl er ihnen implizit ist. Es ist die Vieldimensionalität des Naturbegriffs, den die Stoa ausgebildet hat und der einer Selbstsuffizienz sowie v.a. einer solipsistischen Selbstkonstituierung von Selbstheit entgegenwirkt. Einzelnatur und Allnatur fallen in eins, jedoch nicht im Modus der Indifferenz, sondern der differenzierten Einheit. Es ist die naturphilosophische Grundlage der Stoa, die den Erosfunken zwar in äußerst minimierter Glut hervorbringt, der aber das ganze System durchschwingt. Tillich tendiert hier zu stark zu einem rein ethischen Zugang zur stoischen Philosophie und droht dabei das Gesamtsystem aus den Augen zu verlieren, welches jedoch unabdingbar ist für das Verständnis der stoischen Ethik. Indem Tillich die stoische Ethik als „individualistisch-pharisäisch“ (ebd.) ansetzt, verfehlt Tillich deren eigentliche Stoßrichtung, weil der Weise sich nach stoischem Dafürhalten nicht selbst gerecht sprechen kann – dies ist nur dem Logos in ihm, der zugleich der Logos von allem ist, möglich. Der Weise ist vollendet, was den Rigorismus seines ethischen Standpunkts erklärt; freilich ist sein Rigorismus deshalb nicht einer, der sich auf Selbstgerechtigkeit oder gar Selbstverliebtheit zurückführen ließe, weil dies zu-

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nächst tatsächliche Liebe zu sich selbst voraussetzen würde. Dies ist jedoch – auch nach Tillichs Urteil – der Stoa unmöglich, weil sie echte Liebe – auch zu sich selbst – nicht kennt. Das, was in der Oikeiosis angeeignet wird, ist nicht Selbstliebe, sondern die eigene Anlage, die identisch ist mit dem Weltenlogos, der als einzig ewiges Moment des gesamten Kosmos sich in individueller Form sich selbst zueignet. Autonomie – auch und gerade die des individuellen Selbst – ist mithin nichts anderes als die absolute Bewegung des einen, einzigen und ewigen Prinzips, das als absolute Gehaltsfülle allerdings nicht von transzendenter, supramundaner Provenienz ist, sondern sich als das realisiert, was es schlechterdings ist: völlige Immanenz. Eros ist nur aussagbar vom Prinzip selbst, das sich gänzlich autonom selbst vollzieht, was aber – man denke an die zwei Prinzipien in der stoischen Lehre – nicht von der vorfindlichen Realität abgekoppelt werden kann. Fragt man also nach dem Sinn von Wissen und Erkenntnis, so findet ihn die Stoa in der völligen Selbstaufhebung oder besser: im völligen Selbstaufgehobenwerden in die Form des Prinzips. Tillich trifft mit seinem kulturtheologischen Urteil den Kern der Stoa erstaunlich genau, obwohl seine Begründung dafür teilweise auf Fehleinschätzungen beruht. In Sonderheit die Verkürzung auf den ethischen Aspekt, mit dem er die Autonomie der Form begründen möchte, zeitigt problematische Konsequenzen, weil sie das stoische Gesamtkonzept verlässt und dadurch des eigentlich angedachten Begründungszusammenhanges verlustig geht. Dies verwundert umso mehr, weil ja gerade die Hochentwicklung der Form auch nach Tillichs Prämissen auf einer gleichzeitigen Klimax in der Gehaltsauffassung basieren müsste. Warum Tillich diese Korrespondenz von Gehalt und Form gerade beim selbst so benannten Gehaltstypus in Richtung auf die Form hin verkürzt, bleibt fraglich, zumal sich genau dieses Reziprozitätsverhältnis bestens auf die Stoa applizieren ließe, ohne dabei ihr Wesen zu verkennen. Paradigmatisch sei zuletzt dafür nur der Bezug von LBR¢LPO und LBU³SRXNB herangezogen: Versteht man das LBR¢LPO so, dass es einerseits Bedingung der Möglichkeit für die Realisierung des LBU³SRXNB ist, andererseits aber seine letzte Gehaltfülle erst empfängt, wenn es in ein LBU³SRXNB überführt wird, so ist die Analogie zur Relation von Form und Gehalt unverkennbar. Auch die Form ist der Rahmen für gehaltvolle Verwirklichung, sie wird jedoch profan in Tillichs Verständnis, sobald von ihrem Gehaltsbezug abgesehen wird.

Protestantism as “Gestalt” in Tillich’s Analysis of Culture ANNE MARIE REIJNEN “Love is life under the power of divine foolishness. It is ecstatic and paradoxical.” 1 “The emergence of the higher religions seems to me to mark so important a new departure in human history that these cannot be dealt with adequately in terms of the civilizations whose declines and falls give rise to them. I try to show that they are not parasites on dying civilizations nor do they serve as chrysalises for the births of new civilizations. On the contrary, I believe that the higher religions are themselves societies of a new and distinctive species; their purpose is to enable men to find a direct personal relation with the transcendent reality in and beyond the Universe, though so far they have fallen short of their spiritual aspirations.” 2 “The three great elements of modern civilization, gunpowder, printing, and the Protestant religion.” 3

1. Introduction Protestantism is a versatile word in Tillich’s writing. He uses it to define an overarching and dynamic category, a synonym of the justification by grace alone through faith. To put it starkly, the Protestant principle reveals that “in relation with God everything is done by God”. 4 This “unconditional” meaning of Protestantism puts it on a par with faith, the deliberate passivity which allows God’s mercy to reach human beings: “[T]he Protestant

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P. Tillich, In Thinking Be Mature, in: (Id.), The Eternal Now, New York 1963, 161. A. Toynbee, Universal Churches, A Study of History, Oxford 1979, 319. Th. Carlyle, The State of German Literature (1827), in: (Id.): Critical and Miscellaneous Essays, Michigan 2005. P. Tillich, Systematic Theology, vol. III, Chicago 1963, 135 (= ST).

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courage to accept forgiveness […].” 5 Protestantism as a principle rests on a particular interpretation of the human predicament: “The Protestant principle (which is not always effective in the preaching and teaching of the Protestant churches) emphasizes the infinite distance between God and man. It emphasizes man’s finitude, his subjection to death, but above all, his estrangement from his true being and his bondage to demonic forces – forces of self-destruction.” 6

Second, the Protestant, critical or prophetic principle involves the questioning of any concrete institution, including Protestantism as a confession: “The Protestant principle is the judge of every religious and cultural reality, including the religion and culture which calls itself ‘Protestant’.” 7 In this contribution I examine how Tillich uses “Protestantism”; one way to put it to work is as a fulcrum for the analysis of contemporary culture. In 1931, for instance, he elucidates the uncomfortable relationship between the proletarian situation and Protestantism: The former “provides a fundamental vindication of the Protestant principle and the most serious judgment of historical Protestantism”. Why should that be the case? Because the proletarian situation, according to Tillich, is homogeneous: It is characterized by need. This impels it to unmask all ideologies. “The proletarian situation, in forcing Protestantism to bring to the fore the critical element of its own principle, creates the constant suspicion that Protestantism has itself become an ideology, the worship of a man-made God.” 8

Less than a decade later, Tillich claimed “I am an American” and he went on to deploy a considerable energy as a regular columnist for the The Protestant. On the board of this ephemeral magazine, he endeavored to inform and shape opinion because he deemed it to be his task to “challenge American protestantism”. As seen in this quote, sometimes Tillich uses “Protestantism” in the conventional manner, to designate specific denominations and concrete churches. He asked: “[I]s there a chance that the Protestant churches as they are will transform themselves into churches which will be able to give a principle of reintegration to the present world?” 9 5 6 7 8

P. Tillich, The Courage to Be, New Haven 1952, 175. P. Tillich, Protestantism and Artistic Style, in: (Id.), Theology of Culture, ed. by Robert Kimball, Oxford 1959, 68. P. Tillich, The Protestant Principle and the Proletarian Situation, in: (Id.), The Protestant Era, abridged edition, Chicago 1957, 163. P. Tillich, The Protestant Principle and the Proletarian Situation, op. cit. (note 7), 170.

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It is because of the prophetic and crititical (“Protestant”) element of cultural analysis that Tillich contemplates the possibility of the decline and disappearance of Protestantism as historical embodiment: Like any era, the Protestant era, having had a beginning, shall eventually come to an end. But whereas contingent “Protestantism” can disappear, the eternal principle cannot. Confronted by the range of meanings which Tillich attributes to the word “Protestant”, one asks whether a single word can indeed adequately express so many different realizations (“Verwirklichungen”). I will proceed along the trilateral that structures the entire congress: aspects, problems and perspectives.

2. Aspects Tillich, it seems, considers Protestantism to be a „Gestalt”. Although he is not, by far, the first thinker to use the word – “Gestalt” has a long and complex history –, it is fair to say, as does James Luther Adams, that Tillich is a “Gestalt theologian”. We submit that Protestantism, for him, is not primarily a confession, a denomination, an institution or a “communion of churches” 10 ; it shares traits with a “Gestalt”. For Tillich, a human being as a living subject is a “Gestalt”, to wit: “a totality of interdependent relations in which no part can be isolated as long as the living process goes on.” 11 A Gestalt is a complex entity, where the elements that make up the whole stand in mutually defining relations to each other. The configuration is not static but evolving; the entire Gestalt is forever shifting because of the interaction of the parts, that never stand in isolation. The historical realization on the one hand and the ideal of Protestantism on the other hand stand in a relation of mutual interdependence. Essence and existence coexist in the “Gestalt” of Protestantism, in analogous fashion to the “Gestalt” of the human being as a living subject. 9

P. Tillich, The Protestant Principle and the Proletarian Situation, op. cit. (note 7), 233. 10 “Communion” increasingly is becoming the preferred word to qualify transregional federations of churches, as in Leuenberg and the new World Communion of Reformed Churches (WCRC). 11 P. Tillich, The Conception of Man in Existential Philosophy, in: Journal of Religion, 19, 1939, quoted in J. L. Adams, Paul Tillich’s Theology of Culture, Science and Religion, Washington 1982, 25, note 16.

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Protestantism is judged by the primary criterion of the Protestant or critical principle; it will often fall short of its own principle. Some axiomatic affirmations convey the impression that Protestantism is the Protestant principle incarnate; it is important to keep in mind that it too is fallible, lest Tillich stand accused of creating an absolute, even if it is a critical absolute. Only by the mediation of “theonomy” can some forms withstand scrutiny. “Theonomy is the unity of holy form and holy content in a concrete historical situation”, 12 Tillich said, regarding religious Socialism. Maybe the strength of disillusionment regarding concrete expressions of Protestantism exceeds the disillusions concerning the “Verwirklichung” in the political or cultural realm (assuming for a moment that these are separate domains). At first sight it is disconcerting to find such pessimism in a theologian of grace; but it may well be the indispensable caution due to the demonic potential especially of the religious sphere. In a posthumous text, the Earl Lectures of 1963, which have surfaced recently from oblivion, Tillich makes the point forcefully. The demonic distortion of “religion” is to strive for the infinite through finite means. Authentic religion takes at heart “the condition that everything finite has to sacrifice itself to that which is infinite, in order to become a bearer of the infinite. To avoid this sacrifice is the demonic distortion of religion” 13 . It is a christological, not a sociological reading of religion. Only through his death can Jesus be the Christ, the Messiah, as Tillich reminds his hearers at Berkeley. 14 Churches become forgetful of the message they should embody. “When I look at the actual churches, I often am horrified by the tremendous depths of this paradox: to represent the Kingdom of God, or in other words, the Spiritual Community, and at the same time to betray it, conceal it and distort it. But when the distortion hits me so deeply I incline to turn away from the churches, then suddenly in a little service in a small church or in act of love inspired by biblical symbols, by the image of Jesus, something breaks through all the weakness, banality and corruption of actual church life.” 15

For Tillich, the Protestant Reformation represents one of many attacks – in fact, the greatest attack – on the churches “because they forgot their own paradox and made themselves untouchable, unconditionally right and 12 P. Tillich, Grundlinien des religiösen Socialismus, GW II, 1964, 94. 13 P. Tillich, The Irrelevance and Relevance of the Christian Message, ed. by Durwood Foster, Cleveland 1996, 50. 14 P. Tillich, The Irrelevance and Relevance of the Christian Message, op. cit. (note 13), 49. 15 P. Tillich, The Irrelevance and Relevance of the Christian Message, op. cit. (note 13), 48.

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good” 16 . Tillich proceeds to describe the principle of this attack as the “Protestant principle”. “It is the principle in which the church in its essence, or true being, protests against the church in its existence.” 17 Like human beings, the churches are not what they are called to be in essence; again and again, they fail to coincide with their vocation through their acts (or their silence). This is why it makes sense to interpret them as a “Gestalt”, that is, in the words of James Luther Adams, “a living structure in which the whole determines special effects within an open or dynamic dialectic of necessity and freedom”.18 “It is an ‘ecstatic’ form of being, open to the infinite – as judgment and as anticipation of fulfillment – and to the incursion of the new form. It bespeaks both the divine Yes and the divine No.” 19 One can borrow from this analysis by James Luther Adams: The “Unconditioned” and the “forms of grace” explain why Protestantism functions as a “Gestalt”. In it, the essence and the existence nourish and judge each other; as the Invisible Church is the judgment and the hope of the visible churches, to use yet another polarity. But Protestantism is not ecclesiocentric and Tillich likes to contrast it with Roman Catholicism in that respect. The tension between history and the Kingdom of God displaces the tension between visible and invisible Church. Tillich explains the tension through the category of anticipation, “neither having nor not-having. […] Anticipation without possession is religiously as impossible as nearness without presence; for nobody can anticipate the ultimate without being touched by it, and nobody can pronounce that the Kingdom is at hand who is not already drawn into it. On the other hand, nobody can have the ultimate, nothing conditioned can possess the unconditional. And nobody can localize the divine that transcends space and time.” 20

Tillich distances himself from the spiritual “gradualism” of medieval mysticism: From meditation to contemplation to mystical union, the believer “faces God as a besieged fortress to be surrendered to those who climb its walls”. By contrast, according to the Protestant principle, “God’s surrender is the beginning; it is an act of freedom by which God overcomes the estrangement between Godself and man in the one, unconditional and 16 P. Tillich, The Irrelevance and Relevance of the Christian Message, op. cit. (note 13), 49. 17 Ibid. 18 J. L. Adams, Paul Tillich’s Philosophy of Culture, Science and Religion, Washington 1982, 50. 19 Ibid. 20 P. Tillich, The Protestant Principle and the Proletarian situation, op. cit. (note 7), 171.

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complete act of forgiving grace. All the degrees of appropriation of grace are secondary, as growth is secondary to birth” 21 . Sola gratia is without any doubt the main thrust of the Protestant principle; Tillich calls it “the article by which Protestantism stands or falls, the principle of justification by grace through faith” (ST III, 223). Epistemologically it is a hybrid, for it is an article or a doctrine among others, yet at the same time it is the principle which organizes the entire construction, the article which determines whether the house stands or falls, whether it is built on rock or on sand. Elsewhere in “Life and the Spirit”, part IV of the Systematic Theology, Tillich gives alternative definitions of the Protestant or critical principle, which are in fact corollaries. These secundary definitions are, e.g, the affirmation of the fallibility of all religious institutions, and the protest against any claim to infallibility. Also, the priesthood of all believers invalidates the understanding of a priesthood as separate from the “lay” believers, a “sacred degree in a divine-human hierarchical structure” (ST III, 208). Tillich draws on the Protestant principle to repudiate dualism: “According to the Protestant principle, there is no spirituality which is based on the negation of matter, because God as creator is equally near the material and the Spiritual.” (ST III, 210) The Protestant, critical or prophetic principle functions like a shibboleth: It allows Tillich to discriminate among the variety of religious expressions, extolling some, discarding others. Tillich has written about Protestantism all his life; he has tackled it from the perspective of an eternal principle, which underlies and stands over against all concrete expressions of Protestantism; he has used “Protestantism” as a prism through which he considers culture, both before and after his emigration to the United States. I submit that his preoccupation with “Protestantism” is certainly a leitmotiv; it may not be the dominant in his theological melody, but it is an obstinato, a basso continuo. A reliable indication of his interest in the matter is his literary output. As André Gounelle has shown in the years 1941 and 1942, approximately 45 % of Tillich’s publications appeared in one periodical, initially called Protestant Digest and then The Protestant, founded by the Non-Conformist Canadian Kenneth Leslie 22 . Tillich was a member of its editorial committee, along with James Luther Adams who translated and published the material that comprises The Protestant Era. It is in this magazine that Tillich wrote “I 21 P. Tillich, ST III, 193 (Chapter: The Divine Spirit and the Ambiguities of Life). 22 A. Gounelle, La collaboration de Tillich au Protestant (1941-1942), Etudes Théologiques et Religieuses, 1994/2, 213.

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am an American”, which concludes with the words “I want to be an American”. One year after acquiring his US citizenship in 1940, Tillich showed himself to be a typical first-generation American and former migrant 23 . The magazine was short-lived: It ceased to exist in 1943, because of fundamental disagreements within the editorial board regarding war aims and the adequate political position to defend regarding the Soviet Union, starting in June 1941, when Hitler attacked his former ally. In December 1941, the US entered the conflict; in the US and in Great-Britain, the war was seen increasingly as a conflict between competing ideologies: democracies versus dictatorships. The tyrannical nature of the Soviet régime became a contentious issue within The Protestant and the controversy led to the untimely dislocation of the magazine. Tillich held a position of leadership in this short-lived magazine, since he was the one who drafted A Basic Policy for the Protestant (April-May 1942). Tillich’s articles were aimed at a lay readership of progressive (liberal) middle class Protestants and his agenda appeared unequivocally: “Tillich Challenges Protestantism.”

3. Problems To subsume the analysis of religion – more specifically, one of its historical manifestations, that is Protestant Christianity – under the analysis of the culture of a given time and place was, and remains, not self-explanatory. Methodologically, for Tillich it was the consequence of a principle formulated in several points of his work, namely the solidarity or intertwining of “culture” and “religion”. Tillich draws the following chiasm as the paradigm for their interpretation: “Religion as the ultimate concern is the meaning-giving substance of culture, and culture is the totality of forms in which the basic concern of religion expresses itself. In abbreviation: religion is the substance of culture, culture is the form of religion.” 24

23 See also A. M. Reijnen, Vers de nouveaux mondes: La migration dans l’œuvre-vie de Tillich, in: M. Boss/D. Lax/J. Richard (Eds.), Mutations religieuses de la modernité tardive, Münster 2002, 145-166. 24 P. Tillich, Aspects of a Religious Analysis of Culture, in: (Id.), Theology of Culture, ed. by Robert C. Kimball, Oxford 1959, 42. First published in World Christian Education, 1956/2, 42.

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Tillich goes on to say: “[T]he existence of religion as a special realm is the most conspicuous proof of man’s fallen state.” 25 Substance and form are subjected to the same critical imperative, as Tillich illustrates in a sermon from the same period. In this sermon about Romans 12, 2 Do not be conformed to this eon, Tillich elucidates the word “eon”, in a preliminary to the explanation of (non) conformity: He recalls that “eon” is often misunderstood as meaning “the world”, an interpretation which would then condone attempts at escaping it, for the sake of a purported superior (because otherworldly) realm. Rather, the eon to which we must not conform, according to the exhortation of the Apostle, is only “the untransformed old earth and the untransformed old heaven” 26 . It is these that call for judgment, for resistance and for transformation. Not only in education, in political parties, in the State and its all-time favourite, the family, for “many churchmen would agree with this. But they would resist, if one applied the warning of the apostle to the church itself. But we must do so. […] For the Christian churches also belong to this eon, although they witness to the coming eon in time and space. They share in the corruption of this eon, its mixture of good and evil. And their history is a continuous witness to their corruption. (Therefore, Paul’s warning against being conformed is also valid for the church). But is it possible, one may ask, to escape conformity if one belongs to a group that is united by a common creed, by rituals, by ethical standards, by old traditions and regular acts to common devotion? Can you adhere to a church and not be conformed? Indeed, there were non-conformist churches. But were they not non-conformist for only one historic moment, and then conformist themselves, like those from whom they separated? These are serious questions, especially for Protestants whose church came into existence through a protest against the conformity of the ruling church. I do not hesitate to state that one may have to resist being conformed even to the church community. Certainly such an act also involves a risk. One may be in error. But it must be done. For it may represent the divine protest against everything human, even the highest forms of religion. A church in which this divine protest does not find a human voice through which it can speak has become conformed to this eon. Here we see what nonconformity ultimately is – the resistance to idolatry, to making ultimates of ourselves and our world, our civilization and our church. […] It is not too difficult to become a critic and a rebel. But is hard not to be conformed to anything, not even to oneself.” 27

25 Ibid. 26 P. Tilllich, Do Not Be Conformed, in: (Id.), The Eternal Now, Sermons from 1955-1963, New York 1963, 138. 27 P. Tilllich, Do Not Be Conformed, op. cit. (note 26), 143-144.

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Forgive me for insisting on this point: Tillich devotes thought and energy both to Protestantism as a “critical principle” and to empirical Protestantism, whose era may well come shortly to its demise. It is remarkable, I would like to underscore, how many layers of meaning Tillich uncovers in the single word “Protestant”; but it raises several questions. First and foremost, why did Tillich not attempt to translate it, by coining a new word altogether, as he did in minting a new trinitarian terminology: the “Unconditional Ground of Being”, “the New Being”, and “Spiritual Presence”? Second, “Protestant” defines the limits of a confession; that kernel of concreteness in it will subsist, even when it is juxtaposed with “principle”, or “eternal”. Yet how can one attribute eternity to something that is completely contingent, and, literally partisan – the Protestation by delegates from the German “evangelical” states at the Diet of Speyer in 1529? Is this not a contradictio in termini? It is true that the “hiatus” between the theological and the sociological discourse is equally apparent when we speak about “church”. As Paul van Buren wrote in 1963 in his Secular Meaning of the Gospel: “The difficulty is that we do not speak biblical language. In ordinary use, including the use of Christians when they are not rather self-consciously doing theology, the word ‘church’ refers to a building: we go to church; the church is at such and such an address; it costs so many dollars to build. The linguistic difficulty arising from the difference between the biblical and ordinary uses of the word is nothing, however, compared to the theological problem of holding together biblical assertions concerning the ekklesia and descriptions of the sociological unit to which the biblical statements are supposed to apply. What appears sociologically to be an odd club is often spoken of theologically as the ‘body of Christ’. This is obviously not a description. It is a reference to the historical perspective which the members presumably have in common, and it suggests the harmony that would exist between people who shared this perspective.” 28

Another problem: When the term “Protestantism” crosses the Atlantic Ocean, is not its meaning fundamentally transformed? The Protestantism Tillich had known untill 1933 was German Lutheranism, to a large extent. To some extent, indeed, for the first differentiation that occurred for him was the result of his commitment to the movement of religious socialism. “My entrance into the religious socialist movement meant for me the definite break with philosophical idealism and theological transcendantalism. It opened my eyes to the religious significance of political Calvinism and social sectari28 P. van Buren, The Secular Meaning of the Gospel, London 1968 (1963), 183-184.

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anism, over against the predominantly sacramental character of my own Lutheran tradition.” 29

Religious socialism has a strong affinity with Protestantism as Tillich understood the latter. “The most important theoretical work done by religious socialism was the creation of a religious interpretation of history, the first one, so far as I can see, of an especially Protestant character.“ 30 For all practical purposes, the Lutheran Protestantism that Tillich was familiar with was a state church; not literally, for all the German churches had lost their established status when the 1918 Revolution toppled the Kaiser, Wilhelm II. But after 1918, the government continued to retain an influence over the choice of church leaders, and the Revolution preserved what used to be regarded as the chief feature of an established church, namely the right to tax the citizens of the state for its maintenance. The ‘Kirchensteuer’ was only abolished in East Germany by the Communist Regime after 1945 31 , and is still levied in the Republic. Now the Protestantism of the United States bears little resemblance to such a “Volkskirche”. This is one more element of Tillich’s self-confessed provincialism of the first 47 years of his life that will have to be overcome. The main difference can be described in two seemingly contradictory statements: Protestantism in the United States is subsumed under the American Way of Life, of which a key feature is also religious. Already Alexis de Tocqueville observed the symbiosis between Protestantism and democracy. As Justice William O. Douglas wrote in 1952: “We are a religious people.” 32 Many citizens believed that a functioning society had, or needed to have, in a very broad sense, a common religion. In 1749, Benjanmin Franklin urged the development of what he called a ‘Public Religion’, one that, to be sure, favoured Christianity but still one that bears its own distinctive stamp. In 1955, Jewish sociologist Will Herberg spoke of a ‘civic faith’; in 1963 historian Sidney E. Mead wrote of ‘the religion of the republic’”. The expression ‘civil religion’ appears two years after Tillich’s death: In 1967 Robert N. Bellah observed and urged upon a diverse people a single ‘civil religion’ 33 . This is the aspiration towards oneness, towards a single, common 29 P. Tillich, The Protestant Era, op. cit. (note 7), XIV. 30 P. Tillich, The Protestant Era, op. cit. (note 7), XV 31 O. Chadwick, Great Britain and Europe, in: J. McManners (Ed.), The Oxford History of Christianity, Oxford 1990, 378. 32 M. Marty, North America, in: Mc Manners (Ed.), The Oxford History of Christianity, op. cit. (note 31), 396. 33 M. Marty, North America, op. cit. (note 32), 398.

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horizon. The civic faith, or religion of the republic has its high feasts and liturgy, of which the most remarkable, for me, are the religious celebrations on Thanksgiving day, whose moderate theism accomodates all, Christian, Jewish and Muslim. This peculiar arrangement had not been achieved overnight. When de Tocqueville traveled to America, the Protestant churches there had gradually adjusted, over a period of two hundred years. In 1949, Henry F. May describes the evolution as follows: “Organized religion had relinquished the financial support of the state. Here the churches had stopped; they consistently refused to surrender their right to supervise the morals of the nation. […] Imperceptibly, as the nation’s diverse churches had worked out their adjustment to American society, old sectarian conflicts had become less vital. Groups that had arrived from Europe determined to build a separate community of the saints, in America had found the world less hostile and their members harder to control. […] By the second quarter of the nineteenth century, spokesmen of the major churches, when they commented on the virtues and errors of American society, tended to sound increasingly alike.” 34

May quotes the diagnosis of Ernst Troeltsch, reminding his readers that “Troeltsch, who has brilliantly distinguished between the various strains of European Protestantism, finds that ‘in North America […] it is impossible to isolate Calvinistic, Puritan and sectarian influence’” 35 . Yet visitors to the United States are struck by the “manyness” of Protestant churches. The Protestantism that Tillich encountered in the United States was “sectarian”; de facto, Protestantism in the US was, and still is, a galaxy of “sects”. Here, the word ‘sectarian’ describes churches constituted by members whose affiliation is voluntary, the result of individual choice. Can one even speak of ‘Protestantism’ in the US, since it exists as 250 bodies – although approximately 80 percent of the individuals who make up these groups belong to only 13 major denominations? Tillich’s portrayal of Protestantism remains heavily slanted towards the Lutheran version of it, a circumstance that should have delayed the reception of the “Protestant” (Lutheran) principle in the United States. I submit that on the contrary, Tillich’s writings gathered in the book The Protestant Era were warmly received; readers recognized themselves in his analysis of Protestantism as a “Gestalt”, and as a formative factor of American society. 34 H. F. May, Protestant Churches and Industrial America, New York 1963, 4. 35 E. Troeltsch, The Social Teaching of the Christian Churches, New York 1931, II, 687, quoted in H. F. May, Protestant Churches and Industrial America, op. cit. (note 34), 4.

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4. Perspectives In 1937, in his text The End of the Protestant Era?, Tillich asked whether a new era of post-Protestant Christianity loomed ahead. He wrote that the strength of Protestantism – one of its strengths anyway –, namely the role of conscience, hence the emphasis on the singularity of the person, was now becoming its weakness. The world Tillich descried, the dystopia which was being born in front of his very eyes, was the world of “massification”, of the “amorphous masses in which the laws of mass psychology operate” 36 . He described this new predicament as follows: “Special traditions are forgotten, old symbols have become powerless.” It is the world, we might add, of George Orwell’s pre-war novel Coming Up for Air. Tillich’s forecast in the year 1937 was bleak. „It is the basic proposition of this chapter that the traditional form of the Protestant attitude cannot outlast the period of mass disintegration and mass collectivism – that the end of ‘The Protestant Era’ is a possibility.” 37

In 1972, Martin Marty, reflecting on the 1937 article by Tillich, analyzes the vagaries of the three forms of authoritarian beliefs or ideologies singled out by Tillich. Catholicism has self-disintegrated, nationalistic paganism and communistic humanism are “both alive and well and they are frequently in partnership. Nationalism is often the real religion of majorities in once Protestant lands, and Protestant symbols are employed to legitimate the claims for the ultimacy of the nation.” 38 After the turn into the third millenium, the question keeps nettling us: How viable is Protestantism as a “Gestalt” – that is as a “principle”, as a faith and as visible churches? What perspective lies ahead, what can prospective eyes glimpse? Globally, certainly, the Jewish and Christian encounter of a person with a personalistic God, the great I-Thou, has been overshadowed by a novel form of collectivism: Masses of consumers connected to the trinity of I-Pod, I-Pad and I-Phone. What about contemporary Roman Catholicism? Does it have a single “principle”, like Protestantism, and would that principle necessarily be authoritarian? After Vatican II, that remains a moot question. Migratory 36 P. Tillich, The End of the Protestant Era?, in: (Id.), The Protestant Era, op. cit. (note 7), 223. 37 P. Tillich, The End of the Protestant Era?, op. cit. (note 36), 222. 38 M. Marty, North America , op. cit. (note 32), 257.

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movements from the South certainly are reshaping the identity of the United States; the hegemony of the WASP (White Anglo-Saxon Protestant) is eroding under the impact of growing Catholic populations. Tillich, it has been said, was the only one among his colleagues at Union Seminary to accept to attend rallies of Billy Graham. The changes in today’s “borderlines” between so-called traditional, established or historical churches on the one hand and the evangelical, charismatic, fundamentalist etc. church movements on the other would have interested him. I think that the phenomenon of “emergence” is pertinent to our portrayal of the Protestant principle. “Emergent” or “emerging” churches have “emerged” in 1999; the word was first coined by Karen Ward (Church of the Apostles, Seattle), authoress of a website called www.Emerging.Church.org. They seem to embody the aspirations of a new generation of believers (post-Boomers), not unlike the Gen-X churches in the late 1980’s. The practice of “church within the church” is, of course, a widespread given in the history of Protestantism (e.g. in the “Nadere Reformatie” in the Netherlands or the alternative worship in the Anglican tradition). Emergent churches no longer see themselves ministering to a “niche” in the population, that is, they refuse to see their breaking away as the result of a conflict between generations exclusively. “Regarding postmodernity, the Gen-Xers are the first marines on the beach. Every generation hereafter will be postmodern”, according to Karen Ward. 39 Another minister reports: “Everything I know about church is about Christendom and modernity and the baby boom, and all three of these are going away.” 40 Emergence is a recent trend; its contours are not very clear yet. For some, it already is an international church movement, while some practioners refer loosely to emergence as a “conversation”. The movement or conversation is a deconstruction of confessional and denominational identities, both de facto and de iure. “The goal is for us to become […] more like Jesus and less Protestant.” 41 Emergent churches question all doctrines, stress the priesthood of all believers and reject the “modern” image of God as an authority; it is clear that they apply and radicalize as39 E. Gibbs/R. K. Bolger (Ed.), Emerging Churches. Creating Community in Postmodern Cultures, Grand Rapids 2008, 33. See also J. Belcher, Deep Church. A Third Way Beyond Emerging and Traditional, Downers Grove 2009. 40 E. Gibbs/R. K. Bolger (Ed.), Emerging Churches. Creating Community in Postmodern Cultures, op. cit. (note 39), 32. 41 E. Gibbs/R. K. Bolger (Ed.), Emerging Churches. Creating Community in Postmodern Cultures, op. cit. (note 39), 38.

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pects of the Protest principle. Postmodernity is embraced, for “Modern people fled from this God of unbridled power. They sought to create ‘safe zones’ (the secular realm) so that God would not interfere with them” 42 . A final consideration: I believe that a perspective on Protestantism and its analysis of culture today requires a broadening of the scope to integrate the horizon of all living organisms and of the life of the entire cosmos. History and historical categories, centered on “the nature and destiny of man” or on “the clash of civilizations” still hold sway over our minds. Tillich was breaking new ground in the early 1960s in his critique of anthropocentrism. “In the new way of thinking one of the primary religious shocks was the removal of humanity and the earth from the cosmic center. In the biblical literature, and through 1500 years of church history up to the Renaissance, the earth was at the center of the universe. Human history was the ultimate aim of the earth’s creation, and the Christ was the center of human history”. When this security has vanished, “is not the whole drama of salvation reduced to a series of happenings on a small planet at a particular time without universal meaning?” 43

What proportion of our intellectual and spiritual endeavours is available to the task of thinking about our faith and our belief in the current ecological crisis? This unprecedented peril beckons us to inquire beyond the relationship of the individual believer and doubter to her or his God, beyond the “pro me” of the indispensable personal appropriation, the paradox of the forgiven sinner, of the overcoming of estrangement. The very life of humanity, embedded within the animal, organic and non-organic realms, is balancing on the edge of the abyss. Can the Protestant principle integrate the cosmos, along with its historical fascination for history?

42 E. Gibbs/R. K. Bolger (Ed.), Emerging Churches. Creating Community in Postmodern Cultures, op. cit. (note 39), 192. 43 P. Tillich, The Irrelevance and Relevance of the Christian Message, ed. by Durwood Foster, Cleveland 2007, 30-31.

Paul Tillich and the Academic Culture of Modernity WESSEL STOKER Is theology a science? The scientific nature of theology is the subject of a great deal of discussion at present. The view articulated by Paul Tillich on this issue is relevant for that discussion. For Tillich, theology is a public concern. Theology’s field of attention includes not only the church but society and the academy as well. Here we want to look at Tillich’s theology in relation to the academy, to academic culture. In his view, the task of theology is to mediate between the Christian faith and the experience of individuals and groups. 1 Does this mediation obtain also for the relation between faith and academics or science? Can Christian theology be a science and thus part of the academic culture? In the first half of the previous century logical positivism was the dominant epistemological theory, not only in Europe but also in the Anglo-American world. 2 This view of science and knowledge wanted little to do with theology and metaphysics. According to the manifesto drawn up in 1929, Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis, it was even promoted a scientific worldview that held that, for science, there were no unsolvable riddles: “Neatness and clarity are striven for, and dark distances and unfathomable depths rejected. In science there are no ‘depths’; there is surface everywhere: all experience forms a complex network, which cannot always be surveyed and can often be grasped only in parts. Everything is accessible to man; man is measure of all things […]. The scientific world-conception knows no unsolvable riddle.” 3

Following the model of physics, logical positivism viewed science as unified science (Einheitswissenschaft). The attempt was made to express the different areas of science in a common and mutually comprehensible lan1 2 3

P. Tillich, The Protestant Era (1948), MW VI, 289; see also GW VII, 13. A. J. Ayer, Language, Truth and Logic, Basingstoke 2004. Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis has no official author. See O. Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften I, ed. by R. Haller/H. Rutte, Wien 1981, 305 (English O. Neurath, Empiricism and Sociology, Dordrecht 1973, 306).

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guage. Only such a unified science can establish what is true or not true; empirical verification is therefore the norm, which is why this theory of epistemology is also called logical empiricism. Only statements that can be empirically verified are meaningful. Theology, therefore, cannot be a science because theological statements are meaningless, i.e. cannot be empirically verified. Tillich had written his Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden six years before this manifesto appeared (1923). Unlike logical positivism, he distinguished between the sciences and includes theology among the human sciences (die Geistes- oder Normwissenschaften). Theology is a theonomic metaphysics that belongs to the human sciences. 4 His philosophy of meaning shows that the coherence of meaning is guaranteed by an unconditional meaning. 5 He thus points to the theonomic character of knowledge, the notion that thinking is rooted in the unconditional as ground of meaning and as abyss. When speaking about God theology discusses in an explicit way that which is an implicit presupposition of knowing. Tillich thus wants to show that theology is possible as science. 6 The later Tillich (Tillich after emigrating to the US in 1933) would develop his view of theology in the first part of Systematic Theology and emphasize its church character. In Systematic Theology the postulate of the unconditional functions as a presupposition of understanding of spiritual things (Geisteswissenschaft) and in philosophy of religion (ST I, 12). 7 He no longer considers a Christian theologian as a scientific theologian in the ordinary sense of “scientific” (ST I, 13). Two worlds – that of scientific culture and that of Christian theology – clashed with each other in Tillich’s time. During the 1960s the scientific climate slowly changed and logical positivism was considered untenable. But Tilllich did not experience this changed climate, which has been much more favourable for theology since the 1960s. I will investigate how the later Tillich viewed theology as science and the relationship between theology and science in his Systematic Theology (1951). Because this has to do with his view of theology in relation to the 4 5 6 7

P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), GW I, 274 f. (MW I, 247 f.). P. Tillich, Religionsphilosophie (1925), GW I, 318 (MW IV, 132). P. Tillich, Auf der Grenze (1962), GW XII, 35 f. P. Tillich, Systematic Theology, I-III, London 1968. The numbers in the text refer to his Systematic Theology (ST), and to the three volumes (I-III), rather than the five parts.

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dominant scientific climate, we should look at the following topics. 8 How does he account for theology to those who are outside the circle of theology (1.1) and for the Christian character of his theology as church theology to the faith community (1.2)? How does he deal with the academic/scientific demand for verification (1.3) and with the criticism of faith and theology made by science (1.4)? I will thereby also refer to his use of the prevailing view of rationality. I will subsequently explore how Tillich’s concern that theology be a public, academic affair can better come into its own in the new climate of the more recent philosophy of science.

1. Tillich on the Scientific Character of Theology 1.1 The Postulate of the Unconditional: The Foundation of the Human Sciences How does Tillich account for his view of theology over against the sciences? He points to the epistemological circle of the human sciences and philosophy of religion adds the smaller, theological, circle of Christian theology to it. The epistemological circle rests on the unconditional that is the foundation of knowledge in the human sciences. Tillich thus relies on a train of thought he had developed earlier in his Das System der Wissenschaften and in other writings from the 1920s. He inquires into the condition of knowledge and, like the Augustinian-metaphysical tradition, finds that in the unconditional, which he calls God. The unconditional, the idea of God, is the foundation of knowledge; it precedes our theoretical judgement and is its basis. But how do we have knowledge of God? God comes from God and that is why we cannot come to him via the world, via the conditional, as Tillich explains in connection with the concept of religion. To attempt to do so would turn God into a correlate with the world and would merge him with it. 9 There is no indirect or mediate path to God – only the immediate path of the intuition (Intuition). People appear to be aware of the unconditional, of God. “Certainty about God is certainty about the unconditional contained in and grounding the I’s certainty about 8 9

In addition to positivism, Tillich also cites Neo-Kantianism, phenomenology, and pragmatism. Because of logical positivism’s dominant position, I will limit myself to that. P. Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie (1922), GW I, 369 (MW IV, 75).

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itself.” 10 The unconditional, the idea of God, is its own proof: We are immediately aware of it. This postulate of the unconditional is described in Tillich’s works in different contexts, always with the attribute “immediacy” of the intuition. 11 Thus, the later Tillich calls this the ontological principle of the philosophy of religion according to which the human being has an immediate sense of God that precedes all division and interaction between subject and object in science. Like Augustine, he calls God truth. “Veritas is presupposed in every philosophical argument; and veritas is God.” 12 According to him, the unconditional, being itself, and the biblical God converge. In his Systematic Theology Tillich shows that the foundation of knowledge for theology, along with the human sciences and philosophy of religion, is the unconditional. He calls it the mystical a priori: “ [A]n immediate experience of something ultimate in value and being of which one can become intuitively aware […] a mystical a priori, an awareness of something that transcends the cleavage between subject and object.” (ST I, 11 f.)

This circle of the unconditional is operative in the human sciences: “[E]very understanding of spiritual things (Geisteswissenschaft) is circular.” (ST I, 12) The unconditional can only be encountered if it is already present. Thus, Tillich wants to make clear that the idea of God is already implied in knowledge in the human sciences. And thus this postulate of the unconditional can function as a gateway to Christian theology which speaks explicitly about God. This legitimizes theology for those outside the theological circle. That is, indeed, a preliminary and incomplete legitimation because Tillich will later base Christian theology on the (Christian) logos doctrine. Before looking at the theological circle, I will first comment on the postulate of the unconditional. Tillich here makes use of the metaphysical tradition in which the concept of God has a foundational function in epistemology. With Grube, I wonder if this postulate can do the job of giving Christian theology an

10 P. Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs, GW I, 378 (MW IV, 82). P. Tillich, Dynamics of Faith, MW V, 253 (GW VIII, 143). 11 P. Tillich, Two Types of Philosophy of Religion (1946), MW IV, 296 (GW V, 131). 12 P. Tillich, Two Types of Philosophy of Religion, MW IV, 290 (GW V, 124). P. Tillich, Kairos und Logos, GW IV, 54 f. (MW I, 278).

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epistemological legitimation. 13 My questions here arise because of the following concerns. 1. In itself, in my view, a metaphysical concept of God can be reconciled with the personal biblical God. 14 The problem here is that there is no direct line from the unconditional to the biblical, personal God. That demand has to be made because this postulate serves as a gateway to Christian theological discourse about the biblical God. In the Christian faith, God is indeed the starting point for knowledge and of truth, but – and that is the issue here – can the postulate of the unconditional function as an objective given in epistemology? 2. Epistemologies are usually formulated now without such a metaphysical foundation. Kant no longer based knowledge of phenomenal objects in the concept of God but in the transcendental subject. In later phenomenology since Heidegger the gulf between subject and object was bridged without appealing to the concept of the “mystical a priori” because the life world of human beings was the starting point and scientific knowledge was viewed as derived from that, as knowledge that was limited with respect to method. 3. Another objection is that the postulate is immune to criticism because it is immediate and therefore unprovable. With his search for a sure foundation Tillich is dependent on classical foundationalism which requires undoubted starting points on which the structure of knowledge can be erected. 1.2 The Theological Circle: Theology on the Basis of a Faith Position Apart from the postulate of the unconditional, theology also agrees with the other sciences in its rational character. It is rational semantically because of its clear use of concepts, logically because it does not admit any contradictions – although it does admit paradoxes – and methodologically because systematic theology is a coherent whole (ST I, 59-66). But, according to Tillich, theology also differs from other sciences in that, although it does work within the circle of the human sciences and philoso13 D.-M. Grube, Unbegründbarkeit Gottes? Tillichs und Barths Erkenntnistheorien im Horizont der gegenwärtigen Philosophie, Marburg 1998, 52 f. 220 f. 14 W. Stoker, Can the God of the Philosophers and the God of Abraham Be Reconciled? On God the Almighty, in: G. Hummel/D. Lax (Eds.), Being versus Word in Paul Tillichs Theology, Berlin/New York 1999, 206-224.

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phy of religion, its own circle is narrower. The criterion of the Christian message is added to this postulate of the unconditional, as he says in what follows: “But the circle within which the theologian works is narrower than that of the philosopher of religion. He adds to the ‘mystical a priori’ the criterion of the Christian message.” (ST I, 12)

It is the task of the systematic theologian to explain the Christian message, in which the norm is ‘the New Being in Jesus as the Christ’ (ST I, 56). Of importance for us is what Tillich remarks about the church theologian entering the theological circle. Such a theologian has to stop speaking about himself “as a scientific theologian in the ordinary sense of ‘scientific’” (ST I, 13). Why? Because the theologian abandons the terrain of objective science that has no presuppositions, according to logical positivism, and enters the theological circle where presuppositions do exist. It is not Tillich but logical positivism that holds that science is “objective” and “without any presuppositions”. Theology is done on the basis of a faith position, for theology is, after all, the methodical interpretation of the content of the Christian faith and, as such, a function of the church (ST I, 18). That requires an existential decision by the theologian, a commitment to the content of the theological circle as his “ultimate concern” (ST I, 13). Although Tillich could not call the theologian scientific in the usual sense of that time, that does not take away from the fact that, for him, theology is nevertheless still a public affair, as is also apparent from his correlation method. After all, he is searching for a point of contact with culture in that. He remarks here that, despite the concrete and special character of the Christian message, the theologian claims that that message has universal validity over against those who stand outside the theological circle. Here he has in mind theologians of other religions as well as secular culture. Apologetic theology should show that trends within all religions and cultures all tend toward the Christian answer (ST I, 18). In this context he points to the logos doctrine: the universal logos has taken concrete personal form in Jesus. “Christian theology has received something which is absolutely concrete and absolutely universal at the same time.” (ST I, 19) Tillich believes therefore that Christian theology is the theology: “The Logos doctrine as the doctrine of the identity of the absolutely concrete with the absolute universal is […] the only possible foundation of a Christian theology which claims to be the theology.” (ST I, 20)

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We will see below how far this claim of Christian theology as the theology can be maintained in contemporary pluralist culture. I am asking that we look at the notion of verification that was central in the prevailing scientific climate at that time. 1.3 Theology and Verification With respect to the requirement of verification Tillich does not choose the solution proposed by Paul van Buren and Richard Braithwaite who held that the Christian faith does not at all concern testing statements regarding transcendent entities. 15 The Christian faith is about a moral attitude in life. The price to be paid here is too high for Tillich because such a view denies the claim of theology to knowledge and truth. John Hick and William Alston are those who have come the furthest in meeting the requirement of empirical verification for theological statements. Alston investigates direct religious experiences and attempts to indicate an objective moment in them. 16 Hick gives an eschatological verification of Christian faith statements. Christian faith statements can be tested at the end of history; then we will have a good overview of the whole and can see if the Christian truth claim is verified. 17 According to Tillich, positivism is right in its claim that verification belongs to the nature of truth (ST I, 114). However, he opposes the reduction of truth to empirical truth, for that does not do any justice to how truth should be understood. Truth is to be viewed in a different way from how logical positivism views it, i.e. as the “essence of things as well as the cognitive act in which their essence is grasped” (ST I, 113). According to Tillich, the experimental or empirical method of verification should not be made the exclusive pattern for all verification. He speaks about experiential verification and refers to life processes that are the object of biological, psychological, and sociological research. The verifying experiences of a non-experimental character are truer to life, though less exact and definite. 15 P. M. van Buren, The Secular Meaning of the Gospel, London 1963. R. B. Braithwaite, An Empiricist’s View of the Nature of Religious Belief, in: B. Mitchell (Ed.), The Philosophy of Religion, Oxford 1971, 72-91. 16 W. P. Alston, Perceiving God: The Epistemology of Religious Experience, Ithaca/London 1991. 17 J. Hick, Theology and Verification, in: B. Mitchell (Ed.), The Philosophy of Religion, Oxford 1971, 53-71.

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He acknowledges the provisional nature of such a experiential verification, for the life process itself makes the test. These two methods of verification correspond to the two cognitive attitudes, the controlling and the receiving: “Controlling knowledge is verified by the success of controlling actions. […] Receiving knowledge is verified by the creative union of two natures, that of knowing and that of the known. This test, of course, is neither repeatable, precise, nor final at any particular moment. The life-process itself makes the test.” (ST I, 114) 18

The requirement of verification obtains also for theological statements. Their verification is their efficacy in the life processes of humankind. “They prove to be inexhaustible in meaning and creative in power.” (ST I, 117) Mary Ann Stenger explains this as follows: “Do past theological statements or symbols address the current human situation? What elements of truth from them should be preserved because they still hold truth for the present? What new expressions are needed to make those truths effective for the present? […] If people experience the theology as connecting them with or expressing that which is ultimate, then they will verify it. Of course, such commitments and verification involve risk. The support of people does not necessarily validate truth.” 19

In short, Tillich rejects experimental verification as the exclusive pattern for all verification. He acknowledges a parallel method of verification, i.e. experiential verification, for theology and sciences that explore life processes.

1.4 Theology in Relation to the Other Sciences I will describe Tillich’s view of the relation between faith (theology) and science by means of the schema presented by Ian Barbour, who indicates four possible relations. With regard to the present discussion I will also give contemporary examples of positions concerning the relation between

18 P. Tillich, Participation and Knowledge, MW I, 385 (GW IV, 111 f.). 19 M. A. Stenger, Tillich’s Approach to Theology and Natural Sciences: Issues of Truth and Verification, in: G. Hummel (Ed.), Natural Theology versus Theology Nature? Tillich’s Thinking as Impetus for a Discourse among Theology, Philosophy and Natural Sciences, Berlin 1994, 137.

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faith and science. Ian Barbour sketches four possible positions regarding the relation between theology (faith) and science. 20 The first position is that of conflict between faith and science. Tillich refers here to Galileo and Darwin. The consequence of the conflict is, he claims, a split between religion and secular culture (ST I, 144). An example of this position is also logical positivism with its claim that theological statements are meaningless. Contemporary examples can be found in the scientism of R. Dawkins and E.O. Wilson. 21 The second position is that of independence. Here it is stated that, for example, science is concerned with questions of fact and theology with questions of meaning. This position proposes a division of the joint property of faith and science between them. This can be found in Kant with respect to his distinction between physics and (physico-)theology, as well as in K. Barth and R. Bultmann. 22 Students of Wittgenstein now defend this position and consider science and theology to be two different language games. The third position is that of dialogue; this position looks for methodical parallels between theology and science. An example of such a parallel is that theology and science concern a non-observable reality for which both search for a special language, such as models, metaphors, and analogies. The fourth position, i.e. integration, looks for a (partial) integration of theology and science. A. Peacocke, the biochemist, provides a theology of nature, or people search for a synthesis such as that which can be found in Process philosophy. 23 The position of integration between faith and science can also be found with respect to the humanities. Tillich himself points out how, influenced by positivism in historical criticism, research was done into the so-called historical Jesus behind the gospels in order to provide a minimum of reliable facts about the man Jesus of Nazareth as a 20 I. Barbour, Science and Religion, Models and Relations, in: J. Wentzel van Huyssteen (Ed.), Encyclopedia of Science and Religion, New York 2003, 760-766. 21 R. Dawkins, The God Delusion, London 2007. E.O. Wilson, Consilience: The Unity of Knowledge, New York 1998. 22 I. Kant, Critique of Judgment, 79-85. K. Barth, A. L. Molendijk, Aus dem Dunklen ins Helle: Wissenschaft und Theologie im Denken von Heinrich Scholz, Amsterdam 1991. H. Gollwitzer, Die Existenz Gottes im Bekenntnis des Glaubens, München 1968, Hfdst 1; 2. 4. 23 A. R. Peacocke, Paths from Science towards God, Oxford 2001. A. N. Whitehead, Process and Reality, New York 1978.

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foundation for the Christian faith (ST II, 121). Tillich rejects this kind of historical apologetic as a wrong form of integration. What is Tillich’s position concerning the relation between faith and science? Tillich advocates the second position, but this does not, for him, exclude the third position, that of dialogue. The object of theology has to do with the ultimate concern, and science has to do with penultimate concerns. He draws the subsequent conclusion that knowledge that comes from revelation and ordinary knowledge differ with respect to nature and therefore do not conflict. “Knowledge of revelation cannot interfere with ordinary knowledge.” (ST I, 144) 24 Not a single result of research in the sciences or the humanities can be directly productive or disastrous for theology. “Theology has no right and no obligation to prejudice a physical or historical, sociological or psychological, inquiry. And no result of such an inquiry can be directly productive or disastrous for theology.” (ST I, 21).

For the scientist, knowledge that comes from revelation does not add or subtract anything from his scientific description of nature. The same obtains for the historian and the psychologist. This entails that theological insights are not be viewed as scientific insights. Theology is concerned with existential truth, and that is different from truth in science. It seems that, as far as theology is concerned, Tillich, like Peter Winch and N. Malcolm, advocates Wittgensteinian fideism, i.e. that the secular and religious believers live in different language games and thus in different worlds. 25 He writes: “The knowledge of revelation can be received only in the situation of revelation, and it can be communicated – in contrast to ordinary knowledge – only to those who participate in this situation. For those outside this situation the same words have a different sound.” (ST I, 143 f.)

Tillich’s position with the postulate of the unconditional is not that of the type of two models of the world. He does share with these students of Wittgenstein the view of a division of joint property between faith and science but differs from them in that he views the Christian faith as cognitive. Theology has insights that are fruitful for science as well. Moreover, he is still dependent on the universal and formal view of rationality.

24 P. Tillich, Dynamics of Faith (1957), MW V, 268-270 (GW VIII, 164-168). 25 P. Winch, Understanding a Primitive Society, Rationality, ed. by B. R. Wilson, Oxford 1985, 78-111. N. Malcolm, The Groundlessness of Belief, in: S. C. Brown (Ed.), Reason and Belief, Ithaca/London 1977, 143-157.

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Tillich’s choice of a division of faith and science’s joint property between them can be advantageous in a scientific culture hostile to theology in that faith is thus protected against scientific critique. He holds, therefore, with respect to historical criticism that “historical research can neither give nor take away the foundation of the Christian faith” (ST II, 130). For Tillich, the division of communal property does not exclude dialogue. As said he looks for a methodical parallel between theology and sciences with regard to experiential verification. It is also evident from his dialogue with the psychologist Carl Rogers. 26 Tillich recognizes that if people speak about the truth and knowledge that the Christian faith gives, then, one cannot escape making some kind of connection between what the Christian faith says about knowledge and truth and what the sciences say about truth. What theology says about creation is not unconnected with what science says about the origin and development of nature and the human being. The same obtains for the concept of humanity. The insights of psychology and theology can be fruitful for each other, if, as stated, the existentially coloured theology is not confused with scientific knowledge and truth. In passing, I will draw attention to the fact that the later Tillich also remained culture-theologian and has sought dialogue with the whole of culture (ST I, 16 f.). The relation between theology and historical criticism is problematic in Tillich. Here it seems to be a matter only of a division of communal property and not any kind of dialogue. Historical research into the Bible does not have any impact on the Bible as the book of believers. Tillich divides the two sharply and therefore has difficulty explaining the historical anchoring of the Christian faith in history. The Christian faith cannot rest on an uncertain basis like history; faith can guarantee only itself. 1.5 Taking Stock The task of theology consists, according to Tillich, in mediation. Such mediation is possible with respect to theology and the culture of science, in the following way.

26 H. Kirschenbaum/V. L. Henderson (Eds.), Carl Rogers: Dialogues, London 1990, 64-78. P. Tillich, How has Science in the Last Century Changed Man’s View of Himself (1965), MW II, 374-382 (GW III, 209-217).

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1. Theology is a public, academic affair and concerns something that plays a role beyond the theological circle in the circle of philosophy of religion and human sciences as well. He makes that clear with the postulate of the unconditional. Theology makes this unconditional explicit in its theo-logy. Moreover, theology agrees with other sciences in its rational character. 2. Tillich maintains the uniqueness of Christian theology in a scientific climate that is theologically unfriendly by arguing that theology should be done from a standpoint of faith, from the theological circle. He cannot call Christian theology scientific theology in the sense of what logical positivism understood by “scientific.” He supplements the account of his Christian theology to the church by referring to the theological circle and the logos doctrine as explained by Christian theology. 3. As far as the task of mediation with respect to theology (faith) and science is concerned, on the one hand Tillich defends a division of the community property between theology (faith) and science. Thus faith is immune to scientific critique, particularly historical criticism. On the other, he is open to dialogue between theology (faith) and science. 4. Tillich shares the view of rationality found in classical foundationalism with the scientific climate of his time. For logical positivism, sense data cannot be doubted as a test for meaningful statements. Tillich considered the unconditional to be the undoubted foundation of the human sciences. For the Christian faith he sought an indisputable foundation in the self-grounding faith in Christ as the New Being. The consequence of this search is that the historical anchoring of the Christian faith in history fails.

2. Theology in the Climate of More Recent Philosophy of Science By means of some of the issues mentioned above I will show how Tillich’s view of theology in the current academic climate can be considered scientific. 27 But I will first provide a brief impression of the changed climate with respect to science. 27 Wolfhart Pannenberg and Nancey Murphy have worked out a proposal for a scientific theology against the background of the more recent philosophy of science (W. Pannenberg, Theology and the Philosophy of Science, Philadelphia

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2.1 The More Recent Philosophy of Science Logical positivism had to give up its demand for empirical verification. This was weakened first into the principle of confirmation and later replaced by that of falsification with Karl Popper’s critical rationalism. 28 Knowledge is no longer undoubted but fallible and open for correction. Hanson’s insight that perception is theory-laden is an important insight in more recent philosophy of science. 29 There is no objective perception; rather, perception always occurs within a theoretical framework that, like spectacles, colours reality in a certain way. The perceived facts are not objective and neutral but theory-laden. The logic-positivistic notion of an objective, neutral science is therefore bankrupt. Duhem and Quine produced new insights concerning testing. As a result, Popper’s falsification method has also come under scrutiny. 30 A crucial experiment in Popper’s sense is impossible because one does not know precisely what part of one’s theory or which assumptions are refuted by an observation or experiment. Thomas Kuhn developed a new view of science, science as paradigm, whereby it is acknowledged that such a paradigm is not neutral or objective but rather one perspective on reality. 31 The view of rationality also changed in connection with these developments. A practice-oriented rationality has emerged to take the place of classical foundationalism. This no longer concerns a universal and formal rationality with self-evident statements on which the structure of knowledge can be erected. Practice-oriented views of rationality claim that rationality coheres with a certain practice such as those of science, art, religion, and daily life. Such a practice has its own criteria for rationality. For scientific rationality, for example, social evidentialism would also be a good option. This holds that people should have reasons before accepting a belief as reasonable. Here reasons no longer consist in beliefs that can be

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1976. N. Murphy, Theology in the Age of Scientific Reasoning, Ithaca/London 1990). For a general overview see G. van den Brink, Philosophy of Science for Theologians: An Introduction, Frankfurt/Main 2009. N. R. Hanson, Patterns of Discovery: An Inquiry into the Conceptual Foundation of Science, Cambridge, MA 1972. P. Duhem, The Aim and Structure of Physical Theory, Princeton 1991 (1906). W. V. O. Quine, Two Dogmas of Empiricism, in: (Id.), From a Logical Point of View, Cambridge 1953, 20-46. T. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 21970 (1962).

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directly justified but in the judgements of the community of experts. Foundationalism no longer plays any role. The only demand that can be made is that a belief be reasonably acceptable if one believes it on the basis of expert judgement. It is thus acknowledged that knowledge is fallible and open to refutation. The term “social” in social evidentialism points out that beliefs must be tested by a community of experts.32 How would Tillich’s interest in theology as a public, academic affair look like in the climate sketched just above? Because we are concerned here with the scientific character of theology, I will not discuss his correlation method here. That, after all, has to do with the question of the point of contact. 33 In connection with the above I will point briefly to two matters. I will explain Tillich’s theology in the theological circle as a scientific theology viewed as a paradigm. Subsequently, I will show how such a scientific theology provides explanations. I will indicate a narrative explanation of Jesus as the Christ, whereby the possibility of refutation is acknowledged. 2.2 Christian Theology as Paradigm Tillich held that theology proceeds from a standpoint of faith (the theological circle) and demands a commitment. That can be explained in terms of Kuhn’s view of science by looking at Christian theology as a paradigm. 34 A paradigm is the whole of convictions, assumptions, and norms with respect to scientific research by which a community of scientists works. Tillich’s demand of a commitment by the theologian with the content of theology obtains for the scientist in general. The scientist has a commitment to the paradigm in which he works and acknowledges that experiences interact with a certain pregiven perspective. Science works, in other words, not on the basis of an objective starting point and a universal rationality but within a paradigm that has the structure of a hermeneutical 32 H. I. Brown, Rationality, London/New York 1990. 33 Tillich’s correlation method, with certain corrections, can, in my view, be used in a culture that has become pluralistic. See W. Stoker, Is the Quest for Meaning the Quest for God? The Religious Ascription of Meaning in Relation to the Secular Ascription of Meaning, Amsterdam/Atlanta 1996, 208-221. The use of a correlation method is disputed by L. Boeve, God onderbreekt de geschiedenis: Theologie in tijden van ommekeer, Kapellen 2006, chapter 2. 34 Van den Brink also argues for a theology viewed as a paradigm, although without using a correlation method, Philosophy of Science, op. cit. (note 28), 193-211.

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circle. In that respect there is, formally speaking, no difference between theology and the other humanities. Tillich’s theology has a transcendental aspect, i.e. the postulate of the unconditional as a foundation for knowledge. 35 Aside from the objections to it, this does not square with the view of theology as a paradigm, for a paradigm does not have an undoubted starting point. Rationality is not neutral and objective, but a practice-oriented rationality. The theoretical suitability of the Christian faith can be shown through providing orientation concerning questions of life and referring to its existential suitability by giving a life orientation that makes life qualitatively good. A scientific paradigm is fruitful if it gives explanations and (depending on the type of science) allows predictions to be made. That also obtains for Christian theology as a paradigm. It stands and falls with how convincing an interpretation can be given on the basis of the Christian faith of God, human beings, and the world. Tillich’s claim to show that Christian theology is the theology is difficult to maintain in the current pluralistic culture. That obtains, of course, for the Christian theologian personally as well as for theologians of other religions. But in dialogue he or she is one among many. In addition to the Christian theological paradigm, there are also the paradigms of the other religions and that of secular worldviews such as humanism. Religious truth cannot be decided definitively before the eschaton. That is why a dialogue between faiths is necessary. Tillich himself provides fruitful insights regarding the relations between the Christian faith and the other world religions. 36 2.3 Narrative Explanation and Openness for Historical Criticism Because Tillich wanted to protect the Christian faith from criticism by science, he could not properly explain how a historical person like Jesus of Nazareth is Christ, the New Being. Because of the changed view of science and rationality it is now recognized that explanations can also be narrative in nature and that stories can have their own form of rationality. 35 The later Tillich maintains this, although his attention shifts to an existential approach. 36 W. Schüßler, E. Sturm, Paul Tillich: Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 149-158. Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Ed.), Religionstheorie und interreligiöser Dialog, Wien 2010 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, vol. 5).

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Tillich compares the gospel writer with an expressionist portrait painter who has painted the portrait of Christ as the New Being on the basis of Jesus of Nazareth. Here it is a matter of the transforming power of the portrait that the gospel writer painted of Jesus with his datable history. The portrait is, namely, a recreation of the person whose portrait the painter has made. We know this person precisely because of the portrait. There is only an analogia imaginis, an analogy between the portrait and the actual person who is portrayed. “But it can be definitely asserted that through this picture the New Being has power to transform those who are transformed by it. This implies that there is an analogia imaginis, namely, an analogy between the picture and the actual personal life from which it has arisen.” (ST II, 132)

Tillich is right to speak of the surplus value of the portrait of Jesus Christ that the gospel writer composes from his sources. But it is not necessary to compare this to painting. Imaging not only has to do with the visual image of a portrait but also with the semantic renewal that a story provides. Instead of explaining the image of the gospel writer of Jesus as the Christ via painting, I would emphasize the semantic character of the image in the gospel story. Justice is thus done to the explanatory character of theology with the recognition of the historical character of the gospel. The semantic model of the image is the metaphor and the narrative. Metaphors have the ability to say something in terms of something else, whereas narratives can say different things at the same time and can thus say something new and also give an explanation of apparent contradictions in the behaviour of someone or the coherence of events in someone’s life. Imagination is the ability of a storyteller to give coherence to heterogenous elements in someone’s life story so that an explanation can be given. A gospel writer like Mark gives a narrative explanation that this historical person Jesus of Nazareth is the living Son of God. Mark explains in a narrative way that this Jesus, mighty in word and work, is paradoxically the suffering Son of Man. To follow his gospel story is to follow a narrative reasoning whereby at the end of the story the reader has to declare if he found this narrative explanation of Jesus as the Son of Man convincing. 37 37 See W. Stoker, Is Faith Rational? A Hermeneutical-Phenomenological Accounting for Faith, Leuven 2006, 144-160. In interpreting the Gospel, the story should have precedence above the symbol so to do justice to the “narrated time”. (W. Stoker, Faith, Truth and History, in: G. Hummel (Ed.), Truth and History – A Dialogue with Paul Tillich, Berlin/New York 1998, 119.

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To emphasize with Tillich – albeit differently – the image character of the gospel story does not remove the question of historical criticism. Because it concerns the life and works of the historical person Jesus of Nazareth we can speak, in distinction from the gospel story as a “world of the text,” of a “world behind the text”. The evangelists have forged divergent historical sources into their gospel story. The question of the historical reliability of the gospels cannot be passed over because the issue here is that of a God who acts in the life of Jesus of Nazareth with his datable history. That is why, in my view, faith in Christ as the New Being should be open to possible historical falsification. In this respect the Christian faith is vulnerable to historical criticism. Does it then lack certainty, as Tillich held? Faith is a matter of ultimate concern and our commitment is complete. Can this commitment be complete here as well? How can a total commitment be defended? Is it unreasonable to assent to something completely if we do not have undoubted arguments for it? According to the so-called rule of proportionality, the extent of assent to something depends on the kind of grounds that we have for something. In my view, this rule does not obtain in every situation. There are many things in life for which we have little evidence and yet for us they are certain. In daily life, in politics, and in religion people often have sure beliefs without having undoubted arguments for them. The degree of assent often exceeds the kind of reasons we have for such assent. That can be the case even in science. Whenever a researcher is pursuing a new theory or explanation for something, he must initially have a commitment to his research that transcends the grounds for it. The problem is not that we do not have any undoubted arguments for the Christian faith. A problem does arise if complete assent is equated immediately with a dogmatic assent. That is an assent that does not go into the objections made against the belief and yet holds on to that belief, even though one knows that the belief is unfounded. My conclusion is that, unlike the view of theology in the climate of science influenced by logical-positivism in Tillich’s time, his view of theology from the theological circle, can be viewed in the current climate of science as scientific theology: theology as a paradigm. A practice-oriented rationality no longer makes the strong claim of undoubtability. The immunization of the Christian faith with respect to historical criticism is thus to be given up. Precisely in that way justice can be done to Tillich’s interest in theology as a public affair, also in the scientific sense. In this connection it is important that Tillich is open to the dialogue with science.

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His theological view of nature can be made fruitful in such a dialogue with the sciences. 38

38 G. Hummel, Natural Theology versus Theology Nature? Tillich’s Thinking as Impetus for a Discourse among Theology, Philosophy and Natural Sciences, op. cit. (note 19).

“A kind of metaphysical dizziness.” Tillich’s Theology of Culture and the Encounter with “non-art” RUSSELL RE MANNING “A kind of metaphysical dizziness grasps us.” 1

1. Introduction In 1965 at the University of Santa Barbara, California, Paul Tillich delivered what was to be his last ever lecture on the relation between theology and art. America’s most prominent public theologian, the seventy nine year old Tillich took as his title Religious Dimensions of Contemporary Art. (AA, 171-187) After sketching out his understanding of the concept of “religious dimension” and his theoretical framework of the three defining “elements” of works of art that make possible the discernment of religious dimensions within artworks (all of which is familiar Tillichian material, even if the precise details of its expression vary slightly), Tillich turns his attention to “the most recent stage in the development of the visual arts” (AA, 180). He refers here to the following works: Willem de Kooning, Woman I (1952), George Segal, The Dinner Table (1962), Roy Lichtenstein, Engagement Ring (1961), Tom Wesselmann, Still Life #30? (1963?), Robert Rauschenberg, Inside-Out (1963), Jasper Johns, Out the Window (1959), Clau[e]s Oldenburg, Interior (1962?), José De Rivera, Homage to the World of Minkowski (1954-55). He asks: “What are we to think of such works?” which he clearly finds unsettling. (AA, 181) For Tillich, these works are something new and require new concepts to make sense of them, including his own. “Reality is encountered today in a different way. Our artists, in their honesty, show us that. They express a sense of something uncanny, something unfamiliar.” (AA, 182) 1

P. Tillich, Religious Dimensions of Contemporary Art, in: J. Dillenberger (Ed.), On Art and Architecture, New York 1987, 182 (=AA).

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In this paper I want to explore why Tillich is so ill at ease with these works and what this disturbance might teach us about the limits of Tillich’s project of theology of art and of the prospects for future work in the theology of culture. My paper has two main sections. In the first, I outline the interpretative strategy of Tillich’s theology of art; in the second, I examine how the new developments Tillich refers to in his 1965 lecture threaten to pose a serious challenge to this enterprise.

2. The Two Absolutes as the Basis of Tillich’s Theology of Culture I begin with two bold claims. Firstly, I find that the basic intentions and core assumptions of Tillich’s theology of art are consistent from his earliest writings through to his last lecture, even whilst the specifics of his terminology differ. Secondly, and following from this, I identify the essence of Tillich’s Kunsttheologie as grounded in the fundamental problem that his theology is framed to address, namely the problem of “the two absolutes” (Two Types of Philosophy of Religion [1946]). This Tillich describes as “the problem in all problems of the philosophy of religion” 2 . Sounding unsurprisingly Schellingian, Tillich describes the two absolutes as two ways in which Western humanity has “overcome its old-age bondage under the ‘powers’, those half religious, half magical, half divine, half demonic, half superhuman, half subhuman, half abstract, half concrete, beings who are the genuine material of the mythos” 3 . The problem of the two absolutes is the problem posed by the interrelations between the dual subjection of the mythological powers: religiously to the absolute God (theos) and philosophically/culturally to the absolute principle of being (esse). According to Tillich, the problem finds its sharpest expression in “the simple statement: ‘God is’”4 . Perhaps surprisingly to those of us for whom Heidegger’s – not dissimilar – worries about the “ontotheological constitution of metaphysics” have become canonical, Tillich’s answer to the problem of the two absolutes is to affirm what he calls the “Augustinian solution”, over against 2 3 4

P. Tillich, Ausgewählte Texte, ed. by Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm, Berlin/New York 2008, 290. P. Tillich, Ausgewählte Texte, op. cit. (note 2), 289. P. Tillich, Ausgewählte Texte, op. cit. (note 2), 290.

“A kind of metaphysical dizziness”

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what he calls the “Thomistic dissolution”. Thus, interestingly, whilst their concerns are, in this sense, similar, Tillich’s response differs markedly from Heidegger’s call to separate out theology and ontology to enable a purified “fundamental ontology of Being” and a distinct theology as the positive science of revelation – a dynamic echoed in many ways by Karl Barth. In spite of his well-known insistence upon the denial of the existence of God, Tillich is clear that the way to overcome the destructive “Doppelheit” of the two absolutes is via their solution in the recognition of their coincidence in the nature of truth. 5 Following Augustine, Tillich affirms “deus est esse”. By contrast (and via a somewhat controversial reading of Aquinas), Tillich identifies the Thomistic dissolution as answering the question of the two absolutes “in such a way that the religious absolute has become a singular being of overwhelming power, while the philosophical absolute is formalised into a given structure of reality in which everything is contingent and individual” 6 . To get to the bottom of Tillich’s Kunsttheologie, it is, I propose, necessary to recognise this fundamental character of Tillich’s overall project of Kulturtheologie, indeed of his overall project of theology itself. For Tillich, theology of culture is never the application of religious criteria to nonreligious cultural phenomena: It is precisely not a “theological” or “religious” reading of secular realities. Instead, it is descriptive – in essence – of the task of the Augustinian solution of the problem of the two absolutes, understood as the coincident subjection of the mythological powers (or in Tillich’s more usual terminology “the Unconditional”) in the statement “deus est esse”. Kulturtheologie is, then, the attempt to expose – via general and specific analyses – the always already coincidence of deus and esse in those philosophical/cultural subjections of the Unconditional in which the subjecting authority of the absolute principle of being predominates. By comparison, Kirchentheologie concerns itself with exposing the coincidence of the “onto-theological” in the religious subjections of the Unconditional in which the absolute God is definitive. In both cases, what is fundamental is that neither religion nor philosophy/culture are (to misapply a more recent term in the philosophy of religion) “properly basic”. What is “properly basic” are the original mytho5 6

P. Tillich, Ausgewählte Texte, op. cit. (note 2), 30. P. Tillich, Ausgewählte Texte, op. cit. (note 2), 294.

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logical powers (remythologised as the Unconditional) which unremittingly push against their subjection to religious and cultural forms. It is the common goal of both Kirchen- and Kulturtheologie to bring to clearer expression the subjected Unconditional that both enables and exceeds the phenomena of church and culture. Although Tillich does not use these terms, it may be helpful to clarify the distinction here as that between “revealed” and “natural” theologies. For Tillich, both the religious and the philosophical/cultural responses to the mythological powers/Unconditional are “theological”. That is to say, both are responses characterised by “ultimate concern”. For the religious response “God” becomes the “object” of ultimate concern; for the philosophical/cultural response it is the principle of being that occupies this position. Both however, only function as discourses of ultimate concern to the extent to which God and being respectively are held to “stand for” and “defer to” the true “object” of ultimate concern, namely the original Unconditional: the “God above God” of true religion and the “power and depth” of being and meaning of true philosophy. Hence, “religious theology” or what I am calling “revealed theology” is the attempt to bring to clearer and systematic expression the theological “content” of religious discourses and practices. The analysis of this revealed theology is what Tillich names as Kirchentheologie. Alongside this stands Kulturtheologie: the analysis of “philosophical/cultural theology” or, in my terms, “natural theology”, namely the attempt to bring to clearer and systematic expression the theological “content” of culture.

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KIRCHENTHEOLOGIE

KULTURTHEOLOGIE

analyses “revealed theologies” (“religious theologies”) which describe and systematise religious discourses and practices

analyses “natural theologies” (“philosophical/cultural theologies”) which describe and systematise cultural discourses and practices which are expressions of the philosophical/cultural (i.e. in terms of the absolute principle of being) responses to the mythological powers/the Unconditional

which are expressions of the religious (i.e. in terms of the absolute God) responses to the mythological powers/the Unconditional

The crucial point here for the purposes of this paper is that all developed reflection on the human condition is theological (either revealed or natural), against the tendency of some Barthian, and more recently Radical Orthodox thought to interpret (and condemn) the philosophical/cultural discourses and practices as “non- or a-theological”. A further side point is that in Two Types of Philosophy of Religion Tillich recognises that the revealed and natural theologies that he proposes to analyse can both take two different forms, what he calls “the ontological” and what he calls “the cosmological”. In the case of the ontological, the religious and/or cultural discourses and practices recognise the immediacy of the response to the Unconditional and its radical intimacy to all else. In traditional theological language this is, of course, designated by the notion of “immanence.” In the case of the cosmological, the religious and/or cultural discourses and practices stress the mediated character of the response to the Unconditional and its radical difference from all else; in other words, the notion of transcendence. To conclude this section, I simply want to recognise one important consequence of this interpretation of Tillich’s fundamental theoretical framework, namely, that for Tillich, genuine atheism is simply impossible. All religion and all culture is in essence derived from the basic (humanising) grappling with the mythological powers/Unconditional; and hence all religious and all cultural discourses and practices, no matter how avowedly

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secular or nihilist they may appear to be, are all expressions of ultimate concern.

3. Tillich’s Theology of Art So, from the deep structural foundations of Tillich’s Kulturtheologie, to the architecture of his Kunsttheologie, understood as his analysis of the ways in which the problem of the two absolutes is expressed in artistic discourses and practices, either directly by engaging with artworks themselves or via an engagement with the second-order reflections or systematisations of artistic phenomena, namely art theory, or what I would call the “natural theologies of the arts”. For Tillich, art is that aspect of culture in which the origins of culture itself are most immediately apparent. In other words, art is culture in its most self-aware. As such it is culture in its purest form: discourses and practices in which the original shock of the mythological powers in manifest anew. This is what Tillich means by his frequent references to the way in which art and the artists who create it express the spiritual situation of a particular period. For Tillich, the very act of artistic creation witnesses to the philosophical/cultural response to the Unconditional: In artistic creation the artist attempts to subject the mythological powers to the absolute principle of being in a specific form. S/he attempts to contain in a conditioned form the uncontainable excess of the Unconditional. Just as the photographer attempts to capture mobile reality in a frozen image, so all artists, for Tillich, re-present the fundamental human endeavour to overcome ‘its old-age bondage’ to the mythological powers of God and being. Artworks are thus understood to be constituted by three elements: their form (the way in which they re-present), their subject matter (that which is presented), and their “substance”, “depth-content” or “Gehalt” (that which is re-presented – i.e. the answer that they give to the threat of the Unconditional). Famously, of course, Tillich is remarkably relaxed about the subject matter of artworks: The presence of religious content (religious in the narrow sense) in no way guarantees the vividness of the re-presentation of the subjection of the Unconditional that is definitive of great art. That instead is shown forth for Tillich by his final category, namely “style”. Style for Tillich is what determines an artwork as an artwork and thus, its importance for cultural-theological analysis. To put it rather flippantly,

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only if an artwork has style is it really an artwork; and some styles are more genuinely artistic than others! Hence the burden of Tillich’s art-theological analyses is to identify and evaluate the different artistic styles. To some extent this is a rather mundane exercise, given the obviousness of stylistic differentiation within the arts and art theory. At the same time, however, it is a strikingly bold endeavour. Effectively, Tillich is re-interpreting the notion of artistic styles as themselves alternative approaches to the fundamental cultural task of the subjection of the Unconditional to the conditioned discourses and practices of culture. Thus the difference between Impressionism and Expressionism, say, is not, for Tillich’s theology of art, to be found in their different treatments of light and colour, nor in their different use of distorted proportions, but rather in their different attitudes of ultimate concern. Artistic style, interpreted art-theologically, is in effect, equivalent to a theological stance towards the Unconditional. Equally, although this is under-developed by Tillich, the art-theological interpretation applies to theories of art, as much as it does to individual artworks or artists. Theories of art, in this view, effectively make explicit the character of the artworks they describe and thus are themselves expressive of a particular style. Hence, it is not surprising that Tillich not only interprets German Expressionist artworks as embodying a particular art-theological significance, but also interprets the Expressionist theory of his friend Eckhart von Sydow as itself exemplary of the expressionistic style. This last point is, I think, of particular relevance to those critiques of Tillich’s theology of art that find Tillich’s interpretations inadequate in the face of the “authoritative” art-theoretical interpretations. If it were the case that Tillich’s art-theological interpretation of say expressionism were simply offered as an alternative interpretation to be placed alongside other art-theoretical accounts, such as those of the practicioners of expressionism or their authorised interpreters, then Tillich’s account would indeed be vulnerable to the criticism that it fails to do justice to the artworks themselves as opposed to the more technically competent interpretations. And yet, this is not what Tillich’s account intends to do. Tillich’s arttheological analysis is the attempt to do something quite different from that attempted by theories of artistic style. Theories of art aim to express more clearly the ways in which certain art functions as art. By contrast, Tillich’s theology of art, aims to analyse the character of the artwork or movement or theory at hand as a response to the fundamental theological

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question of ultimate concern. In brief, art theory is concerned with the ways in which a work of art attains the quality of being an artwork; Tillich’s Kunsttheologie is concerned with how, as such, it re-presents the origin of culture. Another way of putting this same point is to return to my table: For Tillich, theories of art are “natural theologies” in the same way that theories of big bang cosmology or biological evolution by natural selection are “natural theologies”. As elements of the philosophical/cultural strand of our basic human response to the Unconditional they are, appearances notwithstanding, expressions of ultimate concern no less that the religious theories of reincarnation or justification by faith alone. Of course, none of this implies that there are no difficulties with Tillich’s conception of the task of theology of art, nor that the structure of theology of art as he conceives it is without its problems, nor even that Tillich’s particular art-theological analyses of artistic styles are necessarily particularly convincing. Far from it. However, my aim here is not to explore these difficulties: although this is something that I hope to develop further in future work. Instead I want to return to where I began, namely Tillich’s final lecture on Religious Dimensions of Contemporary Art.

4. The Threat of “non-art” As noted earlier, there is nothing particularly remarkable about the way in which Tillich set out his theoretical framework in his last lecture. True he does endorse the language of “dimensions” rather than “layers” or “sectors” and he collapses the third constitutive element of an artwork (Gehalt) into the notion of style, both of which are modifications to his previous expositions. However, the basic assumptions and the essential character of his approach to artworks remain unaltered. But there is something new in this lecture: or at least an indication of something far more significant than simply a minor tweaking of Tillich’s terminology. This is his creeping concern that a cultural shift has taken place in the course of the twentieth century that marks a decisive break with our cultural past. In the seemingly unremarkable set of late 1950s – early 1960s artworks that Tillich lists as exemplars of “the most recent stage in the development of the visual arts”, he clearly senses something more decisive than simply the emergence of a new artistic style, which in itself would be rather remarkable. (AA, 180) Instead he finds himself responding to these

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works not with an art-theological analysis of the way that their style exhibits ultimate concern, but with a profoundly disturbing worry. He asks: “Is there something creative, original, and brilliantly new in these works?” (AA, 181) And follows with a barrage of further questions: “What is the meaning of art itself? Are we now in a period in which not only encountered reality has become unfamiliar to us, but in which even the concepts with which we have dealt with reality have become impossible? Is this new art an art of nonart?” (AA, 182)

In short, these recent works seem to have given Tillich cause to question the fundamental framework of his Kunsttheologie itself. Of course, these may simply be the confusions of an old man confronted with the bafflingly unfamiliar world of a younger generation, or the disappointment of a cultured German intellectual with a rather high-brown mandarin taste for serious expressionist art in the face of the flippantly shallow aesthetic of pop art. Or, may be Tillich has sensed something more interesting – and more disturbing. The key I think is in his use of the term “nonart”. He continues in a powerful passage that seems to anticipate many of the themes of what will later be term the “postmodern”: “There are fascinating, artistic elements, expressive elements in this new art; but at the same time, one finds an element of style that is ‘nonart’. In other realms of culture, similar phenomena are emerging. There is a religion of nonreligion, a religion that has nothing to do with the religion of individuals or groups in the traditional sense. There is a theology that makes use of a language ‘without God’ […] we now seek to speak of God without speaking of God. Or consider psychology. This word means the knowledge of the soul, psyche, but today the word soul is almost a forbidden word. Or philosophy, which derives from philia loving, and Sophia, wisdom, now seeks to avoid the question of wisdom, that is, dealing with the principles of reality and the meaning of life, and instead concerns itself with logical and semantic calculation. Even music now ignores the muses, the goddesses of art, and seeks simply to combine noises together.” (Ibid.)

Here Tillich in the mid 1960s identifies a puzzlingly paradoxical religious and cultural situation, marked apparently by the emergence of that which Tillich had previously deemed to be impossible: nonreligion, nontheology, nonart, nonpsychology, nonphilosophy, nonmusic. In short, nonreligion and nonculture: religion and culture that have no relation to the Unconditional, no concern whatsoever. Religion and culture, in other words, that refuse their own essence. This is the situation of the end of religion and the end of culture: genuine atheism, achieved not through the passionate

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denial of the existence of God nor by the establishment of the incoherence of theism, but rather through complete indifference. In a way that surpasses even the empty formalism and narcissistic selfintrospection of the doctrine of art for art’s sake, these latest artistic developments indicate to Tillich that during the course of the twentieth century art itself seems to have come to an end. The works he refers to are, in Tillich’s sense of the term, without style. They are without meaning – beyond even the meaningful declaration of their meaninglessness. Unlike all other works of art, they have nothing to say; they are transparent to nothing, the re-present nothing, they just simply are. In short, they are artworks that are not artworks at all but simply objects. As such, none of Tillich’s categories can apply, with the result that he is left lost and bewildered in the face of this apparently uninterpretable reality. He finds himself with “a whole cemetery of dead categories. And this certainly is a situation which makes us dizzy: A kind of metaphysical dizziness grasps us” (ibid.). He then it seems that Tillich’s theology of art has finally run its course; he has nothing to say, can have nothing to say. However, he continues: “Yet we must encounter it.” (Ibid.) Tillich here confronts the possibility that none of his interpretative art-theological categories can obtain any purchase on this radically new phenomenon of an art that is a nonart within a culture that is a nonculture. And yet nevertheless his final word is not one of defeat, but one of hope; hope that in spite of appearances there is a future for the Kunst-/ Kulturtheologisch task and that somehow – and here he defers to a younger generation of theologians of art – this nonart and nonculture will show itself to be, in fact, a new art and a new culture expressive of a new manifestation of ultimate concern and not the mindless inhuman(e) refusal of concern. As he puts it in the final paragraph of his final lecture on this topic: “We cannot look at our world as if it were the familiar one from which our generation came. For the younger generation the present arts are not unfamiliar. They know that contemporary art is more adequate to the world that has been transformed by the sciences and by technical processes. From the standpoint of the religious dimension of reality, let it be that way, because this period of history and the changes in which we find ourselves are a manifestation of the inexhaustible character of the creative ground of all reality.” (AA, 182-183)

Of course, whilst it would be nice to leave the last word here to Tillich, his final lecture was followed by a question and answer period (reproduced in On Art and Architecture) and indeed important questions remain. Prima-

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rily: Why do these works of (non)art affect Tillich in this way? What, more precisely, is it about these works that causes them to escape all the categories of Tillich’s Kunsttheologie? Is Tillich in any way correct in his discernment of something radically new about these works, or at least elements of something radically new within them? And finally, is Tillich’s courage to encounter these uncanny works itself justified, or ought we really to accept the limitations of Tillich’s project of theology of art and recognise its particular cultural embeddedness? I begin with the first two questions: What it is that provokes Tillich to the radical suggestions and whether he is correct to be so provoked. To answer these questions we must pay close attention to the works that Tillich refers to themselves. Here I must make two cautionary points. Firstly, whilst Tillich refers to eight specific works by eight different artists, it is clear that it is not just these eight works in themselves, or indeed these eight artists in particular that are significant. These are rather exemplary works characteristic of what Tillich designates as recent developments. Exactly why he refers to these particular eight works is less clear, although given Tillich’s preference for referring to works that he has seen himself in person, we might speculate that these works, predominantly located at the time in New York galleries, are simply those that Tillich is best acquainted with. Similarly, the extent to which these works can really be said to be exemplary of the latest trends in art in the mid 1960s must also be questioned. They are, apart from anything else, an eclectic bunch, ranging from the messy neo-expressionism of de Kooning and Johns to Lichtenstein, Wesselmann and Olderburg’s pop art, and from the frozen stillness of Segal’s mute figures to the fluid geometry of de Rivera. Perhaps, at least part of the reason for Tillich’s difficulty in identifying and analysing the style of this art lies in the over-abundance of different stylistic elements in the works he has chosen to consider? There are also, of course, significant notable absences, although this is always easier to see in retrospect than at the time. A second, more mundane, point is that it is not in every case clear exactly which works Tillich is referring to. Most of Wesselmann’s works are entitled Still Life and many of Oldenburg’s are Interior. With these cautions in place, we can nonetheless follow Tillich in his attempt to attend art-theologically to these representative works. As Tillich notes, these works need to be located historically “after” the dominant style of the early twentieth century, and that style with which Tillich’s analysis is particularly conducive, namely, of course, expressionism. Here

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then is the first clue to Tillich’s unease in front of these works: that they are interpreted as explicit reactions to the most art-theologically interesting style of expressionism. As Tillich writes: “An artistic revolt against the disruption of the surface reality is taking place. Artists are attempting to attend to the conventional aspects of experience again […] It is a desire for concrete meaning, for filling the everyday reality with the discoveries which have been made by the expressionistic ventures into the depths below the broken surface of nature.” (AA, 180)

Here Tillich notes de Kooning’s “attempt to return to the human figure and the human face”, Lichtenstein’s use of “comic-strip figures that are all surface and bring the most vulgar daily reality before our eyes”, Wesselmann’s “desire to remain in the midst of everyday reality” and Oldenburg’s use of “contingent, casual elements of nature” (AA, 180-181). But what differentiates these works from those of that other postexpressionist movement that Tillich encountered first hand in Germany in the 1920s, namely neue Sachlichkeit, which Tillich confidently interprets art-theologically as “belief-ful realism”? For example, in his 1929 essay Religiöse Verwirklichung, Tillich endorses neue Sachlichkeit as a “new realism [that] tries to point to the spiritual meaning of the real by using its given forms” producing an art that “is driving toward a self-transcending realism […] which should be understood and supported by Protestantism because it has a genuinely Protestant character” (AA, 71). Why, in short, are the works of George Grosz and Otto Dix representative of a style of “belief-ful realism” whereas the art-theological significance of Segal, Lichtenstein et al is so puzzling and resistant to analysis? Both movements (if we can call them that) Tillich emphasises are attempts to drive forward beyond expressionism to the undistorted surface reality of things without returning to the comfortable bourgeois capitalist realism of pre-expressionist art. And, he also stresses that neither make a clean break from expressionism. So what is the difference? Tillich gives no clear answer; but perhaps he gives us two clues. Firstly, in trying to account for the success of pop art, he notes – perhaps with some surprise – “the fascinating power they have exerted with many people” (AA, 182). So perhaps something of the difference here is to be found in the very popularity of pop art? Its very accessibility and its undemanding immediacy, mean that this work attracts widespread popular admiration and is strikingly resistant to any analysis whatsoever; not only Tillich’s! Here perhaps Tillich is not so far from the established theorist of this type of art, Arthur C. Danto, who, in effect, affirms that the art works

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themselves are not to be subject to interpretation or analysis, our attention is instead to be directed to their setting (the fact that they are exhibited as art) and the concepts that they enact. 7 In other words, the difference between the new realism of the 1920s and the ‘return to the figural world’ of the 1960s is that whilst the former demand patient and careful attention, the latter do not place any such demands on time – of neither the creator, the critic, nor the audience. The second clue that Tillich gives us as to the difference between these two movements is his repeated references in his 1965 lecture to the transformative effects of “the sciences and technical processes” (AA, 183). With Heidegger, Tillich recognises technology as fundamental to the existential situation of humanity in the modern era. Technology, understood as a mood (Stimmung) or attitude towards reality, reduces encountered objects to things available for our manipulation and use and in so doing refuses to recognise the stubborn otherness or integral autonomy of the objects of our world. Perhaps Tillich is implying that the difference between the 1920s and the 1960s lies in the triumph of technology, that in the latter context is valued for its own sake and accepted and celebrated as what seems to be natural. It is perhaps then no accident that the superficial banalities of everyday life that characterise pop art are manufactured items masquerading as natural, given or found objects. Whilst it may be true to say that neue Sachlichkeit purged expressionism of its romantic elements, it nonetheless retained the expressionists’ ambivalence towards technology. Not so pop art, whose embrace of the naturalness of the technical sits perfectly at home with the technological consummation of the post-war American consumer boom. Once again the result is that the works of the pop artists and their contemporaries simply do not ask to be interpreted. Just as the products they depict, these works are presented as productions that require nothing other than to be used. This production line conception of art, of course, echoes Walter Benjamin’s famous question of the status of art in the age of mechanical reproduction. Again, this is art which paradoxically does not demand to be treated like art: It does not require attention, indeed it positively discourages it. So much for the possible reasons for Tillich’s unease; it is now necessary to ask further whether Tillich was right to sense that the attempt at an art-theological analysis of these works will only result in “a kind of meta7

A. C. Danto, After the End of Art. Contemporary Art and the Pale of History, Princeton 1997.

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physical dizziness” (AA, 182). To put this another way, is Tillich selling his own interpretative framework short in his apparent concession of defeat? Might it not afterall be possible to stage a Tillichian art-theological analysis of pop art, even if Tillich himself seemed reluctant to do so? Well, in one sense, the answer has to be – “yes, of course!” Even if we accept the outlines of Tillich’s tentative descriptions of pop art as a nonstyle, this surely could be interpreted precisely as its style. In the same way that many would deny that abstract art is without content because it has no definitively identifiable subject-matter, so it could be with pop art. Indeed, Tillich’s own comments all but confirm this: The style, as yet unnamed, of the recent developments in the visual arts in the mid 1960s is surely none other than that of a post-expressionistic return to the figural world of objects and people as products of a hurried technological consciousness. As such, this art is a clear exhibition of the new situation of the late 1950s-early 1960s: It both illustrates and is itself caught up in the incessant business of everyday life dominated by a just-in-time, prepackaged, one-use-only consumer culture. Rich material indeed for a (neo) Tillichian art-theological analysis. This style, which we can now recognise as “postmodern” is indeed distinctive and yet equally parasitic upon other styles, which it playfully makes use of, often ironically, for its own purposes, namely the celebration of the hyper-abundant presence of the “now”. Postmodern art – and Tillich’s examples are in this sense well chosen – does not aim to delve back behind or beyond the appearances of things to locate their mysterious essence or foundation of the superficial here and now in some hidden depths or transcendent ideality, instead it proclaims the immediacy and opacity of the given moment as an end in itself. Segal’s frozen conversations, like video stills or CCTV frames, aim surely to capture and to preserve the newness of an ordinary moment, not to body forth the Platonic form of dialectic. Likewise, Lichtenstein’s cartoon-strip works take us to the very moment of a particular narrative, normally decontextualised, to give us the feeling similar to that of overhearing a snippet of conversation of a passer-by. Similarly, Wesselmann’s Still Life, the work that most explicitly celebrate the consumerist present, shows us the overabundance of products arrayed before us in all their best-before freshness. The style of the postmodern is then as Tillich perhaps intuited but did not develop the style that refuses to be positioned alongside other styles within the historical canon. Unlike artistic styles that attempt to penetrate into the secrets of our world and to lift the veil of Isis to expose the hid-

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den truth behind the appearances, postmodern arts is content simply to re-present the here and now precisely as we live it. This is its style: art “en direct”. Of course, ironically, precisely in this stance against its own ossification into an artistic style amongst others, postmodern art thereby defines its own style. Hence, far from causing the collapse of Tillich’s project of Kunsttheologie, this development of postmodern art, and of the postmodern turn within culture generally, demands exactly the kind of arttheological analysis that Tillich applied to the then radically new (and in some respects proto-postmodern) art of the early twentieth-century avant garde. That Tillich himself did not see this perhaps says more about him and his own limitations in applying his Kunsttheologie beyond his own cultural Heimat than it does about the limitations of his Kulturtheologie per se. Indeed, the contours of a Tillichian art-theological analysis of the postmodern style often unwittingly expressing its ultimate concern with the experience of the Unconditional are already indicated in my comments above. Again, the full development of such an analysis requires further work, including engagement with those contemporary theologians of culture, such as Mark C. Taylor, who make use of what are recognisably modified versions of the framework of Tillich’s theology of art.8 But finally, to conclude, I want to return to Tillich’s metaphysical dizziness. For most of us, of course, the experience of metaphysical dizziness is most likely to be produced by reading Parmenides’ poem, Book Lamda of Aristotle’s Metaphysics, or Wittgenstein’s Tractatus. But this is surely not what Tillich – a master performer on the high-wire act of speculative metaphysics – has in mind. Instead, what disturbs Tillich is the threatening sense that what this art really demands is not simply a new theological interpretation but a new Kunsttheologie in toto. And here, finally, I want to suggest that there may be some truth in this suggestion. Not only Tillich’s personal artistic taste, but also his overall theological project was deeply and perhaps irredeemably shaped by his immersion in the revolutionary cultural context of post-World War I Germany. Others have noted in greater detail the ways in which Tillich’s project of theology of art is determined by the very cultural situation that he sought to analyse: a fatal over-embeddedness that strips Tillich’s art-

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M. C. Taylor, Disfiguring. Art, Architecture, Religion, Chicago 1992.

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theological analyses of any power of critical distance. 9 If these interpreters are correct, and Tillich’s programme of theology of art is definitively determined by the expressionist culture from which it emerges, then an expressionist culture-theological analysis of a genuinely post-expressionist culture can only ever fail. More specifically, it is, as Tillich rightly emphasised, a defining feature of expressionism – be it in culture or theology – that it is seriously concerned with metaphysical questions, the most basic of which of course is that of the Unconditional. Thus, Tillich’s confidence that all cultural phenomena express, albeit implicitly, a “natural theology of ultimate concern” is derived as much from his cultural expressionism as it is from his theological presuppositions. Post-expressionist, or postmodern, culture is by contrast markedly post-metaphysical in its interests. Beyond the great anti-metaphysical struggles of both post-Carnapian analytical philosophy and post-Heideggerian continental thought, the postmodern consensus is one in which philosophy is profoundly (or should that be shallowly) indifferent to metaphysical concerns. Hence, the question of the Unconditional is one that is just not posed at all; more than this: It is neither repressed, nor avoided, nor resisted, nor even deferred. It is just not even noticed. It is in this sense that we might say that it is the postmodern triumph of the now that represents the true death of God: a death by neglect, inattention and ignorance. This then, is the metaphysical dizziness that Tillich feels when faced with the nascent works of postmodern culture in 1965; the feeling that quod impossible est has come to pass and that a sacred void is taking hold at the centre of humanity’s cultural and religious life. No longer a series of implicit natural theologies, whose concealed theological commitments can be teased out via Tillich’s careful cultural-theological analyses, instead the discourses and practices of this new reality ‘transformed by the sciences and by technical processes’ are just blankly non-theological. This is the new face of secularism and Tillich recognises it will require a new theological response. This then is the future of Kunsttheologie: “Yet we must encounter it.” (AA, 182)

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P. Steinacker, Passion und Paradox – Der Expressionismus als Verstehenshintergrund der theologischen Anfänge Paul Tillichs. Ein Versuch, in: G. Hummel (Ed.), God and Being. The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich, Berlin 1989, 59-99.

Der Begriff Angst im Kontext der Kulturtheologie Paul Tillichs PETER SCHÜZ Am 3. Juni 1949 fand in New York City das 39. Jahrestreffen der American Psychopathological Association statt. Im Tagungsprogramm dieses Kongresses, der zahlreiche namhafte Autoritäten der psychopathologischen Forschung zum Thema Angst zusammenführte, ist auch Paul Tillich mit einem Vortrag vertreten. Der Tagungsband mit dem Titel Anxiety, herausgegeben von Paul Hoch und Joseph Zubin, erscheint im Jahr darauf und in ihm auch Tillichs Beitrag mit dem Titel Anxiety-Reducing Agencies in Our Culture. 1 Es ist eine der ersten umfassenderen Abhandlungen Tillichs zum Begriff Angst, in der bereits wichtige Grundeinsichten aus den Schriften der folgenden Jahre angelegt sind. In der Auseinandersetzung mit Psychologie und Existenzphilosophie stellte Tillich erstmals Angst als ein tief im menschlichen Sein verwurzeltes Prinzip und als einen fundamentalen Grund des menschlichen Wesens fest. Angst ist die „negative Seite“ des „letztlich betroffen sein[s]“ des Menschen in der Begegnung mit dem seine Existenz bedrohenden ‚Nichts‘. 2 Für die Kulturtheo-

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P. H. Hoch/J. Zubin (Hg.), Anxiety, New York 1950. Für den Beitrag Tillichs, vgl. P. Tillich, Anxiety-Reducing Agencies in Our Culture, MW II, 239-247 und in deutscher Übersetzung: P. Tillich, Angst-reduzierende Kräfte in unserer Kultur, GW X, 293-302. In jene Zeit fällt auch der Beginn der lebenslangen engen Freundschaft Tillichs mit dem Psychologen Rollo May, der, ebenso wie Tillich von Kierkegaard inspiriert, 1950 das für Tillichs theologische Ausarbeitung des Angstbegriffs besonders wichtige und vielbeachtete Buch The Meaning of Anxiety veröffentlichte. Die Erschließung interdisziplinärer Kontakte, insbesondere mit der Psychologie prägte Tillichs Denken seit Mitte der 1940er Jahre entscheidend. Vgl. P. Tillich, Anxiety-Reducing Agencies in Our Culture, MW II, 239: “This source of anxiety cannot be removed because it is we ourselves, our very being.” Angst gründet in „fundamentally a special attitude towards existance itself, a special interpretation of man and of the meaning of his life“ (MW II, 242). Tillich schildert in seinem Vortrag Angst schließlich grundlegend als „negative side“ des „ultimate concern“: “[I]t is the realization of the threat of nonbeing in finitude,

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logie Tillichs ist der Vortrag deshalb interessant, weil – wie schon im Vortragstitel ersichtlich – das Verhältnis von Angst und Kultur das zentrale Thema bildet. Tillich fragt, inwieweit Kultur und Religion zur Bewältigung von Angst fähig sind. Das Ergebnis mag für die Hörer erstaunlich gewesen sein: Religion und Kultur steigern nach Meinung Tillichs die Angst eher, als dass sie selbige lindern. 3 Dies ist im Verlauf der vorliegenden Überlegungen zur Relevanz des Angstbegriffs Tillichs für seine Kulturtheologie von höchster Bedeutung. Da Tillich dem überwiegend medizinisch geschulten Publikum auf dem New Yorker Kongress aber kaum in wenigen Absätzen die zentralen ontologischen und sinntheoretischen Überlegungen seiner Theologie vorstellen kann, bleibt es zunächst nur bei einer gelegten Spur, die erst in den Folgejahren insbesondere durch Schriften wie Der Mut zum Sein und im ersten Band seiner Systematischen Theologie konkreter wird und den Angstbegriff zu einem wichtigen Gegenstand seiner Theologie werden lässt. Eine ausführlichere Konfrontation der Begriffe Angst und Kultur hat Tillich leider nie dezidiert unternommen, was vor allem daran liegen mag, dass der Angstbegriff nach Tillichs Verständnis nicht ein Gegenstand der Kultur ist, sondern vielmehr dem Wesen menschlicher Kultur zugrunde liegt. Für die Verhältnisbestimmung von Angst und Kultur wäre damit zu versuchen, Tillich rückwärts, also vom späteren Angstbegriff ausgehend, hin zur frühen Theologie der Kultur als Kulturtheorie der Moderne zu lesen. Dietrich Bonhoeffers Skepsis und Karl Barths bekannten Vorwurf an Tillichs Kulturtheologie, sie gehe gleich einer viel zu optimistischen und diffusen „Glaubens- und Offenbarungswalze“ über „Häuser, Menschen und Tiere“ hinweg 4 , könnte man somit als produktiven Impuls zur konstruktiven Kritik und Interpretation von Tillichs Werk anhand seines späteren Angstbegriffs nutzen. Macht man den Angstbegriff Tillichs ver-

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guilt and meaninglessness […], it is the experience of a basic, irremovable anxiety which may lead into utter dispair.” (Ebd.) “Religion as a part of the whole culture produces, more than it reduces, anxiety. Only religion as the substance and the ultimate basis of culture can create the courage which is capable of meeting man’s fundamental anxiety”, P. Tillich, Anxiety-Reducing Agencies in Our Culture, MW II, 245. Vgl. die bekannte Polemik Barths in seiner öffentlichen Antwort auf die Kritik Tillichs (Kritisches und positives Paradox. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth und Friedrich Gogarten) in den Theologischen Blättern, Jahrgang 2, 1923, abgedruckt in GW VII, 234. Weitere kritische Stimmen von u.a. Dietrich Bonhoeffer und Wilhelm Weischedel sind zusammengeführt in W. Schüßler, Paul Tillich, München 1997, 50 f.

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suchsweise als Fokus seiner (Kultur-) Theologie aus, könnte die manchmal etwas verwirrende und unsystematisch-vielschichtige kulturtheologische „Walze“, die alle Kulturbereiche auf ihre religiöse Substanz hin zu untersuchen bestrebt ist, so womöglich durch den späteren Angstbegriff gewissermaßen auf die Füße gestellt und für eine theologische Theorie der Moderne fruchtbar gemacht werden. Voran sei hierzu zunächst eine kulturtheoretische Hypothese gestellt (1.), derzufolge die Begriffe Angst und Moderne in einem engen Zusammenhang stehen. Um diese These zu bekräftigen, soll in einem weiteren Schritt (2.) die Genese des Angstbegriffs in Tillichs Werk an einigen Beispielen nachvollzogen werden, um rückwirkend (3.) als Schlüssel zur Deutung seiner Kulturtheologie und als Entwurf zu einer theologischen Theorie der Moderne zu dienen. Abschließend (4.) wird die Bedeutung des Angstbegriffs im Kontext von Kultur und Religion in der Moderne als Erlebnis der Unterscheidung vorgestellt.

1. Angst und Moderne im reziproken Verhältnis Nur ein Jahr vor dem genannten psychopathologischen Angst-Kongress in New York veröffentlichte Wystan H. Auden seine bekannte Versdichtung Age of Anxiety, die nicht nur Tillich, sondern eine ganze Generation von Künstlern und Schriftstellern dazu inspirierte, den Begriff Angst zu einer Art Überschrift ihrer kulturellen Gegenwart und zum Inbegriff ihrer modernen Selbstwahrnehmung zu erheben. 5 In Der Mut zum Sein führt Tillich wenige Jahre später das Hauptwerk Audens neben den Werken von Albert Camus, Franz Kafka, Arthur Miller, Jean-Paul Sartre und Tennes5

Das Werk, das 1948 mit dem Pulizer-Preis ausgezeichnet wurde, erschien in deutscher Sprache unter dem Titel Das Zeitalter der Angst. Auden schildert hier die Moderne als eine Zeit, in der „jeder zu einem schattenhaften Dasein der Angst gezwungen und auf den Zustand einer displaced person reduziert ist, wenn selbst die Vorsichtigsten zu Verehrern des Zufalls werden“, W. H. Auden, Das Zeitalter der Angst. Ein barockes Hirtengedicht, eingeleitet von G. Benn, übersetzt von K. H. Hansen, München 1979, 21. Zu den zahlreichen Dichtern und Künstlern, die von Auden inspiriert wurden, gehört auch z.B. Leonard Bernstein, der 1948/49 eine gleichnamige Tondichtung in Anlehnung an Audens Werk komponierte. Tillich hingegen bezeichnet die oberflächliche Selbstwahrnehmung als „Zeitalter der Angst“ als „Klischee“, obgleich auch er den dahinter stehenden Implikationen durchaus höchste Bedeutung beimisst, vgl. P. Tillich, Der Mut zum Sein, GW XI, 35.

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see Williams als literarische Diagnosen der Moderne an, die ihre Gegenwart beschreiben als eine „Welt der Angst, […] in der die Kategorien, die Strukturen der Wirklichkeit, ihre Gültigkeit verloren haben“. 6 Tillich hat in den Ausdrucksformen der Kultur erkannt, was sich heute rückblickend geradezu aufdrängt, nämlich, dass fast alle Theorien der Moderne des letzten Jahrhunderts Kategorien und Stimmungen für das sogenannte moderne Zeitalter der Autonomie bemühen, die in einer gewissen Nähe zum Begriff Angst stehen. Ebenso erheben fast alle modernen Theorien der Angst seitens der Philosophie und Theologie letztlich den Anspruch, einen grundlegenden Aspekt des Wesens und Lebensgefühls des sogenannten modernen Menschen zu skizzieren. 1.1 Moderne und Angst Die Moderne steht gemeinhin für eine Wende des abendländischen Menschenbildes und den Versuch, Wesen und Verfasstheit des Menschen unter den Bedingungen der Dynamik von Säkularisation und gesellschaftlichem Wandel neu zu deuten. 7 Hierbei darf die Moderne nicht als zeitlich begrenzte Epochenbezeichnung missverstanden werden, sondern zeichnet sich vielmehr durch unabgeschlossene Diesseitigkeit und Gegenwärtigkeit aus. Sie ist geradezu ein mal nüchtern-rationaler, mal rauschhaft-verführerischer „Bewusstseinswandel“ 8 , der alle Lebensbereiche und Gesell-

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Tillich, Der Mut zum Sein, GW XI, 111 f., zu W. H. Auden, Das Zeitalter der Angst, a.a.O. (Anm. 5), 109 ff. Vgl. U. Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 144 ff., im Zusammenhang mit dem Begriff der Säkularisierung und mit einem Verweis auf wichtige Theoretiker der Moderne (insbesondere im deutschsprachigen Raum: W. Dilthey, E. Troeltsch und M. Weber sowie G. Simmel). In diesem Zusammenhang beschreibt Barth die „Dynamik der Moderne“ als „Radikalisierung sozialer Ausdifferenzierung einerseits durch die Steigerung funktionsspezifischer Eigengesetzlichkeiten (Politik, Recht, Wirtschaft), andererseits durch den Wegfall konsensfähiger Ordnungsmodelle“ (163). Vgl. D. Bell, Zur Auflösung der Widersprüche von Modernität und Modernismus: Das Beispiel Amerikas, in: H. Meier (Hg.), Zur Diagnose der Moderne, München/Zürich 1990, 28. Bell deutet hier den „Bewusstseinswandel“ am Beispiel Hegels und Fichtes und sieht das moderne „Verlangen nach Autonomie“ (33) seit der Französischen Revolution in drei Bereichen ausgedrückt: Individualisierung und Autonomie fallen in den philosophisch-kulturellen Bereich, Marktwirtschaft und Kapitalismus betreffen den Bereich Wirtschaft und in der Politik drückt sich

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schaftsstrukturen zu umfassen scheint. Ihr Anspruch, traditionelle Formen und Institutionen zu überwinden, lässt die säkularisierenden Vorgänge in der Moderne als „Entzauberung“ 9 erscheinen und führt den modernen Menschen in ein höheres Maß der individuellen Selbstwahrnehmung – ein reflexives Moment, das als Prinzip der Subjektivität diskutiert wird. 10 Hinter den subjektiven Mechanismen in der Moderne scheint ein in allem Leben treibendes Prinzip der Selbsterhaltung und der stetigen Erneuerung 11 Gestalt zu gewinnen, das schließlich zu einer Art programmatischem Imperativ der Moderne avancierte: dem Streben nach Autonomie. 12 Tillich, der sich scharf und deutlich von der überwiegend der Geist der Moderne vor allem in einer vielschichtigen Liberalisierung aus (vgl. 23 ff.). 9 In seinem berühmten Münchener Vortrag Wissenschaft als Beruf aus dem Jahr 1919 diagnostiziert Max Weber für die Moderne: „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt […]“, M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, besorgt von J. Winckelmann, Tübingen 21951, 596. Zum ausführlicheren Zusammenhang von „wissenschaftlicher Rationalisierung“ und „Entzauberung der Welt“, vgl. die Ausführungen des damaligen Zuhörers des Vortrags, K. Löwith, Max Webers Stellung zur Wissenschaft, in: Ders., Sämtliche Schriften 5, Stuttgart 1988, 427 f. Zur Diskussion der Weber-Vorträge Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf als „Schlüsseltexte […] auf zentrale Fragen der modernen Kultur“, vgl. W. Schluchter, Handeln und Entsagen. Max Weber über Wissenschaft und Politik als Beruf, in: Ders., Unversöhnte Moderne, Frankfurt/Main 1996, 9 ff. 10 J. Habermas sieht eben dieses Prinzip seit Hegel „als das Prinzip der neuen Zeit – die Subjektivität“ an, welches schließlich mit Nietzsche – den Habermas bekanntlich als Drehscheibe zur Postmoderne bezeichnet – in die Krise gerät, vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/Main 31986, 27. Mit der Beschreibung der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ wird von Nietzsche der moderne Traum von der Innovation des Subjekts demnach ad absurdum geführt. 11 Zum Streben nach Innovation als ein „radikaler Anspruch des Neuen“ in allen Bereichen des Lebens und grundlegend zum vorliegenden Problem, vgl. W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 72008. Eine bezeichnende Definition zum Innovationsanspruch der Moderne gibt T. Rendtorff, Theologie in der Moderne. Über Religion im Prozeß der Aufklärung, Gütersloh 1991 (= Troeltsch-Studien, Bd. 4), 13: „Als Moderne ist das Bewußtsein einer Epoche qualifiziert, in der gesellschaftliche Erfahrungen mit dem Anspruch verbunden sind, auf ihre Neuartigkeit hin ausgelegt zu werden.“ 12 In diesem Zusammenhang kann Ernst Troeltschs Charakterisierung der „modernen Welt“ als „Befreiung des Individuums zu originaler und autonomer Schaffenskraft“ als wegweisend gelten, in: E. Troeltsch, Das Wesen des modernen

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skeptischen Beurteilung der Moderne durch die Wort-Gottes-Theologie seit den 20er Jahren abgrenzt, sieht seine ganze theologische Existenz der Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen der Moderne verpflichtet. 13 Sein Versuch, moderne Autonomie zum zentralen Anliegen seiner Theologie zu machen, lässt Tillich schließlich auch den Begriff Angst thematisieren. 1.2 Angst und Moderne Wie bereits angedeutet, steht der Begriff Angst häufig im Fokus theoretischer Überlegungen zur Moderne. Hierbei wird Angst meist scharf von Furcht unterschieden. 14 Furcht ist demnach immer an konkrete Objekte der Bedrohung, vor denen man sich fürchtet, gebunden, während hingegen Angst ein Begriff ist, der keine Objekte der Bedrohung braucht und der schon in seinem Etymon erkennen lässt, was für ein Gefühl er umschreibt: Angst kommt sprachlich von dem Wort „Enge“, einem affektlosen räumlichen Gefühl körperlicher Bedrückung und organisch-würgender Zusammengezogenheit. 15 In der Moderne wird der Begriff erweitert. Geistes, in: Preußische Jahrbücher 128, 1907, 37. Als Beispiel für gegenwärtige strukturelle Theorien der Moderne, vgl. u.a. die soziologische Studie zur Moderne als Prinzip der sozialen Beschleunigung von Hartmut Rosa: H. Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/Main 2005. 13 Grundlegend zum Begriff der Autonomie in seiner Bedeutung für das Christentum in der Moderne, vgl. z.B. den Aufsatz von 1928, P. Tillich, Das Christentum und die Moderne, GW XIII, 113 ff. Hier versteht auch Tillich, hierin Troeltsch und Simmel folgend, die Autonomie als „das tragende Prinzip der Moderne“ (GW XIII, 116), das aber gleichwohl nicht erst in der Moderne entsteht, sondern schon in der Kultur der Antike angelegt ist. 14 Zur Unterscheidung von Angst und Furcht und in diesem Zusammenhang grundlegend, vgl. Ch. Demmerling/H. Landweer, Philosophie der Gefühle. Von Achtung bis Zorn, Stuttgart 2007, 63 ff., sowie H. Fink-Eitel, Angst und Freiheit. Überlegungen zur philosophischen Anthropologie, in: Ders./G. Lohmann (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt/Main 1993, 57 ff. 15 Angst scheint also etymologisch gesehen für eine objektlose, unausgerichtete Erfahrung infolge bezugsloser psychischer Bedrückungen zu stehen, die körperliche Gefühle erzeugt, welche an drückende Enge und würgende Bedrängung denken lassen. Die Brüder Grimm zitieren zum Stichwort Angst im Deutschen Wörterbuch Martin Luther, der in Das schöne Confitemini von 1530 ebenfalls die beschriebenen Bezüge herstellt: „Angst jm Ebreischen laut, als das Enge ist, wie ich acht das jm Deudschen auch ‚Angst‘ daher kome, das enge sey, darin einem

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Seine Gefühlsdimension operiert zwar weiterhin im traditionellen Kontext von räumlicher Enge, jedoch steht diese körperliche Erfahrung häufig paradoxerweise geradezu im Gegensatz zu der Angst hervorrufenden Imagination von uferloser Weite und schrankenloser Überforderung menschlicher Vorstellungskraft in der abgründigen Freiheit unbegrenzter Möglichkeiten in der modernen Lebenswelt, die Kierkegaard wohl als erster eindrücklich als „Schwindel der Freiheit“ beschrieb. 16 Als die Formen traditioneller Heteronomie in der Vormoderne 17 irgendwann u.a. durch ein neues, zunehmend naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild, aber auch durch gesellschaftliche und politische Umbrüche ihre sinnstiftende Bedeutung gegenüber der Autonomie der Moderne nicht mehr behaupten konnten, wurde trotz des immer optimistischeren Fortschrittsglaubens mehr denn je festgestellt, dass der Geist der Moderne bange und wehe wird und gleich geklemmet, gedruckt und gepresset wird, wie denn die anfechtungen und unglück thun, nach dem sprichwort ‚Es war mir die weite wellt zu enge‘.“, WA 31/1, 93. 20 ff. sowie in J. u. W. Grimm, Angst, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854, 358 f. In einem Aufsatz über moderne Architektur weist Tillich ebenfalls auf die sprachliche Verbindung von Angst und Enge hin, vgl. P. Tillich, Mensch und Umwelt, GW IX, 334. 16 Den im vorliegenden Zusammenhang entscheidenden Gedanken zur Kategorie der Imagination im Kontext des modernen Angstbegriffs (insbesondere am Beispiel Kierkegaards) verdankt der Verfasser dem überaus hilfreichen Einwand von Ulrich Barth in der an den vorliegenden Beitrag anschließenden Diskussion im Rahmen des 2. Internationalen Paul-Tillich-Kogresses in Wien 2010. Vgl. hierzu S. Kierkegaard, Der Begriff Angst (1844), in: Gesammelte Werke, Abt. 11/12, Gütersloh 1958. Anders als bei Tillich, bedeutet Angst bei Kierkegaard weniger ein ontologisches Prinzip als einen „Schwindel der Freiheit“ (60 f.) der dem modernen Menschen als uferlose „Möglichkeit für die Möglichkeit“ in scheinbar autonomer Selbstbestimmung zur „gefesselten Freiheit“ wird (48). Kierkegaard beschreibt, wie im Potentialis der Freiheit (Die Möglichkeit ist das Können, 48) „das Nichts, das der Gegenstand der Angst ist, gleichsam mehr und mehr zu einem Etwas wird“, es mutiert zu einem „Knäuel (complexus) von Ahnungen“, dessen diffuses Gewirr nicht mehr zu lösen ist und letztlich „aufs Wesentliche gesehen Nichts bedeutet“ (61). 17 Zu denken ist hier beispielsweise an weltliche und kirchliche Autorität, die dem Menschen die ihn umgebende Welt meistens nur als konkrete Bedrohung begegnen lässt und das Welt- und Menschenbild in klaren Grenzen hält. Eine herausragende Studie zur Transformation des Begriffs der Furcht und ihrer kulturgeschichtlichen Ursachen auf dem Weg in die Moderne ist das zweibändige Werk von J. Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde., übersetzt von M. Hübner/G. Konder/M. Roters-Burck, Hamburg 1985.

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immer weiter an die Abgründe der Fragen nach Sinn und Ziel des Seins heranführt. Auf der Suche nach letzten Prinzipien und dem Grund des Seins und des Lebens entdeckt der moderne Mensch folglich etwas Unsagbares, Unvorstellbares, das er mit dem Nichts, mit Sinnlosigkeit und der Fragwürdigkeit seiner Existenz beschreibt, während es ihm als Gefühl zur körperlich-räumlichen Bedrohung wird, das er Angst nennt. Wie andere psychologisch-emotionale Begriffe ist auch der Begriff Angst in der Geistesgeschichte vielfach philosophisch bzw. insbesondere ontologisch aufgeladen worden. Das Gefühlserleben wird demnach in ontologische Kategorien transformiert, um eine Struktur des Seins beschreiben zu können, wie dies z.B. im 20. Jahrhundert im Falle des phänomenologischontologischen Angstbegriffs bei Martin Heidegger geschah. In seiner „Fundamentalontologie“ widmet sich Heidegger dem „Seienden“ und seiner Verneinung, also dem „widersinnige>n@ Begriff eines seienden Nichts“. 18 Jene paradoxe Vorstellung des Nichts kann, da sie sich den Gesetzen der Logik entzieht, nach Meinung Heideggers, nur in einer „Stimmung“ offenbar werden. Dies geschieht „für Augenblicke in der Grundstimmung der Angst“, sodass Heidegger sagen kann: „Die Angst offenbart das Nichts“. 19 Angst ist bei Heidegger also die selten und unverhofft eintretende, jedoch bedeutsamste Grundstimmung von „eigentümlicher Ruhe“, in der sich dem Menschen das Nichts enthüllt und damit der Abgrund dessen, vor dem der Mensch sich seines eigenen „Da-seins“ und seines Verhältnisses zu allem Seienden bewusst wird. 20 18 Vgl. M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, Frankfurt/Main 121981, 30. Die menschliche Vernunft stößt demnach in der Auseinandersetzung mit dem „Nichts“ oder mit der Möglichkeit des Nichtseins an ihre Grenzen. Daher vermutet Heidegger die Wurzel der Konfrontation des Menschen mit dem Nichts in einem „Gefühl“ (31) bzw. in einer „Grundstimmung“ (33). 19 M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, a.a.O. (Anm. 18), 32. In Sein und Zeit kommt das Nichts im Zusammenhang mit der Angst noch nicht derart prominent zur Sprache. Dort geht Heidegger in § 40 eher phänomenologisch von der „Grundbefindlichkeit der Angst“ aus und schließt von hier aus auf das „In-derWelt-sein“, in welchem sich wiederum die „Aufsässigkeit des innerweltlichen Nichts und Nirgends“ erschließt. Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986, 184-186. 20 Vgl. M. Heidegger, Was ist Metaphysik?, a.a.O. (Anm. 18), 32 ff. Das vor dem offenbar gewordenen Nichts entstehende Verhältnis zu sich selbst und zu allem, was ist, nennt Heidegger das „Hinaussein“ des Daseins des Menschen „über das Seiende“ oder in einem Wort: „Transzendenz“ (35). In Sein und Zeit drückte Heidegger dies pauschaler aus mit der Feststellung: „Das Wovor der Angst ist die Welt als solche“, bzw. „das In-der-Welt-sein“, also dasjenige, was sich von dem

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Einen geradezu fundamentalen Stellenwert bekommt die Emotion schließlich bei Jean-Paul Sartre, wenn er sagt: „Die Emotion [und in ganz besonderer Weise die Angst (frz. Angoisse)] be-

deutet auf ihre Art das Ganze des Bewusstseins oder, wenn wir uns auf die existentielle Ebene begeben, der menschlichen Realität.“ 21

„Die Angst, das bin Ich“, stellt Sartre in Das Sein und das Nichts fest und beschreibt hiermit das aus dem Freiheitsbewusstsein resultierende Drama der Verantwortung, die Zukunft gestalten zu müssen und für die eigene Vergangenheit verantwortlich zu sein. 22 Heidegger und Sartre voran gehen zahlreiche wirkmächtige Denker der Moderne, die für Tillich von großer Bedeutung waren und die das Unbehagen an der Moderne im Angstbegriff philosophisch auf den Weg brachten. Neben seiner Jugendliebe Schelling nennt Tillich an verschiedenen stellen Namen wie Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, Marx, Simmel und Freud. Ebenso ist er auch Augustinus, Meister Eckart, Nikolaus von Kues, Pascal, Dante und Böhme verpflichtet, da er bei ihnen allen bereits diejenigen Prinzipien am Werke sieht, die sein Verständnis von Angst und Moderne später prägten. In der Geistesgeschichte sowie im gesellschaftlichen Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts scheint die Moderne folglich in ihrer Selbstwahrnehmung als Epoche der Autonomie auf jene ungerichtete Unmittelbarkeit der Gefühlserfahrung angewiesen zu sein, die in der Angst besonders eindrücklich und charakteristisch greifbar wird. Andererseits wird erst im Lebensgefühl der Moderne die Angst als Gefühl der universalen Bedroin der Angst erfahrenen Nichts heraushebt (existiert). Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O. (Anm. 19), 186 f. 21 J.-P. Sartre, Skizze einer Theorie der Emotionen, in: V. von Wroblewsky (Hg.), Philosophische Schriften I, 1, Gesammelten Werke, übersetzt von U. Aumüller/T. König/B. Schuppener, Reinbeck 1994, 266. 22 Vgl. J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, in: V. von Wroblewsky (Hg.), Philosophische Schriften I, 3, a.a.O. (Anm. 21.), 98 ff. Angst ist in diesem Sinne jedoch nicht lähmend oder zerstörerisch, sondern treibt geradezu zum Handeln und zur gestaltenden Selbstbestimmung. „Angst ist“ als tiefstes Existential „der Mensch“ selbst, J.-P. Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus, in: V. von Wroblewsky (Hg.), Philosophische Schriften I, 4, a.a.O. (Anm. 21.), 122. Sartre entgegnet seinen Kritikern, die im Existentialismus einen tiefen Pessimismus und in Sartres Angstbegriff einen „Quietismus zur Tatenlosigkeit“ sehen (123), der ganze Existentialismus sei „Humanismus“, also Teil einer tief optimistischen „Lehre der Tat“ (141 f.). Eine Darstellung von Sartre und Heidegger zum Thema Angst bietet Tillich in: The Courage to Be, MW V, 210 f.

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hung der Subjektivität, als Drama der Freiheit und der Autonomie verstanden, in dem sich die alle Grenzen durchbrechende Vorstellungskraft in ihrer eigenen Vielfalt und Grenzenlosigkeit verliert. Hier wird deutlich, dass Angst und Moderne offenbar in einem reziproken Verhältnis stehen. Der eine Begriff scheint auf den anderen angewiesen zu sein, sie bestimmen sich gewissermaßen gegenseitig. Stärker formuliert hieße dies, dass die Bedeutung der Moderne erst in der Durchdringung des Begriffs Angst vollends verstehbar wird, so wie auch nur vor dem Horizont des Lebensgefühls der Moderne verständlich wird, was den Begriff Angst in seinem Verhältnis zur menschlichen Freiheit und in der Unterscheidung zur Furcht ausmacht. Von dieser Überlegung ausgehend, lässt sich der Angstbegriff in Tillichs Werk als Diagnose der Moderne verfolgen.

2. Der Angstbegriff im Werk Tillichs Geprägt durch seine beiden Dissertationen, wurde für Tillich bekanntlich das Spätwerk Schellings zur vertrauten Grundlage. Schelling nahm hier, wie Tillich später sagte, „das Problem unserer Zeit voraus, das Problem der menschlichen Existenz in einer Welt, in der menschliche Existenz aufs Schwerste bedroht ist“ 23 . Schellings Bruch mit dem klassischen Idealismus in Gestalt der optimistischen „Essentialphilosophie“ Hegels und seine Wende hin zu einer „christlichen Existentialphilosophie“, wurde in gewissem Sinne auch zu Tillichs Wende. 24 Mit den eindrücklichen Entfremdungserfahrungen des Ersten Weltkrieges und der Lektüre Kierkegaards und Nietzsches im Feldgepäck, sah Tillich sich genötigt, über Schelling hinaus zu gehen. In seiner autobiographischen Schrift Auf der Grenze schreibt Tillich rückblickend: „Der Abgrund öffnete sich, den Schelling zwar gesehen, aber dann bald wieder zugedeckt hatte. Das Erleben des Krieges riß den Abgrund für mich und meine Generation so auf, daß er

23 P. Tillich, Schelling und die Anfänge des existentialistischen Protests, GW IV, 144. 24 Tillich schildert den in seinem Denken erfolgten Zusammenbruch der bürgerlichen Kultur und der idealistischen Philosophie in: P. Tillich, Auf der Grenze, GW XII, 34. Vgl. hierzu auch H. Zahrnt, Die Sache mit Gott, München 1966, 414: „An die Stelle des idealistischen Strebens […] trat die Existenz in Verzweiflung und Angst.“

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sich nie mehr schließen konnte.“ 25 In den Schrecken des Krieges wurde Tillich demnach offenbar auf eine Wirklichkeitsebene gestoßen, die mehr als nur eine objektive Bedrohung für Leib und Leben war. Der Krieg erscheint für Tillich – wie für viele andere seiner Generation – als ein das ganze Abendland in die Tiefe reißendes Abgrunderlebnis, wenn er an die Freundin Maria Klein 1916 von der Westfront schreibt: „[I]ch bin reinster Eschatologe; nicht, daß ich kindliche Weltuntergangsphantasien hätte, sondern daß ich den tatsächlichen Weltuntergang dieser Zeit miterlebe.“ 26 Offenbar war es nun gar nicht mehr allein die Lebensgefahr und die unbeschreibliche Grausamkeit des Krieges, die Tillich umtrieb. Denn all diese Bedrohungen und Gefahren der Schlacht sind letztlich – wenn auch ungleich stärker und grausamer – Bedrohungen für Leib und Leben, vor denen man sich auch im zivilen Leben – man denke an Krankheiten und Alltagsgefahren – fürchtet. Da das Objekt der Furcht im Allgemeinen immer eine Bedrohung des Subjekts von außen ist, kann ein wildes Tier ebenso Objekt der Furcht sein wie ein Granatsplitter. Das Objekt des Grauens, das Tillich im Ersten Weltkrieg umfängt, ist jedoch das denkende und empfindende Subjekt selbst. Die Bedrohung des Menschen ist nicht mehr nur eine objektive Gefahr von außen, sondern seine eigene Existenz. Tillich sah sich und seine Generation demnach offenbar von einer Angst ergriffen, die keine konkreten Objekte der Bedrohung mehr kennt. Es handelt sich vielmehr um eine Angst, die aus der Imagination wahlloser und zielloser Möglichkeiten und Vorstellungen bis hin zu Visionen des Abgrunds, der Endlichkeit allen Lebens, des Untergangs des Abendlands und jeglicher Kultur überhaupt entsteht. Das moderne Bewusstsein gerät so gewissermaßen in Grenzgebiete des völligen Selbstund Sinnverlusts. Ein erschütternder Pessimismus ergreift den jungen Feldprediger Tillich, dem schonungslos klar wird, dass sich der autonome Mensch der Moderne in seinem Subjektivismus selbst zum Drama wird. Der Geist der Moderne hat in seinem Autonomiestreben alle heteronomen Rettungsan25 Vgl. P. Tillich, Auf der Grenze, GW XII, 34. 26 Brief von Paul Tillich an Maria Klein vom 27.11.1916, EW V, 118 f.: „In jeder Resignation ist Bitterkeit.“ Von der Hoffnung reiße ich „mich jeweilig unter Schmerzen […] los. Ich habe immer die unmittelbarste und stärkste Empfindung in mir, nicht mehr eigentlich im Leben zu stehen; […] das Leben ist ja selbst kein Boden, der tragfähig ist. Nicht nur, daß man jeden Tag sterben kann, […] sondern, daß alle sterben, wirklich sterben, diese unerhörte Tatsache, die jetzt tägliches Erlebnis ist.“

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ker, alle Jenseitshoffnungen und Sinn-Autoritäten endgültig gekappt, so dass der Mensch nicht mehr – wie es der späte Tillich ausdrückt – in die „träumende Unschuld“ der Vormoderne zurückzukehren vermag. 27 Wenige Jahre nach dem Krieg verbindet Tillich in der sogenannten Marburger Dogmatik von 1925 die erfahrene „Verzweiflung des Sinnverlustes“ mit seinen in jener Zeit zentralen sinntheoretischen Überlegungen, die er hier erstmals mit dem Angstbegriff zusammen bringt: „Angst, sein Selbst zu verlieren […] ist die Enge, die uns bindet an unsere natürliche Grenze.“ 28 Tillich beschreibt hier Angst erstmals als „das Tiefere“, das die menschliche Existenz grundlegend bestimmt und den Menschen in die Individuation treibt. Bald darauf, im Jahre 1928, fasst Tillich zusammen: „In jedem Menschen ist beobachtbar eine tiefe Lebensangst, eine Angst, die nicht etwa darauf beruht, daß man das Leben verlieren kann, die etwa mit Todesangst übersetzt werden könnte. Das gerade ist sie nicht, sondern sie ist Lebensangst, nämlich Angst, seinen Lebenssinn zu verlieren.“ 29 27 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es sich nicht um eine ‚Kriegstheologie‘ Tillichs handelt, sondern dass der Krieg vielmehr gleich einem Katalysator die Wirklichkeit der Moderne verdichtet und radikalisiert. Der Krieg selbst ist mit seinen Gefahren ein Objekt der Furcht, während das Lebensgefühl der Moderne Angst hervorbringt. Der Begriff der „träumenden Unschuld“ steht bei Tillich in erster Linie in einem religionsphilosophischen Kontext zur Beschreibung reiner Potentialität bzw. des „essentiellen Zustands“. Im Zusammenhang mit dem Angstbegriff assoziiert Tillich den Begriff mit konkreten Erfahrungen in der Biographie eines Kindes, dessen Selbstbewusstsein sich entwickelt und – wie ein Erwachen aus träumender Unschuld – den Zustand der „Existenz“ begreift. Vgl. hierzu ST, II, 39-42. Analog soll der Terminus im vorliegenden Zusammenhang auf die kollektive Entwicklung des modernen Bewusstseins dahingehend angewendet werden, dass – so könnte man mit Tillich sagen – auch die moderne Gesellschaft in gewisser Weise kollektiv zu einem modernen Selbstbewusstsein erwacht, das sich der eigenen Endlichkeit und seines existentiellen Daseins in den Ausdrucksformen der Kultur bewusst wird. 28 P. Tillich, Dogmatik. Marburger Vorlesung von 1925, hrsg. von W. Schüßler, Düsseldorf 1986, 190 f. Vgl. zur Bedeutung des Angstbegriffs in der Marburger Dogmatik und ihrem Zusammenhang mit Nietzsches Lebensbegriff in der umfassenden Untersuchung von T. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, Tübingen 2003 (= Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 120), 435. 475 ff. 29 Vgl. P. Tillich, Nichtkirchliche Religionen, GW V, 23. Tillich stellt weiter fest: „Die Angst ist unbestimmt. Die Angst hat keinen Gegenstand, mit ihr kann man nicht fertig werden.“ (Vgl. hierzu erneut Anm. 14, zur Unterscheidung von Angst und Furcht, vgl. Abschnitt 1.2) Im Begriff der „Lebensangst“ liegt wohl ein

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Angst ist also für Tillich in den 20er Jahren eine sich im Bewusstsein realisierende Vorstellung des Sinnverlusts, welche die Bedrohlichkeit äußerer Gefahren für Leib und Leben sogar übertrifft. 30 Auf die philosophischen und theologischen Vordenker, die sich Tillich neben Nietzsche und Kierkegaard seit den 20er Jahren zu seinen Anwälten wählt, wurde bereits hingewiesen. 31 In den 50er Jahren avancieren Angst und Moderne als zentrale Grundbegriffe gewissermaßen zum Koordinatensystem der ontologischen Überlegungen Tillichs. Kristallisiert zu einer Erfahrung, spiegelt und verdichtet sich im Angstbegriff die existentielle Verfasstheit menschlichen Seins, sodass Tillich feststellt: „Die Existenz als Existenz erfahren, bedeutet in Angst sein“, denn Angst – so wird sich in Tillichs Spätwerk immer wieder zeigen – „ist das Gewahrwerden der eigenen Endlichkeit“. 32 Diese Beschreibung der Wirklichkeit als „Endlichkeit in Korrelation mit Unendlichkeit“ mündet schließlich in den Gottesbegriff des späten Tillich: “God becomes the correlate to human anxiety and contingency, […] a symbol of a transcendet courage.” 33 Angst und Gott bilden eine Korrelation: „Nur wer die Erschütterung der Vergänglichkeit erfahren hat,

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Rückgriff Tillichs auf das berühmte Wort aus Schellings Freiheitsschrift zu Grunde: „Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Zentrum, in das er erschaffen worden.“, F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), Sämmtliche Werke, Bd. VII, 381. Zum Angstbegriff bei Schelling, vgl. Ch. Demmerling/H. Landweer, Philosophie der Gefühle, a.a.O. (Anm. 14), 82. Ebenfalls 1928 beschreibt Tillich zum Verhältnis von Autonomie und Moderne, wie „der autonome Mensch, […] in seiner Autonomie unsicher geworden ist“, P. Tillich, Die prostestantische Verkündigung und der Mensch der Gegenwart, GW VII, 70. Weitere Ausdrücke, die später meistens im Kontext von Angst und Moderne stehen, sind: „menschliche Zweideutigkeit“, „dämonische Besessenheit“ und der „Abgrund der völligen Sinnlosigkeit“ (GW VII, 79). Vgl. Abschnitt 1.2. Vgl. P. Tillich, Existentialanalyse und religiöse Symbole, GW V, 228 und hierzu H. Ott, Die Sinn-Angst und der Mut zum Sein. Ein Versuch über Paul Tillich, in: J. Fischer/U. Gäbler (Hg.), Angst und Hoffnung. Grunderfahrungen des Menschen im Horizont von Religion und Theologie, Stuttgart/Berlin/Köln, 155: „[D]er Mensch ist die Frage nach sich selbst“, sodass Tillich im ersten Band seiner Systematische Theologie schreiben kann: „Die Seinsfrage wird erzeugt durch den „Schock des Nichtseins“ (ST II, 218) und weist auf die Frage nach der Endlichkeit, die schließlich zusammen mit der Angst als „ontologische Qualität“ beschrieben wird (ST II, 224). P. Tillich, The Problem of Theological Method, MW IV, 311.

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die Drohung des Nichtseins, kann verstehen, was der Gottesgedanke meint.“ (ST I, 76.) Der Rechtfertigungsgedanke, den Tillich insbesondere in seinem berühmten Buch Der Mut zum Sein ins Spiel bringt, drückt sich im Moment des Mutes aus, der dazu befähigt, Angst nicht zu verschleiern oder zu betäuben, sondern zu bejahen. Tillichs „absoluter Glaube“ gründet schließlich in einem Gott, der als das Sein-Selbst auch das Nichts und die Sinnlosigkeit im Gefühl der Angst umschließt und in sich aufhebt: „Der Mut zum Sein gründet in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist.“ 34 Auch wenn die Eleganz und Eindrücklichkeit der ontologischen Überlegungen Tillichs zum Angstbegriff als Begegnung mit dem Nichts eine bemerkenswerte Resonanz gefunden haben, bleibt einzuwenden, dass insbesondere die ontologischen Kategorien des Seins und des Nichts, aber auch z.B. die Begriffe ‚Freiheit‘, ‚Autonomie‘ und ‚Tiefe‘ durchaus abstrakte Formeln sind, die das Entstehen und Wirken von Angst nicht selbstverständlich erklären können. Sie sind letztlich auch nur Chiffren für Vorstellungen des Bewusstseins, die – durch die beschleunigten und entgrenzten Lebensbedingungen der Moderne provoziert – derart weite und absolute Wirklichkeiten imaginieren können oder gar müssen, dass die hieraus folgende Überforderung des menschlichen Endlichkeitsbewusstseins und die von der Phantasie geborenen Chimären der Vorstellungskraft schließlich körperliche Folgen haben – als Gefühl der Angst. 35

3. Angst und Kultur Der Angstbegriff ist in den späten großen Werken Tillichs im Korrelationszusammenhang von Essenz und Existenz besonders für die Charakterisierung der existentiellen Korrelate von zentraler Bedeutung, kommt 34 P. Tillich, Der Mut zum Sein, GW XI, 139. Der „absolute Glaube“ bedeutet , wie es in der Erstausgabe heißt, „the accepting of the acceptance [das Bejahen des Bejahtseins] without somebody or something that accepts“, P. Tillich, The Courage to Be, MW V, 227. Zur Sündenlehre und dem „Paradox der Rechtfertigung“ vgl. in diesem Zusammenhang ST II, 52 ff. 35 Vgl. hierzu Anm. 16 mit dem Hinweis auf den dankenswerten Einwand von Ulrich Barth. In der Literatur der Frühromantik und insbesondere dann bei E. T. A. Hoffmann finden sich hierzu zahlreiche eindrückliche Beispiele für die literarische Auseinandersetzung mit der Eigenmächtigkeit der Vorstellungskraft.

Der Begriff Angst im Kontext der Kulturtheologie Paul Tillichs

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aber im Rahmen der Kulturtheologie kaum ausdrücklich zum Tragen. Dies ist bedauerlich, denn gerade mit dem Angstbegriff hätte im Kontext einer Theologie der Kultur das, was Tillich z.B. im Expressionismus am Werke sieht und was die existentielle Wirklichkeit des Menschen in der Moderne ausmacht, vielleicht eindrücklich beschrieben werden können. 36 Elemente der Kultur könnten gewissermaßen als Ausdrucksform der Angst in der modernen Lebenswelt untersucht werden. Schließlich arbeitet sich Tillich im Rahmen seiner Theologie der Kultur an wichtigen Fragen beispielsweise der Ästhetik und der Kunsttheorie ab, in denen Ausdrucksformen der Selbstwahrnehmung des in die Existenz hineingehaltenen – also in Angst lebenden – Menschen verhandelt werden. Was Tillich hinter diesen Ausdrucksformen der Kultur sieht, hört und spürt, belegt er nicht selten mit Attributen, derer er sich später auch zur Konkretisierung des Angstbegriffs bedient. Es sind dies Begriffe wie: ‚Freiheit‘, ‚Autonomie‘, aber auch der ‚Abgrund‘, das ‚Grauen‘, das ‚Dämonische‘ und das ‚Nichts‘. Diese bekannten Pointen und Begriffe der Kulturtheologie, also die Erfahrungsmomente religiöser Substanz, die Tillich in Formen der Kultur transportiert sieht, sind häufig vergleichsweise abstrakt: Sie münden in berühmt gewordene Ausdrücke wie die Erfahrung des ‚Unbedingten‘, das Erlebnis der ‚Tiefe‘ und der ‚Sinnwirklichkeit‘, der ‚Sphäre des Heiligen‘, der ‚Theonomie‘ und so weiter, mit denen Tillich die wirkungsvolle Beschreibung und Deutung religiöser Substanz in der modernen Kultur unternimmt. Doch nicht nur Tillichs Kritiker fragen sich berechtigterweise, wie sich derartige kulturtheologische Deutungen in der Lebenswirklichkeit erfahren lassen, oder man fragt sich noch konkreter: Wie fühlt sich so etwas an? Wie bricht die Dimension des Unbedingten nicht nur in Tillichs System religionsphilosophischer Begriffe, sondern in das tatsächliche körperliche Erleben des einzelnen Menschen ein? Mit dem Angstbegriff und seiner empirisch-phänomenologischen Dimension, die auch interdisziplinär in Diskursen mit Kultur-, Sozial- und Naturwissenschaften anschlussfähig ist, könnte eine Antwort gefunden sein. 37 Sollte der bleibende Ver36 Andeutungsweise schimmert der Angstbegriff lediglich in den Aufsätzen Aspekte einer religiösen Analyse der Kultur von 1959 und in einem Abschnitt zu raumund formtheoretischen Aspekten in Mensch und Umwelt von 1957 durch, ohne aber den Stellenwert zu erhalten, der ihm, von Der Mut zum Sein und der Systematischen Theologie her gelesen, zustünde. 37 Bereits in dem für die Kulturtheologie wegweisenden Aufsatz Über die Idee einer Theologie der Kultur von 1919 beschreibt Tillich die Erfahrung des Unbedingten

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dienst der Kulturtheologie Tillichs für die Gegenwart demnach vielleicht weniger der zuweilen fragwürdige und vielfach kritisierte Versuch einer substanziellen Synthese von Religion und Kultur sein, 38 sondern vielmehr der dahinter stehende Versuch einer theologischen Diagnose der Moderne? Diese hätte demnach die Gestalt einer theologischen Kulturanalyse, die freilich erst im Spätwerk in systematische Begriffe – allen voran den Angstbegriff – mündet und die Kulturdimensionen der Moderne in einem konkret erlebbaren Gefühl zusammenführt. Tillichs kulturtheoretische Gedanken ließen sich in diesem Sinne als Übersetzungen oder Anschauungsfelder der für seine Theologie so grundlegenden Begriffe wie Angst und Existenz interpretieren. Körperliche Enge, das Gefühl der Angst, wäre somit die Antwort auf die Frage, wie die unter philosophischen Begriffen wie ‚Existenz‘ oder ‚Nichts‘ subsumierten Erscheinungen der Wirklichkeit in der Kultur tatsächlich erfahren werden. Elementare theologische Einsichten Tillichs zu Sünde und Rechtfertigung, Sein und Sinn, Essenz und Existenz werden so im Spannungsfeld von Angst und Kultur greifbar und anschaulich. Vor dieser Überlegung bekommt Tillichs Kulturtheologie im Ausgriff auf den späteren Angstbegriff eine auch heute noch aktuell anmutende Brisanz: Die vermeintlich angstreduzierenden, harmonisierenden Kräfte der Kultur sind seiner Meinung nach oft in Wirklichkeit selbst ein tiefer Ausdruck der unvermeidlichen, zur Existenz konstitutiv dazugehörenden Angst, die den Menschen nur noch tiefer in seine Sinnkrise verstricken, da ihn das feuchtwarme Wohlfühlbad im Sumpf betäubenden HeteronomieKonsums letztlich nur noch viel selbstverkrümmter um das Drama seiner unausweichlichen Endlichkeit kreisen lässt. 39 Es gibt nach Tillich jedoch auch Elemente der Kultur, die Ausdruck des Mutes sind, also der Angst ins Auge sehen und sie damit bejahen, um den Menschen in seinem existentiellen Geworfen-sein zu sich selbst zu als „Erfahrung schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit; es wird erfahren die Nichtigkeit des Seienden, die Nichtigkeit der Werte, die Nichtigkeit des persönlichen Lebens“ (GW IX, 18) – Ausdrücke und Beschreibungen, die Jahre später mit dem Begriff Angst phänomenologisch konkretisiert werden. 38 Zu den immer wieder geäußerten Einwänden gegen Tillichs kulturtheologisches Programm als „ungeschiedenes Einerlei“ (W. Weischedel, Paul Tillichs philosophisches Theologie. Ein ehrerbitiger Widerspruch, in: E. Bethge [Hg.], Der Spannungsbogen, Stuttgart 1966, 219), siehe Anm. 4. 39 Vgl. hierzu Anm. 3 im Zusammenhang mit dem Vortrag Anxiety-Reducing Agencies in Our Culture.

Der Begriff Angst im Kontext der Kulturtheologie Paul Tillichs

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führen. 40 Tillich zählt als Beispiele natürlich besonders diejenigen Bereiche der Kultur auf, die ihm besonders am Herzen lagen: „moderne Kunst, Sozialismus, Psychoanalyse, radikal-kritische Theologie, unkonventionelle Sexual-Anschauungen, nationale Selbstkritik“ 41 . Kulturelemente dieser Gattung setzen den Menschen nach Meinung Tillichs durch ein Gemälde, ein Musikstück oder durch literarische Mittel schonungslos dem Gefühl der Angst aus und konfrontieren unverblümt mit der Verstrickung und der Vergänglichkeit des Lebens. Sie alle bejahen die Angst, indem sie selbige – eingebettet in Kultur – mutig erlebbar machen, ohne dass der Mensch von ihnen entfremdet oder niedergerungen wird. Dass Tillich sich – parallel zu seinen philosophischen und theologischen Vertrauensleuten – im Kulturbetrieb besonders Künstlern des Expressionismus zuwendet, ist kein Zufall, denn ihnen geht es gerade um die Gestaltung der Erfahrung dessen, was aus ihrem inneren Enge-Gefühl, aus der Angst ihres modernautonomen Lebensgefühls heraus in Farbe und Form zur Expression kommt. 42 Angst ist, so ließe sich resümieren, bei Tillich der Begriff für die leibliche Dimension der Erfahrung der Existenz in der modernen Kultur. Sie ist der Begriff für das körperliche Enge-Gefühl, das aus der Imagination grenzenloser Weite und unendlicher Möglichkeiten unter den Bedingungen moderner Autonomie entsteht und sich in den Ausdrucksformen der Kultur in immer wieder neuen Formen verwirklicht.

40 Vgl. hierzu grundsätzlich das Buch P. Tillich, The Courage to Be, MW V sowie den als vorangehende Studie anzusehenden Vortrag P. Tillich, Anxiety-Reducing Agencies in Our Culture, MW II, 242. 41 P. Tillich, Angst-reduzierende Kräfte, GW V, 295. Dass Tillich bei der modernen Kunst in erster Linie an expressionistische Werke denkt, ist sicher unzweifelhaft. Ihre Kraft, ein „inneres Hinausgehen der Dinge über sich selbst ins Jenseitige“ darstellen zu können, ließ Tillich den Expressionismus in höchstem Maße schätzen, vgl. P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, GW X, 34 und andere Aufsätze zum Thema Kunst und Expressionismus. 42 Vgl. Anm. 41. Insbesondere zur „durchbrechenden Macht des Expressiven“, vgl. P. Tillich, Zur Theologie der bildenden Kunst und der Architektur, GW IX, 345355 oder Tillichs Ansprache im Museum of Modern Art in New York, mit dem Titel: Die Kunst und das Unbedingt-Wirkliche, GW IX, 356-368.

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4. Angst als Unterscheidung Angst lässt sich, den dargestellten Überlegungen zufolge, in der Moderne als eine Erfahrung interpretieren, die den Menschen in ein Verhältnis zu seiner eigenen Endlichkeit und somit in der theologischen Deutung Tillichs vor den Horizont des Unendlichen bzw. des Seins-Selbst stellt. Angst ist folglich ein Gefühl der Unterscheidung, welche die eigene Existenz betrifft. In der Erfahrung der Angst unterscheidet der Mensch zwischen dem, was er ist und dem, was er sein könnte oder sein sollte. Er wird in der Angst seiner Existenz hineingezogen in die Unterscheidung von Endlichkeit und Unendlichkeit, Nichtsein und Sein, Existenz und Essenz, kurzum: „Der Mensch in seiner existentiellen Angst fühlt sich von dem entfremdet, wozu er eigentlich gehört.“ 43 Die Betonung liegt dabei auf dem Gefühl. Das sich in der Angst ereignende Unterscheidungserlebnis realisiert sich nicht nur in grenzenlosen Vorstellungen des Bewusstseins, sondern wird zugleich zu einem eindrücklichen Phänomen leiblicher und räumlicher Kategorie. Angst geht als grundlegendes Gefühl mit den Vorstellungen des Bewusstseins einher und lässt gleichzeitig die Fragen nach Sein und Sinn wie ein Urinstinkt zur körperlichen Realität werden. Der besondere Charme der Angst ist also neben ihrer geheimnisvollen Objektlosigkeit und Unverfügbarkeit ihre unhintergehbare, geradezu parakognitive körperliche Dimension. So diffus und verworren, vielleicht auch unterbewusst die Schattengeister moderner Freiheit im Schwindel der Möglichkeiten auch sein mögen, in ihrer körperlichen Dimension werden die Imaginationen der vom modernen Autonomiestreben getriebenen Phantasie in fast pathologischer Weise körperlich real. 44 Die häufig für die Mitte der Theologie Tillichs beanspruchten Begriffe der Freiheit oder des Sinns sind tief philosophisch und spekulativ. In der Angst wird jedoch das für Tillichs Freiheitsbewusstsein entscheidende Moment in seiner leiblichen

43 P. Tillich, Existentialanalyse und religiöse Symbole, GW V, 228. 44 Eine nochmals erweiterte Dimension des Angstbegriffs in psychologisch-physiologischer Perspektive ist diejenige Sigmund Freuds im Kontext von Pathologie und Psychoanalyse. Von dem „Trauma der Geburt“ ausgehend, entwickelte Freud 1895 eine Theorie zur Entwicklung der Angstneurose infolge der Unterdrückung sexueller Impulse. Vgl. hierzu S. Freud, Hemmung, Symptom und Angst, in: A. Freud u.a. (Hg.), Gesammelte Werke 14, Frankfurt/Main 1999, 111206 und H. W. Krohne, Angst und Angstbewältigung, Stuttgart/Berlin/Köln 1996, 155 ff.

Der Begriff Angst im Kontext der Kulturtheologie Paul Tillichs

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Dimension nicht zuletzt auch im Kontext einer Theologie der Kultur greifbar. Angst ist die Antwort auf die Frage, wie sich Freiheit in der Moderne mitunter anfühlt. Theologisch gedeutet, ist Angst nach Tillich nicht weniger als der Erfahrungshorizont menschlichen Lebens, vor dem sich der Glaube als Partizipation alles Seienden am Grund des Seins in der Erfahrung seines absoluten Widerspruchs, den Tillich als das Nichts bezeichnet, entzündet. Da der Gott der Moderne nicht mehr an seinem Handeln in der Natur oder seinem puppenspielerhaften Eingreifen in die Geschichte erkannt werden kann, erschließt sich das Unbedingte in der Moderne allein in seiner Unterscheidung vom Bedingten. In der Angst wird in diesem Sinne zur körperlich fühlbaren Realität, was die menschliche Existenz in ihrer Unterscheidung vom Göttlichen ausmacht. Für Tillich ist die mutige Bejahung der Angst in den Formen der Kultur demnach deshalb heilsam, weil in ihr zur Realität wird, was Tillich sonst nur mit religionsphilosophischer Ontologie oder den Ausdrucksformen der Mystik beschreiben kann: das Unbedingte in seiner Unterscheidung vom Bedingten, das Heilige in seiner Unterscheidung vom Profanen. Sich dem Gefühl der Unterscheidung in der Kultur auszusetzen und mit ihm auf dem Feld der Kunst zu spielen, ist demnach erstrebenswert, weil sich hier bereits jenseits von Ideologie und betäubender Heteronomie, jenseits von Dogmatismus und fragwürdigen Hoffnungsangeboten mit der Angst ein Gefühl für die Unterscheidung derjenigen Prinzipien Raum greift, die den tiefsten Grund religiös gedeuteten Lebens auszumachen scheinen. Wenn sich der Mensch unter den Bedingungen der Moderne im Sinne Tillichs auf die Angst einlässt, in den Abgrund Schellings schaut und ihn mit den Adlerkrallen von Nietzsches Zarathustra zu fassen wagt, bringt er den Mut auf, sich als Teil des Ganzen und trotzdem als sich selbst zu bejahen. 45

45 Vgl. hierzu nochmals den eingangs geschilderten Vortrag Tillichs zum Thema Angst und Kultur, in dem er neben der Angst als „negative side“ (vgl. Anm. 2) des „ultimate concern“ auch die positive Seite des Mutes beschreibt: “[P]ositively is the experience of an ultimate courage which takes the anxiety upon itself and faces the thread of nonbeing.” P. Tillich, Anxiety-Reducing Agencies in Our Culture, MW II, 242.

D. Perspektiven und Anstöße der Kulturtheologie Tillichs

Gestalten der Praxis – Praxis gestalten. Praktische Theologie nach Paul Tillich HANS-GÜNTER HEIMBROCK

1. Das Interesse Dass die Theologie als Professionswissenschaft insgesamt ein Praxis-Interesse wahrzunehmen hat, ist seit Schleiermachers Wissenschaftslehre und theologischer Enzyklopädie bekannt. 1 In den folgenden Überlegungen möchte ich die Aufmerksamkeit auf einige Aspekte von Tillichs Kulturtheologie richten, die ich aus dem theoretischen und theologischen Interesse an „Praxis“ diskutieren will. Warum das Praxis-Interesse zu Tillich führen kann, ist vermutlich auf den ersten Blick wenig plausibel. Denn man kann weder sagen, dass Tillich an der Praktischen Theologie als Fach gesteigertes Interesse hatte, noch dass die Praktische Theologie in Deutschland bisher eine intensivere Tillich-Rezeption bewerkstelligt hat. Es gibt von Tillich meines Wissens auch keine eigenständigen Texte zur Praktischen Theologie, was gute Gründe hat. Wenn ich recht sehe, so war für Tillich – im Unterschied etwa zu Schleiermacher – „Praxis“ kein theologisch oder theoretisch zentraler Begriff, zentral waren eher Termini wie „Existenz“ oder „Sein“ oder „Leben“. Für Tillich war Praktische Theologie insgesamt eine klare und eigentlich problem-lose Angelegenheit, die er als „technische Theorie“ qualifizierte, also als weitgehend technisch orientierte Schaltstelle innerhalb der Theologie verortete. 2 1

2

Vgl. dazu H.-G. Heimbrock, Evangelische Theologie als Praxis-Wissenschaft. Empirisch-theologische Erschließung gelebter Religion, in: S. Alkier/H.-G. Heimbrock (Hg.), Evangelische Theologie an staatlichen Universitäten. Konzepte und Konstellationen Evangelischer Theologie und Religionsforschung, Göttingen 2010, 203-240. Zu den wenigen Bemerkungen zu Inhalt und Eigenart der Praktischen Theologie in formaler bzw. enzyklopädischer Hinsicht zählen die knappen Sätze in Tillichs Systematischer Theologie in Bd. 1 von 1952: „Ohne das, was man mit ‚praktischer Theologie‘ bezeichnet, ist der Aufbau der theologischen Arbeit nicht vollständig.

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Selbst der Pastoraltheologie versprechende Vortrag von 1960 mit dem deutschen Titel Die Relevanz des Pfarramts für die heutige Zeit und seine theologische Grundlage 3 bietet weder Praxis- noch Professions- noch Handlungstheorie, sondern reflektiert schwerpunktmäßig das Problem, wie die dem kirchlichen Personal aufgetragene Botschaft in der spezifischen kulturellen Situation der Sinnleere als sinnhaft gestaltet werden kann. Man kann Tillich also nicht als Galionsfigur des Faches Praktische Theologie benutzen. Das hat seine Gründe in einer doppelten biografischen bzw. strukturellen Diskrepanz: Die erste Diskrepanz: Einerseits bekam Tillich aus Kreisen akademischer Theologie und Philosophie in Deutschland den kritischen Vorwurf zu hören, seine ganze theologische Arbeit sei ja doch letztlich nichts als „bessere Seelsorge“. Andererseits sah er sich insbesondere von Seiten der Kirchenleitungen dem Vorwurf ausgesetzt, seine philosophisch-existenzialistische und kulturtheologisch weit aufgestellte Theologie sei nicht kirchlich genug, was ihm bekanntlich u. a. die Ablehnung der Berufung auf die Seeberg-Nachfolge in Berlin einbrachte. Die zweite Diskrepanz: Einerseits attestierten ihm Seelsorgetheoretiker und Pastoralpsychologen, insbesondere in den USA, einen besonderen Einfluß auf die Theologie 4 . Andererseits existierte in den USA, also im akademischen wie kirchlichen Referenzrahmen der 2. Hälfte seines Le-

3

4

Obwohl Schleiermacher sie als die Krone der Theologie pries, ist sie kein dritter Teil, der noch zu den historischen und systematischen Teilen hinzukommt. Sie ist die ‚technische Theorie‘, welche die beiden anderen auf das Leben der Kirche anwendbar macht. Eine technische Theorie beschreibt die zweckmäßigsten Mittel zur Erreichung eines gegebenen Zieles. Das Ziel der praktischen Theologie ist das Leben der Kirche.“ P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart, 41973, 42. P. Tillich, Die Relevanz des Pfarramts für die heutige Zeit und seine theologische Grundlage, EW IV, Stuttgart 1975, 71-84 (Übersetzung aus dem englischen Original 1960; dort lautet der Zentralbegriff „ministry“). Die Schrift ist so sehr auf Tillichs Grundgedanken bezogen, dass die deutschen Herausgeber eine warnende Fußnote meinten anbringen zu müssen: „Wer mit Tillichs Lehre vom Leben und dem Geist, die er im III. Band seiner Systematischen Theologie darstellt, nicht vertraut ist, wird diese Andeutungen nicht verstehen.“ (EW IV, 82) E. B. Holifield, Tillich, Paul, in: R. Hunter (Hg.), Dictionary of Pastoral Care and Counseling, Nashville 1990, 1277: “[D]uring the two decades following the Second World War, no theologian exercised more influence than Tillich on the theological and theoretical interpretation of pastoral care, especially in North America.”

Gestalten der Praxis – Praxis gestalten

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bens, eine Praktische Theologie in der im deutschsprachigen Raum geläufigen Konzeption einer Praxis-Theorie überhaupt nicht, und sie hat sich bis heute an den namhaften theologischen Fakultäten in Boston und Chicago erst mühsam zu entwickeln begonnen. Wenn Tillichs Arbeiten den Praxis-Begriff nicht intensiver diskutieren, heißt das nun aber keineswegs, dass sein kulturtheoretischer Ansatz keine Relevanz für das Verstehen von Praxis hätte. Ich möchte im Folgenden die These vertreten, dass man diese Relevanz und die Innovationskraft heute am besten mit Rekurs auf Tillichs Gestaltbegriff und sein Gestaltdenken insgesamt erweisen kann. Der Gestaltbegriff spielt in seiner Arbeit seit den 20er Jahren in Berlin eine durchgängige und wichtige Rolle. Und dabei kommen nicht nur in vielfältiger Weise Sachverhalte zur Diskussion, die irgendetwas mit Praxis zu tun haben. Das theologische Problem der Praxisgestaltung findet man bei näherem Hinsehen auf Tillich vielmehr grundsätzlich thematisiert. Etwa dort, wo es in Protestantismus als K ritik und Gestaltung (GW VII, 29-53) schon 1929 programmatisch heißt: „Kann der Protestantismus trotz der entschlossenen Durchführung der prophetischen Kritik, die er nicht abschwächen darf, ohne sich selbst aufzugeben, Wirklichkeit werden in einer Gestalt der Gnade? Die grundsätzliche Antwort darauf ist schon gegeben durch die Herausarbeitung eines protestantischen Sinnes von ‚Gestalt der Gnade‘. Und aus dieser grundsätzlichen Antwort lassen sich weitere ableiten, die alle Gebiete der Theologie, namentlich der systematischen und praktischen, betreffen.“ (GW VII, 49)

Innerhalb der jüngeren Praktischen Theologie ist der Gestaltbegriff bisher vor allem in Pastoralpsychologie und Homiletik fokussiert worden, aber noch kein Leitbegriff der Praxis-Theorie insgesamt geworden. Der Gestalt-Begriff bei Tillich ist bislang nur ausschnitthaft erschlossen worden, etwa von H. Jahr für die Metaphysik 5 oder von K. Grau für eine „Theologie der Heilung“ 6 . Deshalb möchte ich mit meinen Überlegungen nicht nur theologisch sinnvolle Erweiterungen des Praxis-Verständnis der Praktischen Theologie diskutieren. Andere und Kundigere mögen daraus zugleich bescheidene Anregungen des Nicht-Experten zu einem Desiderat der Tillich-Forschung entnehmen. Meine Darstellung nimmt dabei auch 5

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H. Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik, Berlin 1989. Vgl. Dies., Der Begriff der ‚Gestalt‘ als Schlüssel zur Metaphysik im Frühwerk Paul Tillichs, in: G. Hummel (Hg.), God and Being: The Problem of Ontology in the Philosophical Theology of Paul Tillich, Berlin 1989, 108-124. K. Grau, „Healing Power“. Ansätze zu einer Theologie der Heilung im Werk Paul Tillichs, Münster 1999.

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historische Sprünge in Kauf, insofern ich vor allem auf Tillichs Arbeiten vor 1945 rekurriere.

2. Praxis und Gestalt. Zum Stand der Debatte Zur praktisch-theologischen Kontextualisierung meines Beitrages schalte ich einige Bemerkungen zum Verständnis von „Praxis“ und „Gestalt“ vor. 2.1 Obwohl der gesamten Theologie ein Praxisbezug im Sinne des Professionsbezugs seit jeher unterstellt wurde, rückte eine auf „Praxis“ gerichtete Denkbewegung der eigenständigen Disziplin Praktische Theologie recht spät in den Kanon der theologischen Fächer auf. Die moderne Praktische Theologie als Disziplin startete erst bei Schleiermacher anspruchsvoll als „Praxis-Theorie“ 7 . Auch sein Praxis-Begriff blieb bei aller Offenheit für die Dimension der „Kunst-Regeln“ im Wesentlichen technisch. Das Fach verblieb dann lange Zeit im Stadium einer applikativen Hilfsdisziplin zur Klärung von Fragen praktischer Umsetzung sogenannter theologischer Inhalte. Die Ablösung des historisch-rekonstruktiven Denkens durch Öffnung zu empirisch-kritischer Wahrnehmung kirchlicher und gesellschaftlicher Veränderungen seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts hat neues Interesse an „Praxis“ mit sich gebracht. Die Arbeit an der „PraxisTheorie“ ist in internationaler Perspektive gesehen über einzelne Handlungsfelder der Kirche (wie Homiletik, Religionspädagogik, Poimenik usw.) hinaus durch eine Reihe von Grundmodellen vorangebracht worden. Die Denkbewegung der zeitgenössischen Praktischen Theologie zielt insgesamt nicht mehr auf Illustration oder Applikation biblisch oder systematisch-theologisch vorgegebener theologischer Grundbegriffe in Bezug auf kasuistisch gedachte Praxis. Die Varianten zur Ablösung eines älteren, rein applikativen Konzeptes sind vielfältig. Ich nenne nur drei:

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F. Schleiermacher, Die Praktische Theologie nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Nachschrift J. Frerichs, unveränderter Nachdruck, Berlin 1983, 12.

Gestalten der Praxis – Praxis gestalten

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1. Im Ansatz funktionaler Handlungstheorie (Zerfaß; Daiber u.a.) 8 wurde ein erkenntnistheoretisch und wissenssoziologisch fundierter PraxisBegriff favorisiert. Religiöse Praxis von Menschen ist danach nicht nur als Zustimmung oder Ablehnung zu Sätzen des Glaubens beschreibbar, sondern auch als soziales Handeln, das in gesellschaftlichen Funktionszusammenhängen steht. Hier macht die Praktische Theologie nicht das Verstehen überlieferter Texte, sondern gegenwärtiges christlich-kirchliches Handeln zu ihrem Ausgangs- und Zielpunkt. In Weiterführung des funktionalen Ansatzes reklamierten G. Otto und seine Schüler H. J. Dörger und H. Luther einen stärker gesellschaftskritisch unterlegten Praxisbegriff. 9 2. Das eine Generation später von W. Gräb u.a. entwickelte Programm einer „Praxistheorie Protestantischer Kultur“ als „religionstheologische Kulturhermeneutik“ 10 soll Kirche aufklären über ihre gesamtkulturelle Leistung in Geschichte und Gegenwart. Um die Kulturfähigkeit von Kirche wiederzugewinnen, wird unter Berufung auf Schleiermachers Subjektivitätstheorie wie Religionstheorie ein weiter Horizont in Anschlag gebracht. Das Programm soll zugleich die nachchristliche säkulare Kultur aufklären über ihre historischen Wurzeln wie über die gegenwärtig lebendigen Sachgehalte ihrer modernen Ausdrucksformen für Weltbilder und Sinndeutungen. Dieser Ansatz ist weniger handlungsorientiert, dagegen stärker sinntheoretisch imprägniert. Praxis wird stark auf kommunikatives Handeln fokussiert. 3. Vom Ansatz einer lebensweltbezogenen Empirischen Theologie 11 habe ich mit meinen Arbeiten dafür plädiert, Praxis von der lebensweltlich erschlossenen „Gelebten Religion“ her zu denken. Auch dieser Ansatz der Praktischen Theologie zielt auf Erneuerung kirchlicher Praxis, aber in veränderter Wahrnehmung und in erneuerter 8

R. Zerfaß, Praktische Theologie als Handlungswissenschaft, in: F. Klostermann/ Ders. (Hg.), Praktische Theologie heute, München/Mainz 1974, 164-177. K.-F. Daiber, Grundriß der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft. Kritik und Erneuerung der Kirche als Aufgabe, München/Mainz 1977. 9 G. Otto, Praktische Theologie als kritische Theorie religiös vermittelter Praxis, in: F. Klostermann/R. Zerfaß (Hg.), Praktische Theologie heute, München/Mainz 1974, 195-205. 10 W. Gräb, Praktische Theologie als Praxistheorie protestantischer Kultur, in: W. Gräb/B. Weyel (Hg.), Praktische Theologie und protestantische Kultur, Gütersloh 2002, 35-51. 11 A. Dinter/H.-G. Heimbrock/K. Söderblom (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007.

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Form. Es geht dann weniger um möglichst „korrekte“ oder „vollständige“ Wiederholung der Formen tradierter kirchlicher Praxis, sondern um die Verlebendigung ihres Geistes (im Sinne des 3. Glaubensartikels). Deshalb dürfen auch neue kulturelle Gestaltungsperspektiven der Kunst als inszenatorischer Praxis, Phantasie und Improvisationen ins Spiel kommen. Notwendig dazu scheint mir ein doppelter Praxis-Begriff, der neben unreflektiert vorhandenen Handlungs- und Erlebensabläufen auch einen emphatischen Begriff von Praxis etwa im Sinne H. Peukerts 12 aufnimmt. 2.2 In der theologischen wie soziologischen Thematisierung kirchlichen Handelns bzw. religiöser Praxis ist von Gestaltung auf vielfältige, jedoch oft unspezifische Weise die Rede. Und das ist eine relativ junge Entwicklung. Das Wort „Gestalt“ hatte in der älteren protestantischen Theologie keinen Ort zur Konzeptualisierung von menschlicher Praxis. Es tauchte auf im Rahmen alt- und neutestamentlicher Passionstheologie (Jes 53, 2; Phil 2, 6), dort mit dem theologischen Akzent der Negation von Gestalt, sodann in den vorreformatorischen und reformatorischen Abendmahlslehren (CA XX „unter beiderlei Gestalt“; „utraque species“), hier auch in gewisser Äquivalenz zum Formbegriff. Der Gestaltbegriff ist innerhalb der neueren Theologie zunächst in der Sozialethik aufgenommen worden, unter der Fragerichtung nach der „Sozial-Gestalt“ des Protestantismus 13 (bekannt ist das EKD-Papier von 1999 Gestaltung und Kritik 14 ). Hier bemühte man sich in gesamttheologischer Verantwortung um kritisch-konstruktive Erschließung des Religionswandels im Prozess moderner Kultur, blieb aber vielfach der engeren Perspektive überkommener kirchlich-protestantischer Gestaltungstraditionen verhaftet. Terminologisch wird in aller Regel, wie in der Umgangssprache, 12 H. Peukert, Was ist eine Praktische Wissenschaft?, in: O. Fuchs (Hg.), Theologie und Handeln. Beiträge zur Fundierung der Praktischen Theologie als Handlungstheologie, Düsseldorf 1984, 64-79. Vgl. dazu H.-G. Heimbrock, Evangelische Theologie als Praxis-Wissenschaft. Empirisch-theologische Erschließung gelebter Religion, a.a.O. (Anm. 1), 221. 13 Vgl. E. Amelung, Die Gestalt der Liebe. Paul Tillichs Theologie der Kultur, Gütersloh 1972. 14 Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert, hrsg. vom Kirchenamt der EKD und der Geschäftsstelle der VEF, Hannover/Frankfurt/Main 1999.

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ein schwacher Gestaltbegriff benutzt, der auf Handeln, Machen oder Durchführen hinausläuft, ob in Bezug auf Unterrichtsgestaltung, oder Lebensgestaltung im Brandenburger Konzept L-E-R. In der Praktischen Theologie hat der Gestalt-Begriff im engeren Sinne bislang noch keine Schlüsselstellung. 15 Unter anderem in Aufnahme theologischer monita an Handlungstheorien hat der Bonner Praktische Theologe H. Schröer schon vor Jahren den Vorschlag eingebracht, die Disziplin nicht wie üblich am Handlungsbegriff, sondern am Leitfaden des Gestaltbegriffs zu orientieren. 16 Soweit ich sehe fand dieser unorthodoxe Vorschlag Schröers zunächst keine Resonanz. Das ist insofern verwunderlich, als mit dem Leitbegriff ‚Gestalt‘ forschungsgeschichtlich gesehen eigentlich nur eine Linie weitergeführt und für den Grundansatz des Faches in Anschlag gebracht wurde, die in Teilfächern der Praktischen Theologie bereits seit längerem thematisiert worden waren. Das gilt insbesondere für die Seelsorgetheorie, die vor allem produktive Anleihen an der Gestalttherapie versucht hat 17 , ansatzweise auch für Predigtlehre und Religionspädagogik. 18 15 Im Handbuch Praktische Theologie findet sich kein Stichwort (W. Gräb/B. Weyel [Hg.], Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007). Das entspricht den Fehlstellen in der RGG wie auch der TRE. 16 H. Schröer, Die theologischen Voraussetzungen kirchlicher Gestaltung (1986), in: Ders. (Hg.), In der Verantwortung gelebten Glaubens. Praktische Theologie zwischen Wissenschaft und Lebenskunst, Stuttgart 2003, 33-46. 17 Zur Poimenik vgl T. C. Oden, The Structure of Awareness, Nashville 1969. W. A. Knights, A Gestalt Approach in a Clinical Training Group, in: Journal of Pastoral Care 24, 1970, 193-198. K. H. Ladenhauf, Integrative Therapie und Gestalttherapie in der Seelsorge, Paderborn 1988. S. Essen, Körpererleben und religiöse Erfahrung, in: WzM 33, 1981, 18 ff. K. Gastgeber, Gestalt-Gruppenarbeit als Hilfe für die Seelsorge, in: J. Scharfenberg (Hg.), Glaube und Gruppe, Wien/Göttingen 1980, 81 ff. M. Klessmann, Gestalttherapie in der Klinischen Seelsorgeausbildung, in: WzM 33, 1981, 33 ff. K. Lückel, Begegnung mit Sterbenden, München 1990, 193-203. Zur Homiletik vgl. R. Bohren, Die Gestalt der Predigt (1954), in: G. Hummel (Hg.), Aufgabe der Predigt, Darmstadt 1971, 207-231 sowie jetzt zusammenfassend H.-G. Heimbrock, Spuren Gottes wahrnehmen. Phänomenologische Impulse für Predigt und Gottesdienst, Stuttgart 2003. 18 Vgl. Ch. Bizer, Die Gesellschaft auf dem Dachboden und von einem biblischen Kobold. Ein religionspädagogischer Versuch zur Gestaltpädagogik, in: JRP, 7, 1991, 161-178. Religionspädagogisch orientiert ist auch mein Beitrag, H. G. Heimbrock, Gestalten Bilden, in: Th. Schreijäck (Hg.), Werkstatt Zukunft. Bildung und Theologie im Horizont eschatologisch bestimmter Wirklichkeit, Freiburg 2004, 104-124.

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Eine dezidiert theologische Richtung hat der Marburger Theologe H. Luther dem Gestaltbegriff gegeben. Gestalt wurde hier zwar durchaus auch als ethische Kategorie im Sinne der Lebensgestaltung ernst genommen. Für seine kritische Bildungstheorie thematisierte Luther jedoch im Gestaltbegriff stärker das Spannungsverhältnis von Ganzheit und Fragment. Gegen ein illusionistisches Modell von Identitätsbildung zu letzter Vollkommenheit plädierte er für eine Sicht von ‚Fragment‘ als einem kreativen Element im Bildungsgeschehen zu humaner Ich-Identität. „Das Fragment trägt den Keim der Zeit in sich. Sein Wesen ist Sehnsucht. Es ist auf Zukunft aus. In ihm herrscht Mangel, das Fehlen der ihn vollendeten Gestaltung. Die Differenz, die das Fragment von seiner möglichen Vollendung trennt, wirkt nun nicht nur negativ, sondern verweist positiv nach vorn.“ 19

Dass hier ein starker und auch theologisch fundierter Gestalt-Begriff benutzt wird, ist offensichtlich. Der theologische Gestaltbegriff hat in der Christologie von Phil 2, 5 im Gedanken der Solidarität Gottes mit der leidenden Gestalt Jesu in der Passion seine biblische Wurzel. Daraus kann anthropologisch ein Gestaltdenken in deutlicher Kritik an Schönheitsästhetik und Vollkommenheitsidealen abgeleitet werden. Dies eröffnet, gesehen gerade im Gedanken der Spannung zwischen empirisch erreichten Gestalten und noch unabgegoltenen Gestaltungsmöglichkeiten bzw. nie erreichbaren Gestaltungsstufen, qualifizierbare Perspektiven für humane Gestaltungsmöglichkeiten von Leben. H. Luther hat den Zusammenhang dieses Gestaltbegriffs mit dem Praxisbegriff selbst nicht diskutiert, war eher an einem alltagstheoretisch reformulierten Religionsbegriff interessiert.

3. „Gestalt“ im Horizont protestantischer Profanität Machen wir einen bewussten Sprung zu Tillichs Arbeiten, insbesondere zu denen seiner frühen Zeit vor der Emigration. Dort taucht der Begriff der „Gestalt“ bereits sehr früh auf und wird immer wieder traktiert. Das geschieht allerdings nicht als ein kohärent identifizierbarer Topos. „Gestalt“ kommt in ganz verschiedenen Werkteilen und Forschungsbereichen vor, in der Wissenschaftslehre und Metaphysik, der Kosmologie, der Anthro19 H. Luther, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: Ders. (Hg.), Religion und Alltag, Stuttgart 160 ff., hier: 169.

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pologie, der Ekklesiologie, den Reflexionen zur Seelsorge, insbesondere aber im Rahmen kulturtheologischer Überlegungen und in Arbeiten zur Kunst. Im Rahmen dieses Beitrages soll es nicht um differenzierte chronologische Analysen gehen. Ich beschränke mich vor allem darauf, die für unseren Zusammenhang wichtigen inhaltlichen Aspekte zusammenzustellen. 1. Zunächst scheint mir im Rahmen unserer kulturtheologischen Debatten ein negativer Befund der Erwähnung wert. In Tillichs kulturtheologischer Initialzündung von 1919, im Text Über die Idee einer Theologie der Kultur (GW IX, 13-31) mit der Grundthese „Der tragende Gehalt der Kultur ist die Religion, und die notwendige Form der Religion ist die Kultur“ (GW IX, 42) kommt das Wort „Gestalt“ nicht ein einziges Mal vor. Verwendet wird dort en passant der Begriff Gestaltung, und zwar im ethischen Sinne als „Lehre von der Gestaltung der Persönlichkeit“. Tillich entwickelt seine Gedankenführung durchgängig mit den Begriffen „Form“ und „Gehalt“. Allerdings ist auf die kultur-theologische Linie noch weiter einzugehen. Denn andere relevante Texte dazu machen nun außerordentlich regen Gebrauch vom Gestalt-Begriff. 2. Tillich hat Gestalttheorie explizit und mehrfach erwähnt 20 . Seine Bezugsquellen für den Gestaltbegriff sind gleichwohl keineswegs hinreichend geklärt. In einer Fußnote vermerkt er Impulse des Nationalökonomen Rüstow 21 , der Mitglied des später sogenannten Kairos-Kreises war. Offensichtlich wurden aber auch lebensphilosophische und phänomenologische Denkmomente aufgenommen (Bergson, Simmel). Tillich hat selbst notiert, dass sein Denken durch Begegnung mit Gestalttheoretikern, insbesondere vom Neurologen Kurt Goldstein, beeinflusst worden sei. 22 Auch Goldstein musste emigrieren und lehrte in den USA u.a. an der Columbia University. H. Jahr hat darauf verwiesen, dass Tillich in seinen Frühschriften einen Gestaltbegriff entwickelt, der gegenüber der Gestaltpsychologie, mit der er dann in der Frankfurter Zeit Kontakt bekam, durchaus eigenständige Züge trägt. In ihrer eigenen Arbeit hat sie Tillichs 20 Z.B. in P. Tillich, Natur und Sakrament (1928), GW VII, 111. 21 „Das Wort ‚Gestalt‘ für Systeme geschlossener Kausalität verdanke ich zahlreichen Auseinandersetzungen mit Dr. Alexander Rüstow in Berlin, der das Wort selbst mehr im phänomenologischen Sinne gebrauchte.“ (GW I, 160, Anm. 4). 22 P. Tillich, The Significance of Kurt Goldstein for Philosophy of Religion, in: Journal of Individual Psychology 15 (1), 1959, wieder abgedruckt in: P. Lefevre, The Meaning of Health: Essays in Existentialism, Psychoanalysis, and Religion, Chicago 1984, 140-143.

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Begriff der „Gestalt“ dort in metaphysischen (bzw. ontologischen) und erkenntnistheoretischen Reflexionen verortet. Gestalt, so ihre These, fungiert als begriffliche Überwindung der Dichotomie von Form und Inhalt. Die „spannungsreiche Synthese von Form und Inhalt nennt Tillich Gestalt“ 23 . Das ist sicher nicht ganz falsch, aber ergänzungsbedürftig. Denn ganz abgesehen vom sehr verschlungenen Interdependenzen und gegenseitigen Anregungen zwischen den frühen Gestaltpsychologen und Tillich hat dieser schon in frühen Schriften einen schillernden Gestalt-Begriff formuliert, der mindestens zwei Elemente aufweist. Früh lässt sich m. E. eine Doppel-Gestalt von „Gestalt“ ausmachen: Tillich akzentuiert einerseits den Ganzheitsaspekt, andererseits das Moment des Lebendigen. Im kleinen Abschnitt Das Lebendige und die Gestalt aus der bekannten Schrift von 1926 Die religiöse Lage der Gegenwart klingt beides an. (GW X, 21 ff.) Da wird Situationserschließung an diversen Wissenschaften durchdekliniert. In Bezug auf die Psychologie, bei welcher Tillich eine Zwischenstellung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft erörtert, kommt in Richtung geisteswissenschaftlicher Einordnung ein holistisch dimensionierter Gestalt-Begriff zum Zuge: „Die moderne Psychologie (Köhler, Wertheimer, Spranger) hat erkannt, daß kein einziger seelischer Vorgang losgelöst von der ganzen seelischen Gestalt gedacht werden kann, sondern daß in jedem Moment des inneren Erlebens das Ganze gegenwärtig ist, und daß die Seele auch die Wirklichkeiten nicht als einzelne Momente, sondern als Ganzheiten aufnimmt.“ (GW X, 22 f.)

Aufgenommen ist dabei aber zugleich das andere Moment, nämlich der lebensphilosophische Tenor dieser Begriffsfüllung. Und dieser klingt schon in der Wissenschaftslehre von 1923 an. Dort wird Gestalt mit dem Gedanken des Lebens verbunden. Gestalt ist nie das Abstrakte oder Gattungsmäßige, sondern immer das Individuell-Konkrete. Gestalt ist die unhintergehbare Gegebenheitsweise alles Lebendigen. „Es gibt keine Erklärung des Lebendigen, weil die Gestalt eine Urkategorie ist, die nur metalogisch zur Anschauung gebracht werden kann.“ 24 Methodisch ist sie nur durch einfühlendes Verstehen zu erfassen. Der holistische Ansatz taucht auch in gestalttheoretischer Bestimmung von Religion auf. Frühe Impulse mündeten in die These in seiner Systematischen Theologie, dass der Gegenstand der Theologie insgesamt 23 H. Jahr, Theologie als Gestaltmetaphysik, a.a.O (Anm. 5). 24 P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), GW I, 157, siehe auch: 109-293, hier: 157.

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vom Gestaltansatz her zu begreifen sei. 25 Im 4. Teil seiner Systematischen Theologie hat Tillich insbesondere in der „Dimensionenlehre“ 26 die beiden angesprochenen Elemente aufgenommen. Wirklichkeit wird dort im Sinne der Lebensvorgänge diskutiert. Sie wird als selbstorganisierte Ganzheit verstanden, also nicht kausal-mechanistisch, sondern eher holistisch im Sinne humanistischer Psychologie und Gestalttherapie. Zu den Prinzipien des Lebens zählt Tillich im Sinne gestalttheoretischen Denkens Momente wie Selbstregulation, Selbst-Aktualisierung, Ganzheit und Zentriertheit.27 Tillichs Gestaltbegriff ist auch in formaler Hinsicht doppelgesichtig, er umfasst ähnlich wie der Bildungsbegriff sowohl ein rezeptives als auch ein produktives Moment. „Jede Gestalt vollzieht in jedem Augenblick ihrer Existenz Akte der Beziehung zu der übrigen Wirklichkeit, Akte, in denen sie die Dinge in sich aufnimmt und Akte, in denen sie sich in die Dinge hineinbildet. Dieser Doppelakt ist das Leben der individuellen Gestalt. In den vorgeistigen Gestalten vollzieht sich dieser Akt unmittelbar und ist den Strukturgesetzen unterworfen. Bei den geisttragenden Gestalten tritt er unter die Forderung der unbedingten Form.“ 28

3. Beim Versuch, den Beitrag von Tillichs Erschließung des Gestaltbegriffs für das Verständnis von Praxis zu rekonstruieren, darf neben den bisher genannten Elementen nun allerdings auch in einer ganz skizzenhaften Rekonstruktion von Tillichs Gestalt-Denken das nicht fehlen, was Tillich im Laufe vieler Jahre im Zusammenhang der Reflexionen zu Kul25 “[T]he systematic construction has led me to conceive the object of theology in its wholeness, as a Gestalt in which many parts and elements are united by determining principles and dynamic interrelations.” P. Tillich, Systematic Theology, Vol. 1, Chicago 1963, 3. Zu Tillichs Rezeption von Frankfurter Gestalttheoretikern (M. Wertheimer, K. Goldstein u.a.) vgl. die sehr gründliche Analyse bei K. Grau, Healing Power, a.a.O. (Anm. 6), 134 ff. 173 ff. 26 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966, 21 ff. (Kap.: Die vieldimensionale Einheit des Lebens). 27 Hier setzt denn wohl zu recht auch K. Graus Kritik an: Es „wird als grundlegendes Problem greifbar, daß Tillich seinem gesamten anthropologisch-pneumatologischen Entwurf fast stillschweigend eine gestalttheoretische Perspektive mit geradezu holistischem Anspruch unterlegt, deren Gültigkeit unüberprüfbar ist. Diese Überstrapazierung des ganzheitstheoretischen Ansatzes muß nun aber nicht zu einer generellen Absage an die Gestalttheorie führen, deren Forschungen auf dem Gebiet der Biologie und insbesondere der Neurologie weiterhin von Bedeutung sind.“ K. Grau, Healing Power, a.a.O. (Anm. 6), 176. 28 P. Tillich, System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, GW I, 224.

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tur und Protestantismus entwickelt hat. Hier wird Gestalt unter dezidiert theologischen Vorzeichen thematisiert. Was dort auch im Zusammenhang einer Neubestimmung von Religion unter den Begriffen „Gestalt“ und „Gestaltung“ ausgeführt wird, wird in der Tillich-Forschung m. E. zu Unrecht oft auf das Problemfeld theologischer Ethik abgeschoben. Denn hier ist sachlich zugleich von kultureller und religiöser Praxis die Rede. So kommen wir trotz des oben genannten negativen Befundes zwangsläufig zu kulturtheologischen Gedankengängen zurück. In Protestantismus als Kritik und Gestaltung (1929) entwickelt Tillich seine Position zu einer kritisch-kulturbezogenen Praxis von Kirche wie auch zur Wahrnehmung religiöser Gestalten in der Kultur generell. Das geschieht bekanntlich in der Frontstellung gegen den katholischen Sakramentalismus einerseits, gegen den Barthianismus andererseits. Protest gegen die Form bzw. Gestalten der Tradition und Vermögen zur Formgebung bzw. weiteres Gestalten sollen in gegenseitiger Abhängigkeit ernst genommen werden. Aufgenommen wird erkennbar die formale Doppelbedeutung von Gestalt als Rezeption eines vorgegebenen Ganzen und als kreative Produktion. Das Problem der Praxisgestaltung, und zwar nicht als technisches, sondern als prinzipielles theologisches Problem, wird hier von einem theologisch angereicherten Gestalt-Begriff her angegangen mit der bereits oben zitierten Frage: „Kann der Protestantismus trotz der entschlossenen Durchführung der prophetischen Kritik, die er nicht abschwächen darf, ohne sich selbst aufzugeben, Wirklichkeit werden in einer Gestalt der Gnade?“ 29 Die Ausgangsthese vom prae der Gestalt lautet: „Denn die Gestalt ist das Prius der Krisis, die rationale Gestalt die Voraussetzung der rationalen Kritik, die Gestalt der Gnade die Voraussetzung der prophetischen Kritik.“ (GW VII, 36) Tillich Lösung liegt bekanntlich in der Bestimmung zeitgenössischer Kultur unter dem Begriff der „protestantischen Profanität“. Der Protestantismus drängt mit seinem Weltbezug zu Profanität, was eine Tendenz zur Selbstauflösung einschließlich aller bisher als sakral geltenden Formen beinhaltet. Damit wird einer segmentalen Scheidung durch gegenstandsbezogene Abgrenzung zwischen religiösen und profanen Gestalten, dem Sinn der Rede von einer sogenannten „religiösen Kultur“ widersprochen. Zur Abwehr der Selbstauflösung ist die Theologie genötigt, sich mit Tillich gesprochen, der „religiösen Substanz der Kultur“ zu befassen. Denn: 29 P. Tillich, Protestantismus als Kritik und Gestaltung, GW VII, 49.

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„Die Formen der religiösen Kultur, in denen die Gestalt der Gnade lebt, sind Formen, in denen die Profanität den Charakter des transzendenten Bedeutens, die Vorwegnahme des Jenseits von Sein und Freiheit, annimmt. Diese Formen bleiben demgemäß in strenger Korrelation zur Profanität. Sie schaffen kein Sondergebiet, keine religiöse Sphäre, die gegenständlich abgegrenzt wäre, kein sanctum oder sanctissimum gegenüber dem profanum.“ (GW VII, 49 f.)

Folge dieses Gedankens ist ein doppelter Religionsbegriff, der neben organisierter Religion und korrespondierender persönlicher Religiosität auch „latente Religion“ (GW VII, 62) zur Geltung bringt. 4. Aus dieser kulturtheologischen Perspektive hat sich Tillich früh und durchgängig in philosophischem und theologischem Interesse mit Fragen der Kunst befasst, insbesondere mit Malerei und Architektur. Formale Brücke ist ein Gestaltbegriff, der nun auch die symbolische Relation, also „Symbolform“ als „Ausdrucksformen“ betont. Wenn gilt „Die Gestalt der Gnade ist Bedeutungsgestalt“, dann kann das nicht nur kunstgeschichtlich, sondern theologisch durchbuchstabiert werden an Epochen und Stilen der Kunst. Paradebeispiel war für Tillich der Expressionismus. Insbesondere im expressiven Element sah er Ausdrucksgestalten des christlichen Zentralsymbols des Kreuzes. 30 Mit der inhaltlich sehr viel weitergehenden These, Kunst sei Ausdruck von menschlichen Relationen zum Unbedingten 31 , mit der Zuordnung von Typen religiöser Erfahrung zu Kunstepochen und Stilrichtungen, hat sich Tillich bekanntlich den Protest von Vertretern einer Autonomie moderner Kunst eingehandelt. Unterhalb dieser in der Tat problematischen These finden sich m. E. jedoch analytische Beobachtungen ästhetischer Gestaltungselemente wie Formganzes, Umgang mit Licht und Farbe, die für eine Gestalttheologie von bleibendem Interesse sind. 5. Praktisch-theologische Rekonstruktionsarbeit an Tillichs Gestaltdenken trifft schließlich auf den Begriff des „religiösen Handelns“ zu, den Tillich früh schon im Sinn kultisch-liturgischen Gestaltens benutzte. 32 30 „Die neuen expressiven Stilelemente sind offenbar geeignet, das zum Ausdruck zu bringen, was im Symbol des Kreuzes enthalten ist.“ P. Tillich, Zur Theologie der bildenden Kunst und Architektur, GW IX, 242-355, hier: 351. 31 „Ohne eine Theologie der Kultur, und ohne eine Theologie der bildenden Kunst gibt es kein Verstehen des letzten Sinnes der Kunstwerke.“ GW IX, 347; vgl. auch P. Tillich, Die Kunst und das Unbedingt-Wirkliche (1959), GW IX, 356369. 32 Vgl. P. Tillich, Protestantismus als Kritik und Gestaltung, GW VII, 54-69, hier: 62.

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Selbstmitteilung von „Wort Gottes“ kann nicht nur durch menschliche Predigt, sondern auch „geschehen durch Handlungen, Gesten, Gestaltungen, natürlich nicht ex opere operato […], wohl aber ohne begleitende Worte. Sakramente, sichtbare Symbolik, leibliche, musikalische, künstlerische Ausdrucksformen sind ‚Wort Gottes‘, auch wenn nichts gesprochen wird, was nicht bedeutet ohne Erfassung des geistigen Sinnes“ (GW VII, 66 f.). Auf der Linie theologischer Reflexion zur Kunst aus dem Prinzip „protestantischer Profanität“ entwickelte Tillich immerhin skizzenhafte Bemerkungen zum liturgischen Gestalten im Gottesdienst. Kultische Formen in menschlichem Gestalten sollen keine sakrale Gestaltung als Sonderbereich sein, „kein heiliger Bezirk!“ Sie sind angemessen, wenn sie der Ergriffenheit vom Grund unseres Daseins Ausdruck verleihen. Die Parallele zur Rekonstruktion von Kunst jenseits „religiöser Kunst“ 33 wird streng durchgeführt. Im kurzen Vortrag Kult und Form (GW IX, 324327), gehalten bei der Eröffnung der Ausstellung des Kunst-Dienstes in Berlin am 10. November 1930, werden Kriterien genannt, die für Kunst ebenso gelten wie für angemessenes liturgisches Gestalten, nämlich Korrespondenz zum Alltag, zur Gegenwart und zur Wirklichkeit. Und eindringlich warnt er vor musealer Wiederbelebung der Tradition: „Wenn uns heute expressionistische Formen die Möglichkeit geben, uns in byzantinisch-romanische Formen der christlichen Vergangenheit einzufühlen, so ergibt sich daraus kein Recht, diese Möglichkeit zur Wiederbelebung des Vergangenen zu benutzen […], denn nicht unser Wesen ist es, das dort zur Gestalt gebracht ist, und es bleibt vielleicht das Schlimmste übrig, was kultische Gestaltung treffen kann: eine ästhetische Impression. Man sei hier aufs äußerste empfindlich! Man schweige lieber zu lange, als daß man zu früh rede. Vielleicht sind nur noch wenige Inhalte des vergangenen Kultus und Mythos uns ganz zugänglich. Dann bekenne man unsere Armut und versuche nicht, sie mit dem Reichtum der Vergangenheit aufzuputzen. Man habe den Mut, sich mit dem zu begnügen, was wir haben: Licht, Farbe, Material, Raum, Proportionen.“ (GW IX, 326)

Soweit in aller Kürze ein skizzenhafter Durchgang durch Tillichs Gestaltdenken. Überschaut man dies insgesamt, so ist schon von der knappen Zusammenstellung her deutlich geworden, welch breites Interesse er an diesem Topos hatte und welche grundsätzlichen theologischen Fragen da33 Auch H. Jahrs Behauptung, das sei „identisch mit dem traditionell so genannten Bereich der ‚Sakramente‘“ (Dies., Theologie als Gestaltmetaphysik, a.a.O. [Anm. 5], 435) ist korrekturbedürftig, es geht mindestens auch um Liturgie des Gottesdienstes.

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mit verbunden waren. Tillichs Gestaltdenken kann in der Pluralität der Denkmomente und der berührten Phänomene als ein Paradebeispiel seines theoretisch wie kulturell offenen und interdisziplinären Denkens gelten. Das hat freilich seine Kehrseite.

4. Gestalt: Bewusstsein und Struktur Wie eingangs notiert, kam Tillich bereits in seiner Berliner und dann auch seiner Frankfurter Zeit mit psychologisch arbeitenden Gestalttheoretikern in Kontakt. Und Vertreter der sich schon in Tillichs Berliner Zeit formierenden Bewegung der „Gestalttherapie“ wie Lore Pearls beriefen sich später in der Genealogie ihrer Arbeit neben Buber gern auf Tillichs Impulse. Inwieweit dies sachlich gerechtfertigt ist, wieweit also der Ganzheitsaspekt theoretisch den Leitfaden abgab, wurde eigentlich bislang nie überprüft. Ich möchte hier die Behauptung wagen, so breit Tillichs Beschäftigung mit dem Gestaltbegriff ausfällt, so begrenzt oder gar randständig fällt bei ihm der holistische Ansatz des Gestaltgedankens aus. Fragt man bei Tillichs Gestaltdenken zurück nach einem explizit in Anspruch genommenen bzw. faktisch durchschlagenden Theorierahmen, so ergibt sich nämlich eine andere Perspektive. Zugespitzt möchte ich behaupten, dass dieser Theorierahmen widersprüchlich und einseitig ausfällt und dass er deshalb ganz bestimmt dem Gestaltgedanken inhärente Möglichkeiten nicht zum Zuge kommen lassen kann. Denn mit dem aus der Gestaltpsychologie abkünftigen Gestaltgedanken importierte Tillich geradezu ein mit seinem eigenen ontologisch und sinntheoretisch orientierten Denkansatz kaum vereinbares Theoriemoment. Tillich thematisiert Gestalt von seinem kulturtheoretischen Ansatz her durchweg und insbesondere in seinen Schriften zur Kunst im Begriffsfeld von Form, Inhalt und Gehalt. Entsprechend werden „Gestalten der Gnade“ thematisiert als kulturelle Korrelate zu einer theologischen Grundidee. Dabei dominiert eine existenzialistische und implizit bewusstseinstheoretische Betrachtung. Es geht um den Sinn der Gestalten, letztlich um den religiösen Sinn, nota bene: im Kontext von Tillichs breitem Religionsverständnis. Der Sinn der Gestalten ermittelt sich dann – mit Traditionen eines bestimmten ästhetischen Denkens – als Vordringen von einer äußeren Einkleidung zu einem dieser „äußeren“ Gestalt vorgängigen Gedan-

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ken. 34 Bei Tillich wird diese Relation „Bedeutungsgestalt“ genannt (GW IX, 351). Tillichs Korrelationsdenken, die Analyse von Religion und Kultur im Begriff des Symbols, hat hier weite Perspektiven eröffnet. 35 Von diesem Ansatz her ist es auch plausibel, wenn Tillich die Metaphorik von „Tiefe“ und „Oberfläche“ gebraucht, und zwar im kritischen Sinne. Allerdings: Wer empfiehlt, man müsse die Täuschung der Oberfläche durchbrechen, um zur unbedingten Wirklichkeit des Seinsgrundes durchzustoßen, der übersieht die Ausdruckskraft der sogenannten „Oberfläche“. So musste er dann auch in Bezug auf Gestalten von „Täuschung“ sprechen, die durch Philosophie „durchbrochen“ werden müssten, was einen idealistischen Zug trägt, den Hang zum Platonismus. Eben hier zeigt sich allerdings, dass Tillich einen wahrnehmungspsychologisch ansetzenden Gestalt-Begriff überhaupt nicht ernsthaft in sein Theoriesystem aufgenommen hat. Bei Tillich gänzlich unterbelichtet bleibt der Wahrnehmungsgedanke, wie dieser bereits im Grundgedanken der gestalttheoretischen Programmschrift des 19.Jahrhunderts bei Ch. von Ehrenfels angelegt war und wie er bei M. Wertheimer, dem Begründer der Berliner Schule der Gestalttheorie und Tillichs Kollegen in der Frankfurter Zeit, entfaltet wurde. 36 Denn das von Aristoteles her bekannte Übersummationsphänomen von Gestalten wird in dieser Theorie als ein Wahrnehmungsphänomen begriffen 37 . Umgekehrt führte die in den 30er Jahren einsetzende philosophischphänomenologische Analyse der Wahrnehmungsvorgänge in der Schülergeneration nach Husserl sehr früh an die Bedeutung des Gestaltbegriffs heran. Dieser Denkansatz unterscheidet sich allerdings prinzipiell vom bewußtseinstheoretischen Zugang, wie ihn Tillich vor allem verwendete.

34 Vgl. zu dieser Tradition die Darstellung bei W. Strube, Art. Gestalt, in: J. Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974, 540 ff. 35 Vgl. M. von Kriegstein, Paul Tillichs Methode der Korrelation und Symbolbegriff, Hildesheim 1975. 36 Ch. von Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, 14, 1890, 249-292. M. Wertheimer, Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, I. Prinzipielle Bemerkungen, in: Psychologische Forschung, Bd. 1, 1922, 47-58. Ders., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt II, in: Psychologische Forschung, Bd. 4, 1923, 301-350. 37 Bei von Ehrenfels am akustischen Phänomen einer Melodie noch etwas zögerlich mit dem Begriff der „inneren Wahrnehmung“ beschrieben, Ch. von Ehrenfels, Über Gestaltqualitäten, a.a.O. (Anm. 36).

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Der damals noch völlig unbekannte Gymnasiallehrer M. MerleauPonty formulierte 1934 in seiner allerersten Programmschrift Die Natur der Wahrnehmung: „Für die Gestaltpsychologie hebt sich ein Gegenstand nicht durch seine ‚Bedeutung‘ (meaning) ab, sondern weil er in unserer Wahrnehmung eine besondere Struktur besitzt: die Struktur der ‚Figur auf einem Grund‘.“ 38

Mit diesem Gestaltansatz ist zwar die Frage nach der Sinnerschließung keineswegs ad acta gelegt, aber Sinnkonstitution wird hier nicht über einen bewusstseinstheoretischen oder interpretationistischen Zugang zum Phänomen der Gestalt avisiert, sondern über Wahrnehmung der Gestalt als Struktur. Dieser strukturbestimmte Zugang wurde später von MerleauPonty in der Studie Die Struktur des Verhaltens 39 weiter ausgearbeitet. Und er blieb für den phänomenologischen Gestaltbegriff maßgeblich 40 . Tillich hat den Gestaltgedanken der Berliner Schule und erst recht denjenigen von Merleau-Ponty nicht aufgenommen. Und so muss man konstatieren, dass er mit den vielen Thematisierungen des Gestaltgedankens ein seiner eigenen Bewusstseinstheorie fremdes oder zumindest nur schwer vermittelbares Element aufgenommen hat, das er theoretisch nur unzureichend verorten konnte. Es gehört allerdings zu den Stärken dieses theoretisch inkonsistenten Denkens, dass Tillich als wacher und stets kulturoffener Beobachter immerhin auf die Frag-Würdigkeit auch solcher Gestalt-Phänomene insistierte, die er theoretisch nicht mehr einholen konnte. Vom hier waltenden 38 M. Merleau-Ponty, Die Natur der Wahrnehmung (1934), in: Ders., Das Primat der Wahrnehmung, Frankfurt/Main, 2003, 18. 39 M. Merleau-Ponty, Die Struktur des Verhaltens (1949), Berlin 1976. 40 So prägnant in M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), Berlin 1966, 488: „Die an anderer Stelle von uns vorgenommene Unterscheidung Struktur und Bedeutung […] klärt sich nunmehr auf: der Unterschied zwischen der Gestalt des Kreises und der Bedeutung Kreis beruht darin, dass diese erkannt wird von einem Verstande, der sie erzeugt als den Ort von einem Zentrum gleichentfernter Punkte, jene aber von einem mit seiner Welt vertrauten Subjekt, das befähigt ist, die Gestalt als eine Modulation dieser Welt, als kreishafte Physiognomie zu erfassen. Auf keine andere Weise vermögen wir zu wissen, was ein Bild oder was ein Ding ist, als indem wir sie ansehen, und ihre Bedeutung enthüllt sich uns nur, wenn wir sie von einem bestimmten Gesichtspunkt aus, aus einem gewissen Abstand und in einem gewissen Sinn ansehen, kurz, wenn wir unser Einvernehmen überhaupt in den Dienst dieses Schauspiels stellen.“ Vgl. zum Ganzen die sehr differenzierte Analyse bei L. Embree, Merleau-Ponty’s Examination of Gestalt Psychology, in: Research in Phenomenology, 10, 1980, 89-121.

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Mut gibt noch sein letzter Beitrag zur Kunst, ein Vortrag in Santa Barbara von 1965, deutliche Auskunft. 41 In dieser an der religiösen Dimension der Kunst orientierten Analyse findet man neben bekannten Thesen zu der Bedeutung und Erschließungskraft des Stilelements immerhin auch Bemerkungen zur irritierenden Sperrigkeit bestimmter Darstellungsphänomene, die sich einer Diskursivierung widersetzen. Tillich führt nicht nur den aus vielen anderen Texten bekannten Kanon der Stile (des naturalistischen, des idealistischen und des expressionistischen Stiles) an. Sondern er berührt im Vortrag in großer Offenheit das Versagen seines auf Sinnerschließung ausgerichteten Zugangs bei der Erschließung von Phänomenen der pop-art. Mit sicherem Gespür nimmt er wahr, dass in Werken der zeitgenössischen pop-art das Figurale zurückkehrt, dass dabei gerade die Oberfläche, die Banalität des Alltags und nicht metaphysische Tiefen einer Bedeutsamkeit der Kunst thematisiert werden. “This certainly makes us dizzy: A kind of metaphysical dizzyness grasps us.” Aber dann folgt die Empfehlung, trotz aller sinntheoretischer Kalamitäten sich dem Phänomen zuzuwenden: “Yet we must encounter it” 42 .

5. Auf dem Wege zu einer praktisch-theologischen Theorie der Gestalt Tillichs Theorie weist also Schwachstellen in der theoretischen Verortung von „Gestalt“ auf. Wie sich eingangs gezeigt hat, ist er auch kein Theoretiker von „Praxis“, sehr wohl dagegen ein Theoretiker von Religion und Kultur. Machen wir den historischen Sprung zurück in die Gegenwart und wenden uns am Ende dem eingangs skizzierten Interesse zu. Nimmt man heute das Gestaltdenken Tillichs in praktisch-theologischem Interesse auf, so liegt die Gefahr ahistorischer Betrachtung allzu nahe. Ich kann sie hier nur zu bannen versuchen, indem ich darauf verweise, dass die Hinwendung zur Religionstheorie ebenso wie der cultural turn auch in der Praktischen Theologie lange schon im Gange sind, nach Tillich, aber in aller Regel ohne Bezugnahme auf seine Theologie. Ich benenne zunächst einige

41 P. Tillich, Religious Dimensions of Contemporary Art (1965), in: Ders., On Art and Architecture, hrsg. von J. Dillenberger, New York 1987, 171-198. 42 P. Tillich, Religious Dimensions of Contemporary Art, a.a.O. (Anm. 41), 182. Ich verdanke den Hinweis auf die Bedeutung dieser Textstelle R. Re Manning (siehe den entsprechenden Beitrag in diesem Band).

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an Tillich erkennbare Erweiterungen, die das Verständnis von Praxis insgesamt betreffen, fokussiere dann den Gestalt-Gedanken. 5.1 Zum Ersten: Bereits von Tillich her kommt ein Verständnis des Gestaltbegriffs in Sicht, das den Praxisbegriff über seine instrumentelle Engführung hinaus zu erweitern vermag, weil und insofern es über den Ansatz des „Herstellens“ hinausreicht. Gestalten sind immer beides, vorgefundene Phänomene und die Nötigung zum Prozess aktiver Umgestaltung. Hier ist Tillich auch ohne explizites Praxis-Denken unbedingt anschlußfähig an die gegenwärtige methodologische Debatte. Zum Zweiten: Tillich ist Kronzeuge für eine Theologie, die ihren Gegenstand jenseits der Enge kirchlicher oder „religiöser“ Praxis neu zu bestimmen versucht. Mit Überlegungen zur Sakramentalität des Alltags hat er faktisch die alltagstheoretische Wende der Praktischen Theologie vorweggenommen, lange ehe das in der Disziplin breiter geschah. Jenseits applikativer Ansätze wird Religion als Praxis in den Blick genommen, als notwendige wie stets vorläufige Kette kulturell vermittelter Gestaltungsversuche. Kulturelle Praxis muss als Horizont und als Thema von Theologie in Betracht kommen, und zwar nicht nur in Form von Säkularisaten. Den kulturellen Formen ist jenseits solcher theologischer Ableitungs- und Ordnungsversuche ein Eigenleben zuzugestehen, um den Phänomenen gerecht zu werden. Gerade von den Grenzen her ist Kultur, sind Kulturen als das Feld theologisch zu erschließen, und dieses Feld zeigt sich pluraler als im Modell von Sinndeutungstheorien. Zum Dritten: Für Tillich war der Gestaltansatz tragfähig nicht nur zur Beschreibung kultureller, sondern auch naturhafter Phänomene. Alles Lebendige tritt gestalthaft ins Leben. Der Strang zieht sich von der frühen Wissenschaftslehre durch bis zur Dimensionenlehre im 4. Teil der Systematischen Theologie. Nimmt man diese Linie auf, so zeigt sich im Blick auf die Praktische Theologie der letzten Jahrzehnte eine Engführung. Mit der weithin unbefragten und quasi selbstverständlichen Wiederholung von E. Langes programmatischer Formel von der Aufgabe der Predigt als „Kommunikation des Evangeliums“ ist faktisch eine Engführung von Religion auf Sprachpraxis und Sinndeutungspraxis einher gegangen. Dagegen kann Tillich – bei aller gestalttheoretischen Schwäche – als kritischer Impuls gelesen werden, die für Theologie relevanten Gestalten des Lebendi-

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gen auch im Bereich der Eingebundenheit in naturhafte Prozesse wahrzunehmen. Hier steht auch für Praktische Theologie jenseits des Kreationismus eine neue Bezugnahme auf Kosmologie an. Das wird z.B. in puncto Heilungsvorstellungen in seelsorgerlichem Begleiten sehr praktisch. 5.2 Ich entnehme diesem Ansatz sodann spezifische Impulse zur Entfaltung einer „Gestalt-Theologie“, wobei im Einzelnen dann auch die kritische Rückfrage an Tillich notwendig wird. Zum Ersten: Das Programm der „Gestalten der Gnade“ impliziert zweierlei, die Überschreitung einer auf „Gestalten des Wortes“ zentrierten Haltung hin auf stärkere Beachtung anderer kultureller Symbolwelten 43 . Und zwar ohne solche Gestalten, insbesondere Kunst in ihrer konkreten Ausdruckskraft immer gleich auf religiöse Symbolik hin zu biegen: „Man habe den Mut, sich mit dem zu begnügen, was wir haben: Licht, Farbe, Material, Raum, Proportionen […].“ 44 Gleichzeitig unternimmt er den Versuch der theologischen Kriterienbildung für diese Operation. Tillich empfiehlt nicht den naiven Gang ins Kunstmuseum, sondern das Wagnis der Gestalt in der Koppelung mit der Kritik der Form. Diesem kritischen Ansatz liegt nicht nur der allgemeine religionsphänomenologische Sachverhalt zugrunde, dass „Religion als Gestalt“ erscheint. Sondern er wird in protestantischer Zuspitzung präsentiert. Diese Aufgabe, Ausdruck des unendlichen Sinnes in endlichen Gestalten zu wagen, beinhaltet zumal für eine praktisch werden wollende und sollende Theologie enorme Herausforderungen. In neueren Arbeiten zur praktisch-theologischen Ästhetik sind diese vielfältig aufgenommen worden. 45 43 Notiert werden muss allerdings, dass im Protestantismus neuerdings gerade in der Gottesdiensttheologie unter der Perspektive „Gestalten des Wortes“ eine Öffnung symbolisch-liturgischen Handelns avisiert worden ist. U. Körtner, Gestalten des Wortes, in: H. Chr. Schmidt-Lauber u.a. (Hg.), Handbuch der Liturgik, 706 ff. 44 P. Tillich, Kultur und Form, GW IX, 326. 45 Neben H. Luthers Arbeiten sind hier insbesondere A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1987 und P. Biehl, Religionspädagogik und Ästhetik, in: JRP, 5, 1989, 3-44, zu erwähnen.

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Zum Zweiten: Das gilt insbesondere für gegenwärtige Bemühungen um gestaltpsychologische und phänomenologische Erweiterungen des Gestaltbegriffs. Hier ist nach Tillich, insbesondere seit den 70er Jahren einiges geschehen. Und dies wurde in seiner Relevanz für eine praxisbezogene Hermeneutik breiter entfaltet, ob im Blick auf die Wirkforschung an Sprach-Gestalten der Predigt 46 , auf eine neue Hermeneutik der Leiblichkeit in Reflexion biblio-dramatischer Prozesse 47 oder in Bezug auf Überwindung eines sensualistischen Wahrnehmungsverständnisses in neueren Arbeiten zur religiösen Erfahrung. Das alles nötigt dazu, die simple Schrittfolge „Wahrnehmen – Urteilen – Handeln“ als Verstehensmodell von Praxis zu verabschieden. Gestaltwahrnehmung als situativ gebundene sinnliche Anschauung verläuft bereits in universalen Regelstrukturen, im vor-logischen Gestalten der Lebenswelt, mitunter aber auch in Prozessen imaginativer Variation, mit „schrägem Blick“ auf eben diese alltäglichen Selbstverständlichkeiten. In diesem Sinne gilt deshalb, mit Susanne Langer gesprochen: „Unsere reine Sinneserfahrung ist bereits ein Prozeß der Formulierung.“ 48 Nimmt man diese Erkenntnis theologisch auf, so kann man gleichwohl hinter die Nötigung theologischer Qualifizierung des Gestaltbegriffs nach Tillich nicht mehr zurück. Zum Dritten: Von der neueren Rezeption der Gestaltpsychologie her ergeben sich freilich an Tillichs Kunstdeutung Rückfragen. Das betrifft zum einen eine rezeptionstheoretisch unterbestimmte Herangehensweise, die aus heutiger Sicht zu wenig Gewicht auf die konkreten Bedingungen von Rezeptionsvorgängen legt. Seine These, dass insbesondere expressionistische Kunst „die Tiefe in den Dingen zum Ausdruck bringt“ 49 , gilt nicht sozusagen von der Mächtigkeit der Kunstwerke unbedingt. Nicht für jeden und jede kommt zu jeder Zeit in einem Kunstwerk das Unbedingte zum Ausdruck. Das betrifft zum Anderen, wie oben angesprochen, eine Stärkung des wahrnehmungs- bzw. strukturbezogenen Modells von Gestalt. Nach Til46 Als erster verfolgte diese Problemstellung E. Lerle, Grundriß der empirischen Homiletik, Berlin 1974. 47 S. Laeuchli, Das Spiel vor dem dunklen Gott. ‚Mimesis‘ – ein Beitrag zur Entwicklung des Bibliodramas, Neukirchen-Vluyn 1987. G. M. Martin, Sachbuch Bibliodrama. Praxis und Theorie, Stuttgart 1995. 48 S. Langer, Philosophie auf neuen Wegen. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst (1942), Frankfurt/Main 1982, 95 f. 49 P. Tillich, Zur Theologie der bildenden Kunst, GW IX, 348.

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lich und unter Berücksichtigung neuerer Ansätze zum Gestaltdenken wird also das „Lob der Oberfläche“ neu zu durchdenken sein. Dabei ist in methodischer wie methodologischer Hinsicht Wahrnehmung als konstitutive Aufgabe Praktischer Theologie anzusetzen. GestaltWahrnehmung kann dann neben der textbezogenen Sinnerschließung als neues hermeneutisches Instrument zur Erschließung von Praxis fruchtbar gemacht werden. Denn der Mensch beginnt Sinnerschließung, auch Sinnerschließung zur religiösen Deutung der Welt, nicht erst mit sprachlichen Benennungsvorgängen, sondern in enger Bindung an den Gebrauch seiner fünf Sinne, in vorsprachlichen Gestaltwahrnehmungen und im Kontext seiner Leibhaftigkeit sowie in Wahrnehmung der Materialität der Dinge 50 . Praxis als ‚Gestalt‘ (statt als ‚Handeln‘) zu begreifen, erfordert methodologische und normative Klärungen eigener Art. Von Rezeptionsästhetik und Phänomenologie her ist der Gestaltbegriff in seiner gesamttheologischen Leistungsfähigkeit angesprochen. Neben dem theologischen Verständnis von Leben (im Horizont seiner „unabgeschlossenen Gestalten“) wären dann auch fundamentale Themen des christlichen Glaubens zu entwickeln, etwa Gestalten der Offenbarung als Erscheinungen oder eine neue Sicht auf Sakramente als Gestalten der Gnade. Auf dieser Linie, so glaube ich, lohnt die weitere Ausarbeitung des Gestaltansatzes zu einer GestaltTheologie als Grundfigur Praktischer Theologie. Der erweiterte Gestaltbegriff ist m. E. dazu in der Lage, die dreifache Aufgabenstellung neuerer Praktischer Theologie zwischen analytischdeskriptiver, sinnbildend-kritischer und intentional-konstruktiver Bemühung zu fundieren: – Das Interesse der Realitätserschließung empirisch orientierter Entwürfe wird aufgenommen und fokussiert auf eine erweiterte Wahrnehmung gegenwärtiger Religionspraxis als vorfindliche Gestalten der Kultur; – das Interesse kritischer Sichtung von Wirklichkeit im Sinne von normbildenden Prozessen und Leitfiguren mit der Perspektive „Reich Gottes“ wird mit eben diesem gehaltvollen Wahrnehmungs- und Strukturbegriff aufgenommen, indem daraus Momente der Wahr-Nehmung hergeleitet werden können; – das Interesse wirksamer Praxisanleitung wird, im Unterschied zu praxisbemächtigenden Tendenzen, vorsichtiger und theologisch angemes-

50 Vgl. dazu die Frankfurter Habilitationsschrift von I. Mädler, Transfigurationen. Materielle Kultur in praktisch-theologischer Perspektive, Gütersloh 2006.

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sener aufgenommen als Versuch, neue Gestaltungsweisen und Inszenierungen von Religion entwerfend einzuspielen. Ein Nachsatz: Mit der Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart eröffnete Tillich der Theologie 1926 den kritisch-konstruktiven Blick auf Kultur auf der Basis seiner theologischen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft. Heute besteht das Risiko der Theologie wohl eher darin, über ihre kulturtheoretische Wende die gesellschaftspolitische Verantwortung von Kirche aus dem Blick zu verlieren. Ökonomie und Sozialpolitik der Gegenwart haben Gestaltungsdeformationen einer gerechten Gesellschaft gezeitigt, deren Kritik Aufgabe einer an Gestalten der Gnade orientierten Theologie bleiben muss.

Zur Tillich-Rezeption in der praktisch-theologischen ‚Kulturhermeneutik‘ ANDREAS KUBIK Der Ausdruck „Kulturhermeneutik“, so hat man den Eindruck, ist seit kurzem in aller Munde; auch auf dem Wiener Tillich-Kongress 2010 fiel er des Öfteren. Begriffsgeschichtlich ist diese Karriere nur schwer zu deuten. Seine Herkunft ist nicht recht klar; die ältesten Spuren verweisen auf die Debatten der amerikanischen social sciences, besonders der postcolonial studies. Er reflektiert dort in der Regel die Voraussetzungshaftigkeit, ja den Herrschaftscharakter des Verstehens ‚fremder Kulturen‘ durch white anglo-saxon protestants. 1 In jedem Fall geht es um Fragen der interkulturellen Hermeneutik. Vollständig anders präsentiert sich hingegen die Verwendung des Ausdrucks in der deutschsprachigen Theologie: Hier werden durchgängig Probleme des intrakulturellen Verstehens erörtert. Dabei ist der Sprachgebrauch durchaus noch uneinheitlich. Vier Positionen lassen sich ausmachen: a) die theologiegeschichtliche: Sie setzt sich zur Aufgabe, die Bedeutung des Christentums für die allgemeine Kultur zu beschreiben (Friedrich Wilhelm Graf; Christian Albrecht u.a.). Zu diesem Zwecke werden Phänomene der (neueren) Christentumsgeschichte daraufhin befragt, welchen Beitrag sie zur Entwicklung moderner Gesellschaften geleistet haben. Der Sozialstaat beispielsweise kann als Fernwirkung des biblischen Nächstenliebegebotes verstanden werden, die Gewissensfreiheit als Nachwirkung der Reformation usw. Ahnherren dieser Richtung sind vor allem Richard Rothe und Ernst Troeltsch, der auch besonders auf die Ambivalenzen solcher Kulturbedeutungen hingewiesen hat. b) die erste dogmatische: Sie begreift als eine Aufgabe der Dogmatik die Hermeneutik der Religion (Jörg Lauster, Christopher Zarnow u.a.). 1

Vgl. für den deutschen Debattenkontext jetzt den Band von C. Ernst/W. Sparn/H. Wagner (Hg.), Kulturhermeneutik. Interdisziplinäre Beiträge zum Umgang mit kultureller Differenz, München 2008. Vgl. auch meine Besprechung, in: ThLZ 134, 2009, 1104-1106.

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Mit den Mitteln einer hermeneutisch orientierten, erfahrungstheologisch anpassungsfähigen Dogmatik werden konzeptuelle Möglichkeiten bereitgestellt, gelebte Religiosität zu dechiffrieren und auf den Begriff zu bringen. So dient etwa die Christologie als Verstehenslehre konkreter Jesusfrömmigkeit oder die Sündenlehre als Hermeneutik individueller Zerspaltenheit im letzten Verhältnis. Dieser Ansatz geht im Wesentlichen auf Friedrich Schleiermacher zurück. c) die zweite dogmatische: Sie könnte man als Phänomenologie der Sünde bezeichnen (Matthias Petzoldt, Tobias Claudy u.a.). Die Interpretation der Wirklichkeit weist nach diesem Ansatz, gerade wenn sie ‚unvoreingenommen‘ stattfindet, bedeutende Nähen zu traditionellen Bestimmungen der lutherischen Sündenlehre auf und versucht, deren theologischen Gehalt an der Wirklichkeit selbst auszuweisen. Die Kultur bedarf aufgrund der Selbstverblendungsstruktur der Sünde des Aufdeckens sündiger Strukturen von außen. Die narzisstische Selbstbespiegelung des kümmerlichen Ich im Medium von Heldenfilmen etwa lässt sich in diesem Ansatz mit Luthers Metapher vom In-sich-selbst-Verkrümmtsein des Menschen deuten; plastische Chirurgie und pharmakologisches enhancement als ‚ichzentrierte Lebensgier‘ lesen. Diese Art der Kulturbetrachtung dürfte auf das konservative Kulturluthertum des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgehen. d) die praktisch-theologische: Sie leistet die religiös orientierte Betrachtung, Beschreibung oder Interpretation von autonomen Kulturformen. Es wird hier versucht, die theologische Relevanz der Betrachtung auch solcher Kulturformen zu vertreten, welche sich selbst nicht unbedingt als religiös zu erkennen geben. Dabei soll der sündentheologische Kurzschluss programmatisch vermieden werden; orientiert ist diese Richtung zunächst einmal an einer Interpretation, welche das beobachtete Phänomen in seiner eigenen Sinnintention selbst nahe legt. Man braucht keine intensiven Kenntnisse der Theologie Paul Tillichs, um zu sehen, dass diese vierte Position einigen seiner Grundeinsichten nahe kommt. Man könnte sogar sagen, dass er diese Idee einer Art theologischer Tiefeninterpretation der autonomen Kultur mit als erster entwickelt hat. Von daher liegt es nahe, einmal zu untersuchen, ob und inwieweit sich die gegenwärtige ‚Theologische Kulturhermeneutik‘ – mit diesem Ausdruck sei im Folgenden stets bloß jene vierte Position bezeichnet – dieser Ahnenschaft bewusst ist und welche Familienverpflichtung sie daraus für sich entwickelt. Ich stelle zu diesem Zweck drei der derzeit prominentesten praktisch-theologischen Konzepte vor und befrage sie hinsicht-

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lich ihrer Tillich-Rezeption. 2 Auf etwaige Einwände werde ich versuchen, aus der Perspektive Tillichs zu antworten – nicht im Interesse einer planen Tillich-Apologetik, sondern um das in meinen Augen derzeit etwas stagnierende Gespräch um Inhalte und Methoden der ‚Theologischen Kulturhermeneutik‘ wieder ein wenig in Gang zu bringen. 3 Im letzten Abschnitt sollen einige Ergebnisse dieses inszenierten Dialogs gebündelt zusammengefasst werden, womit zugleich einige von der Tillich-Forschung verwertbare Beobachtungen mit anfallen mögen.

1. Die Macht der Phänomene – Hans-Günter Heimbrock Der Frankfurter Theologe Hans-Günter Heimbrock hat ein äußerst weit gespanntes Werk zu allen Gebieten der Religionspädagogik und der Praktischen Theologie vorgelegt. In dieses schlagen wir uns unsere Schneise ganz anhand der Fragestellung der Tillich-Rezeption. Deren Kontext bildet der Aufstieg des Themas ‚Gelebte Religion‘ gegen Ende der 1970er Jahre, das für ihn eine Art Lebensthema wird. ‚Gelebte Religion‘ wurde zunächst als innerchristlicher Gegen- oder Komplementärbegriff zu bloß ‚gelehrtem Glauben‘ geprägt 4 , um dann aber auch zur theoretischen Beschreibung außerkirchlicher Religiosität herangezogen zu werden. In dieses Spektrum fallen auch einige Arbeiten Heimbrocks. Erscheinungen autonomer Laienfrömmigkeit interessieren ihn von Beginn an ebenso wie Ausweitungen des Fragehorizonts über den kirchlichen Bereich hinaus in das Feld der ‚Jugendreligion‘ und die Übernahme von Elementen außereuropäischer Religionskulturen. Theoretisch besonders herausfordernd aber ist das Feld der Zwischentöne, bei denen die Qualifizierung der Phänomene als ‚religiös‘ aufregend uneindeutig ist. 2

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Aus pragmatischen Gründen beschränke ich mich hier auf den deutschsprachigen Raum, da die kulturhermeneutische Tillich-Rezeption im angelsächsischen Bereich mindestens eine weitere Studie erforderte. Vgl. vorderhand G. Lynch, Understanding Theology and Popular Culture, Oxford 2005. K. Cobb, Theology and Popular Culture, Oxford 2005. Diese Studie ist Teil eines größeren Forschungsvorhabens. Zu dessen Rahmen und ersten Hypothesen vgl. A. Kubik, Wahrnehmung der Lebenswelt und Kulturhermeneutik als theologische Aufgabe, in: M. Kumlehn u.a. (Hg.), Lebenswissenschaft Praktische Theologie?!, Berlin/New York 2011, 113-146. Vgl. D. Rössler, Gelebte Religion als Frage an wissenschaftliche Theologie, in: Ders./J. Hanselmann (Hg.), Gelebte Religion. Fragen an wissenschaftliche Theologie und kirchenleitendes Handeln, München 1978, 9-27.

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Heimbrocks Forschungstätigkeit ist von Anfang an eng verknüpft mit Fragen der religiösen Zeitdiagnose. Das Theoriedesign ist dabei zunächst durchgängig individual- und sozialpsychologisch. Im Anschluss an Alexander Mitscherlichs Theorie von der ‚vaterlosen Gesellschaft‘ konstatiert Heimbrock eine „Entstrukturierung des kulturellen Überichs“ 5 . Dies führt notwendig – zumal bei der jungen Generation – zu einer narzisstischen Frage nach der eigenen Identität in einer Gesellschaft, wo die Identität der Altvorderen nicht mehr zu prägen vermag. Diese Diagnose wird sogleich religionstheoretisch appliziert: Auch die religiösen Über-Ich-Instanzen brechen zunehmend weg, weshalb sich der Narzissmus auch in der ‚Jugendreligiosität‘ spiegelt. Diese stellt eine neue Artikulationsform inneren Lebens und insofern ein eminentes hermeneutisches Problem dar: Es braucht das „Verstehen der ‚unbegriffenen Religion‘“. 6 Im Sinne eines ersten Zugangs zu ihr betrachtet Heimbrock folgenden Gegenstandsbereich: erstens das – damals offenbar so genannte – ‚chemische Pfingsten‘, also die drogeninduzierte Bewusstseinserweiterung und den trip, zweitens polymediale Pop-Konzerte und den zugehörigen Kult um die Stars, drittens die Bewegung der ‚Jesus People‘, also die christliche Fraktion der Hippie-Bewegung, und schließlich viertens die eklektische Begeisterung für Fernöstliches. Die Religionsvermutung bezieht sich also auf sehr diverse Phänomene, die von spontanen Umformungen traditioneller Frömmigkeit verschiedenster Couleur bis zu charakteristischen Erscheinungen der Popkultur reicht. Doch der ‚unbegriffenen Religion‘ ist nicht nur individualpsychologisch nachzuspüren. Analoge Bewegungen lassen sich auch sozialpsychologisch ausmachen, wie Heimbrock von dem Chicagoer Religionspsychologen Peter Homans lernt: An die Stelle klar definierter Religionssysteme tritt auch kollektiv eine eher unbestimmte Sehnsucht, ein schwer zu definierendes Verlangen nach Ganzheit. Heimbrock zitiert Homans‘ resultierende Frage: „Ist die Massengesellschaft eine Ausgangssituation für (theologische) Hermeneutik?“ 7 5 6 7

H.-G. Heimbrock, Hermeneutik der Phantasie. Ein religionspsychologischer Zugang zur Jugendreligiosität, in: WPKG 66, 1977, 153-167, hier: 157. H.-G. Heimbrock, Hermeneutik der Phantasie, a.a.O. (Anm. 5), 154. H.-G. Heimbrock, Phantasie und christlicher Glaube. Zum Dialog zwischen Theologie und Psychoanalyse, München/Mainz 1977, 22. – Im deutschen Sprachraum ist am leichtesten zugänglich der Aufsatz von P. Homans, Freud und Tillich als Marksteine auf dem Weg zu einer Religionspsychologie, in: E. Nase/J. Scharfenberg (Hg.), Psychoanalyse und Religion, Darmstadt 1977, 311-342.

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Während diese Überlegungen ursprünglich ganz in den Bereich der Pädagogik und Religionpädagogik gehören, werden sie von Heimbrock alsbald ausgeweitet: Auf allen Ebenen kirchlichen Handelns ist man ja mit solchen schwer zu deutenden Erscheinungen gelebter Religion konfrontiert. Traditionen im Protestantismus, die Ansätze zu deren Erforschung geliefert hatten, wie etwa die „Religiöse Volkskunde“ 8 eines Paul Drews, hatten sich theologiepolitisch nicht durchsetzen können. Heimbrock kann die bislang unerledigte Aufgabe so zusammenfassen: „Ich denke, die Praktische Theologie steht deshalb gegenwärtig vor der Notwendigkeit, eine ‚Hermeneutik der religiösen Lebenswelt‘ zu entwickeln.“ 9 Gefragt ist ihre von dogmatischen Vorurteilen freie Erfassung, bevor eine theologische Stellungnahme überhaupt qualifiziert erfolgen kann. In der Folgezeit wendet er sich zunächst anderen Forschungsgebieten zu, kommt aber in einer größeren programmatischen Studie Anfang der 1990er Jahre noch einmal auf dieses Thema zurück. Unverändert ist die Psychoanalyse die Leittheorie, sie kann gar als einheitliche Methodologie für die Praktische Theologie fungieren, indem sie als Instrumentarium des Verstehens sowohl von Texten als auch von Menschen dient; ja, sie bietet auch Ansatzpunkte für eine „Hermeneutik der Kultur“. 10 In dieser ersten Werkphase findet sich eine konstante Bezugnahme auf Paul Tillich. Dabei kommt dieser weniger als Interpret der religiösen Substanz der Kultur in den Blick, sondern als einer der wenigen Theologen, die eine produktive Rezeption der Psychoanalyse und Psychotherapie vorzuweisen haben. Tillichs Arbeiten zur Religionspsychologie werden von Heimbrock bereits als „klassisch“ 11 eingeschätzt. Das Theoriedesign von Heimbrocks Schriften ändert sich dann aber im Verlauf der 1990er Jahre grundlegend. Von der Psychoanalyse ist im Folgenden nur noch am Rande die Rede. Der Umschlag ist greifbar in der

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Vgl. P. Drews, „Religiöse Volkskunde“, eine Aufgabe der praktischen Theologie, in: MkiPr N. F., 1, 1901, 1-8. 9 H.-G. Heimbrock, Frömmigkeit als Problem der Praktischen Theologie, in: Pastoraltheologie 71, 1982, 18-32, hier: 29. 10 H.-G. Heimbrock, Empirische Hermeneutik in der Praktischen Theologie, in: J. A. van der Ven/H.-G. Ziebertz (Hg.), Paradigmenentwicklung in der Praktischen Theologie, Kampen/Weinheim 1993, 49-67, hier: 57. 11 H.-G. Heimbrock, Wahrheit in der Wirklichkeit? Ein Literaturbericht zur Religionspsychologie, in: ThPr 1978, 148-158, hier: 154.

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großen Magie-Studie von 1994. 12 Sie versammelt bereits diejenigen Theoriemomente, die für die Folgezeit bestimmend werden. Zugleich ist sie der Text, der am stärksten auf Tillich Bezug nimmt. Zentrale Referenztexte sind hier Natur und Sakrament (1928) sowie Die Beziehung zwischen Religion und Gesundheit (1945/46). Heimbrock geht von der Beobachtung aus, dass im weitesten Sinne magische Praktiken in unserer aufgeklärten Gesellschaft keineswegs auf dem Rückzug sind, sondern im Gegenteil zunehmen – im Gegensatz zu den Prognosen, die etwa in den Entmythologisierungsdebatten gestellt wurden. Wie macht man sich einen Reim auf diese Entwicklung? Eine Unterscheidung zwischen Religion und Magie ist mit Tillich auf der begrifflichen Ebene völlig unumgänglich (vgl. GW IX, 262). Aber eine ganz andere Frage ist, wie auf der Ebene der konkreten Erscheinung differenziert werden kann. Die Unterscheidung zwischen Religion und Magie ist, empirisch gesehen, fragil. Dies gilt nach Tillich – und Heimbrock unterschreibt es – sogar im scheinbar ur-protestantischen Gelände, der Theologie des Wortes: Auch in der Berufung auf ‚das Wort‘ sind immer Möglichkeiten enthalten, die in den magischen Bereich hinüberspielen (vgl. GW VII, 109 f.). Daraus kann nach Heimbrock nur eines folgen, nämlich, dass ein Phänomen, dem man mit der Anfangsvermutung einer magischen oder religiösen Qualität begegnet, als ein eigenes Phänomen schlechterdings ernst zu nehmen ist. 13 Weder von begrifflichen Vorannahmen noch von bereits feststehenden Wirklichkeitsverständnissen darf man sich die Begegnung mit dem Phänomen verstellen lassen. Das Ziel muss also sein, Wirklichkeit umfassender „wahr[zu]nehmen“. 14 Dabei kann ja durchaus zugestanden werden, dass es sich aus der Perspektive des christlichen Glaubenssystems, so wie es das Forschersubjekt bislang vertritt, um eine 12 Vgl. H.-G. Heimbrock, Magie, Alltagsreligion und die Heilkraft des Glaubens. Etappen theologischer Magiediskussion zwischen Verdrängung und Wiederentdeckung, in: Ders./H. Streib (Hg.), Magie – Katastrophenreligion und Kritik des Glaubens. Eine theologische und religionstheoretische Kontroverse um die Kraft des Wortes, Kampen 1994, 17-59. – Die Leistungsfähigkeit von Tillichs MagieBegriff für die empirische Religionsforschung wird inzwischen näher beleuchtet von H. Streib, Empirisch-kulturdiagnostische Aspekte von Tillichs Symboltheorie, in: W. Schüßler/Ch. Danz/E. Sturm (Hg.), Münster 2006 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 2), 181-195. 13 Vgl. H.-G. Heimbrock, Magie, Alltagsreligion und die Heilkraft des Glaubens, a.a.O. (Anm. 12), 31. 14 H.-G. Heimbrock, Magie, Alltagsreligion und die Heilkraft des Glaubens, a.a.O. (Anm. 12), 43.

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„fremde Praxis und Wirklichkeit“ 15 handeln mag. Aber eben diese Fremdheitserfahrung muss um der Sache willen ausgehalten werden, und zwar so lange wie möglich. Jede vorschnelle Verrechnung unter altbekannte Kategorien geht an der Sache vorbei. Ohne Zweifel ist damit der christliche Glaube mitunter „irritiert, negiert, kommentiert und herausgefordert“. 16 Der Gewinn besteht aber sowohl in einer unbefangeneren Diagnose der religiösen Gegenwart als auch in einem neuen Blick auf das eigene Glaubenssystem: Es werden zugleich, und dafür stehen besonders die genannten Texte Tillichs, die scheinbar fremden Elemente in der eigenen Frömmigkeitstradition neu entdeckt, wie eben etwa die magische Wirkung des ‚Wortes‘ oder auch des Kreuzes. Theologie kann sich folglich nicht bloß als Religionskritik inszenieren, sie muss auch Selbstkritik sein, nämlich kritische Sondierung des ‚Fremden‘ im ‚Eigenen‘. In diesem Zusammenhang kommt es zu einer gewissen Kritik an der Hermeneutik: Jedes Verstehenwollen steht immer im Verdacht, die Offenheit der Wahrnehmung zu schließen. Es behandelt die Wirklichkeit nach dem Vorbild eines methodisch entschlüsselbaren Textes, und unterliegt immer wieder der Gefahr, sie zum bloßen Verstehenskontext des ‚Eigentlichen‘ zu machen. Dementsprechend betont Heimbrock entschlossen den „Primat der Wahrnehmung vor der Auslegung“. 17 Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Tillich-Rezeption hilft, die etwas verengende psychologische Perspektive auf gelebte Religion zu überwinden. Das Anliegen einer psychoanalytischen ‚Tiefenhermeneutik‘ stellt sich als tendenziell vereinnahmend dar und bügelt irritierende und befremdende Wahrnehmungseffekte durch Einpassung in ein allzu geschmeidiges Begriffsraster zu schnell glatt. Demgegenüber kann die werkbiographische Bedeutung der Magie-Studie so wiedergegeben werden: Magie ist einerseits ein für sich interessantes und aufschlussreiches Phänomen, sie steht aber zugleich paradigmatisch für ein Umdenken in Religionsdingen überhaupt. Deshalb ist es erforderlich, sich nach einer neuen Rahmentheorie umzusehen. Das entscheidende Stichwort fällt im Nach15 H.-G. Heimbrock, Magie, Alltagsreligion und die Heilkraft des Glaubens, a.a.O. (Anm. 12), 26. 16 H.-G. Heimbrock, Magie, Alltagsreligion und die Heilkraft des Glaubens, a.a.O. (Anm. 12), 57. 17 H.-G. Heimbrock, Theologie auf dem Wege zur Lebensweltorientierung. Eine Außenansicht des Marburger Graduiertenkollegs, in: K. Fechtner/M. Haspel (Hg.), Religion in der Lebenswelt der Moderne, Stuttgart 1998, 227-250, hier: 238.

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wort zum Magie-Band: „Für die Praktische Theologie ergibt sich jedoch darüber hinaus ein neues Interesse an Phänomenologie.“ 18 Folgende vier Elemente legen diesen Umschwung nahe: erstens der Begriff der „Wahrnehmung“, zweitens die Orientierung an der irritierend-faszinierenden Erfahrung von Fremdheit, drittens die Sistierung des eigenen Wirklichkeitsverständnisses, und viertens schließlich die Bewegung des Sich-selbst-inFrage-Stellens. Für all dies bietet sich eine verstärkte Aufnahme der Phänomenologie gleichsam von selbst an. Sie findet in der Folgezeit dann auch statt. Bestimmend wird für Heimbrock neben Bernhard Waldenfels‘ Philosophie des Fremden vor allem Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung. Dieser theoretische Umschwung geht einher mit einer konsequenten Orientierung an alltagsreligiösen Phänomenen: Der Begriff der „Lebenswelt“ war auch zuvor schon hin und wieder gefallen, wird jetzt aber theoretisch prominent. Was wird innerhalb dessen nun als Religion in Anschlag gebracht? Die erste Auskunft, die hier zu geben ist, ist die, dass der Religionsbegriff programmatisch offen bleibt. Insofern es Religion mit dem zu tun hat, das höher ist als alle Vernunft, kann ein klar umrissener Religionsbegriff gar nicht als definitiver Ausgangspunkt gedacht werden. Die Suche danach, „was sich im Alltäglichen an existenziellen Bedürfnissen und Suchbewegungen erkennen lässt, was sich an religiösen Themen und Fragen artikuliert“, 19 muss weniger als routiniertes Entdecken denn als ein „Sich-Aussetzen“ 20 verstanden werden, das offen bleibt gegenüber dem, was ‚sich zeigt‘ und den gewonnenen Standpunkt im Forschungsprozess wieder riskiert. Dieser Prozess muss also mit einer doppelten epochë (Einklammerung) arbeiten: zum einen gegenüber der eigenen Religiosität, und zum anderen gegenüber kirchlichen Vorgaben. Erst dann kann die Wahrnehmung wirklich zu den ‚Sachen selbst‘ vordringen. 18 H.-G. Heimbrock/H. Streib, Katastrophenreligion und Glaubenskritik. Von der Schwierigkeit, sich Magie neu zu nähern, in: H.-G. Heimbrock/H. Streib, Magie – Katastrophenreligion und Kritik des Glaubens, a.a.O. (Anm. 12), 299-314, hier: 314. 19 H.-G. Heimbrock, Alltag, Außeralltäglichkeit, kreative Wahrnehmung. Ansatzpunkte phänomenologischer Zugänge in der Praktischen Theologie, in: C. Bizer u.a. (Hg.), Theologisches geschenkt. Festschrift für M. Josuttis, Bovenden 1996, 85-92, hier: 87. 20 H.-G. Heimbrock/W. E. Failing, Gelebte Religion wahrnehmen. Auf dem Wege zu einer methodologischen Neuorientierung Praktischer Theologie, in: B. Beuscher u.a. (Hg.), Prozesse postmoderner Wahrnehmung. Festschrift für D. Zillessen, Wien 1996, 159-181. 172.

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Eine am Wahrnehmungsbegriff geschulte Praktische Theologie wird dann zur Kenntnis nehmen, dass es sich bei der Erforschung gelebter Religion auch um ein „demaskierendes Offenbarwerden unterdrückter und abgespaltener eigener Praxis“ 21 handelt. Der eigentliche Ort der Wahrnehmung ist mithin die Spannung zwischen den religiös grundierten Routinen des Alltags und dem Einbruch des Außeralltäglichen, das sich für die Menschen auch in Magie, (Geist-)Heilung, Schamanismus, Okkultismus und Segen manifestieren kann. 22 Auf dem Prüfstand steht mit dem Religionsverständnis zugleich also auch immer das Realitätsverständnis; in Heimbrocks Augen ist es theologisch unsachgemäß, sich von protestantischer Seite auf rationalistische Wirklichkeitsbegriffe der technischen Moderne verpflichten zu lassen. Theologisch wird vielmehr stets davon auszugehen sein, dass sich in der gelebten Religion auch „Enttäuschungen über offizielle Sinnangebote“ 23 artikulieren. Etwaige kirchliche Kritik an der gelebten Religion kehrt sich im nächsten Moment als Kritik gegen die Kritikübenden um. Die Praktische Theologie muss sich demnach nicht primär als Handlungswissenschaft, sondern als „Wahrnehmungswissenschaft“ 24 begreifen. Sie klärt die phänomenologischen Grundbegriffe in ihrer theologischen Bedeutung, entwickelt das theologische Forschungsprogramm unter dem Titel: ‚Gelebte Religion wahrnehmen‘, worunter sich vor allem die empirische Erforschung von alltagsreligiösen Phänomen verbirgt, 25 und reflektiert vor diesem Hintergrund kirchliche und schulische Handlungsfelder neu. 21 H.-G. Heimbrock, City-Religion, Synkretismus und kontextuelle Theologie – Praktisch-theologische Notizen zur Wahrnehmung von Religion in kultureller Vielfalt, in: M. Witte (Hg.), Religionskultur – zur Beziehung von Religion und Kultur in der Gesellschaft, Würzburg 2001, 269-294, hier: 285. 22 Das gilt umso mehr angesichts des aufregenden empirischen Befundes, dass magische und esoterische Praktiken kein Substitut für kirchliche Frömmigkeit sind, sondern eher ein ergänzender Bereich: Sie werden von Getauften weit häufiger benutzt als von anderen. Vgl. die Shell-Studie Jugend 2000, Bd. 1, Opladen 2000, 174. 23 H.-G. Heimbrock/W. E. Failing, Gelebte Religion wahrnehmen, a.a.O. (Anm. 20), 174. 24 H.-G. Heimbrock, Alltag, Außeralltäglichkeit, kreative Wahrnehmung, a.a.O. (Anm. 19), 85. 25 Vgl. A. Dinter/H.-G. Heimbrock/K. Söderblom (Hg.), Einführung in die empirische Theologie, Göttingen 2007. H.-G. Heimbrock, Practical Theology as Empirical Theology, in: IJPT 14, 2011, 153-170.

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Tillich tritt allerdings über diese Entwicklung beinahe ganz in den Hintergrund. Mit der Anbahnung des phänomenologischen Umschwungs hat er seine Aufgabe für Heimbrock gewissermaßen erfüllt. Reizvoll wäre es aber ohne Zweifel, auch noch Tillichs Kritik an der Phänomenologie zu reflektieren. Denn obwohl Edmund Husserl, ihr Begründer, nachweislich zu den prägenden Lektüreerfahrungen Tillichs gehört, 26 und obwohl sie sich vom Früh- bis ins Spätwerk bleibender Hochschätzung erfreut, ist Tillich doch keiner ihrer eigentlichen Anhänger. Was die Phänomenologie nach Tillich erkennen kann, sind „empirische Gestalten“ (GW I, 134). Es bleibt daher der Vorwurf, „daß die Phänomenologie nicht zu einem Normbegriff kommt“. 27 Dies wirft ein interessantes Licht auf Heimbrocks Ansatz zurück. Denn in seinem Entwurf scheint mir zum einen tatsächlich das phänomenologische Theoriedesign mit den theologischen Erkenntnisinteressen im engeren Sinne, die eher eine Mixtur aus inhaltlich bestimmten religiösen Positionen und methodischen Einstellungen darstellen, 28 nicht wirklich vermittelt. Eine solche Vermittlung avisiert Tillich über den Sinnbegriff. Diese universale Vermittlung lehnt Heimbrock ab und konzentriert sich für die theologische Kulturanalyse auf „Erfahrungen menschlichen Verhaltens jenseits der Sinndimension“ 29 . Damit ist dann freilich nicht ausgewertet, dass der Sinnbegriff für die Phänomenologie selbst essentiell ist. 30 Von daher scheint Heimbrocks Reserve gegen den 26 Vgl. dazu U. Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89-123. 27 Ch. Danz, Religion als Freiheitsbewußtsein. Eine Studie zur Theologie als Theorie der Konstitutionsbedingungen von Subjektivität bei Paul Tillich, Berlin/New York 2000, 23, Anm. 20. Heimbrock hat in seiner neuesten Tillich-Interpretation (siehe seinen Beitrag in diesem Band) den Begriff der „Gestalt“ ins Zentrum gestellt. In der Tat ist der Gestaltbegriff in seiner Bedeutung für Tillich kaum zu überschätzen, insbesondere für die Architektonik des Wissenschaftssystems (vgl. GW I, 125. 137 f.). Aber die Erkenntnis der Gestalt ist nach Tillich Aufgabe der Biologie, Psychologie und Soziologie, und in der Tat geben diese ja auch das methodische Rüstzeug der von Heimbrock so genannten ‚empirischen Theologie‘ ab. Der Überschritt zur Normwissenschaft gelingt auf diesem Wege nicht. 28 Vgl. A. Dinter/H.-G. Heimbrock/K. Söderblom (Hg.), Einführung in die empirische Theologie, a.a.O. (Anm. 25), 54-59. 29 H.-G. Heimbrock, Kultur – Kontext – Lebenswelt. Zum Konzept einer kulturoffenen Praktischen Theologie, in: W. Gräb/B. Weyel (Hg.), Praktische Theologie und protestantische Kultur, Gütersloh 2002, 67-81, hier: 79. 30 Das gilt nicht nur für Husserl, sondern auch für Merleau-Ponty: „Die phänomenologische Welt ist nicht reines Sein, sondern Sinn“ (M. Merleau-Ponty, Phäno-

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Sinnbegriff sachlich nicht notwendig. In Wahrheit scheint die Ablehnung auch gar nicht die Sinnkategorie als solche zu treffen, als vielmehr konkrete, am hochkulturellen Milieu orientierte Sinnvermittlungen. Zum zweiten: Das phänomenologische Verfahren im Sinne Heimbrocks lebt vom Pathos der Distanz, von der Sorge, einem Gegenstand zu Unrecht die Fremdheit zu nehmen. Tillich betont demgegenüber an vielen Stellen die Notwendigkeit der existenziellen Beteiligung des theologischen Subjekts an seinem Gegenüber, welches – um es mit einem Wort Martin Heideggers zu sagen – es als ‚Möglichkeit seines eigenen Seins‘ zu erkennen bestrebt ist. 31 Andernfalls bleibt die Auslegung immer in Gefahr, bei einem – wie respektvoll auch immer beschriebenen – letzten Unverständnis stehen bleiben zu müssen.

2. Die Wahrnehmungen des Flaneurs – Albrecht Grözinger Der Ausdruck ‚Theologische Kulturhermeneutik‘ lässt sich wohl nur unter großen Schwierigkeiten auf das Werk des Basler Praktischen Theologen Albrecht Grözinger anwenden. Zu groß sind seine Vorbehalte gegen eine unkritische Idee der Kultur, wo doch „jeder Kulturzusammenhang auch ein Gewaltzusammenhang ist“ 32 , wie er im Anschluss an Max Horkheimer, Theodor Adorno und Elias Canetti ausführt. Selbst ein späteres „Plädoyer für eine neue Kulturtheologie“ 33 verrät trotz dieses Titels eine bleibende Reserve gegen den Kulturbegriff. Das bedeutet aber nicht, dass Erscheinungen „extra muros ecclesiae“ 34 deshalb weniger Aufmerksamkeit gewidmet würde. Es zeigt sich bei

31 32 33 34

menologie der Wahrnehmung (1945), übers. von R. Boehm, Berlin 1966, 17). – Vgl. zum Sinnbegriff Tillichs vor dem Hintergrund seiner PhänomenologieRezeption jetzt U. Barth, Religion und Sinn, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (19191920), Münster 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 197-213. Vgl. M. Heidegger, Anzeige der hermeneutischen Situation (1922), Bd. 62 der Martin Heidegger Gesamtausgabe, 346-375, hier: 347. A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der Praktischen Theologie, München 1987, 78. A. Grözinger, Die Kirche – ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft, Gütersloh 1998, 49-63. K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. IV/3, Zürich 1959, 151. Die zitierte Passage ist Teil der so genannten „Lichterlehre“ Barths, vgl. dazu den Aufsatz von A. Grözinger, Christologie und Ästhetik. Die Lichterlehre Karl Barths in ih-

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Grözinger ein ganz ähnliches Ineinander von Grundlegungsfragen der Praktischen Theologie und Offenheit für Prozesse, die sich außerhalb der kirchlichen Frömmigkeit abspielen, wie bei Heimbrock, und mit diesem teilt er auch die integrierende Charakterisierung der Praktischen Theologie als „Wahrnehmungswissenschaft“ 35 – wenn auch in ganz eigener Weise und letztlich auch mit Interessen für ganz andere Gegenstände. Denn der eigentliche Erörterungszusammenhang des Wahrnehmungsbegriffs ist für Grözinger weder die Psychologie noch die Phänomenologie, sondern durchgängig die Ästhetik. Hatte er noch in seiner Dissertation im Gefolge seines Lehrers Gert Otto die Rhetorik als Bezugswissenschaft der Praktischen Theologie ausgemacht, 36 so wird dieser Horizont ab der Habilitation zugunsten der Ästhetik entschränkt. Die Rolle der Ästhetik in seinem Denken ist als außerordentlich vielschichtig anzusehen und nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Insbesondere die Habilitationsschrift spricht eine Fülle von Perspektiven an, die aber nicht alle in gleicher Weise fruchtbar gemacht werden. Ganz allgemein gesprochen ist sein Anliegen die Grundlegung einer spezifisch theologischen Ästhetik. Unter diesem Leitgesichtspunkt kann man drei Hauptinteressen ausmachen. Zum ersten, die Ästhetik ermöglicht es, gewisse lebensweltliche Prozesse, die man gemeinhin unter Schlagworten wie ‚Ästhetisierung des Alltags‘ verhandelt, theoretisch zu reflektieren. Der von Jean-François Lyotard beschriebene Verlust der großen Erzählungen gehört ebenso dazu wie die allgemein immer wichtiger werdenden Lebensstilfragen und die zunehmende Medialisierung der Lebenswelt. 37 All diese Dinge hat die Theologie bei ihrer Arbeit in Rechnung zu stellen. Zum zweiten, Grözinger sucht immer wieder die Auseinandersetzung mit der Kunst, vor allem der Kunst des 20. Jahrhunderts. Weite Teile seiner Schriften sind der Besprechung moderner Literatur und bildender Kunst gewidmet. Häufig treten solche Kunsterörterungen förmlich in die theolorer Bedeutsamkeit für die Praktische Theologie, in: J. Seim/L. Steiger (Hg.), Lobet Gott. Beiträge zur theologischen Ästhetik. Festschrift Rudolf Bohren zum 70. Geburtstag, München 1990, 40-46. 35 A. Grözinger, Es bröckelt an den Rändern. Kirche und Theologie in einer multikulturellen Gesellschaft, München 1992, 51 f. 36 Vgl. A. Grözinger, Friedrich Naumann als Redner. Politisch-rhetorische Analyse eines Liberalen, Bonn 1978. 37 Vgl. dazu A. Grözinger, (Praktische) Theologie als Kunst der Wahrnehmung, in: B. Janowski/N. Zchomelidse (Hg.), Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Zur Korrelation von Text und Bild im Wirkungskreis der Bibel, Stuttgart 1999, 223-233, hier: 226 f.

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gische Argumentation ein. Es dürfte – zumindest im deutschen Sprachraum – kaum einen evangelischen Theologen geben, für den die (moderne) Kunst in gleicher Weise unter Sachgesichtspunkten zum theologischen Gespräch dazu gehört. Zum dritten, Grözinger rekurriert je länger je mehr auf den alten Wortsinn von DLVTKVLƲ und entfaltet die Ästhetik als Wahrnehmungslehre. War der Begriff der Wahrnehmung zunächst noch für das Korrelat der Offenbarung reserviert – offenbart sich Gott auf Erden, so muss seine Offenbarung wahrnehmbar und folglich ästhetisch reflektierbar sein 38 –, so wird im Folgenden der Gegenstandsbereich der Wahrnehmung immer mehr ausgeweitet, bis ihr Korrelat schließlich ‚die Wirklichkeit‘ schlechthin wird: Oberstes Ziel der theologischen Ausbildung ist es daher, „zur kritischen Wahrnehmung der Wirklichkeit [zu] befähigen“ 39 , und die Praktische Theologie wird in toto zur „Kunst der Wahrnehmung“. 40 Im Unterschied zu Heimbrock zeigt sich, dass Grözinger kein Interesse an der theoretischen Struktur des Begriffs der Wahrnehmung selbst hat. 41 Stattdessen umkreist er in immer wieder neuen Anläufen und mit immer wieder neuen Gegenständen die schiere Reichhaltigkeit dessen, was die Wirklichkeit dem wandernden Auge anzubieten hat. Sein Vorbild dafür ist die Figur des Flaneurs, der sich ziel- und vorurteilslos dem aussetzt, was ihm begegnet, zumal im urbanen Kontext. Die Orientierung an der Figur des Flaneurs wird auch der Grund für den häufig eher essayistischen Stil sein, welcher der ‚flanierenden‘ gedanklichen Offenheit entspricht. Professionell methodisiert ist die Wahrnehmung allerdings erst dort, wo sie sich ihrer eigenen qualitativen Vor-Geprägtheit bewusst wird und ihre

38 Vgl. A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, a.a.O. (Anm. 32), 93. 177. 39 A. Grözinger, Es bröckelt an den Rändern, a.a.O. (Anm. 35), 146. 40 Vgl. A. Grözinger, Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung, Gütersloh 1995. 41 Im Hintergrund dürfte eine – nicht ganz zu Unrecht bestehende – Reserve gegenüber der außerordentlich schillernden und mehrdeutigen Weise stehen, in der die Praktische Theologie sich auf die Phänomenologie bezieht: Grözinger jedenfalls sieht keinen Konsens darüber, „was denn nun der gegenwärtig so häufig verwendete Begriff […] meint“ (A. Grözinger, Gelebte Religion als Thema der Systematischen und Praktischen Theologie, in: Ders./G. Pfleiderer [Hg.], „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Systematischer und Praktischer Theologie, Zürich 2002, 13-21, hier: 20).

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implizite „Normativität“ 42 zu reflektieren – und partiell wohl auch: zu relativieren – imstande ist. Jene drei Hauptinteressen können sich natürlich auch häufig überschneiden. Insbesondere gewähren die „Werke der ästhetischen Moderne […] einen ungeschminkten Eindruck in die Beschaffenheit unserer Wirklichkeit“. 43 Kunstwerke sind mithin herausgehobene Kandidaten für die Wahrnehmungen des Flaneurs. Sie zeigen auch an, dass der Wahrnehmung eine hermeneutische Dimension innewohnt, insofern sie als Zeichen für Beschaffenheit unserer Wirklichkeit fungieren. Und insofern Grözinger sich de facto eigentlich nur auf kulturelle Realitäten bezieht – das Naturschöne wird in der Habilitation eher pflichtschuldig mitgeführt 44 –, zeigt sich, dass der Ausdruck Kulturhermeneutik in Bezug auf sein Denken zwar eher als Rekonstruktionsterminus fungiert, aber keine allzu grobe Verzeichnung darstellen sollte. Das staunende, weltoffene Flanieren hat durchaus auch eine kritische Komponente gegenüber einer Lebenshaltung, die einseitig auf Tätigkeit, Gestaltung und weltbeherrschende Aktivität ausgerichtet ist, und welche die Moderne nach dem Eindruck Grözingers zutiefst prägt. Gleichwohl soll die ‚flanierende‘ Einstellung keinem ästhetischen Eskapismus das Wort reden. Dies ist schon deshalb unmöglich, weil Praxis selbst „ein zentrales Thema der Ästhetik“ 45 ist. Sie sorgt vielmehr für eine interne Differenzierung des Praxisbegriffs. Zum einen sorgt die geübte Wahrnehmung für eine Aufweichung des zentrierenden, vereinheitlichenden Blicks und fördert somit die In-den-Blick-Nahme und auf lange Sicht auch das Aushaltenkönnen von Differenz. Zum anderen und darüber hinaus gelangt Wahrnehmung auch „zu inhaltlich bestimmten Handlungspostulaten“: 46 Sie ist auf all das Handeln ausgerichtet, das das So-Sein des Wahrgenommenen fördert, Differenz gutheißt und die Emanzipation von den fixierenden und verengenden Blicken anderer anstrebt. Die Wahr42 A. Grözinger, Wahrnehmung als theologische Aufgabe, in: J. Herrmann/A. Mertin/E. Valtink (Hg.), Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München 1998, 309-319, hier: 314. 43 A. Grözinger, Es bröckelt an den Rändern, a.a.O. (Anm. 35), 138. 44 Vgl. A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, a.a.O. (Anm. 32), 120-122. 45 A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, a.a.O. (Anm. 32), 68. 46 A. Grözinger, Wahrnehmung als theologische Aufgabe, a.a.O. (Anm. 42), 317. Wie freilich aus der bloßen Wahrnehmung und ihrer Reflexion nicht nur Handlungspostulate, sondern gar noch inhaltlich bestimmte Handlungspostulate folgen sollen, wird nicht recht deutlich.

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nehmung bringt also gewissermaßen ihre eigene Ethik mit sich. Der zusammenfassende Begriff der „ästhetischen Praxis“ meint also weit mehr als lediglich künstlerisches Handeln im engeren Sinne, obwohl er auch dies unter sich begreift. Er meint im erweiternden Anschluss an Schleiermachers Begriff des ‚darstellenden Handelns‘ all solches Handeln, in dem „die Form […] des Handelns in den Blick kommt und zur Diskussion steht. Und zwar nicht als eine rein formale Betrachtungsweise, sondern als Explikation der Form-Inhalts-Problematik des Handelns auf der Ebene der Gestalt eben dieses Handelns“ 47 . Wir haben hier nicht auf allgemeine Weise nach den Leistungen und Grenzen dieses Konzepts zu fragen, 48 sondern lediglich danach, wie sich diese im Zusammenhang seiner Tillich-Deutung darstellen und profilieren. Man kann nicht sagen, dass die Auseinandersetzung mit dem großen Wanderer zwischen den Welten für Grözinger im Vordergrund stünde. Gleichwohl ist Tillich ein bleibender Bezugspunkt vor allem für das Projekt einer theologischen Ästhetik. Tillich qualifiziert sich durch zweierlei für diese Rolle als Gesprächspartner. Zum einen ist ihm zu bescheinigen, dass er sich wie kaum ein anderer Theologe seiner Generation auf die zeitgenössische Kunst gleichsam ‚von innen her‘ eingelassen hat. Expressionismus, Neue Sachlichkeit und andere sind für Tillich nicht nur bemerkenswerte binnenkünstlerische Entwicklungen, sondern zugleich in engem Sachzusammenhang zur Theologie zu interpretieren. Zum zweiten hat Tillich nach Grözingers Darstellung stets angestrebt, die Wahrnehmung der zeitgenössischen Kunst in einen umfassenden theoretischen Horizont einzustellen, als den sein Interpret die Kulturtheorie ausmacht. Tillich habe „mit seinen Versuchen, die neuzeitliche Autonomie der Ästhetik theologisch zu würdigen“ 49 gerade auch die praktisch-theologische Diskussion bleibend beeindruckt. 47 A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, a.a.O. (Anm. 32), 209. 48 Vgl. dazu P. T. Erne, Lebenskunst: Aneignung ästhetischer Erfahrung. Ein theologischer Beitrag zur Ästhetik im Anschluß an Kierkegaard, Kampen 1994, 41-44. S. Altmeyer, Von der Wahrnehmung zum Ausdruck. Zur ästhetischen Dimension von Glauben und Lernen, Stuttgart 2006, 33-65. Die wichtigsten generellen Anfragen scheinen mir einerseits in der etwas eigenartigen Polysemie des ÄsthetikBegriffs zu liegen, zum anderen in der Vermutung, dass Grözingers Begriff einer ästhetischen Praxis letztlich keinen Beitrag zur Handlungstheorie, sondern im Kern einen – sich primär aus der Betroffenheit über die Gräuel des Hitler-Reiches speisenden – Handlungsappell darstellt. 49 A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Buch- und Forschungsbericht, in: IJPT 2, 1999, 269-294, hier: 276. Georg Neugebauer kann jetzt zeigen,

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Diesem grundsätzlichen Bescheid steht allerdings eine Reihe recht grundsätzlicher Bedenken gegenüber, welche verhindern, dass Tillich in die eigentliche Ahnenreihe einer theologischen Ästhetik im Sinne Grözingers eingestellt wird. Die Kritik richtet sich zum einen gegen Tillichs Vermittlung von Kunst und Theologie im Religionsbegriff, zum anderen gegen die synthetische Gesamtanlage von Tillichs Kulturtheologie. Zunächst zum ersten. Nach Grözinger geht Tillich davon aus, dass Kultur und Theologie immer schon miteinander vermittelt seien und diese Vermittlung lediglich aufzudecken sei. Die berühmte These Tillichs: „Religion ist die Substanz der Kultur und Kultur die Form der Religion“ (GW IX, 84) ist für Grözinger „ontologisch“ 50 zu verstehen. Sei die theologische Relevanz der Kultur und damit der Kunst als „qualifizierter Form-Äußerung der Kultur“ 51 insofern zwar a priori festgestellt, handele sich die Theologie durch den ontologischen Zuschnitt jener Grundthese jedoch gravierende Nachteile ein. Einmal, wenn Kunst und im Grunde jede kulturelle Erscheinung per se religiös sind, so gleichen sie sich eben alle genau darin und werden dadurch qualitativ ununterscheidbar: Ein derartig weiter Religionsbegriff sei für die Theologie unangemessen, weil er keinerlei kriteriengeleitete Unterscheidung im Feld der Phänomene erlaube. Sodann, der weite Religionsbegriff nehme im Grunde der Kunst auch ihre Autonomie, die sie sich seit der Renaissance mühsam erkämpft hat, indem sie von der Theologie immer schon als ‚religiös‘ angesprochen wird. Und schließlich, Tillichs theologische Ästhetik scheitere daran, dass sie sich an einer Vielzahl stilprägender Kunstwerke des 20. Jahrhunderts gar nicht ausweisen lasse: Nur in einem „interpretativen Gewaltakt“ 52 lasse sich die These von der religiösen Grundierung der Kunst behaupten, welche sich einer unvoreingenommenen Betrachtung zumeist eben nicht als religiös präsentiere. Mit der Konstatierung dieser drei Nachteile ist schon deutlich, dass dass Tillichs kulturtheologisches Anliegen sogar noch bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreicht (vgl. G. Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 174 f. 268-271). 50 A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, a.a.O. (Anm. 32), 77. Grözinger vermerkt nicht, dass der von ihm zitierte Tillich-Text Religion und Kultur (1948/50) aus der Rückschau auf seine theologischen Anfänge und damit auch auf diese Formel blickt. Nichts ist diesem Aufsatz ferner als ein harmonistisches Immer-schon, wo er doch seine Kulturtheologie als „eine Theologie des Endes der Kultur“ (GW IX, 87) entfaltet. 51 Ebd. 52 A. Grözinger, Es bröckelt an den Rändern, a.a.O. (Anm. 35), 137.

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Grözinger den Religionsbegriff – insbesondere in einer weiten Fassung – im Grunde theologisch ablehnt und in seiner Verwendung lediglich Kompensationsstrategien erblicken kann: Man könne den Versuch vermuten, „mit dem Begriff der Religion theoretisch jenes Terrain besetzt zu halten, dass uns bereits in der klassischen industriegesellschaftlichen Moderne und erst recht unter den Bedingungen der Postmoderne praktisch schon längst verloren gegangen ist“ 53 . Mit anderen Worten: Im Begriff der Religion reklamiert die (Kultur-)Theologie eine Zuständigkeit, die ihr faktisch nicht mehr zukommt. Seine Verwendung führt die Theologie ständig in die Versuchung, zu Ideologie im schlechten Sinne des Wortes zu werden. Es zeigt sich an dieser Stelle ein deutliches Erbe der ‚Dialektischen Theologie‘, das Grözinger auch niemals verleugnet hat. 54 Mit dem Stichwort der Postmoderne ist bereits zum Zweiten übergeleitet. Grözinger deutet Tillichs Theologie als von sehr grundsätzlichen Syntheseanliegen imprägniert. Diese verdanken sich im Grunde noch dem klassischen deutschen Systemdenken und teilen mithin dessen Explikationsschwierigkeiten unter den Bedingungen des ‚Endes der großen Erzählungen‘ (Jean-François Lyotard): Jede Synthesebemühung scheitert schließlich an der „Vielfalt der Deutungen“ 55 der Welt und des Lebens. Hinter dem Synthese- und Systemdenken stecken theologischerseits unerkannte Einheitsfixationen, welche eine sachlich angemessene, d.h. an Differenz orientierte Wahrnehmung der Wirklichkeit gerade verhindern. Bevor wir untersuchen, ob und inwieweit sich diese Tillich-Kritik halten lässt, fragen wir zunächst noch einmal danach, wie sich Grözingers eigener Ansatz im Lichte seiner zwei zentralen Tillich-Kritikpunkte ausnimmt. Zum ersten: Wenn der Religionsbegriff aus den genannten Gründen ausscheidet, wie lässt sich dann das theologische Interesse an Wahrnehmungen außerreligiöser Wirklichkeit überhaupt begründen? Oder anders gefragt: Was sucht die Theologie dort? Zunächst einmal bekennt 53 A. Grözinger, Die Kirche – ist sie noch zu retten?, a.a.O. (Anm. 33), 57. 54 Vgl. dazu A. Grözinger, Orte, in: G. Lämmlin/S. Scholpp (Hg.), Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen/Basel 2001, 256-274, bes. 264. 272. Grözinger führt sein Interesse an der Theologie Karl Barths auf den Mainzer Missionswissenschaftler Werner Kohler zurück, aber man darf vermuten, dass hier eher eine Tiefenwirkung seines Tübinger Lehrers Eberhard Jüngel, den Grözinger immer wieder zustimmend zitiert, vorliegt. 55 A. Grözinger, Theologie und Ästhetik in der Postmoderne. Bemerkungen zu einem notwendigen und strittigen Verhältnis, in: D. Zilleßen (Hg.), Religion, Politik, Kultur. Diskussionen im religionspädagogischen Kontext, Münster 2001, 109-123, hier: 123.

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Grözinger die Standortgebundenheit des evangelischen Theologen: Er ist gebunden an das, was Grözinger die „Gottesgeschichte“ 56 nennt, an eine „Geschichte mit klaren Konturen: sie hat zu tun mit der Erwählung Israels, dem Kreuz auf Golgatha und dem Ostermorgen.“ 57 Dieser Gottesgeschichte gegenüber geht der evangelische Theologe eine „Treuevereinbarung“ 58 ein und bekundet damit auch das Interesse, diese Geschichte zu tradieren und zur Darstellung zu bringen. Doch ihre gesamtkulturelle Prägekraft ist verloren gegangen. Da sich nun die ‚Gottesgeschichte‘ gleichwohl am Ort der autonomen Kultur zur Geltung bringen will, unterliegt die Theologie der „Nötigung, sich vorbehaltlos auf die kulturellen Erscheinungsformen unserer Gegenwart einzulassen“. 59 Dies kann aber nur dann gelingen, wenn die Verrechnung unter das bekannte label ‚religiös‘ unterbleibt. Theologie hat nur dann ein echtes Gegenüber, wenn dieses nicht von vornherein auf Religionshaltigkeit festgelegt wird. Theologisch kann es vielmehr nur darum gehen, die autonome Kultur und vor allem ihre Ästhetik „theologisch zu durchdenken und zu verantworten“ 60 . Grözinger nennt bei dieser häufig wiederkehrenden Redewendung nicht das Forum, vor dem sich die autonome Ästhetik theologisch verantwortet werden muss. Bei näherem Hinsehen wird aber klar, dass dies nur die ‚Gottesgeschichte‘ selbst sein kann. Theologisch verantworten hieße dann: überprüfen, ob sich die Gehalte einer kulturellen Erscheinung als beziehbar auf die ‚Gottesgeschichte‘ erweisen. Solche Erscheinungen sucht die Theologie. Wo aber ist der Ort dieser Beziehbarkeit? Damit sind wir bei dem zweiten Punkt. Dieser Ort kann aus genannten Gründen nicht die Kultur im Ganzen sein. Er ist vielmehr stets nur die individuelle Lebensgeschichte, und in dieser auch nur aktual und punktuell: „Lebensgeschichtliche Bedeutung kann also nur dort entstehen, wo einzelne Elemente der GroßErzählung Christentum sich mit Elementen gegenwärtiger kultureller Lebenswelten verbinden.“ 61 Konkret bedeutet dies für die Theologie, solche Örter zu reflektieren und zu schaffen, an denen solch aktuales und punktuelles Geschehen eintritt. Das können die – nunmehr wahrnehmungstheologisch belehrten – klassischen Handlungsfelder wie Predigt, Seelsor56 57 58 59 60 61

A. Grözinger, Die Kirche – ist sie noch zu retten?, a.a.O. (Anm. 33), 61. Ebd. Ebd. A. Grözinger, Die Kirche – ist sie noch zu retten?, a.a.O. (Anm. 33), 60. A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, a.a.O. (Anm. 32), 88. A. Grözinger, Die Kirche – ist sie noch zu retten?, a.a.O. (Anm. 33), 60.

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ge, Gottesdienst und Unterricht sein, aber auch etwa künstlerisch-biblische crossover-Veranstaltungen, Inszenierungen, performances und andere als konstellativ zu beschreibende Beziehungssituationen. Die Hoffnung, die aber kein vorweggenommenes Ergebnis ist, besteht darin, dass sich auf diesem Wege „eine neue Tragfähigkeit der kulturell vermittelten Gottesgeschichte einstellt“ 62 . Damit können wir die Darstellung beschließen und aus der Perspektive Tillichs einige Rückfragen stellen. Die grundlegende Frage, ob Theologie im Religionsbegriff ihren eigentlichen Gegenstandsbereich erkennt oder eben gerade nicht, ist in gewisser Weise die theologische Streitfrage des 20. Jahrhunderts und kann von daher hier nicht erörtert werden. 63 Hinsichtlich des Religionsbegriffs sind für unseren Zusammenhang vor allem zwei kommentierende Anmerkungen zu Grözingers Tillich-Deutung anhängig. Zum einen: Der angesprochene Vorwurf des ‚interpretativen Gewaltaktes‘ geht an Tillich vorbei. Der Grund dafür ist letztlich wissenschaftssystematischer Art. Denn die berühmte These von dem Zusammenhang von Religion und Kultur ist weder ontologisch 64 gemeint, noch ist sie eine empirische Interpretationsanweisung für real existierende Kunstwerke. Sie ist ganz und gar Ausdruck eines theologischen Interesses – und Theologie ist nach dem System der Wissenschaften (1923) keineswegs die alles integrierende Universalwissenschaft, sondern eine neben anderen von Tillich so genannten Normwissenschaften. Die theologische Betrachtung ist ausdrücklich gerade nicht als Beitrag zur Ästhetik gemeint. 65 Wir werden unten im vierten Abschnitt darauf zurückkommen. Zum anderen: Der Vorwurf, Tillichs Religionstheorie nehme der Kultur letztlich ihre Autonomie, droht Grözinger gleichsam selbst auf die Füße zu fallen. Denn Grözinger geht doch in Wahrheit kaum weniger selektiv mit der Wahrnehmung kultureller Erscheinungen um. Das Pathos der ‚theologischen 62 A. Grözinger, Die Kirche – ist sie noch zu retten?, a.a.O. (Anm. 33), 61. 63 Es wäre nur zu bemerken, dass es mir ohne allgemeinen Religionsbegriff schwierig zu begründen erscheint, warum manche Objekte der Wahrnehmung theologisch relevant sein sollen, andere hingegen nicht. 64 Zu Tillichs früher Verortung der Ontologie, die sich vollständig von dem späteren ontologischen Theoriedesign seiner Theologie im Ganzen unterscheidet, vgl. GW I, 255 f. 65 Dass Tillich expressis verbis eine ‚theologische Ästhetik‘ ablehnt, wird von Grözinger zwar vermerkt (vgl. A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, a.a.O. [Anm. 32], 76 f.), aber er bemerkt die Reichweite der darin steckenden kritischen Volte nicht, wenn er kurze Zeit später schreibt, Tillichs Kulturbegriff sei „durch und durch ein theologischer“ (77).

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Verantwortung‘ kann von ihm auch so formuliert werden, dass es darum gehe, „eine autonome Ästhetik heteronom zu denken“. 66 Worin besteht der heteronome Charakter? Eben darin, dass letztlich die Theologie die Legitimität autonomer kultureller Erscheinungen verfügt. Als Kriterium gilt dabei, wie angesprochen, die ‚Gottesgeschichte‘. Dabei könnte noch davon abgesehen werden, dass Grözinger sich stets bloß auf die emanzipativen Züge der ‚Gottesgeschichte‘ konzentriert und die strukturkonservativen geradezu planmäßig ausblendet. Aber selbst wenn man sich auf diese – eher unter der Hand geschehende – Wesensbestimmung der ‚Gottesgeschichte‘ einließe, so bliebe immer noch unklar, woher genau eigentlich die Berechtigung ihrer Kriterienfunktion stammt. Hierbei kann Grözinger letztlich nur auf die absolute Vorgegebenheit der Inkarnation und der Offenbarung verweisen. 67 Damit entspricht aber seine ‚theologische Ästhetik‘ ziemlich genau dem Tillichschen Begriff von theologischer Heteronomie, indem sie zu einer „Sonderfunktion“ (GW I, 272) mit vorgeblich „innewohnende[r] Unbedingtheit“ (ebd.) wird. Eine Auseinandersetzung mit Tillichs Heteronomie-Kritik hat Grözinger aber nirgends geführt. Wessen Denkansatz die – offensichtlich von beiden als bedroht eingeschätzte – Autonomie der Kultur faktisch stärker in Frage stellt, ist also weit weniger klar, als er suggeriert. Ob Tillichs konkrete Kultursynthese-Ideale der 1920er Jahre, die sich mit der Hoffnung auf einen ‚religiösen Sozialismus‘ verbanden, ein sinnvolles Ziel theologischen Arbeitens darstellten, kann mit Recht bezweifelt werden. Wir werden darauf im dritten Abschnitt noch einmal ausführlicher eingehen. Grözingers Kritik ist aber allgemeiner gemeint und bezieht sich gar nicht speziell auf dieses Ideal, sondern auf synthetisches Denken überhaupt. Hier wäre nun zunächst festzuhalten, dass die plane Gegenüberstellung von synthetischem Denken und Differenz-Denken insgesamt wenig erhellend ist. 68 Grözinger selbst strebt ja, wie gesehen, durchaus nach je solcher biographischer Bedeutung, die sich einer ‚Verbindung‘ von Christentum und Lebenswelt verdankt. 69 Die Synthese-Ideale mögen also 66 A. Grözinger, Praktische Theologie und Ästhetik, a.a.O. (Anm. 32), 88. 67 Vgl. auch P. T. Erne, Lebenskunst, a.a.O. (Anm. 48), 43. 68 Vgl. dazu die summierenden Bemerkungen nach dem Durchgang durch die postmoderne Vernunftkritik von U. Barth, Kontingenzmomente und Vermittlungsbedingungen von Rationalität. Das Schicksal des Vernunftbegriffs im 19./20. Jahrhundert, in: Ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 339-357, hier: 355-357. 69 Vgl. das Zitat oben (Anm. 60).

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eine Nummer kleiner ausfallen, sind aber gleichwohl vorhanden. Somit bleibt die Frage nach der Differenztauglichkeit des systematischen Ansatzes Tillichs zurück. Diese Frage ist in der Tat der eigenen Erwägung wert, welche hier nicht geleistet werden kann. An dieser Stelle ist lediglich darauf zu verweisen, dass das System nach Tillich ja gerade die Vielfalt der Zugangsweisen zur Wirklichkeit theoretisch beschreiben möchte. Deshalb ist das System der Wissenschaften auch nicht der synthetisierende Gipfel des Weltzugangs, sondern es verortet sich selbst als eine unter vielen Möglichkeiten, der Wirklichkeit zu begegnen (vgl. GW I, 246-248). Ob die Kontingenz der flanierenden Wahrnehmung der Vielfältigkeit der Wirklichkeit notwendig gerechter wird als die systematische Denkform, scheint mir keineswegs von vornherein ausgemacht. 70

3. Religion im Leben und in den Medien – Wilhelm Gräb Wilhelm Gräb ist sowohl nach der öffentlichen Wahrnehmung als auch dem Selbstanspruch nach der eigentliche Statthalter des Begriffs Kulturhermeneutik im Felde der Theologie. 71 Die vergleichsweise wenigen Bezugnahmen auf Tillich verraten zwar eine große Vertrautheit, die bei dem gelernten Systematiker Gräb nicht überrascht, zeigen aber auch an, dass es zu einer Tillich-Rezeption im engeren Sinne nicht gekommen ist. Dieser steht vielmehr ganz im Schatten Schleiermachers, dem ja auch Gräbs Dissertation galt. 72 Schleiermacher steht auch Pate bei der Ausbildung des Themas der religionstheologischen Kulturhermeneutik. Bereits eine frühe Studie zu dessen Verstehenskonzept betont, dass das Sprachverstehen, an dem der große Romantiker orientiert ist, aus sich selbst heraus auf den Einbezug der

70 Zur Vorgeschichte dieser Streitfrage in Idealismus und Romantik vgl. A. Kubik, Welches System – welche Systemkritik? Zu Hardenbergs Systemgedanken und zu Violetta Waibels Hardenberg-Interpretation, in: Ch. Danz/J. Stolzenberg (Hg.), System der Vernunft. Kant und der deutsche Idealismus, Hamburg 2011 (im Druck). 71 Das gilt trotz der Tatsache, dass die website www.kulturhermeneutik.de – auch fest in theologischer Hand – andere Positionen vertritt (Aufruf 18.3.2011, 14.30 Uhr MEZ). 72 Der immer wieder vorkommende Ausdruck des ‚bewussten Lebens‘ verweist darüber hinaus auf eine eher unterschwellige Wirkung der Philosophie Dieter Henrichs.

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„soziale[n] und geschichtliche[n] Lebensbezüge“ 73 der Sprache drängt. Dieser Sachverhalt gilt in analoger Weise auch für die Religion, wie dann besonders der Aufsatz Institution und Individuum von 1990 deutlich macht. In seinen Reden Über die Religion hatte Schleiermacher die religionshermeneutische These aufgestellt, dass sich Religion letztlich zwar nur in kulturell tradierten Codierungen, aber zugleich auch nur in Differenz zu ihren Trägermedien artikuliert. Religion gehört ‚an sich‘ „ins Selbstverhältnis bewußten Lebens“ 74 und kann deshalb auch nur anhand ihrer Selbstdeutungen erkannt werden. Diese Selbstdeutungen aber müssen sich wiederum kultureller Formen bedienen, welche die „religiöse Kultur“ 75 bereitstellt. Im Anschluss an Niklas Luhmanns Untersuchungen zur Semantik der Liebe macht Gräb geltend, dass religiöse Kultur das Medium der Kommunikation von Selbstdeutungen ist, allerdings nicht die Religion selbst darstellt. Es entsteht ein Zirkel von religiöser Selbstdeutung und dessen Codierungen, der ersichtlich hermeneutischer Natur ist. Genau hier setzt das „Projekt zur Analyse gegenwärtiger religiöser Kultur“ 76 an. Es fragt nach „Codierungen von Religion, nach den Medien, die religiöse Selbstdeutungsvorgänge heute anzuregen und kommunikabel zu machen vermögen“. 77 Solche Codierungen finden sich immer noch vor allem im Bereich der organisierten christlichen Religion; deren Kommunikation gerät aber unter den Bedingungen der ausdifferenzierten, individualisierten und pluralisierten Gesellschaft – Thomas Luckmann und Hermann Lübbe werden als Gewährsmänner aufgerufen – in Schwierigkeiten, auf welche sich die Kirchen noch nicht genügend eingestellt haben. Zu den Aufgaben des Projekts gehört daher auch die Reflexion der „Anforderungen an die Bereitstellung individuell einlösbarer Muster der Selbstidentifikation“ 78 . Es hat Plausibilitätskriterien religiöser Selbstdeutungsschemata aufzustellen und zu begründen. Im Laufe der 1990er Jahre tritt Gräb immer stärker mit der Überzeugung an die Öffentlichkeit, dass Lebensdeutung angesichts von letzten 73 W. Gräb, Die unendliche Aufgabe des Verstehens, in: D. Lange (Hg.), F. Schleiermacher 1768-1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1984, 47-71, hier: 61. 74 W. Gräb, Institution und Individuum. Überlegungen zur Diagnose der modernen Religionskultur, in: Pastoraltheologie 79, 1990, 255-269, hier: 266. 75 W. Gräb, Institution und Individuum, a.a.O. (Anm. 73), 268. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 W. Gräb, Institution und Individuum, a.a.O. (Anm. 73), 269.

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Fragen allenthalben in der Kultur stattfindet und längst nicht mehr nur am Orte der institutionell verfassten Religion. Die Theologie macht folglich die „Hermeneutik religiöser Phänomene“ 79 entschlossen zu ihrer eigenen Sache, und konzentriert sich dabei nicht nur auf die Kirche, sondern: „Kultur und Gesellschaft müssen […] der Rahmen für eine ihre religionshermeneutische Aufgabe wahrnehmende Theologie sein“. 80 Getragen ist diese Aufgabenbestimmung von der Überzeugung, dass Religion derjenige „soziale Tatbestand [ist], der überall dort vorliegt, wo es zur individuellen Aneignung der […] bereitgehaltenen sinnorientierenden Lebensdeutungen kommt“. 81 Und das ist eben in Kirche und Kultur der Fall. Besonderes Augenmerk legt die Theologie dabei vor allem auf solche kulturellen Erscheinungen, die in den Bereich des Ästhetischen fallen, und zwar spezifischer: medial vermittelter Ästhetik. Es zeigt sich hier ein gravierender Unterschied zu Grözingers Ästhetik-Konzept: Während dieser, ausgehend von seiner ‚theologischen Ästhetik‘ nach inhaltlichen Korrespondenzen besonders im Bereich der Kunst Ausschau hält, welche bestimmte Züge der ‚Gottesgeschichte‘ sogar deutlicher zur Geltung bringen als kirchliche Lebensäußerungen, unternimmt nach Gräb Theologie die Suche nach Spuren religiösen Lebens im Gesamtbereich der Kultur und ihrer Medien: Sinndeutungsprozesse finden statt am Ort der kulturellen Medien, und zwar gerade auch in populärkulturellen Medien. Daher lautet die Parole: kulturhermeneutische Analyse von Musik, Film, Fernsehserien, Presse, Internet usw. Das Ziel ist eine „Hermeneutik der Kultur und ihrer Medien im Blick auf ihren die Unbedingtheitsdimension ansprechenden Sinngehalt“. 82 Dies ist inzwischen umgesetzt in ein empirisch unterfüttertes Programm zur medialen Rezeptionsforschung. Der Praktischen Theologie erwachsen daraus im Wesentlichen zwei Aufgaben: Sie soll zum einen – deskriptiv – daran mitarbeiten, kulturelle Sinnbestände nach ihrer religiösen Dimension verstehend zu erschließen. 79 W. Gräb, Von der Religionskritik zur Religionshermeneutik, in: Ders. (Hg.), Religion als Thema der Theologie. Geschichte, Standpunkte und Perspektiven theologischer Religionskritik und Religionsbegründung, Gütersloh 1999, 118-143, hier: 133. 80 W. Gräb, Von der Religionskritik zur Religionshermeneutik, a.a.O. (Anm. 78), 136. 81 W. Gräb, Von der Religionskritik zur Religionshermeneutik, a.a.O. (Anm. 78), 138. 82 W. Gräb, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002, 68.

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Und sie soll zum anderen – normativ – dafür sorgen, dass die Offiziellen des Christentums dazu angeleitet werden, dessen traditionellen Gehalte auf verständliche Lebensdienlichkeit hin auszulegen; diese wird je länger je mehr zum eigentlichen Kriterium religiöser Sinnbestände. Beide Aufgaben bedingen sich nach Gräb wechselseitig. Zwei verbreitete Irrtümer gegenüber diesem Ansatz sind hier zurückzuweisen: Zum einen handelt es sich nicht um den Versuch nachzuweisen, dass die gesamte Kultur ‚in Wahrheit‘ religiös sei. Richtiger wäre es zu sagen, dass in diesem Ansatz allenthalben ablaufende Prozesse der Lebensdeutung von der Theologie als religiös begriffen werden, um sich zu ihnen in ein fachliches Verhältnis setzen zu können. Nur so gelingt es der Theologie, die Ebene persönlicher Geschmacksurteile hinsichtlich der Medien zu verlassen und diese als ernst zu nehmende Größen im religiösen Feld zu betrachten. Zum anderen trifft es nicht zu, dass dieser Ansatz kein Interesse mehr am kirchlichen Christentum habe. 83 Er ist vielmehr daran interessiert, die Kirchen durch Wahrnehmung der gelebten Religion dazu zu befähigen, „die Menschen tiefer über sich [zu] verständigen und darüber, was sie in der Religion eigentlich suchen“. 84 Gerade der Komparativ verweist auf eine – durch so genannte funktionale Äquivalente schwer zu ersetzende – besondere Aufgabe der christlichen Deutungstradition. Im Zusammenhang mit dem Medienforschungsprogramm finden sich an zwei prominenten Stellen dann doch instruktive Bezugnahmen auf Tillich, welche den Ansatz insgesamt noch einmal stärker zu beleuchten in der Lage sind. In der Einleitung zur ersten Darstellung der Forschungsergebnisse wird mitgeteilt, der forschungsleitende Religionsbegriff sei im Anschluss an Schleiermacher „und den frühen Tillich“ 85 gebildet. Detaillierter ausgeführt ist diese Bezugnahme an anderer Stelle. Der Tillich der 1920er Jahre wird dabei ausdrücklich als Vorfahr des Programms einer „theologischen Kulturhermeneutik“ 86 in Anschlag gebracht. 87 Er habe diese im denkbar umfassendsten Sinne vorgenommen: Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medizin, Kunst und andere Kulturbereiche werden zum Ge83 Es wäre reizvoll, Gräbs Christentumsverständnis einmal anhand seiner vielen Predigten und Predigthilfen zu untersuchen. 84 W. Gräb, Sinn fürs Unendliche, a.a.O. (Anm. 81), 20. 85 W. Gräb u.a. (Hg.), „Irgendwie fühl ich mich wie Frodo […].“ Eine empirische Studie zum Phänomen der Medienreligion, Frankfurt/Main 2006, 28. 86 W. Gräb, Sinn fürs Unendliche, a.a.O. (Anm. 81), 27. 87 Gräb bezieht sich vorwiegend auf die Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart (1926).

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genstand seines Nachdenkens. Da Religion die Sinnrichtung auf das Unbedingte ist, liegt sie nicht für jedermann sichtbar zu Tage. Daher muss die entsprechende Deutungsarbeit von der Theologie geleistet werden: „Daß das wirklich Religion ist, was da vorliegt […], liegt gerade nicht auf der Hand.“ 88 Gleichwohl zeigt sich bei Gräb eine bleibende Reserve gegen Tillich. Diese deutet sich schon in solch zurückhaltenden Wertungen an, Tillich habe sich um eine Religionshermeneutik „bemüht“ bzw. die religiöse Lage zu erschließen „versucht“. 89 Die eigentliche Kritik beruht auf zweierlei: Zum einen habe Tillich die Rolle des sensiblen Zeitdeuters gelegentlich gegen die „absolute Position des sich (prophetisch) selbst manifestierenden Absoluten“ 90 eingetauscht. Hierin liege gewissermaßen eine theologische Selbstermächtigungsstrategie vor, welche die Selbstdeutung autonomer Kulturformen korrigiert und überbietet. Zum anderen stellt Gräb die Frage nach dem eigentlichen Ziel von Tillichs Kulturhermeneutik. Dieses bestehe in der Suche nach einem Zustand, in dem Kultur und Religion nicht mehr getrennt sind, einen Zustand der „Integration“ 91 in eine neue „Einheitskultur“ (GW IX, 31), als deren primären Träger Tillich zeitweilig die Bewegung des religiösen Sozialismus ausgemacht habe. Für Gräb hingegen stellt sich dieses Problem nicht, da er das Streben nach Kultursynthese nicht für sinnvoll hält. Lebensdeutung ist immer schon im Schwange, die Theologie kann da anknüpfen, gegebenenfalls vertiefen, oder – wie manche Gräb-Adepten gerne sagen – ihre Lebensdeutung in die kulturelle Kommunikation über Religion ‚einspielen‘. Was das erste angeht, so kann die Attitüde Tillichs kaum bestritten werden. Es stellt sich hier ganz schlicht die Frage nach der Methodisierbarkeit von Kulturhermeneutik bzw. die Frage danach, ob dies Unternehmen immer von dem genialischen Deutungssubjekt (das Tillich ohne Zweifel war) abhängt. In der Sache aber ist hier erneut – wie schon im Falle Grözingers – auf den wissenschaftstheoretischen Ort der theologischen Kulturhermeneutik zu verweisen. Wir werden darauf gleich zurückkommen. Was das zweite angeht, so kann Gräb für den Tillich der 1920er Jahre durchaus recht gegeben werden. Dabei fällt freilich unter den Tisch, dass Tillich hier nach dem Zweiten Weltkrieg doch eine bedeutende 88 89 90 91

W. Gräb, Sinn fürs Unendliche, a.a.O. (Anm. 81), 30. W. Gräb, Sinn fürs Unendliche, a.a.O. (Anm. 81), 27. W. Gräb, Sinn fürs Unendliche, a.a.O. (Anm. 81), 33. W. Gräb, Sinn fürs Unendliche, a.a.O. (Anm. 81), 32.

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Selbstkorrektur vorgenommen hat, indem jegliche Einheitsphantasie aufgegeben wird, das kulturhermeneutische Anliegen hingegen aufrechterhalten wird. Dies zeigen die großen Arbeiten zur Sinninterpretation der Medizin, der Psychoanalyse, der Architektur und vielem anderen mehr. Das kulturhermeneutische Anliegen ist mithin bei Tillich nicht abhängig von dem Streben nach einer Einheitskultur. Umgekehrt lässt sich fragen, ob es sich Gräb mit Tillich nicht etwas zu einfach macht. Er diskutiert nicht die doppelte Konfliktlinie, die Tillich wahrnimmt. Demnach ist der Antagonismus von Kultur und Religion zwar idealiter ein Missverhältnis, realiter aber ein unhintergehbares Faktum. Das führt zum einen dazu, dass die Kultur, die sich selbst als „Inbegriff außerreligiöser Sinnerfüllung“ (GW I, 272) versteht, gegen die christliche Sinndeutung immer wieder als Einspruch auftritt, d.h als Kritik, sei es am Christentum, sei es an der Religion überhaupt. Es ist nach Tillich damit zu rechnen, dass dieser Einspruch Wahrheitsmomente enthält und gelegentlich geradezu als Fernwirkung der reformatorischen Religionskritik auftritt, er verrichtet mitunter das „Gotteswerk der Autonomie“ (GW I, 331). Eine theologische Reaktion darauf, die in dem bloßen Dreischritt von Wahrnehmen, Verstehen und Vertiefen besteht, lässt jenen Einspruch gleichsam gegen Watte boxen. Deshalb führt jenes Faktum zweitens dazu, dass sich das Christentum nicht lediglich apologetisch in dem Sinne verhalten kann, dass es die Passgenauigkeit seiner – vom Kulturtheologen erläuterten – Grundlagen zum Spiel der Lebensdeutungen nachweist, sondern muss auch zu einer „Konfrontierung der existentiellen Analyse [sc. der Kultur] mit dem Symbol, in dem das Christentum das, was uns unbedingt angeht, ausgedrückt hat“ (GW IX, 107) kommen. Im Lichte dieser Rückfragen an Gräb wird deutlich, dass bei ihm zum einen das Verhältnis von Religion und Kultur eigenartig spannungsfrei gedacht ist; ihre Harmonie ist gewissermaßen immer schon hergestellt und wird durch die theologische Kulturhermeneutik lediglich aufgewiesen. Mir scheint aber, dass man die vielen real existierenden Konflikte nicht einfach als bloße Missverständnisse verbuchen bzw. als Reste von überlebten kirchlichen Provokationen abtun kann. Zum anderen ist Gräbs Religionsbegriff nur scheinbar im Begriff der Unbedingtheitsdimension von Sinn zentriert, es finden sich auch das „Unendliche“, das „Letzte“ oder das „Ganze“ und andere Kandidaten als Referenzpunkte der Religion. Gerade die strikte Unbedingtheitsdimension von Sinn fungiert bei Tillich aber als Lebenselement der prophetischen Dimension der Religion, indem sie Einsprüche gegen alle Hypostasierungen endlicher Größen in den Rang

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des Heiligen erhebt. Die partielle Ausblendung der ‚harten‘ Seite der Religion ist bei Gräb durch eine gewisse begriffliche Unschärfe im Religionsbegriff selber erkauft. Aber es tut auch der Kultur nicht gut, wenn die Religion von vornherein auf ihre prophetische Dimension verzichtet. Das damit kein Plädoyer zugunsten kirchlicher Selbstermächtigungen für ‚Wächterämter‘ und dergleichen abgegeben ist, versteht sich von selbst.

4. Zur Fortentwicklung der ‚Thelogischen Kulturhermeneutik‘ Wir haben drei namhafte Positionen gegenwärtiger ‚theologischer Kulturhermeneutik‘ dargestellt, sie im Lichte ihrer Tillich-Rezeption profiliert und Rückfragen aus der Perspektive Tillichs an sie gestellt. Ein detaillierter Vergleich dieser Positionen untereinander kann hier unterbleiben, da es um das kulturhermeneutische Sachanliegen einerseits, um Tillichs spezifischen Beitrag zur Fortentwicklung dieses Anliegens andererseits geht. Ich stelle daher zunächst zusammen, worin die drei Positionen mehr oder weniger überein kommen, um in einem zweiten Schritt dann zu formulieren, worin jener Beitrag Tillichs genau bestehen könnte. 92 Die Gemeinsamkeiten der genannten Positionen rechtfertigen es, diese bei allen Unterschieden im Einzelnen im Hinblick auf die Gesamtlage der gegenwärtigen evangelischen Theologie als Angehörige einer theologischen Richtung anzusehen. Sie lassen sich in sechs Punkten markieren: 1.) Wir leben in einer Zeit, in der sich die Kultur gegenüber der Religion verselbständigt hat, autonom geworden ist. Religion ist in ihrer organisierten, sichtbaren Gestalt ein kulturelles System bzw. eine kulturelle Sphäre neben anderen. 2.) Das Verhältnis von Christentum und Kirche gegenüber der Kultur kann nicht von vornherein das eines ‚Gerichts‘ sein; die Theologie muss vielmehr erst einmal die Offenheit einer Urteilsenthaltung gegenüber der Kultur üben. Die Autonomie der Kultur ist zu wahren. 3.) Die autonome Kultur ist gleichwohl theologisch relevant, wenn auch in unterschiedlich zu beschreibender Weise. 4.) Diese Relevanz fordert von der Theologie ein sensibles Erschließungsverhalten gegenüber dem, was an der autonomen Kultur theologisch relevant ist, werde dieses nun phänomenologisch, ästhetisch oder herme92 Ich hoffe, diese thesenartige Vorschau in nicht allzu ferner Zukunft umfänglich ausführen zu können (vgl. Anm. 3).

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neutisch entfaltet. Als Chiffre für diese Relevanz wird häufig der Ausdruck ‚gelebte Religion‘ verwendet. 5.) Die sensibel erschlossene theologische Bedeutung der Kultur ist auch dahin gehend relevant, dass sie Christentum und Kirche vermittels der Theologie immer wieder zur Selbstkritik nötigt. 6.) Die Erkenntnis der Bedeutung der gelebten Religion zwingt auch zu vielfältigen Neuformulierungen der Pastoraltheologie. Homiletik, Poimenik, Liturgik und Katechetik sind in der Auseinandersetzung mit der gelebten Religion neu zuzuschneiden. 93 Eine wichtige Aufgabe besteht eben darin, vonseiten der Hauptamtlichen die gelebte Religion überhaupt wahrnehmen und einordnen zu können. Es bedarf keines umständlichen Nachweises, dass diese sechs Punkte auch Tillichs Meinung weitgehend widerspiegeln. Darüber hinaus führt die re-lecture der genannten praktischen Theologen im Lichte Tillichs noch zu folgenden weiteren Thesen, welche es wahrscheinlich machen sollen, dass das Unternehmen einer theologischen Kulturhermeneutik von einer konzentrierten Auswertung Tillichs nur wird profitieren können: 7.) Theologische Kulturhermeneutik basiert auf einer theologischen Neuzeittheorie. Sie wird in dem Maße an Tiefenschärfe gewinnen, als diese Theorie ausgewiesen wird und insbesondere die Fragen beantwortet, wie es denn überhaupt zu einer autonomen Kultur kommen konnte und wie dieser Prozess einzuschätzen ist. Davon wird in erheblichem Maße die Stellungnahme zur ‚gelebten Religion‘ abhängen. 8.) Theologische Kulturhermeneutik lebt von dem existenziellen Teilnehmen der Kulturhermeneutik treibenden Subjekte an dem Kulturbereich, den sie untersuchen. Sie fordert „lebendiges Einswerden“ (GW X, 9) mit ihnen. Zugleich ist, soll dieses Geschäft wissenschaftlich betrieben werden, auch die Einklammerung dieses Beteiligtseins im Auslegungsprozess. 93 Tillich hat, was nicht sehr bekannt ist, zu all diesen Praxisfeldern bedeutende Studien vorgelegt; vgl. dazu die Arbeiten von S. Peeck, Suizid und Seelsorge. Die Bedeutung der anthropologischen Ansätze V. E. Frankls und P. Tillichs für Theorie und Praxis der Seelsorge an suizidgefährdeten Menschen, Stuttgart 1991. F. Wittekind, Gottesdienst als Handlungsraum. Zur symboltheoretischen Konstruktion des Kultes in Tillichs Religionsphilosophie, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Das Symbol als Sprache der Religion, Münster 2006, 77-100. M. Dumas (Hg.), Paul Tillich, prédicateur et théologien pratique. Actes du XVIe Colloque International Paul Tillich, Montpellier 2005, Berlin/Münster 2007. J. Kubik, Paul Tillich und die Religionspädagogik. Analyse und Kritik der Aneignung seiner Theologie in der Religionspädagogik sowie Perspektiven seiner religionspädagogischen Relevanz, Diss. Göttingen 2009.

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Es erweist sich stets als ungünstig, wenn TheologInnen Kulturbereiche interpretieren, zu denen sie keinen persönlichen Zugang haben. Folglich wird die Kulturanalyse notwendig selektiv ausfallen (vgl. ebd.); theologische Kulturhermeneutik ist zugleich ein Weiterreichen und Zur-Diskussion-Stellen von Zugängen, Einsichten und Interpretationen. Sie kann nur von der scientific community insgesamt erbracht werden. 94 9.) Theologische Kulturhermeneutik ist immer auch ein apologetisches Unternehmen. Dies ist bei Gräb immerhin angedeutet; in Zeiten, wo ‚Apologetik‘ einen schlechten Beigeschmack hat, 95 ist es nicht verwunderlich, dass sich kaum jemand klar zu dieser Funktion bekennt. Tillich aber tut es deutlich: Apologetik „kann nur in folgender Weise durchgeführt werden: nicht durch Verteidigung des Christentums und Widerlegung seiner Angreifer, sondern durch das Bemühen, die Angreifer von der christlichen Position her zu verstehen“. 96 Sieht man einmal von der martialischen Sprache ab, so ist die hermeneutische hier klar mit der apologetischen Aufgabe eng geführt. 10.) Folglich ist das Ziel der theologischen Kulturhermeneutik eine Verhältnisbestimmung von Christentum und Kultur auf der Ebene der Phänomene wie im Ganzen. Die Entgegensetzung von Christentum und Kultur ist dabei jedoch bloß methodischer Art; im Konkreten ist permanent mit Mischformen, Überschneidungen und der Unmöglichkeit einer klaren Trennung zu rechnen. 11.) Die schwierigste, aber vielleicht auch die wichtigste Frage ist die nach dem wissenschaftstheoretischen Ort des ganzen Unternehmens. Zur Beantwortung dieser Frage liegen m. E. die Materialien im System der Wissenschaften (1923) bereit. Hierzu sei noch einmal etwas ausführlicher ausgeholt. Tillich teilt das Ganze der Wissenschaften bekanntlich nach der Grundpolarität von Denken und Sein in drei Teile ein, die Denkwissen94 Der kritische Einwand von P. Haigis (Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur, Marburg 1998, 174) Tillich habe „über die prinzipielle Fragmentarizität seiner Beobachtungen zu wenig reflektierte Rechenschaft abgelegt“, wäre im Lichte der Eingangsbemerkungen von Die religiöse Lage der Gegenwart (1926) noch einmal zu bedenken. In jedem Fall stellt sich die Frage, wie viel an solcher Rechenschaftsabgabe denn ‚genug‘ wäre. 95 Zum Ursprung kulturprotestantischer Apologetik vgl. A. Kubik, Kulturchristentum und Apologetik. Versuch im Anschluss an Schleiermacher und Novalis, in: A. Arndt/U. Barth/W. Gräb (Hg.), Christentum – Staat – Kultur, Berlin/New York 2008 (= Akten des Kongresses der Internationalen SchleiermacherGesellschaft in Berlin, März 2006), 567-579. 96 GW X, 149; vgl. auch GW IX, 58-61.

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schaften, die Seinswissenschaften und die Geistes- bzw. Normwissenschaften, in denen Denken und Sein evaluativ oder präskriptiv zueinander finden. 97 Die für unsere Frage einschlägige systematische Entscheidung besteht in der Zuordnung von Seinswissenschaft der Religion auf der einen und Theologie als einer Geisteswissenschaft auf der anderen Seite. Die Seinswissenschaften befassen sich hinsichtlich der Religion mit dem historischen, seelischen und gesellschaftlichen Vorkommen von Religion und versuchen dies typisierend oder in seiner Abfolge zu verstehen. Theologie hingegen befasst sich mit der Geltung der Sinnintention Religion selbst. 98 Sie muss zu diesem Zweck zwar auf Ergebnisse der Seinswissenschaft zurückgreifen, geht aber nicht in ihnen auf. Theologie ist normative Religionswissenschaft, d.h. sie reflektiert Geltungsfragen. Jede Normwissenschaft ist nach Tillich ihrerseits wieder dreifältig aufgebaut: Sie besteht in Sinnkategorienlehre (Philosophie), Sinnmateriallehre (Geistesgeschichte) und Sinnnormenlehre (Systematik). Es ist ersichtlich, dass die theologische Kulturhermeneutik weder zur Religionsphilosophie im engeren Sinne noch zur systematischen Theologie (Dogmatik) gehört. Ihr Ort muss also in der zweiten Abteilung sein. Wie ist das zu verstehen? Nun, der selbstverständliche Kandidat für diese ist die „Historische Theologie“ (GW I, 276), die in „normative Exegese“ (ebd.) der Bibel 99 und „theonome Geistesgeschichte“ (ebd.) zerfällt. Diese ist keine Kirchengeschichte in dem Sinne, dass historisch nach dem Werden und Wandeln der Kirche gefragt würde, sondern sie fragt nach dem religiösen Sinngehalt in den geschichtlichen Gestalten. Dabei kann sie sich erstens nicht auf den kirchlichen Bereich beschränken, sondern muss „auf den gesamten Prozeß der Geistesverwirklichung“ (ebd.) Rücksicht nehmen. Zum anderen ist sie aber auch nicht auf die Vergangenheit beschränkt, sondern untersucht „in jeder Kulturschöpfung den theonomen Gehalt“ (GW I, 274) – auch in den gegenwärtigen: Exakt dies ist die Aufgabenstellung der theologischen Kulturhermeneutik. Sie ist gewissermaßen das zeitdiagnostisch orientierte Pendant zur historischen Theologie. Während diese auf dem Material der Geschichtswissenschaft aufbaut, hat jene es mit soziologischen und psychologischen Zugängen zu tun. Sie lässt sich aber nicht auf sie reduzieren. 97 Diese Einteilung – man muss daran erinnern – hat nichts mit der heutigen Einteilung der Universitäten in Fakultäten und Fachbereiche zu tun; so ist z.B. die Philologie nach Tillich keine Geisteswissenschaft, die Jurisprudenz hingegen sehr wohl. 98 „Über Geltung entscheidet die Geisteswissenschaft.“ (GW I, 184). 99 Tillichs Theorie der Exegese lohnt eine eigene Darstellung, die hier nicht geleistet werden kann.

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Theologische Kulturhermeneutik leistet also keinen Beitrag zur seinswissenschaftlichen Erhellung von Religion, sondern ist vielmehr auf diese angewiesen. Sie macht z.B. keine Aussagen darüber, wie religiös empirisch gesehen die Gesellschaft oder einzelne Subjekte in ihr sind, sondern sie fragt im Sinne Tillichs nach der Geltung, nach der Realisierung einer auf das Unbedingte gerichteten Sinnintention in kulturellen Phänomenen zum Zwecke einer theologischen Verhältnisbestimmung. Nur durch eine solche Bestimmung der theologischen Aufgabe, die hier lediglich angedeutet werden konnte, kann sie es vermeiden, einerseits in empirische Religionsforschung aufzugehen, andererseits auf das Feld der unmittelbaren religiösen Wertaussage überzuwechseln. Wenn sich dann durch ihre Bemühungen Religionssoziologie und Religionspsychologie in ihrem Feld ebenfalls bereichert fühlen, umso besser! Aber darüber müssen diese selbst befinden.

Predigen heißt, am Lebensgefühl zu arbeiten. Zu Paul Tillichs Predigt Dennoch bejaht – You are accepted ILONA NORD Tillich führt mit seiner Predigt Dennoch bejaht in einen Textraum hinein, in dem es möglich ist, am eigenen Lebensgefühl zu arbeiten. Nach einem kurzen Einblick in die Rezeption von Tillichs Predigten werde ich den Text der Predigt selbst durchgehen und mit Hilfe einer phänomenologischen Hermeneutik auf Schlüsselstellen zur Arbeit am Lebensgefühl aufmerksam machen. Der erste Schritt ist, dass eine Reduktion aller Vorverständnisse zum Predigtthema vorgenommen wird. Dieser Vorgang ermöglicht es, in die Situation eintauchen zu können, in der das eigene Lebensgefühl thematisch wird. Dazu gehört eine spezielle Aufmerksamkeit für das, was als wirklich empfunden wird. Wirklichkeit konstituiert sich, so wird entfaltet, über ein räumliches Verständnis vom Dasein. Wirklichkeit wird über Empfindungen wahrgenommen, die als Gefühle reflektiert werden. Es gibt Gefühle, die die eigene Lebensgeschichte derart prägen, dass sie als Lebensgefühl bezeichnet werden können. Tillichs Predigt leistet Arbeit an diesem Lebensgefühl. Zum Abschluss werden Verbindungslinien zwischen Tillichs Predigt und der gegenwärtigen homiletischen Diskussion aufgezeigt.

1. Zur Rezeption von Tillichs Predigten Paul Tillichs Theologie ist insbesondere durch seine späten Predigten über die Grenzen von Theologie und Kirchen hinaus bekannt geworden. Sie wurden in viele Sprachen übersetzt und konnten dadurch eine große Wirkung erzielen, so dass es gelungen ist, Leserinnen und Leser ohne professionelle theologische Vorbildung zu gewinnen. Diese späten Predigten sind unter dem Titel Religiöse Reden veröffentlicht worden. Ursprünglich kamen sie innerhalb von Gottesdiensten zu Gehör, aber sie wurden vor

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allem als Lesepredigten verbreitet. Die so genannten Reden 1 bieten kurze Stücke geistlicher Orientierung an, die letztlich ähnlich wie die Systematische Theologie strukturiert sind und relativ zeitgleich zu ihr in drei Bänden erschienen sind: Der erste Band The Shaking of the Foundations erschien 1948. In diesem steht die Entfaltung der Situation des Menschen im Zentrum der Predigten, ich entnehme ihm die Predigt You are accepted, zu Deutsch Dennoch bejaht, zum genaueren Studium heraus. ( RR I, 144-153) Sie gilt als die bekannteste Predigt Tillichs. Aber sie ist auch deshalb interessant, weil sie die Rechtfertigungsbotschaft, den Kern protestantischer Verkündigung, zum Thema hat. Der zweite Predigt-Band The New Being ist 1955 erschienen und ist der Botschaft von der Neuen Wirklichkeit, die in Jesus Christus erschienen ist, gewidmet. Der dritte und letzte Band wurde 1964 unter dem Titel The Eternal Now veröffentlicht. Die drei Predigtbände haben sowohl in den USA als auch in Deutschland Theorie und Praxis der kirchlichen Verkündigung beeinflusst, aber sie taten dies nicht aufgrund einer praktisch-theologischen Reflexion. Sie sind überhaupt bis heute kaum reflektiert worden. 2 Erdmann Sturms Urteil legt hierbei die Spur zur bisherigen Deutung: „Auch als Prediger bleibt Tillich vor allem systematischer Theologe.“ 3 Die Predigt-Bände sind innerhalb der Tillich-Rezeption (und möglicherweise auch über diese hinaus) vor allem als ‚Kleine Systematische Theologie‘ gelesen worden. So werden sie im Grunde als Elementarisierung der Dogmatik verstanden. Darüber hinaus betont Erdmann Sturm, dass gerade die frühen Predigten trösten, stärken und Gewissheit vermitteln wollten. Sturm ist der Auffassung, dass dies von Anfang an die Konstante der Tillichschen Predigten bilde. 4 Dem entspricht es, wenn er Tillichs Predigten zwischen Apologetik und Seelsorge oszillieren sieht. 5 In dieser Sichtweise vermitteln die Predigten einer1

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Wie Erdmann Sturm in Verweis auf ein Gespräch mit Renate Albrecht während des 2. Internationalen Paul-Tillich-Kongresses in Wien berichtete, ist der Titel Religiöse Reden, der an F. D. E. Schleiermacher erinnert, nicht von Tillich selbst, sondern vom Verlag gewählt worden. Dieses Urteil gilt umso mehr für die frühen Predigten, die Erdmann Sturm bereits 1994 als Band 7 der Gesammelten Werke herausgegeben hat und die bis heute nicht weiter praktisch-theologisch reflektiert worden sind. E. Sturm, § 12 Predigten, in: W. Schüßler/E. Sturm, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 199. Vgl. E. Sturm, § 12 Predigten, a.a.O. (Anm. 3), 208. E. Sturm, Zwischen Apologetik und Seelsorge. Paul Tillichs frühe Predigten, in: I. Nord/Y. Spiegel (Hg.), Spurensuche, Münster 2001, 85-104.

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seits Grundlagen des christlichen Glaubens, andererseits enthalten sie einen persönlichen Zuspruch. Einen zweiten, aus dem römisch-katholischen Kontext stammenden Beitrag liefert Frederick Parella mit Re-Reading Paul Tillich’s Sermons. A spiritual Journey 6 . Er ist der Auffassung, dass die Predigten Tillichs dazu anleiten, die eigene Spiritualität fortzubilden. Tillich selbst hat explizit darauf verzichtet, diesen heute üblicheren Begriff der Spiritualität aufzunehmen. 7 Aber Parella verdeutlicht, wie er diesen Begriff im Tillichschen Sinne zu füllen in der Lage ist. Spiritualität entwickle sich dort fort, wo die Entfremdung des Menschen von sich selbst überwunden werde, wo Körper und Seele jeweils selbst miteinander wiedervereinigt und darin auch ihre Entfremdung voneinander geheilt werden könne. Zweitens trage zur Vorstellung eines Lebens aus dem Geiste Gottes Tillichs Gedanke der Transformation von Heteronomie und Autonomie in Theonomie bei. Drittens entfaltet Parella seine These, dass die Bildung von Spiritualität eine spezifische Sprache brauche. Im Gefolge von Tillich qualifiziert er sie als Sprache des Paradoxes. 8 Sturm und Parella verdeutlichen, wie Tillichs Predigten aus systematisch-theologischem Blickwinkel interpretiert werden können. Demgegenüber bringt Wilfried Engemann praktisch-theologische und hier im engeren Sinne homiletische Aspekte in die Diskussion ein. Er stellt die wirkungsgeschichtliche Dimension von Tillichs Methode der Korrelation für die Homiletik heraus. Mit Tillich werde Verkündigung als Eingehen auf Situationen verstanden und zugleich würden Situationen als notwendig vorauszusetzendes Fragepotential der Verkündigung begriffen. 9 Engemann weist darauf hin, dass Alfred Dedo Müller Tillich intensiv rezipierte. Allerdings sei an seiner Rezeption auch deutlich geworden, welche fundamentalen kommunikativen Schwierigkeiten sich hier einstellen könnten. Mit Müller dürfe der Situationsbezug nicht dazu führen, dass der Gegenstand der Predigt nun der empirische Mensch sei. Vielmehr müsse der Prediger alle Fragen kennen, die die Menschen in seiner Gemeinde mit sich führten. Er spitzt dann die Methode der Korrelation auf 6 7 8 9

F. J. Parrella, Re-Reading Paul Tillich’s Sermons: A Spiritual Journey, in: P. Haigis/D. Lax (Hg.), Brücken der Versöhnung, Festschrift für Gert Hummel zum 70. Geburtstag, Münster 2003, 366-381. E. Sturm, § 12 Predigten, a.a.O. (Anm. 3), 208 f. F. J. Parella, Re-Reading Paul Tillich’s Sermons: A Spiritual Journey, a.a.O. (Anm. 6), 376 ff. Vgl. W. Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen/Basel 2002, 368.

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das Motto zu ‚Die Gemeinde fragt. Die Predigt antwortet‘. Auch wenn die Predigerin oder der Prediger in Hinsicht auf die theologische Bildung einen Vorsprung vor den Kommunikationspartnerinnen und -partnern in der Gemeinde habe, so räumt Engemann ein, sei aber ihre Festlegung auf die Rolle der Fragenden eine Herabwürdigung. Die theologische Kompetenz der Hörerinnen und Hörer werde nicht gewürdigt, insofern kämen sie auch nicht als Antwortende in den Blick. Engemann betont zum einen Tillichs Beitrag zur Reflexion des Situationsbezugs in der Homiletik und zum anderen zeigt er den kommunikationstheoretischen Bedarf an, dass und wie die Methode der Korrelation stets zirkulär zu denken sei. 10 Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass Tillichs Predigten im Kontext der kulturellen Situation der USA Ende der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entstanden sind. Ihre kommunikative Leistung müsste deshalb theologiegeschichtlich und allgemein historisch beschrieben werden, was hier nicht geschehen kann. Aus heutiger Sicht enthalten sie verschiedene kommunikative Schwierigkeiten, die in Tillichs Sprachgestus liegen. Zu nennen ist etwa Tillichs Gebrauch des „Wir“ z.B. auch in Dennoch bejaht. Dies kommt einer ‚Umarmung‘ des Hörers bzw. der Leserin gleich, von der in der gegenwärtigen homiletischen Praxis abgeraten wird. Ebenso wird heute für kommunikativ schwierig gehalten, wenn der Prediger zu Beginn seiner Rede seine eigene Befindlichkeit thematisiert. Ob nur Tillich oder auch die Hörerinnen und Hörer Probleme gehabt hatten, diesen Text auszulegen, ist für den Fortgang der Predigt unerheblich. Daran zeigt sich nur, was selbstverständlich viele Predigerinnen und Prediger kennen: Wie schwierig es ist, Situation und Text miteinander zu „versprechen“ (Ernst Lange), und dabei einen Anfang zu bekommen, insbesondere ‚am Samstagabend‘.

2. Zum Zusammenhang von Wirklichkeit und Gefühlen Die Ausgangsfrage, mit der an die Lektüre herangegangen wurde, bezog sich auf Tillichs Verständnis von Wirklichkeit, wie es aufgrund der Religiösen Reden rekonstruiert werden kann. Diese Frage war im Rahmen einer phänomenologisch orientierten Praktischen Theologie entstanden, der daran gelegen ist, Wirklichkeiten gelebter Religion und darin auch gelebten 10 Vgl. W. Engemann, Einführung in die Homiletik, a.a.O. (Anm. 9), 371.

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Glaubens darzustellen. Grundlegend ist für diesen Ansatz auch die Einsicht, dass sich über Wirklichkeit nur auf indirekte Weise sprechen lässt. So handelt es sich bei ‚der Wirklichkeit‘ nicht um etwas unabhängig von uns Gegebenes, sondern die Wirklichkeit taucht an zwei Enden unseres Erlebens und Verhaltens auf, wie Bernhard Waldenfels formuliert: „[I]n der leiblichen Wahrnehmung, in der uns etwas als wirklich gegeben ist, und in der leiblichen Handlung, in der wir etwas bewirken, was uns dann seinerseits als wirklich gegeben ist.“ 11

Es geht darum, stets die leibliche Wahrnehmung einer Situation zu schildern. Auf diese Weise kann Wirklichkeit in einem Predigtgeschehen (re)konstruiert werden. Die leibliche Wahrnehmung einer Situation wird als Gefühl reflektiert. Tillichs Stärke liegt nun m. E. darin, Situationen so zu beschreiben, dass er die Hörerin und den Hörer während seiner Predigt zu ihren sinnlichen Wahrnehmungen und den Empfindungen, die diese auslösten, zurückführen kann. Sie werden an Empfindungen erinnert, die einer eigenen komplexen Situation entstammen. Dabei konkretisiert er die Situation nicht weiter, sondern skizziert sie nur, damit genug Raum für persönliche Assoziationen verbleibt. Aus phänomenologischer Perspektive lässt sich außerdem ergänzen, dass eine Situation niemals nur ein bestimmter örtlicher Kontext ist, sondern vielmehr Gegenwärtiges und Vergangenes, Erfahrenes und Erwünschtes umfasst. Eine Situation wirkt auf den Verlauf einer Lebensgeschichte als komplexes Gewebe ein. Zu ihr gehören Sachverhalte so gut wie Erinnerungen, Programme, Sorgen und Probleme sowie vieles mehr. Auch die jeweils damit verbundenen Reflexionen der sinnlichen Wahrnehmungen als Gefühle gehören zur Situation. Der Phänomenologe Hermann Schmitz nennt sie Atmosphären. 12 Gefühle werden als für eine Situation charakteristische und insofern räumlich ausgedehnte Atmosphären verständlich. Personen können von diesen Atmosphären affektiv betroffen werden. Dies zeigt sich daran, wie sie selbst leiblich auf sie reagieren. Es ist nun meine These, dass Tillich Gefühle, wie etwa das Gefühl der Angst in einer Situation, beschreibt und dem Glauben die Macht eines Transformationsprozesses zutraut, der von bedrückenden Gefühlen entlastet und zu befreienden Gefühlen hinführt. In You are accepted entfaltet Tillich in diesem Sinne die Situation der Angst. Zu dieser Situation gehört 11 B. Waldenfels, Grenzen der Normalisierung, Frankfurt/Main 1998, 216. 12 Vgl. H. Schmitz, Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen, in: H. Fink-Eitel/G. Lohmann (Hg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt/Main 1993, 33 ff.

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das Aufrufen der Empfindungen, die Menschen bedrücken, wenn sie Angst davor haben, sich trennen zu müssen oder eine Trennung hinnehmen müssen. Im weiteren Fortgang der Predigt sorgt er dafür, dass diese Angst als geteilte Atmosphäre im Weltbild der Hörerinnen bzw. Leser einen Platz erhält. So, wie er Angst beschreibt, wird deutlich, dass nicht nur ich Angst habe, sondern das Gefühl der Angst überindividuell existiert. Es eröffnet der einzelnen Person eine tröstliche Perspektive, dass ihre Existenzangst sie nicht vereinsamen lassen muss. Die öffentliche Thematisierung dieses intimen Gefühls ermöglicht, es miteinander zu teilen. Atmosphären bilden sich durch geteilte Gefühle und darin wird es für die einzelnen Subjekte möglich, sich selbst in Verbindung mit anderen als wirklich in ihrer Welt befindlich zu erfahren.

3. Zur Lektüre von You are accepted – Dennoch bejaht Die Predigt You are accepted – Dennoch bejaht ist – wie nahezu jede von Tillichs Predigten – mit einem biblischen Wort überschrieben. 13 Sie bezieht sich auf Röm. 5,20: „Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die Gnade viel mächtiger geworden.“ Zunächst ein Blick auf den Anfang und das Ende der Predigt, die miteinander in Beziehung stehen. Tillich beginnt damit, seinen Widerstand gegen den Text zu thematisieren. Er scheint ihm zu bedeutend, als dass er über ihn predigen könne. Denn hier werde die apostolische Erfahrung von Paulus, seine ganze religiöse Botschaft und sein christliches Lebensverständnis zusammengefasst (vgl. RR I, 144). Im Grunde sei Röm. 5,20 in einer verdichteten Form das Zeugnis des Paulus schlechthin und beanspruche daher eigene Dignität. Die kommunikative Situation, die hiermit zu Beginn der Predigt entsteht, ist mehr als schwierig. Tillich inszeniert mit diesen Vorbemerkungen so etwas wie eine Unterwerfung unter die Macht des Apostels. Die Aufgabe, sein Wort auszulegen, erscheint ihm zu groß zu sein. Der Text und sein Autor scheinen den Prediger klein zu machen. Hiermit stellen sich Anfragen an Tillichs Schriftverständnis, insbesondere auch an sein Verständnis von der Autorität der Schrift, die in diesem Rahmen allerdings nicht weiter verfolgt werden können.

13 Einschränkend ist zu überprüfen, ob es Kasualpredigten Tillichs gibt, wo dies nicht der Fall ist.

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Erst darüber, dass Tillich sich nun vom Text distanziert, gewinnt er wieder die Kraft, zu seiner eigenen Auslegungskompetenz zurückzukommen: „Es gibt wenig Worte, die den meisten von uns fremder wären als ‚Sünde‘ und ‚Gnade‘.“ (RR I, 144) Er macht zunächst auf die große Distanz zwischen ihm, dem Menschen heute und dem biblischen Zeugnis sowie dem Protagonisten Paulus aufmerksam. Damit eröffnet Tillich den Kommunikationsraum der Predigt für ein Geschehen, dass auf alle Vorverständnisse und traditionellen Bindungen an die Bibel und an Kenntnisse über den Apostel Paulus sowie dessen Autorität verzichtet. Ein Blick auf den letzten Absatz der Predigt zeigt, dass Tillich nicht bei der Feststellung vom Anfang bleibt. Was zunächst als fremd erscheint, gehört zum Inneren jedes Menschen. Was weit weg geschoben werden soll, erweist sich als fester Bestandteil der eigenen Identität 14 : „‚ Sünde‘ und ‚Gnade‘ sind fremde Worte, aber keine fremden Dinge. Wir finden sie, wenn immer wir mit suchenden Augen und verlangendem Herzen in uns blicken. Sie bestimmen unser Leben. Sie sind mächtig in uns und in jedem Leben. Möge die Gnade mächtiger in uns werden!“ (RR I, 153)

Bemerkenswert ist an diesem Schlusssatz, dass Tillich von suchenden Augen und verlangendem Herzen spricht. Traditionell gehört zur homiletischen Anthropologie an erster Stelle das Ohr. Für diese Orientierung wird immer wieder das bekannte Wort von Paulus aus dem Brief an die Gemeinde in Rom zitiert: „Der Glaube kommt vom Hören.“ (Röm. 10,17) Die Predigt bringt das Wort Gottes zu Gehör und ihre Rezipientinnen und Rezipienten sind so auch als Hörerinnen und Hörer zu bezeichnen. Tillich hingegen schließt mit dem Verweis auf die sinnliche Wahrnehmung durch das suchende Auge und das verlangende Herz. Gut fünfzig Jahre nach dem Verfassen seiner Predigt leben wir in einer visuell geprägten Kultur. Spätestens seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird von einem pictorial oder iconic turn in den Geisteswissenschaften und in kulturellen Repräsentationen gesprochen. Selbstverständlich ist die Tradition der Bebilderung der biblischen Botschaft alt, Martin Luther schätzte bekanntlich die Bilderbibel für die Menschen, die nicht selbst in

14 Zur Beziehung des Fremden zum Eigenen sei hier nur auf Emmanuel Levinas’ Philosophie verwiesen; doch der Gedanke durchzieht die Phänomenologie, die auch Tillich sowohl als Methode wie auch im Horizont fundamentaltheologischer Überlegungen schätzt. Vgl. Ch. Schwöbel, Phänomenologie II, Theologische Realenzyklopädie, Bd. 26, Berlin/New York 1996, 467.

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der Lage waren, die Bibel zu lesen. Das Auge steht für eine Theologie, die für die Visualisierung des Evangeliums aufgeschlossen ist. 15 Schließlich ist die Metapher vom verlangenden Herzen einerseits traditionell durch die Theologie Augustins bekannt, andererseits wird sie aber in der Tillichschen Interpretation etwas verändert gewendet. Er legt nahe, dass das gläubige Herz ein verlangendes Herz bleibt und dass dieses somit nicht im Glauben an Gott zur Ruhe kommen muss. Es wirkt konsequent, dass am Ende der Predigt ein Plädoyer für ein leidenschaftliches Leben steht, das sich nach der Gnade sehnt. Die Predigt Tillichs ist sehr klar strukturiert. Anfang und Ende bilden eine Klammer, innerhalb derer es darum geht, Sünde und Gnade im eigenen Leben aufzuspüren.

4. Wahrnehmungsübungen zu Sünde und Gnade Tillich beginnt damit, dass die beiden Zentralbegriffe christlicher Botschaft, Sünde und Gnade, auf viele Menschen fremd wirkten. Wie fremd er sie empfunden habe, zeige sich darin, dass er selbst vorgeschlagen habe, das Wort „Sünde“ nicht mehr zu verwenden. „Aber es ist etwas Geheimnisvolles um die großen Worte unserer religiösen Tradition: sie können nicht ersetzt werden. Alle Versuche, sie zu ersetzen – auch meine eigenen nicht – vermochten nicht, die Wirklichkeit dessen, was sie meinen, zum Ausdruck zu bringen […].“ (RR I, 144)

Er plädiert dafür, ihren Sinn neu zu entdecken. Dafür müsse in tiefere Schichten des Lebens eingedrungen werden, um zu sehen, ob in ihnen die Wirklichkeiten, von denen der Text schreibt, aufzufinden sind (vgl. RR I, 145). Die nächsten Zeilen sind der Annäherung an diese tieferen Schichten gewidmet. Man kann das Vorgehen Tillichs in Anlehnung an die phänomenologische Kritik an der Wissenschaft und der Macht ihrer Vorverständnisse verstehen. 16 In diesem Sinne schält er Bedeutungen vom Ver15 Vgl. I. Nord, Nicht hören und dennoch glauben. Der Beitrag kirchlicher Gehörlosenarbeit zur Diskussion um das Berufsbild der Pfarrerin und des Pfarrers. Erscheint in: Wege zum Menschen 2011. Vgl. auch zum Hören und Sehen H.-G. Heimbrock „‚ Modo religioso’. Klang und religiöse Bedürfnisse“, in: Ders./W. E. Failing (Hg.), Gelebte Religion wahrnehmen, Stuttgart 1998, 69-90, sowie H.-G. Heimbrock, „Gott im Auge. Über Ansehen und Sehen“, in: Ders./W. E. Failing (Hg.), Gelebte Religion wahrnehmen, Stuttgart 1998, 123-144. 16 Vgl. B. Waldenfels, Grenzen der Normalisierung, Frankfurt/Main 1998, bes. Kapitel 1.

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ständnis von Sünde ab, die eine neue Interpretation verhindern. Hierzu gehört z. B. die Annahme, dass Sünde eine Bezeichnung für eine unmoralische Handlung sei. Im zweiten Argumentationsschritt bietet Tillich ein begriffliches Äquivalent an: Er übersetzt das Wort Sünde mit dem der Trennung (vgl. RR I, 145). In einem dritten Schritt entfaltet er drei Dimensionen von Trennung. Sie entsprechen grundsätzlich der theologischen Anthropologie, in der die zwischenmenschliche Ebene, die Beziehung des Menschen zu sich selbst und die Beziehung zu Gott thematisiert wird, wie sie etwa in Mk. 12,28 ausgeführt wird. Tillich nennt sie allerdings nicht. Im vierten Schritt stellt er fest, dass Sünde ein unvermeidbares Faktum und Schicksal jedes Lebens ist. „Existenz ist Trennung! Bevor Sünde zur Tat wird, ist sie ein Stand.“ (RR I, 146) An dieser Argumentationskette wird deutlich, wie Tillich zunächst ein allgemein erwartbares Verständnis von Sünde aufgreift, wie er dieses dann widerlegt, um ein Übersetzungsangebot wiederum für den Erfahrungshorizont seiner Hörerinnen und Hörer zu machen. In diesem Erfahrungshorizont liegt es auch, dass Tillich keinen Unterschied zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen Frommen und Ungläubigen, an dieser Stelle auch zwischen Prediger und Hörer bzw. Hörerin macht. Sünde ist ein allgemeiner Stand. Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass Tillich in seiner Predigt einen Kommunikationsraum über das Phänomen der Trennung eröffnet, in den Menschen sozusagen mit ihren Erfahrungen von Trennung eintreten können. Die Kommunikation dieses Grundgefühls, sich in welcher Hinsicht auch immer getrennt zu fühlen, ermöglicht eine weitgehende Identifikation mit dem christlichen Verstehenszusammenhang von Sünde. Hier hat Tillich nicht nur den Nahbereich menschlicher Beziehungen im Blick, sondern spielt auch weltweite und politische Szenarien wie beispielsweise den Nationalsozialismus mit ein. Für die Erschließung des Verständnisses von Gnade verfährt er ebenfalls so, dass er zunächst mögliche Vorverständnisse aufzählt und sie dann ‚einklammert‘. Er benennt das Missverständnis, Gnade als die Bereitwilligkeit eines göttlichen Königs und Vaters zu bezeichnen, wenn er seinen Untertanen bzw. Kindern Torheit und Schwachheit vergibt. Darauf legt er die Unzulänglichkeiten frei, die im Verständnis von Gnade als magischer Kraft und als von der Natur oder der Gesellschaft gegebene Gabe enthalten ist. In Korrelation zum Verständnis von Sünde als Trennung entwirft er die Gnade als Wiederannahme dessen, was verworfen ist. Dabei greift

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er die Beziehungsfelder auf, die er zuvor in Beziehung zur Sünde thematisiert hat. 17 Tillich nennt Lebenssituationen, in denen die Gnade für ihn wirksam wird. „Wir erfahren die Gnade, daß einer den anderen versteht. […] Wir erfahren die Gnade, daß wir fähig werden, ein anderes Leben zu bejahen, selbst wenn es uns feindlich und verletzend entgegentritt […]. Wir erfahren die Gnade, die imstande ist, die tragische Trennung der Geschlechter […] zu überwinden. […] Wir erleben Augenblicke, in denen wir uns bejahen, weil wir fühlen, dass wir bejaht worden sind von etwas, das größer ist als wir.“ (RR I, 152 f.)

Je nachdem, in welchem der Felder man zuvor in die Kommunikation über die Sünde als Trennung eingetreten ist, kann man für dieses den Zuspruch der Gnade entgegennehmen. Tillich leiht hiermit den Leserinnen bzw. dem Hörer der Predigt Worte zur Identifikation ihrer Erfahrung von Gnade. Dies ermöglicht, dass die in den inneren Tiefen zuvor ausgemachten Gefühle von Abschieden und Trennungsschmerzen nun angenommen und damit integriert werden können. Sie erhalten im Zuspruch des „Dennoch bejaht“ einen Raum für ihre Anerkennung. 18

5. Überlegungen zur Konstruktion von Wirklichkeit Nachdem Tillich Sünde und Gnade als Trennung und Wiederannahme übersetzt hat, geht er daran, Situationen zu beschreiben, in denen diese gelebt werden, in denen Sünde und Gnade als im Leben wirklich erfahrbar erkannt werden können: „Und nun wollen wir einen Blick in uns selber tun, um dort den Kampf zwischen Entfremdung und Wiedervereinigung, zwischen Sünde und Gnade zu erkennen, und zwar in unserer Beziehung zum anderen, zu uns selbst und zum Grund und Ziel unseres Seins.“ (RR I, 147)

Wiederum nimmt er Maß am höchsten Gebot, dem Gebot der Liebe. Hier beschreibt er die Liebe als Möglichkeit, an anderem Leben zu partizipieren: „Wer hat sich nicht irgendwann einmal inmitten einer gesellschaftlichen Veranstaltung einsam gefühlt? Wir fühlen uns oft dann am meisten vom Leben abgeschnitten, wenn es uns mit Lärm und Gerede umgibt. Viel tiefer als in 17 Vgl. RR I, 146 Mitte bis RR I, 147 Mitte. 18 Vgl. Y. Spiegel, Der Prozeß des Trauerns. Analyse und Beratung, München 1973. Für die neuere Rezeption K. Lammer, Den Tod begreifen. Neue Wege in der Trauerbegleitung, Neukirchen-Vlyn 42006.

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Augenblicken äußerster Einsamkeit erfahren wir dann, wie fremd wir einander sind, wie entfremdet Leben vom Leben ist. Jeder zieht sich in sich selbst zurück. Wir können nicht in das verborgene Zentrum des anderen Menschen eindringen, und so kann auch jener andere die Wand, die unser ganzes Sein umgibt, nicht durchbrechen. Auch die größte Liebe kann nicht die Mauer des Selbst durchstoßen. Wer hätte nicht die Desillusionierung in jeder großen Liebe erlebt? Und selbst dann, wenn jemand sein Inneres in völliger Selbstpreisgabe öffnen würde, so würde er nur zu einem Nichts werden, ohne Form und Kraft, ein Selbst ohne Selbst, ein Gegenstand der Verachtung und des Missbrauchs.“ (RR I, 147)

Tillich schildert eine Situation, die die Grunderfahrung seines Lebens, aber zugleich auch vieler anderer sein kann. Der Prozess der Individualisierung ist modernen westlich geprägten Lebensführungen als Zwang und als Ermöglichung von individueller Freiheit aufgegeben. Auf kommunikativer Ebene kann man beobachten, wie Tillich stets offen lässt, ob man sich mit seiner Beschreibung einer Situation nun als Leserin oder Hörer identifizieren will. So formuliert er im Konjunktiv „Wer hätte […]“. Doch dies geschieht in Bezug auf einen konkreten Kommunikationsraum, in dem er seine Erfahrung verortet. Er nennt den Topos der gesellschaftlichen Veranstaltung und setzt damit Assoziationen frei: sei es eine Geburtstagsparty oder ein Volksfest, ein Konzert- oder ein Kinobesuch oder ein Straßenfest und anderes mehr. So bietet er auch mit dieser Formulierung wieder eine Möglichkeit, dass der Hörer oder die Leserin einer eigenen Situation nachgehen können. Konkret geht es um die Erfahrung des Getrenntseins und der Trennung bis hin zur Einsamkeit. Dabei formuliert Tillich Trennung in Kategorien des Raums: Es ist die Rede von der Wand und von Mauern, die das Selbst umschlössen. Dann gebraucht er das Bild von einem Raum der Stimmen, in den nicht eingestimmt werden könne. Danach benennt er den Raum, in den man sich selbst zurückzieht. Aus dieser Situation gibt es keine einfachen Auswege, die Mauern können nicht aus eigener Kraft durchbrochen werden. Tillich stellt der Sünde als Selbstabschließung das Paradoxon der Gnade gegenüber. Sie treffe uns, wenn wir durch das finstere Tal der Sinnlosigkeit und der Leere gehen: „Wir erleben Augenblicke, in denen wir uns bejahen, weil wir fühlen, daß wir bejaht worden sind von etwas, das größer ist als wir. Wären uns doch mehr solcher Augenblicke beschieden! Denn das sind die Augenblicke, in denen wir unser Leben lieben und uns selbst bejahen, nicht um deswillen, was wir sind, sondern um der Gewißheit willen, dass unser Leben einen ewigen Sinn hat.“ (RR I, 153)

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Tillich verortet Sünde und Entfremdung sowie Wiederannahme und Bejahtsein in dem Zusammenhang der je eigenen sinnlichen Wahrnehmung. In der sinnlichen Wahrnehmung liegt der Schlüssel zur Erfahrung von Wirklichkeit. 19 Es ist hier deutlich, wie Tillich Sünde und Gnade in phänomenologischer Weise, und zwar nicht nur methodisch, sondern auch fundamentalontologisch entfaltet. Das biblische Wort gibt Tillich die grundlegende Orientierung in der Predigt. Was wirklich ist, nehmen wir durch den Zuspruch Gottes hindurch wahr. Gnade ist grundlegender als Trennung. Deshalb führt die Frage, ob wir eine Welt denn auch wirklich wahrnehmen, in die Irre. Vielmehr ist daran festzuhalten, dass die Welt das ist, was wir wahrnehmen. 20 Tillich holt in diesem Sinne das, was fremd und unwirklich wirkt, hier die Erfahrungen von Sünde und Gnade, zurück in die eigene Welt. Seine Beschreibung des Ineinanders von Entfremdung und Wiederannahme findet ‚Anklang‘, sie trifft in einem Individuum auf Empfindungen, die ihrerseits die Wahrnehmung von Welt strukturieren. Man nimmt die Wirklichkeit der Gnade nicht so wahr, als könnte man auch sehen und hören, wenn sie unwirklich wäre. Es ist vielmehr so, dass die wahrgenommene Situation, z.B. das Glücksgefühl, wenn man selbst angenommen und bejaht wird, in der Erfahrung dann als wirklich gilt.

6. Zusammenfassung und Vernetzung Tillichs Predigt You are accepted – Dennoch bejaht veranschaulicht wesentliche Elemente einer phänomenologisch geschulten Homiletik. Zu ihnen gehören die Reduktion von Vorwissen und Vormeinungen in einer Predigt sowie die Kritik an der theologischen und kirchlichen Tradition, zweitens ist zu ihr die Bedeutung des Alltags für die Religion zu zählen, drittens geht es um die Beschreibung von Situationen, innerhalb derer das Evangelium kommuniziert wird, viertens und abschließend geht es um die Entdeckung des eigenen Lebensgefühls und der Möglichkeiten, dieses lebensdienlich zu beeinflussen. Phänomenologische Reduktion und Kritik an der Tradition: Tillich beginnt seine Predigt damit, dass er traditionelle Bedeutungen theologischer Sinnzusammenhänge hinterfragt und aufgrund dieser über die Dekonstruktion von Sinn herbeigeführte kommunikative Grundlage eine neue 19 Vgl. W. Janke, Wirklichkeit I, Theologische Realenzyklopädie, Bd. 36, Berlin/New York 2004, 117. 20 B. Waldenfels, Grenzen der Normalisierung, a.a.O. (Anm. 16), 217.

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Deutung aufbaut. Er hält sozusagen zunächst inne und klammert alle Vormeinungen zum Thema seiner Predigt ein. Dieses Einklammern geschieht in dem Benennen aller gängigen Bedeutungen von Sünde und Gnade, anschließend dekonstruiert er sie und schaltet somit alle theoretischen Annahmen zum Gegenstand aus. In einem zweiten Schritt versucht er dann die Bedeutungsfelder von Sünde und Gnade soweit zu reduzieren, bis er auf ein Phänomen von allgemein menschlicher Bedeutung stößt. Zur Bedeutung des Alltags: Tillich zeigt, wie die Rechtfertigungsbotschaft durch alltägliche Erfahrungen hindurch kommuniziert werden kann. Er erläutert sein Verständnis von Sünde an einem Beispiel aus dem Alltag. Es greift das Empfinden auf, mitten in einer Ansammlung von Menschen einsam zu sein. Von Henning Luther und anderen ist die Dimension des Alltags von Religion herausgearbeitet worden. Die Hinwendung zum Alltag oder zur so genannten Lebenswelt führte zu einer kritischen Selbstreflexion der Theorie. 21 Zu ihr gehörte es allerdings auch, dass die Vorstellung von einer Wirklichkeit, wie sie bei Tillich zu finden ist, zugunsten von vielen Wirklichkeiten aufgegeben werden musste. Doch dadurch, dass Tillich die Situation nur skizziert, macht er es möglich, dass Menschen während seiner Predigt durch verschiedene Türen in den Kommunikationsraum eintreten, in dem begangen werden kann, was Sünde und was Gnade im eigenen Leben bedeuten kann. Zur Beschreibung der Situation: Tillich wählt zur Beschreibung der Einsamkeit eine Situation aus dem Alltag aus, die er in einem räumlich gefassten Bild beschreibt. Man sieht es vor dem inneren Auge vor sich, wie eine Gesellschaft sich in einem größeren Raum befindet und ein angeregtes Stimmengewirr die Luft erfüllt. Daneben eine Detailansicht von einer Person, die nicht in Gespräche involviert ist. Es folgt eine weitere Detailansicht, in der der vereinzelte Mensch von Mauern umgeben ist. Jede räumliche Ordnung hat mehr als eine physische Bedeutung. Sie wirkt auch auf symbolische Weise. Auf diese Weise wird unterstrichen, dass Dasein sich räumlich vollzieht und dass dieses Dasein jeweils mehr als eine physische Existenz umfasst, nämlich zugleich räumlich wahrnehmbare Gefühle. Tillichs Visualisierung des Topos der Trennung motiviert dazu, die Wahrnehmung des Raums für die Homiletik zu thematisieren. Thomas Klie u.a. haben bereits auf den Raum der Predigt hingewiesen. 22 21 Vgl. z.B. H. Luther, Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 194. 22 Vgl. T. Klie, Raum-Rhetorik, in: M. Meyer-Blanck u.a. (Hg.), Homiletische Präsenz, Predigt und Rhetorik, München 2010, 232-247. Vgl. auch I. Nord, Realitäten des Glaubens, Berlin/New York 2008, bes. 213-229.

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So entfaltet Klie den architektonischen Raum der Kirche, den lautlichen und den metaphorischen Raum, den liturgischen Raum und den Bildraum der Kanzel. Klie thematisiert auch die Vielfalt an räumlichen Metaphern, die in den zu predigenden Texten vorrätig sind. Tillichs Beitrag veranlasst hierbei einen Perspektivenwechsel. Er macht deutlich, dass neben all diesen Raumkonstellationen im Kontext des Predigtgeschehens nun auch noch die Raumerfahrungen hinzuzufügen sind, die die Menschen selbst mitbringen und die sie so auch in den Raum der Predigt eintragen. Tillichs ‚Predigtbild‘ vom Topos der Trennung im alltäglichen Raum kann insofern auch als Container für viele weitere alltägliche Raumerfahrungen verstanden werden, die nun bei den einzelnen Hörerinnen und Lesern der Predigt aufgerufen werden. Diese Einsicht kann die homiletische Diskussion um den Situationsbezug der Predigt hinsichtlich ihrer räumlichen Dimension erweitern. Zu jeder Lebenssituation gehören räumliche Strukturen, in denen Menschen sich bewegen und allererst ihr Leben führen. Diese räumlichen Strukturen ausdrücklich zu machen und dazu auch die zu ihnen gehörenden Atmosphären zu thematisieren, ermöglicht, dass Menschen sich selbst innerhalb einer Predigt situieren können. Denn in der Begehung dieser Räume und dem Respons auf sie erfahren Menschen, wie sie sich fühlen und wie sie selbst gestimmt sind. Predigen heißt, am Lebensgefühl zu arbeiten: Tillich deutet verschiedene Erfahrungen von Gnade an, indem er sie wiederum innerhalb von alltäglichen Situationen beschreibt. Bemerkenswert ist, dass er hierbei die Last des Alltags aufgreift. Menschen erlebten wiederholt, dass sie andere verletzten, dass sie sich selbst nicht genügten und an ihrer eigenen Lebensführung verzweifelten. Indem Tillich diese Option benennt, setzt er zugleich eine Selbstreflexion bei den Hörern und Leserinnen seiner Predigt in Gang: Welches Grundgefühl habe ich meinem eigenen Leben gegenüber? Bevor Tillichs weiterer Argumentationsgang geschildert werden soll, ist es nötig, zumindest ansatzweise zu klären, was unter einem Lebensgefühl verstanden werden kann. Nicht so sehr aus dem Bereich der Homiletik, sondern aus dem der Seelsorge ist die Arbeit am Gefühl bereits thematisiert worden. 23 Ob ein Mensch ein gutes Lebensgefühl hat oder ob er eher mit unangenehmen Existenzgefühlen lebt, dies hat vor allem mit zwei 23 Vgl. W. Engemann, Das Lebensgefühl im Blickpunkt der Seelsorge, in: WzM 3, 2009, 271-286, hier: 275 und Ders., Die emotionale Dimension des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, in: WzM 3, 2009, 287-299.

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Erfahrungsbereichen sowie den zu ihnen gehörenden Gefühlskomplexen zu tun: „Mit der inneren Kongruenz zwischen dem Wünschen, Wollen, Entscheiden und Handeln, also von Erfahrungen, die das Freiheitsgefühl eines Menschen konstituieren, zum einen, und zum anderen mit Erfahrungen im Geben und Empfangen von Liebe. Beide Erfahrungsbereiche konstituieren maßgeblich unser Lebensgefühl.“ 24

Im Lebensgefühl verbirgt sich also so etwas wie eine emotionale Bewertung der eigenen Lebensführung. Fällt sie negativ aus, so kann die wertende Person selbst ihre Geschichte nicht rückgängig machen, sie muss sich dieser Bilanz stellen. In dieser Bilanz liegt aber offensichtlich für Tillich die Chance für eine Veränderung des Lebensgefühls: „Zuweilen bricht in einem solchen Augenblick eine Welle von Licht in unsere Finsternis ein, und es ist, als ob eine Stimme sagte: ‚Du bist dennoch bejaht!‘ Dennoch bejaht, bejaht durch das, was größer ist als du und dessen Namen du nicht kennst.“ (RR I, 152)

In der gegenwärtigen homiletischen Diskussion könnte man mit Albrecht Grözinger erläutern, dass Tillich von der Gnade auf anmutende Weise predigt. Grözinger formuliert dies so: „Als solch anmutende Predigt kann sie die Dramatik unserer lebensgeschichtlichen Ambivalenzen aufbrechen und sei`s auch nur für einen kurzen Augenblick in ein neues Licht rücken. Nämlich das Licht, das von der Gnade Gottes auf unsere oft so gnadenlose Welt fällt. Und die Welt bricht sich im Licht der Gnade Gottes auf vielfältige Weise. Deshalb ist die Sprache der Anmutung eine Sprache im Plural. Sie stellt lebensweltliche Übergänge her, wo sonst Blockaden herrschen. Sie schlägt dort Schneisen, wo uns der lebensweltliche Dschungel zu ersticken droht […]. Predigt der Gnade bringt demgegenüber eine erträgliche Leichtigkeit des Seins ins Spiel.“ 25

Grözinger plädiert deshalb für eine Sprache der Anmutung, weil sie es ermöglicht, dass Menschen beginnen, sich selbst im Licht der Gnade Gottes wahrzunehmen. Die Sprache der Anmutung trägt dazu bei, dass eine Atmosphäre der Annahme aufgebaut werden kann. Sie modifiziert die Befindlichkeit bzw. die Stimmungen von Menschen. Sprache fungiert also als Medium zum Aufbau einer Atmosphäre, die auf das Lebensgefühl der anwesenden Menschen wirkt und dieses verändert. Neben Grözinger kann man eine Reihe von Autorinnen und Autoren nennen, die an einer 24 W. Engemann, Das Lebensgefühl im Blickpunkt der Seelsorge, a.a.O. (Anm. 23), 276. 26 A. Grözinger, Die Predigt der Gnade und die Conditio Postmoderna, in: W. Engemann (Hg.), Theologie der Predigt, Leipzig 2001, 211-225, hier: 222.

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performativ orientierten Homiletik arbeiten. Auch sie halten an der Rhetorik als bedeutender Disziplin der Homiletik fest. Die einzelnen Entwürfe können hier nicht weiter besprochen werden. Sie beabsichtigen aber alle, die leibliche Dimension der Kommunikation des Evangeliums noch umfassender zu stärken als dies im Modell rhetorischer Predigt vorgesehen war. 26 Ein Blick auf das Ende von Tillichs Predigt gibt eine letzte Gelegenheit zu erläutern, warum seine Predigtweise als Arbeit am Lebensgefühl beschrieben werden kann. Tillich spricht davon, dass die Bedeutung, die Sünde und Gnade im eigenen Leben haben, aufgefunden werden können, „wenn immer wir mit suchenden Augen und verlangendem Herzen in uns blicken“ (RR I, 153). Aus den Metaphern der suchenden Augen und des verlangenden Herzens spricht eine Leidenschaft für das Leben, die Tillich zum Zielpunkt seiner religiösen Rede macht. Im Ausgangspunkt beschreibt er bereits auf der Ebene des Gefühls, wie die Sünde grundsätzlich als Gefühl der Vereinsamung bewusst wird, wie sie im Entzug von Zuwendung und in Erfahrungen der Entfremdung erfahren wird. Gnade hingegen beschreibt er als Zuwendung, als Anerkennung, als Liebe und darin als Stärkung der Ich-Identität. Tillich plädiert ausdrücklich für die Stärkung der Selbstliebe. „Wer fähig ist, sich selbst zu lieben, ist auch fähig, den anderen zu lieben.“ (RR I, 149) Für ihn ist klar, dass es dem Menschen nicht möglich ist, sich in vollem Sinne selbst zu lieben. Eine solche Selbstliebe erschließt sich ihm erst als Geschenk Gottes, als Gnade, die allerdings im Modus des ‚Dennoch‘ steht. Aus dem Kontext der Seelsorge heraus ist fraglich, ob die systematisch-theologisch geprägte Formel des ‚Dennoch‘ im Hinblick auf die Möglichkeiten, sich selbst anzunehmen und sich in diesem Sinne selbst lieben zu lernen, in der Homiletik, genauer noch in ihrem Produkt, der Predigt, ebenfalls ihren Ausdruck finden sollte. Die Selbstliebe gilt als Zentrum eines leidenschaftlichen Lebensgefühls. Sich selbst im Licht der Gnade Gottes wahrzunehmen bedeutet nun genau diese Selbstliebe ins Zentrum des eigenen Lebensgefühls zu stellen. Dieser Lebenseinstellung widerspricht die theologische Aussage, dass der Mensch ein Sünder ist, der trotzdem geliebt wird und wider Erwarten aus dem Gericht Gottes gerettet wird. Die Kommunikation der ‚Dennoch-Liebe‘ zerstört den letzten Rest der Selbstliebe, die einem Menschen als Ressource für ein von Frei26 Vgl. den Artikel von Kristian Fechtner, Performative Homiletik in rhetorischer Perspektive. Eine Ortsbestimmung der zeitgenössischen Predigttheorie, in: M. Meyer-Blanck (Hg.), Predigt und Rhetorik, München 2010, 464-467.

Predigen heißt, am Lebensgefühl zu arbeiten

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heit und Liebe getragenes Lebensgefühl zur Verfügung steht. 27 Tillich dagegen predigt in diesem Spannungsfeld der „Dennoch-Liebe“, des „Dennoch Bejahtseins“. Allerdings ist der Ansatz für einen befreiteren Umgang mit dem Zuspruch der Gnade in seiner Predigt auch schon sichtbar: Der englische Titel der Predigt heißt You are accepted.

27 Vgl. W. Engemann, Die emotionale Dimension des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, a.a.O. (Anm. 23), 299.

Die Bedeutung Tillichs für eine religiöse Kulturanalyse der Gegenwart JÖRG LAUSTER Die Frage nach der Bedeutung Tillichs für eine religiöse Kulturanalyse der Gegenwart hat es in vielfacher Weise in sich. Sie wirft, und davon ist dieser Kongress beredtes Zeugnis, zunächst massive innere Probleme auf. Tillichs Kulturbegriff ist keineswegs frei von Aporien und Spannungen. Die Frage nach der Bedeutung für heute setzt die Analyse und Rekonstruktion von Tillichs Kulturbegriff in der Frage fort, was davon bleibend, was davon dauerhaft oder wenigstens für heute ertragreich und weiterführend sein könnte. Es ist eine Sache, sich zu fragen, wie sich Tillichs Kulturtheologie unter den religions- und kulturphilosophischen Voraussetzungen seiner Zeit verstehen lässt, es ist dann aber noch einmal eine ganz andere Frage, was wir heute damit anfangen. Denn die Veränderungen auf dem Feld der Kulturwissenschaften im Verhältnis zu Tillichs Voraussetzungen muss man geradezu als Explosionen kennzeichnen. Das stimmt – aufs erste gesehen – nicht allzu hoffnungsfroh für eine Ertragssicherung. Zudem ist zweitens in der Fragestellung ein vermeintlich unscheinbarer Fallstrick eingebaut, der es ebenfalls in sich hat. Gesucht ist die Bedeutung Tillichs für eine religiöse Kulturanalyse der Gegenwart. Das setzt zweierlei voraus: Zum einen, dass eine solche Kulturanalyse überhaupt gesucht und gewünscht ist, zum anderen, dass sie religiös grundiert sein müsste. Eine Kulturanalyse im großen Stil eines Gesamtüberblicks würde heute niemand wagen wollen. Nach dreißigjährigem Dauerbeschuss mit Dekonstruktionstheorien aller Art ist die Fragmentarität, die Konstruktivität, die Perspektivität und die Relativität unserer Selbst- und Weltdeutungsmöglichkeiten ein bis ins Grundschulalter hinein anerkannter Grundsatz. Weit ausholende Titel muten, man kann es nicht anders sagen, unter den Bedingungen spätmoderner Resignation geradezu bizarr an: Die religiöse Lage der Gegenwart, Die geistige Welt im Jahre 1926, Die Geisteslage der Gegenwart, Der Zerfall unserer Welt und – am besten – Die gegenwärtige Weltsituation, das alles klingt sehr danach: Paul Tillich erklärt die Welt. Man mag zu seiner Verteidigung anführen, dass er nicht der einzige

Die Bedeutung Tillichs für eine religiöse Kulturanalyse der Gegenwart

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war. Dennoch, solche Ausgriffe muten uns heute wie gesagt fast bizarr an, man ist knapp 100 Jahre später dieser großen Welterklärer müde geworden. Dass eine solche Gegenwartsanalyse obendrein noch religiös sein soll, erscheint als besondere Zumutung und Erschwerung der Aufgabe. Denn bestenfalls lässt sich nach herrschender Auffassung in den Kulturwissenschaften die Religion als ein Teilsegment der Kultur erklären und nicht umgekehrt die Kultur auf religiöse Wurzeln zurückführen. Deutlich wird dies dort, wo gegenwärtig Kulturtheorien wie Pilze aus dem Boden sprießen: auf dem Felde der Biologie. Dort findet man noch am ehesten Freude an Totalerklärungen der Welt, die Kultur aus dem evolutionären Prozess heraus erklären. Geist und Kultur sind demzufolge naturalistische Emergenzphänomene. Evolutionäre Kulturtheorien geben Antworten darauf, was Kunst, was Literatur, was Religion ist. Freilich gibt es darunter auch viel Amüsantes. Von der Trinitätslehre über Thomas Mann bis hin zum abstrakten Gemälde, all das muss irgendwie letztlich einen Selektionsvorteil im gnadenlosen struggle for life bringen. Doch machte man es sich zu einfach, wenn man sich allein auf diese kruden Auswüchse biologistischer Kulturtheorien stürzte. Es gibt eine Reihe von sehr viel anspruchsvolleren Arbeiten, verwiesen sei hier exemplarisch auf Karl Eibl. Es ist unschwer zu erahnen, dass sich hier ein Kampf um kulturelle und anthropologische Deutungshoheiten abspielt. Man darf sich dabei keineswegs sicher sein, ob Theologie und Kirche diesen Kampf überhaupt aufnehmen wollen. Denn das traditionell neurotische Verhältnis des Protestantismus zur Kultur – Tillich übrigens weiß eine glänzende Antwort, warum das so ist – treibt geradezu paradoxe Blüten. Es reicht von Rückgriffen auf die Kulturphobien dialektischer Theologie bis hin zur Proklamation eines Wächteramts der Kirche über die Kultur, ein Amt allerdings, dass die EKD bis auf Weiteres von einem Berliner Hinterhof durch die Institution eines Kulturbeauftragen wahrzunehmen gedenkt, demzufolge über Kultur so zu wachen sei wie über Brandschutz, Strahlungssicherheit am Arbeitsplatz oder Mülltrennung in öffentlichen Gebäuden. Dies wären Indizien genug, um der mir gestellten Frage schon mit dem Hinweis auszuweichen, dass eine solche religiöse Kulturanalyse der Gegenwart weder möglich noch gewünscht sei. Dennoch, im Folgenden soll folgende These entfaltet werden: Wir finden in Tillichs Kulturtheologie außerordentliche Impulse, warum erstens eine solche systematische Kulturanalyse der Gegenwart nicht leichtfertig aufzugeben ist und warum

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zweitens deren religiöse Grundierung im Blick zu behalten ist. Trotz aller Aporien und historisch bedingter Abständigkeiten kann man die Bedeutung Tillichs für eine religiöse Kulturanalyse der Gegenwart schwerlich überschätzen.

1. Tillichs Begriff der Kultur Ausgangspunkt von Tillichs Kulturanalyse ist ein Verständnis von Kultur als einer Sinnstiftungsleistung, d.h. als eines Modus des Wirklichkeitsumgangs, in dem der Mensch der Wirklichkeit Sinn zuschreibt. 1 Das geschieht nicht einfach als ontologische Abbildung eines irgendwie vorhandenen und auffindbaren Sinns, sondern als Deutungskonstruktion des Subjekts. Diese Sinnkonstruktionen sind, so Tillich, an die „stillschweigende Voraussetzung von der Sinnhaftigkeit des Ganzen, der Einheit aller möglichen Sinnvollzüge, d.h. [an] de[n] Glaube[n] an den Lebenssinn überhaupt“ 2 gebunden. Kulturelle Sinnakte sind also auf einen Sinngrund und Sinnabgrund bezogen, der in ihnen durchbricht. Tillich erinnert in seiner Rede von Sinngrund und Sinnabgrund ausdrücklich – darüber freut man sich in Marburg ganz besonders – an Ottos „tremendum und fascinosum“ (GW IX, 35). Berühmt ist die Wendung, in der er seine frühen sinntheoretischen Überlegungen zusammenfasst: „Wir nennen dieses Objekt des schweigenden Glaubens an die Sinnhaftigkeit alles Sinnes, diesen alles Faßbare, Einreihbare übersteigenden Grund und Abgrund des Sinnes Gott. Und wir nennen die Richtung des Geistes, die sich ihm zuwendet, Religion.“ (GW IX, 34)

Die damit aufgeworfenen Probleme, die vor allem aus dem Changieren zwischen einer sinntheoretisch operierenden Deutungstheorie und der ontologischen Rede vom Grund hervorgehen, sind sattsam bekannt. 3 Sie erklären sich m. E. daraus, dass Tillich wie übrigens auch sein älterer Freund Otto eine referenztheoretische Position vertraten, die man vielleicht am besten mit Schleiermachers Diktum vom höheren Realismus zu fassen bekommt. Religiöse Deutungen gehen aus einer außerhalb des Subjekts liegenden Provokation, Veranlassung, Ermöglichung hervor, das ist gewis1 2 3

Vgl. M. Palmer, Paul Tillichs Theologie der Kultur, in: P. Tillich, MW II, 33. P. Tillich, Kirche und Kultur, GW IX, 32. Vgl. dazu grundlegend die Beiträge in Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919-1920), Wien/Münster 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20).

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sermaßen ihre ‚objektive‘, d.h. die Möglichkeiten des Subjekts übersteigende Seite. Doch bleiben notwendigerweise all diese Ausdrucks- und Darstellungsformen hinter ihrem Ermöglichungsgrund zurück. 4 Daher bleiben auch Vergegenständlichungen begrifflicher Art stets hinter dem zurück, was sie erfassen wollen. Darin erweist sich Tillich als Kritiker eines gegenständlich gedachten theologischen Objektivismus. Er selbst nimmt also ganz ähnlich wie Otto eine referenztheoretische Mittelposition ein, die nicht immer klar umrissen ist. Die werkgeschichtliche Einteilung in eine Früh- und Spätphase erklärt Tillichs Changieren zwischen sinntheoretischen und ontologischen Begründungsmustern nur auf der Oberfläche der Textbefunde. Der Sache nach dürfte dieser Sachverhalt doch eher darauf zurückzuführen sein, dass er aufgrund der diffusen Mittellage seiner religiösen Erkenntnis- und Ausdruckstheorie immer wieder nach neuen Beschreibungsmustern ringt. Tillich hat in unterschiedlichen Anläufen seinen Kulturbegriff formuliert. Neben den sinntheoretischen Formulierungen finden wir den Substanzbegriff, die Rede vom Unbedingten, einem letzten Anliegen, einem unbedingten Ergriffensein. Obgleich Tillich selbst in seiner Kulturtheologie oftmals verhängnisvolle Fährten legt, wäre es zu einfach, ihm einen schlichten substantialistischen Kulturbegriff unterzuschieben. Kultur ist Tillich zufolge ein Wechselspiel aus Welterfahrung und Weltgestaltung. In der Welterfahrung brechen sich ein Antriebs- und Motivationsgrund Bahn, der die reinen Funktionen praktischer Weltgestaltung übersteigt und der in der konkreten Weltgestaltung auch gar nicht zu entfalten ist. Um diesen funktional nicht auflösbaren Überschuss kreisen Tillichs Beschreibungsversuche wie Sinngrund, Substanz, unbedingtes Ergriffensein. Kultur ist damit für Tillich weit mehr als die bloße Kompensationsleistung des Mängelwesens Mensch, sie ist eine Weltrepräsentierung, die in ihren Erscheinungsformen an einem selbst nicht darstellbaren letzten Grund partizipiert. Darin liegt für Tillich das religiöse Fundament der Kultur. Die religionsphilosophischen Begründungsprobleme sind, ich wiederhole es, üppig und bekannt. Ich möchte es im Folgenden einmal andersherum versuchen und experimentell Tillichs Kulturtheologie sozusagen vulgärpragmatisch lesen. Wie weit kommt er in seiner Kulturanalyse?

4

Vgl. dazu J. Lauster, Christologie als Religionshermeneutik, in: Ch. Danz/M. Murrmann-Kahl (Hg.), Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus, Tübingen 2010 (= Dogmatik in der Moderne, Bd. 1), 239-241.

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2. Tillichs Durchführung der Kulturanalyse Die Melodie der Kulturtheologie Tillichs ist bekannt. „Religion ist die Substanz der Kultur, Kultur ist die Form der Religion.“ 5 Tillich hat sie in seinen kulturtheologischen Schriften vielfältig modelliert und variiert. Alle kulturellen Ausdrucksformen partizipieren an einem letzten Sinngrund, darum sind sie religiös zu nennen, alle Ausdrucksformen dieser letzten Sinnerfahrung sind stets kulturell codiert und vermittelt. Die möglichen Verhältnisbestimmungen von letztem Sinngrund und kulturellem Ausdruck systematisiert Tillich unter den Begriffen Autonomie, Heteronomie und Theonomie. Dieses Instrumentarium wirkt ernüchternd schlicht, die Begriffstrias um den Theonomie-Begriff ist zudem außerordentlich unglücklich gewählt 6 – und doch, um die These vorwegzunehmen, es ist erstaunlich, wie weit Tillich in seiner Kulturanalyse damit kommt. Der Sinn dieser Tagung kann sicher nicht darin liegen, Tillich gestern, heute und morgen zu preisen. Es wäre ein Leichtes, hier die Unstimmigkeiten seiner Kulturanalysen aufzulisten. Sein Idealbild der Theonomie rückt ihn bisweilen geradezu ins Lager reaktionärer Kulturkritik, wenn er gegenwärtigen Kulturphänomenen fehlende Tiefe attestiert – ganz davon abgesehen, dass aus den oben genannten Gründen höchst missverständlich ist, was denn diese Tiefe sein soll. Die frühen Arbeiten atmen den Geist sozialutopischer Romantik mit Träumen einer religiös grundierten Einheitskultur. Schließlich sind eine Reihe seiner konkreten kulturgeschichtlichen Einzelbeobachtungen schräg oder einfach falsch. Zwei Beispiele aus der Malerei mögen hier genügen: Nach allem, was wir heute über die Ästhetisierung der Religion im 19. Jahrhundert wissen und was sich über die Genese und den theologischen Hintergrund beispielsweise der Bilder Caspar David Friedrichs sagen lässt, ist es ein gewagtes Urteil, die europäische Malerei habe von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1900 kein einziges bedeutendes religiöses Kunstwerk hervorgebracht. 7 Die Deutung seiner Lieblingskunst, der des Expressionismus, ist fast betörend, aber sie dürfte wenig mit dem Selbstverständnis der expressionistischen Künstler selbst zu tun haben. Zudem gerät er in die Falle seines eigenen 5 6

7

P. Tillich, Aspekte einer religiösen Analyse der Kultur, GW IX, 101 f. Vgl. M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip und Modernitätserfahrung in „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 3), 137154. M. Palmer, Paul Tillichs Theologie der Kultur, a.a.O. (Anm. 1), 62.

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Dreierschemas, wenn er am Expressionismus meint zeigen zu können, dass mit Formdurchbrechung notwendigerweise ein Gehaltszuwachs einhergehe. Doch ist mit dieser Aneinanderreihung von Einzelbeobachtungen an sich nicht viel gewonnen, außer der banalen Einsicht, dass Tillich in seiner kulturellen Analyse der Gegenwart nicht immer richtig lag. Von größerem Interesse ist die systematische Gesamtkonzeption seiner Analysen. Die religiöse Lage der Gegenwart ist einer von mehreren durchgeführten Versuchen Tillichs, eine religiöse Kulturanalyse seiner Zeit vorzulegen. Tillich ist, davon war schon die Rede, keineswegs der einzige, der einen solchen Versuch unternimmt. Aus den unterschiedlichsten Richtungen werden umfassende Zeitdiagnosen vorgelegt, es liegt gewissermaßen in der Luft, eine solche Introspektion der eigenen Kultur zu wagen. Der heute weithin vergessene Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken legte schon vor dem Krieg eine Untersuchung über die Geistigen Strömungen der Gegenwart (1908) vor, bemerkenswerterweise begleitet von einem Buch über Der Sinn und Wert des Lebens (1908). Philosophiegeschichtlich berühmter sind natürlich Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlands (1917/1922) und dann vier Jahre nach Tillichs erstem Versuch Karl Jaspers Die geistige Situation der Zeit (1930). Nicht zu vergessen ist, dass in diese Zeit auch Albert Schweitzers Abhandlungen zu Kultur und Ethik (1923) fallen. Diese am Phänomen der Krise orientierten Arbeiten verdanken sich in ihren grundsätzlichen begrifflichen Ermöglichungsgründen dem großen Erbe der Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die wiederum in einem ganz bestimmten Sinne als Erbe Hegels auftritt. Als Meisterwerk gilt Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance. 8 Burckhardt zeigt darin wenig Interesse für die Rekonstruktion von Ereignisabfolgen oder gar das historistische Interesse seiner Zeit, wie etwas ‚wirklich‘ gewesen sein könnte. Ihm geht es darum, Kulturphänomene auf ihre Bedeutung und auf ihren Sinn hin zu lesen. Natürlich wäre es blanker Unsinn, Burckhardt als Hegelianer zu bezeichnen, gleichwohl, die Idee, den Geist einer Zeit aus der Bedeutungsanalyse ihrer kulturellen Erscheinungsformen herauszuarbeiten, ist Hegelsches Erbe. Es ist die kulturgeschichtliche Aufweitung von Hegels Motto, die Philosophie sei die Gedanken einer Zeit auf Begriffe gebracht. Obgleich die deutsche Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts an den philosophischen Voraussetzungen erhebliche Ab8

Vgl. zum Folgenden: P. Burke, Was ist Kulturgeschichte?, Frankfurt/Main 2005, 15-19.

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striche macht, die geistphilosophischen Grundlagen im Grunde aufgibt und die Teleologie der Geschichte ermäßigt oder gar ganz kappt, können doch Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte als eines ihrer wichtigsten Gründungsdokumente gelten. Die Kulturgeschichtsschreibung versucht aus der Gesamtschau der kulturellen Phänomene den Geist einer Zeit zu erheben, um so ihr Porträt zu malen. In konsequenter Fortführung muss dies auch auf die je eigene Zeit anwendbar sein, und in diesem Sinne lässt sich sagen, dass die kulturellen Zeitanalysen vor und nach dem Ersten Weltkrieg im Erbe der großen Tradition der Kulturgeschichtsschreibung stehen. Freilich haben sich die Abfassungsintentionen inzwischen erheblich dramatisiert. Natürlich hatte auch Burckhardt das Ansinnen, seiner eigenen Epoche die Renaissance oder die griechische Antike gegenüberzustellen. Die Kulturanalysen der 20er Jahre hingegen entstehen jedoch aus einem geradezu nervös irritierten Welterleben heraus, die Kulturanalyse dient jetzt vorrangig als Krisenhermeneutik. Spenglers an Einzelbeobachtungen so reiches Buch liefert darauf eine frappierend schlüssige Antwort. Die Irritationen der eigenen Zeit seien nichts als die Symptome des Untergangs. 9 Aber auch Jaspers ganz anders angelegtes Buch ist reich an Verfallsbeobachtungen und Identitätsverlusten. Im Unterschied zu Spengler legt er jedoch am Ende eine „erweckende Prognose“ 10 vor, um Überwindungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Tillichs Kulturanalysen ab der Mitte der 20er Jahre, nicht die des Anfangs, heben sich deutlich von Spengler und Jaspers ab, sie verzichten auf theatralische Wertungen und sind darum auch in ihrem Analysepotential aussagekräftiger. Tillichs vergleichsweise ruhige Hand hebt sich von dem theologischen Klima der Zeit deutlich ab. Franz Overbeck hatte bekanntlich im 19. Jahrhundert dem Kulturprotestantismus ein hartes Urteil gesprochen. Das Urchristentum ist seiner Genese nach Weltverneinung und Weltüberwindung. Um diese Botschaft ist es geschehen, sobald das Christentum kulturelle Assimilation treibt. Tillich erkennt in seiner Schilderung des bürgerlichen Protestantismus manches an der Overbeckschen Kritik durchaus an, doch seine Grundbestimmung von Kultur und Religion ist konträr. Aus der Perspektive Tillichs muss es erscheinen, als habe Overbeck aus einer richtigen historischen Beobachtung über die Anfänge des Christentums 9

Vgl. O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes (1923). Ungekürzte Sonderausgabe, München 1998, 43–50. 10 K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit. Neunter Abdruck der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Auflage, Berlin/New York 1999, 191-194.

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ein falsches theologisches Prinzip erhoben. Overbecks proklamierte Kulturfeindlichkeit der Religion steigert sich in der dialektischen Theologie der 20er Jahre ins Theatralische, mit – darüber kann kein Zweifel bestehen – ernst zu nehmenden Gründen. Religion gründet, so hätte es Wilhelm Herrmann gesagt, in einem Erlebnis, das allen kulturellen Ausdrucksformen stets vorausliegt, Glaube ist, so bezeichneten es Herrmanns abgefallene Schüler, ein stets individuelles Ereignis, das sich nicht kulturell verfestigen lässt. Religion und Kultur kommen so in einem unüberbrückbaren Gegensatz zueinander zu stehen. 11 Wenn wir die rhetorischen Attacken und die aufgeheizte Gesprächslage der 20er Jahre abziehen, dann ist Tillich durchaus gewillt, diese Grundkritik von Overbeck über Barth bis hin zu Gogarten in seine Theologie der Kultur zu integrieren. Das macht die Sonderstellung seiner religiösen Kulturanalysen in den 20er Jahren aus: Die religiöse Lage der Gegenwart, die hier wie gesagt exemplarisch herausgehoben werden soll, wartet zunächst mit einer Überraschung auf. Denn die Suchbegriffe wie Tiefe, Sinn, Substanz werden hier schlicht durch das Begriffspaar Ewigkeit und Endlichkeit ersetzt – das scheint die bisherigen Begründungsprobleme noch einmal fast quantensprungmäßig zu unterbieten. Doch der Schein trügt. Tillich sieht, darin ganz in Übereinstimmung mit seinen zeitdiagnostischen Kollegen, seine Gegenwart bestimmt von der Erschütterung der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts. Den Weltkrieg liest er dabei nicht als Ursache, sondern als Symptom einer sich zuvor abzeichnenden inneren Auflösung und Erschütterung, in der die – wie es in einer seiner berühmtesten Wendungen heißt – „in sich selbst ruhende Diesseitigkeit der bürgerlichen Kultur und Religion“ 12 aufgebrochen wird. Nietzsche, Strindbergh und van Gogh gelten ihm, verteilt auf maßgebliche Kultursegmente, als die wichtigsten Propheten der Erschütterung. Tillich zieht daraus das Fazit: „An allen Punkten erheben sich Fragen und Fragwürdigkeiten, die in eine Jenseitigkeit des Zeitlichen weisen und die Sicherheit der vom Ewigen her gelösten Gegenwart bedrohen.“ (GW X, 20) Auf dieser Grundlage widmet sich Tillich dann in drei großen Themenblöcken der Kultur seiner Zeit: Wissenschaft und Kunst, Politik und Ethos und schließlich Religion. Die Breite der erörterten Phänomene ist eindrücklich. Relativitätstheorie, Psychoanalyse, Expressionismus, Thomas 11 Vgl. J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit II. Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, 252 f. 12 P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart (1926), GW X, 20.

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Mann und Rilke, Kapitalismus und Sozialismus, völkische Bewegungen, Jugendbewegung, Bildungsideale bis hin zur Anthroposophie – die spezifischen Erscheinungsformen des Christentums und insbesondere des Protestantismus in diesem Überblick jetzt einmal nicht mitgerechnet. Entsprechend der kulturgeschichtlichen Zugangsart beschreibt Tillich diese Phänomene kaum, sondern liest sie vielmehr hermeneutisch auf ihre Verhältnisbestimmung von Ewigkeit und Endlichkeit hin. Die Relativitätstheorie ist die Durchbrechung des herkömmlichen physikalischen Weltbildes auf eine „innere Unendlichkeit des Seienden“ (GW X, 21) hin, die Psychoanalyse erschüttert die materialistischen Grundlagen des Seelenverständnisses, während die Wendung der Philosophie zur kritischen Methode Ausdruck einer Selbstberuhigung bürgerlicher Kultur ist, die nach innerer Überwindung verlangt. Tillichs Analysen zu Wirtschaft, Politik und Ethik seien hier nun außer Acht gelassen, obgleich man seine Folgeeinschätzungen des Kapitalismus gerade heute mit besonderem Interesse lesen kann. Für unseren Zusammenhang wichtiger ist der Blick auf die Religion. Schon der Titel des Abschnitts Die religiöse Lage auf dem Gebiet der Religion spiegelt die andernorts von Tillich auch ausdrücklich eingeräumte Verdoppelung des Religionsbegriffs wieder. 13 Religion, definiert als „Richtung des Bedingten auf das Unbedingte“ 14 , liegt allen kulturellen Ausdrucksformen zugrunde. Davon zu unterscheiden ist Religion im engeren Sinne, von Tillich recht großzügig definiert als das, „was für gewöhnlich Religion genannt wird“ 15 . Das religionsphilosophische Begründungsproblem ist hinreichend bekannt, 16 Tillich setzt die Unterscheidung hier kulturanalytisch ein. Seine Grundthese ist die: Im engen und im weiten Sinn widerspricht Religion wesensmäßig den Verendlichungstendenzen der bürgerlichen Kultur. Diese Konfrontation führt die Religion zu einer Zerreißprobe. Die Formen und Inhalte der Religion im engeren Sinne werden „durchweg zerstört oder kraftlos“ 17 . Daher – und das ist zweifelsohne eine höchst bemerkenswerte Einschätzung – vollziehen sich die wichtigsten religiösen Bewegungen außerhalb der Religion. (Vgl. GW X, 64) Die konkreten Erscheinungsformen der Religion im engeren Sinne stellen dann vielmehr nur Reaktionen 13 14 15 16

Vgl. P. Tillich, Über die Grenzen von Religion und Kultur, GW IX, 94 f. P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, GW X, 65. P. Tillich, Über die Grenzen von Religion und Kultur, GW IX, 95. Vgl. U. Barth, Religion und Sinn, in: Ch. Danz/W. Schüßler (Hg.), Religion – Kultur – Gesellschaft, a.a.O. (Anm. 3), 197-213. 17 P. Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, GW X, 68.

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auf diese eigentlichen religiösen Bewegungen außerhalb der institutionalisierten Religion dar. Zwar kann der Katholizismus als große Macht der bürgerlichen Kultur auftreten, doch um den Preis, die Erscheinung des Ewigen allein auf die Kirche festzulegen. Damit wird das Ewige selbst verendlicht – in Tillichs Raster der Inbegriff der Heteronomie. (Vgl. GW X, 75-78) Noch verwickelter ist das Schicksal des Protestantismus. Seinem Wesen nach – die späteren Überlegungen zum protestantischen Prinzip klingen hier schon an – ist der Protestantismus Protest gegen alle endlichen Verwirklichungsformen des Ewigen (vgl. GW X, 80), und doch muss er, um sein Prinzip verwirklichen zu können, konkrete Gestalt annehmen. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit der in sich ruhenden Kultur des Bürgertums wird er darunter geradezu in seinen großen Erscheinungsformen aufgerieben. Die von ihm als liberal etikettierte Bewegung integriert die Religion als Affirmation sich selbst genügender bürgerlicher Kultur. Deren lebensorientierende Kraft ist beruhigend, enthält aber nichts, was über die „in sich ruhende Endlichkeit hinausführt“ (GW X, 88). Darum ist diese von Tillich so genannte liberale Theologie im Grunde überflüssig: „Die autonome Kultur braucht die religiöse Umbenennung nicht, die ihr der liberale Protestantismus zuteil werden lässt. Sie duldet ihn, verteidigt ihn auch, hat aber im Grunde keine Achtung vor ihm, weil er nicht die Kraft hat, ihr entgegenzutreten.“ (Ebd.)

Die positiv-kirchliche Theologie, von Haus aus zwar stärker in der Konfrontation mit der bürgerlichen Gesellschaft, höhlt ihre Inhalte und Formen aber letztlich ebenso aus durch Vermittlungs- und Apologiegefechte (vgl. ebd.). Tillich weiß vor diesem Hintergrund auch das Anliegen der Barthschen Bewegung zu schätzen, die zu Recht und kompromisslos die Jenseitigkeit Gottes als Erschütterung jeglicher kultureller und auch religiöser Vergegenständlichungen darstellt. Gleichwohl sieht Tillich auch die Gefahr einer Selbstisolierung der dialektischen Theologie und hat sich darin zweifelsohne mit Blick auf die grandiosen Flurschäden in der Verhältnisbestimmung von Kultur und Religion, die durch Barth und noch viel mehr durch seine Epigonen hinterlassen wurden, als Prophet erwiesen. (GW X, 92) Einen „bedeutungsvollen Umschwung“ (GW X, 91) sieht Tillich hingegen – einmal mehr kommt hier die Nähe zu ihm zum Tragen – in Rudolf Ottos Buch über Das Heilige. Ottos Stärke liege in der „Phänomenologie der Religion in feinster Ausführung“ (ebd.), die gleichermaßen idealistisches und romantisches Erbe aufnimmt. „Es erfolgte“, so fährt Tillich fort, „ein allseitiger Durchbruch durch den Kantianismus der

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Theologie. Das Ewige wurde erfasst als der Sinngrund und Abgrund des Wirklichen“ (ebd.). Tillich sieht darin einen Idealfall von Theonomie, da die religiösen Begriffe bei Otto als „Begriffe des Durchbruchs durch die Form“ (ebd.) fungieren. Es sei dies ein bemerkenswerter Entwurf, dessen systematische Durchführung allerdings erst noch ausstehe. Dieser Einschätzung ist aus heutiger Perspektive nichts hinzuzufügen. Tillichs Kulturanalyse ist gerade auch im Vergleich mit zeitgenössischen Modellen ein auffälliges Unterfangen. Es gelingt ihm, eine Vielzahl kultureller Phänomene auf ihr – wie er es nennen würde – religiöses Anliegen zusammenzuschauen. Über die Beschreibung hinaus, versucht er zu verstehen, was sich in den Kulturphänomenen an Welterleben niederschlägt. Er liest sie auf ihr Anliegen hin. Kulturanalyse ist Sinnhermeneutik. Das Raster Autonomie, Heteronomie und Theonomie liefert ihm entgegen aller Befürchtungen ein recht brauchbares Instrumentarium zur Beschreibung des Eigenwerts kultureller Erscheinungen. Die „in sich ruhende Diesseitigkeit“ der autonomen bürgerlichen Kultur ist nicht einfach Verfall, sondern eine an sich notwendige und sinnvolle Weise, sich in der Welt zurechtzufinden. Tillich vermag diese Größe anzuerkennen, wenn er beispielsweise das bürgerliche Bildungsideal als „Erziehung zur Sachlichkeit, Nüchternheit, Wahrhaftigkeit“ (GW X, 60) hervorhebt. Die bürgerliche Kultur ist, so klingt es jetzt in der reiferen Fassung seiner Kulturanalysen, nicht einfach schlecht oder seicht, sie verkörpert eine eindrückliche Leistung, sich in der Welt einzurichten. Das Problem ist vielmehr dies, dass sich die Einstellung bürgerlicher Kultur nicht durchhalten lässt. Das Welterleben und der darin erfahrene Sinnüberschuss sprengt die in sich ruhende Diesseitigkeit auf. Ebenso muss auch Heteronomie nicht im platten Sinne einfach als schlecht bezeichnet werden. Feinsinnig kann Tillich z.B. die Größe, aber auch die damit einhergehende Spannung des Katholizismus beschreiben. Konnte man ursprünglich die Befürchtung hegen, die Kategorien Autonomie, Heteronomie und Theonomie verleiteten Tillich zu einer schalen, religiös romantisierenden Kulturkritik, so kommt nun in der konkreten Durchführung ein ganz anders gearteter Verdacht auf. Ist Tillich, so die sich aufdrängende Frage, ein Vertreter des Hegelschen Worts „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ 18 . Wir lassen bei Seite, wie dieser Satz bei Hegel zu interpretieren ist, rezeptions18 G. W. F. Hegel, Grundlinien des Rechts. Werke 7, Frankfurt/Main 1986 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 607), 24.

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geschichtlich ist er jedenfalls fälschlicherweise zum Motto einer schlichten Affirmation verkommen. Ist Tillichs Kulturtheologie in diesem Sinne schlichte Affirmation alles Kulturellen, ist sie mehr noch nichts weiter als eine positivistische Tautologie? Einführungen in Werkausgaben legen üblicherweise solche Sprengsätze nicht, Michael Palmer hingegen tut es, und spricht diesen Einwand ganz am Ende seiner Einführung zu Paul Tillichs kulturtheologischen Schriften aus. 19 Wenn Religion ihrem Wesen nach Sinnstiftung ist, wenn Kultur wiederum ihrem Wesen nach nichts anderes als die unterschiedlichen Artikulationen von Sinnstiftung ist, muss dann nicht jede kulturelle Ausdrucksform notwendigerweise religiös und sinnvoll sein? Man könnte Tillich so lesen, doch übersieht man dann Entscheidendes. Hier kommt in Tillichs Kulturtheologie zum Tragen, was ich seinen referenztheoretischen höheren Realismus genannt habe. Kulturausdrücke sind deswegen keine positivistische Tautologie, weil sie stets auf etwas hin durchlässig sind, das größer ist als sie selbst. Sinn ist eine evozierte, hervorgerufene Suchbewegung. Die – um Dietrich Korschs schönes Wort hier zu bemühen – „unvordenkliche Positivität des Unbedingten“ 20 liegt allen kulturellen Ausdrucksformen voraus. Der Substanzbegriff, aber auch die Kategorie der Tiefe oder des Grundes scheinen hier in der Tat für Tillich den Vorzug zu erbringen, den Überschuss in der Welterfahrung noch einmal unabhängig von der intentionalen Haltung des Subjekts zu beschreiben, und zwar so, dass das Individuum in der Deutung seiner Welterfahrung auf die Evozierung von etwas außerhalb seiner selbst zurückgreifen muss. Sinnerfahrungen sind daher stets Durchbruchserfahrungen, insofern fungiert auch die Kategorie des Durchbruchs als kulturtheoretischer Zauberschlüssel. Mit diesem Durchbruchsmodell entgeht Tillich m. E. dem Tautologieverdacht. Keine kulturelle Ausdrucksleistung kann die Erfahrung des Sinnüberschusses verfestigen, sondern sie bleibt eine stete Suchbewegung. Denn der Modus der Präsenz dieses Überschusses ist paradox. In der Art, wie der Sinnüberschuss im Subjekt präsent wird, weiß das Subjekt immer auch um die Unangemessenheit und Uneigentlichkeit seiner Ausdrucksmöglichkeiten. Das Durchbruchsmoment ist nicht nur eine blanke Affirmation, sondern zugleich auch gebunden an die Erfahrung der Negativi-

19 M. Palmer, Paul Tillichs Theologie der Kultur, a.a.O. (Anm. 1), 66. 20 Vgl. den Artikel von Dietrich Korsch in diesem Band, hier: 198.

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tät, Vorläufigkeit und Absurdität dessen, was für real gehalten wird. 21 Der Einbindung dieses unaufhörlichen Bewegungsmoments verdankt Tillichs Kulturanalyse ihren phänomenologischen Reichtum. Er kann nicht nur das Große, sondern auch das Ringende, das Vulkanische und das Dämonische in den Kulturbildungen in den Blick nehmen. Zur Abbildung dieses inneren Bewegungsimpulses der Kultur gebraucht Tillich übrigens lange vor Rüdiger Safranski den Romantikbegriff in einem Sinne, der über die historische Epochenzuweisung hinausgeht. Unter Romantik versteht er dichte Momente des Durchbruchs, in denen notwendigerweise kulturelle Ausdrucksformen von der Erfahrung des Sinnüberschusses aufgesprengt werden. 22 Zur Romantik gehört daher notwendigerweise die Erfahrung der Leere – ein für Tillichs Kulturanalysen der Nachkriegszeit wichtiger Begriff. Auch das Unbehagen an der Kultur führt hin zur Frage nach dem Sinnüberschuss.

3. Fazit Vor diesem Hintergrund lässt sich die Bedeutung der Kulturtheologie Tillichs für eine religiöse Kulturanalyse der Gegenwart in vier Thesen zusammenfassen. 3.1 Der starke Kulturbegriff Tillichs Kulturbegriff erweist sich trotz aller begründungstheoretischen Probleme in der Durchführung der Kulturanalyse als ein starkes Konzept – und zwar stark im Sinne seines Potentials, Kulturphänomene plausibel zu beschreiben. Man kommt mit Tillich weiter, als mit der Gehlen in vergröberter Zuspitzung zugeschriebenen Theorie der Kultur, die vom Menschen als instinktreduziertem Mängelwesen ausgeht. 23 Dieser Plausibilitätsgewinn gilt auch im Gegenüber zu naturalistischen Kulturtheorien. Plakativ gesprochen: Man versteht Michelangelo und Mozart einfach bes21 Ich danke Ulrich Barth und Dietrich Korsch für die wertvollen Diskussionsimpulse zur Beschreibung des paradoxalen Gehaltes in der Durchbruchserfahrung des Sinnüberschusses. 22 Vgl. P. Tillich, Der Mut zum Sein, GW XI, 91-96. 23 Vgl. dazu K. Eibl, Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive, Frankfurt/Main 2009, 12.

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ser, wenn man ihr Werk als Verarbeitung der Erfahrung eines Sinnüberschusses interpretiert, anstatt darin eine bloße Kompensationsleistung oder am Ende gar Fortpflanzungsvorteile zu wittern. 3.2 Hermeneutische Kulturgeschichtsschreibung Tillich setzt die Tradition der großen Kulturgeschichtsschreibung fort – die wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge bedürften hier freilich noch der genaueren Erläuterung. Die kulturwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahre haben hier vieles ins Feld geführt, was es zu berücksichtigen gilt. Das sind vor allem standortepistemologische Fragen und methodische Probleme. 24 Mit gutem Grund wird der klassischen Kulturgeschichtsschreibung vorgeworfen, dass sie methodisch nach Maßgabe der Intuition arbeitet – ein Vorwurf, den man auch Tillich machen muss und dem man entgehen kann, wenn man dem gestiegenen Problembewusstsein der Kulturwissenschaften im Umgang mit den Quellen und in der Frage nach den Anwendungsfeldern Rechnung trägt. Woraus sich aus Tillichs Ansatz jedoch bleibend Gewinn ziehen lässt, ist seine hermeneutische Intention. Kulturphänomene auf ihr Anliegen hin zu lesen, bietet den entscheidenden systematischen Fluchtpunkt der Kulturanalyse und bewahrt davor, in die Auflistung von Einzelbeobachtungen abzugleiten. 3.3 Theologie als Kulturwissenschaft Tillichs Kulturtheologie lässt die Debatte um die theologische Einordnung in das System der Wissenschaften als ein Sturm im Wasserglas erscheinen. Die bisweilen bürgerkriegsähnlich verhandelte Frage, ob Theologie eine Kulturwissenschaft sei, ist Tillich zufolge keine Frage. Aus der inneren Logik des Kultur- und des Religionsbegriffs folgt, dass sich Religion notwendigerweise stets in kulturellen Formen artikuliert. Die kulturwissenschaftlichen Phobien der Theologie sind vergebliche Versuche der Selbstimmunisierung. Tillich lehrt darüber hinaus, dass eine Wesensbeschreibung des Christentums notwendigerweise kulturgeschichtlich aufgebaut sein muss, um die inneren Verweisungszusammenhänge der verschiedenen Ausdrucksgestalten aufeinander beziehen zu können. 24 Vgl. den Artikel von Friedemann Voigt in diesem Band.

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3.4 Kulturhermeneutik als theologische Aufgabe Schließlich erweist sich Tillichs doppelter Religionsbegriff trotz aller damit einhergehenden Schwierigkeiten als ein bemerkenswerter Schlüssel einer religionshermeneutischen Kulturanalyse der Gegenwart. Tillich liefert mit dieser Verdoppelung nichts weniger als eine Theorie der Moderne, die den üblichen Aporien des klassischen Säkularisierungsbegriffs entgeht. Moderne ist für ihn nicht einfach das Ende religiöser Sinnstiftung, sondern der Sinn artikuliert sich in anderen Formen, weil die klassischen religiösen Ausdrucksformen kraftlos geworden sind. Sicher wüsste man von Tillich gerne mehr darüber, warum das so ist. Moderne ist jedenfalls nicht einfach Auflösung, sondern Umformung der Religion. Diese Umformung kann Tillich bisweilen in fast schon verstörender Radikalität beschreiben. Was im engeren Sinn als Religion gilt, hat seiner Auffassung nach nicht die Kapazität, unter Bedingungen der Moderne ein angemessener Ausdruck des Welterlebens und des sich darin zeigenden Sinnüberschusses zu sein. Tillichs Provokation ist noch immer vielfach unerhört geblieben trotz ihres enormen kulturhermeneutischen Potentials. Rabiat unterkomplex ist es, wenn die Beschreibung der religiösen Lage der Gegenwart durch statistische Mitgliedschaftserhebungen oder die Zustimmungsgrade von dogmatischen Tatsachenbehauptungen versucht wird. Die Folgen reichen bis in das interdisziplinäre Gespräch hinein. Die Theologie wird von Seiten der Natur- und Kulturwissenschaften bisweilen mit einem absurd engen Religionsbegriff konfrontiert, d.h. konkret mit eben jenen dogmatischen Tatsachenbehauptungen, die ohne jedes hermeneutische Verständnis in einem wörtlichen Sinne aufgelistet werden. Das ist auch, aber nicht nur Böswilligkeit, es ist auch Ausdruck des eigenen Versäumnisses moderner Theologie, die religiöse Weite unserer Welterfahrung plausibel zu machen. Das Aufsuchen von Erfahrungsfeldern außerhalb des engeren Gebiets der Religion wie z.B. ästhetische oder existentielle Erfahrungen und ihre Darstellungen ist nicht einfach eine Vermittlungsstrategie oder ein apologetischer Trick, um religionsmüde Zeitgenossen zu reaktivieren, es ist Tillich zufolge aufgrund der inneren Verweisungszusammenhänge von Religion und Kultur eine eminent theologische Aufgabe. Religion erschöpft sich nicht in religiöser Musikalität, sie ist mehr als eine kontingente Veranlagung. Eine an Tillich orientierte Religionshermeneutik der Gegenwart zielt darauf, im Austausch der Argumente, also begründet plausibel machen zu können, warum mit dem Ausgriff auf eine

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letzte Sinndimension Kulturphänomene besser zu verstehen sind als ohne diesen religiösen Verweisungszusammenhang. Der Grandseigneur aller guten und d.h. selbstverständlich liberalen Theologie Trutz Rendtorff hat in einem bekannten Wort Paul Tillich als einen großen Anreger bezeichnet. In dieser Mittellage zwischen Impuls und Vollendung hätte sich Tillich seinem eigenen Verständnis nach vermutlich sehr gut aufgehoben gefühlt.

Eine Frage der Kultur – eine Kultur der Frage. Ein Versuch zu Paul Tillich und Hans-Georg Gadamer HARTMUT VON SASS „Das ist eben die eschatologische Situation: keine Frage mehr haben! Im Glauben hat die Existenz ihre eindeutige Auslegung erhalten, weil sie nicht mehr von der Welt her ausgelegt wird und damit ihr Rätsel verloren hat. Damit aber stehen die Glaubenden in der Freude; denn das ist das Wesen der Freude, daß in ihr alles Fragen verstummt und alles ‚selbstverständlich‘ ist.“ Rudolf Bultmann 1

1. Auftakt Eine Frage wird gestellt, wenn etwas unselbstverständlich geworden ist; und wo ‚alles klar‘ erscheint, gibt es nicht einmal Antworten. Vom fragwürdig Gewordenen, dessen Beruhigung, mehr noch dessen Intensivierung zeugt besonders die Institution des Fragebogens – bekannt aus dem Werk Prousts, später den Tagebüchern von Max Frisch bis hin zu Autoren der Gegenwart, etwa Rolf Dobelli. Letzterer sieht in ihnen die „Umkehrform des Aphorismus“ 2 und deutet darin zumindest an, dass es weniger um das treffende Wort, die zielsichere Wendung geht, als vielmehr um die Erschaffung einer Offenheit, die erst fragend sichtbar werden mag, 1 2

Das Evangelium des Johannes, Göttingen 161959, 449 (zu Joh 16,23 f.; Kursivierung im Original gesperrt). Vgl. R. Dobelli (Wer bin ich? 777 indiskrete Fragen, Zürich 2007, 7), der diese ‚Indikretion‘ als Hommage an seinen Landsmann Max Frisch auffasst: M. Frisch, Tagebuch 1966-71, Frankfurt/Main 1979, z.B. 216-219 (Fragen zum Thema Humor).

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sich wohl möglich der Frage überhaupt verdankt. Dass die Art der Frage das Spektrum möglicher Resultate mitbestimmt, mag zuweilen ebenso problematisch sein, wie es wohl zutrifft, dass die Ruhigstellung durch Antworten die Vorfahrt gegenüber dem Horizont der Frage genießt. Es kann daher als hermeneutische Schubumkehr gelten, wenn zunächst die Fragen – und nicht sogleich abschließende Ergebnisse – zum Gegenstand theologischen und philosophischen Nachdenkens promoviert werden. Für eine solche „Kehre“ stehen Paul Tillich und Hans-Georg Gadamer. In Tillichs „Methode der Korrelation“ wird die hermeneutische Rückgewinnung der Frage theologisch am greifbarsten. Tillich selbst versteht darunter einen „Umweg“, den die systematische Theologie zu gehen habe, um die in der Existenz beschlossene(n) Frage(n) einer einsichtigen Antwort zuzuführen – einer Antwort jedoch, die selbst nur im Rahmen der Fraglichkeit der endlichen Existenz verständlich bleibe. Insofern eine solche Korrelation mit ihren beiden Polen genuin kulturabhängig ist, handelt es sich um einen wesentlichen Baustein von Tillichs Kulturtheologie bzw. seiner Theologie der Kultur. Der sich insbesondere an der Hermeneutik Schleiermachers abarbeitende Gadamer verhandelt hingegen die „Dialektik“ von Frage und Antwort in einem nicht an einer „Methode“ interessierten Rahmen; vielmehr wird hier das Fragen als ein Betroffensein durch eine kulturelle Überlieferung in einem unabschließbaren „Sinnhorizont“ beschrieben. Sei das Verstehen der Fraglichkeit, das ‚mehr‘ darstelle als bloßes Fragen, einmal vollzogen, zeige sich das Fragen schließlich als Erprobung von Möglichkeiten. Interessanterweise konstituiert die korrelative Dialektik von Frage und Antwort für beide ein Element der Wirklichkeit selbst. Während jedoch für Tillich Frage und Antwort in einem symmetrischen Verhältnis stehen sollen, worin die wirkliche Existenz verstanden werde, genießt die Frage in Gadamers Hermeneutik eine privilegierte Stellung, um die Existenz als Möglichkeitsraum zu erhellen. Mein Anliegen ist, die skizzierten Ansätze vergleichend zu schärfen, indem sie auf sich selbst angewendet werden: Auf welches kulturelle Phänomen als ihre Frage antworten beide und lassen sich darin zugleich ihre Antwort korrelativ-dialektisch vorgeben? Was also ist für diese Kultur der Frage unselbstverständlich geworden und was nötigt sie offenbar zu einer Frage der Kultur?

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2. Tillichs korrelative Umwege „Religion“, so definiert Tillich in seinem frühen Text Über die Idee einer Theologie der Kultur von 1919, „ist die Erfahrung des Unbedingten und das heißt Erfahrung schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit“ (GW IX, 18); es gehe nicht um Jenseitiges „hinter“ oder „neben“ der gemeinsam geteilten Wirklichkeit, sondern um „Überseiendes“, welches durch alles uns Umgebende die letzte Wirklichkeitsdimension bezeichne (vgl. ebd.). Was Tillich hier angeblich definiert, ist nicht ein Konzept der Religion, sondern er benennt einen prominenten Ausschnitt praktischer Zusammenhänge, in denen der religiöse Glaube tatsächlich konkret wird. Ganz auf der Linie von David Hume beruft er sich auf die vollkommene Nichtigkeit, die den Nährstoff der Unbedingtheitserfahrung liefere. 3 Eben auf diese Situation antwortet die Theologie; sie ist – als apologetisches Geschäft – genuin „antwortende Theologie“ (ST I, 12). Damit grenzt sich Tillich explizit vom Supranaturalismus ab, dem es an Vermittlung der für sich gänzlich in der Luft hängenden Wahrheiten ermangele; dieser gebe Antworten, nach denen der Mensch niemals gefragt habe. Tillich grenzt sich ebenso vom Naturalismus ab, sofern dort die Botschaft aus dem Sosein des Menschen abgeleitet werde, ohne zu erkennen, dass dieses Sosein nicht die Antwort, sondern gerade die anfängliche Frage darstellt (vgl. ST I, 79). Im einen Fall bleibe die Antwort – ‚fraglos‘ – unverständlich; im anderen Fall werde die existentielle Frage als eigentliche Antwort verkauft. Auch ein Konglomerat beider Irrwege trage kaum etwas aus, sodass deren jeweilige particula veri nicht additiv, sondern korrelativ bewahrt werden müsse. Die Art dieser Relation zeigt sich in Tillichs Werk auf unterschiedlichen Ebenen: – formal: Man denke an die Zwei Wege der Religionsphilosophie (GW X), den ontologischen (als Überwindung der Entfremdung) und den kosmologischen (als Begegnung mit dem Fremden); – strukturell: Das Unbedingte zeige sich am Bedingten unmittelbar (!); eben dies sei das realistische Moment des Glaubens (vgl. GW X, 132. 135 f.);

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Siehe etwa D. Hume, Dialogues concerning Natural Religion (posthum 1979). And Other Writings, hrsg. von D. Coleman, Cambridge 2007, part X.

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– symboltheoretisch: Von Gott müsse immer auf zwei Weisen gesprochen werden: symbolisch („höchste Wesen“, „Vollkommener“) und nichtsymbolisch („letzte Wirklichkeit“, „Sein-Selbst“) (GW V, 218); 4 – programmatisch: Der Theologie der Kultur (bzw. einer Kulturtheologie) könne alles zum Gegenstand werden, aber unter einem bestimmten Vorzeichen: der Transparenz auf das unbedingt Angehende bzw. der Aussicht auf eine realisierte „Theonomie“ 5 ; – methodisch: Die Korrelation von Frage und Antwort bilde die Methode systematischer Theologie (ST I, 74). Ich werde mich auf die letzten beiden Ebenen beschränken. Zunächst also knapp zum Programmatischen. Die Theologie habe nach Tillich als „konkrete-normative Religionswissenschaft“ (GW IX, 14) die Herausforderung anzunehmen, in Aufnahme des sogenannten kosmologischen Weges, „in Natur und Kultur die Qualität des Unbedingten aufzuspüren“ (GW X, 135); sie lebe von der Überzeugung, dass sich in jeder geistigen Schöpfung und kulturellen Regung etwas ausdrücken kann, das uns unbedingt angehe; demnach bleibt sie nicht – supranaturalistisch – eine Wissenschaft mit objektivem Gegenstandsbezug (vgl. GW IX, 14), behandelt also nicht einen partikularen Objektbereich, sondern thematisiert alles – alles aber unter einem eigenen – theologisch: einem neuen und nicht alt werdenden – Gesichtspunkt. 6 Insofern ist die Theologie stets eine Theologie der Kultur, weil sie die nötige religiöse Analyse aller Kulturschöpfungen leiste (GW IX, 20; GW X, 135). Als solche verlange sie gemäß des Prinzips methodischer Rationalität nach einem „Umweg“, der seinem Gegenstand entspricht und selbst Element der Wirklichkeit ist (vgl. ST I, 73 f.). 4

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Ein Beispiel für eine Missinterpretation dieser Unterscheidung, welche Tillich (und dessen Nachfolger) als symboltheoretisch kaschierten Reduktionisten ausgibt, liefert Richard Rorty, der behauptet: “The reason the Tillichians think they can get along either without creeds, or with a blessedly vague symbolic interpretation of credal statements, is that they think the point of religion is not to produce any specific habit of action, but rather to make the sort of difference to a human life which is made by the presence or absence of love.” (Religious Faith, Intellectual Responsibility and Romance, in: Ders., Philosophy and Social Hope, London 1999, 148-167. 158) Vgl. bes. GW IX, 18 f. Ähnlich I. U. Dalferth, Radikale Theologie, Leipzig 2010, bes. 255. 261. – Dass in der so verstandenen Theologie als normative und zugleich normierende Kulturwissenschaft der Gestus der Vereinnahmung des Kulturellen liegen könnte, wäre eigens zu bedenken.

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Damit zur methodischen Ebene: Die Methode der Korrelation reagiert auf die Aporien ihrer Alternativen, indem sie die natürliche Theologie auf eine existentielle Analyse beschränkt und die supranaturalistische Theologie auf die Antworten begrenzt, die auf existentielle Fragen gegeben werden (dies hat Auswirkungen zum Beispiel auf die Interpretation der sogenannten Gottesbeweise; vgl. ST I, 79 f.; ST II, 20 f.). Als die Methode systematischer Theologie habe sie schon immer latent oder explizit den Rahmen theologischen Arbeitens bereit gestellt, sodass die These, Theologie gehe korrelativ vor, keine normative Forderung darstellt, sondern eine primär deskriptive Behauptung. Tillichs Verwendung des Begriffs „Korrelation“ mag durch Husserls korrelative Verhältnisbestimmung zwischen Bewusstseinsakt und Bewusstseinsinhalt geprägt sein, die dann in der neukantianischen Religionsphilosophie (besonders bei Hermann Cohen) auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch angewendet worden ist. 7 In Tillichs Werk taucht der Term wiederholt, aber in Variation auf: als Korrelation zwischen Akt und Gegenstand oder zwischen Kultur bzw. Ethos und Mythos samt all seiner Brechungen (vgl. GW V, 189. 194). In seiner Systematischen Theologie differenziert Tillich verschiedene Bedeutungen von Entsprechung über logischem Zusammenhang bis zur reziproken Abhängigkeit. Insbesondere Letztere ist für die prominenteste Korrelation, diejenige von Frage und Antwort, von Relevanz, die im Hauptwerk aber uneinheitlich bestimmt ist. Im ersten Band des opus magnum (1951) steht noch die wechselseitige Abhängigkeit von Frage und Antwort im Vordergrund, näherhin die zwischen existentiellem Fragen und theologischem Antworten. Die Theologie habe die in der menschlichen Existenz beschlossenen Fragen zu formulieren und sie tue dies im Horizont der Antworten, welche in der göttlichen Selbstbekundung enthalten seien (vgl. ST I, 76. 78). Gegen Karl Barths (angeblichen?) Supranaturalismus behauptet Tillich ganz offensiv – auch hier also: Theologie als Angriff! – die Abhängigkeit Gottes vom humanum insofern, als der Empfang der Offenbarung auf eine höherstufige Korrelation aufmerksam mache, der nämlich zwischen „Gott für uns“ und „Wir für Gott“ (ST I, 75); diese Korrelation ist etwas Reales für beide, für Gott und für den Menschen; symbolisch gesprochen heiße dies: Gott antwortet auf Fragen des Menschen, und unter dem Eindruck von Gottes Antworten stellt der Mensch seine Fragen (vgl. ebd.). 7

Dazu W. Schüßler, Paul Tillich, München 1997, 89. Siehe: E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie (1906/07), hrsg. von P. Janssen, Hamburg 1986, 12-14. 74 f.

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Tillich denkt ganz hermeneutisch – d.h. hier: zirkulär. Ähnlich wie bereits Heidegger vor ihm (und Gadamer nach ihm) verweist Tillich auf den Umstand, dass Verstehensprozesse die Form des Zirkels annehmen, ohne zu einem Teufelskreis zu werden, gerade weil es nicht darum geht, sich des Zirkels zu entledigen, sondern überhaupt in ihn hineinzukommen. Der zirkuläre Charakter wiederum nimmt nun unterschiedliche Formen an: – die existentielle: Der Zirkel treibt den Mensch zu einem Punkt, an dem er sich selbst zur Frage wird, die er immer schon ist; Tillich kann es auch anders ausdrücken, sodass der Mensch Frage und Antwort nicht mehr zu trennen vermag (vgl. ST I, 75); – die fideistische: Um in den Zirkel hineinzukommen, muss man schon im Glauben stehen (vgl. ST I, 17 f.) bzw. man muss von der Frage und der möglichen und sofern notwendigen – vielleicht: mehr als notwendigen – Antwort unbedingt angegangen sein (Glaube meint hier: Glaube und Zweifel; ST I, 18); – die epistemische: Die Methode selbst kann ohne vorherige Kenntnis des Gegenstandes, auf den sie angewendet wird, nicht entwickelt werden; man müsste schon wissen, worum es geht, um es zum Thema erheben zu können (ST I, 74). Während Tillich seine Auskünfte zur Korrelation damit beschließt, dass er ankündigt, jeden der fünf Teile der Systematischen Theologie korrelativ aufzubauen (so ST I, 80), wendet er sich dann doch noch einmal – und differenzierter – dem hermeneutischen Problem korrelativer Beziehungen zu: in der Einleitung zum zweiten Band (1957) mit der Überschrift Unabhängigkeit und Wechselwirkung von existentiellen Fragen und theologischen Antworten (ST II, 19-22). Nun geht es nicht so sehr um eine separate Analyse von Frage und Antwort, sondern um die zwei Endpunkte ihrer Beziehung zueinander. Auf der einen Seite kommt ihnen eine jeweilige Unabhängigkeit zu; denn es ist unmöglich, die Frage aus der Antwort (und umgekehrt) abzuleiten. Gottes Selbstmanifestation sei also nicht aus der Analyse der menschlichen Existenz heraus zu bestimmen (vgl. ST II, 19), während es ebenso konfus bleibe, die menschliche Frage aus dem Offenbarungsgeschehen destillieren zu wollen. Die theologische Antwort terminiert nicht die menschlichen Fragen, nicht einmal rückläufig, sondern grenzt bestenfalls das Spektrum ab, innerhalb dessen die Fragen danach sinnvoll erscheinen könnten; umgekehrt lassen offene Fragen naturgemäß unterschiedliche Repliken zu, deren Varianz wiederum im ungefähren Mittel

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zwischen Willkür und Exaktheit angesiedelt sein wird. 8 Theologisch unmissverständlich summiert Tillich jedoch: Die Substanz der Antwort bleibt unabhängig von den Fragen des Menschen (vgl. ST II, 22). Auf der anderen Seite hingegen bleiben Frage und Antwort in unbedingter Angewiesenheit verbunden. Dazu legt Tillich eine äußerst streitbare Behauptung vor, indem er festhält: „Wir können keine Antwort verstehen, die nicht Antwort auf eine Frage ist, die wir gefragt haben.“ (ST II, 20) 9 Dies erläuternd meint Tillich: Nur wer die Erschütterung der eigenen Existenz erfahren habe – die Bedrohung des Nichtseins –, könne verstehen, was der Gottesgedanke bedeute. 10 Zugleich verteidigt Tillich einen „Anknüpfungspunkt“ des Menschen gegen Barths bloße „Selbsttäuschung“ (ST II, 21), insofern er in jenem Punkt die Frage nach Gott als tatsächlich bestehend voraussetzt. 11 Über beides – diese Anknüpfung im Widerspruch sowie die frageorientierte Antwort – ließe sich trefflich diskutieren, zumal Gott gerade ungefragt ins Leben des Menschen tritt, der von ihm nicht zu wissen meint, nichts mehr wissen will – und von ihm auch wirklich nichts mehr weiß. Im Resultat sieht der Befund wie folgt aus: Erstens behauptet Tillich, dass die Theologie eine Methode benötige – mithin korrelativ zu verfah8

Und noch einmal gesondert wäre der Fall zu betrachten, in dem uns bestimmte Antworten nicht länger als annehmbar erscheinen, während die zu ihnen führenden Fragen – das ursprüngliche ‚Anliegen‘ – zu schützen wären; ein traditionelles Beispiel dafür ist die Metaphysik und ihre Kritik; vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus (1977), Tübingen 31978, 63. 9 Ähnlich wie Tillich drückt sich auch Gadamer einmal aus: Eine nicht als motiviert angesehene Frage könnten wir auch nicht beantworten: ST II, 153. 226; dahinter mag wiederum Martin Heidegger stehen, der festhält: „Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat sein vorgängiges Geleit aus dem Gesuchten her.“ (Sein und Zeit, Tübingen 182001, 5) Vgl. ferner U. H. J. Körtner, Die Frage nach der Frage, auf die die Theologie die Antwort ist, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 48, 2006, 407-423, bes. 412. 10 Tillich gibt weitere Beispiele: das Verständnis der Gottesbeweise (dazu ST I, 240) und die Erziehung, insbesondere die religiöse (dazu GW IX, 242 f.). Dass die Verständigung in Frage und Antwort auch einen pädagogischen Aspekt hat, sodass das Erfragte selbst den „langsameren Geistern“ zugänglicher werde, wusste schon Anselm; vgl. A. von Canterbury, Cur Deus homo. Warum Gott Mensch geworden. Lateinisch und Deutsch, Darmstadt 1960, 11. 11 Die Parallelen zwischen Tillich und Rudolf Bultmann (Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden? [1925], in: Ders., Glauben und Verstehen I, Tübingen 51964, 2637), werden hier besonders deutlich.

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ren habe, und als in einem normativ aufgeladenen Sinn immer schon derart verfahren sei. Zweitens oszilliert Tillich bezüglich des Status dieses „Umwegs“ zwischen Nominalismus und Realismus: Entweder handelt es sich um eine prinzipiell ersetzbare Methode, eben weil es sich um eine Methode handelt (pragmatische Lesart), oder aber es handelt sich im Vollsinn um ein Element der Wirklichkeit, sodass diese Methode immer schon über das rein Methodische hinaus strebt und selbst (abbildend) wirklich ist (faktische Lesart). Drittens wiederholt Tillich das in den 1920er Jahren besonders engagiert diskutierte Thema über den natürlichen Gottesbezug des Menschen. Die Entscheidung pro vs. contra Anknüpfung bzw. Widerspruch weist Tillich genauso zurück, wie es der Hermeneutiker Bultmann getan hat. Die Korrelation ist nun die spezifisch Tillichsche Reaktion, welche die Symmetrie von Frage und Antwort bewahren muss, um nicht wie Barth und Brunner doch noch in die Entscheidung zwischen einem dieser je für sich verkürzten Pole ‚geworfen‘ zu werden.

3. Gadamers fragender Möglichkeitssinn So sehr der Theologe Tillich die Forderung zur Methode einzulösen unternimmt, so wenig erkennt der Philosoph Gadamer darin eine Notwendigkeit. Mehr noch weist er eine für die Operation des Fragens verbindliche Methode dezidiert zurück; er akzeptiert nicht einmal einen Methodenpluralismus (vgl. WM, 371) 12 . Die Frage stellt für ihn vielmehr ein ganz „rätselhafte[s] Phänomen“ dar (GA II, 47. 193), weil sie „die letzte logische Form“ der Motivation jeder Aussage bilde, der Aussage ja durchaus nahestehe, ohne allerdings selbst eine zu sein (Ausnahmen bleiben Ausnahmen) (GA II, 52). Gadamers Annäherung an dieses ‚Rätsel‘ setzt bei der platonischen Dialektik ein. Alles Gesagte verweise zurück und nach vorn auf Ungesagtes; jede Aussage – so paraphrasiert Gadamer entsprechend – ist motiviert (vgl. GA II, 152). Der ironische Ironiker Sokrates (es gibt immerhin die negativen Ironiker: Rorty, vielleicht schon Kierkegaard) weise daher fragend in die doppelte Verzweiflung: Zum einen verwirrt und klärt die fast kindliche Permanenz des weiterfragenden Warum, mithin die ganz un12 Gadamers Werk zitiere ich nach der zehnbändigen Gesamtausgabe (= GA; als paperback: Tübingen 1999 ff.) mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl, wobei ‚WM‘ für das Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960) steht und dem ersten Band der GA entspricht.

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pragmatische Inszenierung der docta ignorantia bis zum kathartischen Moment – sie klärt, indem sie sprachlos macht, um endlich bedächtiger sprechen zu lernen. Zum anderen haben wir es mit einer Kurierung zu tun, die von dem Wunsch befreie, selbst zu fragen, weil doch das Fragen leichter wäre als das Antworten (GA II, 227 f.). Gadamer aber widerspricht – aus zwei Gründen: Echte Fragen, solche also, die mögliche Antworten haben, verfügen über einen Richtungssinn; anderenfalls sind sie „schief“ (WM, 368. 370). Zwar fragen die Fragen ins Offene hinein, indem sie eine verstellte Sache aufbrechen, aber Offenheit unterscheidet sich von Leere (vgl. WM, 369), zumal sinnvolle Fragen nicht uferlos sind, sondern umgrenzt. Des Weiteren beruht das sokratische Manöver auf der Kunst des Weiterfragens; eben dies ist die zitierte Offenheit, die vor Optionen stellt, welche im glückenden Gespräch oder dem sprachgewaltigen Schweigen sichtbar werden. Beide Gründe entlarven Gadamer zufolge den Wunsch, als überforderter Adressat der Frage nun selbst fragen zu wollen, weil die pointensichere Gesprächsführung den souveränen Umgang mit der Offenheit der Frage voraussetzt angesichts der Umgrenztheit sinnvoller Antworten: Fragen ist schwerer als antworten. 13 Im Spiel von Frage und Antwort erkennt Gadamer nun das hermeneutische Bewusstsein überhaupt; die Dialektik zwischen Frage und Antwort, von echten und eben nicht „schiefen“ Fragen sowie den dadurch sinnvollen Antworten. Diese Dialektik macht das Verstehen als Gespräch verständlich (vgl. WM, 383). Insofern fällt auch Gadamer in der Privilegierung der Mündlichkeit unter das, was Derrida später als Logozentrismus kritisieren wird. Was der Autor von Wahrheit und Methode hier im Blick hat, scheint zunächst dem auch von Tillich Beschriebenen ziemlich nahezukommen: „Dialektik“ entspricht weitgehend dem, was der Theologe als „Korrelation“ ansprach – wenn auch mit der Akzentuierung auf das Offene und Unabgeschlossene dieses ‚Dialekts‘, auf das nie endende Gespräch, das vor jeder gesicherten Mediation verbleibt (vgl. GA X, 140).

13 Es herrscht jedoch auch eine Asymmetrie der Macht zwischen Frage und Antwort, die etwa Alain Badiou wie folgt einzufangen versucht: „Wenn man Zeichen verlangt, wird der, der sie gibt, für den, der sie verlangt, zum Herrn. Wenn man philosophisch fragt, wird der, der antworten kann, für das ratlose Subjekt zum Herrn. Wer aber ohne prophetische oder mirakulöse Garantie, wer ohne Argument oder Beweis bekennt, tritt nicht in die Logik des Herrn ein. Das Bekenntnis ist nämlich nicht durch die Leere (der Frage) affiziert, in der der Herr sich einquartiert.“ (Paulus. Die Begründung des Universalismus, Zürich/Berlin 2009, 75).

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Doch sind es nicht allein Akzente, die Gadamer von Tillich unterscheiden, ohne dass jener – soweit ich sehe – irgendwo auf diesen Bezug genommen hätte (umgekehrt sieht es ähnlich aus). Zunächst ist die Metapher des Spiels zwischen Frage und Antwort zu beachten, der Gadamer in seinem 1960 erschienenen Hauptwerk eine überraschende Wendung verleiht, wobei er die Redeweise vom „offenen“ und „echten“ Spiel zwischen Frage und Antwort auch später noch beibehält. 14 Was also hat es mit dem Spiel auf sich? Gadamer grenzt sich deutlich (besonders gegenüber Eugen Fink) vom unglücklichen Dual zwischen Spiel und Ernst ab. Es gibt den Ernst des Spiels, der sich dann zeigt, wenn sich eine Subjektumkehr im Vorgang des Spiels vollzieht, näherhin: wenn aus der Distanz des Spiels das tätige Engagement des Spielens wird. Dann nämlich, so Gadamer, spielen nicht mehr wir, sondern wir werden gespielt, wie sich an der Erfahrung der Kunst zeigen solle (vgl. WM, 107 f.). Das Subjekt der Kunsterfahrung ist die Kunst selbst; und ebenso entfalte sich der mediale, involvierende Sinn des Spiels; Gadamer: „Alles Spielen ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, daß das Spiel über den Spielenden Herr wird.“ (WM, 112)

Diese Entsubjektivierung des Spielers durch das Spiel als Subjekt scheint sich für Gadamer (ohne dass er dies explizierte) auf das Spiel von Frage und Antwort zu übertragen. Auch der in diesem Gespräch befindliche Mensch verliert sich ans Spiel, indem er sich in dieser hermeneutischen Erfahrung der Selbstlosigkeit gewinnt. Insofern ist auch, wie Gadamer an einer anderen Stelle meint, das Fragen eher ein Erleiden, nicht ein Tun (vgl. WM, 372). Fragen drängen sich auf, werden unausweichlich, zwingen endlich zur Suspension der Vorurteile in Form der die vorschnellen Antworten aufschiebenden Fragen (WM, 304 ff.). Auch hier schimmert der traditionelle hermeneutische Zirkel durch, wenn auch gar nicht so traditionell; denn Gadamer setzt sich für den wesentlichen Primat der Frage ein, für deren „Vorgängigkeit“ (WM, 369). Und zwar deshalb, weil im Gegensatz zur Antwort die Frage zum „Aufbrechen der Sache“ beitrage; das hermeneutische Bewusstsein zeige seine Wirksamkeit gerade darin, dass das Fragwürdige erkannt werde (GA II, 228). Nur so aber könne der Weg zum Wissen beschritten werden (vgl. WM, 370 f.), denn jede Erfahrung habe die Struktur der Frage; keine Erfahrung komme ohne die Aktivität des Fragens aus: 14 Vgl. etwa GA VIII, 356; GA X, 107.

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„Der Primat der Frage vor der Aussage bedeutet für die Hermeneutik, daß man jede Frage, die man versteht, selber fragt. Verschmelzung des Gegenwartshorizontes mit dem Vergangenheitshorizont ist das Geschäft der geschichtlichen Geisteswissenschaften. Sie betreiben aber damit nur, was wir immer schon tun, indem wir sind.“ 15

An diesem Votum sind drei Aspekte hervorzuheben: Erstens stellt sich das Problem, wie sich die Passivität der Frage zur Aktivität des Fragens verhält. Man wird es sich so zurecht zu legen haben, dass beides nicht ausschließend, sondern als Sequenz gemeint ist. Das Engagement des Fragens als Vorposten der Offenheit zugunsten der zum Wissen verdichteten Erfahrung geht in eine „Verschmelzung“ mit dem Fragehorizont des Befragten über, der einem selbst zur Frage wird: Man fragt, indem man befragt wird. 16 Zweitens begründet Gadamer hier den besagten Primat der Frage mit dem Verweis auf die Offenheit der Frage, die – indem man selbst fragt – dem derart Fragenden Antworten im Modus der Möglichkeiten zuspielt. Mit dem Fragen bleibt ein Sinn für Möglichkeiten verbunden (z.B. WM, 371), ein denkendes Erproben (WM, 373. 381). Der Mensch ist nach Gadamer ins Offene gestellt, sodass er nicht nur manches Mal fragen muss, sondern noch öfter fragen kann (vgl. GA X, 108); in dieser asymmetrischen Dialektik von Frage und Antwort wird die Alterität des Wahren erkannt (vgl. GA, 155). Zu fragen verrate einen Sinn für’s Fragwürdige (so GA II, 227) – Fantasie also. Drittens schließlich spricht Gadamer von dem, „was wir immer schon tun, indem wir sind“. Ihm zufolge sind wir, was wir sind, als Gespräch. Das Gespräch, das wir als wesentlich sprachliche Wesen sind (vgl. WM, 383), verweist weit weniger auf eine Methode, die durch eine potentiell bessere ersetzbar wäre, sondern auf ein – mit Heidegger gesprochen – Existential. Ganz parallel zur Verortung des hermeneutischen Zirkels handelte es sich nicht um eine Aporie des Verstehens oder gar erst deren strukturelle Ermöglichung – so zutreffend dies alles sein mag. Im Spiel von Frage und Antwort drückt sich kein methodischer „Umweg“ aus, sondern ein Grundzug der Existenz selbst. 17

15 H.-G. Gadamer, Was ist Wahrheit, 1957, II, 55. 16 Zur Metapher der „Verschmelzung“ siehe: WM, 375. 378. 380. 383. 17 Der Entfaltung dieses existentialen Grundzugs ist Martin Heidegger mit der „formalen Struktur“ – pragmatistisch müsste man sagen: mit der formalen Strukturierung – der Frage nach dem Sein nachgegangen: Sein und Zeit, a.a.O. (Anm. 9), bes. § 2; hier wird das Fragen als „Seinsmöglichkeit“ bzw. „Seinsmodus“ (7) vorgestellt, sodass die Ausarbeitung der Seinsfrage zur Erhellung des fragenden Seienden führen soll, welches – indem es nach sich selbst fragt – das Befragte ist,

Eine Frage der Kultur – eine Kultur der Frage

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4. Eine Kultur der Frage? Während sich Tillich auf die Suche nach einer methodischen Systematik als symmetrischer Korrelation zwischen Frage und Antwort zugunsten der Antwort begibt, erkennt der Hermeneutiker Gadamer in der fragelastigen Dialektik zwischen Offenheit und Fest-Stellung eine Bewegung existentialer Tragweite. Erhofft sich der vom gebrochenen Idealismus Schellings beeindruckte Tillich die Klärung des Wirklichen, so setzt der hegelaffine Heidegger-Schüler hingegen auf’s Unvermittelte, bleibend Ausstehende. Beide aber, ich hatte es betont, bewegen sich in einem familienähnlichen Rahmen, der – wie alle Rahmungen – hervorhebt, indem er anderes abblendet. Denn so sehr zunächst die klärungsbedürftige Relation von Frage und Antwort für sich einnehmen mag, so sehr wird man nach Alternativen Ausschau halten dürfen – und als Theologe wohl möglich müssen. 4.1 Jüngels Einspruch: Primat der Antwort Dass es Unbeantwortetes, mehr noch aber Unbeantwortbares gibt, dessen Fraglichkeit gerade nicht sogleich „schief“ zu nennen wäre, werden auch Tillich und Gadamer kaum bestreiten. So verhandelt der Philosoph durchaus Fälle, in denen jede Antwort scheitert, womit die Frage unüberwindbar ist. So bleibt vornehmlich der Tod eine Frage – trotz allem Vorlaufen. 18 Das Kommen des Todes ist die Antwort, eben dass es keine Antwort geben kann (vgl. GA IV, 161); die Frage nach dem Tod bildet die Antwort in dem Sinn, dass sich die Frage selbst fragwürdig – immerhin: einer Frage würdig – macht. Dies aber ist mit Hans Blumenberg Kultur: Respekt auch vor den Fragen, die wir nicht beantworten können. 19 Sollten wir also – entgegen Tillich und Gadamer – nicht eher die dialektische Korrelation (oder: die korrelative Dialektik – eine Beziehung jedenfalls unterhalb des Kausalen) angesichts der Eigenständigkeit von Aussagen, die sich jenseits fragender oder antwortender Sprechakte bewegen, gänzlich verabschieden? Und dies, zumal die Unterstellung, Gott sei und zwar im Gegensatz zum Gefragten (Sein) und Erfragten (Sinn von Sein) (6 u.ö.). 18 Dazu wiederum M. Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O. (Anm. 9), insbesondere § 53, vor allem 262-264. 19 Vgl. H. Blumenberg, Nachdenklichkeit, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1980, 2. Lieferung, Heidelberg 1980, 57-61, hier: 61.

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– oder werde – kulturell zumindest als Frage präsent, als wohl längst widerlegt zu gelten hat. 20 Nun lassen sich immerhin selbst Kritiker des Äquilibriums von Frage und Antwort wie Eberhard Jüngel auf deren dialektisch-korrelatives Spiel ein. Doch zunächst mit gehöriger Reserve; so heißt es zu Beginn des Hauptwerkes Gott als Geheimnis der Welt recht eindeutig: „Damit hängt zusammen, daß ich das Frage-Antwort-Modell, in dem der Mensch als die Frage behauptet wird, auf die die Rede von Gott antworten soll, für ungeeignet halte. Das Modell verkennt gerade das Zentrum christlichen Glaubens, dessen Notwendigkeit es doch erweisen will: daß nämlich Gott definitiv geredet hat, daß – was ist nun Antwort und was Frage? – Gott Mensch geworden ist.“ 21

In der materialen Ausführung bleibt dann Jüngels deutliche Kritik an diesem „Modell“ bestehen, nun aber nicht, um es gänzlich zu verabschieden, sondern um eine theologisch motivierte Gegenbesetzung einzuführen. Denn der wohl umsichtigste aller Barthianer steht für einen dezidierten Vorrang der Antwort 22 (ohne allerdings Tillich und an diesem Punkt besonders Gadamer überhaupt zu erwähnen, was nicht heißt, dass dies nicht seinerseits ein gewolltes Statement wäre).

20 So U. H. J Körtner, Die Frage nach der Frage, auf die die Theologie die Antwort ist, a.a.O. (Anm. 9), 419. 21 E. Jüngel, Gott als Geheimnis, a.a.O. (Anm. 8), X. Dies mag nicht nur kritisch gegen Tillich festgehalten sein, sondern zudem einerseits gegen Karl Holl, der das „Frage-Antwort-Modell“ zum Interpretationsrahmen der Rechtfertigungslehre angesetzt hatte, und andererseits gegen seinen Lehrer Ernst Fuchs, der auf der Linie Heideggers die Fraglichkeit (später abgelöst durch die „Sprachlichkeit“) und damit die Antwortbedürftigkeit des Menschen herausstellte; etwa: E. Fuchs, Glaube und Wirklichkeit, in: Ders., Zum hermeneutischen Problem in der Theologie. Die existentiale Interpretation, Tübingen 21965, 1-44, hier: 34 f. 44. Ders., Hermeneutik, Bad Cannstatt (1954) 31963, 134. Jüngel wird sich in seiner Reserve am „dialektischen“ Barth orientiert haben, der meinte, die Bibel gebe Antwort, indem sie den „fragende[n] Menschen“ suche: K. Barth, Not und Verheißung der christlichen Verkündigung (1922), in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1922-1925, hrsg. von H. Finze, Zürich 1990, 65-97. 83 f. 22 Etwas anders ist der Akzent hingegen gelagert in: E. Jüngel, Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie, in: Ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 290-317. 296. Ferner Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen 2000, 438, Anm. 6.

Eine Frage der Kultur – eine Kultur der Frage

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Zunächst weist Jüngel den Primat der Frage als theologisch suspekten Restbestand eines Cartesianismus ab, der auf die Selbstbegründung des Subjekts setzen würde. 23 Selbst die „letzten“ (Schelling) oder die „radikalen Fragen“ (Weischedel) sind stets hervorgerufene: „Theologisch ist gegen jene Begründung der Frage nach Gott im menschlichen Fragen überhaupt einzuwenden, daß sie Gott nicht als den von sich aus Redenden zu denken erlaubt.“ „Eine allein aus der Frage geborene und eben deshalb zur Infallibilität tendierende Rede von Gott kann auf die hermeneutische Unterschiedenheit zwischen Gott und der Rede von Gott im Sinne einer schlechthinnigen Überlegenheit Gottes über das Wort gar nicht genug bedacht sein.“ 24

Nach Gott, so ist sich Jüngel sicher, wird gefragt, weil von ihm schon die Rede ist; dem könnte wohl auch Tillich zustimmen, wenn darin tatsächlich eine Kultur der Frage als eine – vielleicht die – Frage der Kultur zu verstehen wäre. Doch bekanntlich ist dies gerade das Schreckensbild für Jüngel und das ihn umgebende theologische Klima. Voran geht stets das nicht rätselhafte Geheimnis, das Gott ist; und Geheimnisse haben es an sich, dass sie Fragen wecken, dass sie ins Fragen bringende Ereignisse darstellen. 25 Dem menschlichen Fragen geht endlich das Angesprochensein des Menschen voran, sodass das Korrelat Frage/Antwort dem seinerseits asymmetrischen Dual von Anspruch und Antwort zu weichen hätte. 26 4.2 Korrelation in Selbstanwendung Damit aber, so wird mit Tillich zu befürchten sein, gelangt man nur wieder in einen kulturvergessenen Supranaturalismus, der ungefragt antwortet und gerade deshalb zur korrelativen Vorsicht veranlasste. Dem angeblichen Cartesianismus würde der in den Barth(iani)schen Koordinaten notorisch vermutete Offenbarungspositivismus entsprechen. Die Frage nach der Frage in ihrem Verhältnis zur Antwort wird damit zu der theologischen Frage überhaupt: der so traditionellen wie unglücklichen Alternative zwischen natürlicher und Offenbarungstheologie. 23 24 25 26

E. Jüngel, Gott als Geheimnis, a.a.O. (Anm. 8), 337. E. Jüngel, Gott als Geheimnis, a.a.O. (Anm. 8), ebd. bzw. 336. Vgl. E. Jüngel, Gott als Geheimnis, a.a.O. (Anm. 8), 334. 339. Vgl. Ph. Stoellger, Selbstwerdung. Ricœurs Beitrag zur passiven Genesis des Selbst, in: I. U. Dalferth/Ders., Krisen der Subjektivität. Problemfelder eines strittigen Paradigmas, Tübingen 2005, 273-316. 310.

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Doch für die Kultur der Frage, die Tillich repräsentiert, sind die nicht nur von Jüngel vorausgesetzten Parameter gerade unselbstverständlich geworden – und Unselbstverständlichkeiten, so sagte ich eingangs, sind die Anlässe unserer Fragen. Hingegen weiß auch Tillich, der keineswegs einen nur verspäteten Kulturprotestanten abgibt, dass die Antworten auf diese veranlassten Fragen nicht durch die Fragen terminiert sind; daher bestand er – in gewisser Weise mit Jüngel – auf die logische Unabhängigkeit der menschlichen Frage von den Antworten, die ihre Heimat im Glauben haben. Wie aber kann beides festgehalten werden, wie kann der aufschlussreiche Widerspruch, der sich in Tillichs Ansatz selbst abzeichnet und sich in der Konfrontation mit dem Barthianischen Konkurrenzprojekt sowie dem Gadamerschen Alternativprogramm konturiert, gelöst werden – möglicherweise gerade, indem er erhalten wird? Dazu lautet mein abschließender Vorschlag, die Methode der Korrelation auf sich selbst anzuwenden, sie selbst folglich im Ganzen als theologisch zu verantwortende Frage nach der Antwort zu verstehen – einer Antwort aber, die nicht das Wirkliche spiegelt, sondern neue Möglichkeiten zuspielt. Wie ist das gemeint? Wir hätten demnach zwei korrelativ interagierende Ebenen zu unterscheiden. Einerseits handelte es sich um diejenige, die methodisch-immanent genannt werden könnte. Sie fängt das ein, was insbesondere Tillich theologisch zu bewahren unternahm: den in einer ihm antwortenden Kultur der Überlieferung eingebetteten Menschen als Frage. Gerade dadurch wird die Fantasie reiner Privatheit sogleich abgewiesen, wobei der fragende Mensch sich vor jeder kausalen Bestimmtheit im Horizont seiner auf Möglichkeiten angelegten Fragen entwirft. Insofern – hermeneutisch also, nicht normativ, schon gar nicht zeitlich – bestünde, mit Gadamer, ein Primat der Frage als Öffnung des Zirkels, der nicht des Teufels ist. Diese methodisch-immanente Korrelation ist nötig, weil das, was den fragenden Menschen als kulturelles Wesen unbedingt angehen könnte, nirgends anders als in der Vielfalt seiner Lebensformen zu finden ist. Bliebe es dabei, wäre das jedoch reichlich untheologisch gedacht. Das hat auch Tillich so gesehen. Daher hätten wir andererseits eine zweite Ebene zu bedenken, die die existentiell-transzendente genannt sei. In ihr ist die erste Korrelation als Frage gegenüber dem, was uns tatsächlich unbedingt angeht (nicht nur angehen könnte), eingezeichnet. Zum Korrelat von humanen Fragen und Antworten der Immanenz gesellt sich daher die zu allem kritische, d.h. es bejahende oder verneinende Instanz, die allein der Glaube kennt: Gott. Und auf dieser Ebene ist es allerdings – gramma-

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tisch – notwendig, gegen Gadamer, zu Teilen auch gegen Tillich und mit Jüngel die unbedingte Asymmetrie – mithin: die Unabhängigkeit der Antwort – festzuhalten. Was uns auch in diesem Sinn unbedingt angeht, wird man wenn nicht existential, so doch existentiell nennen müssen. 4.3 Gegen Ende: Eine Frage der Kultur? Nun stehen die methodisch-immanente und die existentiell-transzendente Ebene nicht einfach additiv zueinander, und auch der nochmalige Verweis auf deren korrelativen Bezug genügt kaum; denn die zweite dieser beiden Korrelationen gibt es gar nicht per se – sie ist nur „im Modus der Inanspruchnahme“ 27 , ein Ereignis also. 28 Offenbarung nennt es nicht nur Tillich, eine Offenbarung aber von etwas, das nicht schon immer im Verborgenen schlummerte und nun plötzlich sichtbar würde, sondern das gar nicht anders ist als im unverfügbaren Sich-Offenbaren; es gibt es nicht – es stellt sich ein. Diejenige Macht, die auf diese Weise ist, ist die Sprache: Worte sind nicht ‚da‘, sondern sie sind, indem sie anreden. Während das methodisch-immanente Korrelat den schlichten Umstand einzufangen versucht, dass Menschen nicht jenseits ihrer Kultur leben und daher Worte nicht vollkommen bezugslos „senkrecht von oben“ über uns herfallen, hält die existentiell-transzendente Korrelation fest, dass die kulturellen Antworten unseres auch religiösen Überlieferungszusammenhangs einer Qualifizierung bedürfen, die zwischen alt und neu, zwischen dem, was vergeht, und dem, was Bestand hat, unterscheidet. Während es für den, der von Gott nichts weiß, nur die erste Art der Korrelation gibt, stellen sich für den, der sich – in aller Anfechtung, bei allem ebenso gerechtfertigten Zweifel – coram Deo versteht, die als unbedingt angehend qualifizierten Antworten der Immanenz als unverfügbar in dem Sinne heraus, dass sie dem Dual von Mensch und Kultur entnommen werden. Nun aber nicht so, dass ‚Gott‘ ein Extra-Phänomen jenseits des sonst Akzeptablen bezeichnete, zumal Gott überhaupt kein Phänomen, keine Entität – zu Deutsch: ein Dingsda – ist. Weil Gott keine „reli27 So Dietrich Korsch in seinem Beitrag in diesem Band. 28 Ich gebe zu, dass der Begriff des Ereignisses zu oft zur bloßen Chiffre verharmlost wird. Die Zeiten des Selbstverständlichen des „Ereignisses“ sind – in doppeltem Sinn – vorüber. Als hilfreich für ein besseres Verständnis dieser Figur könnten sich Alain Badious programmatische Bemühungen um deren Rückgewinnung erweisen (A. Badiou, Paulus, a.a.O. [Anm. 13], bes. Kap. 5 und 6).

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giöse Zutat zur Welt“ abgibt 29 , aber sich unbedingt auf sie als seine Schöpfung bezieht, lässt er uns alle Phänomene anders sehen: nicht neue Supplemente der Immanenz, sondern das Immanente absolut neu. Und sofern wir Menschen ‚immanent‘ sind (aber nicht ‚unbedingt‘ bleiben), gehören wir selbst zu diesem neu Gesehenen, weil Gott als Ereignis der Sprache nicht nur Antwort ist, sondern uns selbst – in unserer Fraglichkeit – zur Frage wird. 30 Deshalb kann einer Theologie der Kultur nicht nur dieses oder jenes, sondern alles zum Gegenstand werden – das aber in einer Zeit, in der nicht nur die Selbstverständlichkeit vormaliger Antworten vergangen ist, sondern selbst die ihnen vorausliegenden Fragen zu erodieren beginnen. Eben dies ist das Phänomen, auf welches Tillichs Methode der Korrelation und wohl auch Gadamers Dialektik von Frage und Antwort reagieren, um in einer Kultur der Frage das Fragen nicht sein zu lassen. Tut man es dennoch, dann hoffentlich nur mit den allerbesten Gründen – dann nämlich, wenn sich das ‚Selbstverständliche‘ ganz neu einzustellen vermag; Bultmann nannte dies „die eschatologische Situation“, der Glaube nennt es – Freude.

29 G. Ebeling, Vom Gebet. Predigten über das Unser-Vater, Tübingen 1963, 91. 30 Vgl. E. Fuchs, Was ist existentiale Interpretation? A, in: Ders., Zum hermeneutischen Problem in der Theologie, a.a.O. (Anm. 21), 65-90. 68. 70. Dazu W. Harnisch, Freude an der Liebe. Skizze zu einem Portrait des Theologen Ernst Fuchs, in: Berliner Theologische Zeitschrift 4, 1987, 252-268, bes. 259 f.

Tillich’s Theology of Culture in the United States: Present and Possible Future Impact MARY ANN STENGER The challenge of plurality and diversity in American religion and culture provides the overarching theme for exploring the applicability of Tillich’s theology of culture to the American context. Within that challenge are underlying epistemological, social, ethical, aesthetic and religious issues. Following Tillich’s model of considering examples from several areas of culture, 1 I assess to what extent Tillich’s theology of culture can contribute to issues of knowledge, ethics, visual culture, technology, and spirituality. Overall, I argue that American theology needs insights from Tillich’s theology of culture, especially his critical principles, but American culture presents difficulties for making those insights accessible and compelling.

1. Setting the American Context One of the mottoes on the official Seal of the United States is E pluribus unum, out of many, one. While the initial significance of the phrase may have been many states becoming one nation, its ongoing meaning has included out of many peoples, one nation. Or, with focus on religion, we can speak of people of diverse faiths living as one nation. The motto communicates an ideal, not a description of easy acceptance of diverse peoples as equal citizens in one nation. My personal view is that the United States is an ongoing political and cultural experiment that tries to hold together people of diverse religions, races, ethnicities, social classes, political ideologies, and educational backgrounds. Tillich recognized some of the challenges of the American plural religious context, contrasting that to his earlier experiences of a shared Continental European philosophical and 1

P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture (1919), in: Id., What Is Religion? trans. and ed. by J. L. Adams, New York 1969, 168-175. P. Tillich, The Religious Situation (1926), trans. by H. Richard Niebuhr, New York 1932.

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Protestant religious context. 2 Given the lasting impact of that European heritage in Tillich’s theology, in spite of his many decades in the United States, I question to what extent Tillich’s theology of culture can be effective in addressing contemporary issues in American culture. I will argue that the most needed aspects of his theology of culture are his ever-present critique of absolutisms, his grounding of theology and ethics in directedness toward ultimacy, and his appreciation for the religious dimensions of secular culture, as applied to visual culture. In 2008 The Pew Forum on Religion and Public Life published an extensive survey of religious affiliation, followed by a survey of American religious beliefs, practices, and social-political views. 3 While 78.4% are Christian, just over half of those are Protestant, with roughly 24% Roman Catholic. The 51% Protestant includes a wide range of affiliations, ranging from Episcopalians to Methodists to Presbyterians to Lutherans to evangelical megachurches and numerous Black churches. Just over 16% indicate no religious affiliation while Jews, Buddhists, Muslims, Hindus, and other religious groups make up just 4.7% of the population. Although the vast majority identify with some form of Christianity, still many will regularly encounter non-Christians, either not religiously affiliated or belonging to another religious community. These encounters occur not only in urban areas or on the east and west coasts but also in many smaller towns in middle America – in local schools or shops or doctors’ offices or hospitals. Media portrayals accentuate this diversity, contributing to greater understanding as well as increased misunderstandings. Whether Americans experience such religious plurality as threatening to their own religious values and identities or as liberating personal limits or somewhere in between, they do feel and think responses. And, of course, these responses to plurality are themselves plural.

2 3

P. Tillich, The Conquest of Intellectual Provincialism: Europe and America (1953), in: Id., Theology of Culture, Oxford 1959, 159-176. The Pew Forum on Religion and Public Life, U.S. Religious Landscape Survey: Report 1: Religious Affiliation (February, 2008); Report 2: Religious Beliefs and Practices/Social and Political Views (June, 2008). http://religions.pewforum.org/ reports.

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2. Using Tillich’s Theology of Culture to Respond to American Relativism and Absolutism 2.1 Relativism In the midst of such plurality, relativism looms as a threat, especially to religious faith that many believe rests on God-given absolutes. Sociologist and social theorist Peter Berger has argued that plurality leads to a “crisis of credibility” 4 . In the face of plurality, people can doubt religious truths readily accepted in a more monolithic context. Awareness of a great variety of religious options can leave people with a wide-open relativism. But as attractive as many young people find the relativist answer of “to each, his or her own”, the problem of grounding one’s own beliefs and practices remains. Where can one find certainty, especially religious certainty? Tillich sought certainty, as is evident throughout his writings, from his 1911 essay on Christian certainty and the historical Jesus 5 to the 1965 lectures published posthumously as My Search for Absolutes. 6 Although Tillich’s discussions of doubt arise more from the issue of faith and reason than from the plurality of religious truths, he connects doubt to the broader cultural issue of the split between religious and more secular cultural life. He asks how one can find truth both in Christian faith and in the cultural arts, philosophies, and politics. In his 1919 essay on Justification and Doubt 7 , Tillich directly connects the issue of faith and doubt to the split between religion and culture. And his 1919 lecture On the Idea of a Theology of Culture offers a theology intended to overcome that split. Both of these writings suggest an approach for addressing both doubt and relativism that can be applied, at least partially, to contemporary American religious plurality.

4 5 6 7

P. Berger, The Sacred Canopy: Elements of a Sociological Theory of Religion, New York, 1967, 127. P. Tillich, Die christliche Gewissheit und der historische Jesus (1911), MW VI, 21-37. P. Tillich, My Search for Absolutes, ed. by R. N. Anshen, New York 1969. Paul Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, (English: Justification and Doubt [1919]), in: E. Sturm (Ed.), Religion, Kultur, Gesellschaft: Unveröffentlichte Texte aus der Deutschen Zeit (1908-1933), Berlin 1999, 127-230 (includes both the 1919 and 1924 essays). Robert Scharlemann translated the 1919 essay into English (available in the Harvard Archives).

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For Tillich, the unifying point, between faith and reason, between religion and culture, is the Unconditional. He grounds his understanding of the Unconditional on the experience of ultimacy breaking through doubt in a moment of justification that can also come through cultural objects and movements. 8 Tillich is convinced both of the participation of the Unconditional in all that is and of humanity’s directedness toward that Unconditional. In the 1919 lecture he defines religion as “directedness toward the Unconditional”, what he later names “ultimate concern”. 9 The Unconditional or ultimate is the centerpiece of Tillich’s answer to the problem of relativism. He then connects the Unconditional to his understanding of the development of theological norms and to the absolute paradox as a criterion of truth. A theological norm actualizes the abstract understanding of absoluteness as the goal of truth (directedness toward the Unconditional) through a universal principle or form with the individual standpoint of the thinker for a concrete situation. 10 Tillich calls attention to the standpoint of a systematic thinker and to her or his embeddedness both in the particular historical moment and in a cultural circle, with roots in the past and direction toward new possibilities. 11 To the extent that one emphasizes the impact of the particular historical moment on theology and the intellectual freedom of the theologian in that moment, relativism seems inevitable. But Tillich balances that with the recognition that the theologian works within a particular religiouscultural circle which holds the authority of more universal principles from past theologies and calls for new ideas that address the present situation while still carrying forward the universal principles. 12 That direction toward the universal addresses relativism by working with principles that transcend the particular historical-cultural moment. These principles themselves are not absolute, but their applicability across some historical peri-

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Ibid; also see: P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 161-162. 9 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 162. Also see: P. Tillich, Aspects of a Religious Analysis of Culture (1956), in: Id., Theology of Culture, op. cit. (note 2), 40. 10 P. Tillich, Justification and Doubt, op. cit. (note 7), 4. P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 156. Also see: P. Tillich, The Philosophy of Religion (1925), in: Id., What Is Religion?, op. cit. (note 1), 46. 11 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 155-156. 12 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 156.

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ods and cultures makes them more universal than characteristics peculiar to any one of those historical times or cultures. The universal principles not only cross history and cultures but also are directed toward unconditioned truth. 13 This direction toward the universally valid and toward unconditioned truth helps Tillich avoid a pure relativism, but his understanding that all concrete contents are finite and relative to cultural-historical context and to the individual standpoint of the thinker maintains a broad relativism. Such an approach is often attractive to more liberal theologians but is seen as far too relativist for most conservative religious people. In a reflection on differences between the European intellectual context and the American religious world, he comments on his surprise in encountering “world-wide horizons” of American Protestantism, an ecumenical point of view, and interactions with representatives of the world religions. He describes these encounters with religious plurality as ones of “discussion, competition, and teamwork” 14 , but he also notes the danger that America might fall into a spiritual provincialism, focusing more on the “American way of life” than on its openness to others. 15 Unfortunately, today, this sounds prophetic, as the loud religious voices suggest a growing religious and cultural provincialism. Too many people appear to find comfort in their own religious circles, defining all those outside their circle as living in falsehood, as people to be feared, isolated, and rejected. But Tillich’s description of the normative dimension of theology along with his understanding of religion offer another possibility. Individuals who regularly encounter religious plurality can create a new norm, still working within their own circle but responding to the religious quality of other faiths. Tillich’s definition of religion as “directedness toward the Unconditional” 16 enables a recognition of religious similarity among the plural expressions of religion. But the operative word here is “enables”.

13 P. Tillich, The Philosophy of Religion, op. cit. (note 10), 57. On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 156. Also see: P. Tillich, Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (1923), GW I, 217. 14 P. Tillich, The Conquest of Intellectual Provincialism: Europe and America, op. cit. (note 2), 169-170. 15 P. Tillich, The Conquest of Intellectual Provincialism: Europe and America, op. cit. (note 2), 176. 16 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 162.

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Even when people work to develop such a new norm, they must confront the need to distinguish among the many religious options. Here, Tillich’s proposal of the absolute paradox can be helpful, especially when connected to his critique of absolutizing the finite. In the 1919 Justification and Doubt, Tillich connects the absolute paradox to the Apostle Paul’s theology of justification by faith alone. 17 The absolute paradox, as the unity of the Unconditioned and conditioned, holds together simultaneously the Yes of the Unconditioned and the No to the conditioned. 18 One always experiences this through concrete things: The depth of the Unconditioned Yes coming through cultural objects and events with the simultaneous No to every thing as finite and conditioned; 19 the paradoxical character of religious experience; 20 the symbol of the Cross of Christ; 21 the experience of the God above the God of theism, 22 and more. Tillich’s formal discussions of these examples may be too abstract for many people, even for some theologians, but his applications of the absolute paradox in the Protestant Principle and the critique of idolatry open up its meaning. My way of stating Tillich’s criterion more generally is that “a true expression of ultimacy must include a denial of its own ultimacy” 23 . People can acknowledge the ultimacy they experience through things and events, but they also need to see the finite, conditioned character of these objects and events. And people claiming absoluteness for their own truths should also deny that absoluteness. Of course, there is the catch. Selfcritique, or more strongly self-negation, is difficult for most people and impossible for others. Still, this criterion can be helpful in evaluating absolutists and in encouraging more modest claims. When we consider those who would not be open to a new norm in the midst of plurality and who prefer a more closed approach, we see the challenge in applying Tillich’s ideas broadly. While Tillich believes that all humans have directedness toward ultimacy, most of the people who see religious truth only within their own religious circle would not accept his broad definition of religion or his affirmation of all people as having an 17 18 19 20 21 22 23

P. Tillich, Justification and Doubt, op. cit. (note 7), 5. P. Tillich, Justification and Doubt, op. cit. (note 7), 23. P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 162. P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 163. P. Tillich, Dynamics of Faith, New York 1957, 97. P. Tillich, The Courage to Be, New Haven 1952, 187. 190. M. A. Stenger, Paul Tillich’s Theory of Theological Norms and the Problems of Relativism and Subjectivism, in: The Journal of Religion 62, 1982, 374.

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underlying directedness toward the Unconditional. Both the religious fundamentalists and the atheist or agnostic fundamentalists would disagree with Tillich. His argument may appeal to more liberal thinkers who already have an openness to plurality, but most religious fundamentalists have rejected or ignored Tillich’s theology as insufficiently literalist in reading the Bible, 24 and most non-believers resent and resist the description of “religious” for their positions. The criterion against absolutizing anything finite warns us of the dangerous side of the experience of the Unconditional. But issuing such a warning has little result, as neither side of the fundamentalist responses to plurality would accept it. Religious fundamentalists recognize that they treat texts, doctrines and/or leaders as absolute, but since they are convinced that God endorses that response, they would reject the label of ‘idolaters’. More secular fundamentalists reject the idea of the absolute and do not see the absolutist character of their ideas or actions. They see themselves as more open-minded than they actually are. Thus, any public intellectual who tries to bring out the idolatry and absolutism in the two sides might receive agreement from moderate-thinking people, but the two extremes would accept the description only for their opposite, not for themselves. With respect to relativism, then, Tillich’s broad understanding of religion rooted in deep experience of the Unconditional, along with his understanding of the process for creating theological norms, and his use of the absolute paradox as a criterion against absolutizing the finite, provide his “answer”. But in the midst of religious plurality, we see not only relativism but also strong expressions of dualism, of us versus them. I move now to analyze the extent to which Tillich’s theology of culture offers us help in addressing that dualism. 2.2 Dualism As dualist thinking penetrates so much of Western philosophy and Christianity, it is not surprising that it flourishes among American fundamentalists of both the religious and secular sides. This opposition of religious versus secular fueled Tillich’s endeavor to overcome their split by showing 24 M. A. Stenger, Fundamentalist and Evangelical Responses to Tillich and Barth, paper delivered for the Association Paul Tillich d’expression française in Paris, France 16 May 2009.

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their underlying unity. His theology of culture, sometimes described by him as his apologetic theology, clearly had that purpose. Here, I explore to what extent Tillich’s theology of culture can be helpful in dealing with the dualisms operating in fundamentalist approaches and in projecting a more constructive way to move beyond the dualisms. Certainly, Tillich saw his theology of culture as a way to address the dualisms of his own time. In the 1919 lecture, he speaks of “the great cultural conflicts between church and state, between the religious community and society, between art and cultic form, between science and dogma” as conflicts operating throughout the modern era. 25 In other writings, he addresses the seeming opposition of faith and reason that underlie several of the conflicts he names. 26 With perhaps the exception of the conflict between art and cultic form, we still see these same conflicts operating within American culture and politics. Within American culture, one can trace the roots of cultural dualism to the eighteenth century which manifested on one side a deeply religious fervor and commitment and on the other side, a strong emphasis on reason. Historian George Marsden, in a lecture at the University of Louisville in 2005, used the figures of Jonathan Edwards and Benjamin Franklin to illustrate this divide. More popular writer Garry Wills, in Head and Heart 27 has made a parallel argument about contrasting Christianities in the United States. That creationism and young earth theory still draw a huge following in the U.S., rejecting the theory of evolution that supports modern biology and that continues to receive support from excavations in the U.S. and elsewhere, exemplifies the conflict between science and dogma active today. And in spite of the constitutional roots for separation of church and state, for not allowing government to establish any one religion, people still push for tax-supported displays of Christian teachings and symbols (Ten Commandments and nativity displays) and for legal enforcement of so-called Christian moral views, such as no same sex marriage. Conflicts between church and state and between religious community and society are alive and well in American life. The heteronomy of

25 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 161. 26 In addition to the two versions of Rechtfertigung und Zweifel and Philosophy of Religion, referenced earlier, both the 1913 Systematische Theologie (EW IX, 273434 and Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie (GW I, 367-388) include analysis of the relationship of faith and reason. 27 G. Wills, Head and Heart: American Christianities, New York 2007.

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religion for fundamentalists wins out over the autonomy of reason while for secularists the autonomy of reason leaves little place for religion. For Tillich, the solution to such dualist conflicts rests in a theonomous understanding of all spheres of culture, rooted in his definition of religion as “directedness toward the Unconditional”. Only in concrete life does unconditional reality show itself, manifesting both Yes and No to everything. 28 Tillich states that the Unconditional “is above all beings which at the same time is the absolute Nothing and the absolute Something” 29 . But lest that sound like still another description of a supreme reality, Tillich clarifies that he means a “reality of meaning […] which shakes the foundation of all things and builds them up anew” 30 . That paradoxical characterization of ultimacy, for Tillich, stems from a theonomous “fundamental religious experience” 31 . The Unconditional has a dynamic quality, holding the tension of Yes and No, of affirming unconditional presence and negating attachment of unconditionality to any finite reality. Herein lies the brilliance of Tillich’s understanding and yet also the challenge of ever conveying such an understanding outside the academic community. He can claim that this understanding overcomes the conflict between dogma and science, giving science its full autonomy, grounding all religiously, and yet ruling out any heteronomous domination of science by religion. 32 And his view eliminates (or at least no longer requires) “specifically religious spheres of culture,” as they “have in principle ceased to exist” 33 . But as he recognized, such spheres are real, and he needs to address their significance, as he does in the last section of that lecture. In “principle” and in “reality” are not the same, and the challenge of moving the traditional religious spheres of culture in the direction of Tillich’s theology of culture remains as a task before us. Tillich’s central hypothesis in his theology of culture proposes that “the autonomy of cultural functions is grounded in their form, in the laws governing their application, whereas theonomy is grounded in their substance or import, that is, in the reality which by these laws receives its 28 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 162. 29 Ibid. 30 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 163, emphasis mine. 31 Ibid. 32 Ibid. 33 Ibid.

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expression or accomplishment” 34 . Or, more succinctly stated: Religion is the substance of culture, and culture is the form of religion, where religion is understood as ultimate concern 35 or, as in the 1919 formulation, direction toward the Unconditional. (As a parenthesis, I note that the English “ultimate concern” usually loses the dynamic connotation conveyed in direction toward the Unconditional. Far too often, Tillich’s understanding of ultimacy is read as static [see Mark C. Taylor on this36 ] and thereby losing especially the disruptive, critical quality that prevents idolatry.) By holding together form and substance, or form and import, in any reality, Tillich keeps the paradoxical structure and dynamic tension that he sees overcoming the dualist conflicts. He then images the relationship of form and import on a line between two poles, with one pole representing “pure form and the other pole pure import. Along the line itself, however the two are always in unity” 37 . The revelation expressed in the import “shatters the form meant to contain it” with the shattering itself still form. 38 That shattering of form is how the import breaks through, revealing unconditional meaning in the midst of the finite. Tillich is clear that this unconditional meaning is different from content, as all content is conditional. So also the form mediating unconditional meaning remains conditional. 39 “Substance or import is grasped by means of a form and given expression in a content.” 40 One major part of theology of culture, then, is producing “a general religious analysis of all cultural creations” 41 that shows the import or substance in which “the religious reality appears with its Yes and No to all things” 42 . By focusing on the “substantial unity of the substance [import] finding expression” in cultural phenomena, the theologian of culture can, Tillich argues, help “to bring about the unity of culture” 43 , with the underlying unity of the Unconditional grounding the unity of culture. The theologian of culture has the task to express and show the unity of the Unconditional that breaks through all forms of cul34 35 36 37 38 39 40 41 42 43

P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 164. P. Tillich, Aspects of a Religious Analysis of Culture, op. cit. (note 9), 42. M. C. Taylor, After God, Chicago, 2007, 36. P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 164. Ibid. P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 165. Ibid. Ibid. P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 166. P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 168.

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ture, whether avowedly secular or traditionally religious. Tillich envisions the theology of culture as a “cultural synthesis” that can overcome the dualist conflicts apparent in culture. The opposition between religion and culture is overcome by a “design for a religious system of culture” 44 . More specifically, he envisions “a science religious in itself”, “an art religious in itself”, and “a type of state religious in itself, etc” 45 . In other words, the theology of culture analyzes culture in a way that shows the religious import breaking through both as the Yes of participation and presence and as the No shattering finite forms and traditional contents, thereby preventing absolutization of any particular form or content. Tillich’s examples in the 1919 lecture clarify the paradoxical tension of Yes and No in the Unconditional import. Thus, the underlying unity of the Unconditional import holds together the duality that unfortunately most people usually split in their dualist interpretations of cultural objects and cultural movements. However, the question still remains about how effective such a theology of culture will be outside liberal academic discussions. Also, what if one sees no such import or others think they “own” it over against another group. That we need a mediating bridge between the two sides of various dualisms is clear. And, Tillich’s proposal of ultimacy along with his image of polarities as offering a way to think of the oppositions as finally unified is compelling for some of us. Although not overtly relying on Tillich, American theologian Mark C. Taylor offers a somewhat similar analysis of the opposition between what he calls “religionists” and “secularists” in his 2007 theology of culture, After God. There he argues that they are “mirror images of each other who share more than they are willing to admit” 46 . Like Tillich, Taylor criticizes both groups for employing an “exclusive logic of either/or” and argues that neither side recognizes that “secularity is a religious phenomenon” 47 . While part of Taylor’s argument for that identification rests on the historical events and movements that engendered increased secularity, he also offers a post-theistic understanding of “the divine” that can move beyond oppositions and dualisms, albeit with key differences from Tillich’s theology. Still, it is interesting to note the parallels of their seeing the 44 45 46 47

Ibid. Ibid. M. C. Taylor, After God, op. cit. (note 36), 132. Ibid.

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secular as religious, holding a post-theistic view of ultimacy that can move beyond dualisms, and understanding such ultimacy as both affirming and negating activity (Taylor’s terms are figuring and disfiguring). Perhaps, when one takes finitude seriously and sees all absolutist claims and content as subject to doubt and critique, then all that is left is meaning (unconditional, for Tillich; the divine, for Taylor) that manifests in and through the concrete world and yet pulls one beyond present reality. Taylor like Tillich will be read by academic theologians, but there is real question whether today secular intellectuals would pay any attention. One irony is that Tillich’s theology of culture, especially in its German period, was addressed to non-religious people, perhaps even more than to churched people. Yet, both sides in Germany shared a cultural-religious base that is not fully present in the United States today. In the American context, the split between religious fundamentalists and secular fundamentalists, often exacerbated by media attention to both extremes, has made discussion of religion with more liberal non-religiously connected persons quite difficult and often impossible. One can use Tillich’s criterion against idolatry to critique the absolutism implicit in both types of fundamentalists, but again that appeals primarily to open-minded intellectuals. These opposing responses to religious plurality not only raise epistemological and theological issues but also ethical issues, to which we now turn.

3. Ethical Issues Arising in Responses to Religious Plurality One effect of dualist responses to religious plurality is the creation of the “other”, an identification that excludes those holding views one opposes. A danger of such exclusion is that people can justify negative treatment of those outside their group, sometimes demonizing them or denying their human rights or enacting violence against them. In the U.S., this usually happens in the form of political efforts to pass laws that treat one group differently than another. Most recent examples stem from religious and political conservatives, such as opposition to “fairness” legislation that would eliminate discrimination against gays and lesbians in employment, housing, marriage status, and access to businesses. Another example is the increasing Islamophobia that targets Muslims as aliens and works to increase fear of Muslims. That the forces fostering such fear are increasingly successful can be seen in reversals of decisions by local city councils and

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zoning boards related to the location of mosques and Islamic cultural centers. While secular liberals generally do not try to pass laws that deny rights to religious conservatives or fundamentalists, these religious groups often perceive efforts to enforce the non-establishment of any one religion as threatening their religious freedom. Fundamentalists see denial of prayer in schools or court rulings that require removal of a monument with the Ten Commandments as secular infringement on their religious faith and activities. Denying equal rights to others is a form of injustice that dehumanizes or demonizes the other. When people ground such injustice in their own religious views, they exemplify religious heteronomy. Secular atheists that want to deny rights to religious people also show heteronomy; the irony on the secular side is that leaders invoke autonomy but sometimes turn it against others in a heteronomous way. In either case, the heteronomy fosters injustice that deepens the split between the two sides, in each case strengthening the opposition toward the other and sometimes fostering a desire to return the injustice to the other side. Tillich’s discussion of ethics in his 1919 lecture highlights both an ethic for individuals beyond ordinary understandings of good and evil and theonomous ethics for society. With respect to individuals, Tillich analyzes Nietzsche’s approach as championing an ethics of grace over an ethics of virtue and suggests parallels with Jesus’ fight against the Pharisees and Luther’s against Rome. 48 Tillich’s understanding of import or substance breaking through form grounds this interpretation of Nietzsche. What Tillich sees in this ethic is a shattering of individual morality that then opens up a more authentic way of being a full human person, freed from the limitations of the traditional moral forms. 49 It is notable that Tillich extols this “impious” and morally “worse” person, without addressing possible negative, destructive consequences as well as the positive, constructive results he envisions. Similarly, Tillich’s discussion of social ethics in that 1919 lecture comes across as amazingly romantic and optimistic when he speaks of “the new mysticism of love now stirring everywhere” 50 . He sees the culture surrounding him in Germany, especially in Berlin, as showing theono48 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 171. 49 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 172. 50 Ibid.

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mous possibilities that overcome both a Kantian kind of individual autonomy and the heteronomy of a religiously-identified community of love, presumably the church. 51 From Rilke to Tolstoy to the idealistic political speeches of socialists and communists, Tillich sees universal, cosmic love that affirms everything real breaking in and overcoming the limits of autonomous or heteronomous forms. As inspiring as this vision may be, we cannot help but ask the practical question of how realistic it is. In spite of all Tillich writes about the demonic and the dangers implicit in utopia, absolutism, and idolatry, he never loses this optimism rooted in a mysticism of love. One sees it especially in his discussion of love in Love, Power, and Justice 52 and in his sermon entitled Love is Stronger Than Death. 53 Both in early and later writings, 54 Tillich sees the Christian ethic of love made concrete in justice as requiring a move that takes the individual (and also, sometimes society) beyond the usual understandings of what is good and just. The move deepens the individual’s humanity and broadens society’s justice. But the question here is how applicable can this view of individual and social ethics be for American culture and particularly for the dualist extremes described earlier. First, many Americans are seeking something that can break through the current impasse that pits one political side against its opposite and resists compromise. Many want compromise rather than the heteronomous approaches of conservative Christians or secular liberals. Tillich’s analysis suggests that what America needs is a breakthrough, a shattering of forms, an experience of deeper import that challenges existing structures. But unfortunately, the loudest religious political voices evoke God’s authority for their heteronomous approaches. Perhaps, just as the religious socialist group that Tillich belonged to had little political effect, so also moderate thinkers that can envision theonomous ethics are seldom heard outside the academic world. Moreover, even the word “socialist” generally has a negative effect in the United States. So while several religious academics invoke elements of 51 52 53 54

Ibid. P. Tillich, Love, Power, and Justice, New York 1954. P. Tillich, The New Being, New York 1955, 170-174. Examples can be found in his writings on religious socialism, such as Basic Principles of Religious Socialism, Political Expectation, ed. by J. L. Adams, New York 1971, 82. 86. 88 and The Socialist Decision, translated by F. Sherman, New York 1977, 105-106, as well as in Love, Power, and Justice, op. cit. (note 52), 63-64. 66. 71.

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Tillich’s religious socialist thought (Mark C. Taylor, Ronald H. Stone, and more), to receive wider acceptance, the theory must be expressed in different political terms. A survey of Tillich’s writings after he came to the United States shows that he had little to say about politics although addressing a wide variety of cultural issues. The analysis Tillich could provide in Germany relied on his upbringing, his experiences in the war, his knowledge of political movements developing in post-war Germany, and his political discussions with German intellectuals. Without similar roots in the U.S., Tillich wisely avoided transferring directly his German political ideas to the United States. Still, the humanist dimension of Tillich’s ethics and politics offers insights that we need in analyzing present American culture and politics. What I mean by the humanist dimension is Tillich’s understanding of humans, both his ontological grounding of the equality of all humans and his awareness of human finitude and estrangement. But even here, we have to adapt Tillich’s language for American ears. While I think we need the kind of ontological grounding of equality and justice that Tillich’s analysis provides, I have to admit that fewer people understand or respond to language about being. Tillich’s analysis of life and Spirit in the third volume of the Systematic Theology may be more effective, but even there one would have to explain his ontological understanding of life in different terms. When we shift to issues of finitude and estrangement, once again, we need to change the language. While the terms “sin” and “evil” still resonate with Americans, far too often their application is to others, not to oneself or one’s group. It is much easier to focus on individual “sins” that do not apply to oneself than to recognize one’s participation in structures that foster injustice. One can condemn homosexual activity when one is not homosexual; one can condemn abortion when the need for it seems inapplicable to one’s own life; and so forth. The challenge is to find language that not only speaks about our complicity in injustice and evil but that also speaks of the reuniting love and creative justice that Tillich describes. As with the issues of relativism and dualism, Tillich’s theology of culture offers insights for ethical issues arising in the context of religious plurality. But the challenge is to state those insights in terms that people can understand readily and that can be heard over the “noise” of the cultural conflicts.

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I turn now from the epistemological and ethical to the aesthetic and technological areas of culture that Tillich’s theology of culture also addressed. I will discuss the extent to which his theology can provide insights to these areas by considering applications to the intersections of visual culture, technology, and popular culture.

4. Visual Culture, Technology, and Popular Culture Tillich’s appreciation of art and his religious interpretations of art and architecture provide a starting point for considering contemporary visual culture. But as Tillich mostly addresses high culture, we have to extrapolate from his discussion to consider the broader area of visual culture. Popular culture was not a usual subject for Tillich’s analysis, as Kelton Cobb has pointed out so aptly, 55 but in recent years, it has become an object of increasing scholarly analysis. Tillich also analyzes technology in relation to many areas of culture, usually seeing the technology as neutral, 56 with evaluation of technology stemming from its various uses. While he argues that normally technology arises from economic necessity, he does see the possibility of occasional almost pure technical creativity not so tied economically. Here, his example is the invention of flying. I cannot help but wonder whether today he might not include the invention of the Internet as fitting that category of more pure technical creativity. 4.1 Visual Culture For Tillich, art, particularly Expressionist painting, offers a reading of culture parallel to his own. He experienced religious import breaking through Expressionist works, especially in the breaking or distorting of traditional forms of objects and events. 57 In the 1919 lecture, he argues that both the Yes toward life and the No toward traditional forms in these paintings exhibit religious meaning. 58 This claim of religious meaning 55 K. Cobb, Reconsidering the Status of Popular Culture in Tillich’s Theology of Culture, in: Journal of the American Academy of Religion 63, 1995, 53-84. 56 P. Tillich, The Logos and Mythos of Technology, in: Id., The Spiritual Situation in Our Technical Society, ed. by J. Mark Thomas, Macon 1988, 58. 57 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 169. 58 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 169-170.

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received corroboration from the Expressionist artists in their discussions of philosophy and religion in relation to their works. 59 In later writings, Tillich argues that all art is religious, whether found in religiously identified settings or in more secular objects. In 1921, he states: “All art is religious […] because all art expresses a depth-content, a position toward the Unconditional.” 60 The criterion for positive evaluation is whether the import can come through the art rather than destroy the symbolic meanings as can happen when religious subjects are objectified. 61 He envisions art that symbolizes humanity in relation to the Unconditional, capturing both the positive and negative aspects of humans but seeing them as directed beyond themselves. 62 For Tillich, this “future” symbolism will offer not just new form to old symbols but give new life to symbols through “a new revelation of the Unconditional” 63 . In three lectures on Art and Society given in 1952 at the Minneapolis School of Art, Tillich reiterates that all art is religious and adds that this is true even when the art expresses emptiness. 64 He considers several different “levels” of art, including very secular, even “semifrivolous” art, and argues that all can express religious meaning. Symbols enable religious expression in art because they participate in what they symbolize, have the power to reveal something beyond the ordinary, and can open up the viewer’s soul. 65 He advises the art students to be open to the depths of reality entering their hearts that empowers their creativity and encourages them to work with “living” symbols that they can express in new forms. 66 But some years later, Tillich questions whether a work of contemporary art can express religious import. In an outline handwritten in 1964 on Religion and Art in Contemporary Development, he asks: “Is it imaginable today to find the grace of life in a work of art?” He leaves it almost as an open question, as he continues, “We cannot force it, as we cannot force 59 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 170. 60 P. Tillich, Religious Style and Religious Material in the Fine Arts, in: Id., On Art and Architecture, ed. by John Dillenberger and Jane Dillenberger, New York 1987, 52. 61 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 55. 62 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 56. 63 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 57. 64 P. Tillich, Art and Society, in: Id., On Art and Architecture, op. cit. (note 60), 33. 40. 65 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 37. 66 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 41.

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the resurrection of the God who died or the return of the God who became absent. Artist and grace. Has the revelation of grace perhaps taken refuge in other realms? (social?)”. And then comes the conclusion, the paradoxical answer: “The grace of life in a graceless world”, the paradox that he sees artists as witnessing and expressing. 67 In 1965, Tillich gave a lecture on Religious Dimensions of Contemporary Art at the University of Santa Barbara, most likely his last lecture on art. And as earlier, he recognizes the paradox in contemporary art, suggesting the description of it as “the art of nonart”, thereby making a parallel with then-contemporary theology that tried to “speak of God without speaking of God” 68 . He recognizes that the world of 1965 is far different from the world of his youth and contrasts the “wonderful fixed world of the years before 1900” with the present time where old categories no longer work. 69 Yet he looks to the younger generation whom he believes see contemporary art as more adequate to their world, with its sciences and technologies. He concludes: “From the standpoint of the religious dimension of reality, let it be that way, because this period of history and the changes in which we find ourselves are a manifestation of the inexhaustible character of the creative ground of all reality.” 70

Once again, Tillich affirms hope for the future, rooted in the unconditional, with its creative, inexhaustible power for new possibilities. If we turn from Tillich to approaches in contemporary studies of visual culture, we notice two main differences: 1) these scholars understand visual culture to include much more than high art, with any image usable for cultural analysis and 2) many are interested in the function of images, analyzing how people use images to construct and maintain their social and cultural worlds. 71 One question is how workable are Tillich’s analyses of high art in analyzing all types of examples of visual culture. And the second question is how well Tillich’s analysis of import breaking through fits with the contemporary, more functional approach. 67 P. Tillich, Religion and Art in the Light of the Contemporary Development, in: Id., On Art and Architecture, op. cit. (note 60), 170. 68 P. Tillich, Religious Dimensions of Contemporary Art, in: Id., On Art and Architecture, op. cit. (note 60), 182. 69 Ibid. 70 P. Tillich, Religious Dimensions of Contemporary Art, op. cit. (note 68), 183. 71 D. Morgan, The Sacred Gaze: Religious Visual Culture in Theory and Practice, Berkeley, Los Angeles, London 2005, 25. 29. 33-34.

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Although Tillich focused on high art, his reference to semifrivolous art as capable of expressing religious import suggests some openness to applying his categories to more popular visual culture. His parallel of the art of nonart with death of God theology that speaks of God without speaking of God also suggests a very broad application of his view of art as religious. One might say that art is religious even when not being religious. So we can say that Tillich’s analyses of high art can work with many types of art. But the question remains whether they could apply to visual culture that is not high art. Put more directly, can religious import break through kitsch? Visual culture scholar James Elkins relates the story of visiting a church in Italy that had numerous “high art” paintings and sculptures. He noticed that a crowd of townspeople gathered in front of an altar that had a cheap, Holiday Inn-style painting and a plastic baby-doll Jesus draped with Christmas lights. Less than twenty feet away was one of the masterpieces of Western art, supposedly full of noble and uplifting religious feeling. In both chapels the Christ Child glowed with the light of the new Sun: In the ‘unimportant’ painting, his body was mysteriously luminescent, and it cast a daunting cold light on Mary and Joseph. The plastic doll in the other chapel had a bulb inside it that made it look like a tacky novelty light. […] the worshipers ignored the painting as completely as the tourists ignored the plastic doll.” 72 Elkins asks how he can understand people who would rather worship a plastic doll lit with a light bulb than the image in the great art. Can Tillich’s analysis answer his question? I think the answer is ‘yes’ although I am uncomfortable with applying Tillich to seemingly trivial or low-level cultural things. I suspect Tillich would have been as horrified as Elkins at the lit-up doll. But clearly the worshipers were experiencing something deeper than a plastic doll; for them, religious meaning came through that tacky display. The symbol worked for them, even if it did not for Elkins. I really doubt that Tillich would make such an application himself, especially given some of his off-hand negative comments about kitsch. But his understanding of the participation of the Unconditioned in everything that is means that people can experience that ultimacy coming through anything. Tillich’s analysis of religious meaning in culture allows for application to popular culture, even if he would have had reservations about such 72 J. Elkins, The Object States Back: On the Nature of Seeing, in: S. Brent Plate (Ed.), Religion, Art, and Visual Culture, New York 2002, 44-45.

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an application. This issue is important to analyzing American popular religious art, as over the last few decades, there has been a multiplication of religious kitsch – ranging from WWJD (What would Jesus do?) bracelets to small plastic images of Jesus playing various sports to T-shirts with Jesus as a hipster, and more. Because Tillich’s theology could be applied to popular culture, I fully expected to find scholars of religious popular culture using Tillich’s framework as a major theory for addressing religious expression in secular phenomena. But for the most part, the favored framework used Mircea Eliade’s theory, focusing on sacred place, sacred time, and common religious symbols or another phenomenological approach looking at elements of ritual, dogma, community, ethics, etc. So, why not Tillich? My answer is that after one uses Tillich to acknowledge religious meaning coming through various examples of secular and popular culture, one might be uncomfortable with other aspects of Tillich’s theology. Yes, one can say there is religious import coming through, as evidenced in people’s behavior toward an object. But scholars turn to other theorists for analysis of structures and behavior in relation to popular culture. Tillich’s analyses work best with high art, especially to address the import coming through such works. His theory can help explain the religious dimension of popular responses, but scholars need other approaches in addition to Tillich for a fuller theological understanding of popular religious culture. Today, popular culture and visual culture intersect with technology – whether on television, through film, contemporary art, or the Internet. So I now consider to what extent Tillich’s analysis of technology is applicable. 4.2 Technology As indicated earlier, Tillich sees technology as basically neutral in relationship to ethical concerns. The ethical aspects stem from how people use the technology, not from the technology itself, Tillich argues. 73 But Tillich recognizes the ongoing process of technology, as people develop “new machines”. And he sees the transformative power of technology, as it changes people’s lives and social-cultural world. Still, that transformative power can be either creative or destructive, Tillich notes; thus, the chal-

73 P. Tillich, The Logos and Mythos of Technology, op. cit. (note 56), 58.

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lenge is to “incorporate technology into the ultimate meaning of life” while always recognizing that technology, like all of life, is ambiguous. 74 One side of that ambiguity for technology that Tillich often addresses is the possibility of technology dehumanizing and depersonalizing the people using it. When he addresses mass communication, he argues that people should fight neither against the technology of mass communication nor against its changing power for people. He states: “The technical development is irreversible and adjustment is necessary in every society, especially in a mass society.” 75 But then he suggests that individual persons can preserve themselves as persons “only by a partial nonparticipation in the objectifying structures of technical society”76 . The challenge is how and where. Tillich calls on the churches to counter the objectification of humans and to work for social justice, rooting their critiques in “the ultimate roots of personal being” and showing the importance of “a personal encounter with the ground of everything personal” that connects to the “New Reality that is manifest in Christ” 77 . Technology is a fact for Tillich, and here he sees the churches as a kind of refuge from its negative effects. I wonder what he would think of the increasing use of technology in churches, especially the megachurches with multiple screens, concertlike microphones and speakers, and stadium-style seating. But more pervasive than megachurches is the Internet. Can we apply Tillich’s theology of culture to that technology? I find it difficult, although not impossible, to think of import breaking through one’s experiences with the Internet. The best examples I can think of are those that bring beautiful images right before our eyes, with a couple of clicks: images of outer space in full color, technologically produced artistic images that provide a different way of seeing the world, or pulling up a magnificent work of fine art to view closely. Or, one might experience deep connection with another person, perhaps long apart from one’s life, made possible first by a social networking encounter. But, of course, for all the positive examples I might generate, I can also provide examples of horror and despair, of hateful uses of social networking, and so forth. For the Internet as with most popular culture, the element we need from Tillich’s theology is his analysis of the ambiguity of life, his recogni74 P. Tillich, The Logos and Mythos of Technology, op. cit. (note 56), 60. 75 P. Tillich, The Person in a Technical Society (1953), in: Id., The Spiritual Situation in Our Technical Society, op. cit. (note 56), 135. 76 Ibid. 77 P. Tillich, The Person in a Technical Society, op. cit. (note 75), 137.

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tion of both the creative and destructive uses of technology or other cultural objects. In the end, this critical perspective stems only in part from his theology of culture; its roots rest on his ontology of the presence of both the essential and existential in life, of positive, idealized, and sometimes ecstatic moments intermixed with estrangement (ST, III). But, as before, the challenge is to express these ideas in contemporary language and to communicate the depth of analysis Tillich offers to a culture where living in the moment or on the surface appears more likely than deep commitment. To what extent technology has contributed to this surface approach requires more analysis by sociologists and psychologists, as well as reflection by theologians. But this surface approach shows up in religious areas that connect only partially with technology. I turn now to considering the shift to “spirituality” away from religion.

5. Spirituality vs. Religion Most commonly, when people use the distinction between spirituality and religion, they relegate religious institutional structures to religion and include the personal, inner faith dimensions with spirituality. At first glance, such a distinction might appear to correlate well with Tillich’s distinction between the broader understanding of religion as ultimate concern and the narrower definition of religion that he ties to world religions with their institutional structures. But there is not an easy fit. Tillich’s understanding of ultimate concern has much deeper meaning than many uses of “spirituality”. In the first place, Tillich understands ultimate concern applying to individuals but also then connects that understanding of religion as the substance of culture, and culture as the form of religion. In Dynamics of Faith, much of Tillich’s discussion focuses on ultimate concern as “an act of the total personality” 78 , as encompassing the individual in all of his or her dimensions of life. But in the last chapter, Tillich argues that “faith is real only in the community of faith, or more precisely, in the communion of a language of faith.” 79 Moreover, he argues that “since faith leads to action and action presupposes community, the state of ultimate concern is actual only within a community of action.” 78 P. Tillich, Dynamics of Faith, op. cit. (note 21), 4. 79 P. Tillich, Dynamics of Faith, op. cit. (note 21), 117.

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And he points to myth and ritual as two important aspects of a community of faith. Of course, such a community need not be a religiously identified institution, as Tillich notes that “[t]here are many communities of faith, not only in the religious realm but also in secular culture” 80 . From this, I draw two points about “spirituality” in American culture. First, I suggest that many people who describe themselves as spiritual, not religious, refer to an inner “feel-good” attitude that may have little depth and therefore little effect on actions in the larger community. For many of these individuals, their “ultimate concern” is something other than that “feel-good” attitude and for at least some, centered on finite things less than ultimate. For those for whom their spirituality does connect them with other people and manifests in their decisions and actions, then Tillich’s analysis of ultimate concern and faith applies well. But the question remains of whether Tillich’s theology of culture can apply to those who appear to be indifferent to ultimacy and satisfied to live on a surface level. Second, Tillich’s discussion of spiritual communities, both in Dynamics of Faith and in Systematic Theology III, brings us back to the issue of religious plurality. Tillich recognizes the “encounter of faith with faith” and the possibility of that encounter leading “either to a tolerance without criteria or to an intolerance without self-criticism” 81 . We are back to the problem of relativism versus absolutism in responding to religious plurality. Tillich’s solution calls people to a belieful, critical realism: “The criterion of every faith is the ultimacy of the ultimate which it tries to express. The self-criticism of every faith is the insight into the relative validity of the concrete symbols in which it appears.” 82

We need that criterion of faith and self-criticism now as much as in Tillich’s time. But, our challenge is how to spread this critique in both the identifiably religious communities and in the secular areas of life. As always, it rests on the assumption and experience of the Unconditional that grounds faith, hope, and love but also grounds critique. That assumption and experience are not universal today, or at least not manifest in many people’s communications and behavior. Even “spirituality” in its weak form is far from universally experienced.

80 P. Tillich, Dynamics of Faith, op. cit. (note 21), 122. 81 P. Tillich, Dynamics of Faith, op. cit. (note 21), 123. 82 Ibid.

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6. Optimism in spite of Critique As we have seen, Tillich’s experience of the Unconditional grounds his theology of culture in every application and critique. But I also recognize how that same experience grounds his optimism for the world and his hope for the future. Tillich’s optimism, of course, is his faith that the Unconditional can and does break through forms that hold individuals and society back. His optimism is a religious optimism, not so much for religious institutions or churches but for the religious dimension destroying the old and empowering new possibilities. At the end of World War I, in 1919, Tillich saw great possibilities for the future of humanity: “The universal human community, built up out of spiritual communities and bearing with it all cultural functions and their religious substance, with the great creative philosophers for its teachers, artists for its priests, the seers of a new ethic of the person and the community for its prophets, men who will lead it to new community goals for its bishops, leaders and recreators of the economic process for its deacons and almoners. For the economy, too, can be shattered in its pure autonomy and in its quality of being an end in itself, through the substance of the religious mysticism of love, which produces not for the sake of production but for the sake of the human being. Yet it does not curtail the process of production in accord with the principles of heteronomy, but directs it along the lines of theonomy as the universal form of the earlier, specifically ecclesiastical care of the poor which has been eliminated on socialist territory along with the concept of poverty.” 83

A beautiful vision – perhaps necessary in the post-war era, but in spite of all that happens in the rest of his life, Tillich does not lose this hopeful vision. In his last lecture, Tillich speaks of theonomy as the “inner aim of the history of religions”, where “the autonomous forces of knowledge, of aesthetics, of law and morals, point to the ultimate meaning of life.” 84 True, Tillich sees this “Religion of the Concrete Spirit” appearing only in fragments, never fully, and calls its fulfillment “eschatological” 85 . Likewise, his grounding of religious universality in the “depths of every concrete religion” 86 continues his argument of the Unconditional as the unifying point underlying both faith and reason. But in this last lecture, we see 83 P. Tillich, On the Idea of a Theology of Culture, op. cit. (note 1), 173-174. 84 P. Tillich, The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian, in: Id., The Future of Religions, ed. by J. C. Brauer, New York 1966, 90. 85 Ibid. 86 P. Tillich, The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian, op. cit. (note 84), 94.

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his increased openness to truth in other religions as well as his affirmation of the experiential base of all theology and the creative possibilities that arise from “spiritual freedom both from one’s own foundation and for one’s own foundation” 87 . One might expect that Tillich’s optimism would fit well in the United States, with its history of faith in progress, expectations for improved life for one’s children, a belief that businesses should be able to generate increased profit every year, etc. Traditionally, the admonition accompanying a downturn for individuals or groups is to “try, try again”. Move forward, move on, stay active. But in 2010, newspaper articles and journalists’ columns reiterate the loss of confidence in so many areas of our culture – the economy, for sure, but also government, education, and churches. Perhaps President Obama’s image of hope and change caught voters’ support in the presidential election, but when positive changes did not happen quickly, many people gave up on him. Political advertising has returned to vilifying the other candidate rather than setting forth a vision of what our nation or state might become or what a particular candidate can deliver. The local Roman Catholic diocese has mandated instruction on why people should be Catholic – closing in rather than offering a broad vision of faith and religious communities. It is true that the megachurches do market hope and assurance to the comfortable that they are living rightly. But their often more literalist reading of the Bible and closed views on personal moral issues and politics serve as absolutes not subject to criticism and grounding a self-righteous separation from others, i.e. hope for those inside the group but pessimism about others and the culture in general. This is far from Tillich’s optimism rooted in both the Yes and the No and from his vision for the future. Tillich’s optimism is only partially refreshing because it disconnects from the experiences of so many people’s lives. Where thoughts of the future engender fear and uncertainty, living for the moment and on the surface suffices. Yet, the need for hope is there, and Tillich rightly recognizes that true hope must ground itself religiously, in the Unconditional, not in humans alone.

87 Ibid.

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7. Conclusions and Challenges for Tillich’s Theology of Culture in the United States First, Tillich’s religious understanding, especially his theonomous proposal, would be hard to market, in spite of the much greater participation of Americans in religious institutions than one could find in many developed nations. People do not experience the cultural conflicts and almost chaotic dynamics of everyday life as religiously meaningful. Nor do many share Tillich’s experience of the presence of ultimacy in their everyday lives. Yes, some do; but here, I am reflecting on the larger American culture. So a major challenge for theologians of culture, using Tillich, is to help people see that dimension, to be able to name experiences of deep meaning as religious. There are some theologians and religious leaders engaged in this, who try to broaden people’s understanding of “religious” to include non-Christians while or who write about religious dimensions of popular culture. But still, I think many religiously active people want a separation between their religious activities and the secular world. They may even look on the religious time and activities as a refuge from the anxieties of everyday worldly life. (Of course, they may eventually find that the same anxieties penetrate the religious community as well as the rest of the world.) My argument is that Tillich’s theonomous view can have limited impact today: not traditional enough for the more fundamentalist people and for many evangelicals, too religious for many secular humanists, and too inclusive of the secular for some of the middle or too inclusive of the religious for others. These are times for decisions – decisions that will set future direction. But it is doubtful that most people see or experience ultimacy in them, as Tillich did for knowledge, ethics, forms of courage, and more. A second challenge relates to the plurality of cultural bases in the United States. Certainly in Berlin, Tillich shared a cultural and educational base with the intellectuals and artists he encountered. And that must have aided their conversations and contributed to Tillich’s conviction of the religious import they experienced outside traditional religious settings. Tillich would have encountered more diversity of backgrounds when he moved to the United States, but I would argue that in the academic communities of the 1930s to early 1960s, there still was a shared Euro-centric base of knowledge. But today, even among intellectuals and artists in the U.S., there will be only a partially shared base of knowledge. With the rapid diversification in all fields, including the Humanities, we cannot rely

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on our students or even our academic audiences at conferences to share the same base knowledge of literature, art, philosophy, music, or theatre. While some decry this as a negative phenomenon, my own reading of it is that we should see this as an encouragement of interdisciplinary dialogues and an argument against isolated narrow intellectual or cultural discussions. Just as Tillich listened and integrated what he heard in discussions with scholars and intellectuals from a variety of cultural and academic backgrounds, in our postmodern world we too must engage thinkers and artists from several disciplines and cultural backgrounds. Our third challenge is the application of Tillich’s understanding of life as ambiguous and therefore in need of ongoing critique. We need critique that does not focus on the other as imperfect or wrong but critique that challenges ourselves to move beyond the dualisms. Both conservative and liberal media hype the cultural splits, perhaps because “war” makes better news than “peace”. Us versus them; truth versus falsehood; Christian versus non-Christian; evangelical Christian versus all others; right versus wrong, with such splits arising over more specific religious, cultural, and political issues. The challenge is how to make people on both sides see the ambiguity and limitations in their responses and in themselves. How can we bring Tillich’s guardian principle for the Unconditional, that we not absolutize conditioned finite things, persons, or movements to the cultural conflicts of the American plural context? We have to have the courage to name the absolutisms on both sides and to question the self-identification with absolute truth that some make. The particular challenge in bringing Tillich’s understanding to this is that he rests his understanding on paradox. One needs to speak both Yes and No in all areas of culture, naming positive powers but also dangers. Thus, the challenge is for intellectuals to take public stances, rooted in key concepts drawn from Tillich, with hope that they can connect with moderate, open-minded thinkers. Paradox, for Tillich, connects with his self-understanding of living “on the boundary”. But, in many ways, his theology of culture calls people to push boundaries and to work to create openings in boundaries. PostTillich critiques of patriarchy, racism, classism, homophobia, human domination of nature, imperialism, etc., with some of them rooted in Tillich’s thought, all exemplify the plurality and diversity in American culture and show the importance of moving beyond the cultural boundaries in which we have lived and live currently. For many, the need to push these boundaries rests on a broad understanding of justice for all and an ethical demand to repair injustices. As suggested earlier, Tillich’s ethics and un-

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derstanding of equality rooted in the Unconditional can contribute to discussions of justice. Tillich’s call for ongoing critique, for spiritual freedom, is a legacy we can employ today. Yet, for many, spiritual freedom can be spiritual indifference, with little or no depth, and we have the challenge to bring the dimension of depth to spiritual freedom. Also, the need to push boundaries and to let others push boundaries we may not have seen, calls us to move beyond the paradox of the boundary, to allow the creativity building in the tension of the paradox to come to expression. In fact, Tillich moved off the boundaries and expanded his boundaries although he does not use that image. But, especially in the American context of increased desire to hold onto boundaries, to make them less open to others, we must push the boundaries and open them. Tillich’s theology of culture provides central insights that can help us analyze and critique current culture, but American theologians of culture also must continue to push boundaries not seen by Tillich and to address the challenges of contemporary culture – technological, social, political, aesthetic, and religious. Can we share his hope? Perhaps not his hope, but we have to have hope for the future, to avoid despair. Tillich’s image of direction toward the Unconditional, toward ultimacy grounds hope, a hope that requires critiques of contemporary culture as well as appreciation for it.

Paul Tillichs Theologie der Kultur: Schwierigkeiten und Herausforderungen in der aktuellen Situation MARC DUMAS Der weit greifende Ansatz einer Theologie der Kultur ist wohl für jeden, der heute Theologie treiben möchte, verführerisch. Im Gegensatz zu einer kirchlichen Theologie, die sich an die Mitglieder der Gemeinschaft wendet und dabei in ihrem Vokabular und ihren Bezügen eher theologisch und konfessionell bleibt, kann es die Theologie der Kultur wagen, die vielfältigen Aktivitäten des Menschen im Bereich der Kultur in den Blick zu nehmen. Die Aufgabe des Kulturtheologen ist es, den Charakter des Unbedingten in allem kulturellen Schaffen aufzudecken und ihn zur Sprache zu bringen, zu erinnern an die Dimension der Tiefe, die die Kultur trägt. Er macht die unbedingte Quelle der Kultur bewusst und kritisiert die jeweiligen Versuche, diese Quelle unterzuordnen oder sie zu ersetzen oder zu verwechseln mit dem, was nur Ausdruck der Quelle ist. Im Anschluss an seinen programmatischen Vortrag Über die Idee einer Theologie der Kultur von 1919 hat Tillich in vielen ertragreichen Schriften die Orte der Kultur untersucht, an denen der Durchbruch des Unbedingten Spuren zu hinterlassen und eine neue Welt zu ermöglichen schien. Der Enthusiasmus am Beginn der zwanziger Jahre drückte sich aus in Begriffen wie Kairos, Offenbarung, Durchbruch des Unbedingten in das Bedingte, Durchbruch der Religion in die Kultur. Dieser erste Enthusiasmus der Jahre nach dem Krieg hat dann einer größeren Vorsicht Platz gemacht, was den Durchbruch des Unbedingten in das Bedingte angeht. Texte wie Über den gläubigen Realismus und Die religiöse Lage der Gegenwart verdeutlichen diese realistischere Auffassung der Wirklichkeit. Das Thema der Theologie der Kultur bleibt dennoch ein Anliegen Tillichs, das im Verlauf seiner Karriere immer wieder auftaucht. Seine Analysen der Kultur am Ausgang des Zweiten Weltkriegs qualifizieren die Situation dann als „heilige Leere“. 1946 ist der Enthusiasmus einer eher „abgekühlten“ Betrachtung der Kultur gewichen.

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Ist es heute noch möglich, diese Aufgabe einer Theologie der Kultur für hier und jetzt wieder aufzunehmen? Die epistemologischen Voraussetzungen und die sozialen Bedingungen haben sich seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts dermaßen verändert, dass es praktisch unmöglich erscheint, so vorzugehen, wie Tillich es tat. Durch einen Überblick über die seit etwa 30 Jahren erschienene Sekundärliteratur über Tillich möchte ich zunächst die Tillichschen Voraussetzungen aufzeigen, die es so nicht mehr gibt. Machen unsere heutigen Bedingungen das Unternehmen Tillichs wirklich obsolet, oder kann man den Tillichschen Ansatz in einem neuen Horizont wieder aufnehmen? Die gegenwärtige Forschung geht über die erste eher analytische oder mehr exegetische Rezeption hinaus; sie integriert die Ideen Tillichs, die zu interessanten Schlüsseln werden für eine theologische Arbeit im Zentrum von Kultur und Religion, im Zentrum heutiger säkularer und religiöser Kontexte 1 . Die Gliederung ist einfach: zunächst eine Darstellung des Tillichschen Projekts, dann eine Analyse der Transformationen der Beziehung von Theologie/Religion und Kultur heute und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für ein Konzept einer Theologie der Kultur. Abschließend eine Frage: Worauf stützt sich eine solche Theologie heute?

1. Tillichs Konzept einer Theologie der Kultur Wir folgen zu Beginn dem programmatischen Vortrag von 1919, der Religionsphilosophie von 1925, aber auch zahlreichen Artikeln, die das grundlegende Axiom 2 von Tillichs Theologie der Kultur anwenden: Religion ist die Substanz der Kultur, das heißt sie gibt ihr ihren Sinn und ihre Tiefe; und Kultur ist die Form der Religion, das heißt, Kultur ermöglicht der Religion zu existieren, und zwar im etymologischen Sinn (ek-sistere – hervor-, heraus-treten). Aber worauf gründet solch ein theologisches Konzept? Ich versuche hier, sowohl die wesentlichen Umstände, die zu diesem 1

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Siehe z.B. G. Wenz, Tillich im Kontext. Theologiegeschichtliche Perspektiven, Münster 2000. M. Moxter, Kultur als Lebenswelt. Studien zum Problem einer Kulturtheologie, Tübingen 2000. Ch. Danz, Die Deutung der Religion in der Kultur. Aufgaben und Probleme der Theologie im Zeitalter des religiösen Pluralismus, Neukirchen-Vluyn 2008. Wie C. Boureux es nennt. Siehe C. Boureux, L’axiome religion-culture de Tillich est-il universalisable?, in: M. Boss/R. Picon (Hg.), Penser le Dieu vivant. Mélanges offerts à André Gounelle, Paris 2003, 265-279.

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Konzept geführt haben, aufzuzeigen als auch die Schwierigkeiten, auf die dieses Projekt schon zu Beginn seiner Entfaltung stieß. Halten wir ganz zu Anfang den besonderen Status der Religion in Bezug auf die anderen kulturellen Phänomene fest. Es geht nicht um Religion verstanden als eine kulturelle Sphäre neben anderen oder um die historischen Konkretionen der Religion in den Kirchen (Religion im engeren Sinn), sondern um die Religion verstanden als Wurzel oder als Funktion des Unbedingten (Religion im weiteren Sinne); die Religion ist fundamental, ja substantiell für die Kultur. Die Kultur hat ihren Grund in der Religion, nicht umgekehrt 3 . Religion ist Grundlage jeder Kultur. Sie gibt der Kultur ihren letzten Sinn und ihr Gewicht, und das gilt selbst für die säkularisierte Kultur 4 . Tillich ist grundsätzlich davon überzeugt, dass die Trennung zwischen Welt und Gott nicht absolut sein kann: Das Endliche ist offen für das Unendliche, wie Gert Hummel schreibt 5 . Aber wird diese Trennung oder dieses Zerbrechen der Einheit nicht zum Leitmotiv bei der Ausarbeitung einer Kultur der Einheit, wie man sie sich früher vorstellen konnte 6 ? Am Ende des Ersten Weltkriegs handelte es sich nicht einfach um eine theoretische Analyse der Moderne, sondern um eine Erfahrung der Aufspaltung, die es nötig macht, den absoluten Charakter der Religion mit einem mehr und mehr autonomen Verständnis der Wirklichkeit zu versöhnen. Die Kultur wird oft erlebt als eine radikale Erfahrung der Leere und des Nichts 7 . Der moderne Individualismus reißt in kaum zu überbietender Weise den Zusammenhang von Religion und Kultur auseinan3

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Wie J. Richard es schön darstellt. Siehe J. Richard, Religion et culture dans l’évolution de Paul Tillich, in: M. Despland/J. C. Petit/J. Richard (Hg.), Religion et culture. Actes du colloque international Paul Tillich, Université Laval, Québec, 18-22 août 1986, Cerf/Presses de l’Université Laval 1987, 53-68. Siehe J. P. Gabus, Actualité du projet tillichien d’une théologie de la culture, in: M. Despland/J. C. Petit/J. Richard (Hg.), Religion et culture, a.a.O. (Anm. 3), 287-298. Siehe G. Hummel, Paul Tillich’s concept of a Theology of Culture as a Challenge of our cultural Future, in: M. Despland/J. C. Petit/J. Richard (Hg.), Religion et culture, a.a.O. (Anm. 3), 299-314. Siehe M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip und Modernitätserfahrung in „Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart“, in: Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919-1920), Wien 2008 (= Tillich-Studien, Bd. 20), 137-154, bes. 147. Siehe J. C. Petit, L’expérience du rien dans la compréhension tillichienne de la religion. Un aspect important de la relation entre religion et culture dans l’œuvre de Paul Tillich, in: M. Despland/J. C. Petit/J. Richard (Hg.), Religion et culture, a.a.O. (Anm. 3), 111-120.

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der (man spricht von Krise der Religion oder auch vom Verschwinden des religiösen Bewusstseins), und die Arbeit des Kulturtheologen besteht darin, die verlorene ursprüngliche Einheit wieder zu finden 8 . Die tillichsche Agenda reagiert auf diese Situation der Krise und wird zu einer Suche nach Versöhnung 9 . Die Theologie der Kultur ist eine Suche nach einer neuen universellen Synthese von Macht und Sinn, die Suche nach einer neuen Theonomie. Und die Kultur ist der Ort, an dem man eine fragmentarische Partizipation des Endlichen am Unendlichen erfahren kann 10 . Sicher hatte Tillich mit seinem besonderen theoretischen, philosophischen und theologischen, Rüstzeug ein besonderes Gespür für diese Situation und diese moderne Erfahrung einer radikal objektivierten Welt; die Kultur oszilliert zwischen der Sinnkrise und der Entfremdung auf der einen Seite und der Möglichkeit, sich dem Unendlichen zu nähern auf der anderen 11 . Die sozio-historischen Bedingungen, in denen Tillich seine Theologie der Kultur entwickelt, sind dennoch stabiler als die unseren; diese Stabilität des (recht homogenen) Kontextes erlaubt es ihm, Religion und Kultur als Paar zu verbinden 12 . Natürlich ist er sich der Notwendigkeit bewusst, den Abstand zu wahren zum Supranaturalismus oder zu einer dualistischen Konzeption der beiden Welten, aber seine Gedanken über die Existenz eines möglichen Durchbruchs der religiösen Tiefe 13 und seine starken essentialistischen Bezüge, das alles wird zu einem Hindernis für seine Rezeption 14 . Schon im Laufe der zwanziger Jahre hatte E. Hirsch das zweideutige Verhältnis von Kultur und Theologie kritisiert. Für Hirsch ist Tillichs Ansatz zu formal und zu abstrakt; er ist nur ein dialektisches Spiel, wenig geeignet, sich wirklich in der Geschichte zu engagieren. Die Religion, ver8 9 10 11 12 13 14

Siehe, M. Murrmann-Kahl, Theologisches Prinzip, a.a.O. (Anm. 6), bes. 151-154. Siehe A. J. Reimer, Paul Tillich’s Theology of Culture. An Ambivalence toward nineteenth-century “Culture Protestantism”, in: M. Despland/J. C. Petit/J. Richard (Hg.), Religion et culture, a.a.O. (Anm. 3), 251-269, bes. 253. Siehe T. G. Bandy, Tillich’s Theology of Culture as Fulfillment of His Metaphysical and Ontological Vision, in: M. Despland/J. C. Petit/J. Richard (Hg.), Religion et culture, a.a.O. (Anm. 3), 271-286, bes. 274. Ebd. Siehe C. Boureux, L’axiome religion-culture de Tillich est-il universalisable?, a.a.O. (Anm. 2), 271. Siehe M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, a.a.O. (Anm. 1), 15. G. Wenz, Tillich im Kontext, a.a.O. (Anm. 1), 183 f. Siehe M. Michel, La théologie dans la culture, in: M. Despland/J. C. Petit/J. Richard (Hg.), Religion et culture, a.a.O. (Anm. 3), 507-510.

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standen als Substanz der Kultur, und das Unbedingte, begriffen als Fundament des Seins und der Kultur, sind zu weit von der Geschichte entfernt 15 . Ich gehe hier nicht ein auf die Kritik von Karl Barth und von Friedrich Gogarten von 1923, die Tillich vorwerfen, eher ein Philosoph der Kultur als ein Theologe zu sein. Es scheint in der Tat so, dass Tillich von einem intellektuellen und spirituellen Umfeld profitierte, epistemologisch und theologisch außergewöhnlich, das es ihm ermöglichte, seine Analysen der Kultur aus einem theologischen Blickwinkel, wenn nicht gar aus einer eschatologischen Perspektive, wie Wenz vorschlägt 16 , zu betreiben. Er präsentiert in der Tat eine Alternative zu der Geschichtstheologie, wie sie gewöhnlich betrieben wird. Seine Interpretation der Geschichte als Kairos gibt ihm die Möglichkeit, die christliche Dynamik zu beschreiben im Horizont einer religiösen Interpretation der Kultur und nicht umgekehrt, wie es oft der Fall ist. Bei Tillich geht es nicht um eine kulturelle Interpretation der Religion, sondern um den Aufweis der universellen Gegenwart des Unendlichen in unserer Endlichkeit und um die Durchführung eines historisch-kulturellen Prozesses auf eine Versöhnung hin 17 . Die Analysen von Tillichs Werk und besonders seiner Theologie der Kultur werfen also mehrere Schwierigkeiten auf, in einem Maß, dass es problematisch wird, sich dem Projekt Tillichs anzuschließen. Ich fasse die Schwierigkeiten noch einmal kurz zusammen: zu starke ontologische oder essentialistische Perspektiven, sozial-zeitbedingter Rahmen, Verständnis des Verhältnisses von Religion und Kultur zu fundamental, Vorliebe für die Einheit unter Vernachlässigung von Diversität und Vielfalt. Anders gesagt: Das tillichsche System scheint unseren Zeitgenossen nicht unbedingt glaubwürdig, die weit davon entfernt sind, unter den Begriffen Religion und Kultur das Gleiche zu verstehen wie Tillich damals. Einige Mutige wagen sich über einfache Feststellungen und Kritik hinaus 18 ; sie schlagen eine Übertragung vor in eine Welt, die kompatibler ist mit unseren Empfindungen und Realitäten. Schauen wir also genauer hin, welche Transformationen das Verhältnis von Religion und Kultur erfahren hat, und machen die Konsequenzen deutlich, die sich aus diesen Transformationen für das Projekt einer Theologie der Kultur ergeben. 15 Siehe A. J. Reimer, Paul Tillich’s Theology of Culture, a.a.O. (Anm. 9), 265. 16 Siehe G. Wenz, Tillich im Kontext, a.a.O. (Anm. 1), 45 f. 17 Siehe J. P. Gabus, Actualité du projet tillichien d’une théologie de la culture, a.a.O. (Anm. 4), 291. 18 Siehe unter anderen M. Moxter und Ch. Danz.

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2. Die heutigen Veränderungen im Verständnis des Verhältnisses von Religion und Kultur. Konsequenzen für das Projekt einer Theologie der Kultur Ich komme hier kurz auf einige Ideen zurück, die das heutige Verständnis des Verhältnisses von Religion und Kultur betreffen, um die Veränderungen zu skizzieren. Konnte Tillich in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch von einem fundamentalen Verhältnis zwischen Religion und Kultur sprechen, so ist es heute nicht mehr möglich, dieses Verhältnis mit der gleichen Begrifflichkeit zu beschreiben oder auch nur einfach diese Beziehung zu behaupten. Vergessen wir nicht, dass der Be griff Religion heute im Allgemeinen meist im engeren Wortsinn verstanden wird. Es geht um die faktische Religion oder das Phänomen des Religiösen. Was ergibt sich nun daraus? – Die Säkularisierung lässt Raum für Pluralität und miteinander unvereinbare Diversität. Das gilt sowohl für den Bereich des profanen Denkens als auch für die Religionen und das Religiöse. Diese partikularistischen Aussagen sind in der aktuellen konsumorientierten Dynamik nicht klar zu fassen, so dass wir uns ständig dem Anspruch gegenüber sehen, für alle und in allen Bereichen der Kultur zu wählen, einschließlich des Bereichs des Religiösen, der zu einer einfachen Komponente der Kulturen wird. – Angesichts einer verstärkten Modernität, im Blick auf den Prozess der Globalisierung und angesichts des Fortschreitens immanentistischer und säkularistischer Ansätze scheinen die Voraussetzungen Tillichs schwer angeschlagen. Die theologische Arbeit Tillichs, die dem Kontext stets eng verbunden bleibt, führt uns dazu, unsere Realität von dieser Verstärkung der Modernität, der Globalisierung usw. theologisch neu zu durchdenken. Wenn Tillich 1920 von Theonomie sprach und 1946 von heiliger Leere, wie würde er heute den Überfluss des Sakralen beurteilen? So betrachtet wird eine theologische Kritik dieses Überflusses unumgänglich. – Die Begriffe Religion und Kultur haben sich verändert, so dass ihr Verhältnis zueinander folglich nicht mehr das Gleiche ist. Hat bei Tillich jede Kultur einen religiösen Gehalt, so kann Kultur heute völlig säkular sein. Sinn völlig auf die Immanenz zu reduzieren, scheint heute ein möglicher Ansatz. Verstand sich Wechselbeziehung und Korrelation von Form und Gehalt zu Tillichs Zeit von selbst, so wird das heute bestritten, ja sogar als Möglichkeit ausgeschlossen. Die Kultur, die die Schaffung eines Sinnuniversums ermöglichte, ist heute reduziert auf eine quasi-Kultur, auf

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eine Industriekultur; die Religion, die früher die Gesellschaft zu stützen vermochte, ist zu einer Pseudo-Religion geworden, einer Religion des Marktes. Kurz, das Verhältnis von Religion und Kultur ist gebrandmarkt mit dem Zeichen der Zweideutigkeit, die Beziehung ist geschwächt oder gar zerbrochen. Hier einige Beispiele. Dieser Bruch der Beziehung ermöglicht neue Verbindungen, die in der aktuellen Gesellschaft starken Widerhall finden. Sicherlich, es gibt noch diejenigen, die im Anschluss an Tillich das ursprüngliche Verhältnis aufs Neue bekräftigen. So verstanden gibt es keine Religion ohne Kultur. Man versteht die Religion, insofern sie sich ausdrückt in der Kultur. Die wahre Religion ist, wie Tillich immer wieder betont, nicht eine Form der Kultur neben anderen, sondern ist ein Element der Aktualisierung von Sinn in den kulturellen Formen. Die unterschiedlichen Religionen sind alle Antworten auf eine Offenbarung, aber sie sind geprägt durch unterschiedliche Kulturen 19 . Um die Idee von Christian Danz aufzunehmen – die Unterschiede zwischen den Religionen sind ausschließlich kultureller Natur 20 . Für Letzteren übrigens sind die Säkularisation und die Rückkehr des Religiösen zwei Aspekte eines an die Modernisierung gebundenen sozialen Transformationsprozesses 21 . Nichts hindert, das Verhältnis umzukehren wie im Fall des Fundamentalismus. Die religiösen Extremisten können ausgehend von der Religion versuchen, eine Kultur zu formen, die einer partikularen religiösen Ideologie entspricht. Eine solche Kultur ist fundamentalistisch in dem Maße, in dem sie alles Nachdenken und jede Kritik ablehnt. So hat es auch in den dreißiger Jahren in Deutschland geschehen können, wo ein schlechter politischer Gebrauch von Religion das Naziregime zu dem Dämonismus geführt hat, den man kennt. Die Beziehung kann auch unterbrochen werden. So fordert der französische Politologe und Islamologe Olivier Roy in einem neuen Buch mit dem Titel La sainte ignorance. Le temps de la religion sans culture 22 (dt.: 19 Siehe Ch. Danz, Erkundung des Eigenen im Lichte des Fremden. Paul Tillichs Beitrag zur religionstheologischen Debatte der Gegenwart, in: Ch. Danz/W. Schüßler/E. Sturm (Hg.), Religionstheologie und interreligiöser Dialog, Wien 2009 (= Internationales Jahrbuch für die Tillich-Forschung, Bd. 5/2009), 75-92, bes. 79. 20 Ebd. 21 Siehe Ch. Danz, Die Deutung der Religion in der Kultur, a.a.O. (Anm. 1), 21 f. 22 O. Roy, La sainte ignorance. Le temps de la religion sans culture, Paris 2008.

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Die heilige Ignoranz. Die Zeit der Religion ohne Kultur) deutlich, dass die Religion sich im gegenwärtigen Kontext von ihrem kulturellen Kontext lösen müsse, um die reine Religiosität hervortreten zu lassen. Die Loslösung der Religion von einer bestimmten Kultur und bestimmten territorialen Grenzen verwandeln die Beziehung zwischen Religion und öffentlichem Raum. Das Religiöse, das auf diese Weise universal wird, stellt sich außerhalb von Kultur und Wissenschaft. Diese Religiosität ohne kulturelle Bindung wird so zu einem identitätsstiftenden Marker, der eine standardisierte Religiosität vertritt. Für Roy zeigen die Momente des Bruchs (Offenbarung/Konversion) deutlich die inhärente Spannung zwischen Religion und Kultur. Der Eiferer (sei er nun charismatisch katholisch, pfingstlerisch oder muslimisch) lehnt eine Einordnung seiner Erfahrung des Absoluten in ein von der Kultur geprägtes System von Symbolen auf der gleichen Ebene wie die anderen Systeme ab. Hier spricht Gott ohne Kontext und er (Roy) nennt als Beispiel für seine Ansicht die Glossolalie. Diese Loslösung des Religiösen von der Kultur wirft allerdings die Frage nach der Vermittlung dieses Durchbruchs auf und nach der Notwendigkeit, sich von neuem zu verbinden oder zu vernetzen, um die Isolierung und Ghettoisierung des Religiösen zu vermeiden. Für Roy ist die Religion autonom gegenüber der Kultur. Angesichts der aktuellen fortschreitenden Globalisierung gilt: Je freier und ungebundener ein religiöser Marker ist, desto eher schafft er es, sich wirkungsvoll auf dem Planeten auszubreiten. Ist dieses Beispiel wirklich ein interessanter Gegenentwurf zur Position Tillichs? Auf den ersten Blick könnte man das meinen, aber hat Tillich den Aspekt des Durchbruchs nicht in einer radikaleren Weise aufgegriffen, allerdings ohne die Verbindung zur Kultur abzuschneiden? In der Tat, die Kultur ist für Tillich der Ort des Durchbruchs, sie ist das eigentliche Medium des Durchbruchs. Die Untersuchung von Roy basiert auf sozio-historischen Beobachtungen, die zu verstehen suchen, warum bestimmte historische Religionen attraktiver sind als andere. Was ist theologisch in diesem neuen Kontext zu sagen?

3. Die Herausforderungen für eine Theologie der Kultur heute Die erste Herausforderung einer Theologie der Kultur ist es, sich nicht einfach zu beschränken auf die Religion im engeren Sinn, auf die konkrete organisierte Religion und ihre unterschiedlichen Manifestationen. Sicher, die Analysen von Roy sind erhellend, um zu verstehen, warum bestimmte

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religiöse Marker sich über den Globus ausbreiten, aber sie können ein Verständnis von Religion im weiteren Sinn nicht ausradieren, wie etwa das Ereignis des Ergriffenseins von dem, was uns unbedingt angeht. Es ist dieses zweite Verständnis, das eine Öffnung auf die Dimension des Transzendenten hin in der Kultur ermöglicht und über die Vermarktung des Religiösen hinausgehen kann, da sie ergriffen ist von der Frage nach dem Sinn. In der Tat, die Religion im weiteren Sinn gibt der Erfahrung Tiefe, Gewicht und Orientierung. Wir könnten uns fragen, ob die Bedeutung, die heute der Spiritualität beigemessen wird, nicht eine Art und Weise ist, über die Religion im weiteren Sinn zu sprechen. Die Spiritualität wird zu einem Quereinstieg für die Mitmenschen, die auf der Suche nach religiöser Erfahrung sind und die so zwischen einer eher engen und identischen Position und einer eher zersplitterten (Baukastenreligiosität) hindurch schlüpfen. Die Spiritualität überbrückt die Spaltung der Religionen; sie führt die Menschen ohne Religion zusammen. Und so wird sie wieder aktuell im Zentrum menschlicher Aktivität wie in der Schöpfung 23 . Der Mensch ist also vor die Wahl gestellt zwischen einer organisierten Religiosität, manchmal „fast-food“, manchmal idolatrisch, und einer authentischen Religion, in der man Gott begegnet. Natürlich geschieht diese Begegnung im zeitgenössischen Horizont und drückt sich in aktuell unterschiedlichen Empfindungen aus. Den Kontext dieser Begegnung zu berücksichtigen führt zu einer Wiederaufnahme oder zu einer neuen Analyse in einem eher semiotischen oder phänomenologisch bestimmten theoretischen Rahmen, wie zum Beispiel Michael Moxter in seinem im Jahre 2000 erschienenen Buch vorgeschlagen hat. Dabei geht es nicht einfach darum, den Sinnzusammenhang zu erklären, der den Charakter des letzten und sicheren Grundes hätte, sondern eher darum, einen Sinnzusammenhang ins Gedächtnis zu rufen, der zu einem klaren und deutlichen Verständnis führt, und ihn darzustellen als Horizont der konkreten Voraussetzungen des Sinns. Besteht die Aufgabe einer Theologie der Kultur also nicht gerade darin, den unerschöpflichen Charakter des Sinns deutlich zu machen für die unterschiedlichen Formen der Kultur? Diese subversive Erinnerung kann nun qualifiziert theologisch interpretiert werden. Sie ist genau die zweite Herausforderung einer Theologie der Kultur: eine theologische Arbeit zu ermöglichen, die in der heutigen Zeit glaubwürdig ist. 23 Siehe H. Bloomensteijn, The Concept of Spirituality, in: J. Bouwer (Hg.), Successful Ageing, Spirituality and Meaning. Multidisciplinary Perspectives, Leuven 2010, 29-36.

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Manchmal hat man den zu theoretischen Charakter der Arbeit Tillichs betont, manchmal hat man zu sehr insistiert auf ihren kontextuellen und dialogischen Charakter. Ist sie nun zu theoretisch oder zu kontextuell? Wahrscheinlich handelt es sich hier um eine weitere Herausforderung für eine Theologie der Kultur heute: fähig werden zu einem Dialog mit denen, die Religiosität eher theoretisch betrachten, und fähig zu werden, die verschiedenen Kontexte zu begreifen, von denen aus Religiosität betrachtet wird. Die Voraussetzung der Einzigartigkeit und der Kontextualität ermöglicht einen klareren Blick zugleich auf die Pluralität im Felde der Kultur und auf die Vielfältigkeit der einzelnen Ausdrucksformen des Heiligen, die oft untereinander in Konkurrenz stehen. Der Theologe der Kultur wird zu einer Stimme unter anderen, der sich beschäftigt mit der göttlichen Dimension, mit der Transzendenz mitten in der kulturellen und spirituellen Dimension des Menschen, aber auch mit seiner Umwelt und der geschaffenen Natur. Es geht also gerade nicht um ein Kopieren vom und Kleben am tillichschen Stoff, sondern vielmehr um Risikobereitschaft und Mut: um das Risiko, nicht gehört zu werden, und den prophetischen Mut, gegen den Strom zu schwimmen, um eindringlich hinzuweisen auf den göttlichen Raum, einen Raum zu oft unbemerkt von unseren Zeitgenossen. Die Aufgabe besteht also darin, in den neuen Kontexten die Haltung der Altvorderen im Glauben wieder einzunehmen. Denn nur mit diesem Mut können wir die theologische Arbeit von heute fortsetzen und in verantwortlicher Weise rechtfertigen. (Übersetzt ins Deutsche von Pfr. Klaus Niewerth)

Autorenverzeichnis DR. ULRICH BARTH

Professor em. für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg DR. CLAAS CORDEMANN

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der GeorgAugust-Universität Göttingen DR. CHRISTIAN DANZ Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien DR. STEFAN DIENSTBECK

Wissenschaftlicher Assistent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München DR. MARC DUMAS

Professor an der Faculté de théologie et d’études religieuses der Universität Sherbrooke (Kanada) DR. PETER HAIGIS

Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg DR. HANS-GÜNTER HEIMBROCK Professor für Praktische Theologie im Fachbereich Evangelische Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main DR. DIETRICH KORSCH

Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg

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Autorenverzeichnis

DR. ANDREAS KUBIK

Juniorprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock DR. JÖRG LAUSTER

Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Phillips-Universität Marburg DR. RUSSEL RE MANNING

Lecture an der Faculty of Divinity der Universität Cambridge (UK) DR. MICHAEL MOXTER

Professor für Systematische Theologie im Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität Hamburg DR. GEORG NEUGEBAUER

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg DR. ILONA NORD

Juniorprofessorin für Praktische Theologie im Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität Hamburg DR. ANNE MARIE REIJNEN

Professorin für Systematische Theologie an der Faculté Universitaire de Théologie protestante Bruxelles und am Institut Catholique de Paris DR. HARTMUT VON SASS

Wissenschaftlicher Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich und Mitarbeiter am Collegium Helveticum DR. DR. WERNER SCHÜSSLER Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier MAG. PETER SCHÜZ

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der PhillipsUniversität Marburg

Autorenverzeichnis

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DR. MARY ANN STENGER

Professor für Religious Studies in der Division of Humanities am College of Arts and Sciences der University of Louisville, Kentucky DR. WESSEL STOKER

Professor am Institute for the Study of Religion, Culture and Society der Universität Amsterdam DR. ERDMANN STURM

Professor em. für Systematische Theologie und Religionspädagogik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster DR. FRIEDEMANN VOIGT Privatdozent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München

Namensregister Adams, James Luther 152, 281, 283, 284 Adorno, Theodor W. 382 Albrecht, Christian 372 Albrecht, Renate 154 Alston, William 299 Anaxagoras 260 Anaximander 259 Aristoteles 166, 263, 325, 364 Auden, Wystan H. 329 Augustinus 335, 410 Barbour, Ian 301 Barth, Karl 193-210, 211, 212, 213, 214, 219-225, 226, 227, 301, 328, 427, 440, 442, 443, 485 Bellah, Robert N. 288 Bergson, Henri 335, 357 Blumenberg, Hans 447 Böhme, Jakob 335 Bonhoeffer, Dietrich 328 Braithwaite, Richard 299 Brentano, Franz 47, 48 Buber, Martin 363 Bultmann, Rudolf 301, 443, 452 Burckhardt, Jakob 425, 426 Buren, Paul van 287, 299 Camus, Albert 329 Canetti, Elias 382 Cassirer, Ernst 159, 239 Claudy, Tobias 373 Cobb, Kelton 468 Cohen, Hermann 220, 440

Daiber, Karl Fritz 353 Dante, Alighieri 335 Danto, Arthur C. 322 Danz, Christiann 25, 174, 189, 487 Dawkins, Richard 301 Demokrit 260 Derrida, Jacques 444 Despland, Michel 154 Dilthey, Wilhelm 13, 23 Dix, Otto 322 Dobelli, Rolf 436 Dörger, H. J. 353 Douglas, William O. 288 Dreier, Ralf 241 Drews, Paul 376 Duhem, Pierre 305 Edwards, Jonathan 460 Ehrenfels, Christian von 364 Eibl, Karl 421 Eliade, Mircea 472 Elkins, James 471 Engemann, Wilfried 405, 406 Eucken, Rudolf 69, 425 Fichte, Johann Gottlieb 17, 18, 24, 65, 67, 68 Frankl, Viktor E. 164 Franklin, Benjamin 288, 460 Frege, Friedrich Ludwig Gottlob 94 Freud, Siegmund 335 Friedrich, Casper David 424 Frisch, Max 436

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Namensregister

Gadamer, Hans-Georg 165, 437, 440, 443-446, 447, 448, 451 Gehlen, Arnold 432 Goethe, Johann Wolfgang von 176 Gogarten, Friedrich 34, 211, 212, 427, 485 Gogh, Vincent van 427 Goldstein, Kurt 357 Gounelle, André 284 Gräb, Wilhelm 353, 392-398 Graf, Friedrich Wilhelm 372 Graham, Billy 291 Grau, Karin 351 Gresco, Jan 154, 155 Grözinger, Albrecht 382-392, 394, 417 Grosz, George 322 Hanson, Norwood Russell 305 Harnack, Adolf von 29 Hartmann, Nikolai 166 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 78, 106, 336, 425, 426 Heidegger, Martin 36, 161, 297, 323, 334, 335, 382, 440, 446, 447 Heimbrock, Hans-Günter 374382, 383, 384 Heraklit 165, 259, 260 Herberg, Will 288 Herrmann, Wilhelm 2, 16, 220, 427 Hick, John 299 Hirsch, Emanuel 3, 4, 25, 34, 53, 54, 95, 97, 99, 113, 484 Holl, Karl 25, 36 Homan, Peter 375 Homer 258

Horkheimer, Max 382 Hübinger, Gangolf 179 f. Hume, David 438 Hummel, Gert 483 Husserl, Edmund 38, 39, 4751, 54, 57, 61, 94, 98, 113, 364, 381, 440 Husserl, Gerhart 228 Jahr, Hannelore 351, 357 Jaspers, Karl 166, 425, 426 Jellinek, Georg 173 John, Peter H. 154, 155, 168 Johns, Jasper 311, 321 Jüngel, Eberhard 448, 449, 450, 451 Kafka, Franz 329 Kähler, Martin 2, 15, 19 Kant, Immanuel 73, 101, 106, 166, 240, 241, 242, 297 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 128 Kaufmann, Felix 228, 231, 232, 240 Kelsen, Hans 228, 231, 232, 233, 238, 241, 245, 248 Kierkegaard, Søren 16, 20, 333, 335, 336 Klie, Thomas 415-416 Kooning, Willem de 311, 321, 322 Korsch, Dietrich 431 Kuhn, Thomas 305 Landauer, Gustav 88, 89-90 Lange, Ernst 367 Langer, Susanne 369 Lakatos, Imre 129

Namensregister

Lask, Emil 94, 98 Lauster, Jörg 372 Leibniz, Gottfried Wilhelm 239 Leslie, Kenneth 284 Lichtenstein, Roy 311, 321, 322, 324 Luckmann, Thomas 393 Lübbe, Hermann 393 Lütgert, Wilhelm 19 Luhmann, Niklas 393 Luther, Henning 356, 415 Luther, Martin 20, 22, 24, 25, 409 Lyotard, Jean-François 383, 388 Malcom, Norman 302 Mann, Thomas 15 Marsden, George 460 Marty, Martin 290 Marx, Karl 335 May, Henry F. 289 Mead, Sidney E. 288 Medicus, Fritz 18, 65, 66 Meister Eckart 335 Merleau-Ponty, Maurice 365, 379 Miller, Arthur 329 Mitscherlich, Alexander 375 Moxter, Michael 489 Müller, Alfred Dedo 405 Murrmann-Kahl, Michael 185, 186, 187 Musgrave, Alan 129 Natorp, Paul 220 Neugebauer, Georg 17 Nikolaus von Kues 335

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Nietzsche, Friedrich 93, 113, 176, 335, 336, 427, 465 Novalis 84 Oldenburg, Claes 311, 321, 322 Orwell, George 290 Otto, Gert 353, 383 Otto, Rudolf 422, 423, 429 Overbeck, Franz 426, 427 Parella, Frederick 405 Pascal, Blaise 335 Peacocke, Arthur 301 Pearls, Lore 363 Petit, Jean-Claude 154 Petzoldt, Matthias 373 Peukert, Helmut 354 Platon 165, 166, 262 Popper, Karl 305 Proust, Marcel 436 Quine, Willard Van Orman 305 Radbruch, Gustav 64, 228, 229, 230, 231, 241 Rauschenberg, Robert 311 Reinach, Adolf 228 Rembrandt van Rijn 178 Rendtorff, Trutz 435 Richard, Jean 154 Rickert, Heinrich 94, 98 Rilke, Rainer Maria 93 Ritschl, Albrecht 21, 29, 121 Rivera, José de 311 Rogers, Carl 303 Rothe, Richard 29, 372 Roy, Olivier 487-488

498 Rüstow, Alexander

Namensregister

357

Safranski, Rüdiger 432 Sartre, Jean-Paul 329, 335 Savigny, Friedrich Carl von 244 Schafft, Hermann 16 Scheler, Max 98, 159, 160 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 3, 17, 19, 38, 41-43, 44, 45, 51, 62, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 90, 335, 336, 447 Schleiermacher, Friedrich 29, 106, 349, 352, 353, 373, 386, 392, 393, 395, 422, 437 Schmidt, Karl Ludwig 211 Schmitt, Carl 228 Schmitz, Hermann 407 Schopenhauer, Arthur 335 Schröer, Henning 355 Schweitzer, Albert 425 Segal, George 311, 321, 324 Simmel, Georg 13, 171, 173, 174-178, 179, 184, 335, 357 Simon, Saint 84 Sokrates 260, 261, 262, 443 Spengler, Oswald 425, 426 Stammler, Rudolf 228, 239, 240, 241, 245 Stenger, Mary Ann 300 Stone, Ronald D. 467 Strindbergh, August 427 Sturm, Erdmann 404, 405

Taylor, Mark C. 325, 463, 464, 467 Thomas von Aquin 105, 166 Tocqueville, Alexis de 288 Tolstoi, Leo 93, 230 Troeltsch, Ernst 2, 13, 23, 29, 69, 83, 91, 173, 174, 176, 178, 179-183, 184, 186, 188, 189, 191, 289, 372 Trotzki, Leo 93 Waldenfels, Bernhard 379, 407 Ward, Karen 291 Windelband, Wilhelm 98 Weber, Max 13, 125, 173, 180 Wenz, Gunther 485 Werfel, Franz 93 Wertheim, Max 364 Wesselmann, Tom 311, 321, 322, 324 Williams, Tennessee 329 f. Wills, Garry 460 Wilson, Edward O. 301 Winch, Peter 302 Wittgenstein, Ludwig 301, 302, 325 Wrege, Wolf-Reinhard 241 Wust, Peter 167 Xenophanes

259

Zarnow, Christopher Zerfaß, Rolf 353

372

Sachregister das Absolute 43, 85, 312 Alexandriner 265 das Allgemeine 236-237 Angst 85, 327-345, 408 – Angst – Furcht 332 – Angst – Kultur 328 Anthropologie 35, 161-162 Apologetik 400 – kirchliche Apologetik 76-77-78, 91 Ästhetik, ästhetisch 153, 234, 383 – theologische Ästhetik 383, 385-386, 391, 394 Autonomie, autonom 52-53, 162, 198, 228, 238, 255, 269, 271, 273-274, 331-332, 333, 337-338 – Autonomie – Heteronomie – Theonomie 16-17, 103-104, 105, 143, 256, 405, 430 das Bedingte – Bedingtes – Unbedingtes 110, 345, 438, 458 Begegnung 158-159 Begriff 261, 262-263 das Besondere 236-237 Bewusstsein 47, 70 – intentionales Bewusstsein 39, 46, 61 – religiöses Bewusstsein 40, 41-42, 54, 56

– substantielles Bewusstsein 42-43, 44, 58-59, 60, 61, 7071 Christentum 73, 74, 175, 180, 182, 251, 275, 372 Christologie 19-20, 198, 224 das Dämonische 144, 145-146, 147, 148, 282 Demokratie 89-90, 188, 189 Denken 123, 134, 260 Denkwissenschaft 123-124 Dialektik 444 – theologische Dialektik 199 Dialektische Theologie 28, 29, 95, 212, 220-221, 388, 427, 429 Dogmatik 35, 121, 148, 372373 Durchbruch 25-27, 110 Einheitskultur 5, 64, 83-84, 104-105, 203, 396-397, 424 Einheitswissenschaft 293, 294 Eleaten 259 Endlichkeit, endlich 97 Entelechie 264 Epikureer 265 Ethik 266, 277, 278, 465 – theologische Ethik 81 Ethos 246 Existenz 337, 342, 343 – Existenz-Essenz 344 Existenzialimus 16, 37

500

Sachregister

Existenzphilosophie 327 Expressionismus 317, 322, 341, 361, 369, 386, 425, 468 Flaneur 384, 385 Föderalismus 88-89 Form 102-103, 238-240, 242, 252, 254, 255-256, 258-259, 260-261, 262-263, 265, 266, 275, 276-277, 278 – Form – Gehalt 101, 107, 112, 114, 137, 138, 143, 146, 152-153, 198, 218, 254, 256257, 258, 276, 278 – Form – Gehalt – Inhalt 203, 204, 316 – Form – Inhalt 239, 240, 358 – Form – Substanz 152153, 461-462 Frage 436-437, 443-444, 446 – Frage – Antwort 36, 437, 440, 441-442, 444, 445-447, 448, 450 Freiheit 23, 68-69, 124, 159, 160, 333, 335, 345 Fundamentalismus 487 Gefühl 71, 407, 415 Gehalt 56, 101-102, 106, 137138, 142, 152-153, 240, 252, 255-256, 266 – Gehalt – Inhalt 101 Geist 38-39, 44, 46, 53, 62, 9899, 103, 112, 122-127, 134, 139, 216-217, 218, 234-235, 237 Geisteswissenschaft 13, 119120, 123, 126-127, 236 Geltung 233, 236

Gemeinschaft 245, 246 Geschichte 13-14, 65, 67, 68, 72, 142, 216-217, 485 – Geschichte – Theologie 72 Gesetz 24, 233 Gespräch 446 Gestalt 27-28, 236, 281, 283, 351, 354-371 Gewissen 68 Gewissheit 53, 98, 309, 455 Glaube 22, 54-55, 213, 223224, 226, 300-301, 407 – schweigender Glaube 59-60 Gnade 24, 409-410, 411-412, 413-414, 418 Gnosis 251, 265 Gott 42-43, 44, 52, 98, 99, 109, 110, 111, 200, 213, 439, 447448, 449, 451 – Gottesbegriff 268, 339 Gotteserkenntnis 223, 225 das Heilige 146, 147 – heilig – profan 146, 204 Hellenismus 264 Heteronomie, heteronom 162, 333, 391 Historismus 3 Homiletik 405-406, 414 Idealismus 65, 70, 74, 99, 153, 167-168, 336 Idee 262-263 Ideenlehre 262 Identität 375 Immanenz 132

Sachregister

Individualismus 173-174, 175, 176, 179, 182, 185-186, 190 Inhalt 116, 137, 257 Intentionalität 48, 54, 56, 59, 117-118, 140, 141, 143 Ionische Naturphilosophen 259 Jesus, historischer Jesus 308, 309

307-

Kairos 144-145, 163, 485 Kategorienlehre 13 Katholizismus, katholisch 290291, 429 Kirche 82, 106, 150, 176, 206, 353-354, 394-395, 429, 473 – empirische Kirche 205 – Kirche – Kultur 92-93, 204, 205, 209, 398-399 – Kirche – Staat 288, 460 Kirchentheologie 313, 315 Kitsch 471 Konservativismus 90 Korrelation 36, 440, 441, 444, 447, 448, 451 – Methode der Korrelation 405-406, 437, 439, 440, 450 – Selbst – Welt – Korrelation 157-158 Krieg 92, 337 Kultur 1, 45, 100, 102, 106, 112, 126-127, 138-139, 140141, 143, 161, 174, 175, 177, 181, 185, 189, 203, 206-207, 217, 236, 262, 314, 341, 342343, 345, 353, 361, 367, 372, 373, 382, 390, 393-395, 420, 422, 423, 427, 430-431, 432,

501

434-435, 484, 485, 486-487, 489 – Kultur – Religion 4, 32, 73, 74, 79, 80-81, 103, 107, 112, 117-118, 132, 139, 142, 149, 156, 162, 171, 205, 220, 222, 225, 319, 387, 390, 397398, 424, 427, 431, 455, 460, 461, 463, 482-483, 485, 487, 488, 489 Kulturanalyse 420-421, 425, 426, 433 – religiöse Kulturanalyse 421, 422, 430 Kulturgeschichtsschreibung 425-426, 433 Kulturhermeneutik 35, 372 – theologische Kulturhermeneutik 373, 382, 385, 392, 394, 395, 396, 399-402 Kulturprotestantismus 95, 426 Kultursynthese 82 Kulturtheologie 2-3, 34, 38, 40, 64, 78, 81, 88, 90-93, 100, 107-108, 130, 133, 134-135, 137, 149-151, 171, 173, 184185, 188, 213, 214, 215-216, 252, 253-254, 316, 328, 329, 341, 350, 357, 420, 421, 431, 437, 439, 451, 481-482, 483484, 485, 488, 489 Kulturtheorie 171 – evolutionäre Kulturtheorie 421 Kulturwissenschaft 134 Kunst 82, 116, 156, 312, 313, 316, 319-320, 361, 366, 368, 383-384, 385, 387, 424-425, 468-470

502

Sachregister

– Pop-art 321, 323-324, 366 – Non-art 319, 320-322, 470 Kunstphilosophie 234 Kunsttheologie 312, 313-316, 318, 325-326 Kyniker 262 Leben 5-6, 119, 359, 367-368 Lebensgefühl 403, 416-417, 418 Lebenswelt 379, 415 Leere 163-164 Letztbegründung 62 Liebe 277, 278, 412, 418-419, 466 Liturgie 362 Logischer Positivismus 293, 300, 304, 305-306 Logik 263 Logos 259, 264, 270, 274, 277, 278 Magie 377, 378 – Magie – Religion 377378 Meinen 57 Metapher 308 Materie 115-116 Methode 443 – historische Methode 173 Mittelalter 84, 104-105 Moderne 2, 5, 75-76, 96-97, 162, 329, 330-331, 332-336, 337, 338, 434, 483 Monismus 66-67, 267 Moral 272 Mystik 147-148

Mythologie 41 Mythos 258 Natur 262, 277 Naturalismus 438 Naturrecht 229, 241-243 Naturwissenschaft 231-232, 233-234 Neukantianismus 62, 98, 99, 217, 220, 228, 236, 238, 239, 240, 242, 243, 245 Neuplatonismus 251, 264, 265 Neuzeit 399 das Nichts 327, 334, 342 Noema – Noesis 49, 56-57 Norm, normativ 232, 233, 234, 235, 381 Normwissenschaft 14, 231, 232, 235, 401 Offenbarung 111, 205, 213, 214, 225, 451 Offenbarungstheologie 213 Oikeiosis-Lehre 270, 278 Ontologie 36, 166, 247-248, 313, 334, 340, 363 Pantheismus 177 Paradigma 306-307 Paradoxie, paradox 15-16, 1819, 22, 29, 86, 196-197, 199201, 212, 219-220, 225, 226, 405, 458 Person 179, 182 – Persönlichkeit Gottes 177 Phänomenologie 379, 381 Philosophie 134, 137, 142-143, 149

Sachregister

503

– Geistphilosophie 4, 38, 215 – geschichtliche Philosophie 72-73 – griechische Philosophie 251-252, 254, 258, 276 – Identitätsphilosophie 18 Phytagoreer 259, 265 Pluralität, plural 208, 210, 486 Postmoderne, postmodern 324 Praxis, praktisch 349, 351, 366, 369, 370 Predigt 403-405 Prinzip 267-268, 278, 456-457 – theologisches Prinzip 78, 87, 91, 134-135, 187, 188 Profanität, profan 34, 96, 100, 104, 105, 140, 143, 360 Programm 129-130, 133 Protestantisches Prinzip 14, 20, 22-23, 28, 29, 31, 36, 148, 280, 281, 282-283, 284 Protestantismus 14-15, 20-23, 31-32, 34, 179, 180, 181, 188, 189, 229-230, 279-280, 281, 284, 287, 291-292, 360, 429 – Protestantismus (USA) 289-290 Psychoanalyse 376 Psychologie 327 Psychotherapie 376

Rechtfertigung 15-16, 19-20, 22, 24-25, 132, 279, 340, 458 Rechtslehre/-wissenschaft 228, 231-232, 237, 240, 242, 247-248 Rechtspositivismus 233, 237, 243-244, 245, 248 Reduktion 414 Reich Gottes 119, 202, 221, 224, 226 Relativismus, relativ 85, 455, 456-457 Religion 45-46, 61, 62, 71, 76, 79-80, 90, 94, 98, 106-107, 108, 109, 110, 111, 117, 138, 139, 140-141, 149, 161, 175178, 187, 190-191, 213, 217219, 225-226, 227, 256, 282, 285-286, 361, 373, 375-376, 379, 387-388, 388, 393-395, 422-423, 428, 434, 438, 462, 474, 484, 486, 488-489 – gelebte Religion 374, 380, 399 – konkrete bzw. positive Religion 108, 118, 141, 142, 149 – philosophische Religion 70, 73-74 Religionsgeschichte 189-190 Religionsphilosophie 111 Romantik 432

Raum 415-416 Recht 68, 116, 230-231, 235, 237, 238-247 – positives Recht 229, 241244, 245

Säkularisierung, säkular 33, 486 Sakrament, sakramental 147148 Schuld 97 Sein 122-123, 134, 157, 260, 267-268, 327, 334

504

Sachregister

– Sein – Sollen 66, 232 Seinswissenschaft 123, 232, 234, 401 Selbst 158, 160 Selbstbewusstsein 43 – religiöses Selbstbewusstsein 194-195, 196-197, 200201, 206, 208-209, 227 Sinn 1-2, 3, 38, 46, 56, 58-59, 96, 97, 99, 112-113, 116, 122, 124-127, 157, 216-217, 230, 236, 245-246, 363-364, 365, 370, 381-382, 394, 397, 422, 431 – unbedingter Sinn 59 Sinneinheit 117, 118 Sinnform 115 Sinngehalt 115, 127 Sinngrund/-abgrund 114-115, 119-120, 422 Sinnkrise 96-97 Sinnleere 350 Sinntheorie 4, 37, 59, 94, 112, 215, 253, 338, 363 Sinntotalität 113-114 Sinnüberschuss 431 Sinnverlust 337-339 Sittlichkeit siehe Moral Sophisten 260 Sozialdemokratie 68 Sozialismus 83, 92 – religiöser Sozialismus 29-30, 131, 201, 204, 210, 287-288, 466-467 Spiel 445 Spiritualität 405, 474-475, 489 Sprache 160-161 Staat 82, 245

Standort 173-174, 181, 182, 189 Stil 316, 319-320 Stoa 251, 264, 266-275, 277278 Subjekt 158 Substanz 70, 140-141, 258-259 Sünde 373, 409-411, 413-414, 418 Supranaturalismus 52, 438 Symbol 30, 58, 86, 118, 121122, 141-142, 149, 205, 368 System 388, 391-392 Technik 160-161, 323, 472-473 Theodizee 269 Theogonie 41-42 Theokratie, theokratisch 147 Theologie 77-78, 91-92, 120, 137, 148-150, 193-194, 208, 209-210, 234, 265, 294, 300, 351, 360, 371, 378, 389, 390, 391, 433, 438, 439, 440, 442443 – historische Theologie 401 – liberale Theologie 191192 – praktische Theologie 349, 350, 352-354, 355, 366, 367, 368, 370, 373, 376, 378, 380, 383, 384, 394-395 – theologia crucis 20 – Theologie als Wissenschaft 293, 296-298, 301-304 Theonomie 32, 35, 106, 109, 118, 119, 143, 164, 198, 246, 248, 257, 282, 424, 476, 484 Transzendentalphilosophie 164-165

Sachregister

das Überseiende 85-86 das Unbedingte 56, 58, 60, 62, 102, 106, 114, 118, 132, 141, 196, 197, 198, 200, 201, 212, 228, 255, 256, 259, 294, 295296, 313-314, 315, 317, 456, 461, 474, 478, 481, 484-485 Urstoff 259, 260 Verifikation 300 Vernunft 37, 268, 271 Verstehen 165, 378, 392 Vorsokratiker 258, 260 Wahrheit 3, 17, 76-77, 253, 299-300 – absolute Wahrheit 78 Wahrnehmung 364-365, 369, 379, 384, 385

505

der Weise 264-265, 268, 269, 270, 271, 272, 273-275, 277 – der Weise – der Tor 267, 272-273 Welt 113, 159, 160 Wert 99, 102 Wesen 13 Wille 71, 221 Wirklichkeit 125, 359, 380, 403, 406-407, 414, 415 Wissen 123, 278, 295-296 Wissenschaft 75-76, 82, 116, 234-235, 294 Zirkel 441 Zweck 264 Zwei-Prinzipien-Lehre 21