Die Macht der Demokratie. Zur Organisation des Verfassungsstaats 9783848741717, 9783845283814


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German Pages 206 [205] Year 2018

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Die Macht der Demokratie. Zur Organisation des Verfassungsstaats
 9783848741717, 9783845283814

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Norbert Campagna, Luxemburg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 120

Georg Zenkert [Hrsg.]

Die Macht der Demokratie Zur Organisation des Verfassungsstaats

© Titelbild: Stock media provided by bbourdages/ Pond5. Das Bild zeigt einen Ausschnitt aus dem Giebel des Gebäudes des US Supreme Court.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4171-7 (Print) ISBN 978-3-8452-8381-4 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Glo‐ balisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« im‐ mer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Wei‐ marer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden.

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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Stu‐ dierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmit‐ telbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Georg Zenkert Einleitung I.

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Grundbegriffe

Kathrin Groh Verfassung und Macht

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Winfried Thaa Politische Macht in der repräsentativen Demokratie. Drei alternative Konzeptualisierungen und ihre Folgen für Gleichheit und Pluralität

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Ulrich Thiele Die Idee der Constituent Power zwischen Mythos und Verfahren. Die Überlegungen der Federalists im Vergleich mit konkurrierenden Ansätzen

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Thomas Petersen Die Macht des Volkes im Verfassungsstaat. Volkssouveränität und neue Formen der Demokratie

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Georg Zenkert Der Verfassungsstaat als Organisation reflexiver Macht

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II. Diagnosen Karin Priester „Das Volk ist in Ihm, und er ist im Volk“. Zum Verhältnis von Führer und Gefolgschaft in Faschismus und Populismus

145

Andreas Hetzel Staatliche Macht, Demokratie und Öffentlichkeit. Problematische Verschiebungen einer Konstellation

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Reinhard Mehring Gute Macht! Ulrich Menzel über die Ordnungsleistung der „großen Mächte“

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Autorinnen und Autoren

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Georg Zenkert Einleitung

Der Staat erscheint heute vielen als unzeitgemäß. Er gilt als funktional untauglich, weil er den globalen Herausforderungen nicht gewachsen zu sein scheint. Zugleich wird seine Legitimität angezweifelt, weil er sich gegenüber der Lebenswelt verselb‐ ständigt hat und den Partizipationserwartungen nicht gerecht wird. Die politischen Herausforderungen der Gegenwart sind in der Tat dramatisch. Die Staaten geraten zwischen die Fronten der Globalisierung einerseits und der Tribalisierung anderer‐ seits. Sie stoßen in ihrem Bemühen um die Lösung weltumspannender geopoliti‐ scher, ökonomischer und ökologischer Probleme an ihre Grenzen und geraten zu‐ gleich in vielen Regionen durch atavistische Stammesinteressen, religiös aufgeheizte gewalttätige Auseinandersetzungen und ethnisch bedingte Ressentiments unter Rechtfertigungsdruck. Die Schwächung der Macht der Staaten hat bislang weder zu einer erkennbaren Stärkung supranationaler Strukturen geführt noch die Demokratiedefizite minimiert. Das Bild ist ernüchternd: Wo staatliche Strukturen nur rudimentär entwickelt oder aufgelöst sind, herrschen kriminelle Clans, oligarchische Netzwerke und sich gegen‐ seitig bekämpfende militärische und paramilitärische Einheiten. Das ist der Zustand, den Thomas Hobbes als Krieg aller gegen alle charakterisiert hat. Wo die Lebensver‐ hältnisse einigermaßen sicher, menschenwürdig und friedlich sind, bestehen in der Regel stabile Staaten. Verlässliche internationale Strukturen etablieren sich nur inso‐ fern, als die sie tragenden Staaten funktionsfähig sind. Ist diese Koinzidenz nur zu‐ fällig? Offensichtlich gibt es auch Unrechtsstaaten, Gewalt, die von Staaten ausgeht, ganz zu schweigen von den verheerenden Kriegen des 20. Jahrhunderts, die im Na‐ men von Staaten initiiert und unter Einsatz aller verfügbaren Mittel geführt wurden. Aber liegt nicht auch diesen Konflikten eine Schwächung der Staaten zugrunde? Franz Neumann hat bereits 1942 in Bezug auf den Nationalsozialismus überzeugend dargelegt, dass diese totalitäre Bewegung und die von ihr aufgebauten Strukturen den Staat unterminiert und zugunsten der Partei partiell aufgelöst haben.1 Dies gilt auch für die fragile states der Gegenwart, wenn man den normativen Maßstab des Verfassungsstaates anlegt. In ihnen sind die staatlichen Strukturen nur rudimentär

1 Neumann 1984.

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entwickelt und die Machtbeziehungen verdanken sich nicht einer Verfassung, son‐ dern vorstaatlichen Kräfteverhältnissen. Das Versprechen, dass sich eine neue Politik der spontanen Organisation unter‐ halb staatlicher Institutionen, aber mit weltweiter Vernetzung in den sozialen Medi‐ en etabliert, hat seit dem Scheitern der Reformbewegungen in den arabischen Län‐ dern erheblich an Überzeugungskraft verloren. In der Vorstellung, die anspruchsvol‐ le Konzeption der öffentlichen Meinung durch das Gezwitscher zufälliger Meinun‐ gen ersetzen zu können, spiegelt sich eine unzulängliche Auffassung von Politik. Der Charme direktdemokratischer Meinungsäußerung sollte nicht darüber hinweg‐ täuschen, dass demokratische Meinungsbildung grundsätzlich auf Formen politi‐ scher Organisation angewiesen ist. Gegenwärtig und, so weit absehbar, auch in naher Zukunft werden zentrale politi‐ schen Funktionen unerachtet der Beschwörung der Macht supranationaler Organisa‐ tionen primär von Staaten übernommen. Dies gilt auch für globale Aufgaben. Ziele der Sicherheitspolitik, der wirtschaftlichen Entwicklung oder des Umweltschutzes lassen sich, wie leicht zu beobachten ist, nur dann erfolgreich verfolgen, wenn sich handlungsfähige Staaten dafür engagieren. Auch dort, wo diese Aufgaben nicht oder nur unvollkommen erledigt werden, ist bislang keine ernsthafte Alternative in Sicht. Die inneren, auf die Gestaltung der Lebenswelt bezogenen Aktivitäten der Sozialpo‐ litik, der Bildungspolitik, der Wirtschaftspolitik und andere klassische Staatsaufga‐ ben lassen sich kaum ohne Folgekosten an andere Instanzen delegieren. Die Privati‐ sierungswellen, die seit einigen Jahrzehnten durch die westlichen Gesellschaften zie‐ hen, erfassen meist nur marginale Bereiche und bleiben parasitär von den Ressour‐ cen der Staaten abhängig, die eine Art Ausfallbürgschaft übernehmen. Im Krisenfall werden sie in der Regel wieder staatlicher Verantwortung unterstellt. Die Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse hat längst auch die Po‐ litik erfasst. So wird auch der Staat tendenziell als Unternehmen betrachtet, das be‐ stimmte für die Gesellschaft relevante Güter und Dienstleistungen bereitstellen muss. Wird der Staat allerdings auf diese Rolle reduziert, dann ist er faktisch schon verabschiedet. Seine Aufgabe ist jedoch fundamentaler als jede wirtschaftliche Be‐ ziehung. Er ist die Einrichtung, die überhaupt die Voraussetzungen für privatrecht‐ lich begründete Verhältnisse sichert. Der Staat ist deshalb kein Vertragspartner, des‐ sen Berechtigung mit der Erfüllung bestimmter Erwartungen erkauft wäre. Prozesse der Legitimation bedürfen institutionell gesicherter Rahmenbedingungen. Die Eta‐ blierung eines rechtlichen Zustands und eines Verfahrens der Legitimation sind Auf‐ gaben, die nicht als Dienstleistungen verstanden werden können, sondern die Kon‐ stitution der Verhältnisse betreffen, in denen dann im gelungenen Falle über Güter und Dienstleistungen politisch und privatrechtlich verhandelt werden kann. Die zen‐ tralen Funktionen des Staates in ihrer wechselseitigen Bedingtheit sind nicht ohne gravierenden Legitimitätsverlust auf andere Organisationsformen zu übertragen.

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Man kann die Geschichte als eine endlose Reihe von Kämpfen betrachten, als eine Orgie von Gewalt und Unterdrückung. Dieses Interpretationsschema gewährt jedoch nur eine selektive Wahrnehmung des Staates. Dass der Staat als Machtinstanz keinen sonderlich guten Ruf genießt, ist besonders im Blick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht überraschend. Die negative Bilanz liegt auf der Hand. An‐ spruchsvoller ist der Versuch, in der Architektur staatlicher Institutionen die Spuren praktischer Vernunft und politischer Erfahrung zu erkennen. Für eine nüchterne Be‐ urteilung der politischen Verhältnisse ist es unumgänglich, sich auch die Errungen‐ schaften vor Augen zu führen, für die das Paradigma des Verfassungsstaates steht. Er ist eine Organisationsform des Politischen, die sich im 18. Jahrhundert etabliert und bis heute in den Grundprinzipien erhalten hat. Die mit ihm verbundenen norma‐ tiven Erwartungen lassen sich, stark vereinfachend, in drei Funktionsbereiche glie‐ dern. Erstens geht es um die Garantie der Integrität einer humanen Lebenswelt: Dass Menschen friedlich zusammenleben und ihr Leben nach ihren Vorstellungen führen, ist historisch gesehen ein eher unwahrscheinlicher Zustand. Der Staat ist diejenige Organisationsform, in der die Spielräume individueller Lebensführung und die Ent‐ faltung unterschiedlicher Überzeugungen und Lebensansichten in einer freien Ge‐ sellschaft auf beeindruckende Weise gesichert werden konnten beziehungsweise von dem diese Sicherheitsgarantie erwartet wird. Die zweite elementare Funktion ist die Herrschaft des Rechts als Grundbedingung einer rationalen politischen Organisation: Herrschaft des Rechts bedeutet zum einen die Durchsetzung des geltenden Rechts, die Rechtssicherheit, zum anderen die Transformation von Herrschaft in rechtliche Akte, die Verrechtlichung politischer Herrschaft. Dies ist die offensichtlichste Er‐ scheinungsform staatlicher Macht. Ihr Prinzip ist die Gewaltenteilung, die rechtlich geformte Macht so ausdifferenziert, dass sie ihre Wirkungen optimal entfalten und Missbrauch eindämmen kann. Der dritte Funktionsbereich ist die Moderation demo‐ kratischer Willensbildung: Natürlich sind Staaten nicht per se demokratisch, aber sie bieten die günstigsten Rahmenbedingungen, um Willensbildungsprozesse so zu or‐ ganisieren, dass Vielfalt der Perspektiven aufrechterhalten und dennoch Entschei‐ dungsfähigkeit gewährleistet ist. Das Modell des Verfassungsstaates bietet dafür un‐ terschiedliche Formen der Repräsentation an, um demokratischer Meinungs- und Entscheidungsbildung in der Dimension eines Flächenstaates zu realisieren. Reprä‐ sentation ist die Vergegenwärtigung des so genannten politischen Willens eines Vol‐ kes, die Grundlage demokratischer Entscheidungen. Dieser muss in der Vielfalt un‐ terschiedlicher Meinungsäußerungen und Interessen ermittelt werden. Das Majori‐ tätsprinzip, scheinbar ein einfaches und unumstrittenes Verfahren demokratischer Entscheidungsfindung, ist problematischer als zumeist angenommen. Es ignoriert die Rechte der Minderheit und selbst eine allseitige Zustimmung besagt noch nichts über die Richtigkeit einer Entscheidung. In den repräsentativen Strukturen des Staa‐ tes, die sich im Parlament, aber auch in den mannigfachen symbolischen Akten der

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staatlichen Institutionen dokumentieren, liegt das Potential der demokratischen Le‐ gitimation der kollektiv bindenden politischen Entscheidungen. Im Idealfall führt die Beteiligung an den Prozessen der Willensbildung zur Anerkennung von Entschei‐ dungen auch durch diejenigen Akteure, die zuvor andere Lösungen präferiert hatten. Genau dieser Zusammenhang wird aber offensichtlich in jüngerer Zeit immer fragi‐ ler. Die derzeitigen Herausforderungen des Staates insbesondere im Hinblick auf die Legitimität politischer Entscheidungen sind in der Tat immens. Die globalen Proble‐ me verlangen wirkungsmächtige internationale Organisationen, die jedoch immer nur insofern belastbar sind, als sie von handlungsfähigen Staaten getragen werden. Auch ein auf völkerrechtlichen Verträgen gegründeter Staatenverbund wie die Euro‐ päische Union basiert auf der Macht und der Legitimation der Einzelstaaten. Die zahlreichen Krisenherde der Welt sind immer auch und meist ursächlich auf Krisen der jeweiligen Staaten zurückzuführen. Die Institution des Staates kommt parado‐ xerweise nicht zuletzt deshalb in Verruf, weil viele Staaten nur als Torsos existieren, die von verbrecherischen Cliquen zur Ausbeutung des Landes genutzt werden. Ab‐ zuhelfen wäre diesem Missstand nur durch die Etablierung funktionierender staatli‐ cher Institutionen. Der Verfassungsstaat hat sich historisch in Gestalt des Nationalstaats durchge‐ setzt. Aber nicht nur die Entstehung, sondern auch die rückblickende Deutung dieser Geschichte ist mythenbehaftet. Dazu gehört auch die Unterscheidung einer volunta‐ tiv orientierten Auffassung der Nation, die Frankreich und den Vereinigten Staaten zugeschrieben wird, und einer ethnisch-kulturellen Variante, die für die deutsche Tradition charakteristisch sein soll. Wenn es zutrifft, dass als Nation nur ein zu poli‐ tischem Selbstbewusstsein gelangtes Volk aufgefasst werden kann,2 dann relativiert sich diese Unterscheidung.3 Nationalstaaten sind konstituiert durch allgemein geteil‐ te, grundlegende Überzeugungen, durch eine gewisse historische Kontinuität, durch eine darauf gründende Identität und den dadurch gestifteten kulturellen Zusammen‐ hang.4 Der Nationalstaat ist keineswegs, wie oft unterstellt, auf ethnische Homogenität hin angelegt. Ernest Renan betont 1882 in seiner berühmten Rede über die Frage „Qu‘est-ce qu‘une nation?“ gerade in Abgrenzung gegen jede ethnische Auffassung, dass die Nation eine Solidargemeinschaft ist: „. Sie setzt eine Vergangenheit voraus, aber trotzdem fasst sie sich in der Gegenwart in einem greifbaren Faktum zusammen: der Übereinkunft, dem deutlich ausgesprochenen

2 Dann 1993, S. 12. 3 Böckenförde 1999. 4 So Miller 1995, S. 22 ff.

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Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Das Dasein einer Nation ist - erlauben Sie mir dieses Bild - ein tägliches Plebiszit.”5

Dass sich Staaten in dieser Form und mit diesem Selbstverständnis etablieren und stabilisieren, hängt immer auch vom Selbstverständnis derer ab, die an dieser Ge‐ meinschaft teilnehmen. Dazu bedarf es aber auch entsprechender Strukturen, die den Prozess der Willensbildung moderieren. Diese Strukturen lassen sich nicht allein über die Deduktion oder Rekonstruktion von Normen eruieren, zumal die Genese und Durchsetzung von Normen selbst zum Aufgabenbereich des Staates gehört. Ein Staat ist immer auch eine Konstellation von Macht. Mag diese Feststellung auch all‐ zu selbstverständlich klingen, so besteht doch in Bezug auf die Begrifflichkeit, mit deren Hilfe die Machtstrukturen des Staates sich erschließen lassen sollen, keines‐ wegs Konsens. Der sozialwissenschaftliche Diskurs orientiert sich häufig noch an Webers Begriffsbildung, die stillschweigend darauf vertraut, dass Herrschaftsbezie‐ hungen und Rechtssystem analog strukturiert sind. In der politischen Philosophie wird das Machthema nur zögerlich aufgegriffen und tritt hinter Fragen der Legitimi‐ tät von Herrschaft zurück. In rechtswissenschaftlichen Studien werden Machtkon‐ stellationen primär in ihrer rechtsförmigen Gestalt wahrgenommen. Solange die Wirklichkeit normativ geprägter Macht, die sich in der institutionel‐ len Infrastruktur des Staates niederschlägt, opak bleibt, scheint sich Foucaults These zu bestätigen, dass der Staat nur eine zum Mythos erhobene Fiktion sei. Ziel des vorliegenden Bandes ist es dagegen, die Wirklichkeit des Staates als Machtgebilde und den damit verbundenen normativen Anspruch zu verstehen. Prägende Kategori‐ en der politischen Theorie und der Verfassungstheorie, „Demokratie“, „Volkssouve‐ ränität“, „verfassunggebende Gewalt“, die klassische Trias der staatlichen „Gewal‐ ten“ und andere Grundbegriffe stehen für eine intensive Verschränkung von Macht und Normativität, die in historischen und systematischen Betrachtungen zur Sprache kommen soll. Die begriffliche Unschärfe in Bezug auf die Erscheinungsformen staatlicher Macht wirkt sich auch auf die Thematisierung des demokratischen Verfassungsstaats aus. Die von Foucault und anderen betriebene Desavouierung des Staates entzieht einer stichhaltigen Analyse staatlicher Macht das Fundament durch seine semanti‐ sche Verschleierung. Auch eine ideale Demokratie ist auf Organisationsformen an‐ gewiesen. Verfassungen sind keine reinen Rechtskonstruktionen, sondern bilden die Struktur politischer Verhältnisse ab. Sie dokumentieren die Ordnung der Macht im Sinne einer der Macht auferlegten Ordnung, aber auch als die von der Macht ausge‐ hende Ordnung. Die gegenwärtige Krise der Demokratie ist nicht zuletzt auch dem Unverständnis dessen geschuldet, was Demokratie als Staatsform und als Machtkonstellation sein 5 Renan 1993, S. 308 f.

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kann. Sie ist strukturell der Krise der Staatlichkeit insgesamt auffällig ähnlich. Ursa‐ chen für den Vertrauensverlust in den Demokratien sind in allen drei genannten Funktionsbereichen des Staates auszumachen. Ihre Diagnose lässt auf eine Deforma‐ tion politischer Macht in den für demokratische Verfassungen entscheidenden Di‐ mensionen schließen: Erstens findet aktuell eine Zersplitterung der lebensweltlich situierten Öffentlichkeit statt. Die Öffentlichkeit verliert die Funktion eines Reso‐ nanzraums der Repräsentation. Während die traditionellen Medien diskreditiert wer‐ den, sind neue soziale Medien tonangebend mit ihrer Verschaltung ephemerer Mei‐ nungen, die überwiegend Stimmungen verstärken und Deliberation vulgarisieren oder übertönen. Gleichzeitig werden in den traditionellen Medien und den Schalt‐ stellen der Politik die Debatten von den Ergebnissen demoskopischer Umfragen do‐ miniert. Eine Bündelung privater Meinungen, als Scheinöffentlichkeit inszeniert, setzt indes eher dissoziative Kräfte frei. Die als Masse hochgerechneten und zu‐ gleich isolierten Individuen sind ideale Adressaten für den aufkommenden Populis‐ mus. Systematisch betrachtet handelt es sich dabei um den Verfall einer fundamenta‐ len Gestalt von Macht im Sinne von Handlungsmacht (dynamis, potentia). Sie ist die lebensweltlich etablierte Kompetenz, der sich nicht nur die gesellschaftlichen Akti‐ vitäten, sondern auch die Optionen politischen Handelns verdanken. Die Krisensymptome lassen zweitens auf eine tiefgreifende Diffusion von Herr‐ schaft schließen. Oberflächlich betrachtet scheint sich gegenwärtig die seit langem beschworene Ablösung des Nationalstaatsprinzips zu vollziehen. Sie gilt als er‐ wünscht oder zumindest unausweichlich, hinterlässt jedoch ein Machtvakuum. Die wachsende Interdependenz der Einzelstaaten führt de facto zu einem Souveränitäts‐ schwund, der in der politischen Theorie längst als überfällig gilt, tatsächlich aber gravierende Folgeprobleme aufwirft. Im Experiment der Europäischen Union lassen sich die Verwerfungen beobachten. Die Strukturen einer in unpersönliche Adminis‐ tration transformierten Herrschaft entziehen sich immer mehr der Legitimation. Poli‐ tik wird als bloße Herrschaftstechnik erfahren. In den byzantinischen Konstruktio‐ nen kaum mehr rekonstruierbarer Zuständigkeiten lässt sich politische Verantwor‐ tung nicht mehr zuschreiben. In dieses Vakuum treten in vielen Staaten autoritäre Führerpersönlichkeiten mit dem Angebot, Herrschaft jenseits der Rechtsstrukturen zu personalisieren und dadurch als unmittelbar wirksam darzustellen. Drittens ist die Krise das Symptom einer Dissoziation des „Wir“ als des Demos. Das „We the People“ war ursprünglich die Formel für die fundamentale Macht der Gemeinschaft, die sich eine Verfassung gibt. Diese Identität ist in vielen Staaten fragwürdig geworden. In ihrer degenerierten Form sucht sich die Gemeinschaft vie‐ lerorts ersatzweise durch die Identifikation von Herkunftsmerkmalen zu behaupten. Das vermeintliche Korrektiv, die kosmopolitische Perspektive, erweist sich als wir‐ kungslos, weil sie die drängende Frage der Mitgliedschaft ignoriert. Die Idee einer Solidargemeinschaft, die sich selbst die Regeln gibt und sich darin ihrer selbst versi‐

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chert, kommt so nicht in den Blick. Dabei handelt es sich um die Gestalt von Macht, mit der die Idee der Volkssouveränität assoziiert wird. Für jede Gemeinschaft sind Grenzen konstitutiv, die weder naturgegeben noch willkürlich sind. Sie lassen sich nur identifizieren durch eine Organisation von Macht, die das Objekt der Repräsen‐ tation, die Vielen, zum Subjekt der Repräsentation, das heißt in ein politisches Volk transformiert. Wie könnte ein Kreislauf von lebensweltlicher Kultur, Herrschaftsstrukturen und kollektiver Macht aussehen, der sich den destruktiven Kräften widersetzt? Wenn we‐ der in der Homogenität der Bevölkerung noch in der Universalität der Prinzipien die Lösung dieses Problems gefunden werden kann, muss sich eine Analyse auf den Weg einer differenzierten Untersuchung begeben. Dazu soll der vorliegende Band beitragen. Die einzelnen Studien stehen zwar nicht im systematischen Zusammen‐ hang von Handbuchartikeln, bieten aber dank des thematischen Spektrums und der dabei repräsentierten unterschiedlichen Disziplinen komplementäre Perspektiven auf den Zusammenhang von Macht und Verfassungsstaat, der sich keinem privilegierten Blick uneingeschränkt und umfassend zeigt. Der erste Teil des Bandes besteht aus der Analyse von Grundbegriffen in ihrem geschichtlichen Kontext. Die Studie von Kathrin Groh geht von der Feststellung aus, dass im Verfassungsrecht die Tendenz besteht, Macht in formales Herrschaftsrecht zu transformieren und primär unter diesem Blickwinkel wahrzunehmen. Macht, die nicht in rechtlich umhegter Gestalt erscheint, ist in juristischer Betrachtung deshalb nur schwer zu identifizieren. Genuin politische Machtkonstellationen erscheinen eher an den Rändern der Verfassung, wo die Verfassungsrechtsbindung nur locker oder überhaupt nicht gegeben ist. Wenn das Prinzip der Verfassung die Selbstbin‐ dung der Macht ist, dann kommt mit der Thematisierung politischer Macht im Kon‐ text des Verfassungsrechts eine signifikante Differenz zur Diskussion. Die juristi‐ sche Behandlung des Ausnahmezustands gibt zu erkennen, ob der Verfassung die Kraft zugesprochen wird, den Staat zu konstituieren oder ob sie nur den bereits vor‐ auszusetzenden Staat reguliert. In dieser Differenz zeichnen sich unterschiedliche Verfassungskulturen ab. Grundsätzlich gilt jedoch, dass Macht im modernen Staat durch Organisationen ausgeübt wird. Der Blick auf den Wandel der Staatlichkeit, auf den kooperativen und den postnationalen Staat, offenbart die Herausforderungen, vor der die zeitgenössischen Verfassungsstaaten stehen. Damit wird der mit dem Verfassungsstaat etablierte Zusammenhang von Verfassung und Macht in Frage ge‐ stellt. An der Machtfrage entscheidet sich, inwiefern die Idee der Verfassung an das Modell des Staates gebunden ist. Winfried Thaa untersucht die Machtkonstellation der repräsentativen Demokratie. Die in autoritären Entwicklungen sich niederschlagende Vorstellung, Demokratie sei die Herrschaft des sich unverstellt äußernden Volkswillens, basiert auf einer unzurei‐ chenden Vorstellung politischer Macht. Nicht der einheitliche Wille des Volkes, son‐

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dern die Differenz ist das Prinzip der Demokratie. Mit der Konzeptualisierung von Macht werden die Weichen gestellt. Max Webers herrschaftszentrierter Ansatz er‐ weist sich als nur bedingt mit pluralistischen Demokratiekonzepten vereinbar. Des‐ sen voluntaristische Prämissen legen vielmehr ein autoritäres Politikverständnis na‐ he. Die bestätigt sich nicht zuletzt in der jüngeren Weber-Rezeption. Habermas‘ Mo‐ dell der deliberativen Demokratie vermag zunächst den normativen Gehalt repräsen‐ tativer demokratischer Verfassungen besser darzustellen. Hier zeigt sich jedoch, dass die diesem Politikverständnis zugrunde liegende Vorstellung kommunikativer Macht dem problematischen Identitätsdenken verhaftet bleibt. Mit dem Rekurs auf Hannah Arendts Schriften erschließt Thaa einen weiteren Machtbegriff, der Macht als politi‐ sches Handlungspotential umfasst. Damit kann einer pluralistischen Konzeption re‐ präsentativer Demokratie Rechnung getragen werden. Der Beitrag von Ulrich Thiele verfolgt die Idee der constituent power als eine für den Verfassungsstaat grundlegende Form der Macht. Sie findet sich bereits in den Federalist Papers als die der Verfassung vorausgehende und zugrunde liegende Legi‐ timationsinstanz. Dort ist sie auf den vorrechtlichen singulären Akt der Verfassung‐ gebung zugeschnitten. Innerhalb der Verfassung dagegen sind keine legalen Wege der Verfassungsänderung vorgesehen. Die kurz darauf von Sieyes entwickelte zwei‐ stufige Konzeption von pouvoir constituant und pouvoir constitué ermöglicht dage‐ gen innerhalb der Verfassung eine auf legalem Wege durch repräsentative Prozedu‐ ren vollzogene Verfassungsmodifikation, die als Ausdruck der Volkssouveränität dargestellt wird. Entscheidend ist dabei die funktionale Trennung dieser Machtfor‐ men. Im Vergleich beider Konzepte zeigt sich, dass die Federalists die Frage nach den Verfahrensregeln für verfassungsändernde Souveränitätsakte zurückstellen zu‐ gunsten der Bestimmung des ‚Hüters der Verfassung‘. Für diese Aufgabe erscheint ein Supreme Court prädestiniert, dem eine herausragende Funktion im Verhältnis zu den anderen Gewalten zukommt. Während Jefferson der Einrichtung eines höchst‐ richterlichen Prüfungsrechts misstraut, nimmt Sieyes in seinen späteren Schriften eine vermittelnde Position ein, indem er dem Verfassungsgericht lediglich ein Vor‐ schlagsrecht einräumt und im Übrigen auf direktdemokratische Verfahren rekurriert. Die in den Antifederalists vorgeschlagene Lösung des Problems besteht in der Stra‐ tegie, das einfache Gerichtswesen als unabhängige Gewalt einzurichten, und nur den Supreme Court einer demokratischen Kontrolle durch einen Verfassungskonvent zu unterstellen. Die Position der Federalists bleibt im Vergleich mit diesen Varianten hinsichtlich der Institutionalisierung der verfassunggebenden Gewalt eher restriktiv. Thomas Petersen untersucht den Spielraum der Macht des Volkes im Verfas‐ sungsstaat. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die These, dass die für die Legiti‐ mität des demokratischen Verfassungsstaats unverzichtbare Idee der Volkssouveräni‐ tät einen deutlichen Bedeutungsverlust erfahren hat. Volkssouveränität als Modus von Macht betrachtet Petersen primär unter der Perspektive eines asymmetrischen

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Machtbegriffs als ein Verhältnis von Herrschaft im Sinne Max Webers, verbunden mit der Bedingung, zu wissen, was man will. Als Korrektur und Gegenstrategie zum Bedeutungsverlust bieten sich vor allem das Modell der deliberativen Demokratie und Strategien der Partizipation an. Habermas‘ Variante der deliberativen Demokra‐ tie zielt auf eine prozedurale Realisierung von Volkssouveränität, die kommunikativ generierte Macht in administrative transformiert. Allerdings verschwindet das Volk als Subjekt dabei in subjektlosen Kommunikationsformen. Das Konzept ist insofern reduktionistisch, als nur konsensorientierte Verständigung als legitimer Modus poli‐ tischer Auseinandersetzung akzeptiert wird. Die Strategie, um der Demokratisierung willen Partizipationsmöglichkeiten auszuweiten, wird vor diesem Hintergrund eher skeptisch beurteilt werden müssen. Es lässt sich vor allem für die Stärkung der Ak‐ zeptanz und Durchsetzbarkeit politischer Entscheidungen nutzen. Dies betrifft auch die von der Governance-Forschung untersuchten Maßnahmen, mit deren Hilfe Indi‐ viduen an der Regelung gemeinsamer Angelegenheiten teilnehmen. Meine Studie über Machtkonstellationen im Verfassungsstaat versucht der Kom‐ plexität des Organisationszusammenhangs gerecht zu werden, die das Wirkungsge‐ füge des modernden Staates ausmachen. Eine Voraussetzung dafür ist die Auseinan‐ dersetzung mit Webers Begriff der Herrschaft. Politische Macht entfaltet sich nicht nur in ihrer regulativen Funktion als Herrschaft, sondern auch in den Modi der ope‐ rativen und der konstitutiven Macht. Während der Begriff der operativen Macht das Handlungspotential der einzelnen und ihre Kooperationschancen im sozialen Um‐ feld identifiziert, steht der Terminus der konstitutiven Macht für die Kommunalität, die verfasste Gemeinschaft, die als Rechtssubjekt agiert. Im Zusammenspiel operati‐ ver, regulativer und konstitutiver Macht ergibt sich ein Machtkreislauf, der insbeson‐ dere in seiner demokratischen Variante reflexive Machtstrukturen generieren kann. Das Spezifikum demokratischer Machtbildung ist nicht die imaginäre Identität von Herrschern und Beherrschten, sondern die durch die Formen der Repräsentation hin‐ durchgegangene Vermittlung der Machtinstanzen bei gleichzeitiger Aufrechterhal‐ tung ihrer Trennung. Das Volk als politische Größe erscheint in den Strukturen der Repräsentation, mit der sich die Pluralität der Ansichten, Überzeugungen und Inter‐ essen vergegenwärtigt. Seine Beschwörung als unmittelbar zugängliche Machtin‐ stanz dagegen führt in den Sog populistischer Bewegungen, die das Machtgefüge der Staaten, in denen sie reüssieren, zu beschädigen drohen und damit Demokratie konterkarieren. Der zweite Teil des Bandes bietet diagnostische Schlaglichter. Die Studie von Ka‐ rin Priester widmet sich dem Phänomen des Populismus und geht der Frage nach, inwiefern der zeitgenössische Populismus durch charismatische Führerpersönlich‐ keiten geprägt ist. Während der Führermythos des Faschismus mit der Sakralisie‐ rung des Politischen verbunden ist, setzt das säkulare Charisma des Populismus auf eine Entpolitisierung des Politischen. Das Aufkommen der neuen Medien befördert

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die Personalisierung politischer Kommunikation. Die Mediendemokratie stellt so das klassische Modell der Verhandlungsdemokratie in Frage. Entgegen der Tendenz, Populismus durch einen besonderen Politikstil zu definieren, zeigt die Untersu‐ chung, dass im Populismus, wie bereits im Faschismus, der ideologische Kern und die mythischen Motive auch die Äußerungsform prägen. Im Unterschied zum Fa‐ schismus ist der Populismus nicht auf ein pädagogisches Verhältnis von Führer und Volk angelegt. Seine Charakteristika sind die Prinzipien der Familiarität, der Infor‐ malisierung, der Authentizität und des Starkults. Damit stilisiert er sich als Antipode des liberalen, der Rationalität verpflichteten Paradigmas mit dem unerfüllbaren Ver‐ sprechen, die Identifikation von Technokratie und Demokratie zu realisieren. Der Essay von Andreas Hetzel reflektiert über das Verhältnis von Macht und Öf‐ fentlichkeit in der Demokratie angesichts der Transformation der Öffentlichkeit in der medientechnisch geprägten Gesellschaft. Ausgangspunkt ist die These, dass eine fundamentale Aufgabe staatlicher Macht darin besteht, Prozesse öffentlicher Delibe‐ ration zu ermöglichen. Aus der politischen Öffentlichkeit wiederum schöpft staatli‐ che Macht ihre Legitimation. Öffentlichkeit ist der Ort, der die von Lefort so ge‐ nannte leere Mitte der Macht markiert. Im Blick auf die Genese der Öffentlichkeit seit der griechischen Polis werden zeitgenössische radikaldemokratische Theoriemo‐ delle zitiert, die für eine Stärkung des agonalen Prinzips der Öffentlichkeit plädieren. Wurden die neuen medientechnischen Entwicklungen zunächst als Motor der Demo‐ kratisierung gefeiert, so erweist sich inzwischen Skepsis als angebracht. In ihrer Ge‐ samtwirkung scheinen sie eine demokratische Öffentlichkeit eher zu gefährden als zu befördern. Der Band schließt mit einem Beitrag von Reinhard Mehring, der als Bespre‐ chungsabhandlung der groß angelegten Globalgeschichte Die Ordnung der Welt von Ulrich Menzel eine machtgeschichtliche Perspektive veranschlagt. Dass in der hi‐ storischen Betrachtung die Hegemonialansprüche im Vordergrund stehen, verleiht Menzels Studie einen realpolitischen Grundzug. Mehring bringt diese weltgeschicht‐ lichen Erörterungen in einen Dialog mit Hegels Geschichtsphilosophie. Menzels Historie sucht ohne idealistische Prämissen auszukommen und ist auf die Perspekti‐ ve China-USA fokussiert. Im globalen Wettbewerb der Hegemonialmächte erscheint Europa als eine kurze Episode. Die Tradition des Verfassungsstaates tritt mit der Konzentration auf militärische, technische und wirtschaftliche Entwicklungen in den Hintergrund und liefert nur die Begleitmusik. Macht gibt das Mandat zur Ordnung, dies ist das Credo der realpolitischen Geschichtsschreibung. Dass China auf dem besten Weg ist, sich wieder zur Hegemonialmacht aufzuschwingen und gleichzeitig die Vereinigten Staaten politisch diskreditiert und wirtschaftlich an eine Grenze ge‐ stoßen sind, lässt die Zukunft des demokratischen Verfassungsstaats in einem eher düsteren Licht erscheinen. Vielleicht ist diese Prognose, die sich aus der historischen Betrachtung extrapolieren lässt, aber auch der Unzulänglichkeit des dabei veran‐

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schlagten Staatsbegriffs geschuldet, wie Mehring mit Bezug auf Carl Schmitt er‐ wägt. Dieser Blick auf den historischen Kontext vermag die Bedeutung des demokrati‐ schen Verfassungsstaats insofern zu relativieren, als sich damit spekulative Ge‐ schichtskonstruktionen erübrigen. Seine normative Dignität und seine politische Re‐ levanz haben sich damit jedoch nicht erledigt. Das Potential des demokratischen Staates hängt auch in Zukunft ganz entscheidend von der Deutungsmacht seiner Mitglieder ab.

Literatur Dann, Otto (1993): Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990. München. Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1999): Die Nation – Identität in Differenz, in: ders., Staat, Na‐ tion, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. Frankfurt a. M. Miller, David (1995): On Nationality. Oxford. Neumann, Franz (1984), Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus (1942). Frankfurt a. M. Renan, Ernest (1882): (1993): Qu’est-ce qu’une nation? Paris 1882. In: Jeismann, Michael/ Ritter, Henning (Hrsg.): Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus. Leipzig. S. 290– 311.

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I. Grundbegriffe

Kathrin Groh Verfassung und Macht

1. Einleitung: Verfassung und Macht – ein triviales Thema? Dass (Staats-)Verfassung und politische Macht miteinander zu tun haben, erscheint auf einen ersten Blick selbstverständlich. Die Entwicklung von Herrschaftssystemen lässt sich in die Wechselbeziehungen zwischen Machtgeflechten auflösen und als „Geschichte der Macht“ betrachten.1 Staatsentstehungsprozesse lassen sich als Machtkonzentrationsprozesse beschreiben,2 politische Institutionen sind unaus‐ weichlich durch Machtbeziehungen geprägt und politische Prozesse sind durch Macht strukturiert.3 Die Verfassung ist eine Erscheinungsform von Macht.4 Verfas‐ sung verrechtlicht den Staat oder ist, anders ausgedrückt, die rechtliche Ordnung des Politischen. Dass juristische Verfassungstheorie sich deshalb explizit mit politikoder sozialwissenschaftlichen Machttheorien beschäftigt (oder umgekehrt), ist schon weniger selbstverständlich. Der umfangreiche und einzige deutsche Sammelband zum Grundlagenfach der juristischen Verfassungstheorie enthält nur ein Kapitel zum Thema „Verfassung und Politik“.5 In diesem Kapitel hätte der Anspruch des Verfas‐ sungsrechts, auf das Streben in der Politik nach Machtanteil, nach Machtbewahrung, Machtmehrung und auf die Beeinflussung der Machtverteilung im Staat einzuwir‐ ken,6 untersucht werden können. Denn die Frage nach dem Verhältnis von Verfas‐ sung und Macht lässt sich durchaus auch als Frage nach dem Verhältnis von Recht und Politik reformulieren, das in den Rechtswissenschaften breit diskutiert wurde und wird.7 Das Verhältnis von Verfassung und Macht wird aber auch in diesem Buch insgesamt nur implizit mitbehandelt. Fast scheint es im Horizont der Verfassungs‐ theorie so zu sein, als verwandele das Verfassungsrecht die Macht des Staates und die politische Macht im Staat in vollem Umfang in Herrschaft und Herrschaftsteil‐ nahme und zaubere die Macht damit einfach weg – zumindest aber aus dem Portfo‐ lio verfassungsrechtlicher Staatsbetrachtung hinaus. Diese erste Inaugenscheinnah‐ me besticht insofern, als dass Herrschaft als Steigerungsform von Macht ein recht‐ 1 2 3 4 5 6 7

Mann 1990. Reinhard 1999, S. 16. Anter 2017, S. 11 ff. Zenkert 2004, S. 15 f. Kempen 2010. Weber 1988, S. 506. Bereits Jellinek 1922, S. 17.

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lich umhegter Begriff ist, mit dem eine juristische Verfassungslehre, die vor allem auch die Rechtsbindungen des Staates durch Verfassungsrecht betrachtet, mehr an‐ fangen kann als mit dem rechtlich völlig ungebundenen und sozialwissenschaftlich ungeklärten Begriff der Macht. Macht ist ein Seinsbegriff. Er kommt von Machen und Können und nicht von Dürfen. Das Dürfen aber ist das Arbeitsfeld von juristi‐ scher Verfassungstheorie und Verfassungsrechtsdogmatik: Wo das Verfassungsrecht und die Gesetze herrschen, hat die Macht, die als Faktum immer doch irgendwie un‐ gesetzlich und bedrohlich scheint, keinen Platz mehr – oder kann allenfalls als Ano‐ malie gelten. Auch auf einen zweiten Blick bleibt die Beobachtung stichhaltig. Rechtswissenschaftliche Abstecher in die klassische politische Soziologie berufen sich oftmals auf Max Weber. Weber beschreibt Macht als die Chance, innerhalb einer jeden sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzu‐ setzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.8 Und er definiert Herrschaft als die‐ jenige Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehor‐ sam zu finden. Mit diesem Subordinationsverhältnis ist staatliche Herrschaft als eine – auch rechtlich – institutionalisierte Form von Macht angesprochen, die zudem in einen Legitimationszusammenhang eingebettet sein muss.9 Herrschaft ist also Macht mit Legitimation. Macht alleine dagegen hat alle diese Attribute, die für rechtswis‐ senschaftliche Operationen mit soziologischen Begriffen wichtig sind, bei Weber nicht. Macht ist normativ indifferent. Sie ist zunächst eine normlose Größe,10 schafft aber Normen wie die Verfassung, mit denen sie sich selbst festigt und bindet und auf diesem Weg zur Herrschaft wird.11Die politische Macht in demokratischen Verfas‐ sungsstaaten zu orten, ist für eine rein juristische Betrachtung schwierig. Verfas‐ sungsrechtliche Regelungen helfen hierbei nur bedingt, denn die Regierungsform, die sie verfassen, kann, muss aber nicht die wahre Machtverteilung im Staat ausdrü‐ cken.12 Das Verhältnis von Verfassung und Macht lässt sich verfassungstheoretisch deshalb am besten von den Rändern des Verfassungsrechts her betrachten, von dort aus also, wo Verfassungsrechtsbindungen von Staatsgewalt gelockert oder gar nicht vorhanden sind, und verfassungsrechtlich nicht gebundene Macht ins Spiel kommt.13 Hierzu ist es allerdings vorab nötig, Idee und Anspruch von Verfassung ins Verhält‐ nis zur Macht zu setzen, verschiedene Verfassungsbegriffe und ihr Verhältnis zur Macht zu klären, um dann schließlich ein Paradoxon zu schildern. Gemeint ist damit die Verfallsgeschichte der nationalen Verfassung und ihres Steuerungsanspruches gegenüber innerstaatlichen, supra- oder transnationalen politischen Mächten auf der 8 9 10 11

Weber 1985, S. 28. Weber 1985, S. 66 f., 122, 541. Plessner 2003, S. 261 f., 273 f. Di Fabio 1998, S. 25 f.: Durch Institutionalisierung wird die Macht zu Herrschaft und damit le‐ gitimiert und rechtlich begrenzt. Ähnlich Anter 2017, S. 48. 12 Greven 1991, S. 118 f. 13 Kritisch zu diesem Ansatz Imbusch 1998, S. 17 f.

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einen, und die Erfolgsgeschichte der symbolischen Macht des Verfassungsbegriffs auf der anderen Seite, der in alle erdenklichen Herrschaftssysteme jenseits des Na‐ tionalstaats expandiert.

2. Der Clou der Verfassunggebung: Selbstbindung der Macht Die Karriere des Verfassungsbegriffs in Europa begann mit der amerikanischen und der französischen Revolution. In Europa grassierte im Anschluss an die Verfassung‐ gebungen in Frankreich und in Nordamerika im späten 18. Jahrhundert ein „Verfas‐ sungsfieber“. Jedem freiheitlichen und fortschrittlichen Staat wurde eine Verfassung verordnet. Der Begriff Verfassungsstaat gebührt seither nur demjenigen Staat, in dem eine rechtliche Verfassung im Sinne eines geschriebenen Verfassungstextes gilt. Die Inhalte moderner Verfassungen folgen noch heute dem französischen und dem amerikanischen Verfassungsideal. War Verfassung zuvor ein bloß faktischer Begriff gewesen, der den Zustand eines Staatsgebiets beschrieb, hat der moderne Verfas‐ sungsbegriff nun einen normativen Sinn. Verfassung formuliert rechtlich verbindli‐ che Bedingungen für legitime Herrschaft. Der moderne juristische Verfassungsbegriff adressiert also nicht eine dem ge‐ schriebenen Recht vorausliegende „politische“ Verfassung als existenzielle Gesam‐ tentscheidung der staatlichen Gemeinschaft über Art und Form ihrer politischen Ein‐ heit. Diesen Verfassungsbegriff hatte Carl Schmitt seiner „Verfassungslehre“ zu‐ grunde gelegt, um die bindende Wirkung des schnöden Verfassungsgesetzes gegen‐ über der machtvollen Politik aufzuweichen.14 Realistisch betrachtet wird die Ent‐ scheidung über die Regierungsform selbst aber auch in anschließend demokratisch verfassten Staaten nicht rechtlich gesteuert. Sie ist vielmehr eine politische Entschei‐ dung, die dann in Verfassungsrecht umgesetzt wird. Das gilt auch, wenn man, wie Hans Kelsen, geltungstheoretisch anstelle der normativen Kraft des Faktischen, nämlich der normbildenden Macht, die der Verfassunggebung vorausliegt, einen so genannten „historisch ersten Gesetzgeber“ favorisiert, der die Grundnorm für die Geltung der nachfolgenden Rechtsordnung setzt. Denn selbst die Grundnorm als Geltungsgrund allen Rechts bedeutet „in einem gewissen Sinne die Transformation der Macht zu Recht“.15 Wie das Recht insgesamt verhält sich damit auch das Verfassungsrecht zur Macht durchaus dialektisch. „Wer den Schleier [des Rechts] hebt und sein Auge nicht schließt, dem starrt das Gorgonenhaupt der Macht entgegen“:16 Verfassung domesti‐ ziert Macht zwar, ist gleichzeitig aber auch ein Ausfluss aus den bestehenden 14 Schmitt 1928, S. 20. 15 Kelsen 1925, S. 104; ders. 1928, S. 65 (Zitat). 16 Kelsen 1927, S. 55.

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Machtverhältnissen und stützt sie, denn was verfassungsrechtlich gilt, wird (mehr‐ heits-) politisch bestimmt. In Frankreich hatte Alexis de Tocqueville deshalb gespot‐ tet, dass die neun oder zehn Verfassungen, die sich dort mit Anspruch auf je ewige Geltung seit den sechzig Jahren nach der Revolution regelmäßig abwechselten, poli‐ tische Macht eher konsolidiert als geformt hätten.17 Der Clou des Verfassungsrechts ist aber die an die Verfassunggebung anschlie‐ ßende Bindung der verfassunggebenden politischen Mächte. Die geregelten Inhalte und Verfahren der Politikgestaltung sind nach Inkrafttreten einer Verfassung der Dis‐ positionsfreiheit der politischen Organe entrückt.18 In der juristischen Kraft der mo‐ dernen Verfassung wirken deshalb heute vor allem drei Komponenten: die Normati‐ vität der Verfassung, ihr Vorrang als höchste Rechtsquelle im Staat und die Absiche‐ rung ihrer Durchsetzungsfähigkeit durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit. Fehlt es an diesen rechtsstaatlichen Garantien für die machtbegrenzende Wirksamkeit von Verfassungsrecht, dann besteht allerdings die Gefahr, dass die Verfassung zu einer so genannten semantischen Verfassung, also zur Machtmaskerade in einem Staat wird, dessen Machthaber nicht gewillt sind, sich ihren rechtlichen Vorgaben zu beugen.19

3. Demokratisches Verfassungsrecht und Machtkreisläufe Die Macht des Territorialstaates besteht in seiner zentralen Regelungsgewalt, die von einem entsprechenden Sanktionspotential flankiert wird: Politische Macht des Staates ist territorial monopolisierte Regelungs- und Zwangsgewalt.20 Die moderne demokratische Verfassung, die sich untrennbar mit dem Nationalstaat verknüpft hat, tritt mit dem Anspruch auf, staatliche Macht zu domestizieren, zu disziplinieren, ge‐ recht zu verteilen, rechtlich zu begrenzen, zu formalisieren und zu kontrollieren. Sie will unerwünschte Machtballungen unterbinden und die Träger von Herrschafts‐ macht in die öffentliche Verantwortung hineinstellen. Die moderne demokratische Verfassung ist eine Antwort auf die Erfahrungen mit absoluter Macht unter dem Ab‐ solutismus und Konzeptualisierung von Volkssouveränität. Sie steht im Spannungs‐ verhältnis von Macht und Freiheit. Ihre Väter allerorten hatten im Hinterkopf, dass Macht korrumpiert und zuviel Macht der Herrschenden die Freiheit der Beherrsch‐ ten bedroht. Deshalb sollen Verfassungen Vorkehrungen treffen, um den Missbrauch von Macht zu verhindern. Ein demokratisch verfasster Staat ist ein Herrschaftssys‐ tem, in dem Machtkreisläufe zwischen Herrschenden und Beherrschten durch die Beteiligung des Volkes formiert werden: Die Staatsorgane treffen allgemein binden‐ 17 18 19 20

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Nach Roellecke 2010, Rdnr. 2. Scheuner 1979, S. 112; Schuppert 2003, S. 798 f. Wahl 1981, S. 485; Isensee 2010, Rdnr. 7; Böckenförde 1999, S. 128 f. Mann 1990, S. 51 ff., 65.

de Entscheidungen, die in Wahlen und Abstimmungen vom Volk kontrolliert, hono‐ riert oder sanktioniert werden.21 Die punktuelle politische Macht des Wahlvolkes wird flankiert von seiner dauerhaften kommunikativen Macht, die von den politi‐ schen Kommunikations- und Assoziationsgrundrechten einer Verfassung strukturiert wird. Grundrechtlich abgesicherte Überzeugungsbildung in der Öffentlichkeit er‐ möglicht ein lautstarkes, engagiertes und mächtiges konsensuelles Zusammenhan‐ deln der Bürger im Sinne von Hannah Arendts Machtbegriff.22 Die Macht der Herr‐ schenden und die Macht der Beherrschten in einer Demokratie beruhen auf Gegen‐ seitigkeit. Demokratische Verfassungen regeln Machtverhältnisse, prozeduralisieren sie, binden sie an inhaltliche Vorgaben und sorgen für eine gerichtliche Kontrolle dieser Kautelen. Damit effektuieren sie aber gleichzeitig auch das Handeln der Beteiligten, weil sie Machtverhältnisse genauso befestigen und stabilisieren wie entpersönlichen. In einer geschriebenen Rechtsordnung regiert es sich leichter als in persönlichen Loyalitätsverhältnissen. Verfassungsrecht, wie Recht überhaupt, verhält sich zur Macht also mehrdeutig. Verfassungsrecht beschränkt Macht, ist selbst mit Macht aber insoweit verschränkt, als dass es gleichzeitig Macht verleiht, weil es Macht or‐ ganisiert, rationalisiert und legitimiert: Ein (geglaubtes) Recht zur politischen Macht erleichtert die Machtausübung. Die Rationalisierung des Herrschaftsapparats erhöht die Durchsetzungschancen der Bürokratie.23 Verfassungsrecht benötigt aber gleichzeitig eine hinter ihm stehende Macht, um zu wirken.24 Das zeigen die vielen Verfassungskämpfe im langen 19. Jahrhundert in Europa. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist der verfasste Staat die Regel. Ver‐ fassungsrecht ist, anders als einfaches Recht, das das Drohpotential des staatlichen Gewaltmonopols hinter sich weiß, auf freiwillige Befolgung der Verfassungsorgane angewiesen – und damit auf freiwillige Befolgung ausgerechnet derjenigen Kräfte, die imstande sind, sich den Verfassungsrechtsbindungen zu entziehen. Der Wille zur Verfassung muss also vorhanden sein.25 Die Positivierung des Verfassungsrechts hat nämlich auch zur Folge, dass Verfassungsrecht verfügbar geworden ist, jederzeit ge‐ ändert und damit instrumentalisiert werden kann. Die Macht, ausbrechendes Verhal‐ ten von Staatsorganen zu verhindern, liegt hier in der Anerkennung der Verfassung durch die öffentliche Meinung, die bei Unzufriedenheit dem politischen System oder einzelnen politischen Institutionen die Gefolgschaft verweigern könnte. Diese Macht wirkt still, dafür als „plébiscite de tous les jours“ aber umso kontinuierlicher, weil sie von einem Set an Idealen animiert wird, das überzeugt – oder zumindest von der

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Buchstein 1993, S. 257; Göhler 1997, S. 40 ff.; ausführlicher Luhmann 1969, S. 165 f. Arendt 1971, S. 45. Roellecke 2010, Rdnr. 65 f. Kriele 1975, S. 22 ff. Hesse 1959.

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Macht der normativen Gewohnheit getragen wird.26 Die dauerhafte Unterstützung des Volkes für die Verfassung ist die Fortsetzung des ursprünglichen Konsenses der verfassunggebenden Gewalt, einer unverfassten Macht, die sich als Grenzbegriff des Verfassungsrechts nur schwerlich effektiv verfassungsrechtlich binden lässt.27

4. Machtbeschränkung und Machtkontrolle durch Verfassungsrecht Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich verbalisierte die Verfassungssehnsucht des 18. Jahrhunderts, nämlich Freiheit durch Machtbe‐ schränkung zu garantieren. Er lautet: „Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfas‐ sung“. Verfassungen treffen daher in der Regel Bestimmungen über Organe, Kompeten‐ zen und Verfahren von Rechtserzeugung und Rechtsdurchsetzung. Sie gliedern die Staatsgewalten und – je nach Staatsstruktur – die Ebenen eines föderalen Regie‐ rungssystems. Sie positivieren die Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte und domestizieren sie durch den Rechtsstaat. Seit Montesquieus „Geist der Gesetze“28 hat sich vor allem die Teilung der Ge‐ walten als machtbremsendes Modell freiheitssichernder Verfassungsgestaltung durchgesetzt. In den demokratischen Verfassungen der Staatenwelt taucht die Ge‐ waltenteilung in den unterschiedlichsten Variationen auf, die in ihrer Bandbreite durch tatsächliche Entwicklungen im Verfassungsleben der Staaten noch einmal po‐ tenziert werden. Horizontal geht es dabei um mal striktere, mal weniger strikte Ge‐ waltenteilung im Sinne von Trennung der Staatsgewalten oder im Sinne von Zuord‐ nung der Staatsgewalten zueinander. Vertikal geht es in föderalen Staaten um Ge‐ waltenteilung auf den verschiedenen Ebenen der Staatsgewalt. Es lässt sich anzwei‐ feln, ob die Gewaltenteilung noch ein echtes politisches Machtverteilungsprinzip ist.29 In jedem Fall aber drückt sich ihr Beschränkungsgedanke in der verfassungs‐ rechtlichen Zuteilung von Kompetenzen an die unterschiedlichen Staatsorgane der verschiedenen Staatsebenen und Staatsgewalten aus. Keine Gewalt darf ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über eine andere Gewalt erhalten.30 Überschreitungen von Kompetenztiteln sind anhand von ultra-vires-Lehren kontrol‐ lierbar. Im Kompetenzstreit müssen sich die Verfassungsorgane also auf Verfas‐ sungsrecht berufen, das den Streit um die Macht in einen Streit um das Verfassungs‐ recht verwandelt. Der Schutz der Freiheit gegenüber den Bedrohungen durch die 26 27 28 29 30

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Han 2015, S. 9 ff., 20 ff., 48 ff., 58 ff. Waldhoff 2010, Rdnr. 1 ff. Montesquieu 1748/1951, S. 213. Cornils 2010, Rdnr. 25. BVerfGE 95, 1 Rdnr. 43.

Staatsmacht ist damit grundsätzlich gesichert. Grundrechtliche Verbürgungen, Kom‐ petenzzuweisungen, Verfahrensvorgaben und Rechtsweggarantie schließen zwar nicht aus, dass staatliche Organe ihre Macht missbrauchen,31 doch grenzüberschrei‐ tendes Handeln des Staates kann spätestens von dem Organ unterbunden werden, das nach der jeweiligen Verfassungsordnung als Hüter der Verfassung das letzte Wort hat. Die britische Tradition verlässt sich hier mit dem Parlament auf ein politi‐ sches Organ, ebenso wie die V. Französische Republik, die den Staatspräsidenten als Verfassungshüter installiert hat.32 Die amerikanische Tradition, die die deutsche Ver‐ fassung modifiziert übernommen hat, setzt dagegen auf ein Gericht, das Verfas‐ sungsstreitigkeiten nach juristischen Regeln entscheidet. Damit stellt sich aber so‐ gleich das Problem der Über-Macht der Verfassungsgerichtsbarkeit in verfassten Staaten. Staatliche Herrschaft ist rechtlich codiert. Politisches Recht wie das Verfas‐ sungsrecht ist deutungsoffen und auslegungsbedürftig.33 Es lässt seinen Interpreten große Auslegungsspielräume und läuft Gefahr, die Verfassungsgerichtsbarkeit als einen übergeordneten Machtfaktor zu institutionalisieren,34 der, ohne ausreichend demokratisch legitimiert zu sein, über das Ob und Wie der Verfassungsrechtsbin‐ dung der anderen Staatsorgane entscheidet: „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is […].“35 Wer das letzte Wort über die Verfas‐ sung hat, ist aber ihr Herr und nicht bloß ihr Hüter. Wer kontrolliert also die Macht der Kontrolleure? Das ist ein viel beschriebenes Problem im Machtkreislauf demo‐ kratisch verfasster Staaten mit einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit.36

5. Macht von den Rändern der Verfassung her betrachtet Wieweit der normative Steuerungsanspruch der Verfassung gegenüber dem Staat reicht, und ob er sich einlösen lässt, zeigt sich immer dann, wenn Verfassungsver‐ wirklichung prekär wird.

5.1. Wer hat die Macht im Ausnahmezustand? Das Handeln der verfassten Staatsgewalt kann im ernsten Konfliktfall von einer Rechts- zu einer Machtfrage werden. Ob und wie Verfassung den Ausnahmezustand 31 32 33 34 35 36

Böckenförde 1991, S. 264 f. Heseler 2007, S. 585 ff. Böckenförde 1991, S. 16 ff. Limbach 1995; Vorländer 2006. Hughes 1908, S. 139. Massing 1967, S. 128 f.: Die Diskussion über die Interpretationsautonomie des Bundesverfas‐ sungsgerichts hat den Zweck, die wahre Macht des heimlichen Souveräns zu kaschieren.

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rechtlich regeln soll oder kann, ist eine Glaubensfrage unter den Verfassungsrecht‐ lern, deren Justiziabilität zudem verschieden gelöst werden kann. Der Grad der Verrechtlichung und der normative Anspruch des Verfassungsrechts sind in Deutschland hoch. Andere Rechtskulturen gehen andere Wege. Das spiegelt sich anschaulich im Umgang der Verfassungsgerichtsbarkeiten mit politischen Machtfragen wider. Anders als das Bundesverfassungsgericht in Deutschland wen‐ det z.B. der US Supreme Court auf politische Machtfragen die so genannte „political question doctrine“ an, unter deren Schirm er sich aus verfassungsrechtlich nicht ein‐ deutig geregelten Machtverteilungskämpfen zwischen den Staatsorganen heraushal‐ ten kann.37 Für das deutsche Verfassungsrecht, in dessen Juridifizierung und Verwis‐ senschaftlichung von Politik sich die deutsche Aversion gegen die vermeintlich be‐ drohliche Irrationalität von Politik spiegelt,38 ist die political question doctrine dage‐ gen ein No Go: Das deutsche Bundesverfassungsgericht entscheidet auch politische Machtfragen. Inwieweit die geschriebene Verfassung jedoch in aufgewühlten Zeiten ihren Re‐ gelungsanspruch erhebt oder aber nicht nur ihren Steuerungsanspruch, sondern viel‐ leicht auch ihren Geltungsanspruch zurückfährt, hängt von mehreren Voraussetzun‐ gen ab. Zum einen spielen hier unterschiedliche Verfassungsverständnisse eine Rol‐ le, nämlich zunächst die Unterscheidung zwischen der konstituierenden und der be‐ grenzenden Funktion von Verfassung. Nach einem vorwiegend aus der französi‐ schen und der nordamerikanischen revolutionären Tradition stammenden Verständ‐ nis ist Verfassung für den Staat konstitutiv. Sie allein erschafft den Staat und schafft legitime Träger von Herrschaftsgewalt, denen sie abschließend ihre Kompetenzen zuweist. Verfassung will die Gesamtheit der Ausübung von Staatsgewalt lückenlos binden. Verfassungsrechtsfreie Räume von Staat und Staatsgewalt gibt es nicht. Es gibt vielmehr nur so viel Staat, wie die Verfassung ihn konstituiert. Jedes Staatsor‐ gan steht unter der Verfassung und ist ein pouvoir constitué. Staatshandeln ist weder gegen die Verfassung noch ohne die Verfassung legitim. Kein Staatsorgan kann sich auf vor- oder außerverfassungsrechtliche Befugnisse berufen.39 Eine andere Auffassung spricht der Verfassung lediglich eine den ihr vorauslie‐ genden Staat begrenzende Funktion zu. Historisch kommt diese Auffassung aus dem deutschen Konstitutionalismus, also aus einer Zeit, als die Monarchen aus eigener Machtvollkommenheit dem Volk Verfassungen freiwillig gewährten. In Deutschland wurden Verfassungen in der Regel nicht revolutionär, sondern evolutionär einge‐ führt. Die monarchische Souveränität lag der Verfassung voraus und bildete ihren ju‐ ristischen Geltungsgrund. Verfassung begrenzte Herrschermacht lediglich in dem

37 Seidman 2004, S. 445 ff. 38 Grimm 1969, S. 501. 39 Kelsen 1928, S. 88; Möllers 2009, S. 229 ff.; Unruh 2002, S. 12; Hofmann 1999, S. 1066.

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Umfang, wie sie sie regelte.40 Die Idee von der den Monarchen bloß begrenzenden Verfassung überträgt einen Teil der moderneren Staatsrechtslehre auf den Staat: Der Staat ist vor der Verfassung als Machteinheit bereits da und wird nicht erst durch die rechtliche Verfassung hervorgebracht.41 Handlungsverbote ergeben sich deshalb nicht aus dem Fehlen verfassungsrechtlicher Regelungen, sondern einzig aus verfas‐ sungsrechtlich geschriebenen Schranken für Staatstätigkeit. Dem Staat ist folglich erlaubt, was die Verfassung nicht ausdrücklich verbietet. Diese unterschiedlichen Verständnisse von Verfassungsfunktionen wirken sich in Notfalllagen des Staates unterschiedlich aus. Gilt das Prinzip des Verfassungsvorbe‐ halts für alle Staatstätigkeit, dann müssen auch Notstands- und Ausnahmebefugnisse einem Organ zugewiesen sein. Sind sie nicht zugewiesen, sind sie nicht existent und auch nicht evozierbar, weder durch einen Rekurs auf das Lebens- oder Selbsterhal‐ tungsinteresse des Staates, noch über einen Rückgriff auf ein so genanntes unge‐ schriebenes „Übergangsverfassungsrecht“ für die Dauer bis zur Beseitigung der Not‐ lage. Denn alle Machtausübung ist legitim nur nach Maßgabe des geschriebenen Rechts. Wer trotzdem handelt, handelt außerhalb verfassungs- oder staatsrechtlicher Legitimation. Begrenzt Verfassung dagegen nur einen präexistenten Staat, schiebt sich das Selbsterhaltungsinteresse dieses Staates vor den Geltungsanspruch des Ver‐ fassungsrechts. Der Rückgriff auf ungeschriebene Notrechte dient dem Staatserhalt. Und diesen Rückgriff auf ungeschriebenes Recht kann sich nur derjenige im Staat anmaßen, der die Macht dazu hat. Ein historisches Beispiel hierfür ist der preußische Verfassungskonflikt. Weil ein Haushaltsgesetz im Zusammenwirken zwischen den tragenden Staatsorganen, dem Monarchen und dem Reichstag, nicht verabschiedet werden konnte, der Staat für seinen Selbsterhalt aber finanzielle Mittel brauchte, be‐ hauptete die Politik eine Lücke in der Verfassung. Die den Lebenswillen des Staates verkörpernde Macht des Monarchen schloss ohne verfassungsrechtliche Ermächti‐ gung diese Lücke – und gab Geld auch ohne Haushaltsgesetz aus. Das Staatsrecht hörte hier auf42 – oder besser: es musste als hinderlich vor dem Staatserhalt wei‐ chen.43 Im Ausnahmezustand trennen sich die Normativisten von den Dezisionisten. Nor‐ mativisten behaupten auch in Sondersituationen den Geltungs- und Steuerungsan‐ spruch des Verfassungsrechts. Sie versuchen, den irregulären Ausnahmezustand an‐ tizipierend zu regulieren. Üblicherweise plädieren sie für ein in der Verfassung selbst als geschriebene Regelungsressource vorgehaltenes Sonderverfassungsrecht für alle Arten von bekannten Notfällen, wie tatsächliche, politische oder militärische Katastrophen. Sie beharren auf Regulierung, und sei es auch nur durch Notrecht in 40 41 42 43

Heun 2006, S. 373 f. Depenheuer 2010, Rdnr. 16. Meyer/Anschütz 1919, S. 906. Boldt 1975.

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Form von weit gefassten Generalklauseln, die aber zumindest ein handlungsmächti‐ ges Staatsorgan benennen und dieses Organ einem Minimum von Rechtsbindung und Rechtskontrolle unterwerfen.44 Dezisionisten dagegen lassen die Verfassung im Ausnahmezustand abdanken – entweder übergangsweise oder dauerhaft. Geltungstheoretisch setzen Normen näm‐ lich Normalität voraus. Rechtsnormen bauen darauf, dass der Staat stabil bleibt und in jeder Lage handlungsfähig ist. Ohne Normalität verwandelt sich das „Zauberper‐ gament“ Verfassung dagegen in ein tumbes Stück Papier, das den staatlichen Überle‐ benswillen nicht mehr bändigen kann.45 Verfassungsnormen verlieren damit im Aus‐ nahmezustand nicht nur ihre Wirksamkeit, sondern auch ihre Geltung, da es keine Norm gibt, die auf ein Chaos anwendbar wäre.46 Die Rechtsfrage, was von Verfas‐ sungs wegen gilt, wird abgelöst durch die Machtfrage, wer was wie entscheidet.47 Die verfassungsrechtliche Antwort auf die Glaubensfrage des Ausnahmezustandes hängt von den geschichtlichen Erfahrungen und der rechtlichen Kultur der jeweili‐ gen Verfassungsstaaten ab.48

5.2. Verfassung im Wandel von Staatlichkeit: der kooperative und der postnationale Staat Verfassungsrecht hat den Anspruch, Politik, will heißen: die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen durch die Bewohner eines Staates zur Gestaltung ihres Zusammenlebens nach eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen zu ermöglichen. Hierfür normiert es die das Volk repräsentierenden Organe der staatlichen Entscheidungsge‐ walt, regelt den Zugang zu ihnen und legt die Verfahren der Ausübung von Entschei‐ dungsgewalt fest. Es verteilt Machtpositionen, denn der Prozess staatlicher Rechts‐ erzeugung ist vor allem durch den Einsatz von Macht bestimmt: Wer die Rechts‐ macht der Verfassung besitzt, hat die Befugnis, seine Macht zur Gestaltung der Ge‐ sellschaft nach seinen Vorstellungen zu nutzen.49 Recht ist damit auch ein Werkzeug der Politik. In demokratisch verfassten Staaten geht es um rechtlich kontrollierte De‐ legation von Macht auf die rechtsetzenden Repräsentanten des Volkes.50 Ein geord‐ netes, vorab festgelegtes Verfahren der politischen Willensbildung entlastet dabei

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Böckenförde 1978, S. 1886. Depenheuer 2010, Rdnr. 29 f. Heller 1963, S. 255. Schmitt 2004, S. 18 f.; Isensee 2010, Rdnr. 101. Zu den „inherent emergency powers“ in den den USA vgl. US Supreme Court, 1952: Youngs‐ town Sheet & Tube Co. v. Sawyer, 343 U.S. 579; Ferejohn/Pasquino 2004, S. 228 ff. 49 Preuß 1994, S. 115 f.; Marxsen 2011, S. 187. 50 Roellecke 2000, S. 15 ff.

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den politischen Prozess. Es ist nötig, wenn Ausübung von Staatsgewalt nicht der „Zufälligkeit regelloser Machtkämpfe“51 überlassen bleiben soll. Seit Jahrzehnten findet allerdings ein Wandel von Staatlichkeit statt,52 der diese Funktion von Verfassung nicht unbehelligt lässt. Gemeint ist zum einen die Transna‐ tionalisierung des Staates nach außen. Nach innen lassen sich die Wandlungsprozes‐ se zum anderen in den Bildern des kooperativen und des informellen Staates einfan‐ gen. Durch eine mannigfache Beteiligung nicht-nationaler und nichtstaatlicher Ak‐ teure an der nationalen Staatsgewalt entstehen neuartige Formen von Governance, auf die die nationalstaatliche Verfassung nicht zugeschnitten ist, und die die Verfas‐ sung in Bedrängnis bringen. Die Ausübung öffentlicher Gewalt ist nicht mehr beim Staat monopolisiert. Es laufen vielmehr Reprivatisierungs- und Dezentralisierungs‐ programme, deren Ergebnisse an die Herrschaftsgeflechte vormoderner Zeiten erin‐ nern. Die Machtkonkurrenz um Schlüsselmonopole moderner Herrschaft wie das Gewaltmonopol und das Rechtsetzungsmonopol, die der Staat für sich hatte ent‐ scheiden können, ist wieder aufgebrochen. Zum Teil wird daher menetekelt, dass die Verfassung ihren umfassenden Rechtsbindungsanspruch gegenüber parakonstitutio‐ nellen politischen Mächten hat aufgeben müssen und zu einer Teilrechtsordnung herabgesunken ist, weil sie die Kompetenzen und Verfahren zur Herstellung allge‐ mein bindender Entscheidungen nur noch fragmentarisch regelt.53 Dadurch büßt die Verfassung zwar nicht ihren Geltungsanspruch ein, verliert in der Verfassungswirk‐ lichkeit aber an Wirksamkeit. Entwickeln sich Verfassungen also zu Deckmänteln, die Macht verschleiern, indem sie nur vorgeben, sie zu bändigen?54 Oder ist die The‐ matisierung dieser Verfassungserosionen lediglich ein deutsches Problem, das auf übersteigerten Verfassungserwartungen aufruht, die von anderen Staaten nicht geteilt werden?55

5.2.1. Verfassungserosion im Innern Der kooperative und informelle Staat wird gekennzeichnet durch vielfältige Ver‐ flechtungsprozesse zwischen gesellschaftlichen Gruppen und dem Staat. Er steht un‐ ter dem Verdacht, sich von mächtigen Verbandsinteressen kolonisieren zu lassen. Sollen in einem demokratisch verfassten Staat die unpersönlichen Gesetze anstelle der persönlichen Macht herrschen, dann ist der Kampf um die Teilhabe an der Normsetzung ein Kampf um politische Macht, der zur Ausübung von Herrschaft durch den Gewinner führt. Die Frage nach der politischen Macht in Staaten, lässt 51 52 53 54 55

Böckenförde 1991, S. 15; Hesse 1999, Rdnr. 12 (Zitat). Schuppert 2008, S. 331 ff. Grimm 1994, S. 665. Grimm 1972, S. 494. Schönberger 2011, S. 18.

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sich dabei nicht durch einen Blick auf die verfassungsrechtlich geregelten Kompe‐ tenzen von Verfassungsorganen oder auf verfassungsrechtliche Verfahrensvorschrif‐ ten beantworten.56 Denn Verfassungsrecht bildet nicht den Ist-Zustand eines politi‐ schen Systems ab. Vielmehr beschreibt es seinen Soll-Zustand. Es müssen deshalb auch diejenigen gesellschaftlichen Mächte als Teil der so genannten Verfassungs‐ wirklichkeit57 angeschaut werden, die den Zugriff auf die zentralen staatlichen Re‐ gelungskompetenzen und deren Ausübung wirksam steuern können, damit Anspruch und Wirklichkeit von Verfassungsrecht hinsichtlich der Domestizierung politischer Macht getrennt werden können. Wer an der politischen Macht im Staat teilhaben will, muss sich gut organisieren, denn Macht wird in der modernen Gesellschaft durch Organisationen ausgeübt, die ihre Macht einsetzen, um ihre Interessen durchzusetzen.58 Zu diesen Organisationen zählen neben den Parteien und Fraktionen z.B. Verbände, Interessengruppen, NGOs und große Wirtschaftsunternehmen. Die Macht der Verbände ist nicht nur eng ver‐ knüpft mit dem Begriff der Veto- oder Rückzugsmacht, sondern auch ein Relais, an dem sich z.B. wirtschaftliche Macht oder auch Wissensmacht in politische Macht umsetzen, weil der Sozialstaat zum Regieren auf Geld und Daten angewiesen ist.59 Die Machtquellen von Verbänden und anderen Interessengruppen sind ihr wirt‐ schaftliches Drohpotential und ihr überlegenes Wissen. Die Macht der Verbände60 untergliedert sich in den Einfluss von Verbänden auf Staatshandeln und in die Teil‐ habe der Verbände an der Staatsgewalt.

5.2.1.1. Zum Einfluss gesellschaftlicher Macht auf den verfassten Staat Carl Schmitt hat in seinem Radio-Essay „Gespräch über die Macht“61 darauf hinge‐ wiesen, dass bereits Positionen in den „Vorhallen“ der Macht Macht vermitteln. Machthaber sind auf Informationen und Beratung angewiesen – je komplexer Regie‐ ren wird, desto mehr. Die Informierenden üben Macht auf die Entscheider aus. Der Einfluss auf die staatlichen Machthaber ist durch rechtliche Normen balancierbar, mit denen möglichst für alle Interessengruppen gleiche Bedingungen des Zugangs zu den Entscheidungsinstanzen und in ihre Vorhallen geregelt und transparent ge‐ macht werden. Diese Regelungen werden aber weniger von der formellen Verfas‐ sung als vom so genannten materiellen Verfassungsrecht getroffen, von Rechtssätzen also, die unterhalb der Ebene des Verfassungsrechts stehen, gleichwohl aber zur 56 57 58 59 60 61

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Popitz 1992, S. 258 f.; Neumann 1967, S. 61. Hennis 1968. Luhmann 2005, S. 121; Habermas 1997, S. 215 ff. Neumann 1967, S. 67. Schmidt 2007, S. 123 ff. Schmitt 1994.

Ordnung des Politischen gehören. Hierzu zählen z.B. das Parteienrecht und Zu‐ gangsregelungen für Interessengruppen in den Geschäftsordnungen oberster Staats‐ organe oder auch das Lobbyregister in den USA.62 Tatsächlich verlagern sich die politischen Weichenstellungen allerdings gleich‐ wohl ins informelle Vorfeld von Parteigremien, Koalitionsrunden und an runde Ti‐ sche.63 Verfassungsrechtliche Normen zur Kanalisierung der Staatswillensbildung setzen aber in der Regel erst in einem späteren Verfahrensstadium an und lassen das (informelle) Vorfeld der Gesetzgebung bewusst ungeregelt. Sie bleiben formal, in‐ dem sie allein die Organe bezeichnen, die beteiligt sein müssen, und Verfahren be‐ nennen, die zu beachten sind, damit eine Entscheidung dem Staat zugerechnet wer‐ den kann. Extrakonstitutionelle Macht muss durch diese Organe und Verfahren hin‐ durch, um sich Einfluss zu verschaffen. Sie verfassungsrechtlich explizit einzubin‐ den erscheint dagegen wegen der gesellschaftlichen Dynamik wenig ratsam und ist auch unnötig, weil der Staat an die Einflussnahmen gesellschaftlicher Mächte im Vorfeld seiner Entscheidungen nicht gebunden ist. Die Parlamente können Vor-Ent‐ scheidungen ablehnen, ändern oder sie sich sogar zu eigen machen. Der Staat bleibt – zumindest auf dem Papier – Herr seiner eigenen Entscheidungen.64 In der Realität haben die rechtsetzenden Organe allerdings oftmals bloß noch die Aufgabe, förmlich abzunicken, was andernorts entschieden wurde.

5.2.1.2. Zur Teilhabe gesellschaftlicher Mächte an der Staatsgewalt Die Teilhabe gesellschaftlicher Mächte an der Ausübung von Staatsgewalt ist für die machtbändigende Funktion von Verfassung dagegen weitaus prekärer. Staatshandeln wird insgesamt immer komplexer und variantenreicher. Während vormals allgemein bindende und von oben durchsetzbare Entscheidungen auf Befehl und Zwang beruh‐ ten, muss der moderne Staat in Kontinentaleuropa, der eine umfassende Verantwor‐ tung für soziale Gerechtigkeit und für die Wohlfahrt seiner Bürger übernommen hat, sein Maßnahmenrepertoire erweitern. Der Staat enthierarchisiert sein Handeln und greift zu konsensualen Steuerungsmethoden, um seine Politik erfolgreich zu imple‐ mentieren. Zugleich erweitert sich der Kreis der Staatsaufgaben stetig. Wegen eige‐ ner Überlastung bindet der Staat vielfach private Akteure in die Erfüllung seiner Aufgaben ein. Dabei ist er dann auf die freiwillige Folgebereitschaft aller betroffe‐ nen gesellschaftlichen Akteure angewiesen. Er wird zum kooperativen Staat. Auf der Seite des Staates entsteht das Bedürfnis nach Kooperation und Entlastung. Auf

62 https://lobbypedia.de/wiki/Lobbyregister_USA. 63 Schoch 2005, Rdnr. 22 ff. 64 Grimm 1972, S. 503 ff.

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dieses Bedürfnis stützt sich die gegenläufige Macht von Interessengruppen.65 Sind Herstellung und Implementation staatlicher Entscheidungen zu kostenintensiv, bleibt als Ausweg der Verzicht auf den Einsatz hoheitlicher Mittel zur Gesellschaftsgestal‐ tung. Statt dass die gesetzgebenden Körperschaften Gesetze machen, setzt sich der Staat, vertreten durch die Exekutive, an den Verhandlungstisch. Er handelt Politik mit gesellschaftlich mächtigen Interessengruppen aus. Verhandlungen finden dort statt, wo früher Gesetzgebung war. Heute droht der Staat Gesetzgebung oftmals nur noch an, um private Akteure zum Einlenken zu bewegen. Unter Ausschaltung der Repräsentativorgane und ihrer Verfahren verzichtet der Staat auf Regulierung. An die Stelle von Gesetzen treten gesetzesvertretende Absprachen und Selbstverpflich‐ tungen der Wirtschaft. Verfassungsrechtliche Regelungen für den paktierenden Staat gibt es nicht, stattdessen gibt es privilegierte Private, die an der staatlichen Willens‐ bildung teilnehmen, ohne in den verfassungsrechtlichen Legitimations- und Kon‐ trollzusammenhang eingebunden zu sein. Ein Teil der deutschen Verfassungsrechts‐ lehre sieht hier den Testfall für den Verfassungsstaat und schlägt vor, diese neuen Handlungsformen zu konstitutionalisieren. Im Vordergrund steht auch hier die Rege‐ lung von Zugangsvoraussetzungen zum Verhandlungstisch, die nicht das Machtpo‐ tential von Interessengruppen honorieren, das die Verfassung gerade hatte neutrali‐ sieren wollen, sondern nach Betroffenheit gleichen Zugang gewähren.66

5.2.2. Erosion von Verfassung in den Prozessen der Europäisierung und der Globalisierung Die territorialen Grenzen von Staatlichkeit verlieren an Bedeutung. Wegen der poli‐ tischen und der finanziellen Abhängigkeit der Staaten untereinander und von der Weltgesellschaft wird Politik zu Weltpolitik. Die Staaten überschreiten ihre territo‐ rialen Grenzen, um ihre Handlungsfähigkeit zu steigern. Verfasste Staatlichkeit wan‐ delt sich auch hier. Die Transnationalisierung greift tief in das vormalige Monopol staatlicher Hoheitsgewalt ein. Vor allem für die Erzeugung allgemein bindender Ent‐ scheidungen ändern sich die Vorzeichen. Die immer dichter werdende Einbindung der Nationalstaaten in ein Geflecht supra- und transnationaler Abhängigkeiten führt zu einem allseitigen Verlust an eigenständiger politischer Regelungskompetenz. Re‐ gelungszuständigkeiten werden auf supranationale Organisationen verlagert oder in transnationale Verhandlungsarrangements eingebunden. Von diesen Entwicklungen bleiben die Leistungsfähigkeit nationalstaatlicher Verfassungen und ihr Anspruch, gesellschaftsgestaltende Mächte zu binden, nicht verschont.67 65 Luhmann 1969, S. 165 f. 66 Grimm 2003, S. 195 ff.; ders. 2011, S. 388 ff. 67 Grimm 2012, S. 203 ff.

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Die europäischen Verfassungsstaaten sind auf supranationaler Ebene in der Europäischen Union organisiert. Zwischenstaatliche Kooperation in einer suprana‐ tionalen Gemeinschaft erzeugt Einbußen am nationalen Verfassungsrecht. Die Ver‐ fassungen der Mitgliedstaaten der Union enthalten in der Regel Öffnungsklauseln, mit denen sich das nationale Verfassungsrecht für unions- oder völkerrechtliche Mo‐ difikationen und Überlagerungen öffnet. Zwar bleibt es Sache der nationalen Verfas‐ sungen zu entscheiden, ob und in welchem Umfang sie außerstaatliche Hoheitsge‐ walt in ihr Regelungsgebiet hereinlassen wollen. Aber immerhin lassen die national‐ staatlichen Verfassungen fremde Hoheitsgewalt auf ihre Territorien, die sie – oder besser der Volkssouverän, der hinter ihnen steht – nicht verfasst haben und grund‐ sätzlich auch nicht mehr kontrollieren können. Sie selbst erfassen Hoheitsgewalt nur noch als Ausschnitt, nämlich nur insoweit, als diese Gewalt nationalstaatliche Ho‐ heitsgewalt ist. Auch der Vorrang der Verfassung gilt nur für diesen Fall. Die Mit‐ gliedstaaten der Europäischen Union streben zwar grundsätzlich nicht nach Verfas‐ sungshegemonie. Das widerspräche den Grundsätzen „offener Staatlichkeit“.68 In Deutschland und in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union behalten sich die nationalen Verfassungsgerichte allerdings vor, so genannte „ausbrechende Rechtsakte“ der Unionsorgane, die offensichtlich kompetenzwidrig sind, zu überprü‐ fen, und ihnen gegebenenfalls eine Rechtswirkung innerhalb der nationalen Verfas‐ sungsordnungen abzusprechen.69 Global Governance wirkt sich ebenfalls auf die Verfahren von Rechtserzeugung und Rechtsdurchsetzung aus. Neben der Staatengemeinschaft und den internationa‐ len Organisationen platzieren sich transnationale nichtstaatliche Akteure wie NGOs und große Privatunternehmen als Global Players in den transnationalen politischen Arenen. Politikformulierung und Politikimplementation globalisieren sich unter Be‐ teiligung dieser Akteure. Der Nationalstaat wird vom vormaligen Entscheider in der politischen Zentrale zum Moderator einer Gesellschaft der Netzwerke und damit selbst mediatisiert.70 Überstaatliche und private Organisationen treffen Entscheidun‐ gen, die auf den Territorien der Nationalstaaten Wirkung entfalten, ohne zuvor von innerstaatlichen Organen in nationales Recht transformiert werden zu müssen. Das gilt vor allem für die globalisierte Wirtschaft, die auf transnationales Recht angewie‐ sen ist. 71 Regiert wird in Verhandlungsnetzwerken auf mehreren Ebenen, auf die die nationalstaatliche Verfassung ebenfalls nicht durchgreifen kann, weil nichtstaatliche Gewalt und private Akteure außerhalb ihres Einflussbereichs liegen. In vorverfas‐ sungsrechtlichen Zeiten besaß der Staat nicht alle Herrschaftsrechte. In postnationa‐ len Zeiten besitzt er sie nicht mehr alle. 68 69 70 71

Isensee 1997, S. 1245; Grimm 2009, Rdnr. 15 ff. BVerfGE 134, 366 (Rdnr. 26); Ludwig 2015, S. 538 ff.; Schwerdtfeger 2015, S. 294 ff. Schuppert 2003, S. 869 ff.; Ladeur 2010, Rdnr. 42 ff. Franzius 2013, S. 217 ff.

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Die Grenzen zwischen innen und außen, privat und öffentlich, Staat und Gesell‐ schaft, Nationalstaat und Weltgesellschaft sind und sollen zwar permeabel sein. Sie verflüssigen sich mittlerweile aber sowohl innerhalb des Nationalstaats als auch auf transnationaler Ebene. Auf die genannten Differenzierungen ist nationales Verfas‐ sungsrecht aber ausgelegt. Wenn Freiheit nicht nur die Freiheit der Mächtigen sein soll, bedarf sie des Schutzes gegen staatliche, quasi-staatliche und gesellschaftliche Beeinträchtigungen. Denn die Idee des demokratischen Verfassungsstaates ist ent‐ wertet, wenn der Staat die Freiheit von Privaten genießt und Private über die Herr‐ schaftsmittel des Staates verfügen.72 Deshalb scheidet Verfassung zunächst die dem Gemeinwohl verpflichtete Sphäre der nationalen Staatswillensbildung von der vor‐ staatlichen Sphäre des politischen Einflusswettbewerbs gesellschaftlicher Interessen‐ gruppen,73 um dann die Vielfalt wechselseitiger Einflussnahmen zwischen Staat und Gesellschaft auszugestalten. Sie differenziert nach Subjekten, Formen und Verfahren der Einflussnahme, schafft organisatorische, prozedurale und personelle Vorkehrun‐ gen zur Sicherung von staatlicher Unabhängigkeit und Neutralität.74 Die Verfassung als Gate-Keeper auf der Trennlinie zwischen Staat und Gesellschaft soll sowohl die Usurpation als auch die Instrumentalisierung der staatlichen Macht durch gesell‐ schaftliche Mächte, seien sie national oder global, verhindern. Im postnationalen Kontext wird das zunehmend schwerer.

6. Die ungebrochene symbolische Macht der Verfassung Dagegen zeigt sich die symbolische Macht der Verfassung, die in ihrer Wortmagie liegt,75 gerade in dieser Diskussion um die Verrechtlichungsprozesse von Herrschaft auf supranationaler und globaler Ebene, die unter dem Stichwort der Konstitutionali‐ sierung geführt wird.76 In einer Zeit, da die Bindungskraft nationaler Verfassungen abnimmt, möchte man sich überall dort, wo politische Entscheidungen getroffen werden, verfassen. Supranationale, internationale und transnationale Organisationen bescheiden sich nicht mehr mit Organisationsstatuten oder völkerrechtlichen Verträ‐ gen. Sie wollen am Nimbus der Verfassung partizipieren, der zumindest den Schein von Legitimität verspricht – weil, böse gesagt, Verfassung Macht auch invisibilisie‐ ren kann. Die symbolische Macht der Verfassung toppt heute fast ihre normativen Wirkungen. In der deutschen Verfassungsrechtslehre wird sehr kontrovers darüber debattiert, ob sich der Verfassungsbegriff vom Staat ablösen und in den supra- oder transnationalen Raum exportieren lässt, ob der moderne Staat sein Monopol auf den 72 73 74 75 76

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Grimm 2004, S. 155. Isensee 2010, Rdnr. 79 f. Hesse 1975, S. 440. Hofmann 1999, S. 1069. Wahl 2002, S. 194 ff.

Verfassungsbegriff in postnationalen Kontexten also verloren hat,77 oder ob der Ver‐ fassungsbegriff sich untrennbar mit dem nationalen Staat verflochten hat, so dass ein Export in nichtstaatliche Strukturen unmöglich ist. Zum Teil behauptet die deutsche Verfassungslehre diesen untrennbaren Zusammenhang: Nicht jede Verrechtlichung von Macht ist Verfassung. Verfassung braucht vielmehr einen konstitutionsfähigen Gegenstand, und dieser kann nach Genese und Geltungsgrund von Verfassung nur der Staat sein.78 Es gibt aber auch salomonische Zwischentöne, die nicht mit einem Ganz oder Garnicht operieren. Zum Teil betont die Verfassungslehre nämlich auch, dass staatliche und nichtstaatliche Verfassungen sich in Inhalt und machtbegrenzen‐ der Funktion gleichen, dass sich das demokratische Postulat, das im Versprechen der Konstitutionalisierung liegt, aber umso weniger verwirklichen lasse, je weiter man sich von der staatlichen Ebene entferne.79 So oder so muss man den Eigenwert von Staatsverfassungen herausstreichen, die im Gegensatz zu nichtstaatlichen Verfassungen als gesellschaftliche Narrative und als Symbole die Macht haben, bei ihren Bürgern Angehörigkeitsgefühle und Ge‐ meinschaftsbewusstein zu erzeugen.80 Das liegt nicht zuletzt an der für nichtstaatli‐ che Organisationen unerreichbaren Macht der Sakralisierung von Verfassungen,81 oder an der Macht des Gründungsmythos, der mit nationalstaatlicher Verfassungge‐ bung und Volkssouveränität verwoben wird.

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Winfried Thaa Politische Macht in der repräsentativen Demokratie. Drei alternative Konzeptualisierungen und ihre Folgen für Gleichheit und Pluralität

1. Einleitung Auch mehr als 200 Jahre nach ihrer Gründung in den Revolutionen des 18. Jahrhun‐ derts wird die moderne Demokratie als Volksherrschaft im Sinne einer möglichst un‐ verfälschten Verwirklichung des Volks- oder Bürgerwillens missverstanden. Dies gilt nicht nur für die während der letzten Jahre spektakulär erfolgreichen populisti‐ schen Bewegungen, die gegen vermeintlich verselbständigte und korrupte politische Eliten das der Wortbedeutung von Demokratie immanente Versprechen der Volks‐ herrschaft einklagen. Es gilt auch für Befürworter der direkten Demokratie, die poli‐ tische Repräsentation allenfalls als unvermeidliches Übel in Kauf nehmen wollen und sich von Abstimmungen der Bürger über Sachfragen eine Durchsetzung des Volkswillens erwarten. Und es gilt, wenn auch in modifizierter Form, für die delibe‐ rative Demokratietheorie und deren Anspruch, in der „kommunikativ verflüssigten Souveränität der Staatsbürger“, „Vernunft und Willen zusammenzuführen“.1 Demgegenüber werde ich im Folgenden argumentieren, dass moderne Demokra‐ tien als eine Form der Selbstregierung der Vielen und Verschiedenen, die sich wech‐ selseitig als politisch Gleiche anerkennen, zu verstehen sind. Nicht Einheit im Sinne der Durchsetzung eines einheitlichen, vernünftigen oder auch nur mehrheitlichen Willens ist konstitutiv für die Demokratie, sondern Differenz und zwar die sichtbar gemachte, öffentlich ausgetragene und auch durch Wahlen oder Abstimmungen un‐ ter politisch Gleichen nur auf Zeit entschiedene Differenz. Warum das so ist, und weshalb sich die genannte Fehlinterpretation so hartnäckig hält, werde ich ausge‐ hend vom Weberschen Machtbegriff und dem eng mit ihm verbundenen Verständnis politischer Repräsentation zu erläutern versuchen. Es wird zu zeigen sein, dass ein Machtbegriff, der Macht als eine soziale Beziehung der Willensdurchsetzung ver‐ steht, in Bezug auf das politische Gemeinwesen ein Verständnis von Einheitsreprä‐ sentation impliziert, das sich mit pluralistischer Demokratie nur schwer vereinbaren lässt. Im Anschluss daran werde ich diskutieren, wie weit die deliberative Demokra‐ tiekonzeption von Jürgen Habermas den normativen Gehalt moderner repräsentati‐ 1 Habermas 1992, S. 228, S. 134.

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ver Demokratien besser rekonstruieren kann. Mein Argument wird allerdings lauten, dass „kommunikative Macht“ im Sinne von Habermas zwar die Vorstellung eines konkret vorgestellten Kollektivsubjekts der Demokratie überwindet, aufgrund einer epistemischen Konzeption der politischen Willensbildung dennoch aber einem unter normativen Gesichtspunkten problematischen Identitätsdenken verhaftet bleibt. Schließlich möchte ich, Arendts Machtbegriff mit dem von Claude Lefort und Mar‐ cel Gauchet stammenden Konzept der Differenzrepräsentation zusammenführend, moderne repräsentative Demokratien als eine den Normen von Pluralität und Gleich‐ heit verpflichtete Form der politischen Selbstregierung beschreiben. Dabei soll deut‐ lich werden, dass eine adäquate Konzeptionalisierung von Demokratie nicht umhin kann, den zweckrationalen Machtbegriff Webers einem umfassenderen, Macht als praktisches Handlungspotential begreifenden Machtverständnis unterzuordnen.

2. Der herrschaftszentrierte Politikbegriff Max Webers Ob in Lexika, Einführungsveranstaltungen der Politikwissenschaft oder bei Wikipe‐ dia, wenn es um „Macht“ geht, steht immer noch die berühmt-berüchtigte Definition Max Webers im Mittelpunkt. Ihr zufolge bedeutet Macht bekanntlich „ jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“.2 Herrschaft, nach Weber ein „Sonderfall von Macht“,3 ist dann „die Chance, für einen Befehl bestimmten In‐ halts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.4 Beide Definitionen zielen auf eine soziale Beziehung, in welcher die eine Seite ihren Willen durchsetzt, indem sie die andere Seite für ihre Zwecke instrumentalisiert. Eine Kritik der Herrschaftssoziologie Webers unter demokratietheoretischer Per‐ spektive kommt an den Schriften Dolf Sternbergers nicht vorbei. Während dessen Ausführungen zur politischen Kultur und sein Begriff des Verfassungspatriotismus nicht zuletzt durch die Rezeption von Jürgen Habermas eine breite Resonanz erfah‐ ren haben, wurden seine Reflexionen über den herrschaftszentrierten Politikbegriff Max Webers nur wenig rezipiert.5 Sternberger ist zweifellos beeinflusst von Hannah Arendt, die in ihrem Essay „Macht und Gewalt“ das von rechten wie linken Autoren geteilte Machtverständnis als Gewaltbeziehung dechiffriert. Wer Macht als die Fä‐ higkeit verstehe, in einer sozialen Beziehung den eigenen Willen durchzusetzen, en‐ de zwangsläufig bei der Konsequenz, in Gewalt, bzw. ihrer glaubhaften Androhung, die höchste Form von Macht zu sehen. Insofern sei Mao Tse-tung mit seinem 2 3 4 5

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Weber 1947, 1. Halbbd., Kap. I, § 16, S. 28. Weber 1947, 2. Halbbd., Kap. II, § 1, S. 603. Weber 1947, 1. Halbbd., Kap. I, § 16, S. 28. Vgl. dazu auch Gebhardt 1998.

Spruch, „die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“, einer Meinung mit Max Weber, aber auch mit Jean-Paul Sartre, C. Wright Mills oder Georges Sorel.6 Sternberger nun geht genauer auf Max Webers Politikbegriff und seine Demokra‐ tie-Konzeption ein und identifiziert dabei eine ganze Reihe von Defiziten und Pro‐ blemen, die in unserem Zusammenhang von Interesse sind. Er weist insbesondere darauf hin, dass •







die einflussreichen Definitionen Webers von Macht, Herrschaft und Politik (als Kampf um Macht)7 die Aristotelische Tradition auf den Kopf stelle und das Despotische, welches aus Sicht der alten Griechen die Herrschaft über Unglei‐ che im Haushalt charakterisiere, zum Politischen erkläre.8 Weber Gewaltenteilung als „Teilung der Herrenrechte“ thematisiere und da‐ durch die Teilung gewissermaßen wieder auf die „eine Herrschaft“ zurückfüh‐ re.9 Damit, so kann man wohl hinzufügen, wird der politische Raum, den das spannungsreiche Verhältnis von Teilung und notwendiger Kooperation zwi‐ schen den Gewalten eröffnet, ignoriert. Webers berühmter Typologie legitimer Herrschaft „die gesamte Dimension der Zivilität, des Bürgerlichen oder des eigentlich und buchstäblich Politischen“, fehle und die „Vereinbarung“ als Quelle von Recht und Autorität lediglich bei‐ läufig Erwähnung finde.10 Weber schließlich bezeichnenderweise die Demokratie als einen Sonderfall charismatischer Herrschaft einführe, als ein gewissermaßen auf den Kopf ge‐ stelltes, antiautoritär umgedeutetes Charisma, bei dem die transzendente Quelle der Legitimität des politischen Führers durch Akklamation der Beherrschten er‐ setzt werde.11

Webers „herrschaftszentrierter Politikbegriff“12 ist als Besonderheit des deutschen Kulturraums beschrieben worden. T.H. Rigby etwa bezeichnet Herrschaft als „earthy German word“, das „images of the pater familias, the Lord and the master“ hervor‐ rufe und deshalb nicht geeignet sei, moderne politische Systeme zu analysieren.13 6

7

8 9 10 11 12 13

Arendt 1970, S. 15, S. 36f. Einen weiteren interessanten Aspekt spricht Hannah Arendt an, wenn sie mit einem Zitat von Bertrand de Jouvenel an die Meinung erinnert, es gehöre „zur Männlichkeit des Mannes“, andere zu Instrumenten des eigenen Willens zu machen (Arendt 1970, S. 37). Wörtlich lautet die Definition Webers: „`Politik´ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es in‐ nerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“ (Weber 1988, S. 506). Sternberger 1978, S. 355. Sternberger 1978, S. 355. Sternberger 1986, S. 63. Sternberger 1986, S. 59. Gebhardt 1998, S. 18. Rigby 1982, S. 7.

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Ernst Vollrath verortet Max Webers „herrschaftskategoriales Denken“ in der „real‐ politischen Apperzeption der deutschen Staatsrechtslehre“ und insbesondere in de‐ ren „formalistischem Normenpositivismus“.14 Webers Macht- und Herrschaftsbe‐ griff ebenso wie die von ihm befürwortete plebiszitäre Führerdemokratie können demnach plausibel als Ausdruck der autoritären Traditionen des preußischen Obrig‐ keitsstaates gedeutet werden. Dennoch wäre Max Weber als Apologet vorbürgerlicharistokratischer Verhältnisse missverstanden. Entscheidend, und in unserem Zusam‐ menhang auch bedeutender als der spezifische kulturelle Hintergrund von Webers Denken ist vielmehr, dass Weber seinem Politikbegriff ein Modell zweckrationalen Handelns zugrunde legt. Weber geht es um die Rettung persönlicher Freiheit, die er durch bürokratische und wirtschaftliche Rationalisierungsprozesse gefährdet und le‐ diglich noch in der autonomen Willensentscheidung von Führerpersönlichkeiten ge‐ wahrt sieht.15 Dezidiert wendet er sich gegen romantische, aus seiner Sicht irrationa‐ le Vorstellungen von persönlicher Freiheit und betont, Freiheit basiere auf dem auto‐ nomen Akt der Dezision und einem distanzierten zweckrationalen Kalkül.16 Dass dieses aus Webers Sicht freiheitsverwirklichende Handlungsmodell im Konzept der plebiszitären Führerdemokratie auf Seiten der Gefolgschaft „blinden Gehorsam“, ja ihre „Entseelung“ und „geistige Proletarisierung“ erfordert, nimmt Weber durchaus wahr, bezeichnet es aber als den „Preis, womit man die Leitung durch Führer be‐ zahlt“.17 Ungeachtet der Besonderheiten von Webers Konzeption der Führerdemokratie lässt sein teleologisches Handlungsmodell unschwer die neuzeitlichen Vorstellungen von Willensfreiheit und Souveränität erkennen.18 Entscheidung und Wille als Zen‐ tralbegriffe einer Konzeption demokratischer Politik implizieren jedoch nicht nur die Instrumentalisierung und damit die Beherrschung derjenigen, die getroffene Ent‐ scheidungen zu realisieren haben, sie legen auch ein bestimmtes, nämlich ein identi‐ täres Verständnis politischer Repräsentation nahe. Dass der Wille unteilbar ist, wuss‐ te bereits Rousseau.19 Bei ihm findet die Frage, wie der Bürger, der Gesetzen ge‐ horcht, frei bleiben kann, eine Antwort in dessen unmittelbarer Beteiligung an der Gesetzgebung. Tritt der Fall auf, dass der Bürger zur überstimmten Minderheit ge‐ hört, so gehorcht er dennoch nicht einem fremden Willen, sondern folgt der „volonté 14 Vollrath 1990, S. 103. 15 Darauf verweist Mommsen bereits 1959, wenn er schreibt, dass Weber „den Weg der plebiszi‐ tär-charismatischen Herrschaft des großen Demagogen“ einschlug, um der „Gefahr der büro‐ kratischen Erstarrung der modernen Massengesellschaft“ zu entgehen (Mommsen 1959, S. 436). Ausführlich dazu auch Thaa 2011, S. 21-50. 16 Weber 1988a, S. 132f. 17 Weber 1988, S. 544. Die Alternative dazu ist in den Augen Webers die „führerlose Demokra‐ tie“, die er jedoch keineswegs als Selbstregierung der Bürger bestimmt, sondern als Herrschaft der „‚Berufspolitiker‘ ohne Beruf“, als „Herrschaft des `Klüngels´“ (Weber 1988: 544). 18 Dazu etwa Arendt 1974 und 1994. 19 Rousseau 1977, Kap. 2.2., S. 85f.

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générale“, dem Gemeinwillen, den er in seiner Abstimmungsentscheidung nicht richtig erkannt hat. Der Bürger wird nicht von einem fremden Willen beherrscht, er hat sich lediglich bei der Ermittlung des Gemeinwillens, der auch sein Wille ist, ge‐ irrt.20 Will man einer an Max Webers teleologischem Handlungsmodell orientierten De‐ mokratiekonzeption nicht ihre demokratische Qualität absprechen, so bleibt eigent‐ lich kein anderer Weg, als der, die Identitätsvoraussetzung Rousseaus in die reprä‐ sentative Demokratie hinüberzuretten und den die Entscheidungen treffenden politi‐ schen Führer als Repräsentanten des Volkes zu verstehen. Und zwar in dem Sinn, dass er für die alle Bürger umfassende politische Einheit steht, ja sie verkörpert. Konsequenterweise verbindet Carl Schmitt deshalb auch sein dezisionistisches Poli‐ tikverständnis mit einer identitären Konzeption politischer Repräsentation. Für Schmitt repräsentieren absoluter Fürst wie demokratische Regierung die politische Einheit als Ganzes. Deshalb sieht er einen Gegensatz zwischen Gewaltenteilung und dem Prinzip der Repräsentation „kraft dessen die politische Einheit durch die Regie‐ rung dargestellt wird“.21 Wie Ernst Vollrath ausführt, meint Schmitt keineswegs eine „abstrakte Einheit in der Zerstreuung“, sondern Repräsentation im existentiellen Sinn, als Vergegenwärtigen und Sichtbarmachen einer unsichtbaren, aber höheren Art des Seins.22 Mit einem solchen Repräsentationsverständnis werden nicht nur die vertikale Differenz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten sowie die daraus eventuell erwachsenden politischen Konflikte delegitimiert, sondern ebenso die ho‐ rizontalen Differenzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die, sollten sie vom Identitätsanspruch der Repräsentanten abweichen, in einem einfa‐ chen argumentativen Schritt zum Feind erklärt werden können. Wir müssen allerdings nicht zu Carl Schmitt zurück, um auf die hier behauptete Entsprechung zwischen herrschaftszentriertem Politikbegriff und identitärem Reprä‐ sentationsverständnis zu stoßen. András Körösenyi, der vor einigen Jahren mit brei‐ tem Echo Webers plebiszitäre Führerdemokratie als adäquate Konzeptualisierung der aktuell beobachtbaren Veränderungen repräsentativer Demokratien in die Dis‐ kussion brachte, hat sich nicht drauf beschränkt, Phänomene wie die zunehmende Personalisierung der Politik, den Niedergang der Parlamente oder die „Präsidentiali‐ sierung“ der Regierungen als empirische Belege seiner These anzuführen.23 Die Pointe seiner Argumentation liegt in der These, diese Entwicklungen führten zu

20 Rousseau 1977, Kap. 4.2., S. 172. 21 Schmitt 1970, S. 214. 22 Vollrath 1992, S. 689. Die entsprechende Formulierung Schmitts lautet: „In der Repräsentation dagegen kommt eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung. Die Idee der Repräsen‐ tation beruht darauf, daß ein als politische Einheit existierendes Volk gegenüber dem natürli‐ chen Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte, intensivere Art Sein hat.“ (Schmitt 1970, S. 210). 23 Körösényi 2005.

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einem fundamentalen Wandel in der Bedeutung politischer Repräsentation. Gegen‐ über rational-ökonomischen und pluralistischen Modellen habe sich zum einen das Subjekt der Repräsentation gewandelt. An die Stelle der debattierenden und delibe‐ rierenden Parlamente seien die durch Entscheidung und Handeln charakterisierten Spitzen der Exekutive getreten. Zum zweiten, und hier argumentiert Körösényi aus‐ führlich mit Schmitt, werde die quantitative, gewissenmaßen von unten nach oben verlaufende Repräsentation des liberalen Parlamentarismus zunehmend ersetzt durch eine qualitative Repräsentation. Qualitative Repräsentation sei nicht mechanisch und nicht rechnerisch, sondern beziehe sich auf eine unsichtbare Idee oder ein metaphy‐ sisches Wesen. Es ginge bei ihr deshalb nicht um Re-produktion oder Re-präsentati‐ on, sondern um Kreation und Innovation.24 Der politische Führer entscheide, handle und schaffe Neues. Er sei nicht „responsive“, sondern „responsible“.25 Mit Bezug auf Hanna Pitkin formuliert Körösényi, „Representation has neither a standing for nor an acting for meaning; political representation is leadership“.26 Es kann kaum verborgen bleiben, dass auch in dieser neueren, strikt konstrukti‐ vistischen Version einer plebiszitären Führerdemokratie die politische Rolle der Bür‐ ger, ähnlich wie in der sogenannten realistischen Demokratietheorie bei Weber, auf Akklamationsakte beschränkt und damit der politische Gleichheitsanspruch von De‐ mokratien auf der Strecke bleibt. Selbst Claudia Ritzi und Gary S. Schaal, die Körösényis Neuauflage der Führerdemokratie insgesamt positiv rezipieren und in ihr die Chance ausmachen, „notwendige politische Entscheidungen zu implementieren und repräsentativ verfasste Demokratien aus der Handlungsunfähigkeit zu befrei‐ en“,27 kommen nicht umhin, ihr einen gewissen Paternalismus zu bescheinigen und die nicht-rationalen Elemente charismatischer politischer Führung für „riskant“ zu halten.28 Körösényi übernimmt zwar nicht Schmitts Volksbegriff und das dazugehörende Homogenitätsideal. Mit der ebenfalls von Schmitt stammenden „qualitativen Reprä‐ sentation“ und ihrer Abgrenzung gegenüber jedem quantitativen und rechenhaften, sprich auf der Auszählung von Stimmen beruhenden Repräsentationsverständnis, handeln sich die neueren Befürworter einer Führerdemokratie dennoch eine in Be‐ zug auf den Pluralismus moderner Gesellschaften äußerst problematische Konse‐ quenz ein. Denn konstitutiv für jede qualitative, von Körösenyi auch „substantive“ genannte Form der Repräsentation ist ja der Anspruch, eine über den partikularen Interessen verschiedener Gruppen stehende Position zu vertreten und damit nicht mehr den auf der Grundlage abstrakter Gleichheit ausgezählten Mehrheiten unter‐ worfen zu sein. In Verbindung mit dem Charisma des politischen Führers liegt es 24 25 26 27 28

50

Körösényi 2005, S. 375. Körösényi 2005, S. 377f. Körösényi 2005, S. 377 (Hvhbg. im Original). Ritzi/Schaal 2010, S. 10. Ritzi/Schaal 2010, S. 14.

dann mehr als nahe, in seiner Person die Verkörperung dieses Repräsentationsan‐ spruchs zu sehen. Beispiele für aktuelle Formulierungen derartiger Ansprüche auf Identitätsrepräsentation müssen nicht lange gesucht werden: „Er sagt, was Wien denkt“ plakatierte die FPÖ im Wahlkampf für ihren Vorsitzenden Strache. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums erklärte der linkspopulistische Präsident Ecuadors nach seinem Wahlerfolg: „Ecuador hat sich selbst gewählt“.29

3. Der kommunikative Machtbegriff und die Verflüssigung der Volkssouveränität in der deliberativen Demokratietheorie Die Erfolge der ostmitteleuropäischen Dissidenten- und Oppositionsbewegungen während der 1980er Jahre brachten deren Leitbegriff der Zivil- oder Bürgergesell‐ schaft30 in die Selbstverständigungsdiskussionen westlicher Demokratien und lösten auch in der Politikwissenschaft eine breite Debatte über ein demokratieadäquates Politikverständnis aus. Bereits vor nahezu 20 Jahren zog Jürgen Gebhardt eine vor‐ läufige Bilanz dieser Auseinandersetzungen und äußerte dabei, vorsichtig optimis‐ tisch, die Erwartung, dass auch in Deutschland eine „bürgerschaftliche Apperzeption des Politischen“ gegenüber dem hierzulande traditionell dominierenden staats- und herrschaftszentrierten Politikbegriff an Einfluss gewinne.31 Auf den ersten Blick könnte man in der ebenfalls zu dieser Zeit einsetzenden Hegemonie der deliberati‐ ven Demokratietheorie diese Erwartung bestätigt sehen. Schließlich gehört zu deren Selbstbeschreibung der Anspruch, sich von „konkretistischen Vorstellungen einer Repräsentation des Volkes als einer Entität“ gelöst zu haben.32 In diesem Sinn spricht Habermas davon, dass „sich die kommunikativ verflüssigte Souveränität der Staatsbürger in der Macht öffentli‐ cher Diskurse zur Geltung bringt, die autonomen Öffentlichkeiten entspringen, aber in Beschlüssen demokratisch verfahrender und politisch verantwortlicher Gesetzgebungs‐ körperschaften Gestalt annehmen“.33

Es fragt sich also, ob die hier anvisierte „Verflüssigung“ der Volkssouveränität und ihre „Verkoppelung der institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung mit der informellen Meinungsbildung“ eine überzeugende Alternative zum herrschaftszen‐ trierten, auf Entscheidung, Willenseinheit und Zweckrationalität basierenden Politik‐ verständnis bieten kann.34 29 30 31 32 33 34

Zitiert nach De la Torre 2013, S. 19. Dazu ausführlich Thaa 1996. Gebhardt 1998, S. 26. Habermas 1992, S. 228. Habermas 1992, S. 228. Habermas 1992, S. 228. Es ist nicht zuletzt diese „Verflüssigung“ der Volkssouveränität in der deliberativen Demokratietheorie bei Habermas, die ihren breiten internationalen Erfolg, insbe‐

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Tatsächlich spielt die Auseinandersetzung mit Max Weber und seinem Rationali‐ tätsbegriff schon lange vor dem Erscheinen von „Faktizität und Geltung“ im Jahr 1992 und der darin ausgearbeiteten deliberativen Demokratietheorie eine bedeutende Rolle im Werk von Jürgen Habermas. Nicht nur, dass die „Theorie des kommunika‐ tiven Handelns“ über weite Strecken eine Auseinandersetzung mit Webers Theorie der gesellschaftlichen Rationalisierung und ihres Einflusses auf den westlichen Mar‐ xismus von Georg Lukács und der ersten Generation der Frankfurter Schule dar‐ stellt.35 Bereits in einem 1976 erschienenen Aufsatz zu „Hannah Arendts Begriff der Macht“ grenzt sich Habermas vom teleologischen Handlungsmodell im Machtbe‐ griff Max Webers und Talcott Parsons ab und kontrastiert es mit dem angeblich „kommunikativen Handlungsmodell“ im Machtbegriff Arendts. Habermas zitiert Arendt (leider falsch, wie wir gleich sehen werden) mit dem Satz: „Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu han‐ deln.“36

Dieses Zitat Arendts interpretiert er als Aussage, „das Grundphänomen der Macht“ sei „nicht die Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke, son‐ dern die Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung gerich‐ teten Kommunikation“.37 Mit dieser, schon für sich genommen sehr eigenwilligen Interpretation bringt Habermas Arendts Machtbegriff nicht nur eindeutig gegen einen teleologischen, letztlich auf instrumentell ausgeübter Gewalt basierenden Machtbegriff in Stellung, was durchaus den Intentionen von Arendt entspräche, son‐ dern er unterstellt Arendt darüber hinaus seine eigene Vorstellung von der „konsens‐ erzielenden Kraft der auf Verständigung gerichteten Kommunikation“ und dem da‐ raus resultierenden gemeinsamen Willen. Aus Arendts handlungsbezogenem Macht‐ begriff wird „die Macht der einigenden Rede“.38 Ursula Lehmkuhl hat bereits vor geraumer Zeit darauf hingewiesen, dass Jürgen Habermas die oben angeführte Stelle zum Machtbegriff Arendts seit 1976 wieder‐ holt falsch zitiert. Ausgehend von „Hannah Arendts Begriff der Macht“ bis zu „Fak‐ tizität und Geltung“ gibt Habermas Arendts Formulierung, „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, mit anderen zu handeln“, fälschlicherweise wieder als „Macht entspringt der menschlichen Fähigkeit …“ (Hervorhebung W. T.).39 Wie

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sondere während der 1990er Jahre, erklären kann. Scheint es auf dieser Grundlage doch mög‐ lich, den Anspruch auf demokratische Selbstregierung von der Bindung an (national-)staatliche Institutionen zu lösen, in zivilgesellschaftliche Selbstverständigungsprozesse zu verlagern und in erster Linie von der Qualität der politischen Meinungsbildung abhängig zu machen. Vgl. Habermas 1981. Habermas 1976, S. 946f. Habermas 1976, S. 947. Habermas 1976, S. 947. Vgl. Habermas 1976, S. 9946f. und Habermas 1992, S. 184.

Lehmkuhl feststellt, erleichtert es diese Verschiebung von „entspricht“ zu „ent‐ springt“, Hannah Arendt für eine kommunikationstheoretische, Macht als „Effekt kommunikativer Verständigung“ verstehende Konzeption in Anspruch zu nehmen.40 Ohne Kenntnis dieses Fehlers in der Textlektüre von Jürgen Habermas hat Margaret Canovan bereits 1983 festgestellt, dass er Arendt in geradezu atemberaubender Wei‐ se uminterpretiere, beziehungsweise verfälsche. In seiner Aneignung des Arendt‐ schen politischen Denkens setze er „talking for acting, consensus for disagreement, and unity for plurality“.41 Während Habermas an die Möglichkeit eines rationalen Konsenses über politische Fragen glaube, halte es Arendt mit James Madison, der bereits in den Federalist Papers feststellte, dass wo immer Menschen ihren Verstand frei gebrauchen könnten, sie unvermeidlich zu unterschiedlichen Meinungen gelang‐ ten.42 Canovans Kritik verweist auf den in unserem Kontext entscheidenden Aspekt der deliberativen Demokratietheorie von Jürgen Habermas: Die mit ihrem kommunikati‐ ven Machtbegriff anvisierte „Verflüssigung der Volkssouveränität“ ist keinesfalls identisch mit ihrer Pluralisierung. Dies wird deutlich, wenn wir genauer anschauen, was Jürgen Habermas mit der „rechtsetzenden kommunikativen Macht“ meint, die der demokratischen Gesetzgebung zugrunde liegen soll.43 Ohne auf die Einzelheiten der in „Faktizität und Geltung“ entfalteten komplexen Demokratiekonzeption einge‐ hen zu können, lässt sich zunächst einmal konstatieren, dass Habermas hier, anders als noch in der „Theorie des kommunikativen Handelns“,44 die demokratischen poli‐ tischen Institutionen nicht mehr nur als mediengesteuertes Subsystem sehen möchte. Der Dualismus von „System und Lebenswelt“ wird durchbrochen, indem Habermas, ausgehend von seiner Interpretation des Arendtschen Machtbegriffs, eine Differen‐ zierung im Begriff der politischen Macht einführt, welche die „diskursive Bildung eines gemeinsamen Willens“ von der „Verwendung administrativer Macht“ und der Konkurrenz um den Zugang zum politischen System“ unterscheidet. Das Recht gilt ihm dann als das „Medium, über das sich kommunikative Macht in administrative Macht umsetzt“.45 Das Problem hinsichtlich der Pluralität moderner Gesellschaften liegt nun darin, dass Habermas trotz aller Modifikationen, die seine Theorie zu Demokratie und Öf‐ 40 Lehmkuhl 1999, S. 43. 41 Canovan 1983, S. 108. 42 Ebd. Die Pointe Canovans gegen Habermas lautet dann, dass er mit seiner Fehlinterpretation demonstriere, wie unrealistisch die für ihn so entscheidende Hoffnung auf einen rationalen, konsensorientierten Diskurs sei. Sie nennt seine Interpretation „a textbook case of a form of distorted communication that does not figure in Habermas´ theory: the distortion caused not by domination, ideology or neurosis, but by sheer intellectual vitality on the part of the reader“ (Canovan 1983, S. 107). 43 Habermas 1992, S. 183. 44 Habermas 1981. 45 Habermas 1992, S. 186f.

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fentlichkeit über Jahrzehnte hinweg erfahren hat, auch in späten Schriften am Ein‐ heits- und Rationalitätsanspruch der öffentlichen Meinung festhält, wie er ihn quasi idealtypisch im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ entwickelt hat. Dort spricht der Autor noch recht einfach von „der Auflösung von Herrschaft in jenen leichtfüßigen Zwang, der nur mehr in der zwingenden Einsicht einer öffentlichen Meinung sich durchsetzt“,46 oder auch, bezogen auf das Verhältnis von parlamentarischen und vor‐ parlamentarischen Diskussionen von der „Einheit der Öffentlichkeit und der darin sich durchsetzenden öffentlichen Meinung“.47 Die spätere Demokratiekonzeption von Habermas übergeht die tatsächliche Pluralität moderner Gesellschaften dann zwar nicht mehr mit dem Hinweis auf die „zwingende Einsicht“ der öffentlichen Meinung. In scheinbarem Kontrast dazu spricht Habermas davon, in der kommuni‐ kativen Verflüssigung der Souveränität der Staatsbürger den „Pluralismus der Über‐ zeugungen und Interessen zu entfesseln“.48 Der Unterschied scheint darin zu liegen, dass er in seinen späteren demokratietheoretischen Schriften den „leichtfüßigen Zwang“ der Vernunft aus den „Herzen und Köpfen kollektiver oder einzelner Akto‐ ren in die Verfahren und Kommunikationsformen der politischen Meinungs- und Willensbildung“ verlagert und damit die „Tugendzumutung durch eine Rationali‐ tätsvermutung“ ersetzt.49 Dieser Prozeduralismus, durch den sich die deliberative Demokratietheorie von klassisch republikanischen Positionen unterscheidet, darf jedoch keineswegs mit der Aufgabe des Einheits- und Vernunftanspruchs öffentlicher Meinung und der aus ihr „entspringenden“ kommunikativen Macht verwechselt werden. Habermas unter‐ scheidet weiterhin zwischen einer Vielzahl von Meinungen und „einer qualifizierten öffentlichen Meinung“. Was Meinungen „zur öffentlichen Meinung macht, ist die Art ihres Zustandekommens und die breite Zustimmung, von der sie ‚getragen‘ wer‐ den“.50 Gegen alle Kritik hält auch der spätere Habermas an der Wahrheitsfähigkeit der demokratischen Meinungs- und Willensbildung fest und betont, wir dürften „die Prämisse der einen richtigen Antwort“ nicht fallen lassen, weil mit ihr der demokra‐ tische Prozess seine legitimierende Kraft verlieren würde.51 Habermas muss konse‐ quenterweise an seiner Prämisse der Wahrheitsfähigkeit politischer Entscheidungen festhalten, also Demokratie letztlich als Erkenntnisprozess denken. Denn aus der Perspektive eines an Rousseau und Kant orientierten Autonomiebegriffes kann der Bürger, der Gesetzen gehorcht, nur aufgrund dieser Prämisse nicht als fremdbe‐

46 47 48 49 50 51

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Habermas 1962, S. 110f. Habermas 1962, S. 244. Habermas 1992, S. 228. Habermas 1996, S. 312 (Hervorhebung. im Original). Habermas 1992, S. 438. Habermas 1996, S. 336.

stimmt gelten.52 Durch den Vernunftanspruch der Entscheidung, bzw. durch die oben erwähnte, aus Verfahren und Kommunikationsformen gespeiste „Rationalitätsver‐ mutung“ lassen sich individuelle Autonomie und demokratische Politik so zusam‐ menführen, dass die Mehrheitsentscheidung jedes Element von Heteronomie oder Fremdbestimmung verliert und sich der überstimmte Bürger mit ihr identifizieren kann. Mit einer derartigen Vernunftunterstellung allerdings handelt Habermas sich ein Verständnis politischer Repräsentation als Einheitsrepräsentation ein. Diesen Punkt hat Ernst Vollrath in mehreren Veröffentlichungen ausgeführt und dabei argumen‐ tiert, das politische Denken von Habermas bliebe einer für den deutschen Kultur‐ raum typischen „ideal- oder metapolitischen Apperzeption des Politischen“ verhaf‐ tet, die in einem zugleich antagonistischen und komplementären Verhältnis zur oben, am Beispiel Max Webers beschriebenen, „herrschaftskategorialen“, bzw. „realpoliti‐ schen“ und „affirmativ etatistischen“ Apperzeption des Politischen stehe.53 Vollrath sieht hier eine Beziehung zum Denken Immanuel Kants, der unter dem Einfluss Rousseaus das traditionelle herrschaftskategoriale Verständnis des Staates „transzen‐ dentalphilosophisch und reflexionsmoralisch umgearbeitet“ habe mit dem Ergebnis, dass nun der Staat in der Idee der Vernunft „die Einheit der personalen Gleichheit als der Freiheit qua absolut autonomer Selbstbestimmung“ sei. Der Fehler liegt nach Vollrath darin, politische Selbstbestimmung nach dem Vorbild individueller Autono‐ mie reflexiv als „Sich-selbst-Bestimmen“ zu fassen. Daraus resultiere ein „reflexi‐ onsmoralischer Fehlschluss“ der idealpolitischen Wahrnehmung des Politischen.54 Demgegenüber könne es im Politischen jedoch nicht darum gehen, „Sich selbst zu bestimmen“, sondern lediglich darum, „Selbst zu bestimmen, durch wen und wie man regiert werden will (Self-Government)“.55 Die Differenz zwischen Regierenden und Regierten sei deshalb auch in einer Demokratie nicht aufzuheben, sondern als ein Verhältnis von Beauftragung und Verantwortung politisch zu verfassen.56 Etwas weniger begründungstheoretisch lässt sich der Punkt Vollraths am Ameri‐ kanischen Verfassungsverständnis illustrieren. Die repräsentative Demokratie der amerikanischen Verfassung begegnet der Gefahr der Einheitsverkörperung des De‐ mos durch die Pluralisierung der Volkssouveränität in einem System der „checks and balances“.57 Habermas dagegen verflüssigt sie in der prozeduralisierten Vernunft ge‐ 52 Ausführlicher zum epistemischen Anspruch der deliberativen Demokratietheorie von Jürgen Habermas vgl. Thaa 2011, S. 100-127. 53 Vgl. dazu Vollrath 1995, S. 177f. und 1996, S. 345. 54 Vollrath 1995, S. 181. 55 Vollrath 1995, S. 183 (Hervorhebung im Original). 56 Vollrath 1992, S. 76. 57 Was Hannah Arendt zur These zuspitzte, eine der „größten und zukunftsträchtigsten Errungen‐ schaften der Amerikanischen Revolution“ läge zweifellos darin, dass „es ihr gelang, den An‐ spruch auf Souveränität im politischen Körper der Republik konsequent zu eliminieren“ (Arendt 1974, S. 199f.).

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sellschaftlicher Deliberationen. Der erste Weg führt zur Anerkennung und institutio‐ nalisierten Sichtbarkeit von Konflikt und Opposition. Repräsentation ist hier Diffe‐ renzrepräsentation, und das Politische erscheint als ein Bereich optionalen Handelns, in dem gleichermaßen legitime Alternativen gegeneinander stehen, aufgrund einer perspektivisch bleibenden Abwägung beurteilt und Mehrheitsvoten unterworfen werden. Die deliberative Demokratietheorie von Habermas dagegen macht Politik zum „problemlösenden Verfahren“,58 dessen Legitimität an der Vernunftvermutung „der einen ‚richtigen‘ Lösung“ hängt.59 Politische Repräsentation ist dann in letzter Instanz Repräsentation der einen Vernunft. Diese Konsequenz der Habermaschen Aufladung öffentlicher Meinung nahm be‐ reits 1963, kurz nach dem Erscheinen des „Strukturwandels der Öffentlichkeit“, Ernst Fraenkel in einem in diesem Kontext leider wenig beachteten Aufsatz ins Vi‐ sier.60 Zunächst einmal stellt Fraenkel ausführlich dar, dass die Intellektuellen, die in den Kaffeehäusern und Salons des Ancien Régimes im späten 18. Jh. zusammenka‐ men, keineswegs Demokraten waren. Ihr Ziel sei es vielmehr gewesen, eine mög‐ lichst allmächtige, von allen intermediären Gewalten unabhängige Regierung unmit‐ telbar der „öffentlichen Vernunft“ zu unterwerfen, sprich, der freien Diskussion einer philosophisch gebildeten Elite.61 Die „Souveränität der öffentlichen Meinung zu proklamieren“ entstamme liberalen, nicht demokratischen Vorstellungen und ha‐ be sich nach der Juli-Revolution von 1830 dezidiert gegen die Einführung demokra‐ tischer Verfassungsinstitutionen und insbesondere gegen die Einführung des allge‐ meinen Wahlrechts gerichtet.62 Der Traum einer politischen Elite, als Exponentin einer „einheitlichen öffentlichen Meinung posieren und regieren zu können, sei erst mit der Revolution von 1848 ausgeträumt gewesen, als „sich der heterogene, d.h. aber der Klassencharakter der bürgerlichen Gesellschaft nicht länger verhüllen ließ“.63 Ohne Habermas beim Namen zu nennen, kritisiert Fraenkel hier doch er‐ kennbar Einheits- und Vernunftanspruch der im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ entfalteten Konzeption einer Auflösung von Herrschaft in die Vernunft der öffentli‐ chen Meinung64 und hält dagegen, dass die moderne Demokratie erst mit der politi‐ schen Repräsentation gesellschaftlicher Gegensätze beginnt.

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Habermas 1992, S. 364. Habermas 1992, S. 326. Fraenkel 2011. Fraenkel 2011, S. 336f. Fraenkel 2011, S. 240. Fraenkel 2011, S. 241. Bei Habermas heißt es wörtlich: „Öffentliche Meinung will, ihrer eigenen Intention nach, we‐ der Gewaltenschranke noch selber Gewalt, noch gar Quelle aller Gewalten sein. In ihrem Me‐ dium soll sich vielmehr der Charakter der vollziehenden Gewalt, Herrschaft selbst verändern. Die `Herrschaft´ der Öffentlichkeit ist ihrer eigenen Idee zufolge eine Ordnung, in der sich Herrschaft überhaupt auflöst.“ (Habermas 1962, S. 104).

Markus Linden hat jüngst in einem differenzierten Vergleich des Repräsentations‐ verständnisses von Fraenkel und Habermas eindrucksvoll gezeigt, wie sich das Ver‐ ständnis politischer Repräsentation in den Schriften von Habermas im Laufe der Zeit veränderte (Linden 2015). Im „Strukturwandel“ der Öffentlichkeit identifiziert Lin‐ den zwei verschiedene Repräsentationskonzepte. Nach dem ersten, weitgehend von Carl Schmitt übernommenen, im Gegensatz zu ihm von Habermas jedoch negativ bewerteten Konzept, bedeutet Repräsentation die Verkörperung einer höheren Ge‐ walt durch den Herrn und ist charakteristisch für die repräsentative Öffentlichkeit der höfischen Gesellschaft.65 Diesen Begriff von Repräsentation beziehe Habermas dann in seiner Analyse des Strukturwandels der bürgerlichen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert auf die öffentliche Sichtbarmachung von Gruppeninteressen durch Ver‐ bände, Parteien und deren Vertreter. Weil es hier nicht darum gehe, die eigene Posi‐ tion einer öffentlichen Diskussion zu unterwerfen, sondern darum, „das Prestige der eigenen Position zu stärken“, spricht Habermas von einer „refeudalisierten bürgerli‐ chen Öffentlichkeit“.66 Linden sieht darin nun eine „Partikularisierung des Reprä‐ sentationsbegriffs, also seine Anwendung auf Gruppeninteressen“.67 Während Ernst Fraenkel jedoch im pluralismusskeptischen Klima der frühen Bundesrepublik den Pluralismus organisierter Interessen verteidige, interpretiere Habermas im „Struktur‐ wandel“ die Repräsentation von Gruppeninteressen als Krisenmerkmal politischer Öffentlichkeit.68 Linden kann dann zeigen, wie Habermas in seiner „Theorie des kommunikativen Handelns“ zu einer positiven Umwertung der Repräsentation partikularer Anliegen kommt. Unter „dem Eindruck legitimer Anerkennungskämpfe“ werde aus „Reprä‐ sentation ein Begriff, der die wahrhaftige Vorbringung von eigenen Perspektiven“ bezeichne.69 In „Faktizität und Geltung“ schließlich werde Repräsentation dann als „Manifestation verschiedener Deutungsperspektiven“ verstanden und von ihr in die‐ sem Sinne eine Rationalisierung der öffentlichen Diskussion erwartet.70 Obwohl sich Habermas dabei ausführlich auf den Neopluralismus Fraenkels beziehe, bleibe sein Verständnis der Repräsentation von Gruppen und Parteien „funktionalistisch inten‐ diert“. Während Fraenkel auf prinzipiell konfliktive Verfahren setze und die Ratio‐ nalitätsfiktion politischer Entscheidungen ablehne, sehe Habermas in der Repräsen‐ tation verschiedener Interessen und Meinungen „ein Mittel, um den Rationalitätsan‐ spruch von Demokratie zu verwirklichen“ und die Einheit einer prozeduralisierten 65 Linden 2015, S. 388. Habermas zitiert an den von Linden interpretierten Stellen ausführlich Carl Schmitts Verfassungslehre und spricht mit ihm von einer „gesteigerte(n) Art Sein, die einer Heraushebung in das öffentliche Sein, einer Existenz fähig ist“, (Carl Schmitt, Verfas‐ sungslehre, Berlin 1957, S. 208ff., zitiert nach Habermas 1962, S. 20). 66 Habermas 1962, S. 238. 67 Linden 2015, S. 389. 68 Linden 2015, S. 389. 69 Linden 2015, S. 391. 70 Linden 2015, S. 391.

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Vernunft zu sichern.71 Mit Bezug auf die grundsätzlicheren Überlegungen Vollraths lässt sich also formulieren, dass die deliberative Demokratietheorie von Jürgen Ha‐ bermas trotz einer positiven Umwertung der Repräsentation partikularer Deutungs‐ perspektiven und Interessen einer identitätsrepräsentierenden Demokratiekonzeption verhaftet bleibt.

4. Hannah Arendts doppelter Machtbegriff und die Differenzrepräsentation Claude Leforts Arendts oben bereits zitierte Aussage, wonach Macht der „menschlichen Fähigkeit“ entspricht, „nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zu‐ sammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“,72 bildet nicht nur den Anknüpfungspunkt für die kommunikationstheoretische Uminterpretation ihrer Konzeption politischen Handelns durch Jürgen Habermas. Sie ist zugleich auch der Aufhänger vielfältiger Kritik. Moniert wird dabei unter anderem eine anti-moderne Idealisierung der griechischen Polis, die Rückkehr zum Aristotelismus,73 oder auch eine „romantisierende Bestimmung des Handelns“.74 Vor allem in Bezug auf den letzten Vorwurf und die immer wieder geäußerte Kritik, Arendts Machtbegriff sei rein normativ, utopisch und unrealistisch,75 wird gern der Kontext übersehen, in dem die zitierte Aussage steht. Arendt formuliert sie im Anschluss an längere Ausführun‐ gen zu den Revolutionären des 18. Jahrhunderts, von denen sie behauptet, sie hätten gegen den auf Bodin und Hobbes zurückgehenden absoluten Machtbegriff der europäischen Nationalstaaten auf die ältere griechische und römische Tradition zu‐ rückgegriffen, in der Verfassungen als „Isonomie“ bzw. „Organisation von Gleichen im Rahmen des Gesetzes“ oder als „res publica“, bzw. „Bürgervereinigung“ verstan‐ den wurden.76 Aus dieser Sicht sei es die „Unterstützung des Volkes“, „was den In‐ stitutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht“.77 Um eine romantisierende, anti-institutionelle Verklärung spontanen Handelns geht es Arendt mit ihrem Macht‐ begriff also offensichtlich nicht. Christian Volk hat in einem Beitrag zur Diskussion um Arendts Machtbegriff zwei verschiedene Perspektiven der Thematisierung von Macht bei Arendt unter‐ schieden: die kollektive Akteursmacht, die aus dem Zusammenschluss verschiede‐ ner Menschen zu einer politischen Gruppe oder Organisation entstehe, einerseits und 71 72 73 74 75 76 77

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Linden 2015, S. 392. Arendt 1970, S. 45. Vgl. Habermas 1976. Greven 2003, S. 138. Zusammenfassend zur Kritik an Arendts Machtbegriff vgl. Volk 2013. Arendt 1970, S. 41. Arendt 1970, S. 42.

die Macht einer politischen Ordnung andererseits. Im ersten Fall spreche Arendt von „lebendiger Macht“, die verschwinde, sobald die zusammen handelnden Menschen sich wieder zerstreuen, im zweiten Fall meine sie den Zustimmungsgrad, den eine politische Ordnung bei jenen findet, die in ihr leben.78 Volk versucht dann zu zeigen, dass Macht bei Arendt nicht per se als normativer oder gar emanzipatorischer Ge‐ genbegriff zur Gewalt zu verstehen sei. So stehe etwa hinter dem Einsatz von Ge‐ walt auch nach Hannah Arendt immer Macht, zumindest in Form einer Zustimmung durch die Gewalt ausübenden Personen.79 Während es Volk darum geht, durch wei‐ tere Differenzierungen zu begründen, dass auch Arendts Denken Kriterien für eine sozialphilosophische „Kritik der Macht“ enthält, scheint mir die vorgeschlagene Un‐ terscheidung ein erster nützlicher Schritt, um den Zusammenhang zwischen einem handlungsbezogenen Machtbegriff und den repräsentativen politischen Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates zu klären. Denn mit dieser Unterscheidung wird zunächst einmal klar, dass politische Macht auch eine außerhalb des unmittel‐ baren Zusammenwirkens handelnder Personen existierende, in Institutionen gewis‐ sermaßen „materialisierte“ Gestalt annehmen kann.80 Das Verhältnis zwischen Macht und repräsentativen Institutionen lässt sich in einem weiteren Schritt genauer fassen, wenn wir, wie von Michel Dormal jüngst vorgeschlagen, Gerhard Göhlers Unterscheidung zwischen transitiver und intransiti‐ ver Macht81 auf das Phänomen politischer Repräsentation beziehen.82 Transitive Macht ist demnach Macht über andere Personen im Sinne Max Webers, als Chance, den eigenen Willen durchzusetzen. Diese Art Macht ist aus der Politik, aber auch dem Alltagsleben, nicht wegzudenken und tritt immer dann auf den Plan, wenn ein Individuum oder eine Gruppe versucht, den eigenen Willen gegenüber anderen durchzusetzen. Intransitive Macht bezeichnet demgegenüber „ein Medium des Selbstbezugs von Gesellschaft“, das Selbsteinwirkung durch Handeln ermöglicht.83 Göhler, der in seiner Bestimmung intransitiver Macht auf gemeinsame Ordnungs‐ prinzipien und Wertvorstellungen abhebt, spricht davon, „dass intransitive Macht

78 Volk 2013, S. 508. Volk bezieht sich dabei auf eine ähnliche Unterscheidung von Meints-Sten‐ der (2012). 79 Volk 2013, S. 509. 80 Die von Volk zitierte Formulierung bei Hannah Arendt lautet: „Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt” (Arendt 1970, S. 42). Noch deutlicher formuliert Arendt diesen Gedanken in ihrem Revolutionsbuch: „Macht wird stabilisiert und in der Existenz gehalten durch die mannigfaltigen Formen des Sich-aneinanderBindens, durch die Versprechen und Bünde und Verfassungen. ...die Verfassungen, Gesetze und Institutionen... sind genau so lange lebensfähig, als die einmal erzeugte Macht lebendigen Handelns in ihnen überdauert” (Arendt 1974, S. 227). 81 Vgl. Göhler 1997 und 2011. 82 Dormal 2017, S. 75. 83 Dormal 2017, S. 76.

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einen gemeinsamen Handlungsraum konstituiert“, aber auch, dass sie „Persistenz und Präsenz und somit seine Institutionalisierung erfordert“.84 Macht in diesem Sinne sichert die Identität einer Gesellschaft nicht durch sub‐ stantielle Festschreibungen, sondern indem sie einen „Ort“ bildet, der für „die ge‐ sellschaftlichen Akteure (bedeutet), daß ihre kollektive Gesamtheit verständlich, be‐ herrschbar, einer Ordnung fähig und veränderbar ist. Das heißt: sie fühlen, daß sie einen Zugriff auf die Gesellschaft haben, und wissen, daß ein Handeln in Bezug auf die Gesellschaft möglich ist“.85 Dieser zweite, intransitive Machtbegriff, und darauf kommt es hier an, weist über ein zweckrationales Handlungsmodell und die von ihm implizierten instrumentali‐ sierenden und herrschaftlichen Beziehungen zwischen den Akteuren hinaus und er‐ öffnet die Möglichkeit eines nicht nur pluralitätsverträglichen, sondern eines plurali‐ tätsfördernden Selbstbezugs der Gesellschaft. Dies lässt sich genauer verdeutlichen, wenn wir die oben, in der Kritik am Ideal einer einheitlichen öffentlichen Meinung bereits erwähnte Konzeption der Differenz‐ repräsentation erneut aufgreifen. Claude Lefort, auf den sie sich zurückführen lässt,86 prägte in seinen Analysen des totalitären Potentials moderner Demokratien die häufig zitierte Formel vom „leeren und unbesetzbaren Ort der Macht“.87 Damit ist zunächst einmal gemeint, dass mit den demokratischen Revolutionen der Neuzeit die zuvor im Fürsten verkörperte Macht von keinem Individuum und keiner Gruppe mehr „konsubstantiell“ zu besetzen sei. Das heißt, die Regierenden in einer rechts‐ staatlich verfassten demokratischen Republik können sich die Macht nicht mehr dauerhaft aneignen oder „einverleiben“. Stattdessen unterliegt ihre Ausübung einem geregelten Wettbewerb, die Stelle der Macht bleibt symbolisch leer, und der Konflikt wird institutionalisiert.88 Wo eine Gruppe dennoch der Vorstellung einer verkörpern‐ den Macht folgt und eine Logik der Identifikation von Regierenden und Volk durch‐ zusetzen beginnt, befinden wir uns bereits auf dem Weg in eine totalitäre Ordnung.89 Die Formulierung vom „leeren Ort der Macht“ bedeutet nun aber keineswegs, dass in einer demokratischen Ordnung die politische Macht in der Gesellschaft auf‐ ginge. Nach Lefort ist die moderne Demokratie durch die Ausdifferenzierung einer eigenen politischen Handlungssphäre gekennzeichnet, was schon Marx erkannt, aber als politische Entfremdung missverstanden habe.90 Im Gegensatz zum klassischen linken Ideal der Unmittelbarkeit ermöglicht für Lefort und Gauchet erst die Entste‐ hung einer von der Gesellschaft institutionell getrennten politischen Bühne die de‐ 84 85 86 87 88 89 90

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Göhler 1997, S. 56. Gauchet 1990, S. 228. Vgl. dazu Vollrath 1992. Lefort 1990, S. 293. Lefort 1990, S. 293ff. Lefort 1990, S. 287. Lefort 1990, S. 294.

mokratische Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte.91 Die Metapher der Bühne, die beide Autoren wiederholt benutzen, unterstreicht den performativen Charakter demokratischer Politik und veranschaulicht, wie es Demokratien schaffen können, gesellschaftliche Konflikte politisch auszutragen. Durch ihre sichtbare Repräsentati‐ on auf einer von der Gesellschaft getrennten, ihr gegenüber herausgehobenen politi‐ schen Bühne werden Konflikte nämlich zugleich legitimiert, erhalten eine reflexive und symbolische Dimension und werden entscheidbar auf der Basis numerischer Gleichheit, sprich, durch Abstimmungen oder Wahlen. In Bezug auf alle drei der hier genannten Aspekte unterscheidet sich dieses Ver‐ ständnis moderner Demokratien sowohl von einem herrschaftszentrierten als auch von einem kommunikativen Politikverständnis. Das gilt offensichtlich erstens für die auf der politischen Bühne sichtbar repräsentierten und als unaufhebbar anerkann‐ ten Differenzen: die vertikale zwischen Gesellschaft und Politik, diejenige zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, aber auch die horizontalen Differenzen zwi‐ schen den verschiedenen, miteinander in Wettbewerb stehenden Positionen. Jede dieser Differenzen widerspricht einem Anspruch auf Einheitsrepräsentation. Zwei‐ tens werden gesellschaftliche Interessen im Kampf um Macht symbolisch übersetzt. Sie lassen sich nie 1:1 auf die politische Bühne bringen, sondern müssen, zumindest rhetorisch, auf das Allgemeinwohl bezogen werden. Das heißt, sie werden in der Re‐ gel durch konfligierende Interpretationen allgemein akzeptierter Prinzipien (wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit) und gesellschaftliche Werte (wie Wohlstand, Si‐ cherheit oder Solidarität) argumentativ begründet. Klassen- und Interessengegensät‐ ze nehmen damit die Gestalt diskutierbarer Meinungskonflikte an. Damit verbindet sich zum einen eine konfigurative Funktion politischer Repräsentation: Erst auf der gegenüber der Gesellschaft herausgehobenen Bühne der Repräsentation werden dau‐ erhafte politische Orientierungen, Konfliktlinien und organisierte Parteien hervorge‐ bracht.92 Zum anderen tritt auf der symbolischen Ebene der Auseinandersetzung um die Identität der Gesellschaft und die Interpretation ihrer Prinzipien und Werte auch der Wille als politische Kategorie in den Hintergrund, und es kommt zu einer Auf‐ wertung von Perspektivität, Meinung und Urteilen.93 Versteht man Repräsentation als einen prinzipiell kontroversen, sich zeitlich entfaltenden Prozess zwischen ver‐ schiedenen Akteuren, so wird die Fiktion eines einheitlichen Kollektivwillens hin‐ fällig und der politische Prozess kann nicht mehr als Durchsetzung eines bereits vor‐ politisch formierten Willens verstanden werden - sei es unmittelbar der des Volkes oder der eines ihn verkörpernden Führers. Der politische Prozess ist dann zumindest auch ein Verständigungs- und Deliberationsprozess, in dem es darum geht, die Zu‐ 91 Lefort/Gauchet 1990, S. 112; Lefort 1990, S. 294. 92 Zur konfigurativen Funktion politischer Repräsentation ausführlicher Thaa 2013. 93 Diesen Aspekt politischer Repräsentation betont insbesondere Nadia Urbinati (vgl. etwa Urbi‐ nati 2005).

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stimmung der Anderen zu gewinnen, was zwangsläufig impliziert, die eigene Posi‐ tion zur Diskussion stellen zu müssen. Allerdings ist dies nicht mit einer wahrheits‐ fähigen epistemischen Deliberation zu verwechseln. Ins Zentrum eines so verstande‐ nen politischen Prozesses rückt das reflektierende Urteilen im Sinne Kants bzw. sei‐ ner Interpretation durch Hannah Arendt, bei dem es lediglich darum gehen kann, die Dinge auch aus der Sicht der anderen Beteiligten zu betrachten, ihnen die eigene Sichtweise anzutragen und dadurch eventuell eine „gewisse konkrete Allgemeingül‐ tigkeit“ zu erreichen.94 Der demokratische politische Prozess ist deshalb zwar argu‐ mentativ und verspricht damit ein höheres Rationalitätsniveau als bloße Dezision oder die Aggregation von Interessen. Er kann aber keine zwingenden Einsichten oder universell gültigen Wahrheiten hervorbringen und die grundsätzliche Pluralität des Politischen nicht aus der Welt schaffen.95 Schließlich erhält drittens das allgemeine und gleiche Wahlrecht auch nur durch die doppelte Abgrenzung gegenüber Einheitsverkörperung und epistemischem An‐ spruch seine volle Bedeutung. Gerade das vielfach als lediglich quantitativ und rein rechenhaft geschmähte Mehrheitsprinzip, bei dem einfach nur gezählt wird, konsti‐ tuiert eine auf Gleichheit basierende Handlungssphäre in Abgrenzung zur Gesell‐ schaft und ihren vielfältigen Quellen von Ungleichheit.96 Nehmen wir diese drei charakterisierten Aspekte der Differenzrepräsentation zu‐ sammen, so lässt sich politische Macht als ein an Institutionen, Prinzipien und Ver‐ fahren gebundenes, den Bürgern einer demokratischen Republik jedoch prinzipiell offen stehendes Handlungspotential begreifen. Dieses Handlungspotential kann nicht nach Webers Modell des zweckrationalen Handelns gedacht werden, auch wenn selbstverständlich einzelne Akteure innerhalb des politischen Raumes zweck‐ rational handeln. Politischer Macht im hier beschriebenen Sinn eines Mediums der demokratischen Selbstregierung einer Gesellschaft entspricht ein als Praxis be‐ schreibbares Handeln. Als Praxis qualifiziert sich Handeln durch den Modus, in dem es geschieht. Mit Hannah Arendt ließe sich formulieren, dass es nicht nur einen au‐ ßer ihm liegenden Zweck verfolgt, sondern einen Sinn in sich trägt.97 Arendts auf Aristoteles zurückgehende Qualifizierung des politischen Handelns als „Selbst‐ zweck“, die sie selbst paradox nennt98 und die unmittelbar auf den politischen Alltag bezogen auch Unverständnis erzeugen muss, gewinnt hier Plausibilität. Denn Macht als Medium der Selbstregierung kann den Bürgern einer demokratischen Republik nur dann dauerhaft Handlungsmöglichkeiten bieten, wenn diese ihre Interessen auf 94 Arendt 1958, S. 1142. 95 In diesem Sinn kritisiert Manin das Deliberationsverständnis von Jürgen Habermas bereits 1987 (Manin 1987, S. 353). 96 Ausführlicher zu den hier dargestellten Aspekten vgl. Thaa 2016. 97 Die Unterscheidung zwischen Sinn und Zweck bei Hannah Arendt ist am deutlichsten formu‐ liert in Arendt 1993, S. 126. 98 Arendt 1981, S. 201.

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eine Art und Weise verfolgen, sprich, in einem Modus agieren, der die Reproduktion der politischen Ordnung, ihrer Prinzipien und Verfahren sichert. Wird Macht als Me‐ dium politischen Handelns dagegen dem zweckrationalen Kalkül eines einzelnen Akteurs unterworfen, so wird sie zugleich mit der Pluralität und Gleichheit der Bür‐ ger zerstört.

5. Schluss Die Überlegungen zu Machtbegriff und Repräsentation bei Arendt und Lefort schei‐ nen auf den ersten Blick lediglich das normative Ideal eines pluralitäts- und hand‐ lungsorientierten Republikanismus zu konstruieren und vom Alltag politischer Aus‐ einandersetzungen weit entfernt zu sein. An aktuellen Gefährdungen der repräsenta‐ tiven Demokratie möchte ich deshalb zum Schluss kurz illustrieren, dass diese Über‐ legungen, trotz ihres theoretischen Abstraktionsniveaus, durchaus realitätsnahe Re‐ konstruktionen der Grundmerkmale demokratischer Ordnungen darstellen. Zunächst folgt aus dem Macht- und Repräsentationsverständnis von Lefort und Gauchet, dass Demokratien von der Politisierbarkeit gesellschaftlicher Gegensätze leben. Wenn die wichtigsten politischen Akteure das Verhältnis zwischen gesell‐ schaftlichen Gruppen und insbesondere das zwischen Arm und Reich nicht mehr für gestaltbar halten, sondern als quasi naturhafte Folge globaler wirtschaftlicher Ent‐ wicklungen präsentieren, verlieren die Auseinandersetzungen auf der Bühne der Re‐ präsentation ihren gesellschaftspolitischen Gehalt und die Demokratie damit einen erheblichen Teil ihrer Substanz. Die nahe liegende Reaktion der dann nicht mehr durch politische Konflikte integrierten Bevölkerungsgruppen lässt sich derzeit am Erfolg populistischer Bewegungen in nahezu allen westlichen Demokratien beob‐ achten. Mit der Besetzung des politischen Raumes durch einfache Dichotomien und daraus gewonnene Kollektividentitäten gewinnen dann auch die vermeintlich einfa‐ chen, einer instrumentellen Logik folgenden Lösungen an Bedeutung. Wo populisti‐ sche oder plebiszitäre Führer beanspruchen, den vermeintlichen Willen des Volkes durchsetzen, bleibt für Politik, verstanden als offene, aber geregelte Auseinander‐ setzung unter Gleichen, wenig Raum. Ähnliches gilt aber auch für Reaktionen auf die derzeitige Krise der repräsentati‐ ven Demokratie, die aus der Irrationalität der Wähler, die manche Zeitgenossen ja gerade in jüngster Zeit durch spektakuläre Abstimmungs- und Wahlergebnisse bestä‐ tigt sehen, den Schluss ziehen, die Demokratie zu entpolitisieren,99 oder Partizipati‐ onsrechte der Bürger nach Kompetenz und Expertise zu differenzieren.100 Die im Namen von Rationalität und Effizienz vorgetragenen Plädoyers für die Entpolitisie‐ 99 Etwa Pettit 2004. 100 Etwa Willke 2016.

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rung von Entscheidungen und die Stärkung von Experten werden vor dem Hinter‐ grund der Demokratietheorie Leforts als Projekt zur Entmachtung der Gesellschaft erkennbar. Den Platz der leeren, im öffentlichen Konflikt nur zeitweise zu besetzen‐ den und durch eine politische Opposition stets herausgeforderten „Stelle der Macht“ soll in diesen Szenarien eine außerpolitisch ausgewiesene, höhere Kompetenz beset‐ zen. Damit wird nicht nur die politische Gleichheit der Bürger in Frage gestellt, son‐ dern ähnlich wie in einem dezisionistischen Politikverständnis ihre intransitive, Selbstregierung ermöglichende Macht durch ein teleologisches Handlungsmodell marginalisiert. Den Gefahren, die der Demokratie derzeit durch populistische und plebiszitäre, aber auch durch elitäre und expertokratische Kräfte drohen, wird sie nur in dem Maße erfolgreich entgegentreten können, wie es gelingt, den Ort politischer Macht als einen Raum pluraler, konflikthafter Praxis lebendig zu halten.

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Ulrich Thiele Die Idee der Constituent Power zwischen Mythos und Verfahren. Die Überlegungen der Federalists im Vergleich mit konkurrierenden Ansätzen

Emmanuel Joseph Sieyes steht zweifellos das Verdienst zu, besonders konsequent zwei Dimensionen demokratischer Souveränität auseinandergehalten zu haben: das Volk wird nicht nur als legitimes Subjekt verfassungsrechtlich gebundener Gesetzge‐ bungskompetenzen, sondern zudem als Subjekt verfassungsrechtlicher Gründungs‐ akte gedacht.1 Ebenso wenig lässt sich bestreiten, dass das im Januar 1789 publizier‐ te Pamphlet über den Dritten Stand erstmals die legitimationstheoretischen Konse‐ quenzen aus jener Begriffsbildung zog: Gemäß dieser zweistufigen Legitimitätstheo‐ rie leiten sich alle verfassungsrechtlichen Kompetenzen der öffentlichen Gewalt(en) aus einem ursprünglichen verfassunggebenden Akt der Souveräns her, der in dieser Verfassungsrecht erzeugenden Funktion als verfassungsrechtlich ungebunden ge‐ dacht werden muss, während umgekehrt alle konstitutionellen Souveränitätsakte durch jenen ursprünglichen Willensakt limitiert sind. Die besondere Leistung des Abbé liegt weiter darin, dass er folgerichtig für die beiden Modi von Souveränitäts‐ akten gesonderte, organisatorisch und personal voneinander unabhängige Entschei‐ dungs- bzw. Repräsentationsverfahren forderte. Sieyes war der erste, der aus der le‐ gitimationstheoretischen Zweistufigkeit der Volkssouveränität nicht bloß allgemeine, sondern konkrete prozedurale Konsequenzen zog. Sieyes scheint es demnach gelun‐ gen zu sein, ein neues politiktheoretisches Begriffspaar nicht nur präzise zu definie‐ ren, sondern es auch in Hinblick auf seine subjekttheoretischen, legitimationstheore‐ tischen und prozeduralen Implikationen konsistent zu entfalten.

1. Die Federalist Papers und das Prinzip der verfassunggebenden Volkssouveränität Verfehlt wäre es aber, Sieyes’ theoretische Leistung als voraussetzungslose Innovati‐ on darzustellen. Rund ein Jahr vor dem Erscheinen des außerordentlich populären Pamphlets über den Dritten Stand hatten die 1787 und 1788 publizierten Federalist Papers aus dem Prinzip verfassunggebender Volkssouveränität auf den ersten Blick sehr ähnliche Folgerungen wie er gezogen. Zwar findet sich in den Federalist Papers 1 Vgl. z.B. Breuer 1984, Forsyth 1987, Hafen 1994, Pasquino 1998.

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keine präzise Definition des Begriffs der constituent power, wohl aber verstreute Be‐ merkungen, die zusammengenommen eine eindeutige Standortnahme der Autoren bekunden. Das Prinzip der constituent power wird häufig im Zusammenhang mit der Erörte‐ rung widerstandsrechtlicher Fragen behandelt. Beispielsweise heißt es, das Volk sei jederzeit „vollkommen Herr seiner Verfassung“.2 Ein ultimatives überpositivrechtli‐ ches bzw. naturrechtliches Widerstandsrecht – so die Argumentation von Hamilton – stehe dem Volk allemal dann zu, wenn sich „die mit der äußeren Form legaler Auto‐ rität ausgestatteten Usurpatoren [...] Eingriffen [...] in die bürgerliche Freiheit“ schuldig machen.3 Die elementarste Form des „Eingriff[s] in die bürgerliche Frei‐ heit“ liegt nach Hamiltons Überzeugung dann vor, wenn die „Repräsentanten des Volkes [...] die Bestimmungen der Verfassung [...] verletzen.“4 Wenn das natürliche Recht zum Widerstand gegen „Usurpatoren“ an die Bedin‐ gung geknüpft wird, dass die politischen Funktionsträger die Verfassung verletzen, dann schließt dies allemal den Fall ein, dass Repräsentanten ihre in der Verfassung festgelegten Kompetenzen überschreiten. Damit aber wird das Prinzip der verfas‐ sunggebenden Volkssouveränität nicht nur im Allgemeinen anerkannt, sondern von verfassungsrechtlich definierten Kompetenzen qualitativ abgrenzt und diesen – ge‐ nau wie bei Sieyes – legitimationstheoretisch übergeordnet. „Wenn die Volksvertre‐ ter ihre Wähler verraten, bleibt kein anderer Ausweg, als das ursprüngliche Recht auf Selbstverteidigung anzuwenden. Dieses steht über jeder Form von gesatzter Herrschaft [...].“5 Den durch prozedurale, organisatorische und materiale Verfassungsnormen in ihren Kompetenzen limitierten Repräsentanten sollen Eingriffe in die Verfassung (einschließlich etwaiger Änderungen des Verfassungstextes) strikt untersagt sein, weil die Verfassung als Ausdruck der verfassunggebenden Volkssouveränität be‐ trachtet wird. Insofern sich der souveräne Wille des Volkes im Verfassungsdokument artikuliert und dieses den Repräsentanten begrenzte Funktionen und entsprechend begrenzte Aufträge zuweist, fällt die Beachtung der Verfassung von Seiten der poli‐ tischen Funktionsträger in eins mit der Respektierung ihrer Legitimationsbasis: der Volkssouveränität. „Es gibt wohl keine Position, die auf einleuchtenderen Grundsätzen beruht als die, dass jeder Beschluss einer mit Vollmacht handelnden Autorität, der dem Inhalt des Auftrags, unter dem sie handelt, widerspricht, nichtig ist. Daher kann kein Beschluss der Legislati‐ ve, der im Widerspruch zur Verfassung steht, gültig sein. Dies zu leugnen, hieße zu be‐ haupten, der Beauftragte stünde über dem Auftraggeber, der Diener über dem Herren, der Vertreter des Volkes sei dem Volk selbst übergeordnet und Männer, die kraft der ihnen 2 3 4 5

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Hamilton u.a. 1993, No. 28, S. 189 (im Folgenden zitiert als „FP“). Ebd. FP, No. 78, S. 459. FP, No. 28, S. 188.

verliehenen Befugnisse handeln, dürften nicht bloß tun, wozu sie ihre Befugnisse gar nicht autorisieren, sondern sogar das, was diese verbieten.“6

Insofern sich der souveräne Wille des Volkes in der Verfassung objektiviert hat, sind alle Repräsentativorgane an deren Regeln gebunden; sie verfügen – so die Sieyes‐ sche Terminologie – lediglich über einen pouvoir constitué. Würden sie verfassungs‐ widrige oder -ändernde Beschlüsse fassen können, usurpierten sie den ihnen entzo‐ genen pouvoir constituant, der als ursprüngliches Eigentum des ganzen Volkes von diesem unter keinen Umständen veräußert werden kann. „Ich vertraue [...] darauf, dass die Freunde der vorgeschlagenen Verfassung niemals mit deren Gegner darin übereinstimmen werden, jenen fundamentalen Grundsatz der republi‐ kanischen Regierungsform in Frage zu stellen, der dem Volk das Recht zugesteht, die be‐ stehende Verfassung zu ändern oder aufzuheben, wann immer es der Meinung ist, sie sei mit seinem Glück unvereinbar.“7

Auch die demokratische Wahl der mit der Gesetzgebung beauftragten Repräsentan‐ ten ändert nichts an dieser legitimationstheoretisch notwendigen Tabuisierung der Verfassung: im Rahmen einer zweistufigen Konstruktion demokratischer (überver‐ fassungsrechtlicher und verfassungsrechtlicher) Legitimität muss ausgeschlossen sein, dass für spezielle, verfassungsrechtlich limitierte Aufgaben gewählte Volksver‐ treter die elementarsten Grundlagen ihrer Autorität modifizieren. Mit der Theorie verfassunggebender Volkssouveränität sei es – so Madisons radikale Folgerung – ebensowohl unverträglich, der gesetzgebenden Versammlung ein eigenständiges Verfassungsrevisionsrecht einzuräumen, wie es illegitim wäre, ihr dies für den be‐ sonderen Fall zugestehen, dass nicht (nur) die Abgeordneten, sondern ebenso die Mehrheit der Wähler dies wünscht. „Aus diesem Grundsatz kann aber nicht geschlossen werden, dass die Repräsentanten des Volkes das Recht hätten, die Bestimmungen in der geltenden Verfassung zu verletzen, wann immer eine Mehrheit ihrer Wähler zufällig gerade von einer momentanen Laune ergriffen wird, die mit diesen Bestimmungen unvereinbar ist; oder dass die Gerichte ver‐ pflichtet wären, bei Übertretungen dieser Art eher ein Auge zuzudrücken, als wenn sie ausschließlich aus den Intrigen der Repräsentativkörperschaft hervorgegangen wären.“8

Hamilton scheint dem Gesetzgeber jegliche Verfassungsänderungsbefugnis abspre‐ chen zu wollen und das unabhängig davon, ob sich die Legislative dabei auf das Prinzip des freien Mandates beruft oder aber im weiteren Sinne auf plebiszitäre Le‐ gitimationsquellen rekurriert. Konsequent volkssouveränitätstheoretisch argumentie‐ rend, lautet das Fazit:

6 FP, No.78, S. 457. 7 FP, No. 78, S. 459. 8 Ebd.

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„Solange das Volk die bestehende Verfassung nicht durch einen feierlichen und autoritati‐ ven Beschluss annulliert oder geändert hat, ist sie für es selbst sowohl kollektiv als auch individuell bindend; und keine Mutmaßungen über die Gefühle des Volkes, nicht einmal die genaue Kenntnis davon kann seine Vertreter dazu berechtigen, von der Verfassung ab‐ zuweichen, bevor ein solcher Beschluss ergangen ist.“9

Keine der konstituierten öffentlichen Gewalten besäße demnach die Berechtigung, ihre verfassungsrechtlich definierten Kompetenzgrenzen eigenmächtig zu verändern. Dies wäre allein dem Volk als dem ursprünglichen Verfassungsautor erlaubt. „Wenn diejenigen, denen in einem einzelnen Staat die höchste Macht anvertraut ist, zu Usurpatoren werden, können die verschiedenen Teile, Untergruppierungen oder Distrikte, aus denen sich der Staat zusammensetzt, keine geordneten Verteidigungsmaßnahmen er‐ greifen, weil es in ihnen keine selbständigen Regierungen gibt. Die Bürger müssen unge‐ ordnet zu den Waffen eilen, ohne Abstimmung, ohne System und ohne Hilfsmitteln – es bleibt ihnen nur ihr Mut und ihre Verzweiflung.“10

Die Verfassungsänderungsthematik wird von den Federalists tendenziell auf den wi‐ derstandsrechtlichen Ausnahmefall des Verfassungsbruchs von Seiten der Repräsen‐ tanten und der komplementären restituierenden Betätigung der verfassunggebenden Volkssouveränität verengt; willentlich oder unwillentlich evoziert man damit ein spezifisch extraprozedurales Szenario für Artikulationen des pouvoir constituant, die implizit alle Arten und Grade der Verfassungsänderung einschließt. Revisionen scheinen bei Hamilton grundsätzlich im überlegalen Naturzustand angesiedelt, in dem ursprüngliche Naturrechte des Volkes und entsprechend informelle Wahrneh‐ mungsmodi dieser vorstaatlichen Rechte an die Stelle verfassungsrechtlicher Prozeduralnormen treten. Mit Ausnahme des letzten Artikels der Federalist Papers werden für partielle Verfassungsänderungen keine konkreten verfassungsrechtlich kodifizierbaren Verfahrensvorschläge gemacht, die dem Prinzip der Trennung des pouvoir constituant von den pouvoirs constitués genüge täten. Man kann den Ein‐ druck gewinnen, dass das Prinzip der verfassunggebenden Volkssouveränität ganz auf den singulären Fall des ursprünglichen Vertrages zugeschnitten ist, an dessen verfassungsrechtliche Resultate sowohl die Repräsentanten als auch das Volk selber jedenfalls solange gebunden bleiben, bis jener extralegale Zustand wieder eintritt; der pouvoir constituant erscheint als elementares, auf situative verfassungsrechtli‐ che ,Legalitätslücken‘ bezogenes und deswegen auch diffuses Legitimitätsprinzip, aus dem sich zwar alles Verfassungsrecht herleiten soll,11 ohne dass aber bis auf den revolutionären Ausnahmefall dem Volk (im Sinne der Nichtrepräsentanten) irgend‐

9 FP, No. 78, S. 460f. 10 FP, No. 28, S. 188f. 11 „Das Gebäude des amerikanischen Staates sollte auf der soliden Grundlage der Zustimmung des Volkes ruhen. Die Ströme nationaler Macht sollten unmittelbar aus dieser reinen, ursprüng‐ lichen Quelle aller rechtmäßige Autorität entspringen“ (FP, No. 22, S. 163).

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welche plebiszitären oder repräsentativen Wege der legalen Verfassungsänderung zugedacht werden.12 Aus dem legitimationstheoretisch notwendigen Postulat der überpositivrechtlichen Geltungsbasis verfassunggebender Souveränitätsakte schlie‐ ßen die Federalists – diesen Eindruck muss man jedenfalls dann gewinnen, wenn man die Artikel 1 bis 84 zugrunde legt – nicht nur auf die zwangsläufige Extralegali‐ tät, sondern auch auf die Extraprozeduralität verfassungsändernder Souveränitätsak‐ te. Verfassungsrechtlich zu definierende Verfassungsänderungsprozeduren, die das Prinzip der Volkssouveränität nicht nur als diffuse Legitimitätsquelle beschwörten, sondern seinen partizipatorischen Inhalt ernst nähmen und in konkrete (mehr oder minder direktdemokratische) Verfassungsgesetzgebungsverfahren umsetzten, schei‐ nen für die Federalists weniger erstrebenswert als vielmehr prinzipwidrig zu sein. Sieyes dagegen, dessen Theorie zweistufiger verfassungsrechtlicher Legitimität die von den Federalists geforderte Trennung zwischen konstituierenden und konsti‐ tutionellen Souveränitätsakten an Radikalität überbietet, schlägt nur ein Jahr später eine originelle Lösung vor. Sie ist keineswegs allein auf den überlegalen Extremfall zugeschnitten und kommt damit einem dynamischen und demokratischen Verfas‐ sungsverständnis sicher eher entgegen, als das Verdikt, das Madison und Hamilton über Verfassungsrevisionen ausgesprochen zu haben schienen. Sieyes fordert seit seinen frühesten Schriften besondere, außerordentliche Repräsentationsverfahren nicht nur für den Fall der Totalrevision, sondern ebenso für partielle verfassungsän‐ dernde Aktivitäten. Denn auch diese begreift er konsequenterweise als partikularkonstituierende Akte der verfassunggebenden Volkssouveränität. Deswegen ist es für ihn selbstverständlich, dass keine der drei öffentlichen Gewalten als ihr Subjekt auftreten kann. Die Forderung nach selbständigen Delegationsmodi für die zu parti‐ ellen Verfassunggebungen autorisierten Repräsentativkörperschaften verfolgt ein doppeltes Ziel: Einerseits soll die zur Revision ermächtigte Stellvertretung des pou‐ voir constituant daran gehindert werden, unmittelbar die (ausführenden) Staatsge‐ walten zu befehligen – damit würde sie die Souveränitätsrechte des ordentlichen Ge‐ setzgebers außer Kraft setzen –, andererseits muss ausgeschlossen sein, dass ein pouvoir constitué (einschließlich der Legislative) seine verfassungsrechtliche Ge‐ schäftsgrundlage von sich aus ändern kann. Beide Arten von Usurpationen würden – in der Sprache des mittleren Sieyes – die „république“ untergraben, und sie in eine „ré-totale“13 verwandeln, die die absolutistische Tradition des Ancien regime, nun unter pervertierten volkssouveränitätstheoretischen Vorzeichen, fortsetzte. Die Pointe der Sieyesschen Theorie des pouvoir constituant liegt weiter darin, dass durch verfahrensmäßige Regelungen der Fall ausgeschlossen werden soll, dass 12 Gebhardt 1987, S. 72: „Es scheint, dass nach Publius das Volk die Fülle seiner Souveränität nur im feierlichen Akt der Verfassunggebung ausübt – eine Handlung, die nicht zu oft wiederholt werden soll und an die das Volk selbst respektive die Volksvertretung gebunden bleibt“. 13 Eine „ré-totale“ wäre im Unterschied zu einer Republik „für die Freiheit gefährlich und gleich verderblich für das öffentliche und Privatbeste“ (Sieyes 1796, S. 376).

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sich der verfassunggebende oder verfassungsändernde Wille des Volkes stillschwei‐ gend bzw. diffus-akklamativ betätigt.14 Um zu gewährleisten, dass der pouvoir con‐ stituant konkrete verfassungsgesetzliche Ergebnisse hervorbringt, plädiert der frühe Sieyes auch dann für strikt selbständige Repräsentationsprozeduren, wenn der Text der Verfassung nur akzidentiell modifiziert werden soll.15 Denn nur so lasse sich zu‐ verlässig verhindern, dass in ihren Funktionen konstitutionell beschränkte Repräsen‐ tanten der legislativen, juridischen oder exekutiven Gewalt als advokative Interpre‐ ten eines abstrakten verfassunggebenden Willens auftreten können. Sieyes insistiert ausdrücklich auf mittelbaren, repräsentativen Prozeduren16 für die Ermittlung des (sonst entweder unerkennbaren oder nur mutmaßlichen oder aber advokativ zu‐ schreibbaren) Inhaltes des verfassunggebenden Willens.17 Damit soll verhindert wer‐ den, dass durch organisatorische Verfassungsprinzipien gebundene Volksvertreter unter Rekurs auf diffus-plebiszitäre Legitimitätsquellen die gewaltenteiligen Limits ihres Handelns antasten und zu ihren Gunsten erweitern.18 „Es steht der Nation jederzeit frei, ihre Verfassung zu reformieren. Besonders, wenn die‐ se umstritten ist, kann sie nicht darauf verzichten, sich eine einwandfreie Verfassung zu geben. Das gibt heute jedermann zu; und seht ihr denn nicht ein, dass keiner, der bloß Partei in einem Streite ist, die Verfassung antasten darf? Eine an Verfassungsregeln ge‐ bundene Körperschaft kann nur nach ihrer Verfassung entscheiden. Eine andere Verfas‐ sung kann sie nicht geben. Sie hört auf zu bestehen, sobald sie anders als nach den vorge‐ schriebenen Formen spricht und handelt.“19

Wenn Sieyes sagt, der pouvoir constituant sei frei in der Wahl seiner Artikulations‐ formen, dann bedeutet dies nicht, dass formelle oder informelle Modi gleichermaßen legitimitätserzeugend wären, sondern nur, dass die Willensbildung in verfassungge‐ benden oder -ändernden Prozeduren erstens unabhängig von verfassungsrelativen Delegationsmodi vonstatten gehen muss, und dass zweitens das politische Personal der pouvoirs constitués für die Repräsentation des pouvoir constituant definitiv nicht in Frage kommt. Die konstituierende Repräsentationspyramide darf keinesfalls in Abhängigkeit von den konstituierten Repräsentationspyramiden geraten, weswegen für Sieyes keine bloß prozedurale Differenzierung ausreichen kann, sondern eine 14 Vgl. dazu Thiele 2003, S. 215ff., 476ff. 15 Wer immer darüber zu entscheiden befugt wäre, ob eine angestrebte Revision die Verfassung in ihrer Substanz der nur in ihren Akzidenzien modifizieren würde, handelte objektiv als Sach‐ walter des in der positiven Verfassung dokumentierten souveränen Willens, was aber mit einer zweistufigen Theorie demokratischer Legitimität nicht vereinbar wäre; daher fordert Sieyes für schlechterdings jeden redaktionellen Eingriff in die Verfassung kategorisch entweder eine be‐ sondere Repräsentation oder, wie in den Entwürfen von 1795, eine gesonderte Ratifikation durch die Primärwählerversammlungen. 16 Zu Sieyes’ Verständnis der Repräsentation als Arbeitsteilung vgl. Hafen 1994, S. 54ff. 17 Vgl. z.B. Sieyes 1789a, S. 153ff. 18 „Keine übertragene Gewalt, welcher Art sie auch sei, kann an den Bedingungen ihrer Übertra‐ gung irgendetwas ändern“ (Sieyes 1789a, S. 150). 19 Sieyes 1789a, S. 155.

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strikte personale Trennung zwischen beiden Stellvertretungssystemen unabdingbar ist. Wer beispielsweise einen Sitz in der gesetzgebenden Versammlung innehat, kann nach Sieyes’ Überzeugung unmöglich an verfassunggebenden oder -ändernden Kon‐ venten teilnehmen und umgekehrt. „Die [...] verfassunggebende Gewalt und die durch die Verfassung konstituierte Gewalt dürfen nicht verquickt sein, der Auftrag zur Ausübung der gewöhnlichen Gesetzgebung ist völlig verschieden von dem Auftrag, die Verfassung zu gründen oder zu reformie‐ ren.“20

Dem zweistufigen Modell der Repräsentationsverfahren entspricht mithin das Gebot strikter personaler Funktionsteilung. Die „außerordentlichen Stellvertreter“ dürfen weder von den „gewöhnlichen Stellvertretern“, die „nach den Verfassungsregeln“ zu handeln verpflichtet sind, ernannt werden, noch gar mit ihnen identisch sein. „Sonst geriete man in einen Teufelskreis, in eine Folge von Behauptungen, die das zu Be‐ weisende voraussetzen.“21 Es scheint, dass die bisher festgestellten Gemeinsamkeiten zwischen Sieyes’ Überlegungen und denen der Federalists hinsichtlich der zweistufigen Theorie über‐ verfassungsrechtlich-verfassungsrechtlicher Legitimität bei der Frage nach prozedu‐ ralen Konsequenzen endet; Sieyes ist bereit, diese zu ziehen, die Federalists nicht.

2. Das Volk als „natürlicher Hüter der Verfassung“ Madison formuliert das Prinzip verfassunggebender Volkssouveränität an einer Stel‐ le besonders prägnant, um anschließend die Möglichkeiten einer prozeduralen Diffe‐ renzierung zwischen verfassunggebenden bzw. -ändernden und verfassungsimma‐ nenten Artikulationen der Volkssouveränität zu erörtern: als Konsequenz der zwei‐ stufigen demokratischen Legitimitätstheorie wird die Frage diskutiert, ob nicht ein Appell an das Volk die einzige mit demokratischen Prämissen vereinbare Lösung darstelle. „Da das Volk die einzig legitime Quelle der Macht ist, und da das Volk es ist, von dem sich die Verfassungsurkunde, die den verschiedenen Regierungszweigen ihre Macht zu‐ weist, herleitet, scheint es im strengen Sinne mit der republikanischen Theorie übereinzu‐ stimmen, nicht nur auf dieselbe ursprüngliche Autorität zurückzugreifen, wann immer es notwendig ist, die Regierungsbefugnisse zu erweitern, zu verringern oder umzuformen, sondern ebenfalls dann, wenn irgendeiner der Regierungszweige Übergriffe auf die ver‐ brieften Vollmachten der anderen begeht. Da die verschiedenen Regierungszweige hin‐ sichtlich ihres gemeinsamen Auftrags vollkommen gleichgestellt sind, ist es offensicht‐ lich, dass keiner von ihnen einen Anspruch auf ein ausschließliches oder übergeordnetes 20 Sieyes 1789c, S. 227. 21 Sieyes 1789a, S. 153.

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Recht erheben kann, die Grenzen zwischen ihren jeweiligen Befugnissen ziehen zu kön‐ nen. Und wie kann man Übergriffe des Stärkeren verhindern oder gegenüber dem Schwä‐ cheren begangenes Unrecht wiedergutmachen, ohne an das Volk selbst zu appellieren, das als die Instanz, die den Auftrag erteilt hat, allein seine wahre Bedeutung erklären und seine Befolgung erzwingen kann?“22

Der überpositivrechtlichen Prämisse der republikanischen Theorie politischer Legiti‐ mität entsprechend wäre das Volk, d.h. die Nichtrepräsentanten, und niemand sonst ebenso der „natürliche Hüter der Verfassung“, 23 wenn diese von der öffentlichen Ge‐ walt verletzt würde, wie es das einzige naturrechtlich legitimierte Subjekt verfas‐ sungsändernder Beschlüsse wäre. Insofern die Kompetenzen der öffentlichen Ge‐ walten durch höherstufiges Verfassungsrecht und dieses durch gründungsrechtliche Optionen des Verfassunggebers bestimmt sind, bleibt den Repräsentanten jede ei‐ genmächtige Modifikation ihrer Rechte verwehrt. Die verfassungsmäßigen Gewal‐ ten haben ihren wohlbestimmten „Auftrag“ von der verfassunggebenden Versamm‐ lung erhalten und sie sind, insofern sie die Grenze ihrer eigenen Funktion nicht auto‐ nom verschieben können, in Bezug auf ihre kodifizierte ,Geschäftsgrundlage‘ einan‐ der „vollkommen gleichgestellt“;24 auch bezüglich partiell verfassunggebender Akte ist ihre Stellung heteronom, nicht autonom. Welche Repräsentativkörperschaft im‐ mer es unternähme, als ,Hüter der Verfassung‘ die funktionale Gewaltenteilung im Falle ihrer Verletzung durch Urteilsspruch bzw. eventuell erforderliche verfassungs‐ rechtliche Revisionen zu restabilisieren, würde sie zugleich dadurch destabilisieren, dass sie (offiziell oder apokryph) als Exponent des pouvoir constituant agierte. Sie müsste ihre damit in Anspruch genommene ‚schiedsrichterliche Superkompetenz‘ auf ein „übergeordnetes Recht“25 zurückführen. Sie könnte sich mithin nicht auf po‐ sitives Verfassungsrecht berufen, sondern hätte in ihrer ‚angemaßten Wächterfunkti‐ on‘ auf das ‚natürliche‘ Recht der (restitutiven) Verfassunggebung als Implikation des politischen Selbstbestimmungsrechtes des Volkes zu rekurrieren. In dieser Hin‐ sicht stimmen die Federalists zwar nicht im Wortlaut, wohl aber der Sache nach mit der französischen Demokratietheorie vollkommen überein. So kritisiert beispielsweise Sieyes die englische Verfassungspraxis, die „zwischen der verfassunggebenden und der gesetzgebenden Gewalt nie einen Unterschied ge‐ macht“ habe und insistiert für das republikanische Frankreich darauf, „dass die ge‐ wöhnliche Nationalversammlung [...] lediglich eine gesetzgebende Versammlung“ sein dürfe. „Es wird ihr untersagt sein, jemals irgendeinen Teil der Verfassung anzutasten. Sollte es notwendig werden, die Verfassung zu revidieren und teilweise zu reformieren, so wird

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FP, No. 49, S. 312. FP, No. 16, S. 130. FP, No. 49, S. 312. Ebd.

die Nation die Änderungen, die ihr angebracht scheinen, durch einen außerordentlichen und auf diese Aufgabe beschränkten Konvent bestimmen.“26

Was den ursprünglichen Akt der Verfassunggebung anbetrifft, so liegen, wie man sieht, die Überlegungen der Federalists auf derselben Linie wie die Sieyesschen. Nach der Vernunft bzw. nach volkssouveränitätstheoretischen Prinzipien – so die ge‐ meinsame Überzeugung – erfordere die Verfassunggebung auf jeden Fall eine außer‐ ordentliche Versammlung, deren Repräsentanten durch ein besonderes, auf diesen Zweck beschränktes Mandat autorisiert sein müssten. Folglich wenden sowohl die Amerikaner als auch der Franzose erhebliche Mühe auf, wenn sie dahingehend argumentieren, dass – als Ausnahme von der Regel – den de facto zu anderen Zwecken einberufenen Konventen nicht zuletzt aufgrund außer‐ gewöhnlicher politischer Umstände ein implizites Mandat zur Verfassunggebung zu‐ gewachsen sei. Für den aktuellen Fall einer unterlegitimierten verfassunggebenden Versammlung vertritt Madison – ähnlich wie kurze Zeit später Sieyes in seinem Pamphlet über den Tiers Etat – die Auffassung, dass „die Versammlung [...] dazu au‐ torisiert war, eine [...] Verfassung zu entwerfen und zur Annahme vorzuschlagen“.27 Man dürfe und müsse die Vollmachten, die im September 1786 dem Konvent in An‐ napolis und im Februar 1787 dem Verfassungskonvent in Philadelphia erteilt wur‐ den, extensiv auslegen; andernfalls nämlich sei eine Verfassunggebung schon aus pragmatischen Gründen unmöglich: Die eigentlich nur zu Beratungen autorisierten Delegierten des Philadelphia-Konventes „müssen sich überlegt haben, dass bei allen großen Veränderungen etablierter Regierun‐ gen die Form dem Inhalt zu weichen hat; in solchen Fällen starr an der Form festhalten, würde [...] das vorzügliche und wertvolle Recht des Volkes, seine Regierung aufzuheben oder zu verändern, wie es für seine Sicherheit und sein Glück am zuträglichsten zu sein scheint, gehaltlos und unwirksam machen, weil es dem Volk unmöglich ist, sich spontan und in allgemeiner Übereinstimmung auf sein Ziel hinzubewegen. Deshalb ist es auch unabdingbar, solche Veränderungen durch informelle und von niemandem autorisierte Vorschläge einiger patriotischer und ehrbarer Bürger oder Gruppe von Bürgern in die Wege zu leiten.“

Auch wenn die Federal Convention von Philadelphia „ihre Kompetenzen überschritten hätte, waren ihre Mitglieder durch die Umstände, in die sie versetzt waren, als treue Diener ihres Landes nicht nur bevollmächtigt, sondern sogar verpflichtet, die Freiheit, die sie sich genommen hatten, auch zu gebrauchen“.28

Sieyes argumentiert sehr ähnlich wie die Federalists, wenn er sagt, es sei zu erwarten und auch zu rechtfertigen, dass die aus der vom König einberufenen Ständever‐ 26 Sieyes 1789b, S. 248. 27 FP, No. 40, S. 250. 28 FP, No. 40, S. 255, 257.

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sammlung hervorgegangene Versammlung des Dritten Standes als authentische Re‐ präsentation der verfassunggebenden Gewalt des Volkes agieren könne, obwohl sie ursprünglich nicht zu diesem Zweck einberufen worden war: „Die Umstände sind jedoch so, dass man nicht allzu sehr auf den besten Grundprinzipien bestehen darf; man muss die Gewalten daher unbestimmt lassen, ohne ausdrücklich da‐ rauf hinzuweisen; die von uns oben aufgesetzten Beschlüsse zeigen ja zur Genüge, dass man den Abgeordneten von 1789 das Schicksal Frankreichs anvertraut“.29

Dieser evidenten argumentativen Konvergenz zum Trotz gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen den Federalists und Sieyes: Immer wenn erstere prozedurale Konsequenzen des Postulats zweistufiger (verfassunggebender und einfachgesetzge‐ bender) Volkssouveränität erörtern, dann fordern sie ausschließlich für den ur‐ sprünglichen Verfassunggebungsakt eine im weiteren Sinne plebiszitäre Legitimati‐ on und eine entsprechend eigenständige Repräsentation; für spätere verfassungsmo‐ difizierende Akte dagegen werden weder direktdemokratische noch eigenständige, von den pouvoirs constitués unabhängige repräsentativen Lösungen gesucht, son‐ dern lediglich diskutiert, um schließlich verworfen zu werden. Auffällig ist ferner, dass sowohl direktdemokratische als auch repräsentative Artikulationsmodi der ver‐ fassunggebenden Volkssouveränität nicht vorrangig in Hinblick auf Verfassungsän‐ derungen diskutiert werden, sondern primär als dezisive Lösungsmöglichkeit für Verfassungskonflikte zwischen pouvoirs constitués erwogen werden. Die Frage nach Verfahrensregeln für verfassungsändernde Souveränitätsakte wird somit vermengt mit der Frage, wer oder welche Instanz als ,Hüter der Verfassung‘ zur Entscheidun‐ gen von Verfassungsstreitigkeiten berufen sei;30 unschwer lässt sich in den Federa‐ list Papers die Tendenz feststellen, die zweite Frage derart bevorzugt zu behandeln, dass die erste nur mehr am Rande erörtert wird und schließlich in Vergessenheit ge‐ rät. Diese Behauptung soll im Folgenden näher begründet werden.

29 Sieyes 1789c, S. 227f. In Kants Terminologie hätte es zur rechtsphilosophischen Rechtferti‐ gung dieser prinzipienwidrigen Selbstdefinition der Standesversammlung als verfassunggeben‐ de Versammlung eines vermittelnden „Erlaubnisgesetzes der Vernunft“ bedurft: „Das Erlaub‐ nisgesetz gebietet die provisorische Duldung von etwas in einer lex generalis [...] Verbotenem“ (Brandt 1995, S. 78). Zusätzlich zu diesem Erlaubnisgesetz wäre eventuell zusätzlich ein eige‐ ner Grundsatz der Politik erfordert gewesen, um jene Selbstdefinitionen verfasster Organe zu Repräsentationen des pouvoir constituant zu rechtfertigen (Vgl. dazu Maus 1992, S. 197f.);vgl. auch Thiele 2010, S. 106ff.). 30 „Man wird bemerken, dass ich mich in der Untersuchung dieser Korrekturmaßnahme darauf beschränke, ihre Eignung dafür zu prüfen, die Einhaltung der Verfassung durch Fixierung der verschiedenen Gewalten auf den ihnen jeweils zukommenden Bereich zu erzwingen; als Maß‐ nahme zur Änderung der Verfassung selbst werde ich sie dabei nicht eigens berücksichtigen“ (FP, No. 50, S. 316).

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3. Appell an das Volk und Verfassungskonvent Aus der Theorie zweistufiger verfassungsrechtlicher Legitimität könne – dies konze‐ dieren die Federalists – mit Fug und Recht die Folgerung abgeleitet werden, dass „für bestimmte bedeutende und außergewöhnliche Gelegenheiten in der Verfassung ein Weg für eine Entscheidung des Volkes abgesteckt und offengehalten werden soll‐ te“, weil keiner der „verschiedenen Regierungszweige [...] einen Anspruch auf ein [...] übergeordnetes Recht erheben kann“.31 Dies gelte besonders für in Verfassungs‐ krisen mündende Verfassungsstreitigkeiten, die daraus entstehen, dass pouvoirs con‐ stitués ihre extensiv gedeuteten Rechtspositionen gegenüber anderen Verfassungsor‐ ganen aus inkompatiblen, im Extrem kontradiktorischen Verfassungsinterpretationen herleiten. In diesem Falle würde sich aufgrund des überverfassungsrechtlichen Prin‐ zips des pouvoir constituant des Volkes folgendes Verfahren empfehlen: das Volk als der legitimierende Urgrund aller verfassungsrechtlichen Legalität hätte zwischen kollidierenden Verfassungsauslegungen zu entscheiden; denn nur der (wie immer re‐ präsentierte) Urheber könnte beurteilen, welches der authentische normative Inhalt des im Verfassungstext kodifizierten ursprünglichen Vertrages ist. „Und wie kann man Übergriffe des Stärkeren verhindern oder gegenüber dem Schwäche‐ ren begangenes Unrecht wiedergutmachen, ohne an das Volk zu appellieren, das als die Instanz, die den Auftrag erteilt hat, allein seine wahre Bedeutung erklären und seine Be‐ folgung erzwingen kann?“32

Mitunter freilich kann eine Verfassungsstreitigkeit zwischen öffentlichen Gewalten nur durch eine klärende Verfassungsrevision entschieden werden; dessen ist sich Madison durchaus bewusst. Aus legitimationstheoretischen Gründen wäre es konse‐ quent, dass, falls „eine Versammlung zur Änderung der Verfassung oder zur Korrek‐ tur von Verfassungsbrüchen nötig ist, eine zu diesem Zweck einberufen wird.“33 Ma‐ dison zitiert die Überlegungen Thomas Jeffersons, der in seinen Betrachtungen über den Staat Virginia34 die Einberufung einer verfassungsrestituierenden und gegebe‐ nenfalls verfassungsändernden Versammlung davon abhängig machen wollte,35 dass

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FP, No. 49, S. 313, 312. FP, No. 49, S. 312f. FP, No. 49, S. 312. Jefferson 1989, S. 256f. Noch 1823 stellt Jefferson fest, dass eine bundeseinheitliche verfassungsrechtliche Verfahrens‐ regelung immer noch ausstehe, die dem Prinzip verfassunggebender Volkssouveränität vollauf genügen würde und dabei praktikabel wäre. „Whatever be the Constitution, great care must be taken to provide a mode of amendment when experience or change of circumstances shall have manifested that any part of it is unadapted to the good of the nation. In some of our States it requires a new authority from the whole people, acting by their representatives, chosen for this express purpose, and assembled in convention. This is found too difficult for remedying the imperfections which experience develops from time to time in an organization of the first im‐ pression. A greater facility of amendment is certainly requisite to maintain it in a course of ac‐

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„zwei der drei Regierungszweige mit je zwei Dritteln der Stimmen ihrer gesamten Mitglieder übereinstimmend“ dies für notwendig erachteten. Ich möchte im Folgen‐ den diese Variante des Modells eines Verfassungskonventes als Modell A bezeich‐ nen, um von diesem zwei Modifikationen zu unterscheiden, die von den Federalists ebenfalls erwogen werden. In Abgrenzung gegenüber mehr oder minder diffus-plebiszitären Appellen an das Volk, die im Falle eines Verfassungsstreites bzw. einer Verfassungskrise von einem pouvoir constitué z.B. mit dem Ziel einer Referendumsentscheidung initiiert werden könnten, besteht Jeffersons Modell A auf einer ,formell selbständigen‘ Repräsentati‐ on des pouvoir constituant in Form eines fakultativen Verfassungskonventes, der zur nötigen Entscheidung zwischen kontroversen Verfassungs(rechts)auslegungen gege‐ benenfalls auch eine Änderung des Verfassungstextes beschließen könnte. Der Haupteinwand der Federalists gegen Jeffersons Plan lautet: Würden verfassungs‐ rechtliche Entscheidungen im Falle einer Organstreitigkeit einem ad hoc von einer qualifizierten Mehrheit der Repräsentanten der öffentlichen Gewalten einberufenen Verfassungskonvent vorbehalten, hätte dies einen ungewollten Nebeneffekt: Die equilibristische Komponente des organisatorischen Prinzips der ,eingeschränkten Verfassung‘ – das „Gleichgewicht“ der drei Gewalten36 – verschöbe sich empfind‐ lich zugunsten der Legislative. Die gesetzgebende Versammlung nämlich sei allein schon aufgrund des zahlenmäßigen Übergewichts ihrer Mitglieder und deren größe‐ rer Nähe zu den Repräsentierten37 begünstigt und man könne deswegen erwarten, dass ein streitschlichtender Verfassungskonvent regelmäßig dem Standpunkt der Le‐ gislative zuneigen würde. Zwar hält Madison es für sehr wahrscheinlich, dass die „Aufrufe an das Volk gewöhnlich seitens der Exekutive und der Judikative erge‐ hen“ 38 würden und die Legislative regelmäßig die beklagte Partei wäre. „Doch die Legislative wäre als Partei nicht nur in der Lage, ihre Sache dem Volk gegen‐ über höchst erfolgreich zu vertreten. Ihre Mitglieder würden wahrscheinlich auch selbst zu Richtern berufen. Derselbe Einfluss, der ihnen die Wahl in die Legislative verschafft hat, würde ihnen auch einen Sitz in der Versammlung verschaffen.“39

Damit aber verstieße Jeffersons Modell A in praxi gegen das Legitimitätsprinzip zweistufiger Volkssouveränität, das es dem Gesetzgeber ebenso wie den beiden an‐

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tion accommodated to the times and changes through which we are ever passing“ (Thomas Jef‐ ferson to A. Coray (1823). In: ME, Vol. 15, p. 488). FP, No. 49, S. 314. Die Mitglieder der exekutiven und judikativen Regierungszweige sind wenig an Zahl und kön‐ nen nur einem kleinen Teil des Volkes persönlich bekannt sein. [...] Die Mitglieder der Legisla‐ tive sind dagegen stark an Zahl. Sie sind auf das Volk im Ganzen verteilt und leben mitten un‐ ter ihm“ (FP, No. 49, S. 314). FP, No. 49, S. 314. FP, No. 49, S. 315.

deren Zweigen der öffentlichen Gewalt strikt untersagt, die verfassungsrechtlichen Grundlagen ihrer Kompetenzen eigenmächtig zu ihren Gunsten auszulegen.40 Gegen eine z.B. von Sieyes verfochtene Variante des Jefferson-Modells werden ähnliche Bedenken vorgetragen: „Es könnte vielleicht behauptet werden, dass anstelle von gelegentlichen Aufrufen an das Volk [...] periodische erfolgende Aufrufe das geeignete und angemessene Mittel sind, um Verletzungen der Verfassung zu verhindern und zu korrigieren.“41

Madisons Zurückweisung auch dieses Modells B stützt sich ausschließlich auf das empirische Beispiel des „Rats der Zensoren, der in Pennsylvania 1783 und 1784 zu‐ sammentrat.“42 Ein derartiger periodisch tagender Verfassungskonvent komme aus folgenden Gründen nicht als Repräsentation des pouvoir constituant in Frage. Zum einen habe sich gezeigt, dass die entsprechenden Delegationsverfahren eine Perso‐ nalvermischung just mit denjenigen Staatsgewalten bewirkten, die zuvor Parteien im anhängigen Verfassungsstreit gewesen waren; aufgrund dieser Interessenskollisionen hätten die bisherigen Beratungen des Konvents auch keinerlei produktive Ergebnisse aufweisen können. Zum anderen hätten sich die ergangenen Schiedssprüche als wir‐ kungslos erwiesen, da ihre verfassungsrechtliche Verbindlichkeit insbesondere von der Legislative geleugnet worden sei. Mithin habe der Versuch, das Modell B einer periodisch zusammentretenden „Zensur-Körperschaft“ zu erproben, nichts anderes erwiesen als die verfassungspraktische „Unwirksamkeit des angewandten Heilsmit‐ tels.“43 40 Auffällig an den Überlegungen der Federalists zum Verhältnis zwischen pouvoir constituant des Volkes und repräsentativen pouvoirs constitués ist allerdings, dass sie verfassungswidrige Akte offenbar primär von der gesetzgebenden Versammlung der Union befürchtet: „Die Legis‐ lative erweitert überall ihren Aktionsradius und zieht alle Macht in ihren Sog. (...) Da ihre ver‐ fassungsmäßigen Befugnisse zugleich umfangreicher und weniger genau begrenzbar sind, kann sie leichter die Übergriffe, die sie gegenüber den beigeordneten Regierungszweigen be‐ geht, hinter komplizierten und indirekten Maßnahmen verbergen“ (FP, No. 48, S. 308f.). Spezi‐ ell die Legislative des Bundes wurde als Gefahr für das equilibristische Gewaltenteilungssys‐ tem eingeschätzt (vgl. FP, No. 48, S. 308, No. 78, S. 459, No. 81, S. 471; dazu Maus 1992, 28ff.). Im damaligen Frankreich dagegen wurden Verfassungsbrüche in erster Linie von seiten des Regenten, der Verwaltungsbehörden oder auch der Gerichte erwartet. So war Sieyes davon überzeugt, dass das eigentliche Gefährdungspotential für die in der Rechteerklärung verbrief‐ ten Freiheitsrechte nicht in der demokratisch gewählten Legislative, sondern in der Exekutive liege: „Sehr viel mehr hat die persönliche Freiheit von den Unternehmungen der Beamten zu befürchten, denen die Ausübung irgendeines Zweiges der öffentlichen Gewalt anvertraut ist. Vereinzelte schlichte Amtsträger, ganze Körperschaften, ja selbst die Regierung in ihrer Ge‐ samtheit können aufhören, die Rechte des Bürgers zu achten. [...] Eine gute Verfassung aller öffentlichen Gewalten ist die einzige Gewähr, die die Nationen und die Bürger vor diesem äu‐ ßersten Unglück bewahren kann“ (Sieyes 1789d, S. 206). 41 FP, No.50, S. 316. Sieyes hatte sich in einem frühen Verfassungsentwurf dafür ausgesprochen, dass die Verfassung „feste Zeitpunkte“ bestimmen sollte, an denen außerordentliche Verfas‐ sungsänderungskonvente, durch besondere Wahlgänge autorisiert, einberufen werden sollten. (Sieyes 1789d, S. 26). 42 FP, No. 50, S. 317. 43 Ebd., S. 318.

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Als Novum des konsequenteren Modells C, das sowohl als Variante zu Modell A als auch zu Modell B denkbar wäre, erörtern die Federalists die „Vorsichtsmaßnah‐ me, von den Versammlungen, die das Volk zum Zweck der Revision der bisherigen Regierungsführung gewählt hat, alle Personen auszuschließen, die innerhalb des ge‐ gebenen Zeitraums mit der Regierung befasst waren“.44 Madisons Zurückweisung auch dieser Modellvariante wird merkwürdig knapp begründet: Neben der anzuneh‐ menden Minderqualifikation der Mitglieder dieses Verfassungskomitees sei auch durch die genannte Einschränkung nicht auszuschließen, dass die Zensoren den Ein‐ flüssen der streitenden Parteien unterliegen, unter deren „Schirmherrschaft“ sie ge‐ wählt würden.45 Auffällig ist, dass Madison keinerlei detaillierte Überlegungen an‐ stellt, wie man das Modell C z.B. durch wahlrechtliche Bestimmungen so optimie‐ ren könnte, dass sich der Einfluss der pouvoirs constitués minimieren ließe, während Sieyes, der sich in seinen frühen Schriften zu diesem Thema auch nur recht knapp äußerte, immerhin für periodisch zusammentretende Verfassungsrevisionskomitees eintrat, deren Repräsentanten keinerlei politisches Amt innehaben dürften und die ausgehend von den lokalen Urwählerversammlungen in abgesonderten Wahlgängen zu nominieren wären.46 Die Federalists verwarfen schließlich alle Modelle einer ‚basisdemokratischen‘ Repräsentation des pouvoir constituant, die nötigenfalls Verfassungsänderungen be‐ schließen könnte. Sie setzen statt dessen auf den selbstregulierenden und selbststabi‐ lisierenden Effekt eines wie ein kybernetisches System gedachten Gewaltenteilungsund Gewaltenkoordinationsmodells einerseits und andererseits auf den ,natürlichen Beruf‘ eines pouvoirs constitués, die aufgrund ihrer besonderen Stellung ,von Haus aus‘ zum ,Hüter der Verfassung‘ berufen schien.

4. Der Supreme Court als Repräsentant der verfassunggebenden Gewalt des Volkes Die Argumente der Federalists gegen die drei Varianten des Modells einer von den verfassungsrechtlich gebundenen öffentlichen Gewalten verschiedenen und unab‐ hängigen Repräsentation des pouvoir constituant des Volkes zielen im Kern auf fol‐ gendes: Madison und Hamilton befürchteten, alle denkbaren Vorsichtsmaßnahmen könnten nicht verhindern, dass der als unparteiisch gedachte Verfassungskonvent de facto unter den Einfluss der Legislative geriete, wodurch das Prinzip der Trennung zwischen den pouvoirs constitués und einer Repräsentation des pouvoir constituant unterlaufen würde. Wenn umgekehrt Sieyes speziell von der Regierung Verletzun‐

44 Ebd. (Herv. U.T.). 45 Ebd., S. 318. 46 Vgl. Sieyes 1789d, S. 280f., 216.

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gen der Gewaltenteilung erwartet,47 dann impliziert dies doch nicht, dass er den Ge‐ setzgeber für befugt oder auch nur für besonders geeignet hielte, in Verfassungskon‐ flikten eine neutrale Position einzunehmen und gegebenenfalls klärende Verfas‐ sungsänderungen vorzunehmen. Auch Sieyes will die Kompetenzen der Legislative strikt auf die Beratung und Verabschiedung verfassungsrechtskonformer Gesetze be‐ schränkt wissen.48 Auf einer fundamentaleren Ebene freilich offenbart sich in den Überlegungen der Federalists, wie den vermeintlichen Tendenzen der Legislative zur Verfassungsver‐ letzung Einhalt zu gebieten sei, ein grundsätzlich antizentralistisches Verständnis der Verfassung im organisatorischen Sinn: Die Federalists verfechten das Modell einer Souveränität aufteilenden Mischverfassung. Im Gefolge Montesquieus will man statt eines souveränen legislativen Zentrums der öffentlichen Gewalt eine Polykratie von Teilsouveränen schaffen, die sich als einander Gleichgestellte49 gegenseitig in Schach halten. Insofern die Gewaltenteilungstheorie der Federalists dem Montes‐ quieschen Balanceprinzip und nicht dem Subordinationsprinzip à la Rousseau, Kant, Sieyes und auch Jefferson50 anhängen, muss ihnen jede zusätzliche Einflusschance des einfachen Gesetzgebers auf die Willensbildung der Nation als gewaltenteilungs‐ widrig erscheinen. Während für Sieyes die Monopolisierung aller konstitutionellen Souveränitätsakte durch den Gesetzgeber die strukturelle Voraussetzung einer effek‐ tiven funktionalen Gewaltenteilung darstellt, wäre sie aus der äquilibristischen Per‐ spektive der Federalists das gerade Gegenteil der Gewaltenteilung. Wenn Madison die „verschiedenen Regierungszweige“ als „vollkommen gleichgestellt“ ansieht,51 so ist es für Sieyes vollkommen selbstverständlich, dass sie dies ausschließlich im 47 Die Federalists warnen davor, dass „republikanische Regierungen dazu tendieren, die Macht der Legislative auf Kosten der anderen Gewalten zu vergrößern“ (FP, No. 48, S. 314), während Sieyes die komplementäre Gefahr in der Tendenz der Exekutive zu verfassungswidrigen Über‐ griffen gegenüber der Legislative sieht. Schließlich lehre die Geschichte, „viel mehr von den Anschlägen der ausführenden Gewalt auf die gesetzgebenden Körperschaften auf der Hut zu sein als vor den Anschlägen der gesetzgebenden Gewalt gegen die Inhaber der Exekutive“ (Sieyes 1789b, S. 248f.). 48 Vgl. z.B. Sieyes 1789b, S. 248. 49 FP, No. 49, S. 312. 50 Wenngleich zahlreiche Formulierungen Jeffersons an Montesquieu erinnern, so hat er doch die Momente seiner Gewaltenteilungslehre zurückgewiesen, die auf eine Souveränitätsteilung ab‐ zielen. Diese Haltung Jeffersons wird beispielsweise durch folgende Episode belegt, von der Gilbert Chinard berichtet: Jefferson änderte eigenhändig die Reihenfolge der aufgezählten Ge‐ walten in dem Entwurf der Menschenrechteerklärung, den Lafayette ihm vorlegte und setzte die Legislative (statt der Exekutive) an die erste Stelle. (Vgl. Chinard 1929, p. 232f.). Überdies war es für Jefferson, wie schon seine frühesten Schriften dokumentieren, selbstverständlich, dass innerhalb des Systems der funktionalen Gewaltenteilung allein die gesetzgebende Ver‐ sammlung als Ort konstituierter Volkssouveränität ausgezeichnet sein kann, die überdies nicht als Staatsorgan, sondern als Repräsentation der Gesellschaft betrachtet werden müsse. „From the nature of things, every society must at all time possess within itself the sovereign powers of legislation“ (Thomas Jefferson, Declaration of Independence, 1776. In: Jefferson, Vol. 1, S. 430). 51 FP, No.49, S. 312.

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Verhältnis zum pouvoir constituant, nicht aber im Verhältnis zueinander sind. Einer‐ seits stehe die Judikative in einem einseitigen „Abhängigkeitsverhältnis“ zur Legis‐ lative und ihren generellen Rechtsbefehlen und andererseits sei die exekutive Gewalt so zu gestalten, dass ihre Aufgabe, die „Ausführung des Gesetzes“, einer juridischen Kontrolle durch „oberste Gerichtshöfe“ unterworfen werden kann.52 Nicht das ver‐ fassungsmäßige Agieren der Legislative, wie bei den Federalists, sondern das ge‐ setzmäßige – und damit auch verfassungsmäßige – Handeln der Exekutive ist nach Sieyes grundsätzlich problematisch. Daher liegt die Kernaufgabe der Judikative – je‐ denfalls laut Sieyes’ früher Gewaltenteilungskonzeption – in der Kontrolle gesetzes‐ gebundenen Exekutivhandelns, wohingegen die Gefahr, dass die Legislative frei‐ heitsrechtliche, rechtsstaatliche und gewaltenteilungsbezogene Verfassungsnormen verletzen könnte, offenkundig als eine quantité négligeable gewertet wird. Die Fest‐ stellung dieser elementaren Unterschiede macht es mindestens teilweise verständ‐ lich, dass die Federalists den für den frühen Sieyes unmöglichen Gedanken fassen, eine der drei Gewalten könne als Statthalter bzw. Treuhänder des im Verfassungsdo‐ kument objektivierten pouvoir constituant auftreten, ohne dass neben der Gewalten‐ teilung auch die Konstruktion einer zweistufigen demokratischen Legitimitätskon‐ zeption aus den Fugen geriete. Ausdrücklich wird vielmehr die Theorie zweistufiger demokratischer Legitimität vorausgesetzt, um zu erklären, warum Gerichtshöfe insgesamt im Unterschied zur Legislative zum Hüter der Verfassung (vor allem im organisatorischen Sinne) prä‐ destiniert seien. „Die Verfassung sollte Vorrang vor dem Gesetz, die Absicht des Volkes Vorrang vor der Absicht seiner Vertreter haben.“53 Nach Auskunft Hamiltons lässt sich die Prädestination der Judikative zum ,Hüter der Verfassung‘ an der beson‐ deren Stellung der juridischen Gewalt innerhalb einer konstitutionell-demokrati‐ schen Staatsform extrapolieren. Die Kontrollfunktion der Justiz gegenüber dem Ge‐ setzgeber sei lediglich eine Spezifikation ihrer übergreifenden Aufgabe, die darin bestehe, „dass die Gerichtshöfe als eine vermittelnde Körperschaft zwischen Volk und Legislative gedacht waren, um – unter anderem – die Legislative innerhalb der Grenzen zu halten, die ihrer Autorität gesetzt sind. Die Auslegung der Gesetze ist die den Gerichten eigene und angemessene Aufgabe. Eine Verfassung ist faktisch ein grundlegendes Gesetz und muss von den Richtern auch als solches betrachtet werden. Es obliegt ihnen daher, ihre Bedeutung ebenso zu ermitteln wie die Bedeutung irgendeines speziellen Gesetzes, das von der Legislativkörperschaft erlassen wird. Wenn es zwischen beiden einen unverein‐ baren Widerspruch geben sollte, sollte natürlich das, was übergeordnete Verbindlichkeit und Gültigkeit besitzt, den Vorrang habe; oder in anderen Worten: Die Verfassung sollte

52 Sieyes 1789e, S. 72. 53 FP, No.78, S. 457f.

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Vorrang vor dem Gesetz, die Absicht des Volkes Vorrang vor der Absicht seiner Vertreter haben.“54

Hamilton betont, dass mit dieser Konzeption keine Überlegenheit der juridischen über die legislative Gewalt institutionalisiert werden soll, da „die Macht des Volkes beiden überlegen ist“. Die Verfassungsrechtsprechung sei lediglich das geeignete Mittel, um dem in den „fundamentalen Gesetzen“ der „Verfassung zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes“ im Kollisionsfall die Suprematie gegenüber besonde‐ ren, „nicht fundamentalen Gesetze[n]“ zu sichern.55 Wenn die Federalists die Judika‐ tive als Mittler zwischen Verfassungsgesetzen und einfachen Gesetzen verstanden wissen wollen und sie in dieser Funktion als Treuhänder des verfassunggebenden Volkswillen gegenüber dem repräsentativen Gesetzgeber tätig sein soll, dann kann die Justiz nicht oder jedenfalls nicht als Ganze in dem Sinn und Grad den Rechtsbe‐ fehlen des Gesetzgebers unterstellt sein, wie es für den frühen Sieyes (aber auch bei‐ spielsweise Kant) ganz selbstverständlich war. „Bei einer eingeschränkten Verfassung ist die völlige Unabhängigkeit der Gerichtshöfe besonders wichtig. Unter einer eingeschränkten Verfassung verstehe ich eine solche, die die Vollmachten der Legislative in bestimmten, einzeln aufgeführten Fällen beschränkt; dass sie beispielsweise keine Proskriptionsgesetze, keine Gesetze mit rückwirkender Kraft usw. erlassen darf. Einschränkungen dieser Art können in der Praxis auf keinem an‐ deren Weg aufrechterhalten werden als durch Gerichtshöfe, deren Pflicht es sein muss, alle Beschlüsse, die dem manifesten Inhalt der Verfassung zuwiderlaufen, für null und nichtig zu erklären. Ohne eine solche Regelung wären alle Vorbehalte in Bezug auf be‐ stimmte Rechte oder Privilegien bedeutungslos.“56

Wenn die Justiz zur Normenkontrolle gegenüber Akten des Gesetzgebers ermächtigt wird, bedeute dies – so beteuern die Federalists wenig überzeugend – keineswegs eine „Überlegenheit der Judikative gegenüber der Legislative“.57 Thomas Jefferson übte schärfste Kritik an den aus seiner Sicht naiven Vorstell‐ ungen der Federalists und erinnerte dabei stets an das Volkssouveränitätsprinzip als Quintessenz der amerikanischen Revolution: „[It is] the people, to whom all authori‐ ty belongs.“58 Für den (nach Jefferson demokratiewidrigen) Fall, dass der Justiz die Rolle eines Verfassungshüters überantwortet werden soll, bedürfte es – so Jefferson noch 1823 – eines ausdrücklichen verfassungsändernden Ermächtigungsaktes von seiten eines zu diesem Zweck eigens einzuberufenden Verfassungskomitees. Keines‐

54 55 56 57 58

Ebd., S. 458. Ebd. FP, No. 78, S. 456f. Ebd., S. 457. Thomas Jefferson to Spencer Roane (1821). In: ME, Vol. 15, p. 328).

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wegs könne dazu ein Konsens zwischen den Repräsentanten der pouvoirs constitués oder gar eine exegetische Selbstautorisierung der Judikative ausreichen:59 „But the Chief Justice says, ,There must be an ultimate arbiter somewhere.‘ True, there must; but does that prove it is either party? The ultimate arbiter is the people of the Uni‐ on, assembled by their deputies in convention, at the call of Congress or claimed by twothirds of the States. Let them decide to which they mean to give an authority claimed by two of their organs. And it has been the peculiar wisdom and felicity of our Constitution, to have provided this peaceable appeal, where that of other nations is at once to force.“60

Da nach Jefferson eine Übertragung der verfassungswahrenden Ausübungsrechte des pouvoir constituant einerseits unmöglich durch konstitutionell gebundene Staats‐ gewalten erfolgen kann, sie andererseits aber aufgrund des Prinzips der Unveräußer‐ lichkeit der Volkssouveränität allenfalls kommissarischer Natur sein kann, käme als Urheber einer derart weitreichenden Verfassungsänderung nur ein außerordentlicher Kongress von Volksdeputierten in Frage: Nur ein solcher könnte beschließen, dass ein pouvoir constitué (bzw. ein besonderes Organ derselben) zum ,Guardian of the Constitution‘ bestellt würde. Doch Jefferson lässt trotz aller konstruktiven Lösungs‐ vorschläge seinerseits keinen Zweifel an seiner Grundüberzeugung erkennen, dass eine Inthronisierung der Justiz zum ,Hüter der Verfassung‘ sowohl das überverfas‐ sungsrechtliche Prinzip der Volkssouveränität als auch das verfassungsrechtliche Gewaltenteilungsprinzip unterminieren würde. Dies sei speziell für den Fall zu er‐ warten, dass der Judicial Review um ein materiales Normenkontrollrecht erweitert würde, das in der Praxis (rückwirkend) in die Binnenkompetenzen des Gesetzgebers oder der Exekutive eingreifen würde: „The Constitution [...] meant that its coordinate branches should be checks on each other. But the opinion which gives to the judges the right to decide what laws are constitutional and what not, not only for themselves in their own sphere of action but for the Legislati‐ ve and Executive also in their sphere, would make the Judiciary a despotic branch.“61 59 „Certainly there is not a word in the Constitution which has given that power to them more than to the Executive or Legislative branches“ (Thomas Jefferson to W. H. Torrance (1823). In: ME, Vol.,15, p. 451). 60 Thomas Jefferson to William Johnson (1823). In: ME, Vol, 15, p. 451. 61 Thomas Jefferson to Abigail Adams (1804). In: ME, Vol. 11, p. 51. Jefferson bezieht sich auf Montesquieus Gewaltenseparierungs- und -balancierungsmodell, wenn er daran erinnert, dass die richterliche Gewalt ursprünglich auch in den amerikanischen founding debates quasi als Nicht-Gewalt konzipiert gewesen sei. „Des trois puissances dont nous avons parlé, celle de ju‐ ger est, en quelque façon, nulle“ (Montesquieu 1748, p. 298). Montesquieu hatte erstens vor‐ ausgesetzt, dass die Rechtsprechung lediglich Einzelfälle behandelt und dass sie zweitens strikt an das Gesetz gebunden ist; daher bezeichnete er ein gewaltenteilungsgemäßes Gerichtsurteil auch als „texte précis de la loi“ (Montesquieu 1748, p. 296). Für die dem Prinzip zuwiderlau‐ fende amerikanische Verfassungspraxis zieht Jefferson folgendes Fazit: „At the establishment of our Constitution, the judiciary bodies were supposed to be the most helpless and harmless members of the government. Experience, however, soon showed in what way they were to be‐ come the most dangerous; that the insufficiency of the means provided for their removal gave them a freehold and irresponsibility in office; that their decisions, seeming to concern individu‐

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Jefferson ist sicher einer der radikalsten inneramerikanischen Kritiker an den teils unbedachten, teils uneingestandenen ,justizstaatlichen‘ Konsequenzen des Plädoyers der Federalists zugunsten eines Supreme Court. Wollte man auch die ‚reine‘ franzö‐ sischen Volkssouveränitätstheorie Sieyesscher Provenienz umstandslos dieser Kri‐ tikstrategie zurechnen, geriete man in erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich der mittleren Schriften des Abbé. Bekanntlich revidierte Sieyes spätestens im Jahr 1795 seine ablehnende Haltung gegenüber dem (ursprünglich amerikanischen) Projekt einer die Verfassung auch gegen Übergriffe des Gesetzgebers verteidigenden höchst‐ richterlichen Aufsichtsinstanz. Doch im Vergleich mit dem Plädoyer der Federalists zugunsten eines Supreme Court ist Sieyes Thermidormodell allenfalls eine gemä‐ ßigt ,expertokratische‘ Variante, die zwischen den Forderungen der Federalists einer‐ seits und der Option Jeffersons andererseits das Gleichgewicht hält. Während die Federalists ein volkssouveränitätstheoretisches Legitimitätsprinzip zwar durchgän‐ gig postulieren, aber im Widerspruch hierzu innerhalb des Verfahrensmodells der höchstrichterlicher Verfassungsexegese keinerlei konkrete Interventionsmöglichkei‐ ten des Volkes vorsehen und Jefferson demgegenüber den Judicial Review katego‐ risch unter Usurpationsverdacht stellt, vermittelt Sieyes’ Traktat über die „Jury con‐ stitutionnaire“62 zwischen beiden Extremen. Immerhin wollte er die Kompetenz‐ grenze des höchstrichterlichen Prüfungsrechtes dort gesetzt wissen, wo die Verfas‐ sungsauslegung de facto in Verfassungsänderung überginge. „Nach meiner Meinung haben die über die Verfassung wachenden Geschworenen nicht das Recht, selbst die Grundverfassung zu berühren; denn dies hieße, ihnen die verfas‐ sunggründende Gewalt anzuvertrauen“.63

Das ,Verfassungsgericht‘ soll diesbezügliche Anregungen sammeln und in einem Turnus von zehn Jahren den zur (indirekten) Verfassungsänderung befugten Organen vorlegen. „Bloß auf den Vorschlag eingeschränkt, haben sie nicht einmal die Befug‐ nis, dies Recht auszuüben, wann und wie es ihnen gut dünkt“.64 Die Jury constitutionnaire hat die Vorschlagsliste für Verfassungsergänzungen oder -revisionen zunächst dem Tribunat und der Législature zu unterbreiten, die ih‐ rerseits verpflichtet sind, dies „cahier“ wenigstens drei Monate vor Eröffnung der jährlichen Urversammlungen diesen vorzulegen sowie möglichst allgemein bekannt zu machen. Allein die Urversammlungen als die ultimative Quelle aller Repräsenta‐ tion sind autorisiert, mit einfacher Mehrheit darüber zu entscheiden, ob sie die ver‐ al suitors only, pass silent and unheeded by the public at large; that these decisions neverthel‐ ess become law by precedent, sapping by little the foundations of the Constitution and working its change by construction before any one has perceived that that invisible and helpless worm has been busily employed in consuming its substance.“ (Thomas Jefferson to A. Coray (1823). In: ME, Vol. 15, p. 486). 62 Sieyes 1795b/1796. 63 Sieyes 1796, S. 419. 64 Ebd.

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fassunggründende Gewalt für eine gewisse Zeit und einen wohldefinierten Zweck der gesetzgebenden Gewalt, d.h. der Législature, übertragen wollen. Diese wird im Falle eines positiven Bürgerentscheides ermächtigt, über die (unveränderbaren) Än‐ derungsvorschläge begründungspflichtig zu entscheiden.65 Nach Sieyes garantiert dieser Revisionsmodus in optimaler Weise, dass der „Wunsch des Volkes“ mit den „Einsichten der Weisen“ dem „strengen Grundsatz der Trennung der Gewalten“ ge‐ mäß vermittelt wird.66 Auch in seinem Verfassungsprojekt von 1795 wahrt Sieyes die Kontinuität zur eigenen Theorie der überkonstitutionellen, verfassunggebenden Volkssouveränität; sie besteht darin, dass weder die Jury constitutionnaire noch die normale Legislative aus eigener Autorität zur Verfassungsänderung berufen sind, sondern der zwischen ihnen vermittelnden Ermächtigung durch die Urversammlun‐ gen bedürfen, die als „pouvoir commettant“ allein ihren pouvoir constituant auf einen pouvoir constitué übertragen kann.67 Ohne Zustimmung der Urwählerver‐ sammlungen lässt sich auch nach der Überzeugung des mittleren Sieyes keine einzi‐ ge Verfassungsänderung legitimerweise durchführen. Sicherlich hat Sieyes aus heutiger Sicht die Problematik erheblich unterschätzt, die sich ergeben würde, wollte man im Einzelfall die exakte Grenze zwischen de‐ skriptiver Verfassungsexegese und (apokrypher) dezisiver oder auch verfassungsän‐ dernder Verfassungs(re)konstruktion bestimmen.68 Dessen ungeachtet zeugt es von bemerkenswerter theoretischer Konsequenz, dass Sieyes sowohl der projektierten Verfassungsjury als auch allen anderen pouvoirs constitués die Befugnis zu (mani‐ festen) Revisionen strikt absprach und statt dessen für den Fall gewünschter Ände‐ rungen direktdemokratische, von den drei (bzw. vier) öffentlichen Gewalten unab‐ hängige Ratifikationsverfahren forderte. Sieyes’ Modell von 1795 vermittelt demnach objektiv zwischen der extrem insti‐ tutionalistisch-expertokratischen Konzeption der Federalists und der extrem demo‐ kratischen Lehre Jeffersons, der sowohl die Notwendigkeit als auch die Verfassungs‐ mäßigkeit eines besonderen institutionellen ,Hüters der Verfassung‘ bestritt.

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Sieyes 1796, S. 422. Sieyes 1796, S. 423. Sieyes 1796, S. 422f. Sieyes definiert die dreifache Zuständigkeit der Jury constitutionnaire folgendermaßen: „Ich verlange, dass das über die Verfassung wachende Geschworenengericht drei Sachen leiste: 1) Es soll getreu die Grundverfassungsakte bewachen. 2) Es soll sich, entfernt von allen verderb‐ lichen Leidenschaften, mit allen Planen beschäftigen, welche die Grundverfassung vervoll‐ kommnen können. 3) Es soll endlich der bürgerlichen Freiheit das Hülfsmittel einer natürli‐ chen Billigkeit in allen wichtigen Fällen darreichen, wo das väterliche Gesetz ihre gerechte Garantie vergessen haben wird. In andern Ausdrücken betrachte ich das über die Verfassung wachende Geschworenengericht: 1) Als ein Kassationsgericht in der verfassungsmäßigen Ord‐ nung. 2) Als eine Werkstatt, wo die Vorschläge zu Verbesserungen in der Grundverfassung, welche die Zeit erfordern würde, niedergelegt werden. 3) Als ein Zusatz der natürlichen Ge‐ richtspflege in den Lücken der positiven Gerichtspflege“ (Sieyes 1796, S. 406).

5. Die Konzeption der Federalists im Vergleich mit ihren Alternativen Wollte man die Positionen der Federalists, Jeffersons, des frühen und des mittleren Sieyes auf einer Skala einzeichnen, die die jeweiligen organisatorischen Lösungs‐ modelle für den normativen Konflikt zwischen Volkssouveränitätsprinzip und Ver‐ fassungsjurisprudenz idealtypisch diskriminiert, dann ergibt sich folgender Befund: Die Federalists beziehen eine extrem institutionalistische und ,expertokratische‘ Po‐ sition, wohingegen Jefferson selbst die radikaldemokratische Konzeption des frühen Sieyes überbietet, denn ersterer fordert zusätzlich zu verfassungsändernden Volks‐ konventen die kategorische direkte Wählbarkeit der juridischen Funktionsträger, während Sieyes Vorschläge zur Justizreform auf einem gestuften System indirekter Wählbarkeit basieren.69 Sieyes’ Verfassungsentwurf von 1795 dagegen vermittelt zwischen den Extremen, insofern einerseits die Kompetenz der verfassungwahren‐ den Jury extensiv gedacht wird, andererseits aber Verfassungsänderungen katego‐ risch an die Ratifikation durch die Primärwählerversammlungen gebunden werden, womit die Repräsentierbarkeit verfassunggebender Akte gleich welcher Qualität, je‐ denfalls was die Beschlussfassung angeht, bestritten wird. Die Lösung, die die am 17. September 1787 vom Konvent verabschiedete Verfas‐ sungsvorlage bietet, lässt sich vor dem Hintergrund der hier diskutierten Positionen folgendermaßen verorten. Wenn Artikel V (wegen der unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Bundesstaaten) dem Kongress die Entscheidung der Frage über‐ lässt, ob die ordentlichen Legislativen oder aber außerordentliche Verfassungskon‐ vente der Bundesstaaten zur Ratifikation von Amendments autorisiert sind, dann do‐ kumentiert sich darin ein Kompromiss zwischen den theoretischen Positionen Jeffer‐ sons und der Federalists. Komplementär dazu scheint die Institution des Supreme Court hinsichtlich ihrer Kompetenzen stärker eingegrenzt zu sein, als es die Federa‐ lists gefordert hatten. So ist in Article III, Section 2 zwar unter anderem von der aus‐ schließlichen Zuständigkeit des Supreme Court für alle Rechtsstreitigkeiten (ein‐ schließlich der Individualklage), in denen die Union (insbesondere deren Regie‐ rungsvertreter) oder ein Einzelstaat Partei ist, die Rede, nicht aber – jedenfalls nicht ausdrücklich – von einem generellen Prüfungsrecht gegenüber Bundesgesetzen in Bezug auf ihre formale oder materiale Verfassungsmäßigkeit, wobei freilich Article III, Section 1 diese Möglichkeit prinzipiell eröffnet. Zudem wird laut Article III, Section 2 dem Supreme Court hinsichtlich aller nicht erwähnten Rechtsstreitigkeiten der Status eines obersten Appellationsgerichtes zuerkannt, wobei man jedoch umge‐ kehrt den Kongress ermächtigt, Einschränkungen des Revisionsrechtes zu beschlie‐ ßen.

69 Vgl. Sieyes 1790; vgl. dazu Hafen 1994, S. 274ff.

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De facto hat mittlerweile der Supreme Court eine ähnlich dominante Stellung er‐ worben, wie sie das Bundesverfassungsgericht innehat. Daher nimmt es nicht Wun‐ der, dass auch jenseits des Atlantik der performative Anspruch des Gerichts, als kon‐ servatorischer Hüter der positiven Verfassung zugleich authentischer Interpret ihrer substanziellen normativen ,Tiefenstruktur‘ zu sein, zunehmend problematisiert wird. Während noch Hannah Arendt überzeugt war, der Supreme Court betreibe faktisch „a kind of continuous constitution-making“ und sei dazu auch durchaus legitimiert, „for the Supreme Court is indeed [...] a kind of Constitutional Assembly in conti‐ nuous session“,70 wird die demokratietheoretische Prämisse dieser im Effekt absorp‐ tiven Repräsentation des pouvoir constituant zunehmend als fragwürdig erachtet. Die demokratietheoretische Verfassungsjustizkritik kann sich dabei auf Jefferson be‐ rufen, dessen Kritik freilich deutlich schärfer ausfiel, als es heutzutage die Regel ist. „In denying the right of exclusively explaining the Constitution, I go further than (others) do [...]. The Constitution on this hypothesis is a mere thing of wax in the hands of the judiciary, which they may twist and shape into any form they please“.71

Jefferson beanstandet das effektive Verfassungsdeutungsmonopol des Supreme Court mit Hinweis auf das Gewaltenteilungsprinzip einerseits – danach sehe die Ver‐ fassung allenfalls eine Triade gleichberechtigter konstitutioneller Verfassungsexege‐ ten vor72 – und auf das Prinzip des pouvoir ponstituant des Volkes andererseits – da‐ nach bleibe das Recht zur ultimativen, zwischen kontroversen Exegesen entschei‐ denden Verfassungsauslegung unveräußerliches Eigentum der Gesamtheit der Staatsbürger. Für den aus Jeffersons Sicht schlimmsten Fall, dass man dem Supreme Court ein formal und material unbeschränktes dezisives Auslegungsrecht zuerkennen würde, hielt er nur noch ein demokratisches ,Gegengift‘ für zweckmäßig: die allgemeine und direkte Wahl aller Richter (einschließlich der des Supreme Court) durch die Re‐ präsentierten. Den schon damals vorgebrachten ,elitentheoretischen‘ Einwand wies er mit dem urdemokratischen Hinweis auf auch Juristen eigene ,menschliche Schwä‐ chen‘ zurück: „Our judges are as honest as other man and not more. They have with others the same passions of party, for power, and the privilege of their corps.“73Zu‐ dem sei die öffentliche Meinung, vor der sich ein höchstrichterlicher Repräsentant zu bewähren habe, ein durchaus ebenbürtiges Äquivalent für die unstrittig mangeln‐ de Sachkompetenz der Repräsentierten und das gängige Delegationssystem der Ko‐ optation durch pouvoirs constitués:

70 Arendt 1963, S. 200. 71 Thomas Jefferson to Spencer Roane (1819). In: ME, Vol. 15, p. 212. 72 The Constitution „has more wisely made all the departments co-equal and co-sovereign within themselves“ (Thomas Jefferson to William C. Jarvis (1820). In: ME, Vol. 15, p. 277). 73 Ebd.

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„It has been thought that the people are not competent electors of judges learned in the law. But I do not know that this is true, and, if doubtful, we should follow principle. In this, as in many other elections, they would be guided by reputation, which would not err oftener, perhaps, than the present mode of appointment.74

Die Lösung, die Jefferson für das Problem einer konkreten prozeduralen Vermittlung des Konfliktes zwischen dem Legitimitätsprinzip der constituent power of the people und der zur ,Verfassungsaristokratie‘ tendierenden Verfassungsjurisprudenz vor‐ schlägt, scheint auf der einen Seite radikaldemokratischen Ansprüchen vollauf zu genügen. Wenn schlechterdings alle Richter demokratisch gewählt würden, dann wäre kaum vorstellbar, dass der Supreme Court (und die ihm untergeordnete Gerich‐ te) den in der Verfassung geronnenen Willen des Volkes in seiner Substanz missach‐ ten würden. Auf der anderen Seite kann Jeffersons Modell die Gefahr nicht bannen, dass die strikte Gesetzesbindung der einfachen Gerichte unterlaufen werden kann. Wenn die Justiz neben dem parlamentarischen Legislator vom Wohlwollen ihrer Wähler abhängig sein soll, dann kann der Fall nicht ausgeschlossen werden, dass sich dieser zweite verfassungsrechtliche Souverän im Konfliktfalle als stärker er‐ weist als der Gesetzgeber. In den Founding Debates sind derartige Bedenken berücksichtigt worden; so wur‐ de eine Variante des Jefferson-Modells verfochten, die neben einer radikaldemokra‐ tischen Beschränkung der Kompetenzen des Supreme Court den Vorzug bietet, die Unabhängigkeit der einfachen Gerichte und damit Gewaltenteilung und Rechts‐ staatsprinzip sicherzustellen; gemeint ist die Position der Antifederalists.75 Da laut dem Virginia-Plan die einfachen Gerichte – so die Überlegung des Brutus – in der Ausübung ihres Amtes den ultimativen Entscheidungen des Supreme Court unter‐ worfen sind, sollte allein der letztere vom Volk kontrolliert werden, wobei aber im Unterschied zu Jefferson keine direkte Wahl des höchsten Gerichtsorgans beabsich‐ tigt wird. Brutus schlägt stattdessen eine vom Volk direkt gewählte besondere Re‐ präsentativkörperschaft vor, die die Amtsführung des Supreme Court gegebenenfalls sanktionieren können soll.

74 Thomas Jefferson to Samuel Kercheval (1816). In: ME, Vol. 15, p. 36. 75 Zwar sind die Motive der Antifederalists, die ihre Kritik an der superkompetenten Institution des Supreme Court anleiten, stärker als bei Jefferson antizentralistischer Natur (vgl. The Anti‐ federalist-Papers, No. 17, 81), doch in der Diagnose stimmen sie überein: „The power of this court is in many cases superior to that of the legislature. I have showed [...] that this court will be authorized to decide upon the meaning of the constitution; and that, not only according to the natural and obvious meaning of the words, but according to the spirit and intention of it. [...] The supreme court then have a right, independent of the legislature, to give a construction to the constitution and every part of it, and there is no power provided in this system to correct their construction or do it away. If, therefore, the legislature pass any laws, inconsistent with the sense the judges put upon the constitution, they declare it void“ (The Antifederalist Papers, No. 79).

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„This supreme controlling power should be in the choice of the people, or else you esta‐ blish an authority independent, and not amendable at all, which is repugnant to the prin‐ ciples of a free government. Agreeable to these principles I suppose the supreme judicial ought to be liable to be called to account, for any misconduct, by some body of men, who depend upon the people for their places; and so also should all great officers in the State, who are not made amendable to some superior officers [...]. “76

Brutus’ Vorschlag ist offenkundig weniger radikal als der Jefferson’s: Während letz‐ terer mit demokratietheoretischen Legitimitätsprinzipien nur die Wahl sämtlicher Richter für vereinbar hält, plädiert Brutus zugunsten einer weitgehenden Unabhän‐ gigkeit der untergeordneten Gerichte. Er begründet dies mit dem von Jefferson baga‐ tellisierten Argument, die Wähler könnten in ihrer Mehrheit kaum hinreichend quali‐ fiziert sein, um die beruflichen Fähigkeiten der angehenden Richter zu beurteilen. Brutus’ Modell knüpft insofern an die angelsächsische Verfassungstradition an, als er mit der personalen Binnenautonomie der (einfachen) Justiz – d.h. die Lebensstel‐ lung des Richters und seine Unabhängigkeit von externen Weisungen – ihre strikte Abhängigkeit von den Vorgaben des Gesetzgebers und vermittels dieser die den Freiheitsrechten dienende rechtsstaatliche Berechenbarkeit und richterliche Kontrol‐ le der exekutiven Staatsgewalt sichergestellt sehen will.77 Die Unabhängigkeit der Justiz von Weisungen anderer Staatsorgane (auch von unmittelbaren Willensbekun‐ dungen des Volkes), ihre Abhängigkeit von (einfachen) Gesetzen und ihre Abstinenz bezüglich der Entscheidung verfassungsrechtlicher Fragen bilden für Brutus notwen‐ dige komplementäre Ergänzungsstücke derselben Konzeption des demokratischen Rechtsstaats. Indem Brutus im Unterschied zu den Federalists den einfachen Gerich‐ ten jede verfassungsrechtliche Urteilskompetenz abspricht, bleibt sein Modell dem klassischen liberalen Gewaltenteilungsschema verpflichtet, das die Justiz normativ an die Vorgaben des einfachen Gesetzgebers bindet und ihr keinen Durchgriff auf höherstufiges Verfassungsrecht gestattet. Wenn Brutus umgekehrt die verfassungsrechtliche Letztentscheidungskompetenz ausschließlich dem Supreme Court zuspricht, dann ist er sich der Gefahren, die aus der verfassungsjuridischen Superioritätsstellung jenes „ultimative arbiter“ resultie‐ ren, durchaus bewusst. Soll der Supreme Court seine Macht als letztendscheidender Interpret des in der Verfassung positivierten Willens des pouvoir constituant nicht advokativ missbrauchen können, dann muss er durch ein starkes demokratisches Ge‐ gengewicht daran gehindert werden, mittels (re)konstruierender Verfassungsexegese 76 The Antifederalist Papers, No. 79. 77 „The judges in England, it is true, hold their office during good behavior [...]; and their power is by no means so extensive as that of the proposed supreme court of the union. I believe they in no instance assume the authority to set aside an act of parliament under the idea that it is inconsistent with their constitution. They consider themselves bound to decide according to the existing laws of the land, and never undertake to control them by adjudging that they are in‐ consistent with their constitution – much less are they vested with the power of giv[ing an] equitable construction to the constitution“ (The Antifederalist Papers, No. 78).

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(insbesondere im Rahmen höchstrichterlicher Urteilsbegründungen) neues Verfas‐ sungs(gewohnheits)recht zu erzeugen, das der demokratischen Legitimation entbeh‐ ren würde. Insofern die gesamte Amtsführung des Supreme Court demokratisch konterkariert werden soll, wäre auch das Problem, wo exakt die Grenze zwischen rekonstruieren‐ der und modifizierender Verfassungsexegese anzusiedeln ist, nicht mehr schlechter‐ dings unlösbar. Während die Federalists diese Frage vollständig ignorieren, Sieyes sie allenfalls streift und Jefferson sie dramatisiert, kann Brutus die irreduzible ,Grau‐ zone‘ zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungsänderung als Hauptargu‐ ment zugunsten seines Lösungsvorschlages, einer doppelten juridischen und außer‐ juridischen Repräsentation des pouvoir constituant, verwenden. Der Supreme Court soll ausschließlich die positiven Verfassungsgesetze verteidigen und sich in seiner Exegese und seinen Entscheidungen strikt an den Verfassungs(gesetzes)text halten. Ein außerjuridischer, von den öffentlichen Gewalten unabhängiger Verfassungskon‐ vent dagegen soll einerseits als demokratisches Kontrollorgan gegenüber dem Su‐ preme Court dessen Rückbindung an den originären Verfassunggeber gewährleisten und andererseits gegebenenfalls eine zentrale Rolle in Verfassungsänderungsverfah‐ ren einnehmen. Im Vergleich mit dem Sieyesschen Vorschlag von 1795 bleibt jedoch dessen konkrete Rolle im Rahmen von Revisionsverfahren unterbestimmt. Wenig überraschend ist freilich, dass die Federalists nicht auf diesen im März und April 1788 unter dem Namen „Brutus“ publizierten Lösungsvorschlag reagierten,78 sondern lediglich auf die allgemeinen Forderungen nach Verfassungskonventen und ,Appellen an das Volk‘.

6. Fazit Vergleicht man die Position der Federalists mit konkurrierenden Antworten auf die Frage nach denkbaren bzw. wünschbaren Formen der Organisation der Aktivitäten des pouvoir constituant, die über den ursprünglichen Gründungsakt hinausgingen, dann kommt man nicht umhin, die folgenden Desiderate festzustellen: (1) Die Diskussion möglicher Verfahren zur Verfassungsänderung wird von den Federalists auf den Fall einer zu entscheidenden Organstreitigkeit zwischen den öf‐ fentlichen Gewalten fokussiert, wobei die Initiative ausschließlich von einem der ,Regierungszweige‘ ausgehen soll; alternative Verfahren, wie die Volksinitiative zur Einberufung eines (außerordentlichen oder periodisch tagenden) Verfassungs‐ konventes werden mit zum Teil dürftigen Argumenten ebenso abgewiesen, wie strikt plebiszitäre Entscheidungsmodi (z.B. Referenden oder Volksentscheide über Verfas‐ 78 Pragmatisch nachvollziehbar ist dies allemal, denn bis zu diesem Zeitpunkt war der überarbei‐ tete Virginia-Plan bereits von sieben der erforderlichen neun Staaten ratifiziert worden.

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sungsstreitigkeiten schlichtende Amendments). Auch direktdemokratische Verfahren zur Verfassungsrevision werden kaum angemessen diskutiert. Dies erstaunt umso mehr, als das Prinzip der verfassunggebenden Autonomie des Volkes mindestens mit der gleichen Emphase verfochten wird, wie es bei den Antifederalists oder auch Thomas Jefferson der Fall ist.79 Ihrer allgemeinen Tendenz nach lässt sich die Argu‐ mentation der Federalists dahingehend bewerten, dass ein prozeduraler Minimalis‐ mus der verfassungsgesetzgebenden Volkssouveränität, der direktdemokratische Ak‐ tivitäten auf den einmaligen Akt der Verfassunggebung reduziert, kompensiert wird durch eine widerstandsrechtliche Extremrhetorik. (2) Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Diskussion der Frage nach einem re‐ präsentativen ,Hüter der Verfassung‘ das Thema der demokratischen Verfassungsän‐ derung nahezu absorbiert.80 Die These einer ,natürlichen‘ Eignung und Berufung der Justiz zum dezisiven Verfassungshüter wird nicht eigentlich, wie angekündigt, aus dem Volkssouveränitätsprinzips hergeleitet, sondern pragmatisch mit dem Hinweis auf die spezifisch schwache Stellung der Justiz innerhalb des Gewaltenteilungssche‐ mas des Virginia-Plans begründet. Der zu erwartende Machtzuwachs des höchsten Gerichtes, der über kurz oder lang aus seiner Autorität zur letztinstanzlichen Verfas‐ sungsexegese resultieren würde, wird im Unterschied zu Jefferson und den Antife‐ deralists bagatellisiert. Dies erklärt sich dadurch, dass die Federalists weder den konstruierenden noch den dezisiven Aspekt der höchstrichterlichen Verfassungsex‐ egese gebührend in Rechnung stellen. Weil man die dezisive Verfassungsauslegung immer nur als vorsouveräne Verfassungsrestitution wertet und nicht auch als dyna‐ mische Fortbildung des Verfassungsrechts, d.h. Rechtsschöpfung, erkennt, bleiben die entsprechenden demokratietheoretischen Probleme ausgeklammert. Die zeitge‐ nössischen Kritiker der Federalists hatten diese Schwachstelle weitsichtig diagnosti‐ ziert und zum Ausgangspunkt für alternative Lösungsvorschläge gemacht. Ihnen war aber wohl vor allem deswegen kein Erfolg beschieden, weil sie nicht zu einem einzi‐ gen, konsistenten Konkurrenzentwurf gebündelt werden konnten, da man in den sonstigen Verfassungsfragen weniger Übereinstimmung erzielt hatte, als die Federa‐ lists dokumentieren konnten.

79 Vgl. z.B. FP, No. 16, 28, 40, 49, 78. 80 Die Federalists propagieren mit vergleichsweise geringem Begründungsaufwand das Verfahren des Artikels 5 des Virginia-Plans (vgl. FP, No. 85, S. 514), weil dieser Modus „weder gänzlich föderativ noch gänzlich national“ geartet sei (FP, No. 40, S. 250) und zudem Verfassungsände‐ rungen sowohl ausreichend erschwere als auch ermögliche (FP, No. 43, S. 280). Die Federalists plädieren demgemäß zwar für fakultative verfassungsändernde Konvente auf Bundesebene, ohne aber die von den Antifederalists erhobene Forderung nach ratifizierenden Plebisziten zu unterstützen. Diese wären, wie jede Art von Appellen an das Volk, wegen der mit ihnen ver‐ bundenen Risiken für die Stabilität des politischen Systems abzulehnen: „Die Gefahr, den öf‐ fentlichen Frieden durch eine zu starke Entfesselung der Leidenschaften der Öffentlichkeit zu stören, ist ein noch ernsterer Einwand dagegen, Verfassungsfragen allzu häufig an die Ent‐ scheidung der Gesamtgesellschaft zu verweisen“ (FP, No. 49, S. 313).

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(3) Die Idee der constituent power wird bei den Federalists als Mythos konzipiert, dessen legitimierende Funktion sich letztlich allein auf eine retrospektive Ur‐ sprungserzählung gründen soll,81 während die Antifederalists und Jefferson die Leh‐ re von der Permanenz der verfassunggebenden Gewalt prozedural zu wenden such‐ ten. Demgegenüber entwarf der frühe Sieyes präzisierte Verfahrensvorschläge für (material unbeschränkte) Revisionen und in seinen Texten von 1795 ein Modell, das die juristische Expertise eines Verfassungsgerichts mit plebiszitären Entscheidungs‐ modi zusammenspannen sollte. Während im Fall der Federalists einzig die Exper‐ tenexegese als informelles Vehikel des Verfassungswandels in Frage kommt, bestan‐ den ihre Konkurrenten (diesseits und jenseits des Atlantik) auf (mehr oder minder) demokratischen Verfahren der förmlichen Verfassungsgesetzgebung.

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81 Überhaupt – so das überaus plausible Fazit bei Ingeborg Maus - sei „für die Unionsverfassung von 1787 [ein grundsätzliches] Misstrauen gegen das Volk [und] […] seine Repräsentanten in der Legislative“ kennzeichnend (Maus 2015, S. 78).

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Thomas Petersen Die Macht des Volkes im Verfassungsstaat. Volkssouveränität und neue Formen der Demokratie

„Das Aggregat der Privaten pflegt nämlich häufig das Volk genannt zu werden; als sol‐ ches Aggregat ist es aber vulgus, nicht populus; und in dieser Beziehung ist es der allei‐ nige Zweck des Staates, daß ein Volk nicht als solches Aggregat zur Existenz, zur Gewalt und Handlung komme.“ (Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. § 544 Anm.) „… so stellen die Bürger, welche in der Stunde der Gefahr der Ruf der Patrioten zu errei‐ chen und in den großen Schmelztiegel der res publica aus allen gesellschaftlichen und parteipolitischen Bindungen herauszuschmelzen imstande ist, das Volk in seiner wahren Gestalt dar.“ (Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft)

Moderne Verfassungsstaaten legitimieren sich durch das Volk, genauer: das Staats‐ volk. Das Volk, der Demos, soll in diesen Staaten die Macht (kratos) innehaben. Le‐ gitim sind diese Staaten, weil das Volk sie selbst begründet haben, ihnen ihre Verfas‐ sung selbst gegeben haben soll – ein der antiken griechischen Demokratie noch fern‐ liegender Gedanke. Volksmacht und Verfassungsgebung durch das Volk sind die bei‐ den Elemente der Idee der Volkssouveränität, einer spezifisch neuzeitlichen Idee. Wie hat sich diese Idee herausgebildet? Dazu gibt uns der Philosoph Charles Taylor in seinem Buch „Ein säkulares Zeitalter“ einen Hinweis. Taylor unterscheidet drei Typen „sozialer Vorstellungsschemata“ (Taylor 2012, S. 281. ff.). Zwei dieser Schemata sind vorneuzeitlich oder vormodern: Eine erste Form eines solchen Vorstellungsschemas beruhe „auf der Idee eines Volksgesetzes, von dem das betreffende Volk seit unvordenklicher Zeit regiert und in einem gewis‐ sen Sinne geprägt worden ist.“ (ebd., S. 282) „Im Mittelpunkt der zweiten Form steht die Vorstellung von einer gesellschaftlichen Hierarchie, die einer kosmischen Hierarchie Ausdruck verleiht oder ihr entspricht“ (ebd.). Hier hat Taylor vor allem Ordnungsvorstellungen des europäischen Mittelalters vor Augen. Demgegenüber verstehe die Neuzeit soziale Ordnungen immer als in irgendeiner Weise durch die Menschen selbst erzeugt. Diese Ordnung ist zugleich eine – mehr oder weniger – vernünftige Ordnung, das heißt eine Ordnung, deren Etablierung auf einsehbaren und nachvollziehbaren Gründen beruht. In der Theorie des Gesellschaftsvertrages, als deren Vertreter Taylor John Locke anführt, kommt das vor allem zum Ausdruck. Die Ordnung der Gesellschaft wird hier vorgestellt als eine, die den Interessen der Individuen der Gesellschaft dient und ihnen maximale Freiheitsrechte garantiert. 95

Aber sowohl die liberale Version der Theorie des Gesellschaftsvertrages, welche „die politische Gesellschaft als Werkzeug für etwas Vorpolitisches“1 auffasst (ebd., S. 293), als auch solche, die in der Tradition des Republikanismus stehen und wie die Gesellschaftsvertragslehre Jean-Jacques Rousseaus statt der individuellen eher die politische Freiheit des Menschen betonen, stellen die „politische Gesellschaft“ als eine Institution vor, die aus dem vernünftigen Handeln der Individuen hervorge‐ gangen sein könnte, wenn sie es schon nicht ist. Taylors „politische Gesellschaft“ ist der moderne Staat, von dem Hobbes sagt: „For by Art is created that great LEVIATHAN called a COMMON-WEALTH, or STATE, (in latine CIVITAS) which is but an Artificiall Man” (Hobbes, 1973, S. 1). Dieser Staat aber ist Inhaber der höchsten, der souveränen Gewalt. Er kann Ent‐ scheidungen zentralisieren und durchsetzen. Er richtet das Recht auf und verschafft ihm Geltung. Er ist „die maßgebende politische Einheit“ – oder das „politische Sys‐ tem“, dessen Funktion die „Herstellung bindender Entscheidungen“ ist (Luhmann 1974, S. 159). Der Staat oder das „politische System“ hat „die Funktion der Erzeu‐ gung gesellschaftlicher Macht“ (ebd.). Der Gedanke einer durch die Menschen selbst und ihre Vernunft hervorgebrach‐ ten Ordnung, die zugleich eine solche mit einer schlechthin überlegenen Macht aus‐ gestattete ist, ist offenbar das Charakteristikum der neuzeitlichen Idee des Staates. Das wiederum verbindet sich mit der Idee, die staatliche Gewalt oder „der Souve‐ rän“ sei durch die Mitglieder des Staates, seine Bürger „autorisiert“ (Hobbes 1973, S. 83-86). Von hier aus lässt sich leicht eine Linie ziehen zur Französischen Revolu‐ tion, in der „die »Göttin Vernunft« ihre größten Anstrengungen gegen das Christen‐ tum“, d.h. gegen eine religiös oder „kosmisch“ legitimierte soziale Ordnung ge‐ macht habe, wie es der Staatsphilosoph der Gegenrevolution Joseph de Maistre aus‐ gedrückt hat. (de Maistre 2004, S. 25). Nach den „Ideen von 1789“ ist der Staat, die Republik, eine Gründung des Volkes oder der Nation (diese beiden Begriffe sind nicht klar zu unterscheiden), und Volk oder Nation sind auch innerhalb dieser Repu‐ blik der Souverän. Daher scheint es ganz konsequent, dass der Nationalkonvent der Französischen Republik im Jahre 1794 die sterblichen Überreste Rousseaus, des Be‐ gründers der Doktrin der Volkssouveränität, feierlich ins Pantheon überführt hat.

1. Volkssouveränität und Verfassungsstaat In der Idee der Volkssouveränität konstituiert das Volk den Staat, die politische Ein‐ heit. Es ist pouvoir constituant und bringt die staatlichen Gewalten als pouvoir con‐ 1 „Vorpolitisch“ sind letztlich eigennützige individuelle Zwecke wie der Schutz des Eigentums, die jedoch nur durch „politisches“ oder kollektives Handeln erreicht werden können oder sich dadurch effizienter erreichen lassen.

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stitués hervor. Das Volk gibt sich eine Verfassung. Zugleich konstituiert sich das Volk als politisches Volk damit selbst – als Populus, nicht als bloße Gens, als Ethnie. Mit der Verfassungsgebung hat sich freilich die Volkssouveränität nicht „im Wesent‐ lichen erledigt“, wie jüngst ein ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht meinte.2 Das Volk soll auch im konstituierten Verfassungsstaat präsent bleiben und eine entscheidende Rolle spielen. Rousseau weist dem versammelten Volk die höchste (eben die souveräne) Gewalt im Staat, die gesetzgebende zu, und zugleich endet jede Befugnis der Regierung, sobald „das Volk rechtmäßig als souveräne Kör‐ perschaft versammelt ist“ (Rousseau 1977, S. 101; Buch III, Kap. 14). Das souverä‐ ne Volk bleibt hier jederzeit die das Ganze des Staates und der Verfassung tragende Macht. 3 Von Rousseaus Radikalität, für den Regierung und Gerichte nur Kommissionen des souveränen Volkes sind, sind die modernen Verfassungen weit entfernt; doch auch sie halten an der Idee der Volkssouveränität fest. So auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (selbst wenn dies nach eigenem Verständnis eigentlich keine Verfassung, sondern angesichts der deutschen Teilung nur ein provisorisches „Organisationsstatut“ (Flaig 2013, S. 120) ist). Wie die Präambel des Grundgesetzes feststellt, „hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt die‐ ses Grundgesetz gegeben“. Das „Deutsche Volk“ wird hier also als pouvoir constitu‐ ant angesprochen. Als Souverän tritt das Volk dagegen in Artikel 20, Absatz 2, auf: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstim‐ mungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Aber was ist hier „Gewalt“? Dieser Begriff kann einmal violentia, also physi‐ schen Zwang, bedeuten („Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt“), das an‐ dere Mal meint „Gewalt“ potestas, legitime Befugnis oder Vollmacht. Letzteres ist hier gemeint: das verfassunggebende Volk ist die Quelle aller solcher Befugnis; es hat sie also in Hobbes‘ Sinne autorisiert oder legitimiert. Doch das Volk soll die

2 „Der langjährige Verfassungsrichter Dieter Grimm hat bei einem Kolloquium, das der Bundes‐ tag aus Anlass des hundertjährigen Jubiläums der Giebelinschrift im November ausrichtete, be‐ tont, dass sich die Volkssouveränität insbesondere in der Setzung einer Verfassung ausdrücke – und sich damit im Wesentlichen erledigt habe.“ (Norbert Lammert, Wer sind wir? FAZ-online, 4.1.2017). 3 Diese Interpretation der Volkssouveränität stimmt überein mit Carl Schmitts berühmter Defini‐ tion in seiner Politischen Theologie (1934: 11): „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Hierin ist die souveräne Gewalt innerhalb eines Staatswesens zugleich diejenige, welche das ganze Staatswesen gleichsam stets hervorbringt und trägt. Schmitt behauptet in die‐ sem Buch, dass „alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe“ (49) seien. Dem Begriff der Souveränität entspräche von daher die Idee der creatio continua, in der Gott die Welt nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erschaffen und sich dann zurückgezogen hat, sondern sie ständig durch sein Schaffenshandeln erhält, so dass die Schöp‐ fung zu keinem Zeitpunkt ohne Gottes Handeln bestehen kann und Gott immer der Herr seiner Schöpfung bleibt.

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staatliche Gewalt nicht nur legitimieren, sondern sie selbst „ausüben“. Es soll also etwas tun können, und das heißt, in irgendeinem Sinne Macht haben. Macht meint, anders als Gewalt – in beiden möglichen Bedeutungen dieses Begriffs – die fakti‐ sche Möglichkeit, dem eigenen Willen Geltung zu verschaffen. Um aber überhaupt einen Willen haben zu können, muss das Volk als in bestimmter Hinsicht homogene Größe gedacht werden.4 Das heißt, dass angesichts der Einheit des Volkes die Diffe‐ renzen unter seinen Mitgliedern zurücktreten müssen, und im Besonderen muss der Volkswille in der Lage sein, die jeweiligen Partikularwillen und Partikularinteressen der Einzelnen zu relativieren. Diesen Volkswillen hat Rousseau die volonté généra‐ le, den „allgemeinen Willen“ oder „Gemeinwillen“ genannt. Dieser allgemeine Wil‐ le des Volkes kann nur das allgemeine Beste zum Gegenstand haben, und vom Volk und vom Volkswillen zu sprechen besagt „zunächst unzweifelhaft, daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzu‐ muten sei“ (Weber 1976, S. 528). Soll dieser Wille des Volkes, der allgemeine Wille, Macht haben und das Volk souverän sein, dann muss er in der Lage sein, sich jeder‐ zeit gegen widerstrebende Partikularwillen durchzusetzen.

2. Der Bedeutungsverlust der Volkssouveränität und Gegenstrategien: Deliberative Demokratie und Partizipation Doch ob das Volk eine solche Macht wirklich haben kann, ist, vorsichtig gesagt, recht fraglich. Fraglich ist hier zweierlei. Einmal, ob das Volk tatsächlich in der Lage ist, die Macht des Staates oder der staatlichen und politischen Institutionen zu kontrollieren, und dann, ob die Macht des Staates selbst hinreichend ist, sich gegen organisierte gesellschaftliche Akteure und deren Sonderwillen und -interessen durchzusetzen. Zur ersten Frage: Hinsichtlich der staatlichen und politischen Institu‐ tionen hat Rousseau bemerkt, dass „sich die Regierung ununterbrochen […] gegen die Souveränität“ auflehne und „Parteiungen“ die Bildung eines wahren allgemeinen Willens gefährden (Rousseau 1977, S 93; S. 31; III, 10 u. II, 3). So ist es ein Prob‐ lem, dass die vollziehende Gewalt Entscheidungen des Gesetzgebers nicht einfach vollzieht, vielmehr diese Entscheidungen häufig nicht nur beeinflusst, sondern sogar vorstrukturiert. Sie bildet offenbar selbst ein eigenes Machtzentrum, dessen fakti‐ sche Kompetenzen seine demokratisch legitimierten weit übersteigen. Und indem das Volk die Staatsgewalt „in Wahlen und Abstimmungen“ ausübt, ist es auf die Mit‐ wirkung der Parteien an der politischen Willensbildung angewiesen (GG Art. 21 4 Auch Jürgen Habermas (1989: 31), dessen „prozeduralisierte Volkssouveränität“ ohne Volk aus‐ kommt, kann auf derartige Homogenität nicht verzichten, da auch die „Volkssouveränität als Verfahren“ nicht ohne „durch Tradition und Sozialisation vermittelten Gesinnungen einer an po‐ litische Freiheit gewöhnten Bevölkerung operieren“ könne.

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Abs. 1: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“). Doch hier sieht es oft so aus, als wirkte umgekehrt das Volk bei der politischen Wil‐ lensbildung der Parteien und ihrer Apparate mit. Dieser Eindruck hat nicht erst heu‐ te, gern als „populistisch“ bezeichnete, Parteien und „Bewegungen“ entstehen las‐ sen, die für sich reklamieren, „das Volk“ zu sein; er ließ schon vor fünfzig Jahren den Sänger Franz Josef Degenhardt über „das Argument der Straße“ nachdenken: „Uns ist es nicht genug, /in jedem vierten Jahr ein Kreuz zu malen. / Wir rechnen nach und nennen es Betrug, / wenn es gar keine Wahl gibt bei den Wahlen.“ (Franz Josef Degenhardt, „2. Juni 1967“). Kann das Volk durch „das Argument der Straße“ seinen Willen ausdrücken? Kann es überhaupt eine wirkliche gestaltende Rolle als Volk in der politischen Willensbildung spielen oder ist es, einem Wort Hegels zufol‐ ge nur „der Teil des Staates, der nicht weiß, was er will“ (Hegel 1970, S. 469, § 301 Anmerkung)? Gleichzeitig aber scheint auch die Macht des Staates als der politischen Einheit gegenüber den Akteuren der Gesellschaft in Frage gestellt. Dass der Staat mit dem Gewaltmonopol auch ein Machtmonopol besäße und jederzeit in der Lage wäre, sei‐ ne Entscheidungen durchzusetzen und ein entsprechendes Handeln der Bürger und anderer, korporativer oder organisierter Akteure herbeizuführen, erscheint inzwi‐ schen zweifelhaft, wie die zeitgenössische Governance-Diskussion zeigt. Als Gegenstrategien gegen diese Gefährdungen der modernen Demokratie wer‐ den seit einiger Zeit „deliberative Demokratie“ und „Partizipation“ diskutiert. Deli‐ beration wird darin nicht einfach als das Tun einer sich selbst aufklärenden Öffent‐ lichkeit verstanden. Die „deliberative Demokratie“ soll jedenfalls nach Jürgen Ha‐ bermas die Volkssouveränität wieder zur Geltung bringen, indem sie dem Volk oder den Bürgern dominanten Einfluss auf politische Entscheidungen verschafft. Als eine der Möglichkeiten, und zwar als eine herausragende, diesen Einfluss auszuüben, wird hier die unmittelbare Beteiligung der Bürger an staatlichen oder kommunalen Entscheidungen angesehen, die sogenannte Partizipation. Mit der Partizipation, in der also nichtstaatliche Akteure (man denkt hier vor allem an NGOs, Bürgerinitiati‐ ven etc.) an solchen Entscheidungen direkt beteiligt werden, soll ebenfalls die De‐ mokratie im Verfassungsstaat gestärkt werden. Was ist von solchen Erwartungen zu halten? Deliberative Demokratie und Partizipation sind nicht nur Begriffe der politischen Philosophie, die als praktische Philosophie Bedingungen erstrebt oder fordert, die es ermöglichen, den Idealen von Demokratie und Volkssouveränität möglichst nahe zu kommen. Deliberative Demokratie und Partizipation sind zugleich Strategien staatli‐ cher Politik. Den staatlichen Entscheidungsträgern geht es indessen nicht so sehr um eine Stärkung der Demokratie und eine angemessene Realisierung der Volkssouverä‐ nität, auch wenn sie durchaus eine entsprechende Rhetorik pflegen mögen. Vielmehr verfolgen diese Entscheidungsträger mit „Öffentlichkeitsbeteiligung“ und Partizipa‐

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tion das Ziel, die Macht des Staates und der staatlichen Instanzen selbst zu steigern. Diese, zu den Erwartungen der normativ-praktisch orientierten politischen Philoso‐ phie, wie sie etwa Jürgen Habermas repräsentiert, gegenläufige Tendenz erschließt sich eher einer systemtheoretischen Betrachtungsweise, für die Habermas’ Antipode Niklas Luhmann steht. Doch nicht nur in Bezug auf eine Stärkung der Demokratie, sondern auch auf eine von den staatlichen Akteuren bezweckte Machtsteigerung des Staates ist die Partizi‐ pation ambivalent. Denn partizipieren sollen nicht nur die allseits geschätzten Ak‐ teure der „Zivilgesellschaft“, sondern auch Wirtschaftsverbände, kommunale und andere Verbände und Institutionen, die selbst schon über ökonomische oder adminis‐ trative Macht verfügen. Deshalb scheint die Partizipation nicht nur die Handlungs‐ spielräume und die Macht des Staates zu vergrößern, umgekehrt steht der Staat in der Gefahr, sich von nichtstaatlichen Akteuren abhängig zu machen. Eine weitere Folge der Partizipation ist offenbar eine Verschiebung im Machtge‐ füge innerhalb der staatlichen Gewalten selbst. Die Exekutive hat als der Ansprech‐ partner der nichtstaatlichen Akteure in Partizipationsprozessen eine herausgehobene Stellung. Daher wächst ihr eine umso größere Macht zu, da sie Entscheidungen vor‐ strukturieren kann. Doch wie auch immer: In jedem Falle zeigt sich, dass Macht und „Gewalt“ oder „Vollmacht“ unterschiedliche Dinge sind, und dass, wer die Vollmacht oder legitime Gewalt innehat, nicht unbedingt auch die Macht haben muss. Im Folgenden werde ich mit einer kurzen Bestimmung des Begriffs der Macht be‐ ginnen, um in den anschließenden Teilen mich mit der deliberativen Demokratie und der Partizipation zu befassen. Schließlich werde ich im abschließenden Teil ein Fazit ziehen und näher auf das gegenwärtige Phänomen des „Populismus“ eingehen.

2.1. Macht „Gewalt“ bedeutet, wie schon gesagt, in einem rechtlichen Sinne so viel wie legiti‐ me Befugnis oder Vollmacht. Macht und Vollmacht werden jedoch häufig nicht un‐ terschieden. Exemplarisch zeigt sich die Konfusion der beiden Begriffe an einem klassischen Text der europäischen Tradition, dem Johannesevangelium. In der revi‐ dierten Lutherübersetzung der Bibel von 1984 spricht dort Pilatus zu Jesus: „Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich loszugeben, und Macht habe, dich zu kreuzi‐ gen?“ (Joh. 19, 10) Die griechische Urfassung und die lateinische Vulgata haben an dieser Stelle jedoch exousia bzw. potestas, also Vollmacht oder „Gewalt“ als legiti‐ me Befugnis. Diese Vollmacht hat Pilatus, denn er ist der Präfekt, der Statthalter Roms. Vollmacht ist die Befugnis, etwas zu tun. Pilatus darf Jesus kreuzigen, die Hohenpriester dagegen dürfen das nicht (Joh. 18, 31); sie haben eben diese Voll‐

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macht nicht. Doch, und das ist die Pointe der Geschichte, hat Pilatus nicht die Macht, als deren griechische bzw. lateinische Entsprechung wir kratos oder potentia (vgl. Lk. 1, 51) setzen können, Jesus loszugeben oder zu kreuzigen. Denn Pilatus will Jesus schließlich freilassen (19, 12), doch durch eine kaum verhüllte Drohung („Lässt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht“; ebd.) bestimmen ihn die Hohenpriester dazu, das Gegenteil dessen zu tun und Jesus kreuzigen zu lassen. In der Verhandlung vor Pilatus wird dieser dazu gebracht, etwas zu tun, was zu tun er lieber vermeiden würde. Niklas Luhmann sieht dies als ein generelles Charak‐ teristikum von Machtverhältnissen an: „Macht setzt zunächst eine gegenläufige Struktur von gegebenen (normalen) Präferenzen voraus, nämlich: daß der Machtha‐ ber jemanden zu einer Tätigkeit bringen will, die dieser von sich aus nicht wählen würde.“ (Luhmann 2002, S. 47). Der Machthaber setzt, wenn er Erfolg hat, seine Präferenzen durch – so wie das die Hohenpriester im Evangelium des Johannes tun. Dies ist auch der Gehalt der bekannten Definition der Macht, die Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft gibt: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer so‐ zialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ (Weber 1976, S. 28). Macht wird sowohl von Weber als auch von Luhmann als ein soziales Phänomen verstanden. Luhmann begreift Macht als ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“, durch welches das Handeln von „Alter“ das Handeln von „Ego“ bestimmt (Luhmann 1975, S. 175). Macht besteht demnach in einer „Beschränkung des Selektionsspielraums des Partners“, in der der „Wille des machtunterworfenen Handelnden“ „neutrali‐ siert“ wird (Luhmann 1975, S. 179; 1988, S. 11). Macht ist danach also die reale Fähigkeit, nicht etwas zu tun, als vielmehr etwas zu erreichen.5 Im sozialen Verhältnis heißt dies: ein bestimmtes erwünschtes Han‐ deln von „Machtunterworfenen“ herbeizuführen, wobei der Machthaber nicht unbe‐ dingt selbst etwas tun muss (vgl. Luhmann 2002, S. 55). Das heißt aber auch: Macht ist auch insofern potentiell, als der Machthaber möglichst vermeiden muss, ihm eventuell zur Verfügung stehende Zwangs- oder Gewaltmittel, mit denen er droht, auch einzusetzen. „Wer einen Bürger einsperrt oder einen Angestellten entlassen muss, erreicht gerade nicht das, was er mit der Androhung dieser Maßnahme errei‐ chen wollte.“ (Luhmann 2002, S. 46). Die Aktualisierung solcher potentiellen Mittel nennt Luhmann eine „Vermeidungsalternative“ und erklärt: „Das Medium Macht funktioniert nur, wenn beide Seiten diese Vermeidungsalternative kennen und beide sie vermeiden wollen.“6 (ebd., S. 47) 5 Dies ist auch der Sinn der Machtdefinition von Thomas Hobbes im Leviathan (1973: 43). Da‐ nach besteht die Macht eines Menschen „in his present means, to obtain some future apparent good.“ Macht ist indes bei Hobbes kein eo ipso soziales Phänomen; auch Pfeil und Bogen als Mittel, um ein Wild zu erlegen, sind nach Hobbes‘ Definition Macht. 6 Sofern nicht anders vermerkt, sind in Zitaten alle Hervorhebungen aus dem Original übernom‐ men.

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Für Weber und Luhmann sind Machtbeziehungen stets asymmetrisch. Demgegen‐ über versteht Hannah Arendt Macht als wesentlich symmetrisch und führt sie auf ein „kommunikativ erzeugtes Einverständnis“ zurück. „Macht entspricht der menschli‐ chen Fähigkeit, […] sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln“. (Arendt 1970, S. 45) Träger der Macht ist dann nicht primär das eine Gruppe dominierende Individuum, sondern vielmehr die Gruppe selbst, und das „mächtige Individuum“ hat seine Macht von der Gruppe gleichsam entliehen. Doch auch hier könnte man sagen, dass die asymmetrische Beziehung zwischen Machthaber und Machtunterworfenem nicht negiert, sondern nur reflektiert und gleichsam auf sich selbst „zurückgebogen“ wird, indem jeder als Mitglied der Grup‐ pe zugleich Teil des Machthabers und auch Machtunterworfener ist. Denn die Grup‐ pe muss darauf achten, dass alle ihre Mitglieder koordiniert handeln, und dies even‐ tuell durch Drohung mit unerwünschten Konsequenzen (sozialer Ausschluss etc.) si‐ cherstellen. Man kann also Macht in jedem Falle als ein Verhältnis von Über- und Unterord‐ nung begreifen. In dieser Bestimmung der Macht fehlt nun noch ein Element, das in der politischen Philosophie von Anfang eine wichtige Rolle gespielt hat. In mehre‐ ren Platonischen Dialogen geht es um die Frage, ob der Tyrann über Macht verfügt oder nicht. Im Streit mit seinen meist sophistischen Dialogpartnern beharrt Sokrates dabei stets darauf, dass Macht zu haben immer voraussetzt, dass man weiß, was man will oder erstrebt – das heißt, dass man seinen Willen in vernünftiger Weise be‐ stimmt hat. Anders und in Hegels Worten gesagt: „Mächtig ist nur der, der weiß, was er will.“ Wer also weiß im modernen Verfassungsstaat, was er will? Weiß es das Volk? Die Idee der deliberativen Demokratie will auf diese Frage eine Antwort ge‐ ben, und zwar eine bejahende.

2.2. Deliberative Demokratie Der Begriff „Deliberative Demokratie“ stammt ursprünglich aus den USA, wo er of‐ fenbar im Jahre 1980 zum ersten Mal verwendet wurde (vgl. Ottmann 2006, S. 315). In Deutschland hat ihm Jürgen Habermas (vgl. Habermas, 1992, 1996) zu Bekannt‐ heit und Popularität verholfen, und ich werde mich deshalb an Habermas’ einfluss‐ reiche Fassung des Konzepts halten. Habermas stellt das Modell der deliberativen Demokratie einer „liberalen“ Auffassung von Demokratie einerseits und einer „repu‐ blikanischen“ Auffassung andererseits entgegen (Habermas 1992, S. 359;1996, S. 278-280). Nach „liberaler“ Auffassung geht es nach Habermas in der Demokratie vor allem um den Schutz subjektiver, individueller Rechte der Bürger, die eine „Marktgesellschaft“ bilden (Ottmann 2006, S. 318). Die Bürger verfolgen primär private oder „vorpolitische“ Interessen, und politische Entscheidungen haben den

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Charakter von „Interessenkompromissen“ (Habermas 1992, S. 359). Die Bürger üben ihre politischen Rechte durch „Stimmabgabe“ aus, mit der sie die „Zusammen‐ setzung parlamentarischer Körperschaften“ bestimmen. „Auf diese Weise können die Bürger in ihrer Rolle als Staatsbürger kontrollieren, ob die Staatsgewalt im Inter‐ esse der Gesellschaftsbürger ausgeübt wird.“ (Habermas 1996, S. 279). Hier regiert nicht das Volk, sondern es wird „für das Volk“ regiert, denn: „Nach liberaler Auffas‐ sung hat die demokratische Willensbildung ausschließlich die Funktion, die Aus‐ übung politischer Macht zu legitimieren.“ (ebd., S. 289). In diesem Modell beschränkt sich die Macht der Bürger darauf, die tatsächlichen politischen Machthaber abzuwählen, wenn sie die Staatsgewalt nicht „im Interesse der Gesellschaftsbürger“ ausüben. Doch diese Macht ist gering, wenn das politische Personal einen „closed shop“ bildet und es die Parteiapparate sind, die die zur Wahl stehenden Alternativen bestimmen und eine „Ohnmacht der Macht“ herbeiführen (Arendt 1970, S. 85). Vor diesem Hintergrund zielt der Republikanismus darauf, dem Volk die durch das politische System entwundene Macht wieder zuzueignen. Für ihn ist „Demokratie […] gleichbedeutend mit der Selbstorganisation der Gesell‐ schaft.“ (Habermas 1996, S. 286) Der Republikanismus entwickelt daher ein „gegen den Staatsapparat gerichtetes Politikverständnis. […] Gegen den staatsbürgerlichen Privatismus einer entpolitisierten Bevölkerung und gegen die Legitimationsbeschaf‐ fung durch verstaatlichte Parteien soll die politische Öffentlichkeit so weit revitali‐ siert werden, daß sich eine regenerierte Bürgerschaft in den Formen einer dezentrali‐ sierten Selbstverwaltung die bürokratisch verselbständigte Staatsgewalt (wieder) an‐ eignen kann“ (ebd., S. 286).7 Gegen den Republikanismus erhebt Habermas schwerwiegende Einwände; so vor allem, dass der Republikanismus „zu idealistisch ist und den demokratischen Pro‐ zess von den Tugenden gemeinwohlorientierter Staatsbürger abhängig macht.“ (ebd.) Hier ist „zu viel Tugendforderung, zu viel Homogenitätsanspruch, zu wenig Raum für Pluralismus“ (Ottmann 2006, S. 318); es kommt zu „einer ethischen Eng‐ führung politischer Diskurse“ (Habermas 1996, S. 283). Daneben wolle der Republi‐ kanismus, der sich an „den eigensinnigen Strukturen einer verständigungsorientier‐ ten öffentlichen Kommunikation“ (ebd., S. 282) orientiert, offenbar „administrativ verwendbare Macht“ durch „kommunikativ erzeugte Macht“ (ebd., S. 288) ersetzen und zeige „ein polemisch gegen den Staatsapparat gerichtetes Politikverständnis“ (ebd., S. 286). Das kollidiert mit dem von Habermas grundsätzlich anerkannten Prin‐ zip, „daß im demokratischen Rechtsstaat die vom Volke ausgehende Staatsgewalt

7 Eine entschieden republikanische Position hat jüngst Egon Flaig in seinem Buch Gegen den Strom. Für eine säkulare Republik Europa (2013) entwickelt.

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nur »in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt« wird“ (ebd., S. 290).8 Die deliberative Demokratie soll nun „kommunikativ erzeugte Macht in adminis‐ trativ verwendbare Macht“ transformieren, statt diese durch jene zu ersetzen. Sie verbindet nach Habermas die Vorzüge des liberalen und des republikanischen Mo‐ dells miteinander und vermeidet die Nachteile beider. Sie bietet Raum für Pluralis‐ mus und Interessenpolitik einerseits (ebd., S. 284), aber andererseits auch für „Kom‐ munikationsformen, die anspruchsvoller sind als die Werbekampagnen liberaler Öf‐ fentlichkeiten.“ (Ottmann 2006, S. 318) Entscheidungsprozesse werden durch öf‐ fentliche Deliberation ergänzt. „Deliberation“ meint dabei die Beratung, insbesonde‐ re die Beratung mit anderen, die in eine „Beschlussfassung“ mündet. „Die Diskurs‐ theorie nimmt Elemente beider Seiten auf und integriert sie im Begriff einer idealen Prozedur für Beratung und Beschlussfassung. Dieses demokratische Verfahren stellt einen inneren Zusammenhang zwischen Verhandlungen, Selbstverständigungs- und Gerechtigkeitsdiskursen her und begründet die Vermutung, daß unter solchen Bedin‐ gungen vernünftige bzw. faire Ergebnisse erzielt werden.“ (Habermas 1996, S. 285f.) Hintergrund dieser Thesen ist die Diskurstheorie, nach der – öffentliche und nichtöffentliche – Diskurse, zumindest im Ideal, zu vernünftigen Entscheidun‐ gen führen, in denen Normen beschlossen werden, für die gilt, „daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interesse jedes Einzelnen voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.“ (Habermas 1983, S. 131). Neben der Habermasschen Variante der deliberativen Demokratie, die auf ver‐ nünftigen Konsens und Verständigungsorientierung setzt, wird in der angelsächsi‐ schen Diskussion der deliberativen Demokratie betont, dass in der Deliberation ver‐ nünftige Argumentation und Elemente von Verhandlung oder „bargaining“ gleich‐ rangig nebeneinanderstehen. In einer normativen Perspektive erscheint dieses Ver‐ handeln, in dem „Versprechungen und Drohungen“ eine wichtige Rolle spielen, den meisten Autoren in dem von Jon Elster herausgegebenen Sammelband (1998) nicht als illegitimes Element deliberativer Demokratie, während das für die von Habermas vertretene diskursethische Variante nicht gilt.9 Wie der Republikanismus hat auch das Konzept der deliberativen Demokratie zum Ziel, die Macht der Bürger, von deren Gemeinschaft ja alle Gewalt ausgehen soll, gegenüber dem Staatsapparat zu stärken und zu erweitern. Deswegen will die‐ ses Konzept auch die Idee einer substantiellen Volkssouveränität wieder zur Geltung 8 Nach Habermas (1989: 31) wird kommunikative Macht “ausgeübt im Modus der Belagerung. Sie wirkt auf die Prämissen der Urteils- und Entscheidungsprozesse des politischen Systems oh‐ ne Eroberungsabsicht ein“. 9 „Deliberative ‘conversations’ fall somewhere between two extremes: bargaining, which invol‐ ves exchanging threats and promises, and arguing, which concerns either matters of principle or matters of fact and causality.” (Elster 1998, S. 19).

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bringen. Setzt die deliberative Demokratie also die Bürger als Teil des Souveräns wieder in ihr Recht? Das wird man so nicht sagen können, weil die „Diskurstheorie […] die Verwirklichung einer deliberativen Politik […] von der Institutionalisierung entsprechender Verfahren“ abhängig macht (ebd., S. 287) und die Politik sich in „subjektlosen Kommunikationen“ (ebd., S. 288) vollzieht. Denn in diesen Kommu‐ nikationen herrscht nicht das Volk, sondern die Logik von Diskursen oder geregelter Verfahren. Deliberative Politik führt demgemäß zu einer „Prozeduralisierung der Volkssouveränität“ (Habermas 1992, S. 362). Die Volkssouveränität wird nun „inter‐ subjektivistisch gedeutet“. Es gibt also kein Volk als Subjekt der Souveränität mehr, keine „sittliche Gesamtkörperschaft“ mit einem „gemeinsamen Ich“ (Rousseau 1977, S. 18; I, 6): „Das »Selbst« der sich selbst organisierenden Rechtsgemeinschaft verschwindet in den subjektlosen Kommunikationsformen“ (Habermas 1992, S. 365).

2.3. Kritik an der deliberativen Demokratie Die deliberative Demokratie will also eigentlich nicht dem Volk, sondern „subjektlo‐ sen Kommunikationen“, also bestimmten Verfahren oder Prozeduren, im „Kommu‐ nikationsnetz politischer Öffentlichkeiten“ (Habermas 1996, S. 288) zu einer politi‐ schen Macht verhelfen, die mehr ist als die Möglichkeit, „in jedem vierten Jahr ein Kreuz zu malen“. Macht soll also eine deliberierende Öffentlichkeit gewinnen, deren Diskussionen zu Ergebnissen führen, welche die „Vermutung der Vernünftigkeit für sich haben.“ (ebd., S. 291) Gegen solche Erwartungen legen sich Einwände nahe. Das Konzept der deliberativen Demokratie erwarte zu Unrecht, dass Öffentlichkei‐ ten nur deliberieren, also nur auf der Suche nach einer vernünftigen Einigung oder – in der angelsächsischen Variante – nach einem rationalen Verhandlungsergebnis sind. Vor allem in der Öffentlichkeit tätige „nicht-vermachtete Organisationen“ wie NGOs, Bürgerinitiativen etc. setzen weniger auf Argumentationen als auf Aktionis‐ mus. „Das Modell der deliberativen Demokratie berücksichtigt den Aktionismus nicht, die Aufmerksamkeitserregung, die nicht durch Worte, sondern durch Aktionen erzielt wird, Demonstrationen, Sit-ins, Boykotte, Straßentheater, halsbrecherische Aktionen von Greenpeace-Aktivisten.“ (Ottmann 2006, S. 324). Wie immer man aber auch den Aktionismus einschätzt, als eine erfolgreiche Thematisierung von Pseudoproblemen (vgl., Hüller 2005, S. 296) oder als „ein Mittel der Schwachen, überhaupt Aufmerksamkeit für gewisse Themen zu erregen“ (Ottmann 2006, S. 324), in jedem Fall ist er eine Erscheinung moderner (demokratischer) Politik. Besonders bei Habermas zeigt sich daher für Kritiker wie Niklas Luhmann (2002:

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54) und Henning Ottmann eine zu hohe „Konsenserwartung“.10 (Luhmann 2002, S. 54; Ottmann 2006, S. 321). So wird dem Modell der deliberativen Demokratie Realitätsferne attestiert: So heißt es in dem Artikel „deliberative Demokratie“ des Lexikons der Politik (Bd. 7, S. 108-110): „Wenig vielversprechend sind bislang die Vorschläge, wie man das ab‐ strakte und komplexe Diskursmodell deliberativer Demokratie konkret auszugestal‐ ten hätte, um zu Ergebnissen zu gelangen, die den hohen Ansprüchen des Modells entsprechen und zugleich praktikabel sind.“ Allerdings ist zwar die deliberative Demokratie ein abstraktes und komplexes Konzept, aber es ist doch nicht ohne Realitätsgehalt. In Habermas‘ Perspektive soll ja, wie oben erwähnt, die deliberative Demokratie an die „Institutionalisierung ent‐ sprechender Verfahren“ gebunden sein. Und derartige Verfahren muss das Konzept der deliberativen Demokratie nicht erst fordern, denn solche Verfahren gibt es be‐ reits. Es gibt sie in den Strukturen der sogenannten Partizipation, der Beteiligung von Bürgern an politischen Entscheidungsprozessen. So stellt etwa der deutsche Rat von Sachverständigen für Umweltfragen bei der Bundesregierung schon im Jahre 2004 eine große Nähe der „Idee der aktiven Beteiligung von Bürgern und Betroffe‐ nen an Prozessen der Entscheidungsvorbereitung oder –findung“ zu „Konzepten de‐ liberativer Demokratie“ (SRU 2004: Tz 1215) fest. Und diese „Idee“ ist mittlerweile schon sehr viel mehr als eine „bloße Idee“.

2.4. Partizipation Was aber ist Partizipation? Unter „Partizipation“ wird nicht die normale Beteiligung des Bürgers am politischen Leben im Staat verstanden, die in der Teilnahme an Wahlen, in der Kandidatur für politische Ämter, in der Übernahme politischer Dien‐ ste wie des Wehrdiensts oder verschiedener Ehrenämter besteht. Auch die Mitwir‐ kung an der öffentlichen Meinungsbildung oder der politische Aktionismus ist nicht damit gemeint. Als Partizipation gilt vielmehr meist die Mitwirkung an geregelten Verfahren. Jens Newig nennt in einem Übersichtsartikel fünf Kriterien, bei deren Er‐ füllung Partizipation vorliege: Zunächst einmal spricht man danach von Partizipati‐ on (1) nur bei „eine[r] Teilhabe an Entscheidungen im öffentlichen Raum.“ Und zu‐ gleich handele es sich dabei (2) „um eine Teilhabe von Personenkreisen, die nicht routinemäßig derartige Entscheidungen vornehmen“. Diese beiden Kriterien müssen nach Newig in jedem Falle erfüllt sein, während dies für drei weitere Kriterien nur 10 Vgl. etwa Ottmann (2006: 321): „Statt von öffentlichen Diskursen Konsens zu erwarten, sollte man ihnen bescheidenere Ziele setzen: etwa das Ziel, Verständnis für die Positionen der ande‐ ren zu wecken, oder das Ziel, Kooperationsbereitschaft zu erzeugen, obwohl man sich in der Sache nicht einig ist.“.

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„in unterschiedlichen Abstufungen“ gelte: So lasse „sich Partizipation abgrenzen zu einseitigem bzw. ausschließlich hoheitlichem Handeln (Verwaltungs- oder Gerichts‐ entscheidungen).“ (3) Zudem impliziere „Partizipation (…) eine Machtabgabe an die beteiligten Personenkreise.“ (4) Und: „Schließlich liegt Partizipation nur dann vor, wenn der Kreis der beteiligten Personen diejenigen mit einem legitimen Anliegen ausreichend repräsentiert“ (5). (Newig 2011, S. 67). Nach diesem Kriterienkatalog besteht Partizipation also in einem außerordentli‐ chen, nicht-hierarchischen Entscheiden im öffentlichen Raum, an dem Personenkrei‐ se „mit einem legitimen Anliegen“, also Betroffene, so mitwirken, dass sie Macht ausüben und „die zu treffenden Entscheidungen […] beeinflussen können“ (ebd.). Partizipation bietet demnach offenbar jene von Habermas für die deliberative Demo‐ kratie verlangte „Institutionalisierung entsprechender Verfahren“ (Habermas 1996, S. 287), welche die Bürgern oder das Volk zwar nicht einfachhin zum Souverän macht, aber sich doch als eine „Prozeduralisierung der Volkssouveränität“ (Haber‐ mas 1992, S. 362) verstehen lässt, die dem Bürger immerhin eine Macht jenseits „der turnusmäßigen Abgabe seiner Wählerstimme“ (SRU 2002, Tz 175) gibt. In der Partizipation kann der Bürger offenbar „am Aufbau von Gegenmacht und an der Ar‐ tikulation gesellschaftlicher Interessen teilnehmen“ und damit staatliches Handeln „als politischen Prozess erfahren“ (Habermas 1992, S. 495). Partizipation ist nur möglich in lokalen Kontexten, in denen es „Betroffene“ gibt, die man von „Nicht-Betroffenen“ unterscheiden kann – also etwa nicht in der Au‐ ßen-, Verteidigungs- oder Wirtschaftspolitik. Tatsächlich ist die Partizipation vor al‐ lem ein theoretisches wie praktisches Thema in der Umweltpolitik. Umweltpolitik hat unter anderem in den Bereichen des Natur- und Gewässerschutzes und der Ener‐ giepolitik lokale Bezüge, die partizipative Entscheidungsfindung und eine „Öffent‐ lichkeitsbeteiligung“ (SRU 2002, Tz 146-153, 177-180) nahelegen. Im Jahre 2002 sieht der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen der Einführung partizipativer Verfahren ein vorherrschendes „restriktives Demokratieverständnis“ entgegenstehen, unter dem „Informations- und Beteiligungsrechte des Bürgers […] eher die Ausnah‐ me [bilden]“ und, „wo vorhanden, häufig restriktiv gehandhabt“ werden (SRU 2002, Tz 119). Jedoch seien inzwischen „erste Anzeichen einer Öffnung für ein transpa‐ renz- und partizipationsfreundlicheres Demokratieverständnis erkennbar.“ (Tz 122). Schon im Jahr 2000 aber hat die Europäische Wasserrahmenrichtline in Artikel 14 „die aktive Beteiligung aller interessierten Stellen an der Umsetzung dieser Richtli‐ nie, insbesondere an der Aufstellung, Überprüfung und Aktualisierung der Bewirt‐ schaftungspläne für die Einzugsgebiete,“ verlangt. In Zuge der Umsetzung dieser Richtlinie in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben partizipative Ver‐ fahren im Gewässerschutz inzwischen eine gewisse Bedeutung erlangt.11

11 Vgl. hierzu auch Petersen/Klauer 2012, S. 51-53.

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Durch Partizipation verschiebt sich das staatliche Machtgefüge, insofern es den Bürgern, die in ihrer Gesamtheit das Volk bilden, eine Macht jenseits der „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübten Staatsgewalt gibt. Ob dies jedoch eine Realisation deliberativer Demokratie und eine Restitution einer diskurstheoretisch gewandelten und „prozeduralisierten“ Volkssouveränität ist, darf bezweifelt werden. Denn hinter der Einführung partizipativer Verfahren in den politischen Prozess steht meist nicht so sehr das Bestreben, die Möglichkeiten demokratischer Kontrolle der staatlichen Institutionen zu erweitern als vielmehr das Ziel, die Handlungsmöglichkeiten und die Macht eben dieser Institutionen zu erweitern. Das jedenfalls legt die politikwis‐ senschaftliche Governance-Forschung nahe, die eben auf solche Phänomene wie die Partizipation von Bürgern an politischen Entscheidungen reflektiert.

2.5. Governance Der neuzeitlich-moderne Staat versteht sich als Inhaber der souveränen Gewalt. Die‐ se souveräne Gewalt übt der Staat gegenüber seinen Bürgern oder der ihm gegen‐ überstehenden Gesellschaft aus (vgl. Hegel 1970), wobei er sich auf die Erfüllung der „genuinen Staatsaufgaben“, wie der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung, Lan‐ desverteidigung und Finanzverwaltung (Forsthoff 1973, S. 372) beschränkt. Mit fortschreitender Industrialisierung ergaben sich jedoch immer weitere kollektive Aufgaben, die der Staat auf sich nehmen musste. Der Staat griff immer stärker in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben ein12 und wandelte sich zusehends zum „Interventionsstaat“ (Mayntz 2004, S. 67). Doch dieser Interventionsstaat stieß schließlich an die Grenzen seiner Möglichkeiten. Das „Scheitern von Reforminitiati‐ ven“ in den 60er und 70er Jahren begünstigte Tendenzen zum Rückzug des Staates aus immer weiteren Bereichen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens (Privatisierung), doch erschien dies letztlich nicht als gangbarer Weg. „Der Staat konnte sich nicht einfach zurückziehen, sondern musste versuchen, die Probleme in Kooperation mit privaten und zivilgesellschaftlichen Akteuren zu lösen.“ Der Staat wurde zum „kooperativen Staat“, der die „hierarchische Steuerung“ durch „hoheitli‐ chen Rechtsbefehl“ mit Elementen „nichthierarchischer Steuerung“ ergänzt, in de‐ nen er mit Akteuren von Gesellschaft und Wirtschaft mehr oder weniger symme‐ trisch kooperiert (ebd.). Dieser kooperative Staat ist der eigentliche Gegenstand der Governance-Forschung (vgl. Benz 2004; 2007; Schuppert 2008). Die Governance-Forschung versteht ihren Gegenstand als „die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln“ (Benz 2004a, S. 17). Spezifischer be‐ 12 Siehe dazu Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft (1971). Forsthoff fasst diese zu‐ sätzlichen Aufgaben des Staates unter dem Begriff der „Daseinsvorsorge“ zusammen.

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zeichnet „Governance“ „die heutigen, nicht auf den Staat beschränkten vielfältigen Formen politischer Steuerung auf unterschiedlichen politischen Ebenen, bei wach‐ sender Komplexität der Akteursstrukturen und Handlungsbedingungen. Governance erfasst also ein weiteres Spektrum von Steuerungsformen und Akteuren als der her‐ kömmliche, auf staatliches Handeln begrenzte Begriff der Politik“ (SRU 2004, Tz. 1178). Und in einer weiteren Nuancierung ist „Governance“ ein „Gegenbegriff zu hierarchischer Steuerung“ (Government) (Mayntz 2004, S. 66) und bezeichnet unter‐ schiedliche Formen nicht-hierarchischer Steuerung. Dabei verschränken sich analy‐ tische und normative Aspekte der Sache: Governance gilt einerseits als demokrati‐ scher und andererseits als problemadäquater und effektiver als das hierarchische Go‐ vernment.13 Unter den Formen des unter dem Begriff „Governance“ firmierenden kooperati‐ ven Staatshandelns nimmt die Partizipation eine prominente Stellung ein. Unter „Partizipation“ oder „Bürgerbeteiligung“ werden folgende Formen subsumiert: „Anhörungen im Rahmen herkömmlicher Verfahren einschließlich der Stellung‐ nahmen von ‚Trägern öffentlicher Belange’ • • •

Mediationsverfahren zur Konfliktlösung und Kompromissbildung Expertendialoge zur Sachstandserhebung unter Einbeziehung von NGOs Bürgerforen und Konsensuskonferenzen zur deliberativen Urteilsbildung („Citi‐ zens’ Juries“)“ (SRU 2004, Tz 1216).

2.6. Die Ambivalenz der Partizipation in Bezug auf Volkssouveränität und Demokratie Im Hinblick auf die Frage, ob die Implementation derartiger partizipativer Verfahren in den politischen Prozess eine Stärkung der Demokratie darstellt, hinterlässt die Partizipation einen zwiespältigen Eindruck. Wohl eröffnet sie den Bürgern größeren Einfluss auf politische Entscheidungen, und auch scheinen partizipative Verfahren eine wirkliche Deliberation und „kollektive Lernerfolge“ zu ermöglichen (Newig 2011, S. 69). Jedoch auch wenn sich in gelingenden Verfahren ein „gegenseitiges Vertrauensverhältnis der Beteiligten“ einstellt, besteht eine grundsätzliche Asymme‐ trie zwischen den nicht staatlichen Akteuren und den staatlichen Institutionen darin, dass diese die „Agenda-Setter“ sind und das Verfahren wesentlich bestimmen. Den staatlichen Institutionen ist aber nur selten an einer Stärkung der Demokratie gele‐ gen als vielmehr an der besseren Durchsetzung der eigenen Ziele. Dazu versuchen 13 „Governance impliziert Partizipation, mit hierarchischer Intervention wird dagegen der bevor‐ mundete Untertan assoziiert. Hinter der normativen Akzentuierung des Begriffs steht jedoch auch die Annahme, dass nicht- hierarchische Regelungsformen effektiver seien als hierarchi‐ sche.“ (Mayntz 2008, S. 47).

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sie die Akzeptanz und eventuell auch die Kooperation der „Betroffenen“ zu errei‐ chen, wenn dies zur Erreichung der jeweiligen Ziele notwendig oder förderlich ist. Ein offizielles Dokument der Europäischen Union spricht das unverblümt aus: „Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument, um die Umweltziele der Wasserrahmenrichtlinie zu erreichen“ (EU 2002: 7, zit. nach Newig 2011, S. 66). Und dieses Instrument scheint durchaus wirksam. Niklas Luhmann hat bemerkt, „daß durch Beteiligung am Entscheidungsvorgang die Bereitschaft zum Akzeptieren der Entscheidung gesteigert werden“ (Luhmann 1978, S. 89) kann. Und auch heute zeigen „Ergebnisse der procedural-justice-Forschung […], dass als fair wahrgenommene Entscheidungsprozesse Akzeptanz selbst dann erhöhen, wenn die Ergebnisse den Akteurspräferenzen nicht entsprechen“ (Newig 2011, S. 70).14 Partizipation scheint also mehr noch als die Macht des Volkes oder der Bürger die Macht der staatlichen Institutionen zu stärken. Sie scheint damit auch einer systemi‐ schen Betrachtung, welche vor allem die Funktionen politischer Prozesse betrachtet, eher zugänglich als einer diskursethisch orientierten normativen Demokratielehre. In Bezug auf Volksouveränität und Demokratie wirft die Partizipation noch ein weite‐ res Problem auf, die Frage nämlich, mit wem der kooperative Staat eigentlich in Par‐ tizipationsprozessen kooperiert.15 Denn an diesen Partizipationsprozessen sind nicht nur einfache Bürger beteiligt, sondern auch Organisationen, wie zum Beispiel die vom Sachverständigenrat für Umweltfragen selbst angeführten Nichtregierungsorga‐ nisationen. Daneben stehen Verbände der Wirtschaft und der Kommunen und mögli‐ cherweise größere Unternehmen. Darunter sind Kooperationspartner, die „unter dem Schutz rechtlicher Garantien stehen oder mit faktischer Veto-Macht ausgestattet sind und deshalb über Möglichkeiten autonomen Handelns verfügen, an denen Versuche politischer Steuerung und einer politisch initiierten Kollektivgutproduktion sich bre‐ chen.“ (Offe 2008, S. 67). Bei Wirtschaftsakteuren und insbesondere bei größeren Unternehmen begegnet der Staat „Machtquellen ganz anderer Art, nämlich sol‐ che[n], die auf der Organisation der Arbeit beruhen sowie darauf, daß Arbeit (und nicht Eigentum) die verbreitetste Form der Teilnahme an der Wirtschaft ist“ (Luh‐ mann 2002, S. 79). Deshalb ist es Unternehmen „möglich, mit Entlassung zu drohen, also Macht auszuüben“ (ebd.). So besteht nach Claus Offe die Gefahr, dass sich hin‐ ter der „Fassade“ einer mit den Attributen „nicht-korrupt, transparent, informell, bürgernah, legitim, effizient, verantwortlich, kollektivgut-erzeugend, effektiv, ge‐ meinwohlorientiert, horizontal, problemadäquat“ bedachten Partizipation „faktische 14 Nach Jens Newigs (2011, S. 66) Beobachtung haben sich „die Motive zur Durchführung parti‐ zipativer im Unterschied zu klassisch hoheitlichen Entscheidungsverfahren im Laufe der Jahr‐ zehnte gewandelt“: Standen „in den 1960er und 70er Jahren […] emanzipatorische Motive im Mittelpunkt“, zeige sich jedoch heute „ein klarer Trend zu einem instrumentellen, effektivitäts‐ orientierten Verständnis von Partizipation“. 15 „Mit wem kooperiert der ‚kooperative Staat’ und welche Rolle spielt bei der („informellen“) Auswahl von Verhandlungspartnern deren Veto-Macht?“ (Offe 2008, S. 72).

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Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse umso ungestörter durchsetzen.“ (Offe 2008, S. 71; S. 68) In solchen Konstellationen ist es möglich, dass der Staat nicht mehr un‐ eingeschränkt Herr des Verfahrens ist und selbst graduell zum Verhandlungspartner der „großen Interessen“ (Hegel 1970, S. 480, § 311 Anmerkung) der Gesellschaft wird. Partizipative Verfahren haben dann weniger den Charakter einer Deliberation, in der man sich über allgemeine Interessen verständigt als eines Aushandelns von Kompromissen, die wiederum von Machtverhältnissen abhängen.16 So zeigen sich Partizipation und Bürger- oder Öffentlichkeitsbeteiligung als in doppelter Hinsicht ambivalente Phänomene. Auf der einen Seite stehen größere Ein‐ fluss- und Gestaltungsmöglichkeiten der Bürger staatlichen Institutionen gegenüber, welche die Partizipation zur Steigerung der eigenen Macht eben gegenüber diesen Bürgern zu instrumentalisieren suchen. Auf der anderen steht der Staat in der Ge‐ fahr, indem er seine Macht erweitern will, sich von nichtpolitischen mächtigen Ak‐ teuren abhängig zu machen. In einer anderen Hinsicht indessen sind die Konsequenzen der Einführung partizi‐ pativer Verfahren eindeutig: Sie sorgen für eine weitere Machtverschiebung zuguns‐ ten der Exekutive, der Verwaltung – insbesondere der Ministerialverwaltung – und der Vollzugsbehörden im Allgemeinen. Ich habe oben schon darauf hingewiesen, dass die tatsächliche Macht der Exekutive über ihre verfassungsmäßig bestimmten Aufgaben hinausgeht. Die Exekutive führt nicht einfach aus, was die gewählten Volksvertreter in Parlament und Regierung beschlossen haben. Denn die Exekutive hat nicht nur beim Vollzug einen erheblichen diskretionären Spielraum; da sie ge‐ genüber der politischen Führung über einen großen Informationsvorsprung und bes‐ sere Sachkenntnis verfügt, kann sie Gesetzgebungsverfahren und politische Ent‐ scheidungen maßgeblich beeinflussen und vorstrukturieren – ja, unter bestimmten Umständen sogar die Gesetzesinitiative faktisch an sich reißen.17 Die Stellung der Exekutive wird dabei zusätzlich dadurch verstärkt, dass sie sich aus langfristig täti‐ gen Beamten zusammensetzt. Das gibt den Behörden eine relative Unabhängigkeit gegenüber dem rascher wechselnden politischen Personal und die Möglichkeit, selbst langfristige politische Vorhaben zu verfolgen. Untersuchungen in der Bundes‐ republik Deutschland haben bereits in den 70er Jahren gezeigt, dass mehr als die 16 So ist Partizipation in umweltpolitischen Angelegenheiten oft durch einen „trade-off“ zwi‐ schen outputs und outcomes bestimmt. Zwar werden „Entscheidungen besser und zügiger um‐ gesetzt“ (outcomes), doch „kann Partizipation durchaus zu einer Senkung des ‚Umwelt-Ni‐ veaus’ von Outputs führen“ (Newig 2011, S. 73). – „In Verfahren mit starken Machtasymmetri‐ en unter den Beteiligten besteht daher die Tendenz und die Gefahr, dass die Interessen schwä‐ cherer Akteure womöglich stärker unterdrückt werden als dies in einem formalisierten hoheitli‐ chen Verfahren der Fall wäre.“ (Newig 2005, S, 107-108). 17 Die „Neue Institutionenökonomik“ thematisiert derartige Strukturen im sogenannten PrinzipalAgenten-Modell. Dieses Modell unterstellt, dass der Agent aufgrund der „asymmetrischen In‐ formation“ nicht nur erhebliche diskretionäre Spielräume hat, sondern auch die Entscheidun‐ gen des Prinzipals faktisch mitbestimmen kann (vgl. Richter/Furubotn 1999).

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Hälfte der Behördenmitglieder bzw. Ministerialräte diese Möglichkeit auch wahr‐ nehmen, sich selbst als politisch Handelnde verstehen und eine „aktiv-strukturverän‐ dernde“ Einstellung haben (vgl. Petersen/Faber 2000, S. 35). Im Hinblick darauf hat der Politikwissenschaftler Gerhard Lehmbruch mit nur halb-ironischer Übertreibung von der Bundesrepublik Deutschland polemisch als von einer „bürokratischen Räte‐ republik“ gesprochen. Durch Partizipation in institutionalisierten Verfahren, an denen die Exekutive nicht nur mitwirkt, sondern die sie in der Regel auch organisiert, wachsen ihr ein neues Tätigkeitsfeld und neue Machtpotentiale zu. Denn hier tritt die Exekutive den Bürgern und Verbänden nicht als den „Normadressaten“ gegenüber – also den Bür‐ gern, wie Rousseau sagen würde, nicht als Teil des Souveräns, sondern als Unterta‐ nen. Die Exekutive wirkt hier vielmehr an eigentlich politischen Entscheidungen mit, also – nach Habermas – an einer Realisation der in „subjektlose Kommunikati‐ onsformen“ aufgelösten Volkssouveränität. So wird die Exekutive oder die „Regie‐ rungsgewalt“ immer mehr zu jener tragenden Mitte des „Staatsorganismus“, als die sie Hegel schon gesehen hat. Am Ende lässt sich Partizipation nicht als Realisation der Volkssouveränität ver‐ stehen. Das Volk ist hier nur beteiligt, und auch das nur in Gestalt einzelner „Betrof‐ fenener“. Es kann hier kaum Macht entfalten. Als beteiligtes steht das Volk den staatlichen Institutionen in der Partizipation gegenüber, und dies nicht einmal im „Modus der Belagerung“, in dem Habermas die Volkssouveränität sehen will. Denn das Volk hat hier nicht nur keine „Eroberungsabsicht“, es „wirkt“ auch nicht einfach „auf die Prämissen der Urteils- und Entscheidungsprozesse des politischen Systems […] ein“. (Habermas 1989, S. 31). Will man in Habermas’ Bild bleiben, dann wer‐ den in der Partizipation die Belagerer in die Festung hineingebeten und dazu bewo‐ gen, ihre Waffen niederzulegen oder sie nun sogar im Dienste der Belagerten zu ge‐ brauchen.

3. Was bleibt von der Volkssouveränität? Partizipation und deliberative Demokratie waren gedacht, der Volkssouveränität jen‐ seits einer fiktiven „Gewalt“ im Sinne einer legitimen Quelle von Macht in gewis‐ sem Maße Realität zu verschaffen. Die Macht, welche das Volk durch Wahlen und Abstimmungen hat, ist gering. Daneben kann zwar die öffentliche Meinung als eine Weise verstanden werden, in der das Volk im Staat und in der politischen Willensbil‐ dung präsent ist. Die öffentliche Meinung ist nicht bedeutungslos, und sie kann so‐ gar Regierungen und Regimes zu Fall bringen. Doch sie ist kein Machtsubjekt, sie hat keine Macht – ebenso wenig wie Diskurse und „institutionalisierte Verfahren“ Macht haben können. Auch die Partizipation ist keine Realisation von Volksouverä‐

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nität, weil das Volk, die Bürger hier eben nur partizipieren. Zwar kann Partizipation die Chance zu wirklicher Deliberation erweiterten Einfluss auf den politischen Pro‐ zess ermöglichen, doch sie fördert dabei zugleich die Macht der staatlichen Institu‐ tionen, insbesondere der Exekutive – und sie steht in der Gefahr, gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtungleichgewichte im politischen Prozess zu reproduzie‐ ren. In der Partizipation realisiert sich nicht die Volkssouveränität. Und es sieht oft so aus, als gebe die Partizipation weniger dem Volk oder den Bürgern Macht, als dass sie vielmehr den staatlichen Institutionen ermögliche, ambitionierte Ziele in einem komplexen Umfeld durchzusetzen. Gegenüber diesen komplexen Zusammenhängen bleibt die Volkssouveränität eine bloße moralische Forderung. Angesichts dessen sich nicht der notorisch desillusionierten Systemtheorie Luhmannscher Prägung oder gar der Staatsphilosophie der Gegenrevolution überlassen, sondern trotzdem an der Idee der Volkssouveränität festzuhalten, erfordert wohl die philosophische Perspekti‐ ve und die Gemütsart Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Das Programm von Hegels „spekulativer Erkenntnis“ ist es, „die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegen‐ wart zu erkennen“ (Hegel 1970, S. 26). Hegel, der an jedem 14. Juli, dem Jahrestag des Bastillesturms, sein Glas zu Ehren der Französischen Revolution erhoben haben soll, lehrte in seiner Rechtsphilosophie einen institutionell gegliederten Staat mit einem Monarchen an seiner Spitze, was ihm später – zu Unrecht – den Ruf eines re‐ aktionären preußischen Staatsphilosophen einbrachte. Denn nach Hegel kann man sehr wohl sagen, dass die „Souveränität des Staats“ (Hegel 1970, S. 442 § 278) „im Volke residiere“ (ebd., S. 446 § 279). Hegel erkannte also die Rose der Volkssouve‐ ränität im Kreuz eines Staates, in dem „das Volk, insofern mit diesem Worte ein be‐ sonderer Teil der Mitglieder eines Staats bezeichnet ist, den Teil ausdrückt, der nicht weiß, was er will.“ (ebd., S. 469 § 301 Anmerkung). Meist freilich gehöre „die Volkssouveränität zu den verworrenen Gedanken, denen die wüste Vorstellung des Volkes zugrunde liegt“ (ebd., S. 447 § 279) – nämlich die Vorstellung des Volkes als einer „formlosen Masse“ ohne die „Bestimmungen, die nur in dem in sich geformten Ganzen vorhanden sind – Souveränität, Regierung, Gerichte, Obrigkeit, Stände und was es sei“ (ebd.). Doch hat Hegel auch der „formlosen Masse“ einen Platz im Staat eingeräumt, und zwar in der öffentlichen Meinung, die er als eine, wenn auch zwei‐ deutige, Existenzform des politischen Willens anerkannt (ebd., S. 483 ff. § 317) hat. Was aber kann Volkssouveränität vernünftigerweise bedeuten? Hegels Modell des Staates sieht das Volk als ganz in den Aufbau der staatlichen Institutionen integriert an. Freilich nicht als ein „Aggregat von Privaten“ (Hegel, 1970a, S. 468 § 544) son‐ dern schon als ein Volk, das in Familien und in den Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft gegliedert ist, also in Gemeinden und Korporationen. In diesen Institu‐ tionen ist der Bürger nicht nur privat, sondern hat eine öffentliche Existenz. Die Staatsorganisation sorgt nun nach Hegel dafür, dass tatsächlich ein allgemeiner Wille

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gebildet wird, der das allgemeine Beste zum Ziel hat und auch realisiert – weil die „großen Interessen“ (Hegel 1970, S. 480, § 311) der Gesellschaft alle Berücksichti‐ gung finden. Gegenstand des allgemeinen Willens ist also ein – alle Interessenge‐ gensätze zwischen partikularen Gruppen übergreifendes – allgemeines Interesse. Der allgemeine Wille ist daher der vernünftige Wille des Volkes, also der Wille, den das Volk vernünftigerweise haben sollte. Insofern also im Staat dieser Wille des Volkes realisiert wird, kann man davon sprechen, dass das Volk tatsächlich Macht hat – frei‐ lich das Volk als verfasstes, nicht als „Aggregat“ von Privaten. Doch von diesem Aggregat ist ohnehin schwer zu sehen, wie es überhaupt ein mögliches Subjekt von Macht bilden sollte. Im Staat tritt das Volk „nicht als in die Einzelnen atomistisch aufgelöst und nur für einen einzelnen und temporären Akt sich auf einen Augenblick ohne weitere Haltung versammelnd“, sondern in „organischer Weise“ in die „ohnehin konstituier‐ ten Genossenschaften, Gemeinden und Korporationen gegliedert“ ein (ebd., S. 476 § 308). „Der konkrete Staat ist das in seine besonderen Kreise gegliederte Ganze, das Mitglied des Staates ist ein Mitglied eines solchen Standes; nur in dieser seiner objektiven Bestimmung kann es im Staate in Betracht kommen.“ (ebd., S. 477 § 308). Der „Vorstellung eines losen unbestimmten Wählens“ (ebd., S. 480 § 311) kann Hegel daher nichts abgewinnen – die Bildung eines wirklichen allgemeinen In‐ teresses und Willens sieht er dadurch „der Zufälligkeit preisgegeben“ (ebd.). Die „Zufälligkeit“ „eines losen unbestimmten Wählens“ würde Hegel wohl auch in den Wahlen und Abstimmungen erkennen, in denen das Volk – dem Grundgesetz zufolge – die Staatsgewalt ausübt. In Wahlen und Abstimmungen trifft das Volk tat‐ sächlich eine letzte und nicht begründungsbedürftige Entscheidung. Es ähnelt darin dem Monarchen der Hegelschen Rechtsphilosophie, der zwar nicht der Souverän ist, die „Souveränität des Staats“ jedoch in einzigartiger Weise verkörpert. Dieser Mon‐ arch hat, wie das Volk in Abstimmungen, „die letzte Entscheidung über die großen Angelegenheiten und für die wichtigen Angelegenheiten des Staats“; die „das Ab‐ wägen der Gründe und Gegengründe, zwischen denen sich immer herüber und hin‐ überschwanken lässt, abbricht und sie durch das »Ich will« beschließt und alle Handlung und Wirklichkeit anfängt“ (ebd., S. 445 § 279). Der Hegelsche Monarch ist indes ein Teil des Staatsorganismus und seine Ent‐ scheidungen daher nicht einfach willkürlich; „vielmehr ist er an den konkreten Inhalt der Beratungen gebunden, und wenn die Konstitution fest ist, so hat er oft nicht mehr zu tun, als seinen Namen zu unterschreiben.“ (ebd., S. 449 § 279 Zusatz). Das in geheimen Wahlen und Abstimmungen „die Staatsgewalt ausübende“ Volk er‐ scheint dagegen in der Tat als ein „Aggregat von Privaten“. Nach Carl Schmitt ver‐ wandelt „die konsequente Durchführung der geheimen Einzelwahl und Einzelab‐ stimmung […] den Staatsbürger, den citoyen, also die spezifisch demokratische, d.h. politische Figur, in einen Privatmann, der aus der Sphäre des Privaten heraus – mag

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dieses Private nun seine Religion oder sein ökonomisches Interesse oder beides in Einem sein – eine Privatmeinung äußert“ (Schmitt 1928, S. 245). Kann aber ein Ag‐ gregat von Einzelnen Souverän sein? Sicher ist es kein Subjekt von Macht. Der Eindruck der Machtlosigkeit des souveränen Volkes ist auch heute wieder präsent. Ein wachsender Teil der Bevölkerung oder des Volkes misstraut inzwischen den Institutionen der politischen Willensbildung sowie den politischen und kulturel‐ len Eliten. Dieses Misstrauen schlägt sich im Auftreten sogenannter populistischer Bewegungen und Parteien (Front National, Alternative für Deutschland, Podemos, Cinque Stelle etc.) nieder. Der Ausdruck „Populismus“ wird in der Regel abwertend gebraucht: Populisten neigen danach zur Demagogie, zu unangemessenen Simplifi‐ zierungen politischer Probleme und zu einer pauschal elitenfeindlichen Haltung. Vor allem aber beanspruchten Populisten für sich, ausschließlich selbst das Volk zu re‐ präsentieren oder alleine dieses Volk zu sein.18 Ob „Populismus“ mehr ist als eine Spielmarke der politischen Auseinander‐ setzung, nämlich ein Begriff mit einer abgrenzbaren Bedeutung, einer definitio, soll hier nicht Thema sein. In unserem Kontext ist indes von Interesse, dass dieselben Phänomene, auf die die „populistischen“ Bewegungen und Parteien reagieren, auch dem Republikanismus zu einer gewissen Renaissance verholfen haben – so bei JeanClaude Michéa (2014) und Egon Flaig (vgl. Flaig 2013; 2017), der sich häufig auf Hannah Arendt beruft. Dieser Republikanismus macht nicht so sehr geltend, dass die politischen Eliten die „Interessen des Volkes“ zunehmend missachteten, sondern vielmehr, dass sie die öffentliche Debatte in unzulässiger Weise einzuschränken ver‐ suchen, indem sie unerwünschte Auffassungen als unmoralisch oder eben „populis‐ tisch“ diskreditierten19 und kriminalisierten (Flaig 2017, S. 195 ff.; S. 283 ff.). In die‐ ser Einengung der politischen Debatte sieht Flaig „die erste und fundamentalste Di‐ mension politischer Freiheit“ gefährdet, „die Freiheit des Gedankens und Wortes, was die Griechen Parrhesia nannten“ (Flaig 2013, S. 137 f.).20 Ohne diese Freiheit des Gedankens und Wortes funktioniert indes auch die Haber‐ massche „prozeduralisierte Volkssouveränität“ nicht. Und wenn die Diagnose des Republikanismus richtig sein sollte, dann gäbe es derzeit innerhalb des Verfassungs‐ staates auch keine Volkssouveränität, so wie Hegel sie sich vorstellt. Für Flaig und 18 So Müller 2016, S. 42 ff. 19 „Populist ist, wer das Spektrum politischer Optionen im Blick auf virulente, aber nicht reprä‐ sentierte Auffassungen erweitert.“ (Schödlbauer 2017). 20 Michéa sieht in der Bezeichnung „Populismus“ ein Instrument solcher Einengung der politi‐ schen Freiheit: „Mithin reicht es, den Populismus […] mit einer perversen Variante des klassi‐ schen Faschismus gleichzusetzen, damit sich die gewünschten Auswirkungen mit bestürzender Leichtigkeit entfalten können. Wenn Sie etwa auf die Idee kommen, das Volk zu einem be‐ stimmten, für seine Zukunft ausschlaggebenden Problem abstimmen zu lassen oder aber die Einkünfte der großen Raubtiere der Geschäftswelt für unanständig zu halten, sollte Sie Ihre in‐ nere Stimme sofort davor warnen, nicht einem zweifelhaften »Populismus« zu verfallen und folglich von der (faschistischen) Bestie eingeholt zu werden.“.

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Michéa ist in jedem Falle „die Republik in Gefahr“. Sammeln sich daher in den „po‐ pulistischen Bewegungen“ „die Bürger, welche in der Stunde der Gefahr der Ruf der Patrioten zu erreichen und in den großen Schmelztiegel der res publica aus allen ge‐ sellschaftlichen und parteipolitischen Bindungen herauszuschmelzen imstande ist,“ und stellen diese Bürger „das Volk in seiner wahren Gestalt dar“ (Arendt 1994, S. 198), so dass der Ruf „Wir sind das Volk“ sein Recht hätte? Nach Hannah Arendt, die Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft für Kants eigentliche politische Philoso‐ phie hält, wäre das wohl eine Frage des „politischen Geschmacks“. Für den gegen‐ wärtigen Republikanismus jedenfalls kann die Macht des Volkes offenbar nur „im Modus der Belagerung“ (Habermas 1989, S. 31) ausgeübt werden.

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Georg Zenkert Der Verfassungsstaat als Organisation reflexiver Macht

Trotz der zunehmenden Bedeutung internationaler Verflechtungen und global ope‐ rierender Unternehmen sind Staaten gegenwärtig die entscheidenden politischen Ak‐ teure. Dennoch gilt die Organisationsform des Nationalstaates in vielen Theoriede‐ batten als Auslaufmodell, das lediglich in einer Übergangsphase noch von Bedeu‐ tung ist und langfristig von supranationalen Strukturen abgelöst werden wird. Diese Auffassung basiert jedoch weniger auf einer Analyse der bestehenden Verhältnisse als auf grundbegrifflichen Vorentscheidungen, die bis in die methodischen Prämis‐ sen sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung reichen. Diese Weichenstellung wird mit der Festlegung der Kategorie der Macht vollzogen, die einer Analyse des Staates zugrunde liegt.

1. Die Reduktion des Staates auf Funktionen der Herrschaft Angesichts der Aufmerksamkeit, die das Regierungshandeln in der öffentlichen Wahrnehmung und in der politikwissenschaftlichen Analyse genießt, ist es kaum verwunderlich, dass Macht primär als Herrschaft betrachtet wird. Aber auch wenn Herrschaft und die ihr zugrunde liegenden Strukturen als dominante und auffälligste Erscheinungsform des Staates gelten können, hat die Fixierung auf das Phänomen der Herrschaft tiefere Ursachen: sie ist methodologisch begründet. Am markantesten wird diese Weichenstellung in der wirkungsmächtigen Herrschaftssoziologie Max Webers vollzogen. Seine kanonisch gewordene Definition der Herrschaft als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“,1 beansprucht für sich den Vorteil einer rein strukturellen, von historischen Konstellationen unabhängigen Begriffsbestimmung. Tatsächlich ist sie jedoch weni‐ ger voraussetzungslos, als sie auf den ersten Blick zu erkennen gibt. Hinter dem scheinbar unverfänglichen Begriff der „Chance“ verbirgt sich nicht nur die intrapsy‐ chische Bereitschaft zum Gehorsam, sondern die Vorstellung etablierter Ordnungs‐ verhältnisse, die im Idealfall als Rechtssystem institutionalisiert sind. Webers Defi‐ nition interpretiert diesen Zusammenhang zwar nüchtern als bloße Tatsache. Aber tatsächlich rechnet er stillschweigend mit der Analogie von soziologischer und 1 Weber 51972, S. 28.

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rechtlicher Ordnung. Webers Herrschaftssoziologie basiert insgesamt auf der Unter‐ stellung, dass der Herrschaftsanspruch im Ganzen akzeptiert sei und dass damit so‐ ziologisch der Sachverhalt vorliegt, der sich normenlogisch als mehr oder weniger stringentes Rechtssystem abbilden lässt. Funktionierende Herrschaft ist legitime Herrschaft. Es scheint folglich eine untergründige Verbindung von Normativität und faktischer Macht zu geben, der durch die strikte Trennung der Sphären Rechnung zu tragen ist. Diese Analogie ist die Prämisse der Analyse jeder institutionalisierten Form von Herrschaft, die im Rahmen eines politischen Verbandes zu einer dauerhaf‐ ten Ordnung geronnen ist. Obwohl die Geltung von Rechtsnormen kein bloßes Fak‐ tum ist und die soziale Wirklichkeit von Normen geprägt wird, folgt Weber den me‐ thodologischen Prämissen des Neukantianismus, der zwischen Tatsachenwissen‐ schaft und Normwissenschaft strikt unterscheidet. Mit der scharfen Trennung von Normen und Tatsachen glaubt er die Reinheit soziologischer Betrachtung in Abset‐ zung von der rechtswissenschaftlichen Analyse zu gewährleisten. Die Entkoppelung beider Sphären und die Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen basiert auf der Vor‐ aussetzung ihrer Synchronizität,2 die sich empirisch allerdings weder bestätigen noch widerlegen lässt. Damit ist nicht nur der Zusammenhang von Normativität und Faktizität per definitionem ausgeblendet, sondern auch der Blick auf den Staat als Machtgebilde verstellt. Das Pendant der Soziologie bildet eine von ihren sozialen Bedingungen abstrahie‐ rende Rechtswissenschaft wie sie im Umkreis Webers Georg Jellinek entwickelt hat. Jellinek ignoriert nicht die den Staat fundierende Macht, denn ein „Merkmal des Staates ist das Dasein einer Staatsgewalt. Staatsgewalt aber ist nicht weiter ableitba‐ re Herrschergewalt“.3 Jellinek benennt also die Doppelnatur des Staates. Mit dem Argument, dass selbständige Herrschergewalt nur dann gegeben ist, wenn ihre Orga‐ nisation ausschließlich auf eigenen Gesetzen beruht, wird dann jedoch die Beschrän‐ kung des Blickwinkels auf die Systematik der Rechtsnormen unter Voraussetzung der Grundnorm gerechtfertigt. Die juristische Staatslehre kann sich auf den Skopus des Rechts beschränken. Dieser Positivismus des Rechts findet sein Spiegelbild in der positivistischen Auffassung des sozialen Handelns, die Rechtsnormen nur insofern in Betracht zieht, als sie Determinanten des Handelns sind. Dazu reicht die Feststellung aus, dass be‐ stimmte Vorstellungen von der Geltung der Rechtsnormen faktisch gegeben und weitverbreitet sind und damit das Handeln der Mitglieder der jeweiligen Gesell‐ schaft prägen. Folgerichtig werden auch praktische Organisationen und insbesondere der Staat nach diesen methodischen Prämissen interpretiert. Der Staat, nach Weber eine Anstalt mit Gewaltmonopol, löst sich in analytischer Betrachtung auf in Hand‐ lungszusammenhänge in den Strukturen von Herrschaft. „Staat“ ist nur eine von vie‐ 2 Siehe dazu Vollrath 1988, S. 93 ff. 3 Jellinek 1900, S. 446.

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len Kategorien, die das menschliche Zusammenhandeln bezeichnen, nur „ein Ablauf von menschlichem Handeln besonderer Art“.4 Zugleich und unabhängig davon fasst die Rechtswissenschaft den Staat als Rechtsgebilde auf und deutet diesen im logi‐ schen Gefüge der Rechtssätze als eine normative, auf Geltungsansprüche angelegte Konstruktion. Die soziologische Analyse politischer Verhältnisse ist damit von allen normativen Fragen entlastet, so wie die rechtswissenschaftliche Betrachtung die po‐ litischen Bedingungen in ihrer normenlogischen Rekonstruktion ignorieren kann. Der methodologische Dualismus des Systems der Rechtsnormen und der unter dem Gewaltmonopol vollzogenen Handlungen, die in der Regel im Glauben an die Gel‐ tung der Normen und unter dem Eindruck der Sanktionsdrohungen vollzogen wer‐ den, lässt jede Erörterung des Zusammenhangs beider Sphären als sinnlos erschei‐ nen. Der Staat als diejenige Organisationsform, in der von einer engen Verschrän‐ kung von Machtstrukturen und Normen ausgegangen werden muss, verliert parado‐ xerweise seine Kontur in einem Zugriff, der den Gegenstand nach seinen methodi‐ schen Prämissen konstruiert und damit eine sachangemessene Analyse dieser Kon‐ stellation verhindert. Die Reduktion von Macht auf Herrschaftsbeziehungen und die Auflösung des Staates in Einzelhandlungen sind die Konsequenz einer zweifelhaften methodologi‐ schen Vorentscheidung, die einer Untersuchung der sich im modernen Staat manifes‐ tierenden politischen Macht im Wege steht. Die staatliche Verfassung erscheint, in diesem Licht betrachtet, nur als Bündel von Rechtssätzen, deren Wirksamkeit von ihrer Durchsetzung abhängt. Die radikalisierte Version dieser Auffassung des Staates in Ablösung von der sozialen Wirklichkeit, von der konkreten Realität der Institutio‐ nen und der kulturellen Voraussetzungen des Staates entwickelt der Rechtspositivis‐ mus Hans Kelsens, in dessen Rechtslehre der Staat sich zu einer reinen Normenord‐ nung verflüchtigt. Die postulierte „Identität von Rechtsordnung mit der Staatsord‐ nung“5 löst den Staat auf in Rechtsbeziehungen.6 Die Einheit des Staates verbürgt die Einheit und Geschlossenheit der Rechtsordnung. Seine Realität zeigt sich ledig‐ lich darin, dass er als Ordnung mit Zwangsgewalt in Erscheinung tritt. So wird auch unter den Prämissen der reinen Rechtslehre, die sich jedes Bezugs auf die soziale Wirklichkeit enthält, implizit eine Entscheidung getroffen hinsichtlich der durch den Staat verkörperten Macht. Die soziale Wirksamkeit des Rechts erscheint hier als Zwangsgewalt, die das Handeln der Individuen steuert. Im Rechtspositivismus erüb‐ rigt sich damit eine weitere Bezugnahme auf die staatliche Organisation. Umgekehrt lässt sich konstatieren, dass erst die Reduktion von Macht auf das Phänomen der Herrschaft diese Eskamotierung des Staates ermöglicht. Unter diesen Voraussetzun‐

4 Weber 1973, S. 111. 5 Kelsen 1925, S. 78. 6 Siehe dazu Groh 2010, S. 122 ff.

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gen ist es nicht verwunderlich, wenn in den von Weber nachhaltig geprägten Sozial‐ wissenschaften Macht nahezu ausschließlich als Herrschaft thematisiert wird. Von ganz anderen Voraussetzungen ausgehend und in größtmöglicher Distanz zu juridischen Schemata führt der für die sozialwissenschaftliche Begriffsbildung des 20. Jahrhunderts nicht weniger wirkmächtige Ansatz von Michel Foucault hinsicht‐ lich der Konzeption des Staates zu einem vergleichbaren Resultat. Seine breit ange‐ legte Geschichte der Gouvernementalität untersucht die Erscheinungsformen der Macht, die im weitesten Sinne dem Typus der Regierung entsprechen. In den Fokus geraten damit alle Praktiken, die der Disziplinierung dienen. Seine bislang höchste Entwicklungsstufe findet dieser Typus im modernen Verwaltungsstaat.7 Der Staat ist nach Foucault nichts anderes „als eine Art und Weise des Regierens“.8 In der Konse‐ quenz dieser Betrachtungsweise erscheint eine Analyse der staatlichen Institutionen, der dem Staat zugrunde liegenden normativen Überzeugungen und der unterschiedli‐ chen Organisationsformen als irrelevant. Sie gelten als bloße Epiphänomene der Ra‐ tio des Staates, die Foucault in der Staatsräson identifizieren zu können glaubt, der Idee und Strategie einer umfassenden, die Bevölkerung durchdringenden Diszipli‐ nierung. Der Begriff des Staates verflüchtigt sich so zum bloßen Interpretament einer regulativen, erkenntnisleitenden Idee.9 Unter diesem Raster erscheinen alle Maßnahmen und Einrichtungen als Technologien, die in den Sphären des diploma‐ tisch-militärischen Komplexes und der ökonomischen Welt veranschlagt werden. Das Phänomen des Staates wird absorbiert von einer Methodologie, die den Begriff des Staates kategorial auflöst und dadurch die gesamte politische Praxis dem Sche‐ ma der Gouvernementalität, der umfassenden Regierung subsumiert. Angesichts dieser Sublimierung des Begriffs des Staates in ein politikwissen‐ schaftliches Interpretationsmuster oder in eine regulative Idee, die in den sozialwis‐ senschaftlichen Diskursen dominiert, erscheint die realhistorische Verabschiedung des Staates, die sich als ein unverkennbarer Trend abzeichnet, eigenartig verspätet. Unter dem Eindruck der staatlichen Gewaltexzesse im 20. Jahrhundert wird die Dia‐ gnose, dass der Staat obsolet sei, mit einer unverkennbaren Erleichterung verkün‐ det.10 War ehedem die Vision einer Aufhebung des Staates marxistischer Ge‐ schichtstheorie vorbehalten, so gilt es inzwischen auch unter vielen Vertretern nüch‐ terner empirischer Sozialwissenschaft als ausgemacht, dass der Staat ausgedient hat. Er wird als überfordert eingeschätzt, weil er den globalen Herausforderungen nicht gewachsen, das heißt zu klein zu sein scheint, und zugleich wird seine Legitimität in Frage gestellt, weil sich seine Organisationstrukturen gegenüber der Lebenswelt ver‐

7 8 9 10

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Foucault 2006, S. 162 f. Ebd., S. 359. Ebd., S. 414. So etwa Reinhard 1999, S. 535. Weitere Hinweise bei Skinner 2009, S. 162.

selbständigt haben und den Partizipationserwartungen nicht gerecht werden, das heißt also, weil er zu groß ist. Diesem Dilemma ist nach Benjamin Barber dadurch zu entkommen, dass sich Städte, also regionale Organisationen, global vernetzen.11 Metropolen sollen sich, so lautet die Empfehlung, zu einem weltweiten Netz zusammenschließen, um mit de‐ mokratischer Beteiligung die Probleme der Weltgesellschaft zu lösen. Staaten wären dann allenfalls noch Zulieferer im Dienst der global vernetzten basisdemokratisch organisierten Regionen. Allerdings verkennt diese Einschätzung die fundamentale Bedeutung der Staaten gerade als stabilisierende Organisationen, die sowohl die Fol‐ gekosten der Globalisierung übernehmen müssen als auch der konfliktträchtigen Zersplitterung der Regionen entgegenwirken. Die zentralen Funktionen des Staates, die Garantie der Rechtssicherheit und der Strukturen demokratischer Willensbildung sind in ihrer wechselseitigen Bedingtheit nicht oder nur mit großen Einschränkungen hinsichtlich des Wirkungsgrades auf an‐ dere Organisationsformen zu übertragen. Wenn Staaten nur als Disziplinierungsan‐ stalten in den Blick kommen, wird verkannt, welche normativen Erwartungen an den modernen Staat gestellt werden. Diese lassen sich in drei Kategorien zusammen‐ fassen: Der Staat soll erstens die Spielräume individueller Lebensführung und die Entwicklung freier Gesellschaften garantieren. Zweitens soll er die Herrschaft des Rechts gewährleisten, das heißt die Durchsetzung des geltenden Rechts und die Ver‐ rechtlichung politischer Herrschaft. Drittens schließlich verbindet sich gegenwärtig mit ihm die Erwartung, dass er die Rahmenbedingungen für demokratische Ent‐ scheidungsprozesse bereitstellt. Diese Erwartungen hat der moderne Verfassungs‐ staat im Großen und Ganzen erfüllt. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Nationalstaates zeigen zwar, dass moderne Staaten nicht per se demokratisch sind. Aber mit ihrem Legitimationsanspruch, der sich auf die Gesamtheit des Personen‐ verbandes beruft, bieten sie günstige Voraussetzungen dafür, Meinungs- und Wil‐ lensbildungsprozesse nach demokratischen Standards zu organisieren.

2. Verfassung als Organisation politischer Macht Die Leistungen des Staates beruhen auf der Macht, die er verkörpert. Es ist offen‐ sichtlich, dass es sich dabei nicht allein um Regierungsmacht, um regulative Macht oder Herrschaft handeln kann, obwohl dies die offensichtlichste Erscheinungsform von Macht darstellt. Die Konzentration auf die Funktion der Regierung und das Ge‐ waltmonopol als Charakteristikum des Staates verzerrt die Wahrnehmung ebenso wie die Priorisierung der Frage nach der Legitimation von Herrschaft. Die insbeson‐

11 Barber 2013.

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dere für das Verständnis demokratischer Herrschaft drohenden Aporien und Parado‐ xien, in die unweigerlich das Bild eines sich selbst regierenden Volkes führen muss, lassen sich nur vermeiden, wenn die methodologisch bedingte Opposition von Norm und Faktizität überwunden wird und ein umfassendes Konzept der Verfasstheit des Staates den Ausgangspunkt der Analysen bildet. Eine unvoreingenommene, weil methodisch offene Betrachtung des Staates ist am ehesten dann möglich, wenn der Staat in seiner Gesamtverfassung betrachtet wird. Als Verfassung ist dabei nicht nur die Zusammenstellung übergreifender Rechtsnor‐ men zu verstehen, aber auch nicht nur die besondere Form der Herrschaft, sondern die soziale und politische Ordnung und Organisationsform eines Staates, die Ziele und Grenzen staatlicher Entscheidungsgewalt bestimmt.12 Für die neuere Verfas‐ sungstheorie ist immer noch die von Carl Schmitt prägnant skizzierte Unterschei‐ dung rechtstaatlicher und politischer Prinzipien grundlegend.13 Keine Verfassung be‐ steht allein aus rechtstaatlichen Prinzipien. Das Rechtstaatsprinzip mit den Bestand‐ teilen der Grundrechte und der Gewaltenteilung legt die Form der Regierung fest und definiert die Grenzen staatlicher Machtausübung, kann aber selbst keinen Staat konstituieren. Die politischen Formprinzipien der Verfassung werden durch recht‐ staatliche Prinzipien eingegrenzt, können diese jedoch weder ersetzen noch von rei‐ nen Rechtsformen ersetzt werden. In der unterschiedlichen Akzentuierung dieser Konstellation positionieren sich liberale und republikanische Politikverständnisse in ihren jeweiligen Färbungen. Diese Priorisierungen bleiben aber arbiträr, so lange sie nicht auf der Basis einer Analyse der Organisation des Staates als Machtgefüge ent‐ wickelt werden. Wenn sich der Staat durch seine Verfassung konstituiert und die Verfassung auf die verfassunggebende Gewalt 14 zurückzuführen ist, so die republikanische Perspek‐ tive, kann diese Instanz die Verfassung ebenso wieder aufheben und ersetzen. Die Verfassung hat gemäß dieser Prämisse den Status einer Verfahrensordnung, die je‐ derzeit umgestoßen werden kann. Die oppositionelle liberale Auffassung geht demgegenüber von unverbrüchlichen Grundgesetzen aus, die explizit als Einschränkung der Kompetenz der verfassungge‐ benden Gewalt verstanden werden. Eine eingeschränkte Souveränität freilich ist mit der klassischen Idee der Souveränität, wie sie von Jean Bodin geprägt wurde schlechterdings unvereinbar. Konsequenterweise muss auch der Gedanke der Volks‐ souveränität dort verabschiedet werden, wo die Herrschaft der Gesetze und die Un‐ antastbarkeit einer rechtsstaatlichen Verfassung postuliert wird. Dies ist der Preis der

12 Böckenförde 1991a, S. 86. 13 Schmitt 1928, § 16. 14 Dazu Böckenförde 1991a, S. 90 ff.

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vom Liberalismus betriebenen Entfremdung von Verfassung und politischer Macht.15 Habermas’ rechtsphilosophische Überlegungen spielen sich in diesem Span‐ nungsfeld ab. Er glaubt die Opposition zu überwinden, indem er die fundamentalen subjektiven Rechte einerseits und das Prinzip der Volkssouveränität andererseits als gleichursprünglich betrachtet.16 Die entscheidende Hypothese, „dass das System der Rechte genau die Bedingungen angibt, unter denen die für eine politisch autonome Rechtsetzung notwendigen Kommunikationsformen ihrerseits rechtlich institutiona‐ lisiert werden können“,17 basiert auf der Identifikation der rechtstaatlichen Prinzipi‐ en mit der Verfassung und einer Konzeption von Meinungs- und Willensbildung, die im Konsens der Stimmen das Ideal der Demokratie erfüllt sieht. So wird das Verfas‐ sungskonzept verkürzt auf ein System von Rechten und das politische Institutionen‐ gefüge ersetzt durch Kommunikationsprozesse, deren Ziel die Einstimmigkeit ist. In diesem Bild findet politische Macht keinen Platz. Der Titel einer kommunikativen Macht verschleiert nur die Verlegenheit, in die ein auf Herrschaft verkürztes Macht‐ verständnis führt, das Habermas von Weber erbt. Das im Namen normativer Rein‐ heit verdrängte Phänomen der Macht taucht indessen als schicksalhafte Gewalt wie‐ der auf, der menschliches Tun ausgesetzt ist.18 Die Verfassung des Staates beschränkt sich nicht auf dessen rechtliche Struktur, sondern umfasst neben den rechtstaatlichen Formen auch die politische, im besonde‐ ren Falle also die demokratische Organisation. Um der Gefahr zu entgehen, die ana‐ lytische Unterscheidung von Rechtstaat und Demokratie als eine ontologische Diffe‐ renz zu missdeuten, ist es notwendig, die tradierte Dichotomie von Normativität und Faktizität zu vermeiden und stattdessen, von einem umfassenden Begriff der Verfas‐ sung ausgehend, die normativen Implikationen der verfassten Macht zu identifizie‐ ren, die der demokratische Verfassungsstaat verkörpert. Die vor allem in der amerikanischen Verfassungsdiskussion entfachte Auseinan‐ dersetzung über die Kompatibilität von Demokratie und Konstitutionalismus liefert Hinweise auf diese Verschränkung von Normen und Machtkonfigurationen in der Verfassung. Stephen Holmes deutet die Verfassungsregeln im Sinne von konstituti‐ ven, das heißt ermächtigenden Regeln, die analog zu Spielregeln, Möglichkeiten des Handelns stiften.19 In der Dimension des Politischen äußert sich diese Möglichkeit als reale Macht, verstanden als der Inbegriff der Möglichkeiten einer Handlungsge‐ meinschaft. Darunter ist zunächst nicht die Macht zu verstehen, die eine Gemein‐ 15 16 17 18 19

Greven 1991. Habermas 1992. Ebd., S. 134. Zur kritischen Einschätzung des Liberalismus z. B. Sandel 1996. Holmes 1988; u. Ders. 1994. In diese Richtung weist auch der Vorschlag von Richard Dworkin (1984), Demokratie auf der Grundlage einer gemeinschaftlichen Konzeption politischen Han‐ delns zu verstehen.

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schaft nach außen entfalten kann, sondern die Macht, die sich in der Gemeinschaft als solche manifestiert. Die Etablierung einer organisierten Handlungsgemeinschaft mit mehr oder weniger deutlich fassbaren Kriterien der Zugehörigkeit und prozedu‐ ralen Regeln ist Ausdruck ursprünglicher politischer Macht.

3. Formen der Macht Um diesen Zusammenhang zu erschließen muss der für die politische Philosophie und die Sozialwissenschaften charakteristische Primat der Herrschaft abgelöst wer‐ den durch eine differenzierte Konzeption von Macht, die sich begriffsgeschichtlich detailliert rekonstruieren lässt.20 Hannah Arendts politisches Denken vermittelt wichtige Anstöße für die neuere Diskussion. Sie versteht Macht als die Fähigkeit, „sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu han‐ deln.“21 Manifestationen der Macht sind die Verfassung als Dokument des Grün‐ dungsaktes und die öffentliche Meinung als Medium der Vergemeinschaftung.22 Diese Aspekte der Macht, die sich nicht auf Herrschaft zurückführen lassen, werden allerdings nur kursorisch erwähnt und nicht systematisch aufeinander bezogen. Ihr Machtbegriff bleibt einem Ideal revolutionärer Handlungsmacht verhaftet, die sich in den Akten der Einsetzung der Verfassung und ihrer wiederholten Bestätigung er‐ schöpft. Arendt überblendet zwei Typen von Macht, Handlungsmacht und die Macht der Gemeinschaft, die sich auf der Folie der begriffsgeschichtlichen Überlieferung systematisch unterscheiden lassen. Handlungsmacht und die durch Gemeinsamkeit konstituierte Macht bilden zwei unterschiedliche Typen, die zusammenhängen, aber nicht auf einander oder auf einen einzigen Machttypus reduzierbar sind. Macht ist in einem elementaren Sinne operative Macht, beruhend auf dem Handlungsvermögen dessen, der etwas ins Werk zu setzten vermag. Eine andere Form der Macht manifestiert sich in der fundamenta‐ len Gemeinsamkeit als konstitutive Macht, die als unhintergehbare Bedingung jegli‐ cher politischer Organisation verstanden werden kann. Macht erscheint schließlich als Herrschaft, die in der Organisationsstruktur von Staaten sichtbaren Ausdruck fin‐ det in der Rechtsordnung und den traditionellen Gewalten, der Legislative, Exekuti‐

20 Dazu Zenkert 2004. 21 Arendt 1970, S. 45. Die in Anlehnung an amerikanische Gründungsmythen gewählte kontrak‐ tualistische Metaphorik verleitet zu Missverständnissen und ist systematisch unzureichend. 22 Arendt 1974, S. 183 ff.; S 277 ff. Die Idee von Kooperation, die nach Arendt den Kern des Machtphänomens bildet, scheint keine Asymmetrie zuzulassen und gerät deshalb in einen schroffen, nicht vermittelbaren Gegensatz zu den Strukturen der Herrschaft. Deshalb wird die‐ se Auffassung der Macht der Machtkonstellation, die eine institutionalisierte Verfassung ver‐ körpert, letztlich nicht gerecht.

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ve und Judikative. Im Zusammenhang der Sphären von regulativer, operativer und konstitutiver Macht ergibt sich ein komplexes Bild des modernen Verfassungsstaats. Der Typus der operativen Macht oder Handlungsmacht umfasst die Möglichkei‐ ten, die sich manifestieren im Vermögen und im Können der Handelnden. Handeln vollzieht sich nicht in der Perspektive isolierter Individuen, sondern steht sowohl hinsichtlich seiner Genese als auch seiner Wirksamkeit im Kontext des Handelns an‐ derer. Die aus der Verschränkung der Handlungsperspektiven hervorgehenden Chan‐ cen gemeinsamen Handelns bilden die Voraussetzung für politisches Handeln. Die Koordination und Organisation des Handelns eröffnet neue Möglichkeiten und bietet eine sowohl quantitative als auch qualitative Erweiterung des Handlungsraums. Das Medium dieser Form der Macht bilden die Meinungen, deren politisch relevante Ge‐ stalt als öffentliche Meinung apostrophiert wird.23 Handlungsmacht im politischen Maßstab basiert auf dem Austausch der Meinungen, auf gegenseitiger Korrektur und Beleuchtung der Handlungsperspektiven und schließlich auf der gemeinsamen Ver‐ pflichtung hinsichtlich allgemeiner kollektiver Zielsetzungen. Die prominente Rolle der Beratung in der aristotelischen Konzeption der Politik ist das klassische Paradig‐ ma operativer Macht, das bis in die Neuzeit wirkt und noch den modernen Demokra‐ tiegedanken prägt. Beratung erschließt den Horizont des Möglichen, in dem dann die konkreten Handlungsziele entworfen und die anstehenden Entscheidungen ge‐ troffen werden können. Diesem gewiss idealisierten Bild scheint die moderne, von den Medien geprägte Politik zu konterkarieren. Allein auch hier bildet Rhetorik im Konzert mehr oder weniger plausibler Meinungen einen entscheidenden Machtfak‐ tor. Nicht immer geht es um Argumentation im strengen Sinne. Wichtiger ist die Ar‐ tikulation grundlegender Überzeugungen im Hinblick auf aktuelle Situationen, die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Perspektiven und die Beschwörung gemeinsa‐ mer Zielsetzungen. Trotz hoher Flexibilität ist die organisatorische Leistung dieses Machttypus sehr begrenzt. Rhetorisch fundierte Macht bedarf stets neuer Aktualisie‐ rung und ist in hohem Maße der Kontingenz des Handelns ausgesetzt. Von diesem Typus ist die konstitutive Macht als eigenständiger Machtmodus zu unterscheiden. Sie verkörpert diejenige Macht, die sich in der politischen Organisati‐ on und der Verfassung manifestiert.24 Sie resultiert daraus, dass ein Gemeinwesen sich als Ganzes, als eine Einheit etabliert. Die politische Einheit stellt eine besonders intensive und wirkungsvolle Form der Macht dar, sofern sie die Voraussetzung für

23 Dazu Zenkert 1992. 24 Hegels Rechtsphilosophie bildet systematisch betrachtet diesen Typus ab, ohne den Begriff der konstitutiven Macht zu verwenden. Siehe dazu Zenkert 1995. Auf diesen Machttypus verweist auch Göhler, 1997; Ders. 2013. Operative und konstitutive Macht werden hier jedoch nicht ex‐ plizit unterschieden; so wird auch nicht deutlich, ob mit transitiver Macht die volatile Hand‐ lungsmacht gemeint ist, die dann der Institutionalisierung bedarf, oder ob dieser Machttypus selbst schon die Institutionen umfasst. Für eine umfassende historisch-systematische Darstel‐ lung der Machttypen siehe Zenkert 2014.

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die Entfaltung von Handlungskompetenz und das Fundament für die Etablierung le‐ gitimer Herrschaft ist.25 Mit Rousseaus Idee der Volkssouveränität wird dieses Kon‐ zept der Macht zu einem erfolgreichen Kampfbegriff, der jedoch auch zu vielen Missverständnissen führt und der ideologischen Verkleidung von Herrschaft Vor‐ schub leistet. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Volkssouveränität als Modus von Herrschaft gedeutet wird. Konstitutive Macht mündet jedoch nicht Herrschaft, sondern realisiert sich als Macht der verfassten Kollektivität. Sie stellt eine Voraus‐ setzung für verfassungsgemäße Herrschaft dar, kann selbst aber die Funktion regula‐ tiver Macht nicht übernehmen. Besonders die speziellere Ausprägung der konstitutiven Macht als verfassungge‐ bende Gewalt macht deutlich, inwiefern die Einheit einer konkreten Gemeinschaft, die sich rechtlich in der Verfassung dokumentiert, selbst nicht Produkt rechtsförmi‐ ger Herrschaft, sondern deren Bedingung ist. Dieser „Grenzbegriff des Verfassungs‐ rechts“26 verweist nicht nur auf die unwägbaren historischen Kräfte, dank deren sich in Zeiten revolutionärer Umbrüche Verfassungen etablieren, sondern auf die Zirkula‐ rität von kollektiver Einigung und verfassungsrechtlicher Form. Die Legitimation der Verfassung verdankt sich der verfassunggebenden Gewalt einer Gemeinschaft, die um dieses Gründungsaktes willen bereits eine zumindest informelle Form, eine zumindest rudimentäre Verfassung besitzen muss, um als Gemeinschaft auftreten zu können. Anders ließe sich die Autonomie, die eine souveräne Gemeinschaft in nor‐ mativer Hinsicht beansprucht, nicht explizieren. Dieser Zirkel beschreibt zugleich die Grenzen politischer Machbarkeit. Kollektive Macht ist nicht planmäßig aufzu‐ bauen und nur bedingt instrumentalisierbar. Grundsätzlich gilt für konstitutive Macht, dass sie stets einer institutionellen Infrastruktur bedarf. Ihre Erscheinungs‐ form ist die Organisation, die nicht auf die bloße Herrschaftsstruktur reduziert wer‐ den kann, sondern als „politische Wirkungseinheit“ zu verstehen ist.27 Als Organisa‐ tionsform bietet sie die Basis für Herrschaftsstrukturen und stiftet deren Form, aber sie erschöpf sich nicht darin. Herrschaft oder regulative Macht entsteht nur in Bezug auf operative und konstitutive Macht. Sie spannen den sozialen Raum auf, in dem auf Dauer gestellte Herrschaftsbeziehungen sich etablieren können.

4. Die Reflexivität der Macht Verfassungsstaaten sind Organisationen kollektiven Handelns, in denen der politi‐ schen Macht eine rechtliche Form geben wird. Demokratische Staaten beanspru‐ 25 In diesem Sinne fasst auch Parsons im Kontext einer Untersuchung über das Wählerverhalten in Amerika die fundamentale Funktion der Macht. Macht ist „the capacity of a social system to get things done in its collective interest“. (Parsons 1969, S. 205). 26 Böckenförde 1991b; Kalyvas 2005. 27 Heller2 1992, 238 ff.

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chen, in ihrer Form die Selbstbestimmung des Demos zu ermöglichen. Dazu bedarf es einer besonderen Anlage der Machtstruktur. Grundlegend dafür ist die konstituti‐ ve Macht, die sich in der Einrichtung des Staates als solchem manifestiert. Die Ver‐ fassung selbst stellt also eine Gestalt der Macht dar. Ihre Macht zeigt sich in den Möglichkeiten, die institutionell erschlossen werden. Damit sind zum einen die Handlungsspielräume der Individuen gemeint, die sich der Infrastruktur, der Sicher‐ heitsgarantie, der Rechtsordnung und den sozialen und kulturpolitischen Maßnah‐ men verdanken. Aus ihnen speist sich die operative Macht, für die konstitutive Macht eine Voraussetzung darstellt. Vor allem aber sind es Möglichkeiten kollekti‐ ven Gestaltens, die aus der Institutionalisierung der Kommunalität hervorgehen. Wenn generell Organisationen Möglichkeiten eröffnen, die weit über die Kapazitä‐ ten einzelner hinausgehen, so bietet eine Organisation, die sich letztinstanzlich auf sich selbst bezieht, darüber hinaus die Möglichkeit, Macht über Macht auszuüben. Macht wird in der Konstellation einer politischen Verfassung reflexiv und steuert sich selbst. Die konstitutive Macht der Verfassung wirkt über die Moderation opera‐ tiver und regulativer Macht indirekt auf sich selbst zurück. Dieser Prozess ist bis zu einem gewissen Grade steuerbar, obwohl die politische Praxis als Ganze unverfüg‐ bar ist. Diese Reflexivität der Macht ist die Voraussetzung für die Souveränität des Staa‐ tes. Entscheidend ist nicht, wie der Staat nach außen als Machtgebilde auftritt, son‐ dern wie sich seine innere Struktur als Wirkungseinheit darstellt. Zwar wird in der gegenwärtigen Diskussion die Bedeutung staatlicher Souveränität nicht selten be‐ stritten,28 da der Spielraum staatlichen Handelns eingeengt ist und viele Staaten in ein Netz von internationalen Verpflichtungen eingebunden sind, die Handlungsspiel‐ räume deutlich begrenzen. Aber diese Verpflichtungen basieren auf völkerrechtli‐ chen Verträgen und stellen insofern Selbstverpflichtungen dar, die Souveränität so wenig relativieren wie freiwillig eingegangene vertragliche Verpflichtungen einer Person deren Autonomie in Frage stellen. Maßgebend ist nicht die faktische Ent‐ scheidungsfreiheit oder die Abwesenheit äußerer Einflüsse, Bedingungen, die in kei‐ ner Epoche auch nur annähernd erfüllt waren, sondern die Verfügungsgewalt über die Verfassung als Ganze. Allen Fehldeutungen zum Trotz kann Souveränität als Macht einer Organisation über sich selbst verstanden werden.29 Die Macht einer Gemeinschaft manifestiert sich in ihrem organisatorischen Po‐ tential, also in der Integrationsfähigkeit innerhalb der Verfassung. Integration ist die zentrale Aufgabe der modernen Verfassung.30 Dies gilt insbesondere für die demo‐ kratische Verfassung. Sie steckt den Rahmen ab für die Möglichkeiten demokrati‐ 28 Den Abschied vom Souveränitätskonzept proklamiert Denninger 2000, S. 1121-1126. Für eine differenzierte Betrachtung siehe Grimm 2009; Salzborn, Voigt 2010. 29 Heller 1992, S. 245. 30 Vorländer 2002; Brodocz 2003.

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scher Selbstbestimmung unter der Bedingung pluralistischer Vielfalt. Verfassungen sind nicht nur die entscheidenden Stabilisatoren demokratischer Systeme,31 ihnen verdankt sich auch die Möglichkeit gemeinsamen Handelns unter den Bedingungen demokratischer Meinungs- und Willensbildung. Nicht im Konsens, sondern in der Integration divergierender Standpunkte und Perspektive zeichnet sich die Bildung der Gemeinschaft ab, deren Resultat, das Volk, als Subjekt demokratischer Selbstbe‐ stimmung in Erscheinung tritt. Der von Rudolf Smend in die Verfassungstheorie ein‐ geführte Begriff der Integration32 verweist auf diese wechselseitige Bedingtheit. In der Funktion der Integration offenbart sich die für jede Form politischer Praxis konstitutive Temporalität. Eine politische Gemeinschaft existiert nicht nur in der Zeit, noch ist sie der Zeit als einem fremden Medium ausgesetzt. Sie ist vielmehr selbst zeitlich, sofern sie sich im Horizont von Vergangenheit und Zukunft konstitu‐ iert und sich als zeitliche Erscheinung versteht. Das Konzept der Integration bringt diese Temporalstruktur zum Ausdruck. Integration ist kein technischer Prozess, der auf einen Abschluss zielt. Weder die bloße Einverleibung eines Individuums noch die Öffnung einer Gemeinschaft verbürgen Integration, da mit der Einbindung des einzelnen in das Ganze sowohl dieses Ganze als auch der einzelne sich verändern. Wenn die Genese einer Gemeinschaft als Integrationsprozess beschrieben werden soll, führt das Modell zunächst in eine Aporie. Der Kreis der betroffenen einzelnen, die es zu integrieren gilt, müsste idealiter identisch sein mit den Mitgliedern der künftigen Gemeinschaft, denen die Entscheidungsbefugnis bezüglich der Rechtmä‐ ßigkeit der Integration zukommt. Diese Vorstellung wäre im schlechten Sinne zirku‐ lär, weil sie voraussetzt, dass die beiden Größen, die berechtigten Interessenten und die Mitglieder der künftigen Gemeinschaft, schon vorab bestimmt sind. Genau deren Eingrenzung steht jedoch in Frage. In der Tat zeichnet die Struktur der Integration diese Wechselbeziehung nach. Integration kann immer nur auf der Grundlage einer bereits bestehenden Gruppe stattfinden. Sie setzt logisch wie praktisch eine etablier‐ te Gemeinschaft voraus und projektiert zugleich eine sich wandelnde Gemeinschaft. Somit ist die Gemeinschaft in doppeltem Sinne Relat der Integrationsbeziehung, als bereits etabliertes und als zukünftiges Gemeinwesen. In diesem Sinne kritisiert Her‐ mann Heller die Vernachlässigung der bei Smend nicht explizierten Einheit des Staates. Der Staat als „politische Wirkungseinheit“ bedarf stets eines Organs, das ein Zusammenwirken überhaupt erst ermöglicht.33 Tatsächlich setzt der Begriff der Inte‐ gration die Einheit implizit bereits voraus, in die der einzelne integriert werden soll, verweist damit aber auf die Grundfunktion der staatlichen Einheit.

31 Grimm 2001, S. 108. 32 Smend 1928, S. 18. ff. Der Terminus wird heute vorwiegend soziologisch und sozialpsycholo‐ gisch verstanden. Zur sozialwissenschaftlichen Diskussion siehe Münch 1998. 33 Heller 1992, S. 183; S. 269 ff.

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Dass Integration damit ein entscheidender Machtfaktor ist, bildet sich in der Ana‐ logie der Integrationsformen und der Machttypen ab. Smend unterscheidet persönli‐ che, funktionelle und sachliche Integration.34 Persönliche Integration basiert auf der Handlungsfähigkeit herausragender Einzelner; funktionelle Integration, bei Smend sozialpsychologisch gedeutet, bedient sich vor allem der Verfahren der Willensbil‐ dung zur Legitimation von Herrschaft und sachliche Integration vollzieht sich über die Realisierung der gemeinsamen Zwecke. Die Verbindung dieser drei Funktionen ergibt eine komplexe Struktur unterschiedlicher Machtsphären, die zum einen in sich differenziert und zum anderen aufeinander bezogen sind, wobei die Relationen zwi‐ schen den einzelnen Instanzen sich in deren Binnenstruktur niederschlagen. Gene‐ tisch betrachtet, schließt die im Prinzip der Volkssouveränität kulminierende Kon‐ stellation der konstitutiven Macht dadurch an die vorangehenden Konfigurationen an, dass deren impliziten Prämissen Rechnung getragen, ihre funktionalen Bedin‐ gungen erfüllt und ihre Defizite kompensiert werden. Logisch liegt sie den anderen zugrunde, sofern sie den Ermöglichungsspielraum eröffnet. So bezieht sich die kol‐ lektive Macht auf die anderen Machtmodi, indem sie den Horizont der Entfaltung von Handlungsmacht und die Bedingungen legitimer Herrschaft statuiert und da‐ durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Sphären steuert. Dies wird dadurch möglich, dass sich in der Stratifikation der Kollektivmacht die typologische Unter‐ scheidung der drei Machtmodi reflektiert, indem innerhalb der konstitutiven Macht, die vom Verfassungsstaat verkörpert wird, die anderen beiden Dimensionen in Ge‐ stalt des grundrechtlich garantierten Handlungsspielraums und der rationalen Orga‐ nisation von Herrschaft in Form der Gewaltenteilung mit einbezogen sind. Diese Ite‐ ration ermöglicht ein differenziertes Gefüge sich unterscheidender und aufeinander bezogener Machtfunktionen. Demokratische Verfassungen stellen dank dieser iterativen Struktur das Paradig‐ ma einer Machtsteigerung durch Regulierung und Differenzierung der Macht dar. Wenn generell jede politische Organisation zu einer Intensivierung von Macht führt, dann gilt dies ganz besonders für diejenigen Organisationsformen, die reflexiv auf‐ einander abgestimmte Machtverhältnisse entwickeln und mit der Verfassung den Prozess der Machtbildung und – in begrenztem Rahmen – der Machtmodifikation formgebend gestalten. Die Bedingungen der Machtbildung sind damit dem Bereich naturwüchsiger Entwicklung entzogen und werden selbst zum Gegenstand expliziter Gestaltung, die ihrerseits nichts anderes als ein Machtprozess ist. Dieses „Für-SichWerden“ der Macht35 stellt sich ein durch die Realisierung der normativen Erwar‐ tungen, die mit dem Prinzip der politischen Autonomie, nach demokratischem Ver‐ ständnis also dem Begriff der Volkssouveränität idealiter verbunden sind. So resul‐ tiert das gewaltige Machtpotential moderner demokratischer Staaten aus der Reflexi‐ 34 Smend 1928, S. 25 ff. 35 Plessner 1981, S. 281.

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vität der Macht. Jede rationale Differenzierung der politischen Organisation führt zu einer Steigerung der Gesamtmacht.

5. Medien der Macht Macht ist nicht nur objekthaft, sie ist ihrem Wesen nach symbolisch, und artikuliert sich deshalb notwendigerweise durch entsprechende Medien. Diese Medien haben sich evolutionär in Verbindung mit den unterschiedlichen Machttypen entwickelt. Die Pointe dieser Entwicklung liegt darin, dass die Medien sich von den Machtfor‐ men emanzipieren und eine eigenständige Bedeutung gewinnen, sofern sie sich auf die jeweils anderen Machtformen beziehen. Analog zu den Machttypen lassen sich drei Medien der Macht identifizieren, in denen sich Macht symbolisch Gestalt gibt. Zum einen realisiert sich Macht im Medium der Meinungen. Dieses äußerst vielge‐ staltige Medium entspricht dem Typus der Handlungsmacht, in dem Handlungsop‐ tionen ausgelotet, vermittelt und kritisiert werden. Die kaum zu überschätzende Be‐ deutung politischer Rhetorik ist ein Ausdruck dieser Macht. Zum anderen stellt das Recht ein Medium der Macht dar. Die bis heute kolportier‐ te Opposition von Macht und Recht, die das liberale Verfassungsrecht prägt, ver‐ deckt die „machtbildende“ Funktion des Rechts ebenso wie die „rechtbildende“ Funktion der Macht.36 Das Recht besitzt zwar als Medium seine eigene Logik, bildet aber kein geschlossenes System, das unabhängig von den Instanzen, die sich in die‐ sem Medium Gestalt geben, zu begreifen wäre. Recht dient im politischen Kontext als Erscheinungsform der Herrschaft. Herrschaftsverhältnisse können sich nur da‐ durch auf Dauer etablieren, dass sie sich den Formen des Rechts fügen. Dieses er‐ schöpft sich nicht in der Regelmäßigkeit der erwarteten Wirkung des Rechts. Die systematische Verbindung von Herrschaft und seinem Medium, dem Recht, zeigt sich in der rechtsetzenden Kraft der Herrschaft einerseits und in der Organisation der Herrschaft durch das Recht andererseits. Aufgrund dieser engen Verbindung zum Recht ist das System der Herrschaft in hohem Grade formell durchorganisiert. So er‐ gibt sich die klassische Lehre der Gewaltenteilung aus den unterschiedlichen Bezie‐ hungen von Herrschaft und Recht als Rechtsetzung, Rechtsprechung und Durchset‐ zung des Rechts. Die Realisierung von Herrschaft vollzieht sich weitgehend durch rechtmäßige Verfahren. Nur in dieser Sphäre, nicht für Politik überhaupt, gilt das Kantische Ideal einer Transformation politischer Herrschaft in die Realisierung des Rechts. Das dritte Medium der Macht ist weniger deutlich greifbar. Die Existenz einer Gemeinschaft äußert sich auf vielfältige Weise durch Symbole, durch gemeinsame

36 Heller 1992, S. 297 ff.

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Ideen und durch die Verbindung ansonsten disparater Handlungssphären. Diese Möglichkeiten stehen jedoch auch informell organisierten Assoziationen zu Gebote. Konstitutive Macht zeichnet sich aber darüber hinaus dadurch aus, dass sie sich in Institutionen manifestiert. Institutionen stellen das Medium dar, in dem sich ein poli‐ tischer Verband verwirklicht kraft der gemeinsamen Voraussetzungen und Zielvor‐ stellungen. Der differenzierte Machtbegriff korrespondiert mit der Begriffsbildung von Mau‐ rice Hauriou, der Institutionen definiert als „une idée d’œuvre ou d’entreprise qui se réalise et dure juridiquement dans un milieu social“.37 Diese Begriffsbestimmung, die sich gegen eine kontraktualistische Verengung der rechtsphilosophischen Dis‐ kussion wendet, beleuchtet die in Institutionen mündenden Prozesse kollektiver Machtbildung im Hinblick auf ihre normativen Implikationen. Die Idee eines ge‐ meinsamen Unternehmens und die sich darin bekundende Gemeinsamkeit ist die Le‐ gitimationsbasis der Maßnahmen, die durch die organisierte Macht der Institution realisiert werden. Die primäre Institutionsform ist nach Hauriou die Personeninstitu‐ tion. Der Prozess der elementaren Institutionenbildung kulminiert in der korporati‐ ven Einheit einer Gruppe, die sich ihrer Idee entsprechend durch die Organisation als kollektive Macht objektive Realität verleiht. Institutionen verkörpern demgemäß immer einen Gründungsakt, der als Machtvorgang aufzufassen ist. Die Institutionsform, die in den Personenverband eines Staates mündet, ist ge‐ kennzeichnet durch drei Aspekte, durch Einbeziehung (intériorisation), Verkörpe‐ rung (incorporation) und Personifizierung (personnification).38 Dadurch etabliert sich die Machtsphäre, die durch ihre integrative Funktion einem korporativen Sub‐ jekt Raum gibt. Dieses korporative Subjekt ist nicht nur in einem symbolischen Sin‐ ne erfahrbar, sondern kraft der Verkörperung auch handlungsfähig. Ihm können Ak‐ tivitäten und damit auch Verantwortung zugeschrieben werden. Aber nicht nur der Staat als Ganzes ist eine Institution; er verfügt auch über eine Vielzahl ausdifferen‐ zierter Funktionen, die sich in untergeordneten Institutionen manifestieren. Sie durchziehen alle Ebenen der Macht und koordinieren auch die operativen und die re‐ gulativen Instanzen. Dies gelingt ihnen deshalb, weil sie sich zugleich in deren Me‐ dien verobjektivieren. Institutionen entstehen nach den Regeln des Rechts und sie stehen unter einer leitenden Idee (idée directrice)39. Aufgrund dieser weitreichenden Funktionalität sind Institutionen dazu qualifiziert, zwischen den verschiedenen In‐ stanzen der Macht zu vermitteln, das heißt als Medium der politischen Organisation zu wirken.

37 Hauriou 1933, S. 96. 38 Ebd., S. 107. 39 Ebd., S. 121.

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6. Demokratische Macht Institutionen finden sich in jeder Konstellation staatlicher Macht. Eine besondere Qualität institutioneller Macht ist dort erforderlich, wo Macht sich demokratisch or‐ ganisiert, der Demos als Inhaber der Macht ausgegeben wird. Demokratische Verfas‐ sungen zeichnen sich in der Vielfalt ihrer historischen Erscheinungsformen dadurch aus, dass sie dem Volk einen zentralen Stellenwert im Prozess der Machtbildung zu‐ weisen. Von entscheidender Bedeutung, nicht nur für die politikwissenschaftliche Kategorisierung, sondern für die Praxis des demokratischen Staates ist die zentrale Frage: Wer ist das Volk? Etablierte Staaten definieren das Volk durch den rechtli‐ chen Status der Staatsbürgerschaft. Aber gerade die Migrationsbewegungen machen deutlich, dass damit die Frage nicht erledigt ist. Das Volk ist keine rein rechtliche, sondern eine politische Kategorie, sofern Intension und Extension des Begriffs mo‐ difizierbar sind. Zwar verdankt sich die konkrete Zusammensetzung eines Volkes einer geschichtlichen Entwicklung, die nicht zur Disposition steht und auch im Fall differierender Interpretationen als Macht des Faktischen wirkt. Aber prospektiv be‐ trachtet ist die Frage nach dem Volk damit nicht beantwortet, denn eine souveräne Organisation ist auch in dieser Hinsicht modifizierbar und kann die künftige Ent‐ wicklung unter den gegebenen Bedingungen gestalten. Die besondere Brisanz der Frage nach der Identität des Demos zeigt sich aber nicht nur in Ausnahmesituationen historischer Umbrüche, nationaler Sezessionsbe‐ wegungen und globaler Migrationsschübe, sondern bereits in der alltäglichen Praxis demokratischer Selbstorganisation. Wenn Völker als Schicksalsgemeinschaften apo‐ strophiert werden, tritt dabei in den Hintergrund, dass ein Volk erst durch eine Ver‐ fassung zum politischen Volk und damit zum Subjekt demokratischer Selbstbestim‐ mung wird. Souverän wird ein Volk allein dadurch, dass es sich eine Verfassung gibt. Dieser selbstreferentielle Prozess ist die Grundsituation des Politischen: es wird eine Grenze gezogen zwischen denjenigen, die das Volk bilden, und den anderen. Entscheidend ist nicht die Frage, wer die anderen sind, sondern wie sich die zugrun‐ de liegende Kohärenz und die avisierte Kommunalität, die ein Volk entwickelt, in eine Organisation überführen lässt. Die Einsetzung der Verfassung ist der ursprüngli‐ che Gründungsakt, der die Macht des Volkes als eine politische Macht, als Status des Volkes oder als Staat konstituiert. Dieser Akt ist allerdings – ungeachtet realge‐ schichtlicher Gründungsakte – fiktiv; eine radikale Selbstbegründung einer demo‐ kratischen Verfassung ist praktisch nicht möglich. Auch in einer abstrakten theoreti‐ schen Konstruktion des Staates gibt keinen absoluten Anfang. Ein solcher müsste, wenn man ihn hypothetisch annehmen wollte, so voraussetzungslos sein, dass nichts daraus folgen würde. Nicht nur faktisch, sondern auch in prinzipieller Hinsicht ist die demokratische Verfassung auf historische Voraussetzungen angewiesen, die sich nicht abstreifen oder theoretisch negieren lassen.

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Dies gilt nicht nur für den rechtlich konstruierten fiktiven Gründungsakt, sondern für die reale zeitliche Existenz der politischen Wirkungseinheit. Ein Volk kann nur als verfasstes Volk in seiner konkreten historischen Gestalt die Legitimationsinstanz politischer Ordnung bilden. Aber in dieser Eigenschaft kann es nicht nur über die künftige Zusammensetzung des Volkes verfügen; es fällt letztlich auch in die Kom‐ petenz es Volkes als der verfassunggebenden Gewalt, das Procedere zu definieren, nach dem die Artikulation der Entscheidungen vollzogen werden, die dann – nach klassischer Auffassung der Theorie der Volkssouveränität – als Wille des Volkes in‐ terpretiert werden. Dies ist ein neuralgischer Punkt der Organisation von Macht im demokratischen Verfassungsstaat. Keine der drei Machtsphären kann beanspruchen, die Volkssouve‐ ränität privilegiert zu repräsentieren, am wenigsten die Sphäre regulativer Macht. Es ist vielmehr die politische Funktion von Repräsentation, in der Vermittlung der ope‐ rativen und der regulativen Macht mit der konstitutiven Macht die Genese legitimer Entscheidungen zu gewährleisten. Repräsentation ist damit ein fundamentales Prin‐ zip der Organisation von Macht. 40 An der Nahtstelle von operativer und regulativer Macht dient sie nicht der Verschmelzung, sondern der Aufrechterhaltung der Tren‐ nung beider Sphären. Nur so ist die Entfaltung politischer Öffentlichkeit möglich. Repräsentation dynamisiert die Handlungswelt, setzt Handlungsmacht frei und er‐ laubt die Entwicklung übergreifender Meinungsbilder. Dabei geht es primär nicht nur um Konsens oder Dissens, sondern auch um die Frage, welche Themen auf die Agenda gelangen sollen, welche Handlungsoptionen sich bieten und wie die Lage einzuschätzen ist. Dazu ist der Abstand zwischen Herrschaft und Handlungsmacht notwendig, den Repräsentation stabilisiert. Repräsentation ist nicht das Charakteris‐ tikum eines bestimmten Typus von Demokratie, sondern ein Prinzip des Politischen überhaupt und damit auch fundamental für jede Form von Demokratie.41 Seine be‐ sondere Bedeutung hinsichtlich demokratischer Verfassungen besteht indes darin, dass sie günstige Bedingungen für die Realisierung demokratischer Meinungs- und Willensbildung stiftet. Identitäre Demokratiekonzepte, die in Anlehnung an Rousseau von einer Identität von Herrschern und Beherrschten ausgehen,42 ignorie‐ ren diese Voraussetzung. Diese in der Identifikation paradoxe Struktur der Selbstbe‐ stimmung zu organisieren bedeutet, die Verbindung der differenten Relate zu artiku‐ lieren. Genau dies ist die Aufgabe repräsentativer Strukturen.

40 Diesen Zusammenhang betont Dormal 2017, S. 74 ff. 41 Landshut 1969. 42 Prägend für diese Konzeption ist Schmitt 1928, S. 234 ff.

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7. Repräsentation Repräsentation eröffnet den Raum für Deliberation und Darstellung von Interessen‐ lagen. Meinungsbilder sind allerdings nicht nahtlos in Handlungsabsichten oder in einen wohldefinierten Willen zu überführen. Plebiszite suggerieren, dass es einen Willen des Volkes gibt. Die Wirklichkeit der Meinungen sieht anders aus. Sie sind vielgestaltig, pluralistisch, teils abstrakt-allgemein, teils partikular und bisweilen wi‐ dersprüchlich oder inkompatibel. Plebiszite sind darauf angelegt, diese Lage auf eine einfache Formel zu reduzieren. Pragmatisch betrachtet mag dies gerechtfertigt sein, denn in der politischen Welt müssen Entscheidungen getroffen werden. Zu behaup‐ ten, dass dies eo ipso demokratisch und demokratischer als explizit repräsentative Entscheidungen sei, ist jedoch nicht überzeugend. Plebiszite basieren auf isolierten, vom komplexen Wirkungszusammenhang politischer Meinungsbildung abgelösten Alternativen. Sie ersetzen Deliberation durch Dezision. Für die wesentlichen politi‐ schen Entscheidungen sind Plebiszite ungeeignet, da meist gerade die Formulierung der Frage und die Deutung der Situation umstritten sind. Deren kontroverse Thema‐ tisierung ist selbst ein wesentlicher Beitrag zu einer politischen Debatte. Ein Grundproblem demokratischer Entscheidungen ist die Frage nach der legiti‐ mierenden Kraft des Majoritätsprinzips, der Annahme, dass der Mehrheit das Recht zukomme, für alle zu entscheiden. Das Majoritätsprinzip ist nicht genuin demokra‐ tisch zu nennen. Die schiefe Metaphorik der größeren physikalischen Kraft, die sich einem fragwürdigen Verständnis von Macht verdankt, kann dieses Verfahren ebenso wenig rechtfertigen wie das Versprechen, dass bei der nächsten Wahl eventuell die Minderheit eine Chance bekomme, die Mehrheit zu erringen. Ebenso aussichtslos bleiben alle Versuche, die Legitimität des Majoritätsprinzips allein aus den Prinzipi‐ en von Freiheit und Gleichheit zu deduzieren, 43 denn daraus lassen sich nur negati‐ ve Konsequenzen ziehen bezüglich dessen, was nicht legitim sein kann. Die Legiti‐ mität einer von 51% des Wahlvolkes getragenen Entscheidung lässt sich weder durch ein Identitätsmodell noch durch ein Konsensmodell, wie es der Diskurstheorie vorschwebt, erklären. Vor der Folie der Differenz von operativer und regulativer Macht betrachtet erscheint die Mehrheit in einem anderen Licht. Handlungsmacht manifestiert sich im politischen Maßstab vor allem als Meinungsmacht. Die Rheto‐ rik der öffentlichen Meinung begleitet die Aktivitäten der Herrschaft und bietet die Bühne, auf der sich zu bewähren für die Wirksamkeit von regulativen Maßnahmen auf Dauer entscheidend ist. Dennoch wäre es nicht sinnvoll, von einer Herrschaft durch Meinungen zu sprechen. Meinungen sind der Resonanzraum, nicht das Schalt‐ zentrum der Herrschaft.

43 Böckenförde 1991a, S. 337 ff.

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Die Legitimität der Mehrheitsentscheidung ergibt sich folglich nicht aus der quantitativen Dominanz im Sinne der Stärke einer Gruppe, sondern aus ihrer Aner‐ kennung als repräsentative Meinung. Diese Deutung ist ihrerseits meinungsbedingt und kann auch anders ausfallen. So muss zuvor festgelegt werden, welche Entschei‐ dung kraft Mehrheitsbeschluss gefällt werden soll und dann als repräsentativ gelten kann. Auch das Ergebnis einer Entscheidung bedarf in der Regel der Interpretation. Personenwahlen sind im doppelten Sinne repräsentativ, weil auch die zur Wahl ste‐ henden Personen als Repräsentanten der von ihnen zu erwartenden Aktivitäten gel‐ ten und das, wofür sie stehen, durch individuelle Einschätzung ganz unterschiedlich beurteilt werden kann. Besonders deutlich wird diese repräsentative Dimension im Kontext von Koalitionsverhandlungen, die einer Regierungsbildung vorausgehen. Hier werden Mehrheitsentscheidungen bisweilen recht großzügig interpretiert, um eine bestimmte Konstellation von Herrschaft zu legitimieren. Ungeachtet der mathe‐ matischen Exaktheit des Verfahrens ist der Begründungszusammenhang zwischen Wahlergebnis und politischer Wirkung meist sehr vage. Er kann bestenfalls als re‐ präsentativ gelten, eine Einschätzung, die im nächsten Wahlgang vom Wahlvolk möglicherweise revidiert wird. Die politische Wirkung von Meinungen ist trotz umfangreicher demoskopischer Forschungen noch wenig erschlossen. In einer vorläufigen Annäherung lassen sich idealtypisch Meinungsäußerungen als Ausdruck eines Parteiinteresses und Äußerun‐ gen, die sich auf das Gemeinwohl berufen, unterscheiden. Es gehört zum rhetori‐ schen Spiel, hinter der Beschwörung des Gemeinwohls partikulare Interessen zu vermuten bzw. die eigenen Interessen mit den allgemeinen gleichzusetzen. Einfach zu identifizieren sind beide deshalb nicht, weil nicht von vornherein festgelegt ist, worin das Gemeinwohl besteht; dieses ist ja meistens strittig und bedarf der Konkre‐ tisierung. Meinungen wirken dann auf das Herrschaftssystem, wenn sich im Prozess rhetorischer Meinungsbildung Optionen erschließen, Gemeinsamkeiten und Diffe‐ renzen abzeichnen, sich also das abspielt, was nach Aristoteles Beratung und Ur‐ teilsbildung ausmacht. Regulative Maßnahmen müssen sich vor diesem Hintergrund als plausibel und realisierbar, zumindest als für die Betroffenen attraktiv erweisen. Im Konzept des demokratischen Verfassungsstaates kommt die Aufgabe der Ver‐ mittlung partikularer und allgemeiner Interessen den Repräsentanten, also den Abge‐ ordneten zu. Sie sind Grenzgänger zwischen operativer und regulativer Macht, eine Funktion, die permanente Loyalitätsprobleme mit sich bringt. Die Situation, einzel‐ nen Interessengruppen, der Partei und der Allgemeinheit gleichermaßen verpflichtet zu sein, führt zu einer strukturellen Überforderung der Abgeordneten und häufig zur Frustration ihrer Klientel. Isoliert betrachtet müsste ein so angelegtes Repräsentati‐ onssystem scheitern. Repräsentation spielt jedoch noch an einer anderen Schnittstelle eine zentrale Rolle im politischen System. Die Konstellation von operativer und regulativer

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Macht ist nicht stabil und bedarf eines Rahmens, der beide in ein Verhältnis setzt, in dem sie ihre Inkongruenz kompensieren können. Dies ist die konstitutive Macht, die sich in der Verfassung dokumentiert. Ihr genuiner Ausdruck ist die Volkssouveräni‐ tät. Sie realisiert sich nicht als Herrschaft des Volkes, sondern beruht auf der Institu‐ tionalisierung der Verfassung als Organisationszusammenhang. Rousseaus These, dass das Volk nicht repräsentiert werden kann, gilt nur in dem Sinne, dass es keine nahtlose und verlustfreie Transformation von operativer in regulative Macht geben kann. Aber gerade aufgrund der unaufhebbaren Differenz beider muss durch Reprä‐ sentation die freilich stets fragile Beziehung gestiftet werden. Die Verfassung als Manifestation konstitutiver Macht repräsentiert das Volk. Die juristische Definition des Volkes als Gesamtheit aller Staatsbürger spiegelt nur die Oberfläche dessen, was als Staatsvolk zu politischer Bedeutung gelangt. Staatsange‐ hörigkeit ist nicht die Voraussetzung, sondern das Ergebnis der Integrationsleistung, die ein Volk zum politischen Volk macht. Das Volk im Sinne des Demos der Demo‐ kratie ist nur durch Repräsentation als konstitutive Macht präsent. Auch hier ist nicht von einer Identität auszugehen. Die juridische Figur der verfassunggebenden Gewalt des Volkes suggeriert einen Gründungsakt, der vom Volk vollzogen wird. In der Tat handelt es sich dabei um den auf einen fiktiven Punkt verdichteten repräsen‐ tativen Prozess der Wechselbeziehung von Volk und Verfassung. Dies gilt analog auch für die Dauer der Existenz eines demokratischen Verfassungsstaates. Volkssou‐ veränität realisiert sich nicht, wie in der Tradition Rousseaus von Verteidigern und Gegnern dieses Prinzips unterstellt,44 in der Form einer Identität von Volk und Herr‐ schaft, weil auch die Identität des Volkes selbst weder gegeben ist noch einfach un‐ terstellt werden kann. Die Konstituierung des Volkes als Souverän ist eine Dauerauf‐ gabe und die Idee der Volkssouveränität insofern, wie Hermann Heller bemerkt, ein „polemisches Prinzip“45. Für die Vergegenwärtigung dessen, was das Volk ist und was es will – sofern die Fiktion des Volkswillens als eine politisch signifikante Grö‐ ße betrachtet werden kann – ist folglich Repräsentation unverzichtbar. Claude Lefort spricht vom „leeren Ort der Macht“.46 Auch wenn diese Metapher auf die Ablösung des französischen Absolutismus gemünzt ist, charakterisiert sie doch genau diese Nicht-Präsenz der Macht im Sinne der Nichtidentität von regulativer und operativer Macht. Genau genommen wird im demokratischen Staat an diesem Ort, auf der Büh‐ ne der Öffentlichkeit, die vormals der Monarch durch seine Person besetzt hat, in re‐ präsentativen Akten das Selbstverständnis des Volkes inszeniert. Repräsentation vermittelt die Machtsphären, deren Unterscheidung und Trennung eine wesentliche Qualität der politischen Organisation demokratisch verfasster Ge‐ 44 Die Kritik am Prinzip der Volkssouveränität beruht auf dieser Fehleinschätzung; siehe etwa Kriele 4 1990. 45 Heller 1992, S. 247. 46 Lefort 1999, S. 50.

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meinwesen ausmacht. Repräsentation im politischen Raum ist nicht personale Ver‐ tretung, sondern die Vergegenwärtigung der jeweils anderen Seite, der öffentlichen Meinungen im Verhältnis zur Regierung, der Pluralität der Bürgerschaft im Verhält‐ nis zur Idee des einheitlichen souveränen Volkes, der Verfassung im Verhältnis zu den Aktivitäten der Herrschaftsinstanzen. Der funktionale Sinn der Repräsentation liegt in der Verbindung der Sphären der Macht unter Aufrechterhaltung ihrer Diffe‐ renz.

8. Die Repräsentation des Staatsvolks Diese Struktur der Machtsphären schlägt sich auch in der Differenzierung nieder, die den Begriff des Volkes selbst betrifft. Mit Pierre Rosanvallon kann unterschieden werden zwischen Sozial-Volk, Wahl-Volk und Ideal-Volk.47 Zunächst ist Volk im Sinne des Sozial-Volks der Name für die soziale Vielheit und wechselhafte Erschei‐ nungsweise derer, die eine Gesellschaft ausmachen, die Personen, die ihren privaten Interessen und Geschäften nachgehen. Hier ist der Ort der Meinungsbildung, der Entfaltung unterschiedlicher und auch gegenläufiger Interessen, von Konsens und Dissens in den Strukturen des Rechts unter Voraussetzung formaler Gleichheit. Das Volk ist aber andererseits auch Wahl-Volk, die in Individuen zerfallende Gruppe, die regelmäßig ihr Votum abgibt. Dies schließt Personenwahlen ebenso ein wie Volksab‐ stimmungen. Die Wähler sind dabei Subjekte der Herrschaft im doppelten Sinne: von ihnen geht die Macht aus, aber sie sind zugleich auch der Macht unterworfen. Drittens schließlich ist das Volk, zumindest in einer demokratischen Verfassung, das Ideal-Volk als Souverän, als einheitliches Ganzes. Es ist bestimmt durch seine Indi‐ vidualität als konkrete, abgegrenzte Gemeinschaft. Seine Identität ist jedoch nicht als Faktum gegeben, sein Ort ist leer, aber es ist keine bloße Illusion. Es ist präsent durch seine Repräsentation als Bezugspunkt der politischen Auseinandersetzungen, die demokratische Politik als reflexive Gestaltung von Macht durch Macht voraus‐ setzt. Repräsentation ist Kommunikation der Machtsphären unter der Bedingung der Aufrechterhaltung ihrer Differenz. Das Sozial-Volk wechselt in die Rolle des WahlVolkes, um damit Herrschaft zu legitimieren, die im Namen aller ausgeübt wird, und faktisch doch nur von einem Teil der Betroffenen und meist unter Vorbehalt unter‐ stützt wird. Dieses Verhältnis ist nicht mandatorisch, keine Vertretung, sondern re‐ präsentativ in der Bedeutung, dass die Differenz zwischen Sozial-Volk und Herr‐ schaft überbrückt wird durch die Vergegenwärtigung des Ideal-Volks, der Gesamt‐ heit der Bürgerschaft, die allein die Kraft demokratischer Legitimation besitzt. Die

47 Rosanvallon 2013, S. 161 f.

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konstitutive Macht des Volkes als Souverän, die sich nicht im Ergebnis von Wahlen oder Abstimmungen erschöpft, aber genauso wenig durch die kulturelle Identität ab‐ bilden lässt, bildet die Voraussetzung für das Gelingen des demokratischen Macht‐ kreislaufes. Sichtbare Diskrepanzen innerhalb des Volkes sowie zwischen SozialVolk und Wahl-Volk sind insofern wesentlich für die Dignität demokratischer Ge‐ meinwesen. Fatal dagegen wäre jeder Versuch, deren Gleichschaltung anzustreben. Konsens als Maßstab des Politischen auf der Ebene der Meinungsbildung anzuset‐ zen, ist demokratietheoretisch destruktiv. Nur in pluralistischen Gesellschaften kann sich das Volk als Souverän etablieren.

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II. Diagnosen

Karin Priester „Das Volk ist in Ihm, und er ist im Volk“. Zum Verhältnis von Führer und Gefolgschaft in Faschismus und Populismus

In den letzten dreißig Jahren ist „Populismus” zu einem weit verbreiteten, meist po‐ lemisch benutzten Begriff geworden und hat eine Fülle von publizistischen Kom‐ mentaren und wissenschaftlichen Arbeiten nach sich gezogen. Dabei standen drei Bereiche im Vordergrund: die gewandelte Interaktion zwischen Politikern und dem Elektorat, die demokratietheoretische Dimension und nicht zuletzt die sozialpsycho‐ logische Frage nach den Ursachen von Fremdenfeindlichkeit, Exklusion von Min‐ derheiten und ethno-kultureller Identitätskonstruktion. Mehrheitlich ging man davon aus, dass ein Merkmal von Populismus ein charismatischer Führer sei, der das Volk in seinen Bann schlage. Auch wenn charismatische Führer weder für latein- und nordamerikanische Länder noch für Europa konstitutiv sind, beherrscht diese Sicht die medial verbreitete communis opinio. Auch Populismusforscher gingen mehrheit‐ lich von charismatischen Führern als einem konstitutiven Merkmal von Populismus aus. Erst in jüngerer Zeit hat sich eine differenziertere Sicht durchgesetzt (Müller 2016, S. 50f., Pappas 2016, Priester 2012, S. 72-91). Am radikalsten stellte HansGeorg Soeffner einen Zusammenhang zwischen Populismus und Charisma in Abre‐ de. „Populismus und Charisma sind unvereinbar. […] Populismus zielt auf das Wei‐ terfahren des gesellschaftlichen Karrens in immer wieder benutzten, unmerklich, aber unaufhaltsam tiefer werdenden Spuren. Gesellschaftlich hergestelltes Charisma dagegen markiert die Strukturstelle für das Neue.“ (Soeffner 1993, S. 212 und 214). Populismus und Charisma sind allerdings nur dann strukturell unvereinbar, wenn man Max Webers religiös konnotiertes Verständnis von Charisma als revolutionäre Potenz und als Einbruch von etwas Neuem zugrunde legt. Dennoch hebt Soeffner einen richtigen Sachverhalt hervor: Populismus war nie eine revolutionäre, sondern eine reformerische Kraft, der es um die Verteidigung einer bedrohten Lebenswelt und um die Rückkehr zu einem Goldenen Zeitalter geht. Populismus strebt weder den Bruch mit dem bestehenden sozio-ökonomischen noch mit dem politischen Sys‐ tem an, sondern deren Reform durch Wiederherstellung eines status quo ante, der noch nicht die aus populistischer Sicht verhängnisvollen „Irrwege“ der Moderne kannte (Individualisierung, Auflösung „organisch“ gewachsener Gemeinschaften, Überfremdung durch Immigration, sozialmoralische Abwertung der heterosexuellen Familie, Frauenemanzipation oder Entdiskriminierung sexueller Minderheiten). 145

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob Populismus mit jeder Form von Charisma unvereinbar ist oder nur mit Webers Charismakonzept. Auch wenn man konzediert, dass Charisma nicht in der Eigenschaft einer Person begrün‐ det ist, sondern sich erst unter bestimmten Bedingungen als soziale Beziehung kon‐ stituiert, eignet sich doch nicht jeder oder jede als Charismaträger. Fremdcharisma ist eine Zuschreibung, setzt aber ein gewisses Maß an Eigencharisma voraus, in heu‐ tiger Zeit vor allem rhetorische Fähigkeiten und Medienpräsenz (Kalyvas 2002, Wehler 2007, S. 86). Etliche populistische Bewegungen sind auch ohne starke Füh‐ rer aufgetreten: die US-amerikanischen Reform Party in den 1980er Jahren unter dem völlig uncharismatischen Henry Ross Perot, die 2009 gegründete Tea Party Be‐ wegung, die Occupy Wallstreet Bewegung oder die spanische Protestbewegung der Indignados, eine der Quellen der 2014 gegründeten linkspopulistischen Partei Pode‐ mos in Spanien. Takis S. Pappas hat fünfundvierzig europäische populistische Par‐ teiführer untersucht, von denen nur fünf als charismatisch gelten können: Jean-Ma‐ rie Le Pen, Andreas Papandreou, Jörg Haider, Victor Orbán und Silvio Berlusconi. Sein Befund: „[Die] bisher angenommene Koppelung (linkage) von Populismus und charismatischer Führerschaft im weitesten Sinne ist bestenfalls schwach ausge‐ prägt.“ (Pappas 2016, S. 386). Allerdings gäbe es eine hohe Korrelation von charis‐ matischer Führung und erfolgreichem Populismus. Lässt sich die Beziehung zwischen diesen ohnehin wenigen charismatischen po‐ pulistischen Führern und ihren Anhängern aber noch mit dem Charismabegriff Max Webers analysieren, der der Analyse faschistischer Führer zugrunde liegt? Oder hat ein semantischer „Gestaltwandel“ von Charisma stattgefunden, der, gemessen am re‐ ligiös konnotierten Weberschen Idealtypus, als säkulares Charisma in Erscheinung tritt und charismatische Eigenschaften auf bloßen Charme abflacht?

1. Die umstrittene Nützlichkeit des Charisma-Konzepts Ausgehend von der Bezeichnung „charismatische Beziehung”, sollen im Folgenden die Knotenpunkte zwischen charismatischen Führern und ihren Anhängern in Fa‐ schismus und Populismus aufgezeigt und einander gegenübergestellt werden. Weber verstand unter charismatischer Herrschaft einen Idealtypus, d.h. ein werturteilsfreies, heuristisches Instrument zum besseren Verständnis der Wirklichkeit. Das Analysein‐ strument der Typenbildung kann nur auf der Basis einer nominalistischen Epistemo‐ logie legitimiert werden, ist doch aus dieser Sicht die Wirklichkeit amorph. Die Nützlichkeit des Charismakonzepts wird unterschiedlich diskutiert; die Ein‐ schätzungen reichen von einem „amorphen, schwammigen Begriff” (Worsley in Eat‐ well 2006, S. 142, Spinrad 1991, S. 295) von geringem Wert bis hin zu einem unver‐ zichtbaren Analyseinstrument (Lepsius 1993, Wehler 2007). Es ist ein weit verbrei‐

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tetes Missverständnis, dass Charisma auf persönlichen Eigenschaften des Charisma‐ trägers beruhe. Aus Webers Sicht ist genuines Charisma dagegen kein psychologi‐ sches Attribut des Führers; vielmehr entsteht es unter bestimmten politischen und kulturellen Bedingungen durch die soziale Interaktion zwischen ihm und seinen An‐ hängern. Genuines Charisma beruht auf zugeschriebener Außeralltäglichkeit des Führers, der von seinen Anhängern nicht nur wegen seines Prestiges anerkannt wird, sondern wegen des Mythos und der Aura, die ihn umgeben (Gentile 2003, S. 128, Raab/Tänzler 1999, S. 75f., Spinrad 1991, S. 310). Als Legitimationsinstanz beruft sich der Charismatiker auf seine Mission, steht aber unter dauerndem Erfolgszwang. Bleiben Erfolge auf Dauer aus und werden Erwartungen nicht erfüllt, sinken die Zu‐ stimmung und die Verehrung der Anhänger. Missionarische Politik ist inhärent im‐ mer fragil. Kritiker des Charismakonzepts betonen, Charisma werde künstlich hergestellt und sei daher als Analyseinstrument untauglich. Zweifellos wird in modernen Ge‐ sellschaften die charismatische Bindung durch mediale Inszenierung, professionelle Beratung und kalkulierte Selbststilisierung verstärkt. Mussolini und Hitler wurden beide als Schausteller, Rollenspieler und Bühnenmanager beschrieben (Kershaw 1988, S. 45). Das künstliche, medial inszenierte Charisma ist das Produkt elaborier‐ ter Mechanismen zur Massenbeeinflussung. Vor diesem Hintergrund hat der Histori‐ ker Ludolf Herbst den charismatheoretischen Ansatz verworfen. Hitlers Diktatur als charismatische Herrschaft zu charakterisieren, heiße die Propagandafassade für die Realität zu nehmen. Der weit verbreitete Glaube an die direkte, emotionale Bezie‐ hung zwischen Führer und Volk sei nur Maskerade gewesen, die von Problemen in der sozialen Wirklichkeit ablenken sollte. Historiker sollten daher dieser Chimäre nicht auf den Leim gehen, sondern eher den Terror des Regimes hervorheben (Herbst 2010). Indessen: die Unterscheidung zwischen “real” und “künstlich” kann nicht die Bereitschaft der Massen zum Glauben an einen Mythos erklären. Mythi‐ sche Vorstellungswelten sind ebenso real wie Fakten, wenn sie Auswirkungen auf die Realität haben. Unter epistemologischen Gesichtspunkten ist es daher fragwür‐ dig, die Realität der Konstruktion von Realität gegenüberzustellen und zwischen Wesen und Erscheinung zu unterscheiden.

2. Charisma und Führermythos im Faschismus Es wird allgemein anerkannt, dass charismatische Autorität dem Faschismus inhä‐ rent ist und als eines seiner Wesensmerkmale in jede Faschismusdefinition eingeht (Gentile 2003, S. 129, Lepsius 1993, Wehler 2007). Der faschistische Führer sieht sich in erster Linie als Instrument der Vorsehung und als Brücke zwischen der Sphä‐ re der Transzendenz und dem empirischen Volk. Er ist nicht das Sprachrohr des „ge‐

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meinen Mannes”, sondern das Medium einer transzendenten Mission, die auch im Gegensatz zum Volkswillen stehen kann. Sein Auftrag ist die Schaffung des „Neuen Menschen”, des homo fascisticus. Sein taktischer Appell an die Volksmassen be‐ schränkt sich auf Episoden, wenn es gilt, Unterstützung für seine missionarische Po‐ litik zu mobilisieren (vgl. Priester 2012b, S. 214). Volksanrufungen sind symboli‐ sche Substitute und werden in einem Aushandlungsprozess zwischen den verschie‐ denen Strömungen innerhalb des faschistischen Machtblocks eingesetzt. Da die Machtstruktur faschistischer Regime alles andere als monolithisch war, agierte der faschistische Führer als Mittler zwischen unterschiedlichen, teilweise auch antago‐ nistischen Interessengruppen und zugleich als Garant eines Massenkonsensus. Mussolini orchestrierte seine öffentlichen Auftritte als asymmetrische Beziehung. Er erschien abgehoben von den Massen und hielt sie auf Distanz. Seine Absicht war es nicht, sich über den Volkswillen zu legitimieren, sondern „seine Überlegenheit gegenüber dem Volk hervorzuheben.“ (Cavazza 2012, S. 255). Auf der Basis einer Fülle von Publikationen unterschiedlicher Genres in der Regimephase des italieni‐ schen Faschismus hat August Bernhard Hasler inhaltsanalytisch die Fabrikation des Duce-Kults untersucht und gezeigt: Der Duce verfolgte eine titanische, übermensch‐ liche Mission. Er wurde als Schöpfer, Herrscher, Held, Krieger, Retter und Gigant porträtiert und löste ekstatische Verehrung und Ergebenheit, aber auch Unterwerfung und freiwilligen Gehorsam aus. Als Lehrer des Volkes und unermüdlicher Arbeiter, als Vorbild der Jugend, Messias des Vaterlandes, Erlöser und Prophet, Genie, großer Künstler, Intellektueller und kultureller Pionier, als Stimme der Geschichte, als Ver‐ körperung des universalen römischen Geistes und nicht zuletzt als Mann, der die Nation einte und zu neuer Größe führte, war Mussolini omnipotent und omnipräsent ( Gentile 2003, S. 132, Raab/Tänzler 1999). Er war der wiedergeborene Augustus, Nietzsches Übermensch, der neue Jesus und Religionsstifter, aber immer im Ein‐ klang mit den tiefsten Empfindungen des Volkes. Einer seiner Anhänger erklärte überschwänglich: „Sein Herz ist wie eine große Glocke, in der die unendlichen Schwingungen der Seele des Volkes verstärkt wiedererklingen.“ (zit. nach Hasler 1980, S. 477). Hasler hebt die religiösen Elemente des Persönlichkeitskults hervor und hält als Ergebnis seiner Untersuchung fest: „Die religiöse Komponente des Du‐ ce-Bildes fällt stärker aus als erwartet. Viele Biographien Mussolinis sind abgefasst wie Heiligenleben, Heiligenlegenden.“ (Hasler 1980, S. 505). Der Führerkult und die Sakralisierung der Politik verselbständigten sich zuneh‐ mend gegenüber dem Faschismus als Bewegung – mit unterschiedlichen Auswir‐ kungen. „Viele, die in Mussolini den Mann der Vorsehung, den Retter des Landes hochlobten, waren skeptisch gegenüber dem Faschismus als Bewegung.“ (Melograni 1980, S. 223). Während sie nur dem Mussolinismus, nicht aber dem Faschismus als Regime zustimmten, formierte sich innerhalb der Partei eine entgegengesetzte Kri‐ tik. Viele Faschisten misstrauten dem Persönlichkeitskult um Mussolini und seiner

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Propagandamaschine, der sogenannten „Duce-Fabrik“. Dino Grandi, als Außenmi‐ nister und später als Justizminister ein hochrangiger Funktionsträger des Regimes, trat als Sprecher der anti-charismatischen Revolte innerhalb der faschistischen Partei auf: „Faschismus ist nicht ein Mann, er ist eine Idee.” (zit. nach Gentile 2003, S. 135). Auch Hitler trat als Medium der Vorsehung auf und konnte dabei auf Erwartun‐ gen an „heroische Führerschaft“ zurückgreifen, die schon in der Weimarer Republik, auch unter konservativen Intellektuellen, weit verbreitet waren. Die antifeministi‐ sche Schriftstellerin Käthe Sturmfels-Becker erklärte 1920, lange vor der „Machter‐ greifung“ der Nationalsozialisten: „Der Führer richtet sich nicht nach der Masse, sondern nach seiner Sendung; er schmeichelt der Masse nicht; hart, gerade und rück‐ sichtslos geht er ihr voran, in guten und bösen Tagen. […] Der Führer ist verant‐ wortlich, d.h. er tut den Willen Gottes, den er in sich verkörpert.” (zit. nach Schrei‐ ner 1998, S. 137f., vgl. auch Wehler 2007, S. 83). Er ist das Ausführungsorgan einer transzendenten Macht.

3. Der Begriff des säkularen Charismas Ab den 1960er Jahren wurde die Anwendbarkeit von Webers Charismabegriff auf fortgeschrittene kapitalistische Gesellschaften zunehmend in Frage gestellt. Entwe‐ der zog dies eine begriffliche Neubestimmung nach sich oder die völlige Ablehnung des Begriffs. Webers Begriff sei von historisch begrenztem Nutzen und untauglich zur Analyse moderner sozialer und politischer Bewegungen. Er habe den Fokus auf die „mythical, transcendental, essentially nonrational mass loyalty to a political lea‐ der as a person” (Spinrad 1991, S. 306) gelegt und damit eine Wiederkehr von Cha‐ risma in seiner transzendenten Form in modernen Gesellschaften ausgeschlossen. Webers Idealtypen legitimer Herrschaft sind indessen nicht an die Entwicklung von vormodernen zu modernen Gesellschaften gebunden und stehen in keinem entwick‐ lungsgeschichtlichen Ablauf zueinander. Charismatische Herrschaft folgt nicht evo‐ lutionär auf legale Herrschaft, sondern bezeichnet den Einbruch des Außeralltägli‐ chen in die Welt legaler Herrschaft. Als stets vorhandene Potentialität tritt sie nur in Phasen gesteigerter sozialer, ökonomischer und politischer Krisen in Erscheinung, meist in Koexistenz mit bürokratischen und legalen Aspekten, die lediglich in den Hintergrund treten. „Je tiefer die inneren Spaltungen einer Gesellschaft sind, desto größer ist in der Regel die Kluft zwischen hochgetriebenen gesellschaftspolitischen Erwartungen und der enttäu‐ schenden Leistungsbilanz einer Regierung, die nicht mehr über ungeteilte Legitimation verfügt. In dem gleichen Maß wächst das Potential für die Ausbreitung der Idee des ‚cha‐ rismatischen Führertumsʼ, das einen grundlegenden Bruch mit der Vergangenheit und einen wirklichen Neuanfang anzubieten scheint.“ (Kershaw 1988, S. 26).

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Mit dem Begriff des „säkularen Charisma“ versuchte man, der begrifflichen Über‐ dehnung und gleichzeitig den religiösen Konnotationen des „genuinen Charisma“ bei Weber entgegenzuwirken (Bensman/Givant 1975. S. 597). Säkulares Charisma trägt dem Wandel von faschistischer zu populistischer Massenmobilisierung Rech‐ nung. Auch wenn die religiöse Bindung verblasst, besteht dennoch eine emotionale, wenn auch profane Bindung zwischen dem Charismatiker und seinem Anhang. Beruhte die charismatische Beziehung im Faschismus auf der Sakralisierung des Politischen und der Aura des Erhabenen, so beruht das säkulare Charisma auf einer Entpolitisierung des Politischen und der Aura von Aufrichtigkeit und Authentizität. Säkulare Charismatiker, darunter auch populistische Führer, bewegen sich nicht mehr zwischen der Sphäre der Transzendenz und der Immanenz, sondern zwischen Wahrheit und Lüge. „Weil der Propagandist von heute nur zu gut weiß, dass ein gebildetes Publikum Fakten will und nichts so sehr schätzt wie die Illusion, gut informiert zu sein, vermeidet er hoch‐ trabende Sprüche; selten beruft er sich auf Schicksal und Vorsehung; er ruft selten zu Heldentum und Opfer auf und erinnert sein Publikum kaum noch an die ruhmreiche Ver‐ gangenheit.“ (Lasch 1995, S. 119).

Ein Grenzfall ist der als links geltende venezolanische Populist Hugo Chávez. Der Politikwissenschaftler José Pedro Zúquete versucht zu zeigen, dass auch bei einem Populisten wie Chávez zahlreiche religiöse, millenarische Bezüge anzutreffen seien und er eine „missionarische Politik“ verfolgt habe (Zúquete 2008, S. 113). Ein‐ schränkend muss aber betont werden, dass sich Chávez zugleich des ganzen Arse‐ nals einer populistischen Anrufungspraxis bediente und eher dem Idealtypus des sä‐ kularen Charismatikers zuzurechnen ist. Bei ihm ist die legitimierende Instanz nicht mehr der göttliche Wille, sondern das Volk. Wenn sich Chávez überhaupt auf eine göttliche Instanz berief, dann auf den Mensch gewordenen Jesus Christus. Als Kämpfer gegen den römischen Imperialismus wird Christus „entgöttlicht“ und als Sozialrebell in die Sphäre der Immanenz zurückgeholt. Auch das Verhältnis des Führers zu den Massen ist bei Chávez völlig anders als bei den faschistischen Füh‐ rern der Zwischenkriegszeit. Standen diese über den Massen und hielten sie auf Dis‐ tanz, so nivelliert der säkulare Charismatiker die Distanz und hebt seine Normalität hervor. Chávez betonte immer wieder seine Alltäglichkeit: „Ich bin ein menschli‐ ches Wesen, ich lache über mich selbst. Manchmal habe ich Unrecht, ich bin genau wie ihr. Jeder kann Fehler machen.“ (zit. nach Zúquete 2008, S. 100, auch Priester 2012a, S. 150-152). Auch die heroische Dimension fehlt. Säkulare Charismatiker stellen die von ihnen angestrebte Vergemeinschaftung eher als „Liebesgemein‐ schaft“ dar. Wir werden später sehen, dass auch bei Silvio Berlusconi oder HeinzChristian Strache (FPÖ) der Topos der Liebe die Berufung auf Heldentum, Genie‐ kult und Opferbereitschaft abgelöst hat.

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4. Charisma und Mediendemokratie Mit dem Vordringen der neuen Medien zeichne sich, so Edgar Grande, ein „Struk‐ turbruch in der Entwicklung moderner Demokratien“ (Grande 2000, S. 123) ab, eine Dualität von Verhandlungsdemokratie und Mediendemokratie. Während einerseits das Verhandeln immer komplexerer Probleme und das Aushandeln von Kompromis‐ sen „in langwierigen Sitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ stattfinden, wächst andererseits der Bedarf an Komplexitätsreduktion. Die Mediendemokratie, ihrer inneren Logik nach auf Bilder und Personen ausgerichtet, fördert die Personali‐ sierung von Politik. „Aufgrund der zunehmenden institutionellen und sachlichen Komplexität des Politikprozesses in modernen Demokratien [entsteht] ein wachsen‐ der Bedarf an charismatischen Persönlichkeiten […], die dem Bürger eine system‐ konforme Reduktion politischer Komplexität ermöglichen.“ (ebd., S. 137). Zwischen Verhandlungs- und Mediendemokratie bestehe eine enge Koppelung. Personalisie‐ rung von Politik könne kompensatorisch die wachsende Distanz zwischen Experten und Bürgern abfedern und habe letztlich eine systemstabilisierende Funktion. „Das ‚Charismaʼ des Politikers soll das leisten, was die Rationalität von Verfahren, die Bindewirkung religiöser und politischer Weltbilder und die Überzeugungskraft wissen‐ schaftlicher Expertise nicht mehr leisten können: In einem zunehmend unübersichtlich und unverbindlich gewordenen politischen Betrieb Übersichtlichkeit und Verbindlichkeit herzustellen.“ (ebd., S. 134, Hervorhebung der Verf.).

Personalisierung ist aber, wie Grande einräumt, nicht gleichbedeutend mit Charis‐ matisierung. Charisma lässt sich eben nicht künstlich herstellen, sondern nur verstär‐ ken; es tritt auch nicht unter Normalitätsbedingungen auf, sondern in Zeiten eines erhöhten Krisenbewusstseins. Wenn aber, Weber zufolge, Charisma eine revolutio‐ näre Kraft ist und den Einbruch von etwas Neuem in die Welt der Apparate und Be‐ triebe bezeichnet, ist es ein gewagtes Spiel, genuine oder medial inszenierte Charis‐ matiker gewissermaßen als Nothelfer in das politische System einbeziehen zu wol‐ len. Die Hoffnung, eine systemkonforme Personalisierung der Politik könne die Funktionsfähigkeit von Verhandlungssystemen sogar verbessern, wenn sie „ge‐ schickt eingesetzt“ (ebd., S. 138) werde, ist ein manipulatorischer Trugschluss. Eher verstärkt es ein elitäres Demokratieverständnis und spielt auf zwei dissonanten Kla‐ viaturen: Hier die Verhandlungsdemokratie als dominante Form politischer Steue‐ rung, dort die mediale Inszenierung vermeintlich charismatischer Vereinfacher, „die dem Bürger eine systemkonforme Reduktion politischer Komplexität ermöglichen.“ (ebd., S. 137). Die Botschaft lautete: Politik ist so kompliziert, dass der Normalbür‐ ger sie nicht durchschaut und frustriert ist. Ihm müsse „eine Ebene der folgenlosen Enttäuschungsabsorption“ (ebd.) zur Verfügung gestellt werden. Diese Rolle soll der künstlich fabrizierte, systemkonforme Charismatiker übernehmen, von dem alle wis‐

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sen, dass seine Bemühungen um Komplexitätsreduktion folgenlos bleiben und nur der Beschwichtigung dienen. Aber der Gedanke, der auch Max Weber nicht fremd war, das Volk könne durch eine charismatische Persönlichkeit bei der Stange gehalten werden, während die ei‐ gentlichen Entscheidungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällt und die Betei‐ ligung der Bürger an politischen Prozessen auf ein Minimum reduziert werden, ist nicht nur demokratietheoretisch bedenklich. Es könnte sich auch der Effekt einstel‐ len, dass man die Geister, die man rief, nicht mehr loswird. Verhandlungsdemokratie und Mediendemokratie sind gegenläufige Tendenzen und stehen in keinem komple‐ mentären Verhältnis zueinander. Populisten, erst recht die wenigen genuin charisma‐ tischen populistischen Führer, treten ja nicht nur gegen bestimmte, konkret benenn‐ bare Entwicklungen an, sondern gegen eine bestimmte Art, wie in modernen Demo‐ kratien Politik gemacht wird: durch kompromisshaftes Aushandeln der Eliten unter‐ einander. Hier stehen sich zwei konträre politische Logiken gegenüber. „Das könnte zur Folge haben, dass mit der Personalisierung der Politik auf der Ebene der Medi‐ endemokratie die Funktionsbedingungen der Verhandlungsdemokratie untergraben werden.“ (ebd., S. 139). Das ist aber keine notwendige, sondern nur eine mögliche Folge, wenn eine dritte Möglichkeit außer Acht gelassen wird: die Stärkung von Bürgerbeteiligung und Partizipation, die Populisten mehrheitlich ebenso wenig för‐ dern wie die politischen Eliten in ihren abgeschotteten, expertokratischen Verhand‐ lungsrunden.

5. Die falsche Debatte über Stil und Inhalt Populismus wird häufig nur als politischer Stil interpretiert (Moffitt 2017). Wegen seiner Dehnbarkeit und Anpassungsfähigkeit sei er mit unterschiedlichen, rechten oder linken, Ideologien vereinbar. Allerdings kann die Gegenüberstellung von „Was” (ideologische und programmatische Inhalte) und „Wie” (Stil, Inszenierung) zu falschen Schlussfolgerungen führen, wenn man Ideologie mit einer rationalen Doktrin gleichsetzt. Im Unterschied zu liberalen oder sozialistischen Ideologien tritt Populismus nur als inhaltlich dünne (thin-centered) Ideologie auf (Freeden 2003). Da Anti-Intellektualismus und Voluntarismus zu seinen charakteristischen Eigen‐ schaften gehören, kann der Stil oder die Form des Auftretens von Populisten nicht von ideologischen Inhalten abgetrennt werden. Der Faschismus war unter anderem der Versuch, die Verselbständigung der kultu‐ rellen, ökonomischen und politischen Sphäre rückgängig zu machen, den Primat der Politik wiederherzustellen und die Subsysteme durch allgegenwärtige Ästhetisierung miteinander zu versöhnen. Die faschistische „Zelebrationsästhetik” (Emilio Gentile) prägte visuell und rhetorisch die faschistische Ära mit dem Ziel, eine zutiefst frag‐

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mentierte Gesellschaft symbolisch zu einer Einheit zu verschmelzen. Anti-Intellek‐ tualismus gehört zum Kern der faschistischen Geisteshaltung und spielt auf der Kla‐ viatur von Mythen, Hoffnungen und der Sehnsucht nach Heil und Erlösung. So war der italienische Faschismus auffallend zögerlich, eine faschistische Doktrin zu erar‐ beiten und zog es vor, sich als mentalen Zustand oder als geistige Haltung (stato d’animo) zu definieren, der sich durch Heldenkult, freiwilligen Gehorsam, Enthusi‐ asmus, Élan vital und Kämpfertum auszeichne. Der Faschismus vermied es sorgsam, den Mythos auf eine rationale Ebene zu he‐ ben, weil er dann kritisierbar wäre. Was also in Faschismus und Populismus glei‐ chermaßen mit Stil bezeichnet wird, ist kein ideologisch neutrales Medium oder blo‐ ße Rhetorik, sondern die Äußerungsform eines ideologischen Kerns, der auf affekti‐ ven, unbewussten, mythischen und symbolischen Dimensionen beruht. Ein Mythos ist eine mehr oder weniger sprachlose, gelebte Realität, kein ausformuliertes System kognitiver Überzeugungen. Was als faschistischer oder populistischer Stil bezeichnet wird, ist implizit deren Ideologie selbst. Das hat zur Folge, dass diese Ideologie nur in der Bildersprache greifbar wird und strukturelle gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge visualisiert und personalisiert. Der Feind erhält ein Gesicht und ist konkret adressierbar. Ähnlich wie im Mittelalter theologische Zusammenhänge in eine Bildersprache übertragen und für das illiterate Publikum in einer „biblia pauper‐ um“ übersetzt wurden, reduzieren Faschismus und Populismus die Ursachen struktu‐ reller, abstrakter Entwicklungen und Bedrohungen auf bestimmte Personengruppen: Juden, Freimaurer, Kommunisten, Muslime, Plutokraten, Bankiers. Diese Feinde stehen nicht gegen das Volk als staatsbürgerliches Abstraktum, sondern gegen das konkrete Volk der „kleinen, braven Leute“. Welcher Feind im Vordergrund steht, ist historisch variabel. Franz L. Neumann hat dies die „falsche Konkretheit” genannt, die sich in Verschwörungstheorien äußert (Neumann 1978). Dem Führer obliegt eine zweifache Homogenisierung: Er transformiert die Pluralität der empirischen Bevöl‐ kerung in ein homogenes Volk, dem spiegelbildlich ein homogenisierter „Anderer” gegenübersteht. Zugleich werden die Motive der Akteure moralisiert: Gier, Berei‐ cherungssucht, Heuchelei auf der einen, Anstand, Gemeinschaftsgeist, Wahrhaftig‐ keit auf der anderen Seite.

6. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Massenmobilisierung in Faschismus und Populismus Als Mann des Volkes inszeniert sich der populistische Führer als bloßes Sprachrohr eines ungefilterten, nicht mediatisierten Volkswillens, könne sich doch der gesunde Menschenverstand (common sense) des Volkes nicht irren. Ein Wahlplakat zeigt Heinz-Christian Strache, den Vorsitzenden der österreichischen FPÖ, mit der Bot‐

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schaft: „ER will, was WIR wollen“. Die Großbuchstaben indizieren, dass beide auf gleichem Fuße stehen und eine symbiotische Willenseinheit bilden. Auch der Fa‐ schismus kannte zwar diese Identifikation von Volk und Führer, aber sie hatte einen anderen Stellenwert und war nur eine Facette neben anders lautenden Selbstdarstel‐ lungen. Eine Aussage wie „Das Volk ist in ihm, und er ist im Volk” (zit. nach Hasler 1980, S. 477) bezieht sich auf die Inkarnation des Volkes im Führer. Das impliziert aber keineswegs, dass dieser sich mit dem Volk gemein macht; vielmehr muss er es gemäß seiner Mission erst formen und erziehen. In der Formierung oder Ablehnung eines „pädagogischen Verhältnisses“ zwi‐ schen Volk und Führer liegt der größte Unterschied zwischen Faschismus und Popu‐ lismus. Populisten waren immer skeptisch gegenüber volkspädagogischen Interven‐ tionen von Intellektuellen oder Bildungsexperten und sehen darin einen Akt paterna‐ listischer Bevormundung. Im Unterschied dazu bezieht der faschistische Führer sei‐ ne Legitimation nicht aus dem Volk, sondern von einer höheren Macht. „Niemals aber wird seine Legitimation vom Willen der Beherrschten selbst abgeleitet.“ (Weh‐ ler 2007, S. 84). Leni Riefenstahls Propagandafilm „Triumph des Willens“ zeigt die‐ se Herablassung im wörtlichen und übertragenen Sinne. Gleich zu Beginn wird die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den Schatten von Hitlers Flugzeug gelenkt, das vom Himmel zur Erde schwebt: Der Mann der Vorsehung lässt sich aus stratosphäri‐ schen Höhen zur versammelten Masse herab. Steht der Populismus für die unwandelbare, ewige Volksseele und die bedrohte Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, so der Faschismus für Diskon‐ tinuität und Bruch mit dem bestehenden System, für den „neuen Menschen”, den Willen zur Macht und zu imperialistischer Expansion. Der Faschismus, vor allem der italienische als Entwicklungsdiktatur, behandelte das empirische Volk als Roh‐ material, das für höhere Zwecke geformt, erzogen und einem modernen Italien ange‐ passt werden sollte. Der Philosoph Antonino Pagliaro erklärte: „Das Volk nimmt im‐ mer und überall am Leben des Staates teil, und während es einerseits über die Hie‐ rarchie in Kontakt mit dem Staat steht und dessen beste Form darstellt, wird es ande‐ rerseits unablässig zu einem immer edleren politischen Willen, zu einem Willen für das Gute erzogen.” (zit. nach Cavazza 2012, S. 246).

7. Die Geschlechterfrage im Faschismus und Populismus Die Beziehung des faschistischen Führers zu den Volksmassen ist untrennbar mit der physischen Demonstration von Männlichkeit verbunden. Der italienische Duce ist hier das aussagekräftigste Beispiel. Als Inbegriff von Virilität zeigte er sich als mo‐ derner Sportler beim Fechten, Reiten, Skifahren, Schwimmen, Motorradfahren und als Pilot, der jede Herausforderung meistert. Sein vorgestrecktes, massiges Kinn de‐

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monstrierte Entschlusskraft und Energie. Als Erntehelfer, Drescher oder Maurer trat er mit entblößtem Oberkörper auf, ein körperlich arbeitender Mann unter Männern aus dem Volk. Die strukturelle Frauenfeindlichkeit im Faschismus stand im Einklang mit dem Zeitgeist und wurde von der Kirche gefördert. Innerhalb des Rahmens tradierter so‐ zialer Rollen wurden Frauen aber nicht diffamiert und herabgesetzt, sondern genos‐ sen als Mütter künftiger Soldaten und als Hüterinnen des Herdes hohe Wertschät‐ zung. Je mehr sich Frauen aber emanzipieren, sich nicht mehr der traditionellen Rol‐ lenverteilung beugen und teilweise in Führungspositionen aufsteigen, desto häufiger diffamieren heutige Rechtspopulisten Frauen mit sexistischer Herabsetzung. Die Beispiele des ehemaligen Vorsitzenden der Lega Nord, Umberto Bossi, sind Legion; der vulgäre Angriff Berlusconis auf die aus seiner Sicht fehlende erotische Attrakti‐ vität von Kanzlerin Merkel setzte auf die eingefahrenen Reflexe des italienischen Macho. Auch auf die oppositionelle Politikerin Rosy Bindi, eine ältere, im landläufi‐ gen Sinne wenig schöne Frau, richtete er seine vergifteten Pfeile: „Frau B., ich muss Ihnen sagen, dass ich gern mit Ihnen spreche. Sie sind eher schön als intelligent“ – also weder das eine, noch das andere. Donald Trump ist nur das jüngste Beispiel in dieser Reihe. Selbst der linke Hugo Chávez verunglimpfte die vormalige US-ameri‐ kanische Außenministerin Condoleezza Rice als „sexuell frustriert“ und erteilte ihr den Rat: „Legʼ dich nicht mit mir an, Mädchen!“ (zit. nach Zúquete 2008, S. 100; weitere Beispiele bei Moffitt 2017, S. 66). Einer der auffallendsten Unterschiede zwischen dem Nimbus faschistischer Mas‐ kulinität und den schillernden Rechtspopulisten Pim Fortuyn und Jörg Haider liegt in deren Herausforderung sexueller „Normalität“. Seit den 1960er Jahren durchleb‐ ten westliche Gesellschaften einen tiefgreifenden Werte- und Kulturwandel. Der In‐ dividualisierungsschub und eine neue Welle der Informalisierung ebneten auch für Populisten den Weg zur Aufweichung sexueller Tabus. Entweder bekennen sie sich offen zu ihrer Homosexualität (Fortuyn) oder sie sprechen in hybridisierter Form beide Geschlechter an (Haider). Die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek hebt Haiders massenwirksame erotische Ausstrahlung hervor: „[Haider] ist kein Macho, er wird auch nicht so empfunden. Frauen sind weder seine Wählerinnen, noch sind Frauen seine bevorzugten Kandidatinnen, mit wenigen Ausnah‐ men. Er ist der Führer eines homoerotischen Männerbundes und arbeitet bewusst mit ho‐ mophilen Codes, natürlich ohne sich wirklich als homosexuell zu bekennen. Er lässt sich auf Nacktfotos veröffentlichen, und er spielt mit seiner sexuellen Ambivalenz. Ich glau‐ be, dass das Phänomen Haider nicht zuletzt ein erotisches ist, denn er kann Mann und Frau zugleich sein, und das gibt ihm das Schillernde, das die Massen ‚einfängtʼ.“ (Jelinek 2000).

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8. Vier charakteristische Merkmale populistischer Führer Im Anschluss an Roger Eatwell (2006, S. 144–148) lassen sich bei faschistischen Führern vier Hauptmerkmale unterscheiden: missionarische Vision, symbiotische Hierarchie, manichäische Dämonisierung und persönliche Präsenz. Rechtspopulisten eliminieren diese Merkmale zwar nicht gänzlich, schwächen sie aber ab und vulgari‐ sieren sie. Der semantische Bedeutungswandel des Charismabegriffs zieht ein als volkstümlich geltendes Auftreten des populistischen Führers nach sich; er tritt nicht mehr als Sendbote Gottes oder der „Vorsehung“ auf, sondern als Jedermann. Wäh‐ rend die Eliten als heuchlerisch und korrupt gelten, trumpft der Populist mit Ehrlich‐ keit, Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und Authentizität auf. In einem Nachruf auf Haider hießt es: „In einem 30-jährigen Marathon quer durch alle Liederabende, Bierzelte und Kirchtage Kärntens hatte er sich da eine Klientel von geradezu unver‐ brüchlicher Treue in der Bevölkerung geschaffen.“ (Zit. nach Steyrer 2011, S. 87). Die Deifizierung faschistischer Führer der Zwischenkriegszeit ist der banalen Popu‐ larität von Entertainern gewichen. In Ergänzung zu Eatwells fascist leader traits lassen sich auch bei populistischen Führern vier charakteristische Merkmale identifizieren: Familiarität, Informalität, Authentizität und Starkult. Diese Merkmale, die um weitere ergänzt werden können, sind Indikatoren für einen komplexen sozialen Wandel mit Auswirkungen auf das Rollenrepertoire heutiger populistischer Führer.

9. Familiarität Schon bald nach Haiders tödlichem Autounfall kamen Gerüchte über eine Ver‐ schwörung seiner Gegner auf, die seinen Tod verursacht hätten. Sein Grab wurde zu einer Pilgerstätte; Transparente verkündeten: „Der König der Herzen der Kärntner! Jörgi”. Der österreichische Diminutiv „Jörgi” und die Anrede mit dem Vornamen unterstreichen die Familiarität mit einem Politiker, der zum Mitglied einer großen Familie, zu einem der „unseren“ stilisiert wird. Die Anrufung Hitlers als „Dolfi” hät‐ te dagegen als Sakrileg oder Majestätsbeleidigung gegolten. Die Formulierung „Kö‐ nig der Herzen” spielt auf Lady Di, die „Königin der Herzen“, an, mit der Haider oft verglichen wurde (Connolly 2008, Steyrer 2011, S. 77f.). Die Hymne der Partei des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Berlusco‐ ni, „Volk der Freiheit” (Popolo della libertà), trägt den Titel: „Für Silvio” (A Sil‐ vio); im Hintergrund intoniert ein Chor den Refrain: „Zum Glück gibt es Silvio” (Meno male che c’è Silvio). Berlusconi arbeitete daran, seine Glaubwürdigkeit als Anti-Politiker zu untermauern. Ihm gehe es nicht um Ruhm, Ehre und Erfolg, son‐ dern um die Liebe seiner Landsleute. Selbstredend bezog sich die Liebesbotschaft

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nicht auf seinen extravaganten Lebensstil, sondern auf die patriotische Liebe der Ita‐ liener zu ihrem Vaterland und ihre unpolitische Sehnsucht nach emotionaler Verge‐ meinschaftung in einer zutiefst individualisierten Gesellschaft. Der resolute bulgari‐ sche Politiker Bojko Borisov wird in der Öffentlichkeit „Bruder Bojko” oder einfach nur „Bojko” genannt (Gehl 2012, S. 220). Häufig zeigt er sich als preisverdächtiger Sportler, tritt aber, je nach Situation, auch als Erlöser, Retter und Apostel der natio‐ nalen Wiedergeburt auf.

10. Informalisierung Informalisierung ist Ausdruck einer pseudo-demokratischen Adaptation der charis‐ matischen Bindung an den Werte- und Kulturwandel seit den 1960er Jahren. Einer der Gründe für den Erfolg moderner populistischer Führer liegt in ihrer Herausfor‐ derung des „legitimen Geschmacks“ (Pierre Bourdieu) und der Verhaltenscodes eta‐ blierter Politiker. Populisten stellen die Hierarchie von „legitimem“ und „illegiti‐ mem“ oder populärem Geschmack in Frage. Ihre volksnahe Redeweise würzen sie mit rüden Beschimpfungen, beißender Polemik, umgangssprachlichen Wendungen, sexuellen Anspielungen, Wortspielen, Witzen oder Tautologien wie dem FPÖ-Wer‐ beslogan „Wir sind wir“. (Weitere Beispiele bei Mudde/Rovira Kaltwasser 2017, S. 64f.). Donald Trump lässt häufig die Formulierung Youʼre fired in seine Reden einfließen. Damit spielt er auf seine Rolle als TV-Moderator der Sendung The App‐ rentice (Der Lehrling) an und setzt auf den Wiederkennungseffekt: im Fernsehen wie im realen Leben ist er der Boss. Gehl betont das Zusammenspiel von physischer und politischer Stärke in halb ironischen, halb bewundernden Kommentaren zu dem Bul‐ garen Bojko Borisov: „Es gibt keine Lesbierinnen, sondern nur Frauen, die Bojko noch nicht getroffen haben”, oder „Einige Leute tragen Schlafanzüge mit Superman, Superman trägt einen mit Bojko Borisov” (zit. nach Gehl 2012, S. 219). Umberto Bossi von der Lega Nord war bekannt für seine sexistischen Ausfälle, oft in Verbin‐ dung mit rassistischen Diffamierungen afrikanischer Immigranten als „Bingo Bon‐ gos”, einer Anspielung auf einen populären italienischen Film aus den achtziger Jah‐ ren. Der Patriarch des französischen Front National, Jean-Marie Le Pen, bediente sich der in der Werbung beliebten Wortspiele und polemisierte gegen die EU mit Wortspielen wie fédéraste, einer Kontamination von Föderation und Päderast, oder mit Maastricheurs, zusammengesetzt aus Maastricht und Betrügern (tricheurs). Der niederländische Dandy Fortuyn brüstete sich mit Besuchen in den dark rooms der Schwulenszene und war stolz auf seinen vorurteilsfreien Lebenswandel. Die Of‐ fenlegung seiner Privatsphäre verstand er indessen nicht als Provokation der Nieder‐ länder, sondern als Huldigung an ihre tolerante politische Kultur, die im Gegensatz zu den hinterwäldlerischen, vormodernen Muslimen stehe. Das Klartext-Reden von

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Populisten verfolgt zwei Ziele: einerseits fördert es öffentliche Aufmerksamkeit, an‐ dererseits wird die drastische, aber unverfälschte Volksästhetik moralisch aufgewer‐ tet. Das für Populismus typische plain talking ist nicht nur ein rhetorisches Mittel zur Verbreitung klarer, einfacher Botschaften, sondern auch eine Verweigerungsstra‐ tegie, sich den „unauthentischen” Zwängen bürgerlicher Repräsentation zu beugen.

11. Authentizität Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat den Beginn des „Zeitalters der Authen‐ tizität“ in den 1968er Jahren angesetzt. Authentizität ist zu einem Schlagwort, wenn nicht gar zu einem Kult moderner Gesellschaften geworden und suggeriert, dass es keinen Unterschied zwischen sozialer und persönlicher Identität gebe. Als Vertreter des symbolischen Interaktionismus ist der Soziologe Erving Goffman schon in den 1960er Jahren der Annahme entgegengetreten, es gäbe ein authentisches Selbst oder einen unwandelbaren persönlichen Wesenskern, der nur unter den Masken gesell‐ schaftlicher Zwänge verborgen sei. Populisten mobilisieren aber gerade mit der Vor‐ stellung, es gäbe ein wesenhaftes Selbst gesellschaftlicher Akteure (des Volkes, des populistischen Führers), das durch Tricks, Verhüllungsstrategien oder gar Verschwö‐ rungen der Eliten unterdrückt oder manipuliert werde. Populistische Führer geben vor, ihre öffentliche Rolle sei identisch mit ihrer privaten und prangern die Heuche‐ lei und Verlogenheit der politischen Eliten an. Die Idee der Repräsentation gilt ihnen als Akt der Entfremdung des kollektiven Selbst. Gleichwohl streben die Wähler po‐ pulistischer Parteien nicht nach realer, sondern nach symbolischer Partizipation. Der Führer übernimmt die Rolle eines Stellvertreters und schürt das Misstrauen gegen mediatisierende Institutionen. Der Faschismus vergöttlichte den Führer und schrieb ihm übermenschliche Fä‐ higkeiten zu. Populismus veralltäglicht ihn und reduziert ihn auf ein bloßes Idol. Martin Schulz, 2017 Kanzlerkandidat der SPD, warb mit Authentizität, Empathie und biographischer Nähe zum Volk. Obwohl er jahrzehntelang als EU-Politiker tätig war, präsentiert er sich als Außenseiter des Establishment, der nicht einmal das Ab‐ itur habe. Die FPÖ warb für ihren damaligen Vorsitzenden Haider mit Zuschreibun‐ gen wie Einfachheit, Ehrlichkeit, Echtheit und stellte die Beziehung zu seinen Wäh‐ lern als Freundschaftsbeziehung dar: „Einfach ehrlich, einfach Jörg“, „Echte Freun‐ de halten ihr Versprechen“.

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12. Starkult In modernen Gesellschaft fällt der Persönlichkeitskult mit dem Starkult als Teil der etablierten kulturellen Ordnung zusammen. Stars werden medial fabriziert (mediamanufactured), auch wenn sie sich über einige persönliche Attribute qualifizieren müssen. Aber diese natürlichen Gaben stehen im Dienste einer künstlichen, rational kalkulierten Evokation von Träumen, Sehnsüchten und Wünschen. Ebenso wie er‐ folgreiche Werbefachleute mit der Gleichsetzung von materiellem Produktwert und symbolischem Mehrwert operieren, verbinden Populisten die konkreten Erwartun‐ gen ihrer Klientel mit dem symbolischen Versprechen der Rückkehr zu einem Gol‐ denen Zeitalter (Taggart 2000, S. 95). Haiders Trumpfkarte war sein außergewöhnliches Vermarktungsgeschick: „Er war einer der ersten in Europa, der begriffen hatte, dass es nicht um Themen oder rationale Diskurse geht, sondern um Emotionen. […] Er hatte verstanden, dass es bei Politik um Marketing geht und man schon sehr raffinierte Werbung machen muss, um Erfolg zu haben.“ (Connolly 2008). Auch Pim Fortuyn setzte sein Wissen als Soziologe und Marketingexperte in die Praxis um. Zur populistischen Vermark‐ tungsstrategie gehört auch das Auftreten des Führers als Medienstar und Entertainer. Haider gab in traditionellen österreichischen Trachten Volkslieder zum Besten, schlüpfte aber auch in andere Verkleidungen und galt als „überdurchschnittlich ge‐ stylt“ (Steyrer 2011, S. 94). Sein Nachfolger Heinz-Christian Strache trat in jugend‐ lichem Outfit als Rapper auf. Berlusconi unterhielt das Publikum gern mit Liebeslie‐ dern. Das Rüstzeug für seine medialen Auftritte hatte er als Werkstudent auf Kreuz‐ fahrtschiffen erworben, wo er als Schnulzensänger auftrat. Im Dezember 2009 wur‐ de der damals 73-Jährige auf dem Domplatz von Mailand von einem Mann angegrif‐ fen, der ihm eine bei Touristen beliebte Nachbildung einer Statue ins Gesicht schleu‐ derte. Berlusconi erlitt Verletzungen im Gesicht und verlor zwei Zähne. Wenig spä‐ ter veröffentlichte er unter dem Titel „Die Liebe siegt immer über Neid und Hass“ (Lʼamore vince sempre sullʼinvidia e lʼodio) eine Auswahl der Sympathiebekundun‐ gen aus dem Volk. Bereits zwei Tage nach dem Angriff hätte er mehr als 50.000 In‐ ternet-Botschaften, hunderte von Fax und ein Meer von Blumensträußen erhalten. Die Presse erklärte seine Veröffentlichung zu einem „Volksbuch“. Hier sei das Volk mit seiner Liebe und Treue zu Berlusconi zu Wort gekommen. Auch der FPÖ-Vorsit‐ zende Strache entdeckte die Werbewirksamkeit der Liebe: „Die Kraft der Liebe ist es, die uns ausmacht.“ (Zit. nach Ottomeyer 2014, S. 220). Der Sänger John Otti trat auf FPÖ-Veranstaltungen mit dem Lied „Liebe ist der Weg“ auf. Pim Fortuyn schmückte sein Luxusdomizil, das er prätentiös „Palazzo di Pietro” nannte, mit einer ganzen Kollektion von Selbstporträts, in denen er sich als Star ge‐ wordener Parvenu bespiegeln konnte. Auch Donald Trump hat einen Hang zu einem pompösen Ambiente und gilt als Narziss. Es wäre aber verfehlt, das Auftreten popu‐

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listischer Führer auf ihr Persönlichkeitsprofil zu reduzieren und ihre vermeintlichen oder tatsächlichen psychischen Eigenschaften als Erklärungsgrund für ihren Erfolg heranzuziehen. Haider, Fortuyn oder neuerdings Donald Trump mögen zwar narziss‐ tische Persönlichkeiten sein, aber das erklärt nicht ihren Erfolg und birgt überdies die Gefahr, sie zu pathologisieren. Säkulares Charisma ist doppelbödig: Die Selbst‐ darstellung des Führers zieht die Spiegelung seiner Anhänger in ihm nach sich. Sie erkennen sich in ihm; er erscheint nur als Vergrößerung ihres Selbstbildes und de‐ monstriert den gleichen Geschmack, die gleichen Ansichten, die gleiche Vorliebe für bestimmte Ausdrucksformen wie sie selbst. Er ist die Projektionsfläche für ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer unpolitischen Gemeinschaft und ein Ventil für ihren Anti-Establishment-Protest.

13. Gegen die Vermittler Mit der Wahl Donald Trumps hat eine Forderung wieder Auftrieb erhalten, die ame‐ rikanische Konservative seit Jahren erheben: Eliminate the middlemen! (Schafft die Vermittler ab!). Mittler, Makler, Verbindungsleute gibt es auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen, in der Wirtschaft ebenso wie im Dienstleis‐ tungsgewerbe und in der Politik. Die Rolle von middleman minorities in der Ge‐ schichte zeigt, dass sie als Sündenböcke prädestiniert sind, wenn sie einer anderen Ethnie oder Religion als die Mehrheitsbevölkerung angehören. Klassische Fälle sind die Juden in Europa, die Armenier im Osmanischen Reich, die Chinesen in Südost‐ asien oder die Inder in Uganda, die der Diktator Idi Amin des Landes verwies. Häu‐ fig wurden sie zur Zielscheibe von Pogromen oder fielen, wie Juden und Armenier, Genozid und Ausrottung zum Opfer. Sozio-ökonomisch fungierten sie als Puffer zwischen den Eliten und den autochthonen „kleinen Leuten“. Als Makler, Händler, Vermieter, Geld- oder Pfandleiher, historisch auch als Steuereintreiber, standen nicht die Eliten, sondern diese middlemen in direktem Kontakt zum einfachen Volk und galten als die eigentlichen Blutsauger und Ausbeuter. Der Klassenkonflikt wurde auf diese Minderheiten abgelenkt und ihre Loyalität zum Aufnahmeland in Frage ge‐ stellt. Häufig lebten sie mit einer Doppelidentität und hatten, anders als immigrierte Siedler, starke Bindungen an ihr Herkunftsland (Bonacich 1973). Seit den 1980er Jahren hat, ausgehend von den USA, eine andere Gruppe die Rol‐ le von middlemen oder von vermeintlich parasitären Zwischenträgern übernommen: bundesstaatliche Bürokraten, Experten, Technokraten, die mit Sozialprogrammen und bildungs- oder gesundheitspolitischen Maßnahmen die Zentralisierung der Poli‐ tik betrieben, anstatt die Bundesstaaten über lokale Anliegen selbst entscheiden zu lassen. Rechtspopulisten fordern daher, die zahlreichen Hilfs- und Förderprogramme

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auf Bundesebene einzustellen. Das eingesparte Geld könne direkt an die Bundes‐ staaten fließen und dort verwaltet werden (historisch dazu Priester 2007, S. 64ff.). Als in den 1990er Jahren auch rechtspopulistische Parteien einen neoliberalen Kurs einschlugen (vgl. Mudde/Kaltwasser 2017, S. 29ff.), wurden die als parasitär geltenden ethnischen Minderheiten von funktionalen Minderheiten abgelöst. Popu‐ listen postulieren, die Beziehung zwischen Produzenten und Konsumenten, zwi‐ schen Presse und Lesern, Bürgern und Politik müsse direkt, ungefiltert, unvermittelt und bilateral, nicht trilateral sein. Zwischen diese Akteure habe sich aber eine „neue Klasse“ (new class) geschoben, die aus finanziellem Eigeninteresse den Verdienst des Produzenten schmälern, aus Machterhaltungstrieb den Willen der Bürger verfäl‐ schen oder in der Presse einseitige, gefilterte Informationspolitik betreiben. Einige sehen in der Ausschaltung von Vermittlern einen demokratischen Zugewinn. So ha‐ be das Internet das Nachrichtengeschäft demokratisiert und Vermittler, vor allem Journalisten, die Nachrichten selektieren und aufbereiten, überflüssig gemacht. Ver‐ treter von „Fair trade“-Bewegungen machen geltend, die Ausschaltung von Vermitt‐ lern erfolge auch zum Schutz von Kleinbauern, deren ohnehin geringe Gewinnspan‐ nen durch Handelsagenten oder Zwischenhändler geschmälert würden. Diese seien aber nichts anderes als Parasiten, die nicht produzieren und Werte schaffen, sondern sich auf Kosten der hart arbeitenden Menschen bereicherten. Die britische Populismusforscherin Margaret Canovan sieht im populistischen Kampf gegen Mediatisierung eine Parallele zum Protestantismus der frühen Neuzeit. Die katholische Kirche hatte ihr Charisma in einem Amtscharisma veralltäglicht; die Stimme Gottes wurde durch den Klerus mediatisiert. Ein direkter, unmittelbarer Zu‐ gang zur göttlichen Autorität hätte ihre Rolle als Vermittler zwischen dem Profanen und dem Heiligen, damit aber auch ihre Macht, in Frage gestellt. „Der charismatische Prediger als Führer eines Revivals von unten hört die göttliche Stim‐ me direkt und umgeht die Hierarchie und die Rituale der Kirche – bis auch diese Bot‐ schaft sich wiederum veralltäglicht und der Kreislauf von neuem beginnt. Die Rolle des Populismus in der Demokratie ist in gewissem Sinne ähnlich. Populisten appellieren an den verknöcherten Institutionen vorbei an das lebende Volk und proklamieren eine unver‐ mittelte vox populi.“ (Canovan 1999, S. 14).

Auch Donald Trumps Wahlkampf und seine Pläne – Einreiseverbot für Muslime aus bestimmten Ländern, Bau einer Grenzmauer zu Mexiko, Konflikte mit Presse und Justiz, Abschaffung von Förderprogrammen, Revision der von Präsident Obama ein‐ geleiteten Gesundheitsreform – zeigen, dass er in Auftreten und Zielsetzung eine po‐ pulistische Politik der Unvermitteltheit verfolgt. Er betreibt kompensatorische Kriegsführung gegen die „neue Klasse“ der Mittelsmänner in Washington, die von der Kluft zwischen Superreichen und Unterprivilegierten ablenken. Nicht zuletzt zeigt sich die populistische Aversion gegen Mediatisierung im Umgang mit Indus‐ trieunternehmen, mit denen Trump unter Aufkündigung von Handelsabkommen di‐

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rekte, bilaterale „Deals“ aushandeln möchte. Seine Anhänger brauchen ihn gar nicht als Mann der Vorsehung wahrzunehmen, ist doch ökonomischer Erfolg in einem cal‐ vinistisch geprägten Land wie den USA per se schon ein Zeichen göttlicher Prädesti‐ nation. Trumps Erfolgsmeldungen auf Twitter, soeben habe er wieder Arbeitsplätze gesichert oder in die USA zurückgeholt, mögen großspurig klingen, denn auch er kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen und wieder blühende Industrie‐ landschaften schaffen. Aber sie stärken den Glauben, dass sich Berge versetzen lie‐ ßen, wenn nur der starke Wille, die Energie und Entschlusskraft eines außeralltägli‐ chen Mannes dahintersteht. Es ist noch wenig erforscht, warum in der westlichen Hemisphäre gerade Millio‐ näre oder Milliardäre wie Berlusconi, Blocher, Haider, Le Pen sen., Ross Perot, Stronach oder Trump als Volksführer auftreten. Die Qualifikation zum homme-peup‐ le hängt indessen nur sekundär vom ökonomischen Status ab und löst per se weder Bewunderung noch Enthusiasmus aus. Während des Wahlkampfes versuchte Trump, seine Konkurrentin Clinton als korrupt und von „Wallstreet“ abhängig zu diskredi‐ tieren. Er dagegen sei finanziell unabhängig und daher nicht käuflich. Reichtum ist nicht nur im banalen Sinne zur Finanzierung der in den USA immens teuren Wahl‐ kämpfe nützlich. Psychologisch dient er vor allem als Glaubwürdigkeitsnachweis. Ein reicher Politiker kann seinen Außenseiterstatus und seine Unabhängigkeit glaub‐ hafter vermitteln als jemand, der auf Sponsoren, Fundraising oder die Rückende‐ ckung einer Partei angewiesen ist. Die Aura des millionenschweren populistischen Führers ist nicht mit dem Gla‐ mour von Filmstars gleichzusetzen, sondern beruht auf zugeschriebenen Persönlich‐ keitsmerkmalen wie Unabhängigkeit, Echtheit und Unverfälschtheit: Da redet einer nicht so verlogen, gewunden, abgehoben oder unverständlich wie Mainstream-Poli‐ tiker. Vielmehr wird er als jemand wahrgenommen, der meint, was er sagt, weil er es nicht nötig hat, nach Pfründen, Vergünstigungen oder Abgeordnetendiäten zu schie‐ len. Nur ein wirtschaftlich unabhängiger Politiker kann glaubhaft versichern, er lebe nicht von der Politik, sondern für die Politik.

14. Abschließende Bemerkungen Ziel dieser Überlegungen war es, Kontinuität und Wandel charismatischer sozialer Beziehungen aufzuzeigen. Die charismatische Beglaubigung des faschistischen Füh‐ rers lag in einer ihm zugesprochenen göttlichen Gnadengabe, in einer Sphäre von Ehrfurcht und Wunder. Säkulares Charisma entsteht dagegen nicht in einer Sphäre des Heiligen und kennt keine transzendente Autorität als Berufungsinstanz, auch wenn idealtypische Vergleiche immer das Problem fließender Grenzen und Über‐ schneidungen aufwerfen. Auch in Krisenzeiten haben Charismatiker Seltenheitswert

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oder sie profitieren, wie Marine Le Pen als Nachfolgerin ihres Vaters, von einem Erbcharisma. Dennoch darf man die Reichweite charismatischer Bindungen nicht überschätzen. Genuine charismatische Herrschaft ist kurzlebig; sie wankt schnell und ist unaus‐ weichlich zum Niedergang verdammt. Menschen erliegen nur für eine gewisse Zeit der hypnotischen Ausstrahlung eines Führers. Werden ihre Forderungen nicht erfüllt, wenden sie sich ab. Die emotionale Bindung ist immer mit rationalen, materiellen Erwartungen verknüpft. Der Faschismus beruhte auf Heldenverehrung und dem Kult nationaler Wiedergeburt, konnte aber in der Regimephase immer weniger die gras‐ sierende Korruption, die Heuchelei und den Klientelismus in Italien oder das soge‐ nannte Bonzentum in Deutschland verhüllen. Als vielschichtiges Phänomen ist Populismus nicht per se anfällig für charismati‐ sche Führung. Wird eine populistische Bewegung aber von einem Charismatiker ge‐ führt, dann liegt der Beziehung zwischen ihm und seinen Anhängern kein Heldenoder Geniekult, sondern ein Starkult zugrunde. Erfolg oder Misserfolg populisti‐ scher Bewegungen hängen nicht nur vom Grad einer Krise, sondern in hohem Maße auch vom Umgang der politisch und ökonomisch Verantwortlichen mit dieser Krise ab. Populismus ist keine Vorstufe zum Faschismus, sondern ein eigenständiges, re‐ aktives Phänomen. Entgegen einer weitverbreiteten Annahme bringt er eher selten charismatische Führer hervor. Aber wie der Begriff des Populismus, ist auch Charis‐ ma heute zu einer schwammigen Allerweltskategorie zur Bezeichnung von Persön‐ lichkeitsmerkmalen geworden. Charisma im politischen Sinne bezeichnet hingegen, auch in der abgeflachten Form des säkularen Charismas, eine soziale Beziehung oder eine Zuschreibung an eine Person. „Im Unterschied zum heutigen Sprachge‐ brauch ist Charisma nicht das gleiche wie Prestige, Ansehen, Popularität oder per‐ sönliche Begabung. Charisma begründet eine soziale Beziehung, die die Verhaltens‐ struktur grundlegend verändert.“ (Lepsius 1993, S. 99). In idealtypischer Zuspitzung treten Charismatiker im Populismus als Sprachrohre oder Stellvertreter des Volkes, im Faschismus dagegen als über dem Volk stehende Heilsbringer auf, die sich das Volk gemäß ihrer Mission erst formen. Mit seiner Mobilisierung von Emotionen, Frustrationen und Ressentiments ist Po‐ pulismus der Antipode des vorherrschenden, auf Rationalität, Deliberation und Kompromiss angelegten liberalen Paradigmas. Das Glaubwürdigkeitsdefizit delibe‐ rativer Repräsentation kann entweder zur Anpassung an populistische Stilmerkmale und zur abgeschwächten oder selektiven Übernahme populistischer Forderungen führen. Oder sie kann zu einer noch größeren Abschließung der „aufgeklärten“ Eli‐ ten in einem Elfenbeinturm oder einer Wagenburg führen, um dem Ansturm der „Volkswut“ standzuhalten. Sie kann aber auch den von Max Weber vorgezeichneten Weg einschlagen und Charismatisierung oder Personalisierung als Herrschaftstech‐ nik in das „stahlharte Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber, 1920, S. 203f.) einbeziehen:

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Hinter den Kulissen spielt sich die vermeintlich unentrinnbare, alternativlose Kom‐ plexität von Politik ab, vor den Kulissen wirkt der „authentische“ Volksversteher und Sympathieträger, der das leisten soll, was nicht zu leisten ist: die Harmonisie‐ rung von Technokratie und Demokratie. Edgar Grande nennt dies „folgenlose Ent‐ täuschungsabsorption“. Ob sich Enttäuschungen aber auf Dauer von Magiern des Wortes absorbieren, wegretuschieren und abfedern lassen, ist die Frage, auf die es bisher nur eine Antwort gibt: Solche Gedankenspiele sind zu durchsichtig, um fol‐ genlos zu bleiben.

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Andreas Hetzel Staatliche Macht, Demokratie und Öffentlichkeit. Problematische Verschiebungen einer Konstellation

In Dave Eggers’ Roman The Circle (2013) wird ein dystopisches Bild der nahen Zu‐ kunft unserer globalen technischen Zivilisation gezeichnet. In dieser Zukunft hat sich der titelgebende Internet-Konzern ‚The Circle‘ eine Monopolstellung als Anbie‐ ter digitaler Dienstleitungen gesichert. Er vereint unter seinem Dach all die Angebo‐ te, die heute noch auf getrennte Unternehmen wie Google, Youtube, Facebook, Twit‐ ter, eBay oder Amazon verteilt sind. Mit seinem zentralen Produkt, ‚True You‘, schafft es ‚The Circle‘, alle Aktivitäten seiner Kunden im Internet an eine einzige digitale Identität zu binden: „Anytime you wanted to see anything, use anything, comment on anything or buy anything, it was one button, one account, everything tied together and trackable and sim‐ ple, all of it operable via mobile or laptop, tablet or retinal.“1

Der Roman erzählt die Geschichte von Mae Holland, einer jungen Mitarbeiterin, die in der Hierarchie des Konzerns dadurch immer weiter aufsteigt, dass sie sich konse‐ quent der ‚Ethik‘ des Unternehmens, dem Ideal absoluter Transparenz und Sichtbar‐ keit, unterwirft. So hat Mae Holland wesentlich Anteil an der Entwicklung und Ver‐ breitung sogenannter ‚SeeChange‘-Kameras, die am Körper getragen werden und es jedem User erlauben, die Schritte aller anderen rund um die Uhr zu verfolgen. Legi‐ timiert wird diese Technologie mit Sicherheitsbedürfnissen, der Prävention von Ver‐ brechen und Korruption (wenn Politiker eine Kamera tragen würden, könnten sie ihren Wählerinnen nichts mehr verbergen), vor allem aber mit der Vorstellung, dass alle Menschen das Recht hätten, jederzeit alles zu wissen, dass Geheimnisse also Verbrechen seien. Der Roman beschreibt dabei auch eine Welt, in der nicht mehr die Wall Street die Welt regiert, sondern das Silicon Valley, eine Welt, in der sich politi‐ sche Macht vor allem am Verfügen über die Ressourcen Information und Informati‐ onsverarbeitung festmacht. Das Ziel der Politik des Konzerns besteht in der ‚Completion‘, im Schließen des Zirkels, welches wiederum darin bestünde, allen Menschen weltweit eine ‚TrueY‐ ou‘-Identität zu geben sowie die von ihnen erzeugten Daten vollständig für alle nutz‐ bar zu machen. Der Roman endet mit einer Szene, in der Mae im Krankenhaus am Bett ihrer Freundin Annie steht, die nach einem Unfall im Koma liegt. Mae betrach‐ 1 Eggers 2013, S. 21.

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tet den Monitor, der Annies Gehirnströme zeigt, und ärgert sich darüber, dass sie diese Gehirnströme nicht „lesen“ kann: „It was an affront, a deprivation to herself and to the world. [...] Why shouldn’t they know them? The world deservered not‐ hing less and would not wait.“2 Der Roman macht uns auf eine Transformation von Machtverhältnissen in unse‐ ren spätmodernen Gesellschaften aufmerksam, die sich zunehmend in Regimen der Sichtbarkeit ausdrücken. Die Freude, mit der wir heute unsere Daten in sozialen Netzwerken verbreiten und auf einem Markt der Aufmerksamkeiten und symboli‐ schen Anerkennung agieren, wird im Roman als Voraussetzung totaler Überwa‐ chung und Kontrolle begriffen. Wie weit Eggers mit seiner Dystopie an reale gesell‐ schaftliche Entwicklungen heranreicht, kann das Beispiel der Volksrepublik China zeigen, die kurz davorsteht, ein Social Credit System einzuführen.3 So wie RatingAgenturen seit einigen Jahren Unternehmen und Staaten auf ihre Kreditwürdigkeit hin bewerten, werden in China schon heute in mehreren Modellregionen Bürger auf‐ grund ihrer Kaufentscheidungen, ihrer Surfgewohnheiten im Internet und ihres poli‐ tischen Engagements nach einem Punktestand gerankt. Als AAA-Bürger gilt dann, wer gesunde Produkte kauft, keinen Alkohol trinkt, die Kommentarfunktionen von regierungsnahen Medien dazu nutzt, regierungsfreundliche Kommentare abzugeben usw. Diesen AAA-Bürgern werden Vergünstigungen bei der Bewilligung von Kredi‐ ten, der Vergabe von Jobs und dem Zugang zu Studienplätzen gewährt. Technisch möglich wird dieses System durch Big Data, durch das Erfassen und Auslesen von Daten, die wir beim Surfen im Internet, beim Kauf von Waren mit der Kreditkarte, in sozialen Netzwerken, aber auch in Kranken- und Gerichtsakten hinterlassen. Un‐ ter Bedingungen des Web 3.0, in dem auch Haushalts- und Unterhaltungstechnologi‐ en mit dem Internet verbunden sind, werden wir darüber hinaus, wie Byung-Chul Han bemerkt, „nun auch von den Dingen überwacht, die wir tagtäglich gebrau‐ chen“.4 In seinem Buch Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken macht Byung-Chul Han auf die subjektivierungstheoretischen und politischen Fol‐ gen der neuen Allianzen von Big Data und Big Brother aufmerksam. Für unsere Selbstverhältnisse bedeuten die neuen Formen von digitaler Kontrolle vor allem, dass heutige Subjekte nicht mehr nur noch als „Unternehmer ihrer selbst“ beschrie‐ ben werden können, sondern auch als „Überwacher ihrer selbst“: Das „digitalisierte, vernetzte Subjekt ist ein Panoptikum seiner selbst“5 geworden. Ein narrativ struktu‐ riertes, sich über Geschichten vermittelndes Selbstverhältnis weicht dabei einem Verhältnis, in dem ich mich als Inbegriff von Daten und quantifizierbaren Skills oder 2 3 4 5

Eggers 2013, S. 491. Vgl. etwa Lee 2017. Han 2014, S. 85. Han 2014, S. 84.

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Kompetenzen begreife. Aber auch die Politik ändert sich in einer grundlegenden und besorgniserregenden Weise. Dadurch, dass Techniken des Micro-Targeting, der Er‐ mittlung individueller User-Profile, eingesetzt werden können, um „Wähler gezielt mit personalisierten Botschaften anzusprechen und zu beeinflussen“, komme es zu einer postpolitischen Verwischung der Grenzen zwischen Demokratie und Markt: „Immer mehr ähneln sich Wählen und Kaufen, Staat und Markt, Bürger und Konsu‐ ment“6 einander an. Eine der wesentlichen Herausforderungen für den demokratischen Verfassungs‐ staat liegt heute auf dem Gebiet der Transformation von Öffentlichkeiten, die sich mit den eingangs skizzierten Entwicklungen eines informationalisierten Kapitalis‐ mus verbinden. Das Internet entwickelt sich von einem Forum öffentlicher Delibera‐ tion, das es in seiner Anfangszeit zumindest auch war, in ein von ökonomischen Mo‐ tiven geleitetes Medium totaler Überwachung, das das Bentham’sche Panoptikum weit in den Schatten stellt. Dem Staat eröffnen sich angesichts dieses Szenarios drei Alternativen: Er kann erstens, wie im Fall der Volksrepublik China, versuchen, die neuen medientechnischen Möglichkeiten zur Konsolidierung seiner Macht zu funk‐ tionalisieren und zentralistisch zu steuern, eine Option, die mit dem Modell eines de‐ mokratischen Verfassungsstaats nicht zu vereinbaren wäre. Er kann sich zweitens, wie in den meisten westlichen Demokratien geschehen, weitgehend zurückziehen und die Öffentlichkeit, das Internet sowie die sozialen Netzwerke dem Markt über‐ lassen; auf diesem Weg würde sich der Staat mittelfristig selbst abschaffen und die Steuerung der Gesellschaft global agierenden Konzernen überlassen. Eine dritte Möglichkeit, für die ich hier plädieren möchte, bestünde darin, die Aufgabe staatli‐ cher Macht vor allem darin zu sehen, Prozesse öffentlicher Deliberation zu ermögli‐ chen und die Foren dieser Deliberation davor zu schützen, von externen Interessen überschrieben zu werden. Dabei hätte der Staat vor allem ein Recht auf informatio‐ nelle Selbstbestimmung auf der Ebene seiner Verfassung zu garantieren, wie es erst‐ mals im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Volkszählung im Jahr 1984 be‐ nannt wurde: „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Ge‐ sellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit weiß.“7 Macht bindet sich heute mehr denn je an Wissen und das Verfügen über Da‐ ten. Die Frage, wer wann was über wen und unter welchen Bedingungen wissen darf, sollte dabei nicht dem Markt überlassen werden, sondern den demokratisch le‐ gitimierten Verfahren eines Verfassungsstaates. In diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass sich die demokratische Legitimität staatlicher Macht heute vor allem in ihrem Verhältnis zu einer lebendigen politi‐ schen Öffentlichkeit zu erweisen hätte, die durch das Web 3.0 und die sozialen Netz‐ 6 Han 2014, S. 86. 7 BVerfG 1983, 1.

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werke nicht verkörpert, sondern eher bedroht wird. In einem ersten Schritt gehe ich dazu etwas allgemeiner auf das Verhältnis von Demokratie und Macht ein, das ich nicht als Ausschließungsverhältnis begreife (1). Ein zweiter Abschnitt widmet sich der Genese der Öffentlichkeit, ihrer Bedeutung für Demokratien sowie den Möglich‐ keiten und Grenzen politischer Öffentlichkeiten heute (2). Der dritte Abschnitt be‐ schreibt schließlich die Gefahren, die der Öffentlichkeit angesichts neuer medien‐ technischer und sozialer Entwicklungen drohen und sieht die Bewahrung von Öf‐ fentlichkeit als lebendigem Vollzug des gemeinsamen Ausübens und Teilens von Macht als wesentliche Aufgabe des Staates (3).

1. Die leere Mitte der Macht Macht, Demokratie und Öffentlichkeit bilden seit jeher einen engen Verweisungszu‐ sammenhang. Der Begriffsgeschichte8 unseres modernen Machtbegriffs können wir entnehmen, dass Macht und ihre Entsprechungen in anderen indoeuropäischen Spra‐ chen anfänglich weniger mit Zwang und Herrschaft verbunden waren, als mit Mög‐ lichkeit und Perspektiven des Sich-wechselseitig-zu-etwas-Befähigens. Unser heuti‐ ger Machtbegriff wird vor allem durch das griechische Substantiv dynamis geprägt, ein Substantiv, das zunächst Fähigkeit, Vermögen, Können und Möglichkeit und erst in einem übertragenen Sinne auch physikalische und körperliche Kraft bedeutete. Auch das Lateinische verbindet Macht mit Möglichkeit, insbesondere in den Sub‐ stantiven potentia und potestas, die die griechische dynamis übersetzen. Als Nach‐ folgebegriff von dynamis und potestas lässt sich Macht begriffsgeschichtlich also als eine Form der Realisation von Möglichkeit verstehen. Bereits das Griechische und das Lateinische grenzen Macht damit einerseits von bloß physischer Gewalt (bia, violentia) und andererseits von Herrschaft (kratos, regnum) ab. Als Vermögen, Mögliches wirklich werden zu lassen, Möglichkeit und Wirklich‐ keit miteinander zu vermitteln, bedarf Macht per se einer intersubjektiven Praxis. Sie ist immer schon auf ihr immanente Verfahren der Reflexion, Brechung und Plu‐ ralisierung verwiesen, die sie, wie etwa Hannah Arendt hervorgehoben hat, von blo‐ ßer Gewalt und physischem Zwang unterscheidet.9 Macht erscheint dann nicht als Beschränkung der Freiheitsspielräume eines Subjekts durch ein anderes, sondern als ein wechselseitiges Befähigen mehrerer Subjekte, dass die Freiheitsspielräume aller Beteiligten erhöht. Demokratische Regierungsformen sind umgekehrt nicht einfach frei von Macht oder der Ausübung von Macht entgegengesetzt, sondern Formen der Regierung, in

8 Vgl. zum Folgenden Lichtblau/Röttgers 1980. 9 Vgl. Arendt 1970.

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denen, wie Tacitus schreibt, „alle alles vermögen [omnia omnes posse]“10, alle also in gleicher Weise an Macht teilhaben bzw. sich wechselseitig zu etwas ermächtigen. Die Partizipation wird in diesem Tacitus-Zitat nicht eingeschränkt. Alle entscheiden, bzw. umgekehrt: Jede(r) Einzelne zählt. Zugleich bezieht sich Demokratie auf alles: Unter demokratischen Bedingungen bleibt nichts der öffentlichen Auseinander‐ setzung prinzipiell enthoben oder vorgeordnet. Die Formulierung omnia omnes pos‐ se zeugt nicht nur von einem demokratischen Politikverständnis, sondern von der Idee einer radikalen Demokratie ohne Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen von Entscheidungsprozessen, die in der Antike niemals vollständig verwirklicht wurde, als Horizont oder Denkmöglichkeit allerdings seit der Etablierung demokra‐ tischer Verfahren im klassischen Athen sehr präsent war. Von der Radikalität des griechischen Verständnisses von Demokratie zeugt indirekt noch Platons eigentlich anklagend gemeinte Definition, dass in der Demokratie „ohne Unterschied Gleichen und Ungleichen dieselbe Gleichheit zu[ge]teilt“11 würde. Als radikal12 kann ein demokratischer Diskurs dann gelten, wenn er wie etwa in den Schriften von Claude Lefort, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Etienne Balibar, Jacques Rancière und Jacques Derrida, Demokratisierung als unendliche Aufgabe begreift. Im Mittelpunkt der Ausführungen der erwähnten Autorinnen und Autoren steht, mit unterschiedlichen Akzentuierungen und Konsequenzen, der Gedanke, dass sich demokratische Auseinandersetzungen über die angemessene Einrichtung des Gemeinwesens von keinem objektiven Standpunkt aus entscheiden lassen. Dies heißt auch, dass sich demokratische Verfahren insofern nicht in universalen Rechtsoder Vernunftprinzipien verankern lassen, als diese Prinzipien ihre Legitimation nur dadurch beziehen könnten, dass sie sich selbst der demokratischen Auseinander‐ setzung stellen. Daraus ergibt sich die Forderung, dass in einer Demokratie die „Mit‐ te der Macht […] leer“13 bleiben muss, dass Demokratie „im Kommen bleibt“14, dass sie sich also niemals eine endgültige, durch einen Rekurs auf letzte Prinzipien verbindlich abgesicherte Gestalt geben kann und sollte. Es ist aus dieser Perspektive gerade eine Leerstelle im Zentrum der Gesellschaft, die diese zusammenhält. Ein Name für diese Leerstelle war seit alters her die Öffentlichkeit. Radikaldemokratische Positionen kritisieren heute vor allem einen Liberalismus, der versucht, die politischen Auseinandersetzungen durch eine Reduktion aller ge‐ sellschaftlichen Interaktionen auf Marktmechanismen zu neutralisieren. Demokratie fassen sie demgegenüber agonistisch, als offene Debatte zwischen sich respektieren‐ den Gegnern, die jeweils versuchen, die Hegemonie im diskursiven Raum zu gewin‐ nen. Damit der Kampf um Hegemonie nicht zu einem Krieg und der Gegner nicht zu 10 11 12 13 14

Tacitus 1981, 40, 3. Platon 1990, 558c, 5-6. Vgl. Norval 2001. Lefort 1990, S. 49. Derrida 2003, S. 123.

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einem Feind wird, muss sich die demokratische Auseinandersetzung in institutionel‐ len Bahnen bewegen, die nur der Staat bereitstellen kann: „Demokratische Politik zielt darauf, Antagonismus in Agonismus umzuformen. Diese Umformung setzt Ka‐ näle voraus, durch die sich kollektive Leidenschaften in der Auseinandersetzung mit einem Thema formen können und die Identifikationsmöglichkeiten bieten, die den politischen Widersacher nicht als Feind konstituieren, sondern als Gegner”15. Diese Kanäle können nur institutionalisierte Verfahren wie Wahlen im Rahmen eines Ver‐ fassungsstaats bilden. Wird der Staat und werden staatliche Institutionen in ihrer Existenz bedroht, sind davon auch die Demokratie und die Möglichkeit des Politi‐ schen überhaupt betroffen: „Wenn parlamentarische Institutionen zerstört oder ge‐ schwächt werden, verschwindet die Möglichkeit einer agonistischen Konfrontation und wird durch ein antagonistisches Wir/Sie ersetzt.“16

2. Transformationen der Öffentlichkeit Unsere heutige Vorstellung einer politischen Öffentlichkeit geht wesentlich auf die klassische Antike zurück.17 Die griechische Polis ist nichts anderes als eine Öffent‐ lichkeit, ein unbedingtes Gespräch, an dem alle freien Bürger teilnehmen können und aus dem nichts und niemand ausgeschlossen werden darf. Mit den Reformen des Solon (594 v. Chr.) und des Kleisthenes (508 v. Chr.) beginnen die Bürger von Athen erstmals, ihre gemeinsamen Angelegenheiten im Medium öffentlicher Reden selbst zu gestalten. Die von ihnen als demokratia bezeichnete neue Form des Zu‐ sammenlebens beruht vor allem auf den Prinzipien der isegoria oder Redefreiheit und der isonomia oder Gleichheit vor dem Gesetz; Demokratie definiert sich als Raum, in dem allen erlaubt ist alles zu sagen. Der Rhetor und Politiker Demosthenes fordert: „Keinem soll es benommen sein, vor dem Volk aufzutreten und das Wort zu erhalten.“18 Das Recht der Redefreiheit geht in Athen so weit, dass es sogar „mög‐ lich ist, ohne Strafverfolgung für die Interessen der Feinde zu sprechen“19. Ein wesentlicher Zug der antiken demokratischen Öffentlichkeit ist ihr agonaler Charakter. Als Agon wird im antiken Griechenland ein spielerischer, öffentlich in‐ szenierter Wettstreit bezeichnet, in dem etwa Jacob Burckhardt und Friedrich Nietz‐ sche die organisierende Mitte des gesamten gesellschaftlichen Lebens der klassi‐ schen Polis gesehen haben. Der Agon, der sein Urbild im von Homer geschilderten Kampf zwischen Hektor und Achill hat, findet seinen öffentlichen Ausdruck in einer breiten Wettkampfkultur, die vom Ring- und Faustkampf über Leichtathletik, Wa‐ 15 16 17 18 19

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Mouffe 2000, 2007a und 2007b. Mouffe 2007a, S. 33-34. Der folgende Abschnitt geht auf Ausführungen in Hetzel 2017 zurück. Demosthenes 1946, S. 13. Demosthenes 1985, VIII, S. 64.

genrennen und Regatten, bis hin zu Dichter-, Tragöden-, Redner- und Philosophen‐ kämpfen reicht. Im Agon verdichtet sich für die Griechen auch ihr politisches Grundprinzip. Der französische Historiker Jean-Pierre Vernant führt die Geburt der griechischen Kultur insgesamt auf die Herausbildung eines agonalen Bewusstseins des Politischen zurück, welches mit der Krise der minoisch geprägten Palast-Ökono‐ mie zu Beginn des 7. Jahrhunderts v. Chr. entsteht. In der neuen Polis konzentriert sich die Macht nicht länger auf den Palast. Eine Schicht von Bürgern beginnt sich zu emanzipieren und gestaltet die Angelegenheiten des Gemeinwesens in öffentlich ge‐ führten Auseinandersetzungen. Politik nimmt hier „die Form eines Redeturniers an, einer mit Argumenten geschlagenen Schlacht“20. Das gemeinsame Leben und ge‐ meinsame Gestalten der gemeinsamen Angelegenheiten verknüpft sich bei den Grie‐ chen mit einem irreduziblen Konflikt. Jede politische Meinung steht hier für eine partikulare Position in einem Kräftefeld, das von keiner Position aus als Ganzes überblickt werden kann. Im offen ausgetragenen Konflikt findet für die Griechen eine Begegnung auf glei‐ cher Augenhöhe statt, die sich von Feindschaft und Gewalt abhebt und die zugleich eine objektive Meta-Position, wie sie etwa die Philosophie Platons für sich rekla‐ miert, ausschließt. In diesem Punkt antizipiert das agonistische Ethos radikaldemo‐ kratische Konzeptionen der Gegnerschaft, die, wie wir gerade gesehen haben, den Dissens und den Widerstreit als unhintergehbar begreifen. Im Gegensatz zum ge‐ waltsamen Konflikt hat der Agon dabei immer auch ein spielerisches, inszenatori‐ sches Moment und ist an ein Publikum adressiert, das allerdings jederzeit selbst zu einer Partei im Konflikt werden kann. Die Allgegenwart des Agon in der klassischen Antike drückt sich in einem Be‐ wusstsein der Unhintergehbarkeit widerstreitender Perspektiven aus. Jede Äußerung muss sich, etwa gemäß der Lehre der Sophisten, dem Agon aussetzen und im Agon bewähren. Protagoras bemerkt in diesem Zusammenhang: „Zwei Reden, die einan‐ der zuwiderlaufen, gibt es zu jeder Sache.“21 Man sollte den Satz ganz wörtlich le‐ sen: Zu jedem Problem finden sich zwei mögliche Meinungen, zu jeder Sache lassen sich mindestens zwei sich widersprechende Reden halten. Die Sache wird gewisser‐ maßen erst dadurch zu einer öffentlichen Sache, oder, um eine Formulierung zu ver‐ wenden, die Bruno Latour im Anschluss an den amerikanischen Pragmatismus ge‐ prägt hat, zu einer „matter of concern“22, dass sie in mindestens zwei sich wider‐ streitenden Perspektiven erscheint. Nur in der Pluralität widerstreitender Perspekti‐ ven tritt uns eine eigenständige Realität entgegen. Der (einen Gemeinsinn allererst stiftende) Widerstreit der Perspektiven dient damit als Garant jeglicher Objektivität. Die Polis wird zu einem Raum strittiger Ansprüche und Gründe. Weder die Stadt‐ 20 Vernant 1982, S. 42. 21 Diels/Kranz 1961, B 6A. 22 Latour 2007, S. 20.

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mauern noch das gemeinsame Blut garantieren ihre Identität, sondern das permanen‐ te, öffentlich geführte Gespräch. Die Definition des Menschen als zoon politikon be‐ sagt immer auch, dass sich die einzelnen Bürger im Modus der Agonalität begegnen, dass sie keinen gemeinsamen Raum bewohnen, sondern diesen Raum immer wieder neu definieren und aushandeln müssen. Nach dem Ende der Demokratie in der antiken Polis, die seit Alexander dem Gro‐ ßen durch Formen der Prinzipatsherrschaft ersetzt wird, verfällt die Öffentlichkeit als soziale Wirklichkeit in eine Art Winterschlaf, gerät aber als Idee auch in Rom, in der Spätantike und im Mittelalter nie ganz in Vergessenheit. Erst in der Renaissance bilden sich in Europa dann wieder lebendige Öffentlichkeiten aus, begünstigt vor al‐ lem durch einen tiefgreifenden ökonomischen und technischen Wandel. Durch die Ausweitung des Handels entsteht ein komplexes Netz von Messen und Börsen, das wiederum ein organisiertes Nachrichtenwesen nötig macht. Die Medien, über die zu‐ nächst Kaufleute Nachrichten austauschen, werden dann zunehmend für einen Aus‐ tausch von politischen Meinungen genutzt, ein Prozess, der durch die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert befördert wird. Die neu entstehende bürgerliche Öf‐ fentlichkeit knüpft dabei dezidiert an das antike Ideal der Meinungsfreiheit an, so et‐ wa in John Miltons 1644 erschienener Areopagitica, die als wesentliches Dokument des frühneuzeitlichen Kampfes um Presse- und Meinungsfreiheit gelten kann.23 Mil‐ ton bringt eine Reihe von Argumenten für die zivilisierende Kraft eines freien und öffentlichen Austauschs von Meinungen vor und geht davon aus, dass niemand eine Wahrheit für seine Position reklamieren kann, der diese Position nicht zuvor der öf‐ fentlichen Auseinandersetzung anheimstellt; damit inspiriert er Autoren wie Spinoza und Kant, die den öffentlichen Vernunftgebrauch ins Zentrum ihrer Vorstellung von Aufklärung stellen. Obwohl es den Protagonisten der Aufklärung nicht nur gelingt, das antike Ideal öffentlichen Beratens und Entscheidens wiederzubeleben, sondern auch eine reale politische Öffentlichkeit zu etablieren, bleibt diese von Anfang an prekär. Politisch gerät die bürgerliche Öffentlichkeit zunächst dadurch unter Druck, dass es in den Jahrzehnten nach der französischen Revolution in den meisten europäischen Natio‐ nalstaaten zu einer Restauration älterer Formen der Prinzipatsherrschaft kommt. Da‐ rüber hinaus wird die bürgerliche Öffentlichkeit, wie insbesondere Jürgen Haber‐ mas24 sowie Oskar Negt und Alexander Kluge25 betont haben, im 19. Jahrhundert zunehmend durch eine kapitalistische Produktionsöffentlichkeit überschrieben. Mit der Entwicklung der Medien zu Massenmedien kommt es zu Monopolbildungen: Wer über wirtschaftliche Macht verfügt, vermag auch die Medien zu kontrollieren. Die unter Bedingungen kapitalistischer Produktion entstehenden Massenmedien hal‐ 23 Vgl. Milton 2011. 24 Vgl. Habermas 1962. 25 Vgl. Negt/Kluge 1972.

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ten nur noch den Schein einer Öffentlichkeit aufrecht, um de facto das Publikum da‐ durch zu manipulieren, dass sie genau die (Konsum-)Bedürfnisse erzeugen, die der Kapitalismus für seine Selbstreproduktion benötigt. In der zeitgenössischen politischen Theorie bietet insbesondere die radikaldemo‐ kratische Position von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe gute Möglichkeiten, dem antiken und aufklärerischen Ideal einer agonalen Öffentlichkeit gerecht zu werden.26 Die Krise der heutigen Demokratie hängt für Laclau und Mouffe wesentlich damit zusammen, dass seit den 1990er Jahren ein neoliberaler Diskurs eine hegemoniale Position übernommen hat. Seit dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 hätten sich alle gesellschaftlichen Alternativen zum Neoliberalismus, so zumindest dessen Verfechter, desavouiert. Wir befänden uns heute insbesondere jenseits des alteuro‐ päischen Gegensatzes von links und rechts. Die vermeintliche Alternativlosigkeit des Neoliberalismus unterminiert für Laclau und Mouffe die Möglichkeit des Politi‐ schen überhaupt und führe in eine allgemeine Politikverdrossenheit, die sich wiede‐ rum rechte Populisten zunutze machten. In der heutigen Politik scheinen wir an das „Ende des Modells von Gegnerschaft in der Politik“27 gekommen zu sein und ge‐ fährden damit das Politische selbst. Durch den Mangel an klar unterscheidbaren Identifikationsmöglichkeiten haben populistische Strömungen, die den Bürgern „starke“ Bindungsangebote machen, welche meist über soziale Exklusion und Sün‐ denbockmechanismen verlaufen, ein leichtes Spiel. Demokratie wird bei Laclau und Mouffe nicht nur über Prozesse der Meinungs‐ bildung und Deliberation bestimmt, sondern mehr noch als eine Lebensform, zu der auch politische Leidenschaften und affektive Verhaftungen gehören. Eine funktio‐ nierende Öffentlichkeit schafft legitime Räume und Kanäle für das Ausleben politi‐ scher Leidenschaften, sie stellt Möglichkeiten zur Ausbildung unterschiedlicher po‐ litischer Subjektivierungsweisen bereit, ist dabei aber, wie wir bereits gesehen ha‐ ben, selbst auf einen funktionierenden Verfassungsstaat verwiesen, der die Öffent‐ lichkeit davor schützt, ökonomischen Interessen geopfert zu werden.

3. Macht und Öffentlichkeit im Zeitalter von Big Data Seit der Etablierung des Internets als eines neuen Mediums, das im Vergleich zu klassischen Massenmedien wie Radio und Fernsehen weniger hierarchisch, partizi‐ pativer und vielstimmiger zu sein verspricht, ist immer wieder die Hoffnung geäu‐ ßert worden, dass sich in und mit den neuen technischen Kommunikationsmöglich‐ keiten auch neue Chancen für die Erweiterung von Demokratisierungsprozessen er‐ geben würden. Das Internet und die internetbasierten sozialen Netzwerke könnten 26 Vgl. Schwarz 2017. 27 Mouffe 2002, S. 101.

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dabei insbesondere eine Krise der bürgerlichen Öffentlichkeiten kompensieren und zur Ausbildung neuer Gegenöffentlichkeiten verhelfen. In Bezug auf diese Hoffnun‐ gen ist, wie wir eingangs gesehen haben, eine gewisse Skepsis angebracht. Lebendi‐ ge Öffentlichkeiten gingen und gehen immer mit einem agonistischen Ethos einher, mit der Fähigkeit, Konflikte und Infragestellungen der eigenen Position auszuhalten. Durch die sich in sozialen Netzwerken etablierenden Echokammern und Selbstbestä‐ tigungsblasen wird nun aber gerade dieser entscheidende Zug von Öffentlichkeiten unterdrückt. Kann das Internet heute den von Laclau und Mouffe geforderten Raum bereitstel‐ len, in dem Antagonismen in Agonismen transformiert werden, in dem eine neue Öffentlichkeit entsteht? Werden die sogenannten „sozialen Netzwerke“ wie Twitter und Facebook ihrem Namen gerecht und schaffen neue, politisch-progressive For‐ men von Sozialität, die die politische Handlungsfähigkeit der in ihnen vernetzten Akteure erhöhen? Die anfängliche Euphorie von Netzaktivisten ist inzwischen einer weitgehenden Ernüchterung gewichen.28 Gleich mehrere Tendenzen, von denen ich hier nur zwei, ein Überschreiben des Öffentlichen mit dem Privaten sowie eine post‐ faktische Politik, in exemplarischer Weise behandeln kann, sprechen gegen die Hoff‐ nung, dass die technischen Möglichkeiten des Internet eine Renaissance der Öffent‐ lichkeit einleiten könnten. In der Antike wurde der öffentliche Raum (die Polis) strikt dem Raum des Priva‐ ten (dem Oikos) entgegengesetzt. Während die Polis als eine Gemeinschaft von Freien und Gleichen begriffen wird, gilt der Oikos oder das Hauswesen als Raum der Herrschaft (des Hausherrn über seine Sklaven, seine Kinder und seine Frau), der Notwendigkeit (der materiellen Reproduktion und Arbeit) und der Intimität (von Ge‐ fühlen wie der Liebe). Der Privatmann, der nur im Oikos lebt und sich nicht um die öffentliche Belange kümmert, wird in der Polis mit dem Substantiv idiotes belegt: Als Idiot gilt derjenige, der nur in seinen vier Wänden lebt, der sich nur um die eige‐ nen Angelegenheiten kümmert, dessen Leben sich auf Arbeit und Konsum reduziert. In den 1970er Jahren hat Richard Sennett im Anschluss an Arendt darauf hingewie‐ sen, dass sich die Konturen zwischen Polis und Oikos in der Spätmoderne zuneh‐ mend verwischen, dass der Raum der Öffentlichkeit mit Privatheit und Intimität überschrieben wird: „Die Welt intimer Empfindungen verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Inti‐ mität darstellen würde.“29 Sennett macht dies vor allem an einer Psychologisierung der Lebenswelt, einem neuen Kult des Selbst und einer Transformation von Aner‐ kennungsverhältnissen in einen „Markt gegenseitiger Selbstoffenbarungen“30 fest. Verstärkt wird diese Entwicklung durch Medienformate wie Talkshows, in denen 28 Vgl. Kneuer 2013. 29 Sennett 1974, S. 19. 30 Sennett 1974, S. 24.

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nicht länger die gemeinsamen Angelegenheiten verhandelt werden, sondern idiosyn‐ kratische Weisen des Begehrens. Das Internet wirkt auf diese neue Tyrannei der Intimität wie ein Katalysator. Ins‐ besondere soziale Netzwerke dienen nicht der politischen Deliberation, sondern einem meist bildlichen Sich-in-Szene-Setzen des privaten und intimen Lebens, das lückenlos und in Echtzeit um Aufmerksamkeit kämpft. Das Leben selbst beginnt sich von vorn herein auf seinen möglichen Aufmerksamkeitswert hin zu entwerfen, es wird zum Nachbild seiner Inszenierung im sozialen Netzwerk. Die Kultur des Li‐ kens etabliert in sozialen Netzwerken wie Facebook eine feudalistische Ordnung, in der es darauf ankommt, gelikt zu werden und sich in der Nähe solcher „Freunde“ zu positionieren, die über eine hohe Sichtbarkeit bzw. ein hohes Maß an quantifizierba‐ rer Aufmerksamkeit verfügen. Auf die sozialen Netzwerke trifft in fast unheimlicher Weise zu, was Jean-Jacques Rousseau mit Rücksicht auf die aus seiner Sicht ent‐ fremdete höfische Gesellschaft im Frankreich seiner Zeit ausführen konnte: „Ein jeder bemerkte alle anderen und hatte Lust, wiederum von ihnen bemerkt zu wer‐ den. Die öffentliche Hochachtung erlangte einen Wert. […] Man mußte zu seinem eige‐ nen Besten sich anders stellen, als man war. Sein und Scheinen wurden zwei ganz ver‐ schiedene Dinge, und aus diesem Unterschiede entsprang die täuschende Hoheitsmiene, die betrügerische List und ihr Gefolge, alle übrigen Laster.“31

Kommen wir damit zum zweiten Faktor, der sich allen Hoffnungen eines Erstarkens der Öffentlichkeit durch das Internet entgegenstellt. Das Erstarken populistischer, meist dezidiert antidemokratischer Bewegungen in Europa und in den USA verdankt sich nicht zuletzt auch einer neuen Form der Netzkommunikation. Das Netz erlaubt es, sich gerade nicht mehr mit Kritik, Einwänden und gegnerischen Positionen aus‐ einandersetzen zu müssen, sondern sich in Echokammern und Selbstbestätigungs‐ blasen einzurichten, Nachrichten etwa nur noch daraufhin auszuwählen, dass sie dem eigenen Weltbild gemäß sind. Die Bürger der antiken Polis haben sich wechsel‐ seitig als Verschiedene begriffen und respektiert. Demokratische Politik nimmt im‐ mer die Gestalt eines Miteinander der Verschiedenen an, die sich nicht als Feinde betrachten, sondern als Gegner auf gleicher Augenhöhe. Die neuen Populismen be‐ rufen sich demgegenüber auf eine homogene, nationalistisch, ethnisch oder religiös motivierte Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft, in deren Namen eine meist unheil‐ volle Politik betrieben wird, sei in substanziellen Werten verankert, die alle politi‐ schen Debatten überflüssig machten. Zugleich sieht sich diese Gemeinschaft bedroht durch alles Heterogene und Fremde, das sie daran hindert, ihre reine Gestalt zu ver‐ wirklichen. Politische Gegner werden wieder zu Feinden gemacht, an die Stelle der Auseinandersetzung rückt eine Sprache des Hasses, des Ressentiments und der Kon‐ struktion von Sündenböcken. Befördert wird die Hasssprache noch durch die An‐ 31 Rousseau 1981, S. 236/242.

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onymität des Internet, durch die Möglichkeit, einen Menschen zu diffamieren, ohne ihm oder ihr dabei unter die Augen treten zu müssen, ohne den geschützten privaten Raum wirklich verlassen zu müssen. Der Hass richtet sich letztlich gegen die als „Lügenpresse“ diffamierte Öffentlich‐ keit selbst. Während des Brexit-Referendums in Großbritannien und des letzten USPräsidentschafts-Wahlkampfs wurde immer deutlicher mit Halbwahrheiten und Lü‐ gen Politik gemacht. So gelang es dem Lager um Donald Trump, weite Teile der amerikanischen Wählerschaft von „alternativen Fakten“ in Bezug auf die Ursachen des Klimawandels zu überzeugen, die dem überwältigenden Konsens der weltweiten Klimawissenschaftler widersprechen. Der postdemokratischen Politikverdrossenheit korrespondiert heute ein postfaktisches Zeitalter. Die Macht eines demokratischen Verfassungsstaates wäre eine in einem doppel‐ ten Sinne geteilte Macht. Einerseits unterliegt sie der Gewaltenteilung von Legislati‐ ve, Judikative und Exekutive, die sich wechselseitig daran hindern, die Ausübung von Macht zu monopolisieren und damit das Ideal einer leeren Mitte der Macht in die Verfassung des Staates selbst einschreiben. Als vierte Gewalt haben sich in unse‐ ren spätmodernen Gesellschaften dann noch die Medien etabliert, die die in staatli‐ chen Institutionen verkörperte Politik insgesamt einer weiteren, öffentlichen Kon‐ trolle unterziehen. Diese vierte Macht hat allerdings nicht zuletzt in ihrer neuesten Gestalt, dem Internet, selbst die Tendenz, Macht in Form von absoluter Kontrolle auch über den Staat zu monopolisieren. Geteilt wird die Macht in einem Verfassungsstaat, sofern er sich als demokratisch begreifen möchte, darüber hinaus aber auch noch in einem anderen Sinne: Sie wird gemeinsam, also von allen, von jedem beliebigen, ausgeübt. Öffentlichkeit könnte ein Name für genau dieses schrankenlose Geteiltwerden der Ausübung von Macht sein. In einer Demokratie teilen sich die Bürger die Macht gerade dadurch, dass sie die Möglichkeiten des Zugangs zu Entscheidungsprozessen zur Debatte stellen, dass sie sich also auf einen öffentlich geführten Agon einlassen. Eine der dringlichsten Aufgaben des Staates besteht heute darin, eine Öffentlichkeit in diesem Sinne gegen ihre postpolitischen Schwundstufen, nichts anderes wären die meisten sozialen Netz‐ werke, zu verteidigen. Dies vermag der Staat nur, wenn er auch der vierten Macht einen Ort in seiner Verfassung einräumen könnte.

Literatur: Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt. München. BVerfG (1983), Urteil des Ersten Senats vom 15. Dezember 1983, 1 BvR 209/83 u. a. – Volkszählung –, BVerfGE 651. Demosthenes (1946): Rede vom Kranz. Hrsg. v. Marion Müller, übers. v. Friedrich Jacobs. München.

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Reinhard Mehring Gute Macht! Ulrich Menzel über die Ordnungsleistung der „großen Mächte“

In einem Sammelband, der politische Macht thematisiert, ist eine Realanalyse der gegenwärtigen Machtverhältnisse wohl nicht ganz deplatziert. Der folgende Beitrag entwickelt eine solche Machtanalyse aber nicht selbst, sondern er setzt sich in der Form einer Besprechungsabhandlung mit der umfänglichen und bedeutenden Glo‐ balgeschichte Die Ordnung der Welt auseinander, die der Braunschweiger Politik‐ wissenschaftler Ulrich Menzel unlängst 2015 auf über 1200 Seiten (bei Suhrkamp) „ganz ohne Drittmittelförderung“ (Menzel 2015, S. 25) als sein opus magnum publi‐ zierte. Der Untertitel heißt Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staaten‐ welt und verdichtet damit schon einige Thesen des Buches: Es gibt eine Hierarchie der Staatenwelt; „große Mächte“ schaffen „Ordnung“ und agieren dabei in der offe‐ nen Skala der Politikstile mehr oder weniger imperial oder hegemonial: als „Herr‐ schaft“ oder kooperative „Führerschaft“. Das eindrucksvolle und detailliert lehrrei‐ che Buch entwickelt in stupender Materialkenntnis eine ganze Reihe weiterer wich‐ tiger Thesen und Folgerungen. Menzel versteht sich dabei als ein „Spezialist fürs Allgemeine“ (ebd., S. 22), der eine Fülle von Detailforschungen in eine Kette von „Fallstudien“ und große Meistererzählung bündelt. Historiker sind aufgerufen, die einzelnen Fallstudien detailliert zu prüfen. Politikwissenschaftler werden die verglei‐ chende Betrachtung der jeweiligen „Machtzyklen“ diskutieren. Politische Theoreti‐ ker und Philosophen erörtern die impliziten Voraussetzungen der Darstellung. Die folgende Besprechungsabhandlung bemüht sich über die schlichte Präsentation des Buches hinaus um die Verdeutlichung der machtgeschichtlichen Perspektive und im‐ pliziten „realistischen“ Machttheorie im Kontrast zur älteren geschichtsphilosophi‐ schen Tradition, für die hier insbesondere Hegel und Carl Schmitt als Repräsentan‐ ten stehen.

1. Wendung zum Realismus Die Weltgeschichtsschreibung galt in Deutschland lange als ein Erbe der Ge‐ schichtstheologie und Geschichtsphilosophie. Für diese Sicht wurde Karl Löwiths Buch Weltgeschichte und Heilsgeschehen signifikant, das zunächst auf Englisch in den USA erschien und später ins Deutsche (Löwith 1953) übersetzt oder rücküber‐

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setzt wurde. Löwith bekannte sich in der schmalen Studie eingangs zur historischen Beobachterperspektive von Jacob Burckhardt und ging dann von Marx und Hegel über die Fortschrittsphilosophen der Aufklärung bis auf Augustinus, Orosius und die „biblische Auslegung der Geschichte“ zurück, mit der er den starken Teleologismus in der Weltgeschichtsschreibung verband. Viele Geschichten der Geschichtsphiloso‐ phie haben solche oder ähnliche Linien nach 1945 gezogen. Auch die Übernahme der Trostfunktion (Sommer 2006) und Theodizeeproblematik von der Geschichts‐ theologie auf die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts wurde in neuerer Zeit detailliert betrachtet. Nach 1945 stand in Deutschland eine Entideologisierung des „deutschen Sonderwegs“ an. Die vorherrschende Totalitarismustheorie parallelisierte Faschismus und Nationalsozialismus, Leninismus und Stalinismus und entsorgte mit dem Marxismus zusammen gerne auch den ganzen Hegelianismus gleich mit (wirk‐ mächtig Popper 1945). Die analytische Geschichtsphilosophie verwies die Ge‐ schichtsschreibung zwar auf einen Bedarf an starken „Geschichtserzählungen“; Te‐ leologismus und Finalismus wurden seither weithin lange verpönt. Eine ambitionier‐ te normative „Geschichte des Westens“ wird deshalb auch von Rezensenten, anders als im größeren Publikum, „außerhalb der derzeitigen Forschungslandschaft“ (Ste‐ ber 2016, S. 400) situiert. Dabei müssen starke normative Vorgaben und Linienfüh‐ rungen der Geschichtserzählung gar nicht „theologisch“ kontaminiert sein. Ludwig Landgrebe (Landgrebe 1954), ein Husserl-Schüler, hatte in seiner frühen Auseinan‐ dersetzung mit Löwith schon auf dessen fehlende Berücksichtigung Kants verwie‐ sen. Kant stand dabei für eine politisch-praktische, pragmatische Rechtfertigung normativer Perspektiven der Weltgeschichtsschreibung. Kants „Weltbürgerrecht“ verlangte nach einer Weltgeschichtsschreibung, die He‐ gel als Zeuge der Revolutionsepoche ein halbes Jahrhundert später auf sich nahm. Leopold von Ranke steht im 19. Jahrhundert dann als Erbe Hegels für die Transposi‐ tion der alten Geschichtsphilosophie in die Weltgeschichtsschreibung (Schulin 1958). Sein Geschichtsbild war protestantisch-preußisch dem diplomatischen Kon‐ zert der „großen Mächte“ verbunden: dem kooperativen Hegemonialismus der Welt‐ herrschaft Europas. Auch die damaligen liberalen Orientierungen am Modell der Ba‐ lance und des „Gleichgewichts“ der „großen Mächte“ erfolgten meist unter der selbstverständlichen Voraussetzung der zivilisatorischen Überlegenheit und Vorherr‐ schaft Europas. Rankes historische Schule wurde im Neo-Rankeanismus (Iggers 1971) des Wilhelminismus imperial. Am Ende dieser Tradition kehrte Ludwig Dehio (Dehio 1948) in einer signifikanten Nachkriegsrevision aber die Wertung um und betrachtete das „Hegemonialstreben“ für das neuzeitliche europäische Staatenkon‐ zert unter der Alternative „Gleichgewicht oder Hegemonie“ mehr als ein „Schei‐ tern“. Die Geschichte der Neuzeit erschien ihm als eine Kette des „Scheiterns“ von Hegemonialansprüchen. Nacheinander führte Dehio dies für Philipp II., Ludwig XIV., Napoleon und Hitler aus.

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Ulrich Menzel orientiert das Hegemoniestreben heute nicht an starken Konzepten vom Weltfrieden, Mächtepatt oder Gleichgewicht, sondern am Begriffspaar „Imperi‐ um oder Hegemonie“. Schon im ersten Absatz des Vorworts formuliert er als Funda‐ mentalsatz seiner Betrachtungsweise apodiktisch: „Die Ordnung in der Anarchie der Staatenwelt resultiert aus der Hierarchie der Staatenwelt“ (Menzel 2015, S. 17). Die‐ se gewiss nicht ohne Provokationslust gemeißelte Formel hat für symmetrische Gleichgewichtsbeziehungen offenbar wenig Sinn. Menzel erläutert zum „Axiom“ der „Hierarchie der Staatenwelt“ deshalb auch: „Die Staaten sind ungleich in nahezu jeder Hinsicht“ (ebd., S. 36). Völkerrechtliche Gleichheitsunterstellungen, wie sie mit dem Souveränitätsprinzip gegeben sind, spielen in seinen Ausführungen fast kei‐ ne Rolle. Auch die religiösen Konfessionen erscheinen nicht als weltgeschichtlich relevante Faktoren. Menzels Perspektive ist dezidiert anti-idealistisch. Seine Leitbe‐ griffe von Anarchie und Ordnung, Hierarchie und Staatenwelt stehen in der „realisti‐ schen“ Linie machtanalytischer Politikwissenschaft. Menzel setzt sie selbstverständlich voraus und bezieht sich nicht auf irgendwel‐ che „Klassiker“ politischer Theorie und Philosophie. Sach- und Namensregister feh‐ len in seinem Kolossalwerk, hätten auch leicht weitere Dutzend Seiten gefüllt und die Übersicht nicht sonderlich gesteigert. Überaus hilfreich sind dagegen zahlreiche tabellarische Übersichten und Zusammenfassungen. Darüber hinaus findet sich am Ende ein umfangreicher Anhang „Die großen Verabredungen: Tausend Jahre Konfe‐ renzen, Verträge, Gesetze und Erklärungen zur Ordnung der Welt“ (ebd., S. 1141-1157), der Carl Schmitts „ewiges Gespräch“ assoziieren lässt oder auch Kants „satirische Überschrift“ Zum ewigen Frieden auf dem „Schilde eines holländi‐ schen Gastwirts, worauf ein Kirchhof gemalt war“. Menzel meidet aber Referenzen an die politische Ideengeschichte. Namen wie Hobbes oder Machiavelli finden sich im Buch fast gar nicht. Er beruft sich vielmehr auf die angelsächsische Forschung: die Empire- und Decline-Literatur, Immanuel Wallerstein und viele andere neuere Autoren. Heute fordert die „Weltgesellschaft“ die Globalgeschichte. Deutschland ist aus dem Schatten der Mauer und Schutzschild der Pax Americana herausgetreten und muss verstärkt politische Debatten um seine Rolle in Europa und der Welt füh‐ ren. Zunehmend tritt deshalb auch die deutsche Forschung aus dem Schatten der Machtskepsis und Machtkritik heraus und beteiligt sich an den Debatten um „Lead‐ ership“. Menzel verweist hier wiederholt u.a. auf Herfried Münklers Buch Imperien von 2005. Sein großes Werk dürfte im globalgeschichtlichen Detailanspruch aber in‐ nerhalb der deutschen Literatur ziemlich singulär stehen.

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2. „Sinozentrismus“: Vergleich mit Hegel Ulrich Menzel wurde 1947 in Düsseldorf geboren und promovierte und habilitierte sich im Fach Politikwissenschaft in Frankfurt. Von 1933 bis 2015 lehrte er Interna‐ tionale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU-Braunschweig. Seine ersten Monographien widmete er China, Japan und Ostasien. Seine globalge‐ schichtliche Perspektive erschloss er von den Schwellenländern, der Entwicklungs‐ politik und „Dritten Welt“ her, von der er heute aber terminologisch nicht mehr re‐ det. Sondiert man die zahlreichen Publikationen, so scheint sein Buch Globalisie‐ rung versus Fragmentierung, 1998 bei Suhrkamp erschienen, eine positive Gesamt‐ bewertung des Globalisierungsprozesses anzudeuten, den Menzel auch als Die neue Weltwirtschaft (Menzel 1999) und Theorie der Internationalen Beziehungen reflek‐ tierte. Nun legt er also im Jahr seiner Emeritierung eine Summe und ein opus ma‐ gnum vor. Menzel gehört in die Reihe der ernüchterten 1968er, deren politischer Realismus den Idealismus erdete und beerdigte und die von der Friedensforschung und Ent‐ wicklungspolitik zum Lob der Großmächte als „große Mächte“ und Ordnungsstifter schritten. Seinen anfänglichen Themen blieb er nicht zuletzt im „Nachdenken über China“ und der „sinozentrischen“ Perspektive treu. Seine idealtypische Alternative „Imperium oder Hegemonie“ scheint dabei nicht zuletzt der Konstellation des „Kal‐ ten Kriegs“ vor 1989 abgelesen zu sein, gelten Sowjetunion und USA im Buch doch als prototypische Vertreter der Antithese. Nicht weniger zentral ist aber der Verweis auf China als Anfang und Ende des „Eurozentrismus“: Menzel betont die Abhängig‐ keit der Formierung des „alten Weltsystems“ von Ostasien und eine mögliche baldi‐ ge Ablösung des neueren „atlantischen“ Weltsystems, das im 20. Jahrhundert in das „globale Weltsystem“ der Pax Americana überging, für „ca. 2030“ oder auch „2035“ durch China. Bei Hegel heißt es noch apodiktisch: „Asien ist der Weltteil des Anfangs überhaupt. Es ist zwar ein Westen für Amerika; aber wie Europa überhaupt das Zentrum und das Ende der Alten Welt ist und absolut der Wes‐ ten ist, so ist Asien absolut der Osten. In Asien ist das Licht des Geistes und damit die Weltgeschichte aufgegangen“ (Hegel 1970b, S. 130). „Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang. Für die Weltgeschichte ist ein Osten Kat’exochen vorhanden, dagegen der Osten für sich etwas ganz Relatives ist; denn obgleich die Erde eine Kugel bildet, so macht die Geschichte doch keinen Kreis um sie herum, sondern sie hat vielmehr einen bestimmten Osten, und das ist Asien. Hier geht die äußerliche physi‐ sche Sonne auf, und im Westen geht sie unter: dafür steigt hier die innere Sonne des Selbstbewusstseins auf, die einen höheren Glanz verbreitet“ (ebd., S. 134).

Hegel hat hier einige Mühen mit den Tücken der Naturanalogie, muss zwischen Na‐ turgeschichte und Kulturgeschichte, „äußerlicher“ und „innerer“ Sonne unterschei‐ 184

den. Dafür bedient er sich auch der Analogie des Lebenszyklus und spricht vom Ori‐ ent im „Stufengang der Entwicklung des Prinzips“ als erste Stufe der „Natürlich‐ keit“ (ebd., S. 77) und „Kindesalter der Geschichte“ (Hegel 1970b, 135). Der euro‐ zentrische Abschluss bereitet ihm ebenfalls einige Mühe, betrachtet er doch Nord‐ amerika als „Land der Zukunft“ (ebd., S. 114) bereits recht eingehend. Die Eigenart Amerikas sei aber noch nicht erkennbar: „Mit Europa könnte Nordamerika erst verglichen werden, wenn der unermessliche Raum, den dieser Staat darbietet, ausgefüllt und die bürgerliche Gesellschaft in sich zu‐ rückgedrängt wäre. […] Was bis jetzt sich hier ereignet, ist nur der Widerhall der Alten Welt und der Ausdruck fremder Lebendigkeit, und als ein Land der Zukunft geht es uns überhaupt hier nichts an; denn wir haben es nach der Seite der Geschichte mit dem zu tun, was gewesen ist“ (ebd., S. 113f).

Menzel (Menzel 2015, S. 833ff) datiert die „lange Aufstiegsphase“ und Expansion oder innere Kolonialisierung der USA bis 1898. „Fast die Hälfte des US-Territori‐ ums“ (ebd., S. 850) wurde dabei zum Spottpreis erworben. Hegels Ausschluss der USA aus der Weltgeschichte könnte er als Verweis auf den frühen Isolationismus passieren lassen, weil er die weltgeschichtliche Dynamik des ersten Machtzyklus erst mit dem Triumph des Nordens im Bürgerkrieg und der Formierung der USA als Industriegesellschaft ansetzt. Hegels Schwierigkeiten, einen „absoluten“ Anfang und ein Ende der Weltgeschichte anzunehmen, sind aber unübersehbar. Das gilt freilich für alle Periodisierungen. Zu beachten ist hier, welche Geschichte überhaupt erzählt wird. Bei Hegel heißt es bekanntlich: „Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Be‐ wusstsein der Freiheit“ (Hegel 1970b, S. 32). Hegel erörtert die Möglichkeitsbedin‐ gungen seiner Philosophie des „absoluten Geistes“; Menzel dagegen schreibt eine Globalgeschichte der Weltordnung. Hegel erörtert die „orientalische Welt“ zwar schon relativ eingehend und differen‐ ziert dabei beispielsweise zwischen China und Indien; er zählt sie auch nicht einfach zur mythischen „Vorgeschichte“, sondern meint vielmehr gelegentlich: „Mit China und den Mongolen, dem Reiche der theokratischen Herrschaft, beginnt die Ge‐ schichte. Beide haben das Patriarchalische zu ihrem Prinzip“ (ebd., S. 143). Ande‐ rerseits meint er deshalb auch: „China und Indien liegen gleichsam noch außerhalb der Weltgeschichte“; sie hätten „uralte Traditionen, aber keine Geschichte“ (ebd., S. 147), seien in „der immer gleichgebliebenen Verfassung“ (ebd., S. 152) des Patri‐ archalismus und der „Regierungsweise“ des „Despotismus“ (ebd., S. 157) befangen geblieben, der seine Untertanen für „unmündig“ erklärte. Der Orient entwickelte kein positives Freiheitsbewusstsein, das globale Herrschaft ermöglichte. Hegel nennt beiläufig politische Hintergrunderfahrungen für seine starke These von der Ohn‐ macht des Despotismus. So meint er im Indien-Kapitel: „Die Engländer, oder viel‐ mehr die Ostindische Kompanie, sind die Herren des Landes, denn es ist das not‐ wendige Schicksal der asiatischen Reiche, den Europäern unterworfen zu sein, und

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China wird auch einmal diesem Schicksal sich fügen müssen“ (ebd., S. 179). Das waren um 1830 bemerkenswert realistische Betrachtungen der europäischen Koloni‐ al- und Imperialpolitik. Bei Menzel kann man detailliert nachlesen, welchen Sinn Hegels Unterscheidung zwischen den Engländern und der Ostindischen Kompanie machte und welche Gren‐ zen seine chinesische Prognose hatte. Menzel beginnt seine Globalgeschichte eben‐ falls mit China und den Mongolen, setzt deren „Machtzyklus“ und globalgeschicht‐ liche Bedeutung aber später und weitaus höher an; er betont Chinas zivilisatorische Überlegenheit bis in die Frühe Neuzeit und markiert die atlantische Machtübernah‐ me eigentlich erst mit der industriellen Revolution um 1800: „Song-China stand zu Beginn des 13. Jahrhunderts an der Schwelle zur Industriellen Revolution“ (Menzel 2015, S. 105), schreibt er und meint sogar: „Europa war damals aus einer globalen Perspektive doch nur Appendix eines viel größeren asiatischen Weltsystems, das zwischen 1250 und 1350 seine größte Ausdehnung erfuhr“ (ebd., S. 185). Europa als „Appendix“ Asiens! Bei allen Kulturkreis- und Kulturzyklentheorien, die vom Aufstieg und Untergang des „Abendlandes“ sangen: Solche Worte konnten in Deutschland wohl erst im 20. Jahrhundert, vielleicht erst heute geschrieben wer‐ den. Menzel setzt eine sinozentrische Perspektive gegen den altüberlieferten Euro‐ zentrismus. Das wäre Hegel unmöglich gewesen. Bei ihm heißt es nämlich, dass ein Volk in den „Entwicklungsstufen des Weltgeistes“ je „nur einmal Epoche machen“ und das „herrschende“ Volk werden kann (Hegel 1970a, S. 506). Jürgen Habermas (Habermas 1990, S. 97 ff.; Habermas 2011) beschwor 1990, nach dem Mauerfall, umgehend die „zweite Chance Europas“ und widmete sich fortan dem Projekt einer europäischen Verfassung. Seine erste Intervention richtete sich damals mit dem Titel Vergangenheit als Zukunft gegen den Neo-Nationalismus, der auch heute noch ein gewaltiges Problem ist. Dass die Hoffnung auf „Europas zweite Chance“ aber selbst eine anachronistische Chimäre sein könnte und Hegels These von der Unwieder‐ bringlichkeit verlorener Hegemonie und Weltgeltung gegen alteuropäische Senti‐ mentalitäten Recht behalten könnte, das musste Habermas damals noch nicht für möglich halten. Zu offenbar war der Niedergang Russlands, zu unbestritten die Pax Americana, zu dunkel noch der Aufstieg von China und Indien. Will man noch etwas deutlicher vergleichen, so scheint Hegel einen starken Kon‐ nex von Individualitätsbewusstsein, politischer Verfassungsgeschichte, Industriali‐ sierung und Kolonialisierung anzunehmen, während Menzel die zivilisatorische und politische Vernunft des alten China preist und stark betont, „wie überlegen China lange gegenüber Europa war“ (Menzel 2015, S. 228). Wo Hegel eine mentale oder metaphysische Selbstblockade ausmacht, spricht Menzel von einem „freiwilligen“ und „selbstinszenierten hegemonialen Niedergang“ (ebd., S. 232ff), einer „Selbstiso‐ lierung Chinas hinter der großen Mauer“ (ebd., S. 201). Diese Selbstblockade führt er auf den Ausstieg aus der Seeherrschaft zurück: China war einst eine Seemacht ge‐

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worden und hatte alle Möglichkeiten weiterer technischer Innovationen und Herr‐ schaft: „Ende 1435 war es [aber] endgültig vorbei mit China als einer der großen Seefahrernatio‐ nen, die es 300 Jahre lang seit der Song-Dynastie gewesen war“ (ebd., S. 233). „China konnte seine Hegemonie ohne Gegenwehr errichten und hat darauf auch wieder verzichtet, als es sich freiwillig in die Isolation begeben hat. Die Flotte und damit auch die Schiffsartillerie wurde abgewrackt, die Werften zur Untätigkeit verdammt, die techni‐ schen Unterlagen vernichtet, der private Seehandel durch Verbote und Kontrollen an der Küste zu unterbinden gesucht. Es hat im Grunde auf höchstem Niveau den langen Unter‐ gang selber inszeniert, der sich bis ins 19. Jahrhundert fortsetzen sollte“ (ebd., S. 232).

Menzel deutet Chinas „Abkehr vom Meer“ als eine radikale „Umstellung von Offen‐ sive auf Defensive“ und „defensive Wende“ (ebd., S. 234), als einen Politikwechsel, den er, vielleicht etwas einfach, auf einen Politikberaterwechsel und Triumph der isolationistischen Mandarine über die Eunuchen zurückführt (ebd., S 234f; vgl. ebd., S. 1081). Hegels Verweis auf die Grenzen des Patriarchalismus ist er damit noch nicht los, muss das Prestige der Mandarine oder die Macht der Bürokratie doch in der Mentalität und Verfassung verankert gewesen sein. Die Präferenz der Mandarine für China als defensive Landmacht hatte allerdings einen starken politischen Grund: Es bestand die Gefahr eines imperial overstretch; selbst China konnte schwerlich Seemacht und Landmacht zugleich sein; als Landmacht war es vulnerabel und hatte eine offene Flanke zur Mongolei: „Bis zur Erfindung der Feuerwaffen blieben die sesshaften Kulturen in Asien und Europa den zentralasiatischen Steppenvölkern in offener Feldschlacht hoffnungslos unterlegen“ (ebd., S. 114). Der mobilen Reiterei und rücksichtslosen Todesbereitschaft hatten sie nichts entgegenzusetzen. Steppen‐ imperien waren aber ihrerseits labil: „Ein Reich kann zwar vom Sattel aus erobert, aber nicht vom Sattel aus regiert werden“ (ebd., S. 116). Die mongolische Macht zerlegte sich häufig selbst im Bruderkrieg der Nachfolgerfrage (118ff). Auch hier war Hegels Verweis auf Grenzen des Patriarchalismus und Despotismus also nicht ganz abwegig. Menzel beschreibt den transkontinentalen Hegemonieverzicht Chinas als Mög‐ lichkeitsbedingung für den Aufstieg Europas in der Machtverlagerung auf das Mit‐ telmeer und den Atlantik. Er beginnt mit dem 10. Jahrhundert und schreibt nicht Weltgeschichte überhaupt, sondern Globalgeschichte: „die Geschichte der Globali‐ sierung, der Herausbildung von Weltgesellschaft, des Bedarfs nach internationaler Ordnung, […] Geschichte von Imperium und Hegemonie“ (ebd., S. 71). Kennt He‐ gel eine „Vorgeschichte“, die er nicht weiter berücksichtigt, so ignoriert Menzel die vorglobalen Zeiten: Ur- und Frühgeschichte, die frühen Hochkulturen wie die „klas‐ sische“ Antike: Hellas und Rom, die Formierung des christlichen „Abendlandes“, wie es das weltgeschichtliche Curriculum lange bestimmte. Auch Byzanz, Russland und Deutschland kommen kaum vor. Menzel schreibt seine Globalgeschichte „sino‐

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zentrisch“ von China und der „Pax Mongolica“ her, die den Fernhandel zwischen Orient und Okzident sicherte und beide Aktionszentren miteinander verband. Es ist nicht möglich, hier die ganze Kette seiner Fallstudien und faszinierenden Detailauf‐ nahmen von der Westwendung der Weltordnung auszumalen. Menzel muss sich im erhellenden Detail nicht hinter Hegel verstecken; er ist ein glänzender Autor, voller zugespitzter und glasklarer Formulierungen, Prägnanz im Detail und klaren Linien und Übersicht im Ganzen. Sein Buch ist leicht und spannend zu lesen, auch wenn der Leser von der Materialfülle schier erdrückt und überfordert wird und gut eine Woche der konzentrierten Lektüre reservieren muss.

3. Skizze der Narration Sparen wir dem Leser etwas Zeit und komprimieren die Linien: Nach den Eingangs‐ kapiteln zu China und zur Rolle des Mongolenreiches folgen zwei Kapitel über die „maritimen Innovatoren“ Genua und Venedig bei der Westwendung der Weltherr‐ schaft. Die weltgeschichtliche Bedeutung Genuas als Innovator der Schifffahrt, Ge‐ nuas Schritt in die atlantische Kehre der Weltgeschichte stellt Menzel dabei noch über Venedig. Die Lagunenstadt übernahm von Byzanz zwar den Handel im östli‐ chen Mittelmeer; Genua aber revolutionierte den Schiffsbau und war der „Prototyp einer liberalen, frühbürgerlichen Kommune“ (ebd., S. 256). Venedig dagegen hielt viel zu lange an den Galeeren fest und verlor deshalb das östliche Mittelmeer und die Levante ans aufstrebende Osmanische Reich; Genuas Innovationen schufen die Voraussetzungen für die portugiesische Seemacht und Kolonialherrschaft. Seine Scharnierfunktion und Vermittlerrolle bei der atlantischen Wendung der Seeherr‐ schaft ging über die technischen Innovationen hinaus und betraf selbst das Personal der Seefahrer und Entdecker: Kolumbus war Genuese in portugiesischen Diensten; er war aber „nur der prominenteste unter den vielen Abenteurern und Seefahrern“ (ebd., S. 289; vgl. S. 445ff; S. 1104f), die aus dem Mittelmeer kamen und über den Atlantik strebten. Portugal entwickelte damals neue atlantiktaugliche Schiffstypen: die Karavelle und die Galeone, das „‚Hauptkampfschiff’ des 16. Jahrhunderts“ (ebd., S. 294). Por‐ tugal wurde zur Seefahrer- und Entdeckernation, die den Atlantik erkundete, eine Kette von Stützpunkten begründete, den Sklaven- und Goldhandel in Westafrika übernahm und mit dem Rückzug der Chinesen aus dem indischen Ozean auch den einträchtigen Gewürzhandel mit Ostasien kontrollierte. Mit Spanien einigte es sich für Mittel- und Südamerika in einem Teilungsvertrag auf die Tordesillas-Linie und verteilte so „ein globales Bärenfell“ (ebd., S. 312), bis die Niederlande in einen „he‐ gemonialen Ausscheidungskampf“ eintraten und den Gewürzhandel kapitalistisch effizienter übernahmen. Durchgängig betont Menzel gravierende Unterschiede zwi‐

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schen Land- und Seemächten sowie die zentrale Bedeutung nautischer und militäri‐ scher Innovationen. Er erklärt dem Leser, dass auch kleine Länder wie Portugal oder die Niederlande als Seemächte global player und Weltmächte waren, die mit überle‐ genen Flotten die Weltmeere beherrschten: „Portugal kontrollierte den Schiffsverkehr, erhob Gebühren und Zölle und garantierte da‐ für Rechtssicherheit für die Händler und Sicherheit der Routen gegen Seeräuber wie ge‐ genüber Konkurrenten. Insofern hat es in klassischer Manier die internationalen öffentli‐ chen Güter Stabilität und Sicherheit bereitgestellt“ (ebd., S. 348): „Entdecker im Atlan‐ tik, Eroberer im Indik und Händler im Pazifik“ (ebd., S. 350).

Im östlichen Mittelmeer übernahm damals das Osmanische Reich nach der Erobe‐ rung von Byzanz das Erbe der Mongolen und die Rolle Venedigs. Es gab dabei auch einen „Hegemoniewechsel innerhalb des Islam von den Marmeluken zu den Osma‐ nen“ (ebd., S. 380). Im erheblichen Umfang agierte das Osmanische Reich als See‐ macht und konkurrierte jenseits des Mittelmeers im Roten Meer und Persischen Golf sogar mit den Portugiesen, wobei es griechische Seefahrer in den Dienst nahm und die alte Galeerentechnik perpetuierte. Dazu bemerkt Menzel lapidar: „Ein Welt‐ machtanspruch lässt sich nicht mit einer geruderten Flotte durchsetzen, die für Bin‐ nenmeere konstruiert ist“ (ebd., S. 393). Wie das alte Mongolenreich war auch die Macht des Osmanischen Reiches allzu sehr vom Kriegsglück seiner Führer abhän‐ gig. Die Loyalität der Janitscharen war prekär: „Die Osmanen blieben letztlich im Galeerenzeitalter stehen“ (ebd., S. 427f). Im „hegemonialen Ausscheidungskampf“ war das Osmanische Reich deshalb für Portugal keine ernsthafte Bedrohung. Spanien war es lange Zeit auch nicht, weil es mit Karl V. als zentraleuropäische Landmacht agierte und mehr an Burgund und den Niederlanden interessiert war. Die Silberschätze Südamerikas wurden von der Aufrüstung im Kampf um die Niederlan‐ de verschlungen, von der spanischen Flandernarmee und der Armada-Flotte, die im Kampf um die Niederlande Konflikte und Krieg mit England brachte. Spanien war als Großmacht an allen Fronten engagiert: in Amerika, im Atlantik und Mittelmeer. „Spanien ist welthistorisch vermutlich der klassischste aller Fälle einer imperialen Überdehnung“ (ebd., S. 1020). Philipp II. vollzog deshalb auch den „Schritt aus dem Reich“ (ebd., S. 490) und verlegte die Hauptstadt von Brüssel nach Madrid. „In Portugal war das Königshaus ausgestorben. Den Erbfolgestreit um die portugiesische Krone konnte Philipp militärisch für sich entscheiden. 1580 kam es zur Personalunion der spanischen mit der portugiesischen Krone […]. Der ungeheure Machtzuwachs durch die Vereinnahmung Portugals musste [aber] auf englischen Widerstand stoßen“ (ebd., S. 495).

Südamerikas Reichtum ging in der spanischen Rüstung auf und wurde dabei zur „Lokomotive der Weltkonjunktur“ (ebd., S. 508). Spanien setzte das „süße Gift des Silbers“ (ebd., S. 519) nicht in Handelsmacht um: „Der Schatz wurde nicht kapitali‐ siert“ und wechselte zu den aufstrebenden Handelsnationen Niederlande und Eng‐ 189

land über, die den Kapitalismus sowie neue Formen der Kolonialherrschaft ent‐ wickelten. Menzel streicht hier die Pionierrolle der Niederlande besonders heraus, die kei‐ neswegs friedlich waren, sondern in ihrem „goldenen Zeitalter“ „nahezu permanent“ Krieg führten: „Dieser Befund widerspricht der idealistischen Theorie, dass der Frie‐ den und nicht der Krieg die beste Voraussetzung für wirtschaftliche Prosperität und Expansion des Welthandels liefert“ (ebd., S. 531). Schon vor der Separation von Spanien waren die Niederlande dabei bedeutende ökonomisch-technische Innovato‐ ren. „Hier begann die Moderne“ (ebd., S. 550), schreibt Menzel. Amsterdam wurde (vor London) das Welthandels- und Weltfinanzzentrum (ebd., S. 540ff), die Wirt‐ schaft war „von Anfang an eine reine Veredelungsindustrie“ (ebd., S. 553). Der Schiffsbau war der Leitsektor, die Seekriegstaktik wurde optimiert. Die Niederlande entwickelten bürgerliche Lebensformen und liberalisierten das Wissenschaftssystem, sodass neuzeitliche Wissenschaftler wie Hobbes, Descartes und Spinoza hier ihre Zuflucht suchten und das Verlagswesen blühte. Grotius postulierte die „Freiheit der Meere“ für die damalige Zeit auch als ideologische Waffe im hegemonialen Aus‐ scheidungskampf, als „Doktrin zur Legitimierung der Freibeuterei“ (ebd., S. 588). Die Niederlande übernahmen den Ostseehandel und in der Form von Aktien- und Handelsgesellschaften auch den asiatischen Fernhandel. Atlantische Kolonialisie‐ rungsanstrengungen scheiterten dagegen bald. Menzel rekapituliert: „Von 1580 bis 1713 standen die Niederlande in jeder Hinsicht an der Spitze. Sie waren ihren Konkurrenten, ob absteigend oder aufsteigend, so überlegen, dass man aus einer Weltsystemperspektive das ‚Goldene Zeitalter’ als das ‚Niederländische Zeitalter’, Am‐ sterdam als die erste ‚global city’, als Zentrum der Welt und die VOC als den ersten mul‐ tinationalen Konzern bezeichnen kann“ (ebd., S. 593).

England wurde sein Erbe. Frankreich verlor dagegen den hegemonialen Ausschei‐ dungskampf gegen England, weil es als Seemacht zu schwach war und seine Inno‐ vationen sich weitgehend auf die Landmacht beschränkten: auf die Einführung des Absolutismus, Merkantilismus und des „Stehenden Heeres“. Auch für Frankreich stellt Menzel – wie für China und Spanien – fest: „Frankreich hatte zu viele Widersacher an zu vielen Fronten. Es hätte sich entscheiden müssen für das eine oder andere. So blieb am Ende nur die Landmacht, weil seine geopo‐ litische Ausgangslage dieses nahe legte und weil sie innenpolitisch von den stärkeren Kräften präferiert wurde“ (ebd., S. 690).

England und dann die USA wurden seit dem frühen 18. Jahrhundert deshalb die Herren der Welt. Menzel widmet diesen Kapiteln noch gut 300 Seiten. Die Weber-These streift er dabei nur beiläufig (ebd., S. 612). Konfessionelle Fragen spielen in seiner weltge‐ schichtlichen Sicht insgesamt fast keinerlei Rolle. Es wurde bereits angedeutet, dass

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dies nicht immer überzeugend ist, weil an wichtigen Entwicklungspfaden sich die Frage nach den Motivlagen stellt, die mit dem Verweis auf das politische Machtkal‐ kül nicht immer zureichend beantwortet ist. Für England unterscheidet Menzel zwi‐ schen einem ersten und einem zweiten Empire, nach dem Austritt der USA. Es war immer insulare Seemacht und agierte in Kontinentaleuropa eher defensiv und hege‐ monial, während es sonst überall imperial auftrat. Im 17. Jahrhundert gewann es die hegemonialen Ausscheidungskämpfe um die Seeherrschaft gegen die Niederlande und Frankreich. Wirtschaftlich hatte England aber lange eigentlich nur Schafzucht vorzuweisen: Es war „als Wollproduzent und Exporteur eines Halbfabrikats typische Peripherie“ (ebd., S. 710). Seinen Aufstieg verdankte es – nach Menzel – eindeutig der militärischen Übernahme der Seeherrschaft. In Nordamerika kam es zwar zu Auseinandersetzungen mit Frankreich. Zahlenmäßig waren die britischen Siedler aber den „französischen Pelzhändlern“ (ebd., S. 739) weit überlegen und Frankreich begrub seine nordamerikanischen Ambitionen unter Napoleon zuletzt mit dem Ver‐ kauf von Louisiana (ebd., S. 768) an die USA ziemlich überstürzt. Mit Portugal ar‐ rangierte England sich einigermaßen friedlich, weshalb Portugal „noch lange als zweitrangige Kolonialmacht in Asien, Afrika und Brasilien überleben“ (ebd., S. 719) konnte. Im 18. Jahrhundert war England als Hegemon vor allem internationaler Dienst‐ leister: Es sicherte die Seewege und somit den Handel. Seine Seeherrschaft bedurfte dabei der ständigen Holzzufuhr aus dem Ostseeraum. Wie bei den Niederlanden ba‐ sierte die britische Kolonialherrschaft lange auf Fernhandelskompanien. Menzel pointiert: „Im Grunde war das britische Empire in Asien etwa 250 Jahre lang eine private Angelegenheit, ein Vorgang, der in der Imperiumstheorie kaum Beachtung findet“ (ebd., S. 744). Den Verlust der USA und Umbruch vom Ersten ins Zweite Empire, mit der resultierenden Machtverlagerung vom Atlantik nach Indien, kom‐ pensierte Großbritannien durch seine frühe Industrialisierung recht leicht. „Industria‐ lisierung und Ausdehnung des Zweiten Empire gehören […] zusammen“ (ebd., S. 758). Mit der Industrialisierung wurde die indische Baumwollspinnerei allerdings überflüssig. England wurde Industriestandort, revolutionierte die Textilindustrie und bald auch die Eisenindustrie, mit den anschließenden Innovationen der Dampfschif‐ fe und Eisenbahn. Der Freihandel wurde nun das neue Leitbild. Dieser Liberalismus hatte zwar Konsequenzen für die Herrschaftstechnik Großbritanniens und die Ver‐ hältnisse im Commonwealth; die „bis dato beispiellose softpower“ (ebd., S. 804) des Liberalismus war aber – daran lässt Menzel wenig Zweifel – letztlich sekundär; pri‐ mär basierte die Weltherrschaft Großbritanniens auf seiner überlegenen Flotte in al‐ len Weltmeeren (ebd., S. 798f). Das war Autoren wie Mahan (ebd., S. 819) auch klar. Die neuen Standards der Stahlproduktion und technischen Revolutionen des Transportwesens holte die europäische Konkurrenz, insbesondere Deutschland

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(ebd., S. 814), aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schnell auf. Um 1900 kam es deshalb zum Wettrüsten insbesondere im Schlachtschiffbau. Im hegemonia‐ len Ausscheidungskampf bereitete Deutschland dabei aber der Machtübernahme der USA wider Willen nur das Feld: „Der unfreiwillige Übergang von einer isolationisti‐ schen zu einer hegemonialen Macht wurde erzwungen durch den hegemonialen Ausscheidungskampf zwischen der absteigenden Macht Großbritanniens und der aufsteigenden Macht Deutschlands“ (ebd., S. 1022). Während die hochgerüstete deutsche Marine „nirgendwo kriegsentscheidend beteiligt“ (ebd., S. 829) war, zog der U-Boot-Kaperkrieg die isolationistisch zurückhaltende USA in den Weltkrieg hinein und die USA übernahmen dann mit der Kriegsführung auch die Weltherr‐ schaft. Weil Deutschland dagegen niemals ein Hegemon wurde, auch im zweiten Anlauf des Weltkriegsverbrechens scheiterte, widmet Menzel ihm kein eigenes Ka‐ pitel und erörtert es nur gelegentlich am Rande (ausführlicher Menzel 2016). Die Schwäche des Völkerbunds und mangelnde Präsenz der USA in Europa täuschte Deutschland in der Zwischenkriegszeit über seine reale Lage. Damals dominierten in den USA lange noch isolationistische Kräfte (vgl. ebd., S. 891ff). Erst „der japanische Angriff auf Pearl Harbour brachte Ende 1941 den endgültigen Um‐ schwung. Seitdem haben die USA die Führungsrolle angenommen und bis heute trotz immer wieder aufscheinender isolationistischer Neigungen und Mutmaßungen wirt‐ schaftlicher Schwäche nicht abgegeben“ (ebd., S. 839).

4. Zum aktuellen Ausscheidungskampf zwischen den USA und China Menzel spitzt seine Darstellung politisch auf den aktuellen „hegemonialen Aus‐ scheidungskampf“ zwischen den USA und China zu. Er schildert dabei zunächst die Expansion und den Übergang zur Industriegesellschaft, zum Fordismus und Taylo‐ rismus (ebd., S. 859ff), und betont dann den Charakter der USA als Seemacht mit überlegenen Ressourcen der Regeneration, der „Fähigkeit, die Rüstungsgüterpro‐ duktion in kürzester Zeit vervielfachen zu können“ (ebd., S. 875). Bis zum SputnikSchock von 1957 nahezu „unerreichbar“ und unverwundbar, einige Jahre auch mit dem Atomwaffenmonopol ausgestattet, stützt sich die amerikanische Militärmacht bis heute auf die Flotte und die eigenartige „Hybridisierung von See- und Luft‐ macht“ (ebd., S. 842; vgl. S. 56f, S. 876ff, S. 911, S. 976f), die im Flugzeugträger als Hauptkampfwaffe der Gegenwart zum Ausdruck kommt und nahezu ein US-Allein‐ stellungsmerkmal ist. Militärisch entscheidend wurde im Atomzeitalter die atomare Zweitschlagfähigkeit. Sie ist durch Atom-U-Boote verbürgt, weshalb die Sowjet‐ union hier nachzog. Menzel schreibt: „Während also die Flugzeugträger den Kern der US-Interventionsmacht und damit der Offensivkraft stellen, bilden die nuklearen U-Boote den Kern der Abschreckung und damit der Defensivmacht“ (ebd., S. 877).

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Menzel macht die militärische Macht vor allem an der waffentechnischen Überle‐ genheit in einer Hauptkampfwaffe fest. Sie hängt demnach bei der gewaltigen Ge‐ samtstückzahl von Waffen letztlich nur an wenigen Spitzentechnologien. So stützte sich die portugiesische Weltherrschaft auf wenige Dutzend weitaus überlegene Schiffe. So steht es heute noch um die Schlüsselmacht der Flugzeugträger. Japan ge‐ lang es in Pearl Harbour nicht, die dortigen Flugzeugträger zu zerstören (ebd., S. 907). Bei der Entwicklung der Atombombe suchten die USA Nazideutschland zu‐ vor zu kommen (ebd., S. 918). Den Abwurf der Atombomben über Japan interpre‐ tiert Menzel auch als „Warnung an die Sowjetunion“ (ebd., S. 919), nicht weiter ge‐ gen Japan vorzurücken und Territorium zu besetzen. Tatsächlich rückte sie selbst nach der Kapitulation Japans noch einige Tage vor und nahm Land im Besitz (ebd., S. 920), das bis heute nicht geräumt und territorial umstritten ist. Menzel kennzeichnet die Außenpolitik der USA im 20. Jahrhundert durch eine „Gratwanderung zwischen Antiimperialismus und Antibolschewismus“ (ebd., S. 898). Hegemoniale Kooperationen erfolgten nicht zuletzt um der Einbindung von Partnern in eine „antisowjetische Koalition“ willen. Truman definierte die Entwick‐ lungshilfe nach 1945 dabei als neues Terrain des Kalten Krieges. Der Kampf gegen die Sowjetunion hatte diverse Kosten: Kompromisse mit China, die relative Nieder‐ lage in Vietnam, bei erheblichem Verlust von Prestige bzw. „softpower“ (ebd., S. 932), das teure Wettrüsten der 80er Jahre. Menzel zitiert: „‚Reagan rüstete die USA krank, aber er rüstete die Sowjetunion tot’“ (ebd., S. 945). Und er resümiert: „Die Landmacht war der Seemacht wie so oft in der Geschichte unterlegen“ (ebd.). An anderer Stelle schreibt er sogar: „Weltmacht kann nur sein, wer Seemacht ist“ (ebd., S. 1131). Menzel betont die heutige „absolute Dominanz [der USA] in den Zukunftsindustrien“ (ebd., S. 964) und führt die globale Allpräsenz der US-Kommandozentralen und Stütz‐ punkte der Flotten und Luftwaffe eindringlich aus. Die US-Neo-Konservativen zogen aus der Weltlage nach 1989 die aggressive Konsequenz, dass die USA ihre Rolle als „einzig verbliebene Supermacht“ offensiv übernehmen und dabei – laut Bush-Doktrin – auch vor kleineren Hightech-Kriegen nicht zurückschrecken sollte. Menzel spricht hier sarkastisch von einer „Selffullfilling Prophecy“: „Die Neo-Konservativen, die die Welt nach ihrem Bild formen wollten, haben womög‐ lich ein Szenario erst geschaffen, das sie zuvor bloß unterstellten“ (ebd., S. 990). Er sieht fatale „Parallelen zu Vietnam“ und deutet das Debakel des Irak-Kriegs als „Beginn des hegemonialen Niedergangs“ (ebd., S. 994).

Die USA seien heute vom „Gläubiger der Welt“ zum „größten Schuldner der Welt“ (ebd., S. 1002) geworden: ausgerechnet vor allem beim Rivalen China, eines Riva‐ len im hegemonialen Ausscheidungskampfes, der traditional nur imperial agiert und niemanden als Juniorpartner einbezieht. Am ökonomischen und militärisch-politi‐ schen Aufstieg Chinas lässt Menzel keinen Zweifel. Ohne demokratische Mission biete es heute gerade in Afrika „Waffen statt Einmischung“ und „politische Unter‐ 193

stützung gegen Rohstoffe“ (ebd., S. 1007): ein „alternatives Paradigma zur Demo‐ kratie und Marktwirtschaft US-amerikanischer Provenienz“ (ebd., S. 1011). Menzel macht klar: „Was auch immer China tut, es ist immer viel“ (ebd., S. 997). „Die Sow‐ jetunion war der militärische, Japan der wirtschaftliche Herausforderer. China ist perspektivisch beides“ (ebd., S. 1005). Menzel schreibt das als China-Experte und betont die Möglichkeiten und die Bereitschaft Chinas zur Übernahme der Weltord‐ nung; er erwartet diesen Hegemoniewechsel für die Jahre 2030/35, also übermorgen. Die Alternative Hegemonie oder Imperium spitzt sich ihm auf die Alternative USA oder China zu. Dabei ist völlig klar, dass nur „große Mächte“ überhaupt Handlungs‐ alternativen haben. Auch die USA haben heute aber eigentlich keine Option: Sie ste‐ hen vor dem „hegemonialen Dilemma“, Konkurrenten an der Macht beteiligen zu müssen: „Wenn die USA liberale Ordnung weiter garantieren, sind sie deren erstes Opfer, wenn sie Abwehrmaßnahmen gegen die chinesische Herausforderung ergrei‐ fen, riskieren sie die liberale Ordnung. Einen Ausweg aus dem Dilemma kann nur die Lastenteilung bieten“ (ebd., S. 959). Bei seinem Amtsantritt im Januar 2017 ver‐ kündigte Trump nicht weniger als ein neues Millenium: „the birth of a new millenni‐ um“: „From this moment on, it’s going to be America First” (Antrittsrede vom 20. Januar 2017). Im Interview mit der Bild-Zeitung meinte er damals: „China ist ein Riesenproblem.“ Und er meinte im imperialen Stil: Die NATO-Mitglieder zahlen nicht das, „was sie zahlen müssten“; sie zahlen „nicht ihren fairen Anteil“. Trump schien mit seiner Devise „America first!“ für eine Rückkehr zum imperialen Stil in der Abwehrschlacht gegen China zu stehen. Inzwischen – April 2018 – ist die blinde Destruktivität und Strategielosigkeit von Trumps Außenpolitik offenbar. Seine halbe Mannschaft hat er mehrfach ausgetauscht, soweit sie nicht selbst die Segel gestri‐ chen hat. Den Bedienungskomfort der Twitter-Technik hat er zu Rundumschlägen und Verbalattacken gegen alle Richtungen genutzt, gegen Freund und Feind, und die USA damit als verlässlichen Partner fast überall diskreditiert. Er hat den NordkoreaKonflikt verschärft, ohne Chinas Unterstützung zu gewinnen, und auch die europä‐ ischen Partner vielfach verprellt. Im Verhältnis zu Russland spricht man heute selbstverständlich von einem neuen Kalten Krieg, der nicht nur in Syrien „heiß“ zu werden droht. America first heißt im Resultat heute primär: Donald alone! Donald Trampeltier! Und die Welt vermag kaum noch zwischen Trump und den USA zu un‐ terscheiden, weil die institutionellen Gegenmächte – das von Trump so verachtete Washingtoner Establishment – trotz allem noch nicht zum offenen Loyalitätsbruch und energischen Gegenschlag schreitet. Menzel meinte im Februar 2017 im Inter‐ view: „Trump ist nur der Ausdruck eines sich seit langem abzeichnenden Prozesses. Wenn die Führungsmacht Schwäche zeigt, steht sie vor dem Dilemma zwischen Positions- und Sta‐ tusverlust. Wenn sie weiter die liberale Ordnung garantiert, verliert sie ihre Position als Führungsmacht, weil die eigene Industrie niederkonkurriert wird. Das hat Trump erkannt.

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Wenn sie aber zu protektionistischen Maßnahmen greift, die Trump beabsichtigt, um die Position zurückzugewinnen, verliert sie den Status als Führungsmacht. Da Trump inter‐ nationale Institutionen, die wesentlich von den USA geschaffen wurden – die NATO und die liberale Welthandelsordnung – infrage stellt, stellt er damit auch die Rolle der Füh‐ rungsmacht in militärischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht zur Disposition. Die Konsequenz ist ein Rückschritt im Prozess der Globalisierung.“

Im Buch von 2015 meint Menzel für die gegenwärtige Lage immer noch: Die USA müssen die „Rolle einer Weltregierung“ spielen: „Wenn sie es nicht machen, macht es keiner“ (Menzel 2015, S. 1013). Menzel äußert sich hier allerdings prognostisch etwas schwankend. So schreibt er: „Ob die USA tatsächlich in absehbarer Zeit die innovative Führerschaft in den neuen Branchen an China verlieren, ist eine offene Frage. Imperiale Überdehnung und damit Ursachen für einen potentiellen imperialen Niedergang lassen sich finden, Anzeichen ei‐ nes hegemonialen Niedergangs als Folge nachlassender Innovationskraft bislang viel we‐ niger“ (ebd., S. 1117). „Aber das Spiel geht immer weiter. China ist der einzige Herausforderer der einzigen Su‐ permacht, der sie demnächst ablösen könnte. Falls es, vielleicht um 2035 zum Hegemo‐ niewechsel und dem Beginn eines künftigen hegemonialen Ausscheidungskampfes kom‐ men sollte, bietet sich derzeit nur Indien als Herausforderer des aktuellen Herausforde‐ rers China an. China und Indien waren die wichtigsten Bausteine des alten Weltsystems. Vielleicht werden sie auch die wichtigsten Bausteine eines künftigen Weltsystems sein“ (ebd., S. 1132).

Menzel beschließt sein großes Buch mit den Sätzen: „Ob […] die USA ab etwa 2035 von China und womöglich China eines künftigen Tages von Indien als Ordnungsmacht abgelöst wird oder ob eine Rückkehr zur Anarchie der Staatenwelt das Resultat eines möglichen Hegemonialkonfliktes zwischen den USA und China ist, wird man sehen. Bis dahin bildet die Pax Americana die Ordnung der Welt“ (ebd., S. 1139).

Mit Carl Schmitt oder Hegel liegt der Einspruch nahe: Es ist kein Spiel, vor allem kein unendliches. So ist es wohl auch von Menzel nicht gemeint. Er greift die bei Politikern allzu beliebte Fußball-Metaphorik auf. Die Herrschenden verwechseln die Zeit ihrer Herrschaft nur zu gern mit der Weltgeschichte selbst. Aber jeder Hegemo‐ niezyklus gelangt an ein Ende, meist schneller als gedacht. Die Rede vom Spiel meint nicht die Zeit einer Herrschaft, sondern, mit einem Anklang an das Rad der Fortuna und den Hazard der Macht, das Ganze der Weltgeschichte insgesamt. Die sportliche oder agonale Rede vom „Spiel“ supplementiert eine andere Dimension oder Bedeutungsebene. Indem sie „realistische“ Semantiken meidet, signalisiert sie eine konfessionelle oder metaphysische Letztaussage in der agnostischen Form iro‐ nischer Camouflage. Die alte Metapher vom Spiel als Weltsymbol ist nicht so bei‐ läufig und beliebig, wie sie daherkommt. „Aber das Spiel geht immer weiter.“ Carl Schmitt (Schmitt 1956, S. 42 ff.) thematisierte in seiner Hamlet-Interpretation aus‐ 195

führlich die Funktion des Spiels im Spiel: Das „Schauspiel im Schauspiel“ repräsen‐ tiert hier, im Rahmen der damaligen „barocken Theatralisierung des Lebens“, keinen sekundären Blick hinter die Kulissen, sondern als Präsentation und Stilisierung des Handlungskerns „das eigentliche Schauspiel selbst noch einmal vor den Kulissen“. Jeder Hegemoniezyklus gelangt an ein Ende; Macht ist beschränkt, befristet und endlich. Aber das „Spiel“ der Weltgeschichte meint die Raison oder Logik der Poli‐ tik selbst. Menzel schreibt: „Aber das Spiel geht immer weiter.“ Das wird er ernst‐ lich nicht meinen. Man muss kein Apokalyptiker sein, um an ein Ende der Welt und der Weltgeschichte zu glauben. Das ist heute eine strenge physikalische und kosmo‐ logische Einsicht, die kein Wissenschaftler ernstlich bestreiten kann. Die Westfahrt und Weltreise der Herrschaft wird an ein Ende gelangen, und das Vertrauen auf per‐ manent „neues Leben“ und Neustart nach dem „Untergang“, auf diversen Chancen oder Hegemoniezyklen ist einigermaßen mythisch und illusionär. Das Spiel um die Weltherrschaft ist nicht unendlich. Die Rede vom „Spiel“ ist ungenau und scheint die politische Metaphorik auch vom diplomatischen Billard oder der Jonglierkunst mit mehreren Bällen auf den Hazard des Rouletts zu verlagern. Auch der Utopiever‐ zicht des Beobachters rechtfertigt sie aber nicht. Das immer neue „Spiel“ hat eigene metaphysische Voraussetzungen, von denen Hegel meint: „Es ist dies ein großer Gedanke, den die Orientalen erfasst haben, und wohl der höchste ihrer Metaphysik. In der Vorstellung von der Seelenwanderung ist er in Beziehung auf das Individuelle enthalten; allgemeiner bekannt ist aber das Bild des Phönix, von dem Naturleben, das ewig sich selbst seinen Scheiterhaufen bereitet und sich dadurch ver‐ zehrt, so dass aus seiner Asche ewig das neue, verjüngte, frische Leben hervorgeht. Das Bild ist aber nur asiatisch, morgenländisch, nicht abendländisch“ (Hegel 1970b, S. 98).

Man sollte eine kommende indische Weltherrschaft vielleicht nicht in der Übernah‐ me seiner metaphysischen Metaphern antizipieren. Die Weltgeschichte ist kein Spiel, sondern, mit Hegel, mehr eine „Schlachtbank“ (ebd., S. 35) des Glücks. Men‐ zel betont zwar: „Die Abfolge großer Mächte (nicht Großmächte) ist nicht lücken‐ los“ (Menzel 2015, S. 17). Die „Kontinuität in der Hierarchie der Staatenwelt“ wur‐ de immer wieder von einem „Machtvakuum“ (ebd., S. 1080) und von „Anarchie der Staatenwelt unterbrochen“ (ebd., S. 1123). Diese Anarchie thematisiert Menzel aber nirgends als mögliches Ende der Menschheitsgeschichte, wie es der älteren Genera‐ tion unter dem Eindruck der „absoluten Waffe“ der Atombombe (etwa Jaspers 1958) noch vertraut war. Menzels „orientalische“ Perspektive fortdauernder Globalge‐ schichte steht für den lässigen Ausstieg aus der endgeschichtlich akzentuierten „abendländischen“ Tradition und bewussten Verzicht auf die Explikation letzter nor‐ mativer Voraussetzungen.

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5. Machtgeschichte statt Rechtsgeschichte: Menzel vs. Schmitt Menzel fasst seine Fallstudien am Ende auf satten 120 Seiten noch in eine „Theorie der internationalen Ordnung“ zusammen, die ausführliche Rekapitulationen in typo‐ logische Trendaussagen überführt. Der aufmerksame Leser aller Fallstudien bedarf der Zusammenfassungen zwar eigentlich nicht; hier vor allem hätte Menzel kürzen können, aber er wollte vielleicht nicht die komplette Lektüre der ersten 1000 Seiten unterstellen und den „allgemeinen Befund“ für sich genommen lesbar halten. Menzel sondiert hier seine Fallstudien „im Licht der Idealtypen“ und zielt über die einzelnen Unterscheidungen hinaus auf deren Kombination. Für die Unterschei‐ dung der Regierungsstile von Imperien und Hegemonien, Herrschaft und Führer‐ schaft, stellt er dabei zunächst fest, dass „diverse Mischformen“ (Menzel 2015, S. 1024) zu finden seien und die Ordnungsmächte oft in bestimmten Regionen unter‐ schiedlich agierten: England beispielsweise verhielt sich in Europa hegemonial und in anderen Regionen imperial; die Unterschiede sind mehr strategisch und pragma‐ tisch als normativ zu sehen. Im Verlauf der Untersuchung wird Menzel deshalb auch die Unterscheidung zwischen den „Idealtypen Seemacht oder Landmacht“ (ebd., S. 1024ff) zunehmend interessant; die jeweilige Präferenzentscheidung ist meist geopolitisch motiviert. Seemächte haben tendenziell eine größere geostrategische Reichweite; Seemacht allein reicht zwar zur globalen Herrschaft nicht aus, Land‐ mächte sind aber in ihrem Möglichkeitsraum noch enger begrenzt. Menzel schreibt deshalb am Ende auch apodiktisch: „Weltmacht kann nur sein, wer Seemacht ist“ (ebd., S. 1131). Er zeigt das nicht nur für Genua, Portugal und die Niederlande, Eng‐ land und die USA, sondern auch für die Grenzen der Landmächte China, Spanien und Frankreich. Er zielt dabei über einzelne Befunde hinaus auch auf deren „Kombination“ in ta‐ bellarischen Darstellungen. Hier konstatiert er zunächst, „dass Hegemonialmächte eher Seemächte und Imperialmächte eher Landmächte sind“ (ebd., S. 1026), weil räumliche Distanzen und Trennungen zum Dezentralismus und zu polyzentrischen Aktionskernen tendieren. Imperien konzentrieren typischerweise Landmacht, Mili‐ tärmacht und Hardpower, während Hegemonien vor allem dann zu erwarten sind, wenn Seemacht sich mit Handelsmacht und Softpower kombiniert. Zuletzt erörtert Menzel erneut seine Eingangsthese von der Ordnungsleistung großer Mächte; sie hat mit dem Bedarf in der Geschichte zugenommen und also agieren auch die großen Mächte immer expansiver und intensiver. Menzel unterscheidet hier für Hegemonien und Imperien idealtypisch zwischen öffentlichen Gütern und „Clubgütern“: Starke Hegemonien stellen internationale öffentliche Güter unendgeldlich für jedermann als Nebenfolgen ihrer Herrschaft und Interessenslage zur Verfügung; sie ermöglichen und dulden Trittbrettfahrer, „Cheaprider“ und „Freerider“, die den Hegemon aber im Fahrwasser mitunter überholen. „Im Schutz der internationalen Ordnung besteht für

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die Freerider die Möglichkeit, den Vorsprung des Hegemons aufzuholen“ (ebd., S. 61). Das Standardgut des Hegemon ist Sicherheit: der Verkehrs- oder Handelswe‐ ge, über Land und Meer, ob durch das Mongolenreich oder die britische Seemacht garantiert. Heute geht es auch um die Sicherheit des Internet. Imperien lassen sich ihre Clubgüter oft teuer bezahlen. Beispiele sind die chinesischen oder osmanischen Tributsysteme. Jede Art von Zöllen gehört dazu. Menzels Globalgeschichte mündet in eine Differenzierung von zwei „Weltsyste‐ men“: Wo früher die Unterscheidung zwischen alter und neuer Welt, Orient und Ok‐ zident geläufig war, spricht er nun von einem alten Weltsystem „von Fernost bis zum Mittelmeer“ und von einem „atlantischen“ oder neuzeitlichen Weltsystem, das „seit etwa 1600“ (ebd., S. 1136) von den Portugiesen bis hin zur USA entwickelt wurde und heute global geworden ist. Dieses Weltsystemmodell schreibt Asien in neuer Weise in die ältere weltgeschichtliche Betrachtungsweise hinein. Deshalb spricht Menzel auch von einem „Atlantisch-indisch-pazifische[n] Weltsystem“. Sei‐ ne These von der Ordnungsleistung der großen Mächte pointierte er schon in der Einleitung. Ich zitiere daraus nur einige Grund- oder Schrecksätze: „Die Ordnung in der Anarchie der Staatenwelt resultiert aus der Hierarchie der Staaten‐ welt“ (ebd., S. 17). Macht gibt „das Mandat zur Ordnung der Welt“ (ebd.). „Seit die Zahl der souveränen Staaten immer weiter zugenommen hat, hat auch die Anar‐ chie der Staatenwelt zugenommen“ (ebd., S. 31). „Je ausgeprägter die Hierarchie, desto eher, so die These, wachsen die Möglichkeiten, der Anarchie Herr zu werden“ (ebd., S. 38). „Primäres Ziel zur Errichtung einer hegemonialen Ordnung ist die Aufhebung der Anar‐ chie der Staatenwelt, weil eine internationale Ordnung dem Hegemon den größten Nut‐ zen verschafft. Primäres Ziel zur Imperiumsbildung ist die Aufbringung von Tribut, um dessen weitere Expansion zu finanzieren und so die Hierarchie der Staatenwelt zu ze‐ mentieren“ (ebd., S. 43).

Schließen wir mit wenigen vergleichenden Bemerkungen, um Menzels „realistische“ und politikwissenschaftliche Betrachtungsweise noch stärker von der Tradition ab‐ zuheben. Menzels Leitbegriffe von Anarchie und Ordnung, Staatenwelt und hege‐ monialen Ausscheidungskämpfen stehen offenbar in der von Hobbes begründeten neuzeitlichen Tradition, der noch Hegel - gegen Kant - folgte. Hegel nannte das „Volk als Staat“, im Anklang an Hobbes, die „absolute Macht auf Erden“ (Hegel 1970a, S. 498) und betonte die „Souveränität“ und „souveräne Selbständigkeit“ der Staaten im Völkerrecht. Der Streit der Staaten könne im Konfliktfall letztlich „nur durch Krieg entschieden werden“ (ebd., S. 500). Allerdings gibt es für Hegel auch ein Kriegsrecht, das den „Krieg als ein Vorübergehensollendes“ bestimmt und an der „Möglichkeit des Friedens“ (ebd., S. 502) orientiert ist. Mit den Leitbegriffen von Anarchie und Ordnung zitiert Menzel dieses neuzeitli‐ che Naturrechtsdenken herbei, ohne die völkerrechtliche Perspektive aber in ihrer 198

Eigenart gegenüber der Machtgeschichte zu thematisieren. Wenn er den „großen Mächten“ das „Mandat zur Ordnung der Welt“ als politisches Urphänomen oder fac‐ tum brutum zuspricht, vertritt er wohl nicht mit vollem Ernst und systematischem Anspruch eine starke rechtsphilosophische These, sondern er suspendiert vielmehr den normativen Standpunkt lapidar in „realistischer“ Betrachtungsweise und ermä‐ ßigt die normativen Explikationserwartungen. Selbst seine Typisierung von imperia‐ len und hegemonialen Politikstilen dekonstruiert normative Qualifizierungen, wenn sie die jeweilige Präferenz auf die geostrategische Lage zurückführt. Menzels Studie ist am Ende nicht zu entnehmen, dass hegemoniale Herrschaft der imperialen vorzu‐ ziehen sei. Das kommt ganz auf die Lage an. Auch die Unterscheidung zwischen „öffentlichen Gütern“ und „Clubgütern“ steht nicht fest. Es kann im Interesse der unterlegenen Mächte liegen, das Trittbrettfahren aufzugeben und für die internatio‐ nalen Leistungen der großen Mächte angemessen zu zahlen. Auch und gerade der Unterlegene hat ein Interesse an Ordnung. Im Ordnungszerfall ist er bloßes Objekt und Beute. Menzel setzt „Staat“ und „Anarchie“ als axiomatische Gegenbegriffe. Er bestrei‐ tet aber nicht, dass auch Kooperationspartner zur hegemonialen Ordnung beitragen. Wenn er der „großen Macht“ ein „Mandat“ zur Ordnung der Welt gibt, finden sich Übereinstimmungen mit Carl Schmitts - in der Schrift Politische Theologie skizzier‐ ten - Souveränitätslehre, die das Recht der Macht an die Ordnungsleistung bindet. Nicht jede Macht ist nach Schmitt per se im Recht, sondern nur diejenige, die eine Ordnungsleistung erbringt, indem sie „über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt 1922/1979, S. 11). In seiner Schrift Über die drei Arten des rechtswissen‐ schaftlichen Denkens führt Schmitt 1934 aus, dass jedes Rechtsdenken eine „letzte Vorstellung“ von Gegenkonzepten oder rechtlosen Zuständen voraussetzt. Die Kon‐ zeptualisierung eines Naturzustands als anarchischer Kriegszustand ist keineswegs alternativlos. Auch die Kennzeichnung der „Anarchie“ als Zustand der Rechtlosig‐ keit, des Unfriedens oder Krieges ist nicht selbstverständlich. Anarchisten beispiels‐ weise konzeptualisieren ihn unter der Annahme eines anthropologischen Optimis‐ mus anders; sie sehen nicht im Naturzustand, sondern gerade in staatszentrierten Herrschaftsverhältnissen die Quelle der Deformation, des Konflikts und Unfriedens. Schmitt schreibt: „Der Naturzustand ist für Hobbes ein Zustand des Unfriedens, tiefste, verzweifelte Un‐ ordnung und Unsicherheit, ein regel- und ordnungsloser Kampf aller mit allen, das bel‐ lum omnium contra omnes des homo homini lupus. Der Übergang aus diesem anarchi‐ schen Zustand völliger Unordnung und Unsicherheit in den staatlichen Zustand der Ruhe, Sicherheit und Ordnung einer societas civilis wird nur durch die Entstehung eines souve‐ ränen Willens bewirkt, dessen Befehl und Ordnung Gesetz ist. Bei Hobbes wird die logi‐ sche Struktur des Dezisionismus am besten deutlich, weil der reine Dezisionismus eine Unordnung voraussetzt, die nur dadurch in Ordnung gebracht wird, dass (nicht: wie) ent‐ schieden wird“ (Schmitt 1993, S. 24).

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Es ist hier irrelevant, ob Schmitt selbst „Dezisionist“ und Hobbesianer war und dass sein nationalsozialistisches Engagement inakzeptabel war. Wichtig ist hier nur, dass er die Leitbegriffe von Anarchie und Ordnung problematisierte, metaphysische Vor‐ aussetzungen benennt und dialektische Konsequenzen für den ganzen Begriffsappa‐ rat annimmt. Menzel spricht von Anarchie, ohne solche Zustände näher zu beschrei‐ ben. Er problematisiert auch die jeweiligen Herrschaftspraktiken nicht und redet von „großen Mächten“, Hierarchie und Staatlichkeit mehr oder weniger synonym, ohne normativ zu differenzieren. Das ist eine Stärke, aber auch eine Grenze seiner Be‐ trachtungsweise. Schmitt argumentierte nicht als Politikwissenschaftler, sondern als Jurist. Durchgängig hielt er eine normative Perspektive fest, so problematisch sie in den starken Wertungen wie juristischen Reservationen auch war. Dieser Unterschied zwischen der politikwissenschaftlichen Beobachterperspekti‐ ve und der juristischen Teilnehmerperspektive zeigt sich im Vergleich zwischen Menzel und Schmitt überall. So lädt Schmitt den Naturzustand apokalyptisch auf und besteht auf lückenloser Kontinuität in der Abfolge der Mächte. Dabei können auch einzelne Personen und intellektuelle Mächte in die Lücke des Staatszerfalls eintreten. Schmitts Schlüsselwort ist hier der paulinische „Katechon“. „Ich glaube an den Katechon“, schreibt Schmitt im Dezember 1947: „Er ist für mich die einzige Möglichkeit, als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden. […] Man muss für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den Katechon nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden“ (Schmitt 2015, S. 47). Auch hier interessiert nicht die Fragwürdigkeit von Schmitts urchristlichem Anstrich, sondern nur die normative Insistenz überhaupt. In der Auseinandersetzung mit „Versailles“ und „Genf“ studierte Schmitt die Machtgeschichte des Völkerrechts und unterschied dabei zunehmend zwischen dem kontinentalen und dem angelsäch‐ sisch-maritimen Völkerrechtsdenken. Seine Schrift Land und Meer, von 1942, kommt Menzels Fragestellung als „weltgeschichtliche Betrachtung“ sehr nahe; sie unterscheidet nicht nur zwischen Land- und Seemächten, Landkrieg und Seekrieg, sondern betont auch eine eigenartige Affinität zwischen der „Raumrevolution“ mari‐ timer Eroberung der Welt, der „Maschinenmacht“ der industriellen Revolution und Eroberung des Luftraums (Schmitt 1981, S. 96 ff.). Schmitt schreibt hier manches, was bei Menzel eingehender nachzulesen ist. Auch Menzel geht, ähnlich wie Schmitt, von einer besonderen Affinität zwischen Seemacht und Luftwaffe aus. So schreibt er: „Luftmächte, Weltraummächte oder neuerdings Internetmächte sind typologisch nur eine Weiterentwicklung von See‐ mächten“ (Menzel 2015, S. 56). Die US-amerikanischen Flugzeugträger seien mit ihrer „Hybridisierung von See- und Luftmacht“ (ebd., S. 842) heute noch der Kern der amerikanischen Weltherrschaft. Auch hier geht Schmitt aber einen Schritt weiter in die normative Wertung und spricht von einem konstitutiven Zusammenhang von angelsächsischem Normativismus und Universalismus, „Utopie und Nihilismus“

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(Schmitt 1950, S. 36; zur Wirkung des Stichworts Bogdandy/Hinghofer-Szalkay 2013). Er besteht auf einem Zusammenhang von „Ordnung und Ortung“, der mit der territorialen Begrenzung von Rechtsgeltung gegeben sei. In seinem Spätwerk Der Nomos der Erde schreibt er der „westlichen Hemisphäre“ die „universalistische“ Auflösung des „nichtdiskriminierenden“ kontinentalen Rechtsdenkens, einen „Sinn‐ wandel des Krieges“ und „Krieg der modernen Massenvernichtungsmittel“ zu. Der apologetische Zweck dieser Tendenzgeschichtsschreibung ist zwar offenbar; Schmitts Spätwerk markiert aber einen anregenden Übergang in die – von Grewe (Grewe 1984) anknüpfend weiter entwickelten – Machtgeschichte und Hegemonie‐ geschichte des Völkerrechts; Schmitt betont einen starken Konnex von Macht und Recht, ohne die Macht gleich ins Recht zu setzen und eine krude Machttheorie des Rechts zu vertreten. Sein Rechtsbegriff ist freilich fragwürdig und soll hier auch nicht vertreten werden. Immerhin sucht Schmitt aber die normative Auseinander‐ setzung um Macht und Recht. In seinem Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber führt er 1954 aus, dass die negative Wertung der Macht einem an‐ thropozentrischen Zeitalter entstammt: „Der Ausspruch Gott ist tot und der andere Ausspruch Die Macht ist an sich böse stammen beide aus derselben Zeit und dersel‐ ben Situation. Im Grunde besagen beide dasselbe“ (Schmitt 1954, S. 23). Schmitt hat das politische Vokabular stets politisch gelesen und nach den Herren des Diskurses gefragt. Zur vollen Souveränität gehört die „softpower“ der Macht über die Diskurse. Das ist auch Menzel klar. So schreibt er: „Die USA sind nicht nur der eindeutige Fall einer Hegemonialmacht in der Sache, sie bestimmen auch den Diskurs über Hegemonie oder Imperium in allen seinen Facetten, sind der Hegemon von ‚Imperium oder Hegemonie’“ (Menzel 2015, S. 843). Das betrifft sein eigenes Werk. Man kann es als Versuch einer Antwort lesen: als einen Gegenschlag, in dem Deutschland als „große Macht“ nicht vorkommt und ein „Sinozentrismus“ gegen den Eurozentrismus gehalten wird. Man kann die theoretische Ermäßigung der Leit‐ begriffe von Anarchie und Ordnung aber auch als Konversion zur Semantik des ak‐ tualen Hegemon lesen: als Orientierung an einem Empire-Diskurs, der in den USA nicht zuletzt von den Neokonservativen forciert wurde, die Menzel keineswegs schätzt. Das Lob der „großen Mächte“ wird auch manchen der Leser am Ende etwas skeptisch und ratlos stimmen, die sich den faszinierenden Fallgeschichten und der sinozentrischen Blickwendung nicht entzogen. Bei Schmitt findet sich ein – politisch sehr fragwürdiger – Text, der nahezu Wort für Wort fast als Blaupause für die Auseinandersetzung mit Menzels Werk lesens‐ wert ist: eine Besprechungsabhandlung von Heinrich Triepels großem Werk über Die Hegemonie (Triepel 1938) aus dem Jahre 1939. Schmitt lobt das Werk als „großartige Krönung“ eines Lebenswerkes für die „Meisterhand in der gründlichen Beherrschung des Materials“ und kritisiert nur das begriffliche Grundgerüst. Dabei akzeptiert er „die Weite und Elastizität von Triepels Hegemoniebegriff“ (Schmitt

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1995, S. 227), der ähnlich wie Menzel zwischen „Führung“ und imperialer „Herr‐ schaft“ strikt unterscheidet und doch nicht ganz trennscharf bleibt; Schmitt bemän‐ gelt vor allem die „Unzulänglichkeit des alten Staatsbegriffs“: „Während T. [lies: Menzel] in seinem Hegemoniebegriff in großzügiger und großartiger Weise modern ist, bleibt er mit seiner Staatsvorstellung bei dem dezisionistisch-positivistischen Be‐ griff des 19. Jahrhunderts“ (Schmitt 1995, S. 227). Menzel optiert nicht unkritisch für die überlieferten polaren Letztbegriffe von „Anarchie“ und „Ordnung“ bzw. „großen“ Ordnungsmächten; er beschränkt sich be‐ wusst auf die politikwissenschaftliche Beobachterperspektive. Schmitt fordert dage‐ gen mit nationalsozialistischem Pathos eine „Überwindung des staatsgesetzlichen Denkens und […] Einführung neuer, konkreter Begriffe von Reich und Bund“ (ebd., S. 228f). Vor allem wünscht er die Preisgabe „neutraler Allgemeinbegriffe“ und der „neutralisierenden Verallgemeinerung des Führerbegriffs“ zugunsten konkreter und starker Wertungen der jeweiligen Formen von Führung. Dass er hier erneut in die Apologie des personalistischen Führerstaates und Eloge Hitlers verfällt, der die „Fälschungen“, „Anonymität und Verschleierungstechnik“ der „Liberaldemokratie“ überwunden habe, lässt sich nicht leugnen. Der Hinweis auf Grenzen der „Allge‐ meinbegriffe“ ist dennoch interessant. Schmitt setzt sich mit Triepels Hegemonie als einem letzten Meisterwerk des po‐ lyhistorischen und positivistischen 19. Jahrhunderts auseinander. Dabei exponiert er „Bund“ und „Reich“ als völkerrechtliche Ordnungsbegriffe jenseits der „Epoche der Staatlichkeit“ (Schmitt 1963, S. 10). Menzel spricht von einem idealtypischen Ge‐ gensatz von Hegemonien und Imperien. Deren strikte Unterscheidung ist mit der an‐ gelsächsischen translatio und Transposition des römischen Titels in die Rede vom Empire aber eigentlich ziemlich brüchig und hinfällig. Menzel bricht die angelsäch‐ sische Konnotation des Empire-Diskurses auch etwas auf, indem er mit Ranke von „großen Mächten“ spricht. Dabei setzt er den Begriff der „großen Mächte“ mit des‐ sen Einführung im zweiten Absatz (Menzel 2015, S. 17) schon von der Rede von „Großmächten“ ab. Das lässt sich normativ verstehen: Historische Größe scheint hier nicht an ein Machtquantum, sondern an eine Qualität von Ordnungsleistung ge‐ bunden zu sein. Im Kampf um die politische Semantik ist auch nicht ganz bedeu‐ tungslos, dass Menzel mit den ersten Fußnoten Goethe und Ranke (ebd., S. 17) zitiert und damit gleichsam eine „deutsche“ Tradition gegen den angelsächsischen Empirediskurs evoziert oder beschwört. Die normative Challenge nimmt er aber nicht auf. Zu massiv war doch der normative Missbrauch, den auch Schmitts Trie‐ pel-Rezension zeigt. Politikwissenschaftliche Globalgeschichtsschreibung kann nie‐ mals letzte Grundbegriffe und normativen Fragen klären wollen. So hat Menzel auch

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hier klug entschieden, die Voraussetzungen und Thesen seiner Meistererzählung nur apodiktisch und leicht polemisch zur Diskussion zu stellen.

Literatur Bogdandy, Armin v./ Hinghofer-Szalkay, Stephan, 2013: Das etwas unheimliche Ius Publicum Europaeum: Begriffsgeschichtliche Analysen im Spannungsfeld von europäischem Rechts‐ raum, droit public de l’Europe und Carl Schmitt. In: Zeitschrift für ausländisches öffentli‐ ches Recht und Völkerrecht 73, S. 209-243. Dehio, Ludwig, 1948: Gleichgewicht oder Hegemonie. Betrachtungen über ein Grundproblem der neueren Staatengeschichte, Krefeld. Grewe, Wilhelm, 1984: Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden. Habermas, Jürgen, 1990: Vergangenheit als Zukunft, Zürich. Habermas, Jürgen, 2011: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin. Hegel, Georg W. F., 1970a: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Theorie-Werkausga‐ be, hrsg. v. Moldenhauer, Eva /Michel, Karl Markus. Bd. 7. Frankfurt a. M. Hegel, Georg W. F., 1970b: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: TheorieWerkausgabe, hrsg. v. Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus. Bd. 12. Frankfurt a. M. Iggers, Georg G., 1971: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Ge‐ schichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München. Jaspers, Karl, 1958: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, München. Landgrebe, Ludwig, 1954: Die Geschichte im Denken Kants. In: ders.: Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh 1968 S. 46-64. Löwith, Karl, 1953: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart. Mehring, Reinhard, 2017: Carl Schmitt zur Einführung, 5. Aufl. Hamburg. Mehring, Reinhard, 2017b: Carl Schmitt. Denker im Widerstreit, Freiburg. Menzel, Ulrich, 2015: Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt. Berlin. Menzel, Ulrich, 2016: Wohin treibt die Welt. In: APuZ 66, Heft 43-45, S. 4-8. Münkler, Herfried, 2005: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin. Popper, Karl Raimund, 1945: The Open Society and its Enemies, London. Schmitt, Carl, 1938: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehl‐ schlag eines politischen Symbols, Hamburg. Schmitt, Carl, 1950: Der Nomos der Erde im Jus Publicum Europaeum, Köln. Schmitt, Carl, 1954: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Pfullingen. Schmitt, Carl, 1956: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Düsseldorf. Schmitt, Carl, 1963: Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin. Schmitt, Carl, 1979: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), 3. Aufl. Berlin.

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Autorinnen und Autoren

Kathrin Groh: Professorin für Öffentliches Recht an der Universität der Bundes‐ wehr München. Veröffentlichungen u. a.: (mit Christine Weinbach) Zur Genealogie des politischen Raums. Politische Strukturen im Wandel Wiesbaden 2005. (Mither‐ ausgeberin) Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, Baden-Baden 2005. Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik: Von der konstitu‐ tionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats (Hugo Preuß, Gerhard Anschütz, Richard Thoma, Hans Kelsen und Hermann Hel‐ ler), Tübingen 2010. Andreas Hetzel: Professor für Philosophie an der Universität Hildesheim. Veröf‐ fentlichungen u. a.: Die Wirksamkeit der Rede. Zur Aktualität klassischer Rhetorik für die moderne Sprachphilosophie, Bielefeld 2011. Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur, Würzburg 2001. Vielfalt achten. Eine Ethik der Biodiversität, Bielefeld 2018. Reinhard Mehring: Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hoch‐ schule Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Carl Schmitt: Denker im Widerstreit: Werk – Wirkung – Aktualität. Freiburg 2017. Die Erfindung der Freiheit. Vom Auf‐ stieg und Fall der philosophischen Pädagogik., Würzburg 2018. Martin Heidegger und die „konservative Revolution“, Freiburg/München 2018. Thomas Petersen: Privatdozent für Philosophie an der Universität Heidelberg. Ver‐ öffentlichungen u. a.: Individuelle Freiheit und allgemeiner Wille. James Buchanans politische Ökonomie und die politische Philosophie. Tübingen 1996. (mit Bernd Klauer, Reiner Manstetten und Johannes Schiller) Die Kunst, langfristig zu denken. Wege zur Nachhaltigkeit. Baden-Baden 2013. (mit Malte Faber) Karl Marx und die Philosophie der Wirtschaft. Freiburg 2013 (Neubearbeitung 2017). Karin Priester: emeritierte Professorin für politische Soziologie an der Universität Münster. Veröffentlichungen u. a.: Populismus. Historische und aktuelle Erschei‐ nungsformen, Campus, Frankfurt am Main 2007. Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt am Main 2012. Mystik und Politik. Ernes‐ to Laclau, Chantal Mouffe und die radikale Demokratie, Würzburg 2014.

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Winfried Thaa: Professor i. R. für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier. Veröffentlichungen u. a.: Politisches Handeln. Demokratietheore‐ tische Überlegungen im Anschluss an Hannah Arendt, Baden-Baden 2011. Die Wie‐ dergeburt des Politischen. Zivilgesellschaft und Legitimitätskonflikt in den Revolu‐ tionen von 1989, Opladen 1996. (Hrsg. mit Markus Linden) Ungleichheit und politi‐ sche Repräsentation, Baden-Baden 2014. Ulrich Thiele: Privatdozent für Politikwissenschaft an der Universität Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Die Politischen Ideen von der Antike bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2008. Verfassung, Volksgeist und Religion. Hegels Überlegungen zur Weltgeschichte des Staatsrechts, Berlin 2008. (Hrsg.) Volkssouveränität und Frei‐ heitsrechte. Emmanuel Joseph Sieyes’ Staatsverständnis, Baden-Baden 2009. Georg Zenkert: Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Hei‐ delberg. Veröffentlichungen u. a.: (mit P. Ptassek, B. Sandkaulen, J. Wagner) Macht und Meinung. Die rhetorische Konstitution der politischen Welt, Göttingen 1992. Die Konstitution der Macht. Kompetenz, Ordnung und Integration in der politischen Verfassung, Tübingen 2004. (Hrsg.) Bildungskonzepte und Bildungsorganisation. Zur Dramaturgie der Wissensgesellschaft, Heidelberg 2017.

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